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Archiv
für
Philosophie
herausgegeben
von
L ii d w i g S t e i n.
Erste Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
BERLIN.
Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf.
1!U3.
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Archiv
für
Geschichte der Philosophie
herausgegeben
von
Ludwig Stein,
Band XXVI.
Neue Folge.
XIX. Band.
BERLIN.
Druck und Verlag von Leonhard Siniion Ni.
1913.
ßöL.26
Inhalt.
Seil e
I. Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. Von
Dr. Lanz 1
II. Vier Briefe über Beneke 26
III. Alfred Fouille'e. par Rene Worms-Paris 3o
IV. War Nietzsche Pragmatist? Von W. Eggen schw j I er
in Turin 35
V. Die Ekstasis als Erkenntnisform bei Plotin. Von Dr.
Elisabeth Thiel in Breslau 18
VI. Die Sprachphilosophie Lockes. Von Dr. Karl Fahrion . 56
VII. Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. Von
Oscar Schuster 66
VIII. Die Ethik des Xaturrechtslehrers Chr. Thomasius mit
Berücksichtigung seiner Rechtsphilosophie. Ein Beitrag
zur Geschichte der Philosophie von Dr. Martin Joseph 83
IX. Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des
Geistes". Eine problemgeschichtliche Einführung in seine
Philosophie. Von Fritz Münch HO
X. Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants als Beweis
für den idealen Charakter seiner Philosophie. Von Dr.
Emil Raff 174
XI. Wiederentgegnung. Von David Neumark 195
XII. Gregor Skovoroda, ein Philosoph der Ukraine. (1721 — 1794.)
Von Dr. Marie von Besobrasof in St. Petersburg . . 1!>7
XIII. Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen auf Grund
der Marl M-schen Beziehungslehre. Von Heinrich Schüßler -Jos
XIV. Gri 11 parzer und Kant. Von Wilhelm Born er . . . . 242
XV. Die Grundlehre Spinozas im Lichte der kritischen Philo-
sophie. Von Otto Samuel 252
XVI. Kants Beweis für die transzendentale Synthesis der Ein-
bildungskraft. Von Friedrich Maywald 281
W II. Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft und dem Ent-
wicklungsgedanken. Von Richard Xoll 302
n
Inhalt.
Seite
XVIII. Nietzsche und der Pragmatismus. Von Richard Müller
Freienfels in Berlin-Halensee 339
XIX. Kants Ästhetik und die neuere Biologie. Von Dr. Roland
Schacht 359
XX. Zu Heraklit. Von Dr. Ernst Arndt, Oberlehrer in Essen 370
XXI. Friedrich Rosens Darstellung der persischen Mystik. Von
Ludwig Stein 401
XXII. Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. Von Stud.-lehr.
Dr. Jegel 405
XXIII. Bemerkungen zur Abfassungszeit und zur Methode der
Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Von Edgar Zilsel
in Wien 431
XXIV. Kleitophon wider Sokrates. Ein Beitrag zur Erklärung
des nach ersterem bekannten Dialogs der platonischen
Sammlung. Von Dr. Heinrich Brünnecke in Göttingen 449
XXV. The Logic of Antisthenes. By C. M. Gillespie, Professor,
University of Leeds 479
Rezensionen 129 271 378 501
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der
Philosophie 143 277 395 511
Zeitschriftenschau 145 278 396 512
Zur Besprechung eingegangene Werke 147 279 397 513
Erklärung betr. Besetzung philosophischer Lehrstühle 399
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fr
Archiv für Philosophie,
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XIX. Band, 1. Heft.
I.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff.
Von
Dr. Lanz.
Das Problem der Wahrheit hat in der neueren Zeit nach zwei
Richtungen hin eine tiefe Umwandlung und durchgreifende Umarbei-
tung erfahren: es ist einerseits die absolute Identität zwischen Wahr-
heit und Sein und anderseits die absolute Heterogeneität zwischen
derselben und dem psychischen Bewußtsein gefunden und festgestellt
wurden. Die erste klare Formulierung und prinzipielle, allen weiteren
Forschungen richtunggebende Lösung der ersten Seite des Problems
verdanken wir Kants kritischen Untersuchungen. Es ist seine ,,Ko-
pernikanische Tat", die ihm die führende Rolle und herrschende
Stellung in der Philosophie der Gegenwart geschaffen hat. Das Sein
ist nur als Sein des Denkens möglich und i s t nichts anderes als das
methodische Denken selbst; die Objektivität ist mit dem Denken
völlig identisch, hat in ihm ihren Sinn und ihren ganzen Bestand.
Das Denken aber interessiert Kant nicht von der Seite seines Vor-
ganges, sondern von derjenigen seines Inhalts, seiner Geltung; in
die geltende Wahrheit des Denkens wird die Objektivität verlegt;
„die Gegenständlichkeit ist weiter nichts als Gültigkeit, als unbe-
dingtes Gelten und Zurechtbestehen, Objektivität des Seins weiter
nichts als Absolutheit des Geltens."1) Im Begriffe des Transzenden-
talen bei Kant ist der frühere Gegensatz des Subjekts und Objekts,
der Wahrheit und des Gegenstandes aufgehoben. — In dieser Hin-
sicht hat die spätere Zeit nichts prinzipiell Neues geschaffen oder
hinzugefügt.
') Em. Lask, Die Logik der Philosophie, S. 28.
Archiv für Geschichte dex Philosophie. XXVI, I.
2 Lanz,
Die andere Seite des Problems aber, welche die Verschiedenheit
zwischen der reinen Geltung der Wahrheit und ihrem psychischen
Dasein betrifft, ist in der Kantischen Philosophie bei weitem nicht
so klar, geschweige erschöpfend formuliert worden. Mag Kant tat-
sächlich den antipsychologistischen Standpunkt der modernen Gel-
tungsphilosophie vertreten haben, — den Begriff der Geltung im
Gegensatze zum Bewußtsein finden wir bei ihm nicht. Der „sachliche
Inhalt"2) der Erfahrung ist noch nicht zu einem selbständigen, seiner
logischen Struktur nach vom Bewußtsein unabhängigen Begriffe
ausgearbeitet worden. Die Wahrheit bleibt immer noch ein Cha-
rakteristikum des Urteils, sie ist von dem Prozesse
des TJrteilens noch nicht ausdrücklich losgelöst; Kants Antipsycho-
logismus besteht nur darin, daß er diesen Prozeß als solchen nicht
beachtet und nur das Wahrheits- und Inhaltscharakteristikum a n
diesem Prozesse ins Auge faßt; beide sind aber an sich absolut ver-
bunden, oder richtiger ausgedrückt, noch nicht getrennt. In seiner
Philosophie, faktisch, läßt sich der Unterschied beider Begriffe fest-
stellen und genau verfolgen; aber er war nicht f ü r seine Philosophie,
also genetisch, da. Die prinzipielle Identität beider Momente —
Wahrheit und Erkenntnis, Geltung und Akt — bedeutet bei ihm
keine kritische Einheit, sondern vielmehr eine naive Indifferenz.
Erst die nachfolgende Zeit, in der Reflexion über die ersten
psychologistischen Interpretationen der Kantischen Lehre, vermochte
das Problem der logischen Heterogeneität der Wahrheit und des
Bewußtseins in seiner ganzen Tiefe und Präzision zu formulieren.
Die neueste Zeit akzeptierte dieses wichtige Problem und versuchte,
an die älteren Formulierungen anknüpfend, dasselbe weiterzuführen
und auszubilden. Die bewußte antipsychologistische Revolution,
welche die moderne Philosophie unternahm, gipfelt in der Hyper-
trophie des Antipsychologismus, welche in der Rücksichtslosigkeit
und Einseitigkeit der neuesten Geltungsphilosophie ihren Ausdruck
gefunden hat. Aus der logischen Heterogeneität und prinzipiellen
Verschiedenheit derWahrheit und des Bewußtseins entsteht die absolute
Transzendenz zweier inkommensurablen Reiche, welche die Wieder-
verbindung beider unbegreiflich, sogar unmöglich macht, weil jedes
nur eine formelle Negation des anderen zum Ausdruck bringt und,
2) Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, S. 255.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 3
folglich, jeden methodischen Übergang beider prinzipiell vernichtet.
Nicht der Begriff der Wahrheit wird im Prozesse der
logischen Begriffsbildung vom Begriffe des Be-
wußtseins unabhängig und als Begriff selbständig gedacht,
sondern die Wahrheit selbst, als eine „unsinnliche" Wesenheit, wird
metaphysisch vom Bewußtsein selbst getrennt. Zwei Arten der Be-
griff sbildung werden zu zwei Reichen des Etwas hypostasiert; aus
der Kantischen Kritik entsteht wiederum eine Art aufgeklärter Me-
taphysik, wo die Stelle des alten transzendenten Seins das ebenfalls
transzendente Gelten einnimmt, wobei nach dem intentionalen Ver-
halten unseres Bewußtseins (und seiner Möglichkeit) zu diesem Gelten
fast nirgends mit Klarheit gefragt wird, als ob diese schwierigste
Frage der ganzen Logik und Philosophie überhaupt nicht existierte.
In dem Pathos der neuen Entdeckung vergißt mau, daß der neue
Begriff in der Funktion, die man ihm zuschreibt, dem Bewußtsein
gegenüber mit derselben Rätsel auftritt, wie seinerzeit der meta-
physische Begriff des absoluten Seins, und daß gegen ihn alle die Ein-
wände erhoben werden können, welche der kritische Idealismus gegen
den alten Dogmatismus der vorkritischen Zeit zur Geltung brachte.
Die Übertreibung der antipsyehologistischen Tendenz findet ihren
Ausdruck in der Behauptung der Transzendenz, — einer quasi —
methaphysischen Isolierung des Wahrheitsreiches vom Bewußtsein;
die Wahrheit einer Aussage in ihrer Verschiedenheit vom Akte des
Bewußtseins und ihrer prinzipiellen Selbständigkeit wird zu einer
„transzendenten Idee", oder einem „transzendenten Sollen" erhoben
und „unabhängig vom Bewußtsein" nicht nur betrachtet,
sondern auch gesetzt. — Die Bewußtseinsakte entstehen und ver-
gehen; die Wahrheit ihrer Aussagen aber entsteht und vergeht nicht;
sie bleibt, frei von jeder Beziehung zu irgend einer erkennenden Orga-
nisation, als ideelle logische Einheit an sich selbst bestehen; es liegt
in, ihrem Wesen gar nicht die Forderung bewußt oder erkannt zu
werden3). Als „transzendentes Urbild" besteht sie an sich, unab-
hängig und a u ß e r h a 1 b jedes Bewußtseins, „gleichsam an einem
nichtsinnlichen Ort"4), wo sie die formale Gegenständlichkeit „des
transpersonalen Sinnes" 5) begründet und ausmacht. Die Beziehung
8) Husserl, Log. Untersuchungen, Bd. I, 100, 117, 131. 187 ff. u. a.
4) Lask, Logik der Philosophie, S. 19ß.
5) Ib. 193.
4 Lanz ,
zum Wissen liegt nicht im Wesen der Wahrheit und ist ihr schlecht
hin zufällig. Obgleich bei Rickert im Begriff des transzendenten
Sollens eine notwendige Beziehung zur Subjektivität zu liegen scheint,
so macht doch die metaphysische Kluft der absoluten Tran.ssubjektivi-
tät keine begriffliche Fixierung dieser Beziehung möglich. Im Be-
griffe der „Stellungnahme zu einem Werte", in der Forderung „der
Anerkennung" liegt dieselbe undurchdringliche Dunkelheit, wie auch
in der traditionellen „Intention". Die Schwierigkeit, die dem Problem
des „immanenten Sinnes"6) oder, richtiger, des Immanentwerdens
des transzendenten Sinnes beiwohnt, wird durch alle diese Begriffe
kaum bezeichnet, geschweige irgendwie formuliert oder gelöst. In
welchem Begriffe läßt sich diese rätselhafte, unbegreifliche Relation
der transzendenten Wahrheit zum Bewußtsein abbilden? Und wie
vermag das wahrheits- und geltungslose Bewußtsein wiederum diese
in ihm nicht enthaltene Wahrheit aufzufassen, sozusagen einzufangen?
Es ist nicht unsere Aufgabe, die moderne Wahrheitstheorie dar-
zustellen. Uns interessiert hier vielmehr die Frage nach dem geschicht-
lichen Ursprünge dieser Theorie. Nach Husserls „Logischen
Untersuchungen." ist es üblich geworden, diese Lehre auf Bolzano
zurückzuführen. Und in der Tat, wenn wir Bolzanos Logik mit den
antipsychologistischen Ansätzen bei Mehmel oder Herbart vergleichen,
so erscheint sie uns als ein großer Fortschritt im Gebiete der reinen
Logik. Die „Wahrheit an sich" in ihrer absoluten Selbständigkeit
ist mit vollständiger Klarheit dem Dasein und dem Bewußtsein gegen-
übergestellt, in ihrer Unabhängigkeit und Eigenart, frei von allen
Zutaten des Bewußtseins, erkannt, Es ist eine neue Welt entdeckt
und gefunden worden, eine Welt, die keine Existenz und kein Da-
sein hat, und doch die ganze Existenz der wirklichen Welt, die ganze
unendliche Entwicklung des Universums in sich idealiter enthält
und abbildet. Das ist, nach Byrons Ausdruck, die Welt, „wo die Phan-
tome wehen, die Wesen waren und Schatten werden sein". Diese
Welt i s t nicht, und darin besteht eben ihre Eigenart und ihr Wert.
Neben dem Sein und dem Bewußtsein ist ein neues Frinzip, eine neue
Kategorie des Etwas gefunden worden. Dieses neue Etwas ist das,
was Lotze nachher Geltung nannte.
Nun aber steht Bolzano in der Entdeckung und Herausarbeitung
6) Rickert, Zwei Wege der Erkenntnistheorie. Kantstudien Bd. XIV
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 5
dieses wichtigen Begriffs zu seiner Zeit nicht allein. — Es ist eine
große historische Ungerechtigkeit, daß man von Bolzano spricht,
ohne Fichte zu erwähnen. Mag Bolzano die Fichteschen Schriften
der sogenannten metaphysischen Periode nicht gekannt haben7), da
sie größtenteils erst viel später gedruckt waren, so ist doch nicht zu
verkennen, daß der größte und beste Teil seiner logischen Lehre
mit Leib und Seele in der Fichteschen Philosophie wurzelt. Der
Terminus und die Bedeutung der „Wahrheit an sich" ist von Fichte
geprägt worden. Die Begriffe des ,, Sinnes", des „Inhalts", der „Be-
deutung" finden wir in seiner Transzendentalen Logik mit einer er-
schöpfenden Allseitigkeit ausgearbeitet und mit solcher Tiefe der
Problemstellung behandelt, welche wir sogar in den modernen Theo-
rien nicht aufweisen können. Hätte man in der neueren Zeit nicht
von Bolzanos Wissenschaftslehre, sondern von Fichtes Logik aus-
gegangen, so wären die wenig begründeten Überschreitungen des
kritischen Standpunktes, welche wir z. B. bei Husserl finden, oder
die Einseitigkeiten der Transzendenzlehre unmöglich gemacht.
In zwei wesentlichen Punkten weicht Fichte im positiven Sinne
von Bolzano ab.
1. Die Entdeckung der neuen Welt zerstört bei ihm nicht die
Idee des kritischen Monismus in bezug auf das Gegenständ-
lichkeitsproblem. Die Wahrheit, als Ordnung der Erscheinung,
in der Form des absoluten Seins wird als einzig wahres
Sein anerkannt und behalten; in der Gestalt des Sollens bildet
sie den einzigen Gegenstand der wahren Erkenntnis.
2. Die logische Selbständigkeit des Wahrheits b e g r i f f s wird
noch nicht in die metaphysische Transzendenz des Wahrheits-
wesens umgedeutet. — Dieser zweite Punkt führt zu einer
wesentlichen Korrektur der modernen Geltungslehre, welche,
eben in dieser Hinsicht, völlig auf Bolzanos Wissenschafts-
lehre aufgebaut ist. Wir wollen aber zuerst die Problemstellung
bei Fichte selbst verfolgen.
Für dieses Problem ist von besonderer Wichtigkeit die Darstel-
lung der Wissenschaft sichre vom Jahre 1804. Die ganze logische
7) In den geschichtlichen Paragraphen der Bolzanoschen Wissenschaft s-
lehre ist Eichte überhaupt nicht erwähnt. S. Bolzano, Wissenschaft. sichre
§§ 21, 27.
6 Lanz,
Tendenz, sogar die äußere Methode dieser Wissenschaftslehre läuft
darauf hinaus, die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit der Wahr-
heit dem Bewußtsein der „Einsicht" gegenüber zu betonen und zu
erhalten. Schon das zugrunde gelegte Prinzip der Genesis, welches
als Methode durch die ganze Untersuchung hindurchgeht, drückt
diese Grundtendenz aus. Genesis bedeutet rein logische Begründung,
Erzeugung aus dem Prinzip; zur Genesis erheben wir uns durch Ab-
straktion von aller Zufälligkeit und Faktizität der Einsicht, um das
unmittelbar Eingesehene „aus dem Prinzip und Grunde seines So-
Seins, also in der Genesis seiner Bestimmtheit zu durchdringen"8).
Der methodische Gang der Wissenschaftslehre besteht eben in dieser
allmählichen Befreiung von den zur Wahrheit nicht gehörenden
und störenden Zutaten des Bewußtseins, in der stufenweisen Erhebung
zum reinen „Inhalte". Das ist die Bedeutung der genetischen Evidenz,
daß wir die Wahrheit nicht einsehen, sondern die Wahrheit werden
und erleben, in ihrer Reinheit unser Selbst vernichten und verlieren,
jede Stufe der faktischen Einsicht nur „in Rücksicht dessen, was
an sich gültig ist", gelten lassen, ohne die Bewußtseinsform zu be-
achten. Von allem „Effekte" des bloßen Bewußtseins allmählich
zu abstrahieren und nur den „reinen Inhalt" zur Geltung zu bringen,
— das ist das Wesen der genetischen Methode der Wissenschaftslehre
1804; „das Bewußtsein in seiner An-sich-Gültigkeit zu vernichten",
d. h. dasselbe als ein geltungsfremdes Prinzip zu entwerten, — ist
ihre große logische Leistung. „Der Grund der Wahrheit, als Wahr-
heit, liegt doch wohl nicht in dem Bewußtsein, sondern durchaus
in der Wahrheit selbst; von der Wahrheit mußt du also immer das
Bewußtsein abziehen, als derselben durchaus nichts verschlagend."9)
Denselben Gedanken finden wir bei ihm schon im Jahre 1797
in der ersten Einleitung ausgesprochen. Der Grund der Wahrheit
einer Vorstellung, „einer Bestimmung des Bewußtseins" liegt nicht
in der Vorstellung als solcher, sondern in der Wahrheit selbst,
welche „unabhängig von uns festgestellt sein soll" und als ein „Muster"
uns gegenübertritt; durch das Gesetz dieser Wahrheit (später Sollen)
wird unsere Erkenntnis „gebunden", nicht frei und notwendig; also
unsere Erkenntnis erhält ihre Notwendigkeit aus dem Reiche der
8) Fichte, Ges. Werke, N. Bd. X, 128.
9) Ib. X, 195.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 7
Wahrheit. Unsere Vorstellungen „beziehen wir auf eine Wahrheit,
die unabhängig von uns festgestellt sein soll,
als auf ihr Muster; und unter der Bedingung, daß sie mit dieser
Wahrheit übereinstimmen sollen, finden wir uns in der Bestimmung
dieser Vorstellungen gebunden. In der Erkenntnis halten wir uns,
was ihren Inhalt betrifft, nicht für frei."10)
Von diesem Zeitpunkt an (J. 1797) können wir die allmähliche
Entwicklung dieses Gedankens bei Fichte verfolgen. Zuerst vereinzelt
und nur symptomatisch, als eine noch nicht mit voller Klarheit be-
wußte Tendenz, erhält dieser Gedanke immer größere Präzision und
schärfere Formulierung, um im Jahre 1804 mit Bewußtsein seiner
ganzen Tragweite zum Hauptprinzip der Wissenschaftslehre zu werden.
Wir können sogar aus den einzelnen Stellen seiner Wrerke die künftige
Argumentations weise für die Ideen der Unabhängigkeit ablesen,
welche viel gründlicher, tiefer und allgemeiner ist als bei Bolzano.
Niemals kann eine Vorstellung A, ein psychisches Faktum, als
logischer Grund der Wahrheit irgend einer andern Vorstellung B,
betrachtet werden; sie ist die Ursache des Seins dieser Vorstellung,
nicht aber ihrer Wahrheit11). Einfache Tatsache des Bewußtseins
gibt noch keine Garantie und keinen Grund der Wahrheit; in ihr
liegt noch nichts, was als logischer Anfang der Deduktion dienen
könnte ; denn eine Tatsache des Bewußtseins kann nicht in
einer Kette der logischen Schlußfolgerung
als deren Glied oder Prämisse enthalten sein;
das Auffassen sagt uns schlechterdings nichts über das Wesen des
Aufgefaßten, da es ihm ganz „zufällig" bleibt. „Das Aufgefaßte
soll durch das Auffassen weder hervorgebracht, noch auf irgend eine
Weise modifiziert sein; es soll überhaupt sein, und so sein, wie es ist,
unabhängig von dem Auffassen. Es war, ohne auf-
gefaßt zu sein und würde, wie es war, geblieben sein, wenn ich's auch
nicht aufgefaßt hätte; mein Auffassen ist ihm schlechterdings zu-
fällig und verändert nicht das mindeste im Wesen desselben . . .
So nämlich erscheine ich mir selbst im Finden; es ist hier nur um
10) Einleitung in die Wissenschaftslehre, Bd. I, 423. Hier in der 1. Ein-
leitung schwankt Fichte noch. So z. B. S. 425 wird die Erkenntnis nicht durch
die Wahrheit, sondern durch „das Ding" bestimmt, was offenbar einen Rück-
fall in den Standpunkt der Wissenschaftslehre v. J. 1797 bedeutet.
u) Zweite Einleit. Bd. I, 4G5.
8 Lanz,
eine Exposition der bloßen Tatsache des Bewußtseins, keineswegs
aber darum zu tun, wie es sich in der Wahrheit, d. i. von dem höchsten
Standpunkte der Spekulation aus, verhalten möge."12) Es ist hier
die Wahrheit klar dem Bewußtsein, als dem bloßen Finden, gegen-
übergestellt. Es ist niemals etwas wahr, nur darum, weil es unmittel-
bar gefunden wird. Die Tatsache des Bewußtseins beweist nichts.
Der Grundsatz, daß Ich = Ich sei, ist nicht durch das unmittelbare
Bewußtsein seiner Faktizität bewiesen, sondern erst dadurch, daß
er als eine notwendige Voraussetzung für das System der Wissenschafts-
lehre erscheint, durch dieses System der an sich gültigen Sätze be-
dingt und dieselben wiederum bedingend ist; darum ist das Ich für
Fichte keine Tatsache, sondern Prinzip. „Dieses Selbstbewußtsein
wird, nicht zwar als Faktum, denn als solches ist es
unmittelbar, aber in seinem Zusammenhange mit allem
übrigen Bewußtsein, als wechselseitig bedingend dasselbe und be-
dingt durch dasselbe, in einer Grundlage der gesamten Wissenschafts-
lehre nachgewiesen."13) Diese Erhebung zum rein logischen Zusammen-
hange, zur genetischen Betrachtung des reinen Inhalts, ist von An-
fang an eine verborgene Tendenz aller Darstellungen der Wissen-
schaftslehre gewesen; aber erst im Jahre 1804 hat diese „realistische"
Tendenz ihr Prinzip und ihre allseitige und präzise Formulierung
gefunden, worin auch der Grund davon liegt, daß diese Wissenschafts-
lehre klarer geworden ist, als alle ihre früheren Darstellungen14) ; es
geschah „lediglich durch die unbefangene Aufstellung der Maxime",
daß das unmittelbare Bewußtsein in seiner An-sich-Gültigkeit abge-
wiesen und Idealismus jeder Art bekämpft und widerlegt sein solle.
Es wird jetzt als Grundirrtum des Idealismus bezeichnet, daß
er „das unmittelbare Bewußtsein zum Absoluten, zum Urquell und
Bewährer der Wahrheit machte"15). Der höchste Punkt der ideali-
stischen Argumentation bleibt immer Bewußtsein und Denken;
wenn wir den Idealisten fragen, woher wisse er denn, daß er denkt,
wo liegt denn der Grund dieser Wahrheit, daß es Denken überhaupt
gebe, so wird er nichts anderes antworten können, als daß er dessen
unmittelbar bewußt ist16). An die Stelle der logischen Begründung
12) Das System der Sittenlehre, Bd. IV, 19.
13) Das System der Sittenlehre, Bd. IV, 23.
14) Wissenschaftslehre v. J. 1804, N. Bd. X, 210.
15) Ib. X, 192. «) Ib. X, 184.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 9
tritt ein schlichter Hinweis auf eine Tatsache des Bewußtseins ein.
Wir fragen nach dem logischen Grunde und erhalten ein psycholo-
gisches Faktum; ein Faktum kann aber nie die Funktion der Begrün-
dung übernehmen; „wenn du glaubtest, in dem Bewußtsein liege der
Grund, daß Wahrheit Wahrheit ist, so verfielest du in den Schein;
und allenthalben, wo dir etwas darum wahr sein soll,
weil du dessen bewußt bist, bist du in der Wurzel eitel
Schein und Irrtum."17) „Die Wissenschaftslehre leugnet die Gültig-
keit der Aussagen des unmittelbaren Bewußtseins."18)
Freilich können wir faktisch aus diesem Bewußtsein nie heraus;
immer bleiben wir in seiner Gewalt; welches höchste Prinzip wir auch
aufstellen mögen, es bleibt im Bewußtsein und durch das Bewußtsein;
immer kann der Idealist seine Position dadurch zu behaupten ver-
suchen, daß er sogar die Transzendenz und logische Negation des
Bewußtseins unter die Begriffe dieses Bewußtseins setzt. Darin
besteht eben „die Hartnäckigkeit des Idealismus", daß er jeden Inhalt
nur im Lichte des Bewußtseins gelten läßt und jedes aufgestellte
Prinzip unter dem Gesichtspunkte seiner Intuition betrachtet. Alles —
sei es das absolute Sein, oder Ansich, oder Wahrheit — alles wird
als Bewußtsein charakterisiert und in seiner Selbständigkeit auf-
gehoben. Warum? Weil ich es unmittelbar so auffasse. Hier endet
sich jede Argumentation. Anstatt einer Begründung wird eine absolut
dogmatische Maxime aufgestellt, alles in Beziehung auf unsere Intuition
betrachten zu wolle n. Gegen dieses willkürliche Wollen ist nichts
einzuwenden, sei es denn nur, daß es eben willkürlich ist. Wenn der
Idealist jeden Inhalt nur insofern in Betracht zu ziehen vermag und
nur insofern ihn gelten lassen will, als er ihn in seinem Bewußtsein
auffaßt, wenn er niemals von seiner Auffassung abstrahieren will
und kann, so läßt sich gegen diese traurige Beschränktheit des Wollens
und Könnens nichts ausrichten. Diese Maxime ist kein theoretischer
Satz, sondern ein dogmatischer Willensentschluß, mit welchem man
auf dem theoretischen Gebiete nicht streiten kann. Man kann den
Idealisten, um ihm die Willkiirlichkeit seiner Position zu zeigen, nur
darauf aufmerkasm machen, daß es für Wahrheit eben unwesentlich
ist, ob sie von jemand aufgefaßt wird oder nicht; wir können nämlich
17) Ib. X, 195.
18) Ib.
10 Lan z,
nach der „Wahrheit an sich" fragen, „die wir für wahr seiend und wahr
bleibend anerkennen, falls sie auch kein Mensch einsähe" 19). „Der
Begriff hat in sich selber einen Inhalt" und das Bewußtsein, „welches
an ihm vorkommt ... ist ihm nicht mehr wesentlich, sondern nur
bedingend sein Leben, d. h. seine Erscheinung" 20). Der Grundfehler
der idealistischen Weltanschauung besteht darin, daß sie die An-sich-
Gültigkeit der Wahrheit nicht sieht und dieselbe in der Nichtgültigkeit
der Intuition vernichtet. Die Tendenz jeder wahren Philosophie aber
soll darauf hinaus gehen, das Wesen der „Wahrheit an sich", „des
schlechthin Unvertilgbaren im Wissen" 21), unabhängig von jeder
Auffassung, von jedem Bewußtsein zur Darstellung zu bringen, mil-
den „reinen Inhalt", „mit völliger Abstraktion von der Faktizität
des Denkens" 22) gelten zu lassen. Dieses reine Wesen der Wahrheit als
Idee besteht darin, daß „sie ist, so wie sie einmal ist, und nichts in
ihrem Wesen wandeln kann" 23). Sie ist unwandelbar, jene „Ruhe
und Festigkeit des Wissens", jene „Bestimmtheit der reinen Frei-
heit' , welche „dem Wissen standhält und ihm nicht unter der Hand
zerfließt"24). Als absolutes Sein25) hat sie kein Dasein im Gebiete der
Erscheinung, keine faktische und zeitliche Existenz.
Es ist in den „Einleitungs Vorlesungen" aus dem Jahre 1813 aus-
drücklich anerkannt, daß es ganz sinnlos und widersprechend sei, den
logischen Inhalt und Sinn einer Aussage als eine „seiende Begebenheit"
zu betrachten 26). Gegen die Dogmatiker aller Art muß ausdrücklich
verschärft werden, daß die Aussage des Seins nur in einem Urteile
Sinn und Bedeutung hat. Die Wissenschaftslehre fragt nicht nach
einem Sein an sich, sondern untersucht nur den Sinn der Seinsprädi-
kation. Nun ist aber die seiende Seinsprädikation unmöglich und
widersprechend; „dieses ihr (der Dogmatiker) Ist (als ein seiendes
Ist) ist ganz unmöglich und widersprechend: denn Was gesagt
wird widerspricht dem, D a ß es gesagt wird". 27)
«) Bd. X, 143. 20) Ib. 142.
21) Wissenschaftslehre v. J. 1801, Bd. II, 53.
22) Wissenschaftelehre v. J. 1804, Bd. X, 111.
2:t) Über das Wesen des Gelehrten, Bd. VI, 359.
24) Wissenschaftslehre v. J. 1801, Bd. II, 85.
25) Absolutes Sein = Wahrheit der Erscheinung. Vgl. Bd. IX, 38, 139;
Bd. X, 93, 176 u. a.
26) Einleitungsvorlesungen zur Wissenschaftslehre v. J. 1813, Bd. IX, 14.
27) Ib. S. 43. Vgl. dazu: Wissenschaftslehre v. J. 1812, Bd. X, 327.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 11
Der Sinn der Seinsaussage ist also selbst kein Sein; als Wahrheit
gehört sie zu einer ganz andern ,, Region der Anschauung", die nicht
im Dasein liegt und kein Dasein hat. „Im B. (Begriff, Bild) erhebt
sich darum zuvörderst eine ganz andere Region der Anschauung,
die der, welche einen materiellen Inhalt ausdrückt, ganz und
gar entgegengesetzt ist, indem sie nicht ausspricht einen
Inhalt, sondern die B e d e u t n n g und den Sinn des Inhalts ..." 28).
Die Wahrheit gehört nicht zur Welt des zeitlichen Seins und soll mit
ihm nicht verwechselt werden 29).
Ebenso wie von dem Sein ist die Wahrheit auch vom Bewußtsein
verschieden. Die Vorstellungen gehen und wechseln; ihre Wahrheit
aber entsteht und vergeht mit ihnen nicht. Im Gegensatze zu der
Zufälligkeit und zeitlicher Faktizität des Urteils, gilt sie „absolut
zeitlos" 30) und in dieser Zeitlosigkeit ist sie der reine Ausdruck „des
Denkens, das da Wesen, Geist und Bedeutung hat und in Beziehung
auf dieses Wesen ganz und gar sich gleich und unverändert ist" 31). —
Wenn ich einen Vortrag halte, so dauert er eine bestimmte Zeit, ist
unter diesen und diesen Bedingungen zustande gekommen, wird von
mir, durch meine geistige Tätigkeit und Kraft, erzeugt und gemacht,
Alle diese Prädikate verlieren in bezug auf die Wahrheit jeden Sinn:
„nicht die Wahrheit wird gemacht, sondern nur der Vortrag der
Wahrheit" 32).
Es verändert nichts in dem reinen Wesen der Wahrheit, daß sie
eingesehen wird; dieses Einsehen ist ihr schlechthin zufällig: „sie
bleibt ewig wahr, ehe sie irgend jemand einsah, und ob sie nie Einer
eingesehen hätte"33); „es ist gar nicht notwendig, daß wir die Wahrheit
einsehen." ;!4) Unser Bewußtsein ist kein Grund davon, daß Wahrheit
Wahrheit ist, kann nichts begründen und bewahrheiten. Faktisch
bleiben wir zwar immer in seiner Gewalt; „intelligibel" aber, „in
Rücksicht dessen, was an sich gültig ist", können wir uns von seinen
28) Die transzendentale Logik. Bd. IX, 135.
29) Ib. S. 207.
30) Wisenschaftslehre v. J. 1801, Bd. II, 6. Vgl. Sittenlehre v. J. 1812,
Bd. XI, 52: „Der Begriff selbst ist außer aller Zeit."
31) Wissensc.iaftslehre v.J. 1804, Bd. X, 141.
32) Transzendentale Logik, Bd. IX, 188.
:i3) Wissenschait.slehre v.J. 1804, Bd. X, 145.
34) Ib. S. 199.
12 Lanz,
illusorischen Ketten wohl befreien, indem wir „von seinem wesentlichen
Effekte abstrahieren" und nur die reine „Bedeutung" der Wahrheit
an sich gelten lassen. Worin besteht dieser „unausbleibliche Effekt"
des Bewußtseins, um dessen willen dasselbe alle seine Gültigkeit
verliert?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir genauer den Begriff
des Bewußtseins analysieren. Bewußtsein ist für Fichte ein kom-
pliziertes Phänomen, in welchem eine ganze Reihe von Synthesen
liegen. Vor allem, und nur darauf kommt es uns hier an, wird es als
eine Vereinigung der Gültigkeit und Tätigkeit (und Fichte absolutes
Sein und Freiheit) gedacht. —Ein jeder Akt des wirklichen Bewußtseins
wird nur dadurch zu einem wirklichen Akte, daß er irgendwie „be-
stimmt" ist; er enthält in sich schon durch sein bestimmtes
Sein eine Synthesis zweier Momente, — nämlich seine unbestimmte
Aktualität (unendliche Tätigkeit) und seine Bestimmtheit, welche
ihn von andern Akten unterscheidet; die reine Aktualität oder un-
begrenzte Tätigkeit enthält noch kein Bewußtsein; das ist es eben,
was Fichte in der späteren Periode „bloßes Bewußtsein" oder „Frei-
heit" nennt. Erst die „begrenzte Tätigkeit", d. h. in der späteren
Terminologie, die durch das absolute Sein (= absolute Wahrheit)
„bestimmte Freiheit" gibt ein wirkliches Bewußtsein.
In dem Entwicklungsgange der Fichteschen Philosophie wird
dieses Moment der Bestimmtheit vom wirklichen Akte des Bewußt-
seins allmählich losgelöst und erhält eine unabhängige und ursprüngliche
Selbständigkeit. Aus der immanenten Bestimmtheit des Aktes bildet
sich allmählich die selbständige Gültigkeit der Wahrheit heraus,
welche in der Form des absoluten Seins der Aktualität gegenüber als
ein sie bindendes Gesetz auftritt. Diese Verselbständigung der „Be-
stimmtheit" zur „Wahrheit", zum „wahren Sein", ist der wesentliche
Punkt des Unterschiedes der zweiten, sogen, metaphysischen Periode,
von der ersten — immanenten. In der ersten Periode (bis zum Jahre
1801)wurde die absoluteTätigkeit durch sich selbst bestimmt gedacht35) ;
der Grund ihrer Bestimmung lag in ihrem eigenen praktischen Wesen
Dabei war der Begriff der Bestimmung noch sehr metaphysisch ge-
35) Die vereinzelten Andeutungen an den entgegengesetzten Standpunkt
sind durchaus zufällig und unsystematisch; sie verändern noch nichts in der
eigentlichen Prinzipienlehre der immanenten Position.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 13
färbt; die Bestimmung bedeutete nichts anderes als eine metaphysische
Begrenzung oder Konkretisation der unendlichen Tätigkeit. Wie die
absolute Substanz bei Spinoza durch eine Reihe der Determinationen
und Begrenzungen zu ihren individuellen, endlichen Äußerungen oder
Modis kam, ebenso brachte auch die absolute Tätigkeit bei Fichte
durch eigene Begrenzung oder Konzentration ihre Modi, d. h. Objekte,
hervor. Das Objekt, das Nicht-Ich, wurde zu einem bestimmten
Quantum des Ich; es war dasselbe Ich, nur in seiner Bestimmtheit
gedacht. Das reine Nicht-Ich, welches innerhalb der theoretischen
Philosophie die Aufgabe hat, das reine Bewußtsein zu bestimmen, ist
weder ein „Ding" noch eine „Wahrheit" an sich, sondern nur ein noch
undeutlich gedachtes Moment der Bestimmtheit.
Aus dieser metaphysischen Auffassung taucht allmählich die
rein logische Tendenz auf. Die Bestimmtheit, welche dem reinen
Ich das Objekt gibt oder, richtiger, die Objektivität selbst ausmacht
und erschöpft, erhält im Geiste des Philosophen allmählich ihre wahre
Gestalt; sie wird begrifflich von dem Bewußtsein, von dem bloßen
Verstehen, isoliert: „Aus dem bloßen Ausdruck des Verstehens eines
Bestimmten ist klar, daß die Bestimmtheit dem Ver-
stehen vorausgehen, nicht durch dieses, das ja die
bloße Form ist, erfolgen soll. Die Bestimmtheit ist schlechthin
vor allem Verstehen, und wenn das Verstehen auch
nicht hinzukäme, so bliebe es bei einer solchen = x" 36).
Auf diese Weise verwandelt sich die „Bestimmtheit" oder „Begrenzt-
heit" in das absolute Sein, dem die Wissenschaftslehre vom Jahre 1804
die Bedeutung der „Wahrheit an sich" gibt; sie wird zur völligen Selbst-
ständigkeit herausgearbeitet und gewinnt die logische Bedeutung des
transzendentalen Grundes der objektiven Welt. In das System der
Fichteschen Philosophie wird auf diese Weise eine kritisch aufgeklärte
Platonische Idee eingeführt 37). Es wiederholt sich hier, wie überall,
die allgemeine Tatsache, daß fast alle Philosophen in der reiferen
Perioden ihrer Entwicklung in der einen oder andern Form 7,11111
Piatonismus zurückkehren. Weder das idealistische Bewußtsein,
noch die dogmatisch-metaphysische Substanz wird als Grundlage
:!6) Transzenclcnlalc Logik Bd. IX, 311.
37) Das absolute Sein == Idee. Vgl. Das System d. Sittenlehre v. J. 1812,
Bd. XI, 31, 42.
14 Lanz,
der Welt angenommen; sondern das Reich der gültigen und wahren
Gesetze erscheint als diese Grundlage; das ist der Gegenstand der
wahren Erkenntnis, — alles Andere ist Trug und Schein. Der höchste
Grund alles Seins liegt im absoluten Sein, im „absoluten Gesetze",
d. h. in der Wahrheit an sich. Die Wahrheit macht das Seinsmoment
am Seienden aus. Sie ist nicht dem Sein, sondern nur dem Seienden
entgegengesetzt.. Auf diese Weise wird der spätere Bolzano-Husserlsche
Irrtum der Verdoppelung der Welt vermieden und abgewiesen. Die
Wahrheit bat nicht die Aufgabe das Sein abzubilden, sondern alles
Seiende in seiner Gesetzmäßigkeit zu konstituieren, da diese Gesetz-
mäßigkeit nichts anderes ist als eben die reine Wahrheit oder das
absolute Sein 38).
In den Bereich dieses absoluten Seins wird alles Logische verlegt ;
aller gesetzliche Zusammenhang, aller Grund, haben ihren eigentlichen
Sitz in diesem ursprünglichen Reiche. Der Grund davon, daß etwas
da ist und so oder so bestimmt ist, liegt immer in diesem Reiche, und
wenn wir irgend ein Phänomen in seiner Wahrheit erklären wollen,
müssen wir uns zu der Anschauung dieses Reiches erheben und in
seinem Intelligieren völlig aufgehen.
Wir haben die Wahrheit in ihrer Ursprünglichkeit und Eigenart
erkannt. Was bleibt jetzt dem Bewußtsein übrig, nachdem wir alle
Logizität, alle begriffliche Genesis von ihm entfernt haben 39) ? Von
dem wirklichen Akte des Bewußtseins sind wir ausgegangen, durch
das Moment der Bestimmtheit zum Begriffe der reinen Wahrheit auf-
gestiegen, und diese Wahrheit von ihm in unserer Betrachtung isoliert;
was bleibt dem Bewußtsein übrig? Es soll sich auch offenbar aus
dem wirklichen Akte in ein bloßes Moment verwandeln; es bleibt ihm
nichts anderes übrig, als eben das Moment der Bewußtheit selbst,
dasjenige, was keinem Begriffe zugänglich ist, da alles Begriffliche
und Logische auf die andere Seite übertragen ist und dort bleibt, —
absolute Irrationalität der anschaulichen Tätigkeit, welche nach
Abstraktion von jedem logischen Grunde und sachlichen Inhalt noch
38) Wir können hier nicht diesen Gedanken ausführlicher hehandeln
und unsere Auffassung der Fichteschen Philosophie in dieser von der all-
eemeinen Ansicht abweichenden Form rechtfertigen. Das soll der Gegen-
stand einer besonderen Monographie bilden.
39) Vgl. dazu: Wissenschaftslehre v. J. 1801; bes. einleitende Seiten der
„Darstellung d. Wissenschaftslehre" v. J. 1812, Bd. X. 320—342.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 15
übrig bleibt. Dieses Moment bringt die Faktizität und Mannigfaltigkeit
mit sich, bedingt die aktuelle, zeitliche Auseinandergerissenheit der
Erscheinung des Seins; es liegt außerhalb jeder Begründung,
da eine Begründung nur innerhalb des ersten Moments, innerhalb
der Wahrheit einen Sinn hat, ist absolut grundlos und wird darum
„absolute Freiheit" genannt; seine Aufgabe ist die „Beleuchtung" des
absoluten Seins. Es ist nicht mehr, wie es in der ersten Periode (be-
sonders 1794) war, — die höchste Idee des Seins oder der Realität
selbst, die absolute Substanz, welche alle Dinge hervorbringt, sondern
die absolute Abstraktion vom Sein, völlige Beseitigung und Ver-
nichtung des Seins, das subjekti vierte platonische Apeiron 40).
Aus dieser kurzen Darstellung soll es ganz begreiflich werden,
warum die Wissenschaftslehre „die An-sich-Gültigkeit des Bewußtseins
leugnet". Wenn wir einen Akt des Bewußtseins gedanklich zer-
schneiden und die beiden Momente — der Geltung und der Bewußt-
heit — so auseinander halten, daß sie nichts miteinander gemein
haben, so sehen wir uns gezwungen, die Bewußtheit als solche
vollständig alogisch zu denken; wir begreifen sie als eine Unbegreiflich-
keit, als bloße Anschauung ohne Geltung. Obgleich alle Begründung
und alles Sein nur im „Lichte" dieser Bewußtheit oder Freiheit er-
blickt wird, so gehört doch dieses Licht selbst keineswegs in den logischen
Zusammenhang der Begründung, oder in den begrifflichen Inhalt des
Seins. Das bloße Bewußtsein kann also nichts begründen oder bewahr-
heiten; es vermag nur die Kette der Begründung zu beleuchten, sie
zur Erscheinung und Offenbarung zu bringen. Das absolute Sein
bedingt die Gesetzlichkeit der Einsicht, das bloße Bewußtsein dagegen
die Faktizität und Zufälligkeit derselben. Sein „wesentlicher Effekt"
besteht darin, daß es den rein logischen Inhalt, die absolute Wahrheit
an sich immer gewissermaßen entstellt und eine notwendige Täuschung
in sie hineinbringt. Durch seine Faktizität erzeugt es die Illusion der
Zeitlichkeit und psychologischen Tatsächlichkeit der Wahrheit; es
macht die Wahrheit zum stehenden und ruhenden Objekte, gibt ihr
die Illusion des Daseins. Dieses faktische Dasein ist daher absolut
zufällig und irrational. Alle Notwendigkeit, alL Gesetzlichkeit des
Daseins liegl im absoluten Sein; das Dasein als Dasein aber ist ganz
zufällig, Produkt der absolut grundlosen Freiheit, d. h. Bewußtheit.
40) Wissenschalt sichre v. J. 1801, Bd. II, 67.
16 Lanz,
So erscheint das Bewußtsein „seinem Sein nach überhaupt als zufällig,
seinem Inhalte nach aber als notwendig" 41); zu dieser Notwendigkeit
des Inhalts soll sich die Wissenschaftslehre erheben, alle Zufälligkeit des
bloßen Bewußtseins völlig ignorierend. Das Bewußtsein an sich ist
weder wahr, noch falsch, es ist eben nur faktisch Bewußtsein und weiter
nichts; die Wahrheit, die logische Systematisierung und Begründung
kommt ausschließlich dem Inhalte zu, das bloße Bewußtsein aber
kann nicht als ein Glied dieses Systems, als ein Moment in der Kette
der logischen Begründung auftreten; „das Bewußtsein kann Nichts
bewahrheiten" 2), da jede Bewahrheitung im Prozesse der erkenntnis-
theoretischen Abstraktion auf der entgegengesetzten Seite des absoluten
Seins geblieben ist.
„Das Bewußtsein ist in seiner Sichgültigkeit abgewiesen." 42) Es
„hat an sich gar keine Gültigkeit und Beziehung auf Wahr-
heit". Mit diesem Grundsatze ist Fichte zu dem Urgründe aller
antipsychologistischer Argumentationen durchgedrungen. Diese
prinzipielle Stellung zum Bewußtseinsproblem macht seine Unter-
suchungen viel schwieriger, aber auch viel klarer, tiefer und wertvoller
als die ganze Wissenschaftslehre Bolzanos mitsamt ihren Nachfolgern.
Die absolut alogische Natur des Bewußtseins ist weder von Bolzano,
noch auch später von jemandem, durchschaut worden. Die üblich
gewordene Argumentation in diesem Punkte ist sozusagen zerstreut
und prinziplos; man sieht richtig ein, daß die Wahrheit vom Bewußt-
seinsakte verschieden sei; aber den höchsten Grund davon vermag
man nicht anzugeben. Dieser Grund besteht eben in der grundlosen,
logischfremden Natur des Bewußtseins; im Bewußtsein und durch
das Bewußtsein kann man nichts begründen, sondern nur die objektive
Begründung beleuchten. Das Bewußtsein steht selbst immer außerhalb
jedes logischen Zusammenhanges, der nur zwischen Wahrheiten,
nicht aber zwischen Bewußtseinsakten bestehen kann; das Verhältnis
zwischen Bewußtseinsakten kann n u r real, dasjenige zwischen den
Wahrheiten n u r ideal gedacht werden. Darum stehen sie in keinem
andern Verhältnis, als in dem der Negation zu einander.
Der eigentliche Kern dieser Einsicht liegt darin, daß das Bewußt-
sein nie als ein Glied oder eine Etappe in der Kette der logischen
41) Wissenschaftslehre v. J. 1804, Bd. X, 195.
«) Ib. S. 198.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 17
Schlußfolgerungen aufzutreten vermag, daß es kein begründendes
und auch kein begründetes Phänomen ist. Unter dem Gesichtspunkte
des bloßen Bewußtseins betrachtet, sind unsere psychischer
Bewußtseinsvorgänge absolut sinnlos und haben „gar keine Beziehung
auf Wahrheit", da sie ja zu diesen Vorgängen erst werden, in
einer spezifisch alogischen, nämlich in der psychisch-kausalen
und assoziativen Betrachtungsweise; nur insofern wir diese Faktizität
vernichten, von ihr völlig abstrahieren, vermögen wir uns zur Wahrheit
selbst zu erheben; dann aber erkennen wir sie auch nicht und
fassen sie nicht auf, sondern wir sind sie selbst, fallen mit ihr zusammen
und verlieren unser eigenes zeitliches Wesen in ihrer intelligiblen
Geltung 43).
Diese Konzeption ergibt in bezug auf das Bewußtsein einen rück-
sichtslosen Skeptizismus, welcher nicht nur wie bei Aenesidemus-Schulze
an den geschichtlichen Zustand der Erkenntnis zweifelt, und auch
nicht wie bei Hume die notwendige Gültigkeit der Bewußtseins-
aussagen verneint, sondern jede auch die komparative und bloß
wahrscheinliche Gültigkeit des Bewußtseins aufhebt, seine Logizität
überhaupt zugrunde richtet. In dem früher verstandenen, intentionalen
Sinne des Wortes erkennt man überhaupt nichts.
„Zwar hat die Gedankenlosigkeit und Faselei sich einen vornehmen
Titel verschafft, den des Skeptizismus, und glaubt, daß nichts zu
hoch sei, das sie unter diesem Titel nicht erschwingen könnte. Von
der Wissenschaftslehre muß sie wegbleiben. In der reinen Vernunft läßt
sich der Zweifel nicht mehr anbringen; diese trägt und hält sich und
jeden, der in ihre Region kommt, fest und unverrückt. Will sie aber die
An-sich-Gültigkeit des Bewußtseins bezweifeln ..., so käme sie
mit diesem Generalzweifel für die Wissenschaf ts-
lehre zu spät; denn diese bezweifelt nicht nur provisorisch
jene An-sich-Gültigkeit, sondern sie behauptet und erweist
kategorisch die Nichtgültigkeit, die selbst der
Generalzwcifcl nur in Frage stellen würde. Gerade der Besitzer
43) „Wir allerdings sind es, die diese Konstruktion vollziehen, aber in-
wiefern wir, wie gleichfalls eingesehen worden, das Sein selber sind und mit
ihm zusammenfallen; keineswegs aber, wie es erscheienn könnte, ... als ein
vom Sein unabhängiges und freies Wir." Bd. X, 214. ,,. . . aber in der Wahr-
heit begreifen wir es eben auch nicht, sondern wir haben es und Bind es."
Ib. S. 168. Vgl. auch Bd. X, 286, 313, 336, 367, 371.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 1. 2
18 L a n z ,
der Wissenschaftslehre... könnte einen, alles
bisher Angenommene gänzlich vernichtenden
Skeptizismus aufstellen, bei welchem wohl selber den-
jenigen, die bisher mit allerhand Skeptiserei zum Zeitvertreibe ge-
spielt haben, grauen dürfte, und sie rufen würden: der Spaß gehe
doch zu weit!"44) Systematische Bedeutung eines solchen
Skeptizismus ist außerordentlich groß, da er aus sich selbst heraus
ein positives Resultat erzeugt. In dieser hoffnungslosen Skepsis
des Bewußtseins wird die absolute Vernunft und reines Sein ge-
boren: die Vernichtung und Ausschaltung des Bewußtseins eröffnet
das Reich des Logischen in aller seiner Reinheit und Selbständigkeit.
Eine solche Skepsis vernichtet die Wahrheit und ihre Möglichkeit
nicht, sondern umgekehrt, in ihrem Grundsatze „der Vernichtung"
der Subjektivität, erzeugt sie die Wahrheit in ihrem Begriffe. Der
Skeptizismus in bezug auf das Bewußtsein erzeugt einen völligen
Absolutismus der Wahrheit an sich. In ihm ist nicht die Wahr-
heit, sondern ein alter Irrtum, eine unrichtige Theorie, welche das
Wissen als eine Abbildung der Wahrheit im Bewußtsein betrachtet,
zu Grunde gegangen. In diesem Sinne ist das Wissen unmög-
lich; es entsteht nicht in der Abbildung und auch nicht in anderen
mehr verfeinerten Formen dieser Idee, sondern in der Vernichtung
der Subjektivität, in der Abstraktion von ihr.
Die vollständige logische Kraftlosigkeit des Bewußtseins ist hier
ausdrücklich proklamiert. Das Prädikat „wahr" hat in bezug auf das
Bewußtsein überhaupt keinen Sinn45) ; nur der Inhalt selbst, nicht aber
das Bewußtsein, kann die Wahrheit besitzen; denn Wahrheit ist eine
bestimmte logische Relation, welche in ihrer An-sich-Gültigkeit
das Bewußtsein völlig ignoriert und außer sich läßt.
Das Bewußtsein und die Wahrheit sind also zwei grundverschiedene
Begriffe. Damit ist die Heterogeneität und sogar Inkommensurabilität,
aber noch keine Transzendenz bewiesen worden. Fichte wollte es
auch nicht. Daraus, daß Bewußtsein nicht Wahrheit und diese
wiederum nicht Bewußtsein ist, daß beide in einem imaginären Ver-
hältnisse zueinander stehen und absolut inkommensurable Funktionen
41) Wissenschaftslehre v. J. 1804, Bd. X, 196.
45) „Was sich nicht selbst macht, was irgend ein Ich hindenkt, ist falsch."
Wissenschaftslehre v. J. 1812, Bd. X, 320.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 19
und Bestimmungen haben, folgt noch gar nicht, daß beide als getrennt
gedacht werden müssen. Diese Getrenntheit und Transzendenz will
etwas mehr bedeuten, als einfache begriffliche Heterogeneität und
Inkommensurabilität; sie will beide Momente nicht nur logisch, als
begrifflich selbständige Elemente, sondern auch metaphysisch, durch
eine unbegreifliche, übersinnliche Kluft voneinander trennen; sie
bringt einen metaphysischen Beigeschmack in das Problem hinein.
Wahrheit und Bewußtsein repräsentieren in dieser Auffassung, wie
wir oben dargestellt haben, zwei von einander objektiv getrennte
Reiche, welche faktisch konstatiert und post factum künstlich mit
einander verbunden werden. Die Wahrheit ebenso wie das Bewußtsein
werden absolut an sich gedacht. Versuchen wir aber solche Meta-
physiker zu fragen, was eigentlich ihr unabhängig von jeder Wahrheits-
bestimmung an sich gedachtes Bewußtsein ist, oder auch was für
eine Art des Verhältnisses zwischen diesen beiden objektiven Potenzen
besteht, so weiden sie uns keine andere Antwort geben können, als
die einfache Behauptung irgend einer dunklen und unbegreiflichen
„Tntention" oder „Richtung". Eben dieser Wunderbegriff, der nichts
als eine Forderung der Kluftüberbrückung ausdrückt, zeigt uns, daß
in den Wahrheitsbegriff etwas mehr hineingelegt oder hineingedeutet
wird, als man das Recht dazu hätte.
Was beweist man eigentlich mit allen Argumenten gegen die
Psychologisierung der Wahrheit? — nichts anderes als daß der Be-
griff „Wahrheit" in seiner logischen Konstitution, für seine in-
haltliche Bildung den Begriff des Bewußtseins nicht braucht und
nicht voraussetzt. Wenn wir z. B. den Begriff des Triangels
bilden wollen, so setzen wir eine Masse von Begriffen voraus; Baum,
Größe, Richtung, Dimension, Punkt, Linie usw., — alle diese Begriffe
sind für die. Bildung des Triangels notwendig und unumgänglich.
Dasselbe gilt auch für den Wahrheitsbegriff. Begriffe: des Begriffs,
des Satzes, des Grundes, der Hypothesis, der logischen Zusammen-
gehörigkeit, werden notwendig vorausgesetzt, damit der Wahrheits-
begriff erst entstellen könnte. Der Begriff des Bewußtseins kommt
unter diesen Voraussetzungen nicht vor; logisch brauchen wir ihn
nicht, um den Wahrheitsbegrifi zu erzeugen und in seinem „Werden''
zu verstehen. Das, alter auch nur das, besagt der Satz: die Wahrheil
ist vom Bewußtsein unabhängig; die Unabhängigkeit besteht nicht
zwischen zwei Wesenheiten, sondern zwischen zwei Arten der BegrilTs-
2*
20 Lanz\
bildung — der logischen und psychologischen. Mehr dürfen wir nicht
annehmen. Die Behauptung der Transzendenz legt aber in beide
Begriffe etwas mehr hinein. Dieses Mehr kann nicht erklärt oder
definiert werden, da die Transzendenz kaum den Anspruch ihres Be-
griffes erheben kann. Die Kluft, die in diesem unklaren Worte liegt,
wird eigentlich in den Wahrheitsbegriff hineinphantasiert. Auf Grund
dieser Phantasie aber erwächst eine Menge wunderbarsten Fragen
und vor allem die Frage nach dem Wesen der Intention. Dieser Be-
griff gibt uns die Antwort auf eine ausgedachte und ungesetzliche
Frage, welche überhaupt nicht existiert, da der Begriff der Transzen-
denz, auf dessen Grunde sie erwächst, keine Geltung hat, ja kein Be-
griff, sondern eine Vorstellung ist. Zwischen Wahrheit und Bewußtsein
besteht kein Verhältnis der Intention; — nie können zwei Begriffs-
bildungen aufeinander tendieren? Das ist der Sinn des Fichteschen
Skeptizismus 46). — Wir finden bei Fichte den klar ausgedrückten
Protest gegen die Möglichkeit einer solchen transzendenten Auf-
fassung. Es macht den Eindruck, als ob er für hundert Jahre die
drohende Übertreibung und Verunstaltung seiner großen Entdeckung
vorausgesehen hätte. Schon im Jahre 1801 erklärt er das absolute
Wissen als eine innige Durchdringung des „Was" und des „Weil",
als absolute Einheit der Gültigkeit und Tätigkeit, des „ruhenden
Seins" und der „Freiheit". „Im Wissen sonach müßten die beiden
oben unterschiedenen Momente des Absoluten schlechthin ineinander
fallen und verschmelzen, so daß beide gar nicht mehr unterscheidbar
wären." 47) Sie sind nämlich nur als Momente, ihrer logischen Leistung
nach, nicht aber an sich, als ursprünglich selbständige und voneinander
getrennte Wesenheiten, zu unterscheiden. Werden sie voneinander
ursprünglich getrennt, so wird man sie nie wieder zusammenbringen
können. „Du sollst sie nicht bloß nach ihrer Trennung wieder
zusammenknüpfen, wie mit einem Faden, den du nirgends
herzunehmen weißt, sondern du sollst begreifen, daß sie organisch
ineinander und durcheinander verschmolzen sind, damit du nur erst
sie trennen könnest." 48) Ein äußerer Faden durch eine absolut
46) Bei Fichte kompliziert sich das Problem noch dadurch, daß das Be-
wußtsein nicht nur das Objekt der psychologischen, sondern eine eigentümlich
und spezifisch philosophische Begriffsbildung darstellt.
47) Wissenschaftslehre v. J. 1801, Bd. VI, 17.
4S) Ib. 8. 19.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 21
irrationale Kluft der metaphysischen Transzendenz, per liiatum
irrationalem, ist absolut undenkbar, — es ist ganz einerlei, ob wir einen
transzendenten Gegenstand oder eine transzendente Wahrheit dem
Bewußtsein gegenübersetzen. Es ist nämlich unbegreiflich durch
welche Kraft bekommt das Bewußtsein dieses äußere „Auge", ver-
möge dessen es die Wahrheit „sehen" kann. Das absolute Sein wäre
in der transzendenten Auffassung absolut unsichtbar. „Und wenn
wir dir dieses Auge auch in der Tat schenken wollten, wie wir doch nicht
können, so wirst du ferner die Verbindung desselben mit jenen Absoluten
nimmer erklären, sondern sie nur in den Tag hineinbehaupten." 49)
Beide Momente also, welche wir oben als verschieden betrachtet haben,
sollen jetzt nach Fichte in einem andern Sinne und einer
andern Richtung absolut zusammenfallen. Solange wir das Problem
rein logisch fassen, um den B e g r i f f der Wahrheit in seiner Selbst-
ständigkeit zu erkennen, so sehen wir klar die prinzipielle Inkommen-
surabilität beider Momente. Sobald aber wir die metaphysische Seite
des Problems berühren, und die Möglichkeit der transzendenten
Getrenntheit der Wahrheit ins Auge fassen, müssen wir diese Möglich-
keit verneinen und in diesem Sinne eine absolute Identität
beider Momente festsetzen. Diese Identität bedeutet nichts mehr,
als eine Abwehr der vermeintlichen metaphysischen Kluft zwischen
denselben.
In d i e s e in Sinne betrachtet Fichte die Wahrheit und das bloße
Bewußtsein als zwei dialektische Pole einer höheren Einheit, welche
er „absolutes Wissen" oder „reines Licht" nennt. Als isolierte
logische Punkte, als selbständige und unmittelbare Gegebenheiten,
sind diese Momente des absoluten Wissens unmöglich und undenkbar;
die transzendente Trennung ertötet ihren Sin n. Sie stellen eine un-
zertrennliche Einheit in dem Verhältnisbegriffe des absoluten Wissens
dar; ihre Zweiheit wird völlig in einer einzigen Relation aufgelöst, die
ihren Ausdruck in der Theorie der „Vernichtung des Begriffs" findet. Sic
können nur durch einander existieren, bilden ein absolutes dialektisches
„Durch". Die Wahrheit als absolutes Sein steht, als bindendes
und bestimmendes Gesetz, der Freiheit, d. h. drin bloßen Bewußtsein
gegenüber; nur in dieser Entgegensetzung hat sie einen Sinn und
irgend einen Inhalt. Sie nimmt in dieser Entgegensetzung die
*9) Ib. S. 19.
22 La nz,
Bedeutung des Sollens an; aber dieses Sollen erhält bei Fichte keinen
Anklang der Transzendenz, sondern drückt vielmehr die dialektische
Abhängigkeit beider Momente am deutlichsten aus. Das Sollen ist
nämlich einerseits die absolute An-sich-Gültigkeit einer Wahrheit, „ein
inneres, absolutes, rein qualitatives sich selber Machen, und auf sich
selbst Ruhen"; „dem problematischen Soll liegt nichts weiter zu-
grunde, als eben die innere Annahme durchaus von sich selber und
ohne allen äußeren Grund."50) An sich trägt es den. Charakter
der absoluten Position und ist, als „Notwendigkeit im bloßen Be-
griffe", vom absoluten Sein gar nicht zu unterscheiden: „es trägt
durchaus alle Kennzeichen des im Grundsatze eingesehenen Seins
an sich." Es enthält, r e i n für sich betrachtet, durchaus
keine Forderung und ist inhaltlich, als Wahrheit, bestimmt, ohne die
Anerkennung von der Seite des Subjekts vorauszusetzen. (Darin
Unterschied von Rickert und der ganzen praktischen Richtung in der
späteren Logik.)
Nun aber anderseits liegt im Sollen eine notwendig mitgedachte,
obgleich keine inhaltliche, aber doch formale Beziehung zur absoluten
Freiheit, d. h. zum bloßen Bewußtsein; es liegt in ihm „eine Regel,
ein Gesetz also zu verfahren; außerdem wird es kein Soll."51) Sein
Inhalt ist selbständig, seine Form aber, als Sollen, setzt die Subjektivität
voraus. Nur als ein bestimmendes Gesetz für die Freiheit des bloßen
Bewußtseins, als eine das absolute „Vermögen"52) bei der Ge-
legenheit seiner Vollziehung bindende Regel, nur als
ein Soll für dieses Vermögen, hat es überhaupt einen Sinn ; ohne
dieses „für" ist es nichts; es drückt nur das Moment der Bestimmung
an der bestimmten Freiheit aus. „Mithin liegt dieses Soll in der ur-
sprünglichen Bestimmung des Vermögens durch sein Sein aus Gott."53)
— Wie ein Gesetz der materiellen Welt ohne die Materie selbst jeden
Sinn verliert, da ja dieser Sinn eben in der Beziehung auf die Materie
besteht, obgleich dem Inhalte nach die Materie nicht voraussetzt und
») Wissenschaftslehre v. J. 1804, Bd. X, 219.
51) Ib. S. 228.
52) „Vermögen" (1810) = „Leben" (1804) = „Freiheil" (1801) = „Tätig-
keit" (1794) = bloßes Bewußtsein.
53) Wissenschaftslehre v. J. 1810, Bd. II, 700. Vgl. die Transzend. Log.
(Bd. IX, 317): „Die Bestimmtheit kann nicht sein, wenn nicht ein Bild ist;
denn sie ist nur Bestimmtheit des Bildes."
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 23
nicht aus ihr deduziert wird, ebenso verwandelt sich auch die Geltung
eines Soll in ein absolut totes Nichts, sobald wir das Bewußtsein voll-
ständig wegdenken; in seinem Wesen, seiner logischen Bedeutung
liegt schon implizite eine Relation, ein Hinweis auf das Bewußtsein,
dessen Bestimmung es eben zu seiner Aufgabe hat ; es ist eben
nichts anderes als die Bestimmung selbst, als Moment des Wissens
gedacht. Die Geltung des Sollen ist darum immer wissend und das
Wissen immer geltend; beide bilden eine ursprüngliche, untrennbare
Einheit, sind nur verschiedene „Ansichten" eines und desselben
Wissens. „Die Disjunktion daher, welche hier übrig bleibt, ist nicht
Disjunktion zweier ursprünglich Verschiedenen, sondern es ist Dis-
junktion in Einem, das bei aller Disjunktion Eins bleibt . . . Populär:
es ist nicht Disjunktion zweier, sondern nur verschiedene Ansicht
Eines und eben desselben." 54) Derselbe Inhalt wird, sozusagen, in
zwei ganz verschiedenen Dimensionen betrachtet, welche zu einander
in einer ähnlichen Relation stehen, wie das 1. zu y~ 1, — einmal
seinem logischen Gehalte nach, unter dem Gesichtspunkte des Denkens,
anderes mal seiner faktischen Beleuchtung nach, in der „Intuition",
unter dem Gesichtspunkte der Anschauung. Beide Betrachtungen
führen zur absoluten Inkommensurabilität der Resultate, —
absolutes Sein und absolute Freiheit, Gültigkeit und Tätigkeit, —
welche aber vor der Betrachtung, unter dem Gesichts-
punkte des Absoluten, gar nicht verschieden sind und in
eine höhere Einheit (des absoluten Wissens) zusammenfallen. Wenn
man also die „Immanenz" des Inhaltes, das Auffassen der Wahrheit
im Bewußtsein zu erklären versucht, so „sucht" man eigentlich
nichts anderes, als „denselben Begriff, denselben in Absicht des In-
halts, nur in einer andern qualitativen Bestimmung" 55). Diese quali-
tative Bestimmung besteht aus der Bewußtseins- oder „S e h e"-
Charakteristik, welche absolut a 1 o g i s c h ist und darum jeder ratio-
nalen Fassung, jeder weiteren begrifflichen Determination spottet 56).
Wenn wir jetzt die oben aufgeworfene, imaginäre Frage
nach dem Verhältnisse zweier transzendenten Glieder beantworten
") Wissenscbaftslehre v. J. 1804, Bd. X, 258. sr) Ib. S. 230.
56) „Die Vernichtung des Begriffs durch die Evidenz, also die
Sicherzeugung der Unbegreiflich keit ist diese lebendige Konstruk-
tion der inneren Qualität des Wissen," Bd. X, 117. Vgl. Transzend. Log.,
Bd. IX, 173, 174.
24 L a n z ,
wollen, so müssen wir sagen, daß es keine Brücke zwischen
der Wahrheit und der Freiheit des Bewußtseins, sondern nui eine
absolute Identität beider gibt. In der eigentümlichen
Terminologie Fichtes heißt es: „das. . . innere Weil schlechthin (Frei-
heit) soll mit dem inneren Was schlechthin (abs. Sein) verschmelzen,
und diese Verschmelzung selbst soll innerlich oder für sich sein" 57).
Nur dieses Für sich bedingt die Notwendigkeit der Disjunktion
der Wahrheit und des Bewußtseins (oder Freiheit); d. h. diese Dis-
junktion ist nur in der Ansicht, beide Momente sind nun als Be-
griffe verschieden ; was wir oben nachgewiesen haben. A n sich
aber sind beide schlechthin identisch; d. h., wenn wir beide Momente
im Bilde der Transzendenz metaphysisch isolieren wollen, so tritt
uns die Unmöglichkeit und Ungesetzlichkeit dieser Isolierung eben
im Begriffe der Identität entgegen. Beides sind logisch unabhängig
und verschieden, metaphysisch aber absolut verbunden und identisch.
Die entgegengesetzten Prädikationen erklären sich durch die Ver-
schiedenheit der Rücksichten, in denen dieselben genommen werden.
Damit löst sich der scheinbare Widerspruch im Begriffe des Wissens.
Alle diejenigen Unklarheiten und Fragezeichen, welche mit der
modernen transzendenten Wahrheitslehre verbunden sind und ihr
aus der metaphysischen Kluft zwischen der isolierten Gültigkeit und
dem objektivierten Bewußtsein erwachsen, werden durch diese Kon-
zeption beseitigt. Wie die Frage nach dem Verhältnisse der Form
zur Materie nur dann etwas unbegreifliches in sich einschließt, wenn
beide als metaphysisch getrennte Wesenheiten aufgefaßt werden und
die Lehrheit der Form eine räumliche Interpretation erhält 58), ebenso
entsteht die Frage nach der „Immanenz" der Wahrheit nur dort,
wo beide in einem objektiven Bilde ursprünglich auseinandergerissen
werden und eine ungesetzliche objektive Selbständigkeit erhalten.
Die Frage der Immanenz hat bei Fichte gar keinen Sinn mehr, da ja
beide Momente ursprünglich immanent sind und nicht erst hinterher
zu einander zu kommen brauchen. Zur Klärung des Gedankens können
wir noch mehr sagen: sie dürfen in diesem Gegensatze der Immanenz
und Transzendenz gar nicht gedacht werden, weil er einem andern
Problemzusammenhange angehört und nicht ohne weiteres auf Alles
übertragen werden darf; es gibt weder immanente, noch transzendente
57) Wissenschaftslehre v. J. 1801, Bd. II, 38.
58) Vgl. Schuppe, Erkenntnistheoretische Logik.
Fichte und der transzendentale Wahrheitsbegriff. 25
Wahrheit, sondern nur eine, immer sich selbst gleiche Wahrheit,
welche ursprünglich zwei Momente in sich enthält. Diese Momente
sind nur als solche, d. h. als Momente, nicht Teile oder Wesenheiten,
zu unterscheiden; alle weitere Zutaten, die diesen logischen Unter-
schied noch irgendwie zu modifizieren und andere zu interpretieren
versuchen, sind unzulässig. Die Verschiedenheit, Heterogeneität,
sogar Inkommensurabilität ist noch keine Transzendenz; um zu dieser
Transzendenz zu kommen, müssen wir die Momente oder Termini der
Unterscheidung irgendwie objektivieren, in irgend einem intelligiblen
Räume vor uns gegenständlich hinstellen. Fichte hat die drohende
Gefahr, welche in diesem „natürlichen Hange des Menschen zum
objektivierenden Denken"'9) liegt, klar gesehen und ausdrücklich davor
gewarnt. Das scheint das Schwierigste in dem philosophischen Denken
zu sein, nicht mehr zu denken, als die gemachten Voraussetzungen
erlauben. Dieses Mehr kommt gewöhnlich auf Kosten der versteckten
Objektivierung, mit der zu kämpfen zuweilen eine Unmöglichkeit ist.
Zu dieser Objektivierung (per hiatum irrationalem dazu) haben
wir in unserem Problemzusammenhange nicht nur keine Veranlassung,
sondern auch kein Recht. Wir dürfen die Geltung einer Wahrheit nur
ihrer logischen Tendenz, ihrer transzendentalen Bestimmung nach,
nicht aber ihrem Wesen nach vom Bewußtsein isolieren; im Lichte
des Wesensbegriffs, als verschiedene objektive Qualitäten, lassen sich
beide nicht unterscheiden; bilden nicht nur eine Einheit, sondern
vollständige Identität. Nun hat aber diese absolute Identität ver-
schiedene Bestimmungen oder Aufgaben; einerseits soll sie die Welt
in ihrer festen Gesetzlichkeit und (nach Fichte) in ihrem moralischen
Sinne konstituieren, anderseits aber die Konstruktion im Lichte des
Bewußtseins vollziehen, oder „offenbaren". Beide Bestimmungen
drücken verschiedene Relationen derselben Einheit aus und nur in
dieser Verschiedenheit der Bestimmungsrelation derselben besteht ihre
Inkommensurabilität und ihre Selbständigkeit. Wahrheit und Be-
wußtsein sind also keine isolierte, obgleich auch logisicrte, Wesen-
heiten, sondern nur Richtungen und Relationen an einem und dem-
selben Wesen des absoluten Wissens; Richtung und Relation können
aber nicht transzendent, sondern höchstens inkommensurabel sein.
59 ) Fichte, Bericht über die Wissenschaftslehre und die bisherigen Schick-
sale derselben. 1806, Bd. VIII, 372.
IL
Vier Briefe über Beneke.
Es ist bekannt, daß Fr. Ed. Beneke der venia legendi,
die er an der Berliner Universität erhalten hatte, im Winter-
semester 1821/22 verlustig ging. Ein sachlicher Grund für diese
Maßregelung wurde nicht angegeben. Eine Erklärung des mit
der Strafuntersuchung gegen Beneke betrauten Regierungsbevoll-
mächtigten an der Berliner Universität, des Geh. Oberregierungs-
rates Schultz, gibt lediglich an, er, Schultz, habe bei einer vor-
läufigen Durchsicht von Benekes Schrift: „Grundlegung zur
Physik der Sitten", Berlin, 1822, die Maßregel der Regierung hin-
reichend gerechtfertigt gefunden. Beneke und ihm Nahestehende
aber nahmen an, daß die eigentliche Ursache der Maßregel in einer
persönlichen Einwirkung Hegels auf dessen Freund, den Unter-
richtsminister von Altenstein, zu suchen sei. Über die dieser Annahme
zugrunde liegenden Motive vgl. Gramzow, Fr. Ed. Benekes Leben
und Philosophie 1899, S. 24 ff. Die Hypothese, der große Lehrerfolg
seines „Antipoden" Beneke habe Hegel dazu bewegen können, den
Minister von Altenstein, der vom alleinigen und ausschließlichen Werte
der Hegeischen Philosophie durchdrungen war, zur Beseitigung des
unangenehmen Konkurrenten zu veranlassen, wird von Kuno Fischer
(Hegel, 1. Teil, 1901 S. 155—157) bestritten; indessen wird diese Be-
streitung nicht gerade durch eine von Fischer in anderm Zusammen-
hange mitgeteilte Tatsache gestützt (a. a. 0. S. 154) : hiernach hat Hegel,
als in der Halleschen Allgemeinen Literaturzeitung eine seine Rechts-
philosophie von Friesischen Gesichtspunkten aus angreifende Kritik
erschienen war, als „preußischer Beamter" beim Ministerium um
Schutz und Genugtuung nachgesucht, woraufhin Altenstein der Re-
daktion „eine drohende Mißbilligung" zukommen ließ. Da bei dem
jedenfalls rein persönlich zu denkenden Einflüsse Hegels auf
Altenstein eine aktenmäßige Aufklärung des Falles Beneke auch für
die Zukunft kaum zu erwarten ist, so dürften die nachstehend
Vier Briefe über Beneke. 27
abgedruckten Briefe, auch abgesehen von der Person der Schreiber,
nicht ohne Interesse sein.
Im Wintersemester 1826/27 wurde in Basler Universitäts-
kreisen, wohl auf Betreiben des im Jahre 1821 von Berlin nach
Basel berufenen freisinnigen Theologen De Wette, die Schaffung
eines philosophischen Lehrstuhls an der Universität Basel und
dessen Besetzung durch Beneke in Erwägung gezogen. Die bei
diesem Anlasse von Basler Seite eingeholten Auskünfte hat vor
Kurzem Herr Staatsarchivar Dr. Kudolf Wackernagel im Basler
Staatsarchiv aufgefunden und dem Schreiber dieses freundlichst
zur Verfügung gestellt.
Als communis opinio wird in diesen Briefen die Ansicht ausge-
sprochen, daß die Maßregelung Benekes letzten Endes auf Hegel
zurückzuführen sei. Schleiermacher spricht vorsichtig von einem
Mißfallen an seinem System, ohne die Person, der es mißfiel, näher
zu bezeichnen, deutlicher weist Bouterwek auf einen sophistisch-
schwärmerischen Parteigeist hin, klarer noch drückt sich Chamisso
über den Eifer der Philosophen aus, die Lehren, zu denen sie sich
nicht bekennen, schlechthin zu verdammen und nicht zu dulden,
völlig unverhohlen endlich berichtet Reiche, man hätte in Berlin
allgemein geglaubt, Benekes Opposition gegen die dort viel geltende
Hegeische Philosophie, als deren Antipoden er sich mündlich und
schriftlich darstellte, habe ihm sein Schicksal zugezogen.
(An Professor Röper.)
Über Ihre glückliche Ankunft, werthgeschätzter Freund, in dem
dortigen schön aufblühenden Musensitze freue ich mich herzlich. Sic
sind nun Bewohner eines Landes, dessen bloßer Name die Phantasie
eines Nordteutschen in eine angenehme Spannung versetzt, in der
Nähe so mancher Glanzpuncte unsers Planeten, \Tom herrlichen
Hesperien nur durch ein Meer von Naturscenen der sanftesten und
wildesten Art getrennt, wo es zwar Acroceraunia giebt, aber keinen
Schiffbruch. Wie erwachen alle meine Erinnerungen aus Italien und
der Schweiz. Daliin! Dahin! Auch müssen Sie wissen, ist es zwischen
Ihrem Hl Vetter Zurnedden und mir beschlossen, Sie recht bald dort
zu besuchen, und da werden Sie mit uns nach den Hochalpen und
nach Straßburg ziehen! — Ich höre, Sie haben den edlen Kabrikherrn
in Thann besucht, und glückliche Stunden in der F?milie zugebracht.
28 Vier Briefe über Beneke.
Es thut mir leid, daß ich nicht wußte, daß „Oncle Fritz" jetzt dort ist;
ich würde Ihnen sonst herzliche Grüße an ihn mitgegeben haben. Es
ist ein alter sehr theurer Jugendfreund von mir. Zuletzt sah ich ihn
in Marseille vor 4 Jahren, als er sich jüngst dort etabliert hatte.
Im Drange vieler Geschäfte muß ich mich leider heute darauf
beschränken, Ihre Fragen wegen H. Dr. Beneke zu beantworten.
Sein bereits dreijähriger Aufenthalt in Göttingen, die persönliche
Bekanntschaft mit ihm, und mit mehreren seiner Bekannten, setzt
mich in den Stand, Ihre Anfragen in der Hauptsache zu befriedigen.
Der Dr. Beneke (Friedrich Eduard wenn ich nicht irre) ist gebürtig
aus Berlin, wo sein Vater Regierungsfiscal und Justizcommissarius
war. Seine Mutter ist eine Schwester des durch vortreffliche Er-
ziehungsschriften bekannten Wilmsen, Prediger in Berlin, Verfasser
des Kinderfreundes, der kürzlich die 80. Auflage erlebt hat. Auch
der vor einigen Jahren verstorbene berühmte Kanzelredner Probst
Hanstein war sein Oheim. Er ist reformierter Konfession und steht
im 30. Lebensjahre. Mehrere Jahre studierte er Theologie in Halle
und Berlin, widmete sich aber nachher der Phi'osophie, zum Theil
deswegen, weil er als Freiwilliger den Feldzug von 1815 mitgemacht
hatte. Er habilitierte sich als philosophischer Privatdozent in Berlin
im Jahre 1820, mit Verteidigung einer Abhandlung de veris philosophiae
initiis Berol. 1820. In Berlin schon hatte er als Privatdozent be-
deutenden Beifall, und mehremale gegen 40 Zuhörer; sein Vortrag
war als schön bekannt, wie ich von einem dort Studierenden weiß.
Noch in Berlin erschienen von ihm folgende Schriften:
1. Erkenntnislehre nach dem Bewußtsein der reinen Vernunft
in ihren Grundzügen dargelegt. 1820.
2. Erfahrungs-Seelenlehre als Grundlage alles Wissens. 1820.
3. Die genannte Inauguraldissertation de veris philosophiae
initiis.
4. Grundlegung zur Physik der Sitten — mit einem Anhange über
das Wesen und die Erkenntnisgrenzen der Vernunft. 1822.
5. Neue Grundlegung zur Metaphysik, Programm. 1822.
6. Schutzschrift für meine Physik der Sitten. 1823.
7. Beiträge zu einer rein seelenwissensohaftlichen Bearbeitung
der Seelenkrankheit-Kunde. 1824.
Die nun folgenden, meistenteils größeren Werke, wurden von ihm
zu Göttingen ausgearbeitet:
Vier Briefe über Benekö. 29
8. Skizze zur Naturlehre der Gefühle. Erster Band 1825. Am
zweiten Bande wird gegenwärtig gedruckt.
9. Allgemeine Einleitung in das akademische Studium. 1826. —
Über dies Werk hielt er Vorlesungen hier in Göttingen.
10. Über das Verhältnis von Seele und Leib. 1826
Außerdem lieferte er mehrere Recensionen zum Hermes, wovon
ich namentlich die Rezension vonJakobi's, des Philosophen, Werken
kenne, im XV. Bande, auch zu der Jenaischen Litteratur-Zeitung,
zu den Göttinger gelehrten Anzeigen; auch sind mehrere ausführliche
Rezensionen in den Wiener Jahrbüchern der Litteratur mit seinem
Namen unterschrieben, besonders in den letzten Bänden. Auch arbeitet
er an der Nasse'schen Zeitschrift für psychische Ärzte und für Anthropo-
logie. _ Seine große schriftstellerische Tätigkeit ließe sich kaum er-
klären, wenn er nicht einen eisernen Fleiß und sehr schnelle Fassungs-
gabe besäße. Im Jahre 1822 wurde ihm vom Curatorium das Lesen
einstweilen untersagt, nicht absolut. Dabei lag übrigens nicht
die geringste politische Veranlassung zum Grunde. Daß man weder
gegen sein Betragen noch gegen seine Gesinnungen etwas habe, darüber
erteilte ihm das Universitäts-Curatorium eine schriftliche, vom
Minister Altenstein unterzeichnete Erklärung, mit der Erlaubnis,
davon Gebrauch zu machen, und mit dem ausdrücklichen Zusätze,
man wünsche ihn herzlich auch mit seiner äußeren Lage zufrieden
zu sehen. Ich habe dieses Rescript selbst gesehen. Als einziger Grund
werden darin seine (damals allerdings wohl) noch nicht völlig gereifte
philosophische Ansichten angegeben. Man glaubt allgemein, daß
seine Opposition gegen die dort viel geltende Hegeische Philosophie,
als deren Antipoden er sich mündlich und schriftlich darstellte, ihm
jenes Schicksal zugezogen. Von Berlin begab er sich hierher. Hier in
Göttingen waren bis jetzt seine Vorlesungen nicht so besucht wie in
Berlin; dies war auch bei dem entschiedenen Beifall von Hofrat
Bouterwek und Hofrat Schulze nicht zu verwundern, vielmehr voraus-
zusehen. Er las indeß mit wenigen Unterbrechungen, und zwar Logik.
Psychologie, Einleitung ins akademische Studium, und Moral zu
wiederholten Malen. Wenn er in der letzten Zeit weniger las, so ge-
schah es, um sich mit schriftstellerischen Arbeiten ungestörter zu be-
schäftigen. Hier in Göttingen arbeitete er sein größtes Werk: Psycholo-
gische Skizzen aus, welches ich genauer kenne, und welches zwar wegen
mancher eigentümlichen Ansichten und manches Widerspruchs gegen
30 Vier Briefe über Beneke.
beliebte Zeitvorstellungen wohl keinen allgemeinen Beifall erhalten
wird, aber ohne Zweifel des Neuen und gründlich Durchdachten sehr
Vieles enthält; wie es denn meiner Meinung nach die Aufmerksamkeit
der Forscher sehr auf sich ziehen wird.
Daß er in seinen Schriften etwas gegen die Religion gesagt habe,
kann wohl niemand behauptet haben ; vielmehr giebt er dem religiösen
Gefühl sich oft hin, und ist deswegen ein großer Verehrer des so
frommen Philosophen F. H. Jakobi, dessen Manen sein neuestes Werk
dediciert ist. Mir als Lutheraner konnte seine philosophische Ansicht
von der Freiheit etwas zu reformiert d. h. deterministisch scheinen;
aber dieser Streit betrifft ja bekanntlich nur die Schule und Speculation,
nicht die Religion und das Leben. — Sein Lebenslauf ist durchaus un-
tadelig, selbst musterhaft, worüber nur eine Stimme. Daß er selbst
kirchlich-religiös ist, schließe ich daraus, daß er ein großer Verehrer
unseres vortrefflichen Universitätspredigers Ruperti ist, und selten
dessen Predigten versäumt. Sein Umgang ist liebevoll und geistreich,
doch den kennen Sie ja.
Ich habe Ihnen, theuerster Freund, von dem Mann gesagt, was
ich weiß, und was ich verbürgen kann. Der Brief ist darüber ein wenig
lang geworden. Noch einmal meinen herzlichsten Wunsch, daß Wissen-
schaft, Natur, Kunst und Zusammensein mit edlen Menschen ihren
Himmel Ihnen bereiten; einen Wunsch, dessen Erfüllung Ihre Freunde
mit Zuversicht voraussehn können. Seyn Sie nur nicht zu glücklich,
und vergessen Deutschland ganz und zugleich
Ihren
Göttingen, den 27. Januar 1827. G. Reiche.
Herrn Professor J. Roeper, Wohlgeb.
frei Basel.
Mein sehr theurer Freund,
ehedem stimmten die Theologen abweichender Schulen darin
überein, daß die Anhänger irriger, d. i. anderer als eben der Lehren,
zu denen sie sich bekannten, schlechthin zu verdammen seien, und
nicht zu dulden. An die Stelle der Theologen sind nun die Metaphysiker
getreten, und sie sind eines, wo nicht gleichen, so doch gewiß ähnlichen
Eifers nicht frei zu sprechen. Dem Fichte galt Schellings Philosophie
für ein Verwerfliches, absolut Schlechtes, nicht zu Duldendes, und
Vier Briefe über Beneke. 3]
Fichte „war ein ehrenwerther Mann". Im Wechsel der Philosophien
besteht indeß die Philosophie, nur träumt jeder, der den Strom hinab
wallt, die Ufer flögen an ihm vorüber, und an selbiger Stelle, wo er
war, macht schon eine neue Welle den Strom aus. Ich habe den Dr.
Beneke nicht genauer gekannt, wohl aber, wie jeder Mann, Antheil an
dem Ereignis genommen, als ihm, der Rechte, die er sich erworben
ungeachtet, ferner an hiesiger Universität zu lesen verwährt wurde.
Er hatte sich in dem Gebiete des Denkens seinen eigenen freien Weg
gebahnt, und jener befremdende Schritt wurde dem Einfluß einer
philosophischen Schule zugeschrieben, die sich in Besitz der Vorrechte
einer allein selig machenden Kirche zu setzen gewußt. Solche feind-
liche Beachtung eines sonst achtbaren und nur geachteten Mannes
schien Vielen mehr jener Schule als ihm zum Vorwurf gereichen zu
sollen. Ich entlehne im Übrigen über den Dr. B. die Stimme eines
betagteren Richters als ich.
S. V. b. e. z. v.
Berlin, 14. Feb. 1827. Anissimus
D. Adelbert v. Chamisso.
An
Herrn von Chamisso, Hochwohlgebohren.
Herr Prediger Wilmsen hat mir gesagt Sie wünschen in ein Paar
Zeilen meine Meinung über den jetzt in Göttingen sich aufhaltenden
Dr. Beneke zu erfahren. Was nun seine philosophische Denknngsart
betrifft so liegt diese so weit sie sich bis jetzt entwickelt hat, in seinen
Schriften zu Tage, und ich enthalte mich um so mehr etwas darüber
zu sagen als mir überhaupt das was die verschiedenen philosophischen
Schulen als solche von einander unterscheidet ziemlich gleichgültig ist.
Indeß scheint mir das schon immer sehr beachtenswert!]., daß er sich
seinen eigenen Weg gebahnt hat, so wie mir auch in seinen Schriften
ein ausgezeichnetes Bestreben vorzuwalten scheint, die Gedanken,
worauf es ankommt zur Anschaulichkeit zu bringen. Könnte man nun
aus dieser Seite seiner Schriften einen Schluß auf sein Lehrtalent
machen: so würde ich von demselben das beste hoffen, und das thue
ich auch in bezug auf diesen sehr wesentlichen Punkt. Mehr aber
wage ich auch nicht zu sagen, da er hier als Privatdocenl zu kurze
Zeit gewesen ist, als daß ich ihn in dieser Hinsicht beurtheilen könnte.
32 Vier Briefe über Beneke.
In Göttingen hat es ihm nicht gelingen wollen sich dauernd Zuhörer
zu verschaffen; indessen ist dabei sehr viel auf die dortige Art und
Weise des Studierens zu rechnen, und wenigstens müßte ich in seiner
Persönlichkeit keinen Grund dazu aufzufinden.
Von Seiten seines sittlichen Charakters und seiner Führung ist
er mir nur vorteilhaft bekannt. Das Ministerium hat ihm hier auf
eine der gewöhnlichen Praxis ganz zuwiderlaufende Art das Recht
Vorlesungen zu halten genommen. Die Gründe dazu sind nie meines
Wissens weder ihm selbst noch der Universität angegeben worden;
allgemein aber hat man sie in einem Mißfallen an seinem System
gesucht, und notorisch ist wenigstens daß dies Verfahren auf keine
Weise mit dem was man demagogische Umtriebe genannt hat oder
überhaupt mit Theilnahme an verbotenen Verbindungen zusammen-
hängt. So daß auch von dieser Seite nichts im Wege steht daß ihm
nicht irgendwo wieder, wie ich es ihm von Herzen wünsche, ein
Wirkungskreis als Lehrer könnte eröffnet werden.
Es freut mich Ihnen bei dieser Gelegenheit die Versicherung
meiner aufrichtigen Hochachtung erneuern zu können.
12/2. 27. Schleiermacher.
An Herrn Rud. Merian, Wohlgeb.
Auf die an mich ergangene Anfrage, den hiesigen Privatlehrer
der Philosophie, H. Doctor Beneke betreffend, habe ich die Ehre zu
erwiedern, daß ich diesen achtungswerthen Mann, den ich noch durch
persönlichen Umgang näher kennen zu lernen Gelegenheit gehabt
habe, zu den vorzüglichsten unserer neuern Selbstdenker zähle. Über
das Eigenthümliche seiner aus seinen Schriften bekannten Philosophie
erlaube ich mir hier kein Urteil, da unsere Systeme in mehreren nicht
unwesentlichen Punkten von einander abweichen, und die Halt-
barkeit eines Systems im Streite der Meinungen sich doch zuletzt an
der allgemeinen Menschenansicht erproben muß. Aber der helle
und rasche Forschungsgeist des H. Dr. Beneke kann, wie ich glaube,
sehr wohltätig auf unser Zeitalter mitwirken, um die Fortschritte
eines sophistisch-schwärmerischen Parteigeistes zu hemmen, der ihn
von Berlin verscheucht hat. Was sein Docententalent betrifft, weiß
ich nur, daß er schon in Berlin mit Beifall aufgetreten seyn soll.
Göttingen, den 11. Februar 1827. Bouterwek.
III.
Alfred Fouillee
par Rene Worms-Paris.
Comme les plus illustres sociologues contemporains, Alfred
Fouillee etait venu ä la sociologie par la philosophie. Depuis 1864,
il avait enseigne la philosophie dans differentes chaires, dont la plus
elevee fut celle de TEcole Normale Superieure. II a consacre de nom-
breux ouvrages ä des questions de philosophie proprement dite.
Citons notamment ses livres sur Socrate, sur Piaton, sa these de doc-
torat sur 1 a liberte et 1 e d e t e r m i n i s m e. II s'y montre
desireux de concilier les deux theories opposees : ses preferences scienti-
fiques sont pour le determinisme ; niais il croit utile, pour la morale,
de maintenir quelque chose de la liberte: ce sera, non pas le libre-
arbitre, mais l'idee de notre liberte; celle-ci, presente dans notre
esprit, suffira pour nous donner une independance relative en face
des impulsions etrangeres. Citons encore sa Critique des
systemes de morale contemporains, ses livres
sur Nietzsche, sur Kant, sur L e mouvement positiviste,
sur L e mouvement i d e a 1 i s t e , sur Les n o u v e 1 1 e s
ecoles anti-intellectualistes. Ici aussi, comme
precedemment, il se montre .preoccupe de faire, dans son appreciation
de chaque theorie, des parts equitables ä l'eloge et ä la critique.
On ne s'etonnera pas de trouvcr la meine tendance dans les
Berits sociologiques sortis de sa plume. Plusieurs sont devenus
classiques. Dans La science sociale contemporaine,
il cherche une definition du lien social; Jean- Jacques Rousseau
voyait dans la societe humaine le produit d'un contrat; Herbert
Spencer jugeait, au contraire, qu'elle se forme ä la maniere des or-
ganismes naturels; Alfred Fouillee fusionne ces deux coneeptions
en appelant la societe un ,,organisme contractuel" : sclon lui, eile
naitrait suivant des procedes organiques, et se deve'opperait en-
suite d'apres des procedes contractuels. Cette vue synthetique
a r^uni beaueoup de suffrages. Son auteur a aborde, dans im esprit
analogue, d'autres grands problemes sociologiques. Dans son livre
Archiv für Oosrhiclito dor Philosophie. XXVI. t. ;;
34 Rene Worms, Allred Fouillee.
sur L'i cl e o du droit, il a muntre que le droit est generale-
ment concu, en Allemagne, comme derivant de la force; en Angle-
terre, comme reposantsur i'utilite; en France, comme ne de l'equite;
et il a fait voir ce qu'il y a de legitime dans ces trois conceptions.
Pareillement, dans L a p r o p r i e t e sociale et 1 a d e m o -
c r a t i e , il a reconnn I'utilite sociale de la propriete individuelle,
mais en memo temps proelame l'origine sociale du droit dos proprie-
taires et etabli leurs dette envers la eollectivite. Dans Le so-
cia lisme et la sociologie reformiste, il s'est
montre fort democrate, mais oppose ä tonte violence revolutionnaire.
Ou doit encore ä sa plume feconde de nombreux essais de psychologie
sociale, intitules notamment : T e m p e r a m e n t et c a r a c -
1 e r e , P s y c h o 1 o g i e d u p e u p 1 e f r a n c a i s , L a
F r a n c e a u p o i n t d e v u e m oral, E s q u i s s e p s y -
c h o 1 o g i q u e des p e u p 1 e s e u r o p e e n s.
11 souhaitait que la philosophie se renoväi par l'apport des
donnees scientifiques. De la son livre intitule: L'avenir de la
m e t a p h y s i q u e f o n d e e s u r l'e x p e r i e n c e. Et ces
donnees, elles devaient surtout venir, dans sa pensee, des sciences
sociales. Par exemple, il considerait que les concepts devaient etre
etudies, moins en eux-memes, que dans leur action exterieure, dans
leur vie ä travers L'humanite. Les idees, suivant lui, sont des forces
agissantes; ce sont des idees-forces. ( 'est en paxtant de la qu'il a
esquisse un nouvel evolutionnisme, une nouvelle psychologie, une
nouvelle morale.
Comme on le voit, son oeuvre est tres etendue et tres diverse.
Elle est aussi fort concüiante, fort synthetique. Elle est enfin tres
claire, quoique vraiment savante. On comprend donc aisement qu'elle
nit eu un succes considerable 1). Alfred Fouillee etait le plus lu des
philosophes et des sociologues francais vivants. II etait depuis long-
temps membre de 1' Institut de France et de nombreuses Academies
etrangeres; il avait ete president de PInstitut International de Socio-
logie. Son activite intellectuelle etait restce tres grande, jusqu'a
la veille de sa mort, survenue ä 74 ans. ( 'est une personnalitö clevee
et attachante qui vient de disparaitre.
J) A son action propre, il faui rettacher Celle qu'a exercee l'oeuvre
de J.-M. Guyau, le fils adoptif de FouilI6e.
IV.
War Nietzsche Pragmatist?
Von
W. Eggenschwyler in Turin.
Das mußte komme n ! — Dom Fleiß der philosophischen Systema-
tiker und literarhistorischen Klassifikatoren ist es endlich gelungen,
den ursprünglichsten und unabhängigsten deutschen Denker, den
Zweifler unter den Zweiflern, Friedrich Nietzsche in eine
Schule und Partei einzureihen, und seine persönlichsten und originell-
sten Gedankengänge „historisch zu erklären", von seinem Milieu,
seinen Vorgängern und seiner Lektüre restlos — a b z u 1 e i t e n. -
Mit ebensoviel Scharfsinn als geschickt geordnetem Quellenmaterial
versucht in seinem kürzlich erschienenen. Buch ,,U n Rom a n t i s m e
Utilitaire, e* t u cl e s u r 1 e m o u v e m e n t p r a g m a -
tiste" einer der besten Nietzschekenner des Auslands, Rene Ber-
t h e Lot, den Nachweis, daß Nietzsche in der Hauptsache ein Vor-
kämpfer des in den. letzten Jahren zu so hohem Ansehen gelangten
— Pragmatismus gewesen sei, jener ungemein praktischen
Philosophie des geringsten Kraftaufwands, die die Erkenntnis gänz-
lich dv\- Opportunität, der Moral und Theologie unterordnet und die
„Brauchbarkeit" einer Lehre als einziges Kriterium ihrer Wahrheit
gelten läßt.
Ein verwegenerer Versuch der Klassifikation um jeden Preis,
der „Ableitung" eines Genies aus seinen Vorgängern und Lehrern
dürfte gewiß schwer zu linden sein. Mit Recht wendet in der„B e \ u e"
(vorm. „Revue dfis Revues") der bekannte Journalisl Em i Le Faguet
dem Verfasser ein, auf Nietzsche sei diese bequeme Schulmethode
nicht anwendbar, weil er „mehr als Quelle als als Derivat" zu nehmen
sei; — was hei ihm etwa an die deutsche Romantik oder an die eng-
lischen Utilitaristen ä la Spencer und Mill anklinge, habe in Nietzsches
3
h6 \Y. "Esgenschwvler.
—
Händen eine zu tiefgreifende Umwandlung erfahren, als daß man es
als einen Ausfluß seiner Lektüre auffassen dürfe: insbesondere sei
sein ..Romantisraus" wohl weit mehr seinem dichterischen Tempera-
ment zu verdanken, als — wie Berthelot will — seiner romantischen
Lektüre !
„Nietzsche a v a i t s u b i t r e s profondement
l'influence du romantisme allem and et speciale-
ment Celle de la poesie romantique," schreibt
Berthelot. ..Fondant 1 a n o t i o n de v i e q u ' i 1 d e v a i t
aux romantiques et celle qu'il rencontrait
chez les biologistes derwiniens, Nietzsche se
forma du developpement de 1 a v i e u n e i d e e
plus complexe; qu'il e s s a y a de f i g n r e r d a n s
le symbole lyrique du „surhomme", c-ä-d. de
l'etre chez lequel s'epanouira le plus com-
pletement 1 a p u i s s a n c e de v i v r e . e n p r e n a n t
ä 1 a f o i s c e mot d a n s 1 e s e n s romantique et
dans le sens darwinie n.' '
Das Unzulängliche einer solchen Ableitunssmethode springt in
die Alicen. Dieselbe mag als literarhistorische Schulmethode viel
Gutes haben, besonders gegenüber solchen Schriftstellern, deren
Originalität das mittlere Maß nicht übersteigt, und deren Lebens-
werk von Anfang bis Ende eine Grundidee als ..Leitmotiv durch-
zieht. Wie wenig das für Nietzsche zutrifft, dürfte ohne weiteres ein-
leuchten.
Aus demselben Grund führt die von Berthelot zur Klassifikation
Nietzsches aus seinem Ideenschatz herausgegriffene Grundidee,
daß das Leben wichtiger sei. als das Philoso-
phieren, notwendig zu einer argen Einseitigkeit Dieselbe nimmt
in Nietzsches "Welt- und Lebensanschauung durchaus keine wichtigere
Stelle ein als hundert andere sog. ..Leitmotive**, die dem so heraus-
konstruierten Pragmatismus aufs entschiedenste widersprechen.
Berthelots Behauptungen, Nietzsche sei der .. Champion le plus
intransigeant peut-etre du paradoxe pragmatiste", man atme bei
ihm von Anbeginn ..die Atmosphäre, aus der später durch Konden-
sation der Pragmatismus entstanden sei'*, der ..Wille zur Macht"
sei eine systematische Darlegung desselben usw.. werden daher noch
manches Kopfschütteln veranlassen.
War Nietzsche Praematist? 37
o
Berthelot stützt seine Theorie auf die weitgehende Analogie
zwischen der Erkenntnistheorie Nietzsches und der Vernunftkritik.
die William James seinem „Pragmatismus" voranschickt. Bei James
heißt es dem Sinn nach etwa folgendermaßen: Die „Wahrheit" existiert
nicht außerhalb unseres Denkens (die Zweideutigkeit des Satzes wird
niemand entgehen!); wir nennen Wahrheit gewisse unserer Über-
zeugungen ; dieselben sind aber nicht Überzeugungen reiner Vernunft-
wesen, sondern von fühlenden, wünschenden und wollenden Personen.
Somit tragen auch diese Glaubenssätze den Stempel unserer Gefühle,
Wünsche und Wollungen. — Die „Wahrheit" existiert nirgends; es
existieren nur W ahrheiten, in deren Bejahung immer unbe-
wiesene Postulate mit hineinspielen. So sehr auch diese Beobachtungen
mit den Betrachtungen Nietzsches über die „Herkunft der Logik",
über den „Ursprung der Erkenntnis" usw. übereinstimmen, so steht
doch James im ganzen p o s i t i v e n Teil seiner Lehre zu dem an
Nichts glaubenden Nietzsche im schroffsten Gegensatz.
Gemeinsam ist beiden der Ausgangspunkt: Eine entschiedene
Ablehnung des alten Rationalismus, der im Menschen ein
rein logisches Geschöpf sah und das ganze Triebleben ins Bewußte
übersetzen und gewissermaßen „wissenschaftlich organisieren" und
nachkonstruieren wollte.
Beide, Nietzsche und James, beginnen ihre Lehre mit der Fest-
stellung der unentrinnbaren Gewalt der Gefühle, Wünsche, Vorurteile.
Gewohnheiten, kurz der unbewußten Sphäre unserer Psyche über
unser gesamtes Denken und Wollen; beide halten die menschliche
Vernunft noch für zu jung und zu unerfahren, als daß sie uns in den
meisten Lebenslagen ein sichererer Führer sein könnte, als der seit
Jahrtausenden eingeübte Instinkt es ist. Im Gegensatz zu dem
weit verbreiteten rationalistischen Vorurteil, daß die Kenntnis der
objektiven Wahrheit dem Menschen in allen Fällen nützlicher
sein müsse, als der Irrtum, bestehen sie beide auf der Notwendigkeit
vieler Illusionen und scheuen sich nicht, den Nützlichkeitswert der
Wahrheil selbst in Präge zu stellen. — wenn auch von zwei grund-
verschiedenen Gesichtspunkten aus. — ..Wenn die Illusion dem Leben
unter Umständen nützlicher ist, als die Wahrheit, weshalb halten
wir denn unbedingt an der Wahrheit fest? Weshalb nicht lieber am
Irrtum?" — l);is Weitere wird uns zeigen, wie sehr Nietzsche und
James in der Antwort von einander abweichen.
38 W. Eggenschwyler,
Die Übereinstimmun.g hört jedoch vollständig auf, sobald die
beiden Denker von der bloßen Kritik der landläufigen Erkenntnis-
lehre zum aufbauenden, positiven Teil ihrer Lehre übergehen,
und zur so getadelten Irrationalität des Menschen Stellung
n e h m e n. Gemeinsam ist ihnen lediglich der kritische, negative
Teil ihrer Philosophie; denn während sich bei James die gerügte
Irrationalität des Menschen alsbald in ein „Du sollst", in eine moralische
Vorschrift verwandelt, — nach dem Satz: Niemand ist rein objektiv,
seien wir also bewußt subjektiv!— hält Nietzsche der „in-
tellektuellen Reinlichkeit" zuliebe durchaus am Ideal einer möglichst
objektiven und unparteiischen Erkenntnis fest, — Als guter Theologe
schließt James aus der Unvollkommenheit der reinen Vernunft
sofort auf die — Vollkommenheit der Unreinen,
das heißt der traditionellen Dogmen und Vorurteile. An Stelle der
Feststellung, der Mensch sei (leider) nie ganz objektiv, läßt er durch
eingewandtes Taschenspielerstück unversehens das moralische Postulat
treten: Der Mensch soll subjektiv urteilen, soll schöne Gefühle
für Argumente und starke "Überzeugungen für Wahrheiten halten!
Scheinbar finden wir zwar auch bei Nietzsche da und dort einen
Anklang an diese Lehre (besonders da, wo er sich über die Objektivität
der „wissenschaftlichen Asketen" lustig macht!), doch ist zu be-
merken, daß es sich dabei niemals um eine Erkenntnistheorie, sondern
stets nur um Ratschläge fürs praktische Leben handelt. Das Eigen-
tümliche an Nietzsche ist eben gerade, daß er Lebensweisheit und
Erkenntnislehre streng auseinanderhält, und uns für beide ganz
getrennte und zum Teil widersprechende Rezepte gibt. Die Dichtung
vom „Übermenschen", der im Unterschied zum modernen Gelehrten
all seine Triebe gleichmäßig wachsen läßt, enthält durchaus kein
Rezept zur Erkenntnis der Wahrheit. Obwohl in Nietzsche selbst
der „Wille zur Macht" und der Erkenntnistrieb beinahe zusammen-
fielen, hat er mit keinem Worte angedeutet, daß sein „Übermensch"
ein Philosoph, oder gar der vollkommenste Erkenntnistheoretiker
sein müsse. Er wird im Gegenteil nie müde, uns den Abgrund, der
die beiden Ideale trennt, vor Augen zu führen. Die Tendez James'
aber, den im Menschen festgestellten Hang zur Unvernunft zu einer
ethischen Vorschrift oder gar zu einem W a h r h e i t s k r i t e r i u m
zu erheben, liegt ihm ebenso fern, wie die Vermengung von Wahrheit
und Opportunität.
War Nietzsche Pragiuatist? Ü9
Während Nietzsche der Menschheit gerade ihrer geringen „in-
tellektuellen Reinlichkeit" wegen ins Gewissen redet und unverrückt
am Ideal einer objektiven, von unserer Auslegung und „Anmensch-
lichung" unabhängigen Wirklichkeit festhält, schließt der Pragmatis-
mus: Können wir nicht rein vernünftig- sein, so seien wir eben —
rein u n v e r n ü n f t i g-. Wen erinnert das nicht an die Lebens-
weisheit gewisser Südländer, die da meinen: Wozu uns waschen?
Morgen sind wir ja wieder schmutzig!
Berthelot stützt seine Lehre, Nietzsche sei der erste und ent-
schiedenste Pragiuatist gewesen, auf eine große Zahl von Zitaten aus
„Jenseits v o n G u t und Bös e", aus der ., !; r ö h 1 i c h e n
W i s s e n s c h a f t", aus ,,Z a r a t h u s t r a" usw., aus denen
allerdings mit voller Klarheit hervorgeht, daß Nietzsche so gut wie
James an keine notwendigen und schlechthin allgemeingültigen Denk-
gesetze glaubte, sondern auch die Sätze der Logik als geworden, als
Ergebnisse der menschlichen Zuchtwahl auffaßt. Richtig ist, daß er
damit die philosophische Grundlage des Pragmatismus, nämlich die
Kritik des einseitigen Rationalismus (oder „Intellektualismus")
schärfer und gründlicher formuliert hat, als irgend ein anderer Denker.
Erwähnt seien vor allem die berühmten Aphorismen L10, 111 und
112 der „Fröhlichen Wissenschaft":
„TJ r s p r u n g der E r k e n n t n i s. — 1 )er Intellekt hat
ungeheure Zeitstrecken hindurch nichts als Irrtümer erzeugt; einige
davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend: Wer auf sie stieß
oder sie vererbt bekam, kämpfte den Kampf für sich und seinen
Nachwuchs mit größerem Glück. Solche irrtümliche Glaubenssätze,
die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und
Grundbestand wurden, sind z. B. diese: daß es dauernde Dinge gebe,
daß es gleiche Dinge gebe, daß es Dinge, Stoffe, Körper gebe, daß ein
Ding das sei, als was es erscheine, daß unser Wollen frei sei. daß, was
für mich gut ist, auch an und für sieh gut sei. Sehr spät erst traten
die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf — sehr spät erst trat
die Wahrheit auf als die unkräftigste Form der Erkenntnis.
Es schien, daß man mit ihr nicht zu leben vermöge; unser Organismus
war auf ihren Gegensatz eingerichtet; alle seine höheren Funktionen,
die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Empfindung über-
haupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrtümern. .Mehr
noch: Jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntnis zu de"
4 0 W. Eggenschwyler,
Normen, nach denen man Wahr und Unwahr bemaß — bis hinein
in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also : Die Kraft
der Erkenntnis liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern
in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebens-
bedingung."
(Was hier unter „Kraft" der Erkenntnis zu verstehen ist, dürfte
ohne weiteres klar sein; ebenso, daß Nietzsche hier wie überall scharf
zwischen dieser Kraft und dem Grade von objektiver Wahrheit
unterscheidet. Im Gegensatz dazu möchte James die „Wahrheit"
geradezu auf die „Kraft", d.h. auf das Alter und die Einverleibtheit
einer Erkenntnis zurückführen!)
„Wo Leben und Erkenntnis in Widerspruch zu kommen schienen,
heißt es weiter, da ist nie ernstlich gekämpft worden; da galt
Leugnung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahmedenker, wie die
Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrtümer
aufstellten und festhielten, glaubten daran, daß es möglich sei, diese
Gegenteil auch zu 1 e b e n : Sie erfanden den Weisen als den Menschen
der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der An-
schauung, als Eins und Alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen
für jene ungekehrte Erkenntnis; sie waren des Glaubens, daß ihre
Erkenntnis zugleich ein Prinzip des Lebens sei. Um dies alles aber
glauben zu können, mußten sie sich über ihren eigenen Zustand
täuschen: Sie mußten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel
andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der
Triebe im Erkennen leugnen, und überhaupt die Vernunft als völlig
freie sich selbst entsprungene Aktivität fassen; sie hielten sich die
Augen dafür zu, daß auch sie im Widerspruch gegen das Gültige,
oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu
ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwicklung der Redlich-
keit und der Skepsis machte endlich diese Menschen unmöglich;
auch ihr Leben und Urteilen ergab sich als abhängig von uralten
Trieben und Grundirrtümern alles empfindenden Daseins."
„Endlich aber wurde nicht nur der Glaube und die Überzeugung,
sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Mißtrauen, der Wider-
spruch eine Macht Die Erkenntnis wurde also zu einem Stück
Leben selber, und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht,
bis endlich die Erkenntnisse und jene alten Grundirrtümer auf-
einanderstießen, beide als Leben, beide als Macht, beide in denselben
War Niezsche Pragmatist? 41
Menschen. Der Denker, das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb
zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Grundirrtümer ihren ersten
Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine
lebenerhaltende Macht erwiesen hat."
„Herkunft des Logischen. — Woher ist die Logik
im menschlichen Kopf entstanden? Gewiß aus der Unlogik,
deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber un-
zählig viele Wesen, welche anders schlössen, als wir jetzt schließen,
gingen zugrunde : Es könnte immer noch wahrer ge-
wesen sein! — Wer z. B. das Gleiche nicht oft genug auf-
zufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feind-
lichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der
Subsumption war, hatte geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens
als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der
überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein
unlogischer Hang — denn es gibt an sich nichts Gleiches — , hat erst
alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Be-
griff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob
ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, lange Zeit
das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden
sein. Die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor
denen, welche alles ,im Flusse' sahen. An und für sich ist schon
jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische ang
eine große Gefahr fürs Leben. Es würden keine lebenden Wesen
erhalten sein (?), wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu
bejahen, als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten,
als abzuwarten, lieber zuzustimmen, als zu verneinen, lieber zu urteilen
als gerecht zu sein, — außerordentlich stark angezüchtet worden
wäre. — Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem
jetzigen Gehirn entspricht einem Prozesse und Kampf von Trieben,
die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind. Wir er-
fahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so
versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab."
Über die Naturerkenntnis sodann:
,,Wir operieren mit lauter Dingen, die es nicht gibt:
mit Linien, Flächen. Körpern, Atomen, teilbaren Zeiten, teilbaren
Räumen , wie soll da Erklärung auch nur möglich sein,
wenn wir alles erst zum Bilde machen, zu unserem Bilde ! Es ist
42 W. E g g ensc li w y 1 e r ,
genug, die 'Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der
Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben.
Ursache und Wirkung: eine solche Zweiheit gibt es wahrscheinlich
nie. — In Wahrheit steht ein C o n t i n u u m vor uns, von dem wir
ein paar Stücke isolieren.; sowie wir eine Bewegung immer nur als
isolierte Punkte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern
erschließen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben,
führt uns irre; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es gibt eine
Unmenge von Vorgängen in dieser Sekunde der Plötzlichkeit, die uns
entgehen."
Daß diese Bemerkungen im großen Ganzen mit der Vernunft-
kritik James' zusammenfallen, ist allerdings nicht zu verkennen.
Nur fragt es sich, ob dieselbe an James' System das Wesentliche aus-
macht. Wenn ja, so dürfte schwerlich ein moderner Denker zu finden
sein, der nach Berthelot nicht als Pragmatist zu gelten hätte.
Leider beginnt aber der charakteristische Teil dieser Lehre erst damit,
daß James die also festgestellte Relativität und Subjektivität des
menschlichen Erkennens zu einer ethischen Vorschrift, zu einem
,,Du sollst1' erhebt. Nietzsche wie James anerkennen die verdächtige
Herkunft und die unsicheren Grundlagen der menschlichen Ver-
nunft bis in die obersten und unentrinnbarsten „Denkgesetze" hinein.
Während aber für Nietzsche die so kritisierte Vernunft gleichwohl
das einzige brauchbare W a h r h c i t s k r i t e r i u m ist, benützt
James seine Vernunftkritik nach berühmtem Muster dazu, ein
irrationelles Wahrheitskriterium, eine Art „praktische Ver-
nunft" an ihre Stelle zu setzen. Das objektive Denken wird also nur
heruntergemacht, um dem subjektiven, nächstliegenden, moral- und
routinemäßigen Denken eine Hintertür zu öffnen.
Der Vollständigkeit halber hätte Berthelot seine Zitate unbedingt
durch den kurz darauf folgenden Aphorismus 122 ergänzen sollen,
wo es heißt:
„D a s Lebe n k ein A r g u m e n 1 1 — WTir haben uns eine
Welt zurecht gemacht, in der wir leben können, mit der Annahme
von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung
und Ruhe, Gestalt und Inhalt: Ohne diese Glaubensartikel hielte es
jetzt keiner aus, zu leben. Aber damit sind sie noch
n i c h t s B e w i e s e n e s. D a s L e b e n i s t k e i n A rgu-
War Nietzsche Pragmatist? 43
in e n t ; u n t e r d e n B e d i n. g u n g c n des L e 1) e n s k ö n n t e
d e r I r r t u m sei n."
Derselbe Gedanke tritt uns außer unzähligen andern Sentenzen
desselben Sinnes im Vorwort zum „AVillen zur Macht1' entgegen:
„Die Bedingungen, unter denen man mich verstellt und dann
mit Notwendigkeit versteht, ich kenne sie nur zu genau: Man muß
rechtschaffen sein in geistigen Dingen bis zur Härte, um auch nur
meinen Ernst, meine Leidenschaften auszuhalten. Man muß geübt
sein, auf Bergen zu leben, — das erbärmliche Zeitgeschwätz von
Politik und Völker-Selbstsucht unter sich zu sehen. Man muß gleich-
gültig geworden sein. Man muß nie fragen, ob die Wahr-
heit nützt, ob sie einem Verhängnis wird."
Bei näherem Zusehen reduzieren sich die Berührungspunkte
zwischen Nietzsche und James auf einen einzigen, und auch dieser
ist mehr äußerlicher, zufälliger Natur als Ausfluß einer inneren Ver-
wandtschaft. Beide fordern von der Philosophie (aber nicht von
der Erkenntnistheorie!), daß sie „dem Leben förderlich"
sei. Bedenken wir aber, was für grundverschiedene Vorstellungs-
kreise unsere beiden Denker mit dem an sich sehr vagen Wort „Leben"
verbinden, so müssen wir bald einsehen, daß es sich hier im Grunde
um eine — rein sprachliche Analogie handelt. Denn „Leben" und
„Handeln" bedeuten für Nietzsche in allen Stücken so ziemlich das
Gegenteil davon, was die Pragmatisten darunter verstehen. J a m e s
stellt das religiöse Leben, den Gehorsam, die Unterwerfung unter
eine Gottheit oder überkommene Moral am höchsten, Nietzsche den
ungehemmten „Willen zur Macht", den extremen Individualismus.
Für James ist „Leben," — Glauben und Gehorchen, für Nietzsche
Zweifeln und — Herrschen. Kurz, in allen Stücken ein Gegensatz,
der ziemlich genau dem Nietzscheschen Dualismus von Herrenmoral
und Sklavenmoral, Herrenleben und I [erdenleben entspricht. Um
nur das wichtigste zu erwähnen: für James bedeutet „das Leben
fördernd" zweifellos in. erster Linie „die Moral fördernd", für Nietzsche
eben gerade das Gegenteil. Indessen darf man daraus nicht etwa den
Schluß ziehen, daß auch Nietzsche (\vn Wahrheitsbegriff zugunsten
seines Lebensideals halte !' ä Ischen wollen. Da für ihn der inten-
sivste Lebensgenuß anerkanntermaßen gerade im Zweifeln, Grübeln
und Vorurteile-Stürzen bestand, so ist er wenigstens über den Ver-
44 W. Eggen schwyler,
dacht erhoben, daß er uns ein neues Dogma, einen neuen Glauben,—
mit einem Wort eine neue Scheuklappe habe anpreisen wollen.
Natürlich mußte eine so grundverschiedene Lebensauffassung
auch zu zwei ganz verschiedenen G 1 ü c k s r e z c p t e n führen.
Wer von der Erkenntnislehre nur verlangt, daß sie ihn ruhig schlafen
lasse, ihm seinen Glauben lasse und ihn nicht mit Zweifeln störe,
der wird sich am besten mit der — „unbewußten P h i 1 o s o -
sophie der Sprache" begnügen und in jede Lücke seiner
Weltanschauung ein möglichst wohltönendes Wort („life", ,,action",
,,use", „humanism") treten lassen, während derjenige, dem Philosophie
vor allem Zweifel und Kritik bedeutet, auch auf sprachlichem Gebiet
ein großer Zweifler und Revolutionär sein wird. Und in der Tat ist den
in unserer Sprache und Grammatik verewigten Vorurteilen („Substanz",
Kausalität, Identität und Widerspruch usw.) bisher niemand so
unerbittlich zu Leibe gegangen, wie gerade Nietzsche, wie die von
Berthelot zitierten Stellen zur Genüge dartun. Im Gegensatz dazu
könnten wir die Lehre James' geradezu eine — philosophische Um-
schreibung der englischen Sprache nennen, dieser erzutilitaristischen,
für Priester und Geschäftsmänner gleich praktischen Sprache, die
denn auch die berühmtesten Stellen aus James1 und Schillers Werken
so gut wie unübersetzbar macht.
Die Oberflächlichkeit dieser Philosophie tritt am deutlichsten
zutage, wenn wir beachten, welche Vorliebe ihre Vertreter für möglichst
vage und volltönende Abstraktionen und übereilte Verallgemeinerung
an den Tag legen. Die soziale oder moralische Nützlichkeit zum
Kriterium der Wahrheit zu machen, ist ja auf jeden Fall nur aus-
nahmsweise, nur in einzelnen Fällen, und auch da nur teil-
weise möglich. Jedes Raisonnement, das theoretische wie das
praktische, bleibt notgedrungen immer noch zum größten Teil den
Gesetzen der Logik und der Erfahrung unterworfen. Denn selbst um
festzustellen, welche von zwei Theorien uns die nützlichere
sei und sich mit unserem Handeln oder unseren ererbten Anschauungen
am besten vertrage, bedarf es logischer Schlüsse und empirischer
Daten, die ihrerseits nicht wieder pragmatischer Herkunft sein können.
Das pragmatische Wahrheitskriterium kann also nur ausnahms-
weise, nur beiläufig auf unser Denken einwirken, und bleibt völlig
unbrauchbar, so lange sich die Pragmatistcn nicht die Mühe geben,
uns zu sagen, wo und wieweit wir uns seiner zu bedienen haben. Dazu
War Nietzsche Pragmatist? 45
wäre aber voraussichtlich eine lange und überaus komplizierte
Kasuistik erforderlich, von der uns die Pragmatisten auch nicht
das erste Wort liefern. Sie finden es bequemer, dieses auch vor ihnen
in engen Grenzen zugelassene sog. Wahrheitskriterium (man denke
an Kant !) in ganz unsinniger Weise zu verallgemeiner n.
Daraus, daß in einzelnen Fällen zu allen Zeiten unsere Gefühle,
Wünsche und Vorurteile in unsere philosophischen Betrachtungen
hineingespielt haben, schließen sie nicht nur, daß es nun ein für alle
mal so sein m ü s s e , sondern erheben diesen Schnitzer zur R e g e 1 ,
die nun ü b e r a 1 1 unser Denken leiten soll ! Wie wurde Nietzsche
selbst den Pragmatismus beurteilen, wenn er ihm heute vor Augen
käme? — Die Antwort scheint uns leicht auszurechnen: Alles was
Nietzsche über und wider den „Theologen-Instinkt", die mangelnde
„intellektuelle Rechtschaffenheit der Deutschen" — oder gar der
Engländer geschrieben hat, ist, so übertrieben es manchem erscheinen
mag, buchstäblich auf den Pragmatismus anwendbar und deckt sich
zum Teil wörtlich mit den Anklagen, die S c h i n z seinem „Anti-
pragmatismus" voranschickt,
„Wer Theologenblut im Leibe hat," sagt er unter anderm, „steht
von vornherein zu allen Dingen schief und unehrlich"; — „Was ein
Theologe als wahr empfindet, das m u ß falsch sein. Man hat daran
beinahe ein Kriterium der Wahrheit. Es ist sein unterster Selbst-
erhaltungsinstinkt, der ihm verbietet, daß die Realität in irgend einem
Punkte zu Ehren, oder auch nur zu Worte komme. Soweit der Theologen-
Einfluß reicht, ist das Werturteil auf den Kopf gestellt, sind die
Begriffe wahr und falsch notwendig umgekehrt. Was dem Leben
am schädlichsten ist, das heißt hier wahr, was es hebt, steigert, be-
jaht, rechtfertigt und triumphieren macht, das heißt falsch."
„Woher das Frohlocken, das beim Auftreten Kants durch die
deutsche Gelehrtenwelt ging, die zu drei Vierteln aus Pfarrers- und
Lehrerssöhnen besteht? Woher die deutsche Überzeugung, daß mit
Kant eine Wendung zum Hessern beginne? Der Theologen-Instinkt
im deutschen Gelehrten erriet, was nun wieder möglich war
Ein Schleichweg zum allen Ideal stand offen, der Begriff .wahre
Welt', der Begriff der .Moral als Essenz der Welt' war jetzt wieder
dank einer verschmitzt-klugen Skepsis, wenn nicht beweisbar, so doch
nicht mehr widerlegbar. Die Vernunft, das Recht der Vernunft
reicht nicht so weit Man hatte aus der Kealität eine scheinbare
4G W. E g g e n s c h w y 1 e r ,
Welt gemacht, man hatte eine vollständig erlogene Welt, die des
, Seienden', zur Realität gemacht. Der Erfolg Kants ist bloß ein
Theologenerfolg: Kant war, gleich Luther, gleich Leibniz, ein Hemm-
schuh mehr in der an sich nicht taktfesten deutschen Recht-
schaffenheit."
„Ich nehme ein paar Skeptiker beiseite, den anständigen Typus
in der Geschichte der Philosophie: Aber der Rest kennt die ersten
Forderungen der intellektuellen Rechtschaffenheit nicht. Sie machen
es allesamt wie die Weiblein, alle diese großen Schwärmer und Wunder-
tiere, — sie halten die ,schönen Gefühle' bereits für Argumente,
den gehobenen Busen' für einen Blasebalg der Gottheit, die Über-
zeugung für ein. Kriterium der Wahrheit. Zuletzt hat noch Kant
(und James?) in ,deutscher' Unschuld diese Form der Korruption,
diesen Mangel an intellektuellem Gewissen unter dem Begriff prak-
tische Vernunft' zu verwissenschaftlichen gesucht; er erfand eigens
eine Vernunft dafür, in welchen Fällen man sich nicht um die Ver-
nunft zu bekümmern habe, nämlich wenn die Moral, wenn die er-
habene Forderung ,Dli sollst' laut wird!"
Leider scheint Nietzsche nicht bemerkt zu haben, daß seine
Erkenntnistheorie durch die häufige Anspielung auf den Lebens-
wert der Wahrheit ernstlich Gefahr läuft, selbst als opportunistische,
pragmatistische Wahrheitsidee ausgedeutet zu werden. Wenn
er den Theologen vorwirft, die Begriffe Wahr und Falsch dadurch auf
den Kopf gestellt zu haben, daß sie das Lebensfeindliche „wahr" und
das Lebenbejahende „falsch" nennen, so steht es damit um seine
eigene „intellektuelle Rechtschaffenheit" streng genommen nicht
besser, als um diejenige seiner Gegner, da ja auch er die objektive
Wahrheit von dem rein zufälligen Kriterium ihrer Nützlichkeit ab-
hängen läßt, — nur daß für ihn der Begriff „Leben" wie bekannt
einen ganz andern Sinn hat, als für seine Gegner. Dieser Lapsus mag
nicht wenig dazu beigetragen haben, Berthelot in seiner pragmatistischen
Auslegung zu bestärken. Zum Glück verschwinden aber diese zwei-
deutigen Anspielungen an das Lebensideal des Übermenschen gänzlich
gegenüber den sehr bestimmten gegenteiligen Erklärungen Nietzsches,
die eine' Verwechslung der übermenschlichen Lebensweisheit
mit seiner Erkenntnistheorie durchaus ausschließen. Daß er hie und
da versucht war, seiner nichts respektierenden Skepsis m e h r Lebens-
wert zuzuerkennen, als der furchtsamen Erkenntnistheorie seiner
War Nietzsche Pragmatist ? 47
Gegner, ist leicht begreiflich, wenn wir bedenken, wie sehr in Nietzsche
selbst der bedingungslose Erkenntnistrieb mit dem als Essenz des
Lebens erkannten Machttrieb zusammenfiel (und gar nicht etwa mit
den an der ,, blonden Bestie" hervorgehobenen militärisch-barbarischen
Eigenschaften!). Für Nietzsche persönlich bestand allem Anschein
nach zwischen dem „Willen zur Macht" und dem Willen zur Wahrheit
um jeden Preis kein erheblicher Unterschied.
Das Charakteristische an Nietzsches Philosophie liegt eben darin,
daß für ihn Lebensweisheit und Erkenntnistheorie n i c h t zusammen-
fallen.. Und daß er dem ein möglichst vollständiges Leben auslebenden
Idealmenschen wesentlich andere Ratschläge erteilt, als die, die
nach ihm zur objektiv richtigsten Erkenntnis führen. Selbst wenn
er sich darin da und dort eines kleinen Widerspruchs oder einer Zwei-
deutigkeit schuldig macht, so berechtigt uns das durchaus nicht
dazu, seine sehr kategorischen Erklärungen, daß das Leben, kein
A i' g u m e n t für die Wahrheit sei, und daß sich der Philosoph nie
fragen dürfe, o b die W a h rh e i t n ü t z e , einfach zu ignorieren.
Seine vermeintlichen Widersprüche werden indessen, niemals
an die Bedeutung der großen. Inkonsequenz heranreichen, die das
Wesen des Pragmatismus ausmacht, und der bewirkt, daß
sich der Pragmatismus praktisch selbst aufhebt. Denn da dem von
ihm verfochtenen subjektiven Wahrheitskriteriuni in allen Fällen
nur eine beiläufige, dreinpfusch.en.de Rolle zukommen kann, so wird
das pragmatistische Wahrheitsrezept in seiner allgemeinen Form
praktisch zu einer bloßen Phrase, der wir mit dem besten Willen
keinen deutlichen Sinn entnehmen können. Die Regel bleibt in Wirk-
lichkeit auch für den pragmatischen Denker immer noch das ob-
j e k t i v e Wahrheitskriterium, ob er sichs nun eingestehe oder nicht.
Das subjektive kommt immer erst an zweiter Stelle, nämlich, wenn
der Pragmatisl zum folgerichtigen Denken aus irgend einem Grunde
zu träge oder zu furchtsam ist.
V.
Die Ekstasis als Erkenntnisform bei Plotin.
Von
Dr. Elisabeth Thiel in Breslau.
Was Plotins Lehrsystem überhaupt und seine Lehre von der
Ekstasis als Erkenntnisform insbesondere betrifft, so liegen durch
die Bemühungen von E. Zeller, Dr. H. Kirchner, A. Richter, H. v.
Kleist, A. Drews die Tatsachen in genügender Deutlichkeit vor;
es handelt sich für uns nur um die rechten Gesichtspunkte für ein
geschichtliches Urteil.
Die ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung haben das Größte
gesehen, was in der Geschichte der Menschheit überhaupt zur Ver-
wirklichung gelangt ist; die Entstehung der christlichen Religion,
ihre Durchbildung in Kultus, Lehre, Verfassung, und in den Formen
des sittlichen Lebens, und im Anschluß daran ihre Verbreitung rings
in den Ländern der Kulturwelt.
Es ist daneben in demselben Zeitraum noch anderes Großes
geschaffen worden: die Ausbildung der römischen Monarchie und
des Systems der Verwaltung, die klassische römische Literatur, das
gewaltige System des römischen Rechts, alles Dinge, von denen die
Menschheit noch heute zehrt, wenn auch keines derselben mit der
religiösen Bewegung des Zeitalters an Bedeutsamkeit auch nur von
ferne verglichen werden kann. Jedenfalls, die Neigung, in jenen
Jahrhunderten ein Zeitalter des Verfalls zu erblicken, ist verkehrt.
Kein Abschnitt der Geschichte der Menschheit hat ein stärkeres
schöpferisches Vermögen bewiesen. So hoch man auch den Wert
der Blütezeit atheniensischer und überhaupt hellenischer Kultur
anschlagen mag, das Zeitalter christlich hellenistischer Kultur stellt
dagegen nicht zurück, und wie man gelernt hat, das Griechisch der
hellenistischen Epoche als rechtmäßige Fortbildung der Sprache
Die Ekstasis als Erkenntnisfotm bei Plotin. 49
des Plato und Demosthenes von selbständigem Werte anzusehen,
so sollte man auch die Philosophie Plotins im Verhältnis zu der Piatos
nicht als eine Verfallserscheinung, sondern als eine tiefsinnige Fort-
bildung von schöpferischer Bedeutung und von bleibendem Werte
anzuerkennen sich entschließen.
Die rechte Würdigung Plotins wird denen besonders schwer,
die in der Wissenschaft ausschließlich die Befriedigung des Erkenntnis-
triebes zum Maßstabe des Wertes machen und daneben alles andere
als gleichgültig oder gar als bedenklich betrachten. Aber die Wissen-
schaft übt im Leben des menschlichen Geschlechtes und in dem des
einzelnen Menschen viele Wirkungen von höchstem idealen Werte
noch außer denen, die dem reinen Intellekt angehören! Wirkungen
auf das staatliche Leben, auf die gesellschaftlichen Verbindungen
der Menschen überhaupt, auf das Sinken oder Steigen der Sittlichkeit,
auf Religion und Kirche, auf Industrie und Technik. Wer wissen-
schaftliche Erscheinungen richtig beurteilen will, darf gegen diese
Wirkungen der Wissenschaft nicht blind sein oder sich gegen sie
ablehnend verhalten.
Man wird sagen dürfen, daß in der Philosophie der Hellenen
bis auf die Zeiten des Plato und des Aristoteles das Interesse an der
reinen Erkenntnis wenn auch nicht das einzige, so doch das weit
überwiegende gewesen ist. Als dieses Interesse bei den großen Denkern
aus der Schule des Sokrates seine Befriedigung so weit gefunden
hatte, wie es das Zeitalter und seine Kultur zuließ, da machten sich
in der Wissenschaft selber andere Bestrebungen und Gesichtspunkte
mit größtem Nachdruck geltend und gewannen in dem neuen Ge-
schlecht mit seinen neuen Lagen und Bedürfnissen die Oberhand.
Die Wissenschaft sollte nunmehr dazu dienen, den Menschen inneren
Frieden und Seelenruhe zu verschaffen, sie für die rechte Behandlung
der praktischen Lebensaufgaben tauglich zu machen und sie über
das gemeine Getriebe zu einem höheren geistigen Dasein zu erheben.
Dieser Zug zur Weltweisheit war allen Schulen und Richtungen der
Philosophie in dem Zeitalter nach Aristoteles und Alexander dem
Großen gemeinsam, nicht ohne den Einfluß des darch Alexander
und seine Nachfolger aufgeschlossenen Orients, zu dem fortan das
llellenentum in nahe Beziehung trat, das Eigene mitteilend, das
Fremde entgegennehmend und es mit dem Eigenen verschmelzend.
Stoiker und Epikureer, Skeptiker und Mystiker, Dogmatiker und
Arohiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 1. 4
50 Elisabeth Thiel,
Eklektiker, — so weit sie sonst auseinander gingen, darin waren sie
einig, daß ihnen der Friede der Seele höher stand als das rein in-
tellektuelle Streben nach wissenschaftlicher Befriedigung des Er-
kenntnistriebes.
Eben aus dieser Sehnsucht ist dann der große Zug der Zeit zu
einer den Geist befriedigenden Religion entsprungen und von Jahr-
hundert zu Jahrhundert stärker geworden, ohne den das Christen-
tum nimmermehr so übermächtig sich seinen Platz zu gewinnen
vermocht hätte. Aber allerdings, aus eben dieser zur Religion hin-
treibenden Stimmung und Bedürftigkeit entsprangen für die jungen
Keime der Religion Christi andererseits zugleich die größten Gefahren.
Es ist wohl selbstverständlich, daß eine mißverstandene Pietät an
die alten überlieferten Religionsformen, an die Kulte und Vorstel-
lungen des polytheistischen Heidentums, an seine Göttergestalten
und seine Mythen sich anklammerte und sich gegen die Religion
der Anbetung im Geist und in der Wahrheit so gut es ging wehrte,
indem man den Göttern und Göttermythen, den Kultusgebräuchen
und ethischen Lehren soviel Vergeistigung zu leihen suchte, wie man
mit dem größten Aufwand von Geist irgend zu leisten vermochte.
Damit ist Plotins, des großen Führers und Schöpfers der neu
platonischen Bewegung, geschichtliche Stellung dem äußeren Um-
risse nach gekennzeichnet. Von da aus müssen wir auch zu verstehen
und zu würdigen suchen, was Plotin in der Form der Ekstasis als
Erkenntnismittel und Erkenntnisinhalt schildert und selbst erlebt hat.
Plotin ist auch in diesem Punkte nicht der Urheber und Erstling
gewesen; aber er hat der Lehre weittragende Wirkungen verschafft
auch für das Christentum. Man muß sich immer vergegenwärtigen,
daß die großen Vertreter der beginnenden christlichen Wissenschaft
und die der neuplatonischen Philosophie demselben Zeitalter an-
gehörten, und daß ihnen bei aller Verschiedenheit der Gesichtspunkte
und Bestrebungen doch auch vieles gemeinsam ist, teils weil sie aus
denselben Quellen schöpfen, teils weil die Sehnsucht und das Streben
nach jenseitiger Vollendung in beiden Richtungen mächtig ist. Auch
von diesen heidnischen Philosophen, die die Herrlichkeit Christi
und seiner Kirche nicht kannten oder ausdrücklich verschmähten,
gilt des Dichters Wort: sie lernten das Überirdische schätzen, sie
sehnten sich nach Offenbarung. Auf Plotin hat sicher auch Philo
der Jude Einfluß geübt, der die Übereinstimmung hellenischer
Die Ekstasis als Erkenntnisform bei Plotin. 51
Weisheit mit alttestamentlicher Offenbarung nachzuweisen bemüht
war. Philo hatte platonische, aber auch stoische Lehren in seiner
Weise verwandt. Was die Stoiker als Apathie priesen, das ward
bei ihm zur Abwendung von allem Sinnlichen, um des Friedens in
Gott teilhaftig zu werden. Wo er von dem kontemplativen Leben
oder von der Freiheit des Gerechten und Gottseligen handelt, da
klingt Plato und Aristoteles an. Ihm genügte es nicht, die göttlichen
Kräfte, zu erkennen, mit denen Gott die ganze Welt durchdringt;
er will vielmehr Gott selbst in seinem reinen Wesen ergreifen, und
das kann nur in einfacher Anschauung gelingen; dahin führt nicht
der mühsame Weg des reflektierenden Denkens. Vor Augen stehen
ihm die von Gott begeisterten alttestamentlichen Propheten ; anderer-
seits preist er die reine Kontemplation, die bei den Hellenen Theoria
heißt, die Erhebung des Geistes aus der Welt der sinnlichen Dinge
in seine wahre Heimat, in das Reich der Ideen. Das Ergreifen des
göttlichen Wesens in seiner Einheit und Vollkommenheit durch die
Gott verwandte Vernunft, das ergibt bei Philo das Bild des Zustandes,
den er als Ekstase schildert. Da geht der Geist hinaus über alle sinn-
lichen Gestalten, über alles Sein, das nicht Gott selber ist, wenn es
auch aus Gott stammt, auch über die Ideen und über ihre Zusammen-
fassung in dem einen Logos. Da wo der Geist das reine Licht der
Gottheit ohne jede Trübung schauen und Gott selbst in sich tragen
darf, da findet er seine Seligkeit; da kann er befriedigt ruhen; da
wird der Mensch gleichsam selbst zum Logos, zum Sohne Gottes.
Gott selbst erleuchtet ihn, bewegt ihn wie der Künstler das musika-
lische Instrument. Wie Gott sich den Propheten kundgetan hat,
so teilt er sich dem Weisen und Gerechten mit. Es ist ein Zustand
prophetischer Inspiration, die menschliche Vernunft versinkt, um
Gottes Vernunft allein wirken zu lassen; in weissagenden Träumen,
in hohem Wahnsinn, im Außersichgeratcn des Geistes findet die
Erleuchtung statt. Wenigen wird solche Erleuchtung zuteil; nur
auserlesene Rüstzeuge sind ihrer fähig; der Masse der Menschen
bleibt diese höchste Form der unmittelbaren Anschauung des Göttlichen
versagt.
Dieser Gedankengang, wie er uns bei Philo, dem Juden, ent-
gegentritt, lehrt uns auch die entsprechenden Wendungen dr^ Ge-
dankens bei Plotin, dem Heiden, besser würdigen. Es ist ein gemein-
samer Zug darin, der über dvn Unterschied der Zeiten und der per-
4*
52 Elisabeth Thiel,
sönlichen Stellung hinausreicht, ein Zug von allgemein religiöser
Art und zugleich von tiefer wissenschaftlicher Bedeutung, ein Nach-
hall großer philosophischer Erkenntnisse aus der Blütezeit der helle-
nischen Philosophie, und zugleich voll innerer Beziehung auf die
Wahrheit, die da kommen sollte, die Welt zu durchleuchten. Die
christliche Erkenntnis von dem Verhältnis der von Gott erleuchteten
Menschenseele zu Christus, dem Sohne Gottes, der sich in den Tiefen
des menschlichen Gemütes eine Stätte seiner Offenbarung zubereitet,
klingt bei dem Heiden wie bei dem Juden von ferne an.
Plotin ist im Kern und Grund seiner Lehre Platoniker. Er hat
viele Denker gewissenhaft studiert, vor allem Aristoteles, und ist
mit den Gedanken der Neupythagoreer, insbesondere des Numenius,
genau vertraut gewesen: aber das Platonische ist seines . Geistes
eigentliche Heimat. Wo er von Plato sich entfernt, da ist es die
religiöse Stimmung seines Geistes, die ihn auf eigene Wege leitet.
Aber auch darin bedeutet die Abweichung nicht Entstellung oder
Verfälschung, sondern rechtmäßige Fortbildung im eigenen Geist
und Sinne des Piatonismus. Schon in Plotins Lehre vom Absoluten
sollte man das echt religiöse Motiv seines Denkens erkennen. Seine
liebende Seele schwingt sich über alle Bestimmungen begrifflicher
Art, mit denen man Gottes Wesen zu erfassen trachten möchte, weit
hinaus. Kein Prädikat genügt, um das zu bezeichnen, was des Herzens
Sehnsucht befriedigt. Darum wird geradezu der Verzicht auf das
unterscheidende Denken gefordert, um Gott zu ergreifen. Solange
wir denken, sind wir gezwungen, an bestimmten Punkten Halt zu
machen, uns um Substanz, Qualität, Grund, Existenz zu bekümmern.
Aber Gott ist uns ja nicht ein Fremdes, dessen wir uns in einer dieser
Formen zu bemächtigen suchen müßten. Das Wesen, das die Freiheit
selbst ist, kann auch mit dem Begriff der Freiheit nicht erschöpft
werden; keine Trennung, kein Unterschied reicht an dieses Wesen
heran. Darauf beruht es, daß die letzte und höchste Abstraktion
die Art ist, in der wir uns des Absoluten bemächtigen. Gewiß kann
man es als das Unendliche, als das Eine, als das Gute bestimmen»
dann aber muß man sogleich auch hinzufügen, daß keine dieser Be-
stimmungen das Absolute erschöpft, und somit müssen wir jede
begriffliche Bestimmung, indem wir sie setzen, auch zugleich wieder
aufheben. Das Absolute ist dem begrifflichen Denken gegenüber
das Jenseits schlechthin, jeder positiven Bestimmung gegenüber
Die Ekstasis als Erkenntnisform bei Plotin. 53
das Negative schlechthin, aber es ist das als die aufgehobene Negation:
jenseits des Seins, jenseits des Wirkens, jenseits der Vernunft und
des Gedankens ist es, weil es zugleich alles das ist und über alles das
hinausliegt, auch über Einheit und Schönheit, über Denken und
Leben, während es das Wirklichste und Bestimmteste ist. So müssen
wir es beim Schweigen bewenden lassen, wo wir von ihm reden wollen.
Aber Plotin ist sich wohl bewußt, daß dieses Schweigen die letzte
Fülle aller irgend ausdrückbaren Begriffe bedeutet, daß in dieser
Abstraktion nicht etwa das Nichts als Objekt übrig bleibt, sondern
das All, der eine Grund, die eine Kraft, die in allem Leben und Weben
sich erhaltende eine Tätigkeit.
Wir haben hier nicht das System des Plotin überhaupt nach-
zuzeichnen, auch nicht in seinen äußersten Umrissen; aber eines
ist für unsere Betrachtung von entscheidender Wichtigkeit: die
Stellung der Menschenseele im Zusammenhange des Universums.
Des Menschen Seele stammt aus der überirdischen Welt und gehört
docli durch ihre Verbindung mit dem Leibe der sinnlichen Welt an.
Danach bestimmt sich des Menschen Aufgabe und Beruf. In uns
lebt eine Seele, die im Übersinnlichen daheim ist, und diese eigentlich
sind wir selbst; durch sie bleiben wir in Verbindung mit der göttlichen
Vernunft, die alles Geschaffene durchdringt; durch sie werden wil-
der unmittelbaren Anschauung des absoluten Wesens teilhaftig.
Andererseits lebt in uns ein zweites seelisches Prinzip, das sich der
Verflechtung mit dem Leibe und dadurch mit der Welt der sinnlichen
Erscheinungen nicht zu entziehen vermag. Mit jenem übersinnlichen
Teil unseres Wesens erfassen wir das Reich der Ideen als der göttlichen
Gedanken, die die Welt gestalten, in seiner Einheit, mit dieser auf
das Sinnliche gerichteten Seele bleiben wir auf ein diskursives, reflek-
tierendes Denken angewiesen, wo wir in bestimmte Begriffe unter-
scheiden und trennen und von der sinnlichen Wahrnehmung auf-
steigend Gedächtnisbilder in uns erzeugen und von sinnlicher Ein-
bildung zu den reinen Gedanken gelangen. Wo wird nun der Mensch
sein eigentliches Ziel und seine Aufgabe zu suchen haben? Doch
offenbar in der Verwirklichung dessen, was sein eigentliches Wesen
ist, also in seiner über alles Sinnliche hinausragenden Vernunft-
anlage, in der er mit dem Göttlichen verwandt ist. Und so finden
wir denn auch hier bei Plotin einen platonischen Gedanken in seinem
eigenen Sinne konsequent fortgesetzt.
54 Elisabeth Thiel,
Seine Glückseligkeit, die volle Erfüllung seiner Bestimmung
hat der Mensch nur in der Abwendung von dem Sinnlichen, dem
Niedrigen, in das ihn sein leibliches Dasein immer wieder hinabzieht.
Der Mensch lebt seiner Bestimmung gemäß, wo er sich vom Leibe
und von der Sinnlichkeit reinigt, um die Anlage zur göttlichen
Natur, die er in sich trägt, zu verwirklichen. Aber das Sinnliche
übt dabei zugleich die positive Wirkung, daß es den Geist zu eben
dieser Abwendung und Reinigung erweckt. Diese sündige Welt ist ja
von der Idee nicht verlassen ; als entferntes Abbild der reinen Herrlich-
keit und Schönheit der Idee erinnert sie an die übersinnliche Welt
und erweckt die begeisterte Liebe, den Eros, als die Sehnsucht nach
allem Guten, Schönen und Göttlichen, mit dem die Seele sich im
Schauen zu vereinigen begeht. Da erhebt sich dann die Seele über die
Wahrnehmung, die ein dunkles Denken ist, und löst sich vom Sinn-
lichen ab, das unwirklich bleibt, ein äußeres Abbild dessen, was
wirklich ist, ein bloßes Spielzeug. Das Leibliche und die Sinnen-
empfindung fällt ab wie ein bloß äußerliches, befleckendes An-
hängsel des wahren Wesens. Die Seele dringt weiter hinaus über das
reflektierende Denken, das vermittelt und auf die Einzelheiten der
Erscheinung gerichtet ist; sie sucht das wahre Wissen, das kein
Wissen durch Beweise und vermittelte Denkbewegungen ist. Im
reflektierenden Denken erreichen wir nur eine gewisse Wahrscheinlich-
keit; erst im obersten Vernunftvermögen ist die Stätte reiner Er-
kenntnis; da ergreift der Geist das Notwendige. Der Geist versteht
nur den Geist. Es gilt ein unmittelbares Ergreifen der höchsten
Wahrheit. Indem der denkende Geist sich selbst anschaut, schaut
er das ewige unwandelbare Wesen des Geistes an und ergreift das
reine absolute Seiende, das über alles Sinnliche und über aUe Be-
stimmtheit hinaus ist. In solcher intellektuellen Anschauung wird
der menschliche Geist mit dem göttlichen eins, ohne daß in dieser
Vereinigung das persönliche Leben und Bewußtsein verschwände.
Den Gipfel dieses Schauens nun bezeichnet die Ekstasis. Hier schwindet
die Bestimmtheit des Begriffs und die Klarheit der Unterscheidung
in dem reinen Lichte, in dem der denkende Geist die Bewegung und
Trennung vom Denkenden und Gedachten verliert, Zu diesem Zu-
stande der Befreiung bereitet sich die Seele vor durch Stillesein und
Harren; die Seele muß einsam werden und sich von allem Fremden
lösen, in sich selbst gekehrt, jedem äußeren Bilde, jedem gegen-
Die Ekstasis als Erkenntnisform bei Plotin. 55
ständlichen Gedanken abgewandt. Die Eigenheit wird dann vernichtet,
die Seele ist ein reines Gefäß für die Aufnahme des Göttlichen ge-
worden, vereinfacht, in Selbstvergessenheit, in reiner Liebe wie in
einem göttlichen Wahnsinn befangen, vom Licht des Geistes erfüllt,
selbst reines Licht geworden. In solchem Anschauen vollzieht sich
das Einswerden mit Gott. Da ist alle Disharmonie gelöst, die Seele zu
reinem seligem Genießen gelangt. Es ist kein dauernder Zustand;
die Seele wird in diesem leiblichen Dasein seiner nur für Momente
teilhaftig, die sich in der Zeit wiederholen können. Nach dem Bericht
des Porphyrius ist Plotin in den 6 Jahren, die Porphyrius im Um-
gange mit ihm verlebt hat, viermal in diesem Zustand der Ekstasis
zur Einigung mit Gott gelangt.
Man muß dem Gedankengange Plotins mindestens dies zu-
gestehen, daß er in sich konsequent ist. Von vornherein ist bei Plotin
das Schauen als der höchste Zweck bestimmt. Diese gesamte materielle
AVeit ist dazu gestaltet, damit das schaffende Prinzip sich an diesem
Schauspiel erfreue. Alles praktische Verhalten entspringt aus dem
Schauen und ist nur eine Abschwächung desselben und um des
Schauens willen. Das platonische Prinzip ist auch darin gewahrt;
im Dienste religiöser Stimmung hat es seine weitere Ausbildung er-
fahren. So hat es in der ihm von Plotin erteilten Form mächtig auf
die Nachwelt eingewirkt. Bei dem großen Augustinus, dem Heiligen,
dem Vater der abendländischen Kirche, treten die Einflüsse Plotins
deutlich hervor, und so fortan in der gesamten Christenheit bei den
Gemütern von tieferer Sehnsucht und innigerer Frömmigkeit. Gerade
die Lehre von der Einigung mit Gott in der Ekstase hat bei den
Mystikern in der Christenheit zu allen Zeiten einen kräftigen Nach-
hall gefunden. Die Lehren von der Reinigung und der Abgeschieden-
heit, von der geistlichen Armut und Empfänglichkeit, von der Geburt
Gottes in der Seele, wie sie den Mystikern zu allen Zeiten geläufig
waren, zeigen überall die nächste Verwandtschaft mit der plotinischen
Lehre von der Ekstasis.
VI.
Die Sprachphilosophie Lockes.
Von
Dr. Karl Fahrion.
Wer in den Gedankengang des Loekeschen Hauptwerkes ein-
zudringen versucht, kommt immer wieder auf das dritte Buch zurück,
über das er am Anfang weggelesen hat, weil es nach der Überschrift
vom eigentlichen Thema abzuliegen scheint. Aus diesem Grund
wird auch das „vielleicht wichtigste und geistvollste" unter den
vier Büchern in den meisten Darstellungen der Lockeschen Lehre
als Digression übergangen, was Edmund Pfleiderer schon vor längerer
Zeit beklagt hat x). Auch seither ist darin keine Wandlung ein-
getreten. Im folgenden soll deshalb untersucht werden, welche be-
sondere Bedeutung dem dritten Buch im ganzen der Lockeschen
Lehre zukommt. Es wird gezeigt, daß Lockes Sprachphilosophie
vor allem der Klarstellung des Substanzbegriffs dienen soll, daß
die Sprachphilosophie selbst vom Lockeschen Substanzbegriff be-
einflußt ist, daß das dritte Buch im besonderen die psychologische
Entstehung des doppelten Substanzbegriffs erklären will und in-
sofern den Höhepunkt der Lockeschen Denkens darstellt, endlich,
daß aus diesem Grund die weitere Entwicklung der englischen Philo-
sophie an das dritte Buch Lockes angeknüpft hat.
Locke selbst spricht davon, daß er nicht von Anfang an auf
die Bedeutung der Wörter achten zu müssen geglaubt habe, sondern
erst nachdem er über den Ursprung und die Zusammensetzung der
Ideen hinausgekommen sei und den Umfang und die Sicherheit unseres
x) Edmund Pfleiderer, Empirismus und Skepsis in Dav. Humes
Philosophie. Berlin 1874. S. 12 u. 50.
Die Sprachphilosophie Lockes. 57
Wissens zu prüfen begonnen habe 2). Locke empfand also, daß zwischen
dem, was er im 2. Buch abhandelte und dem, was er im 4. Buch unter-
suchte, eine Lücke sei, daß das 2. Buch nach einer Seite hin einer
Ergänzung bedürfe. Dieser nicht ganz geklärte Begriff kann kein
anderer sein, als der Substanzbegriff, in dem bei Locke die Haupt-
frage der neueren Philosophie, die Frage nach dem Verhältnis von
Denken und Sein, zum Ausdruck kommt.
Sie macht dem Philosophen die größten Schwierigkeiten; denn
sein Standpunkt ist durch gegensätzliche Motive bestimmt. Auf
der einen Seite kann er ein von der Vorstellung verschiedenes Sein
nicht entbehren. Seine Problemstellung geht von dem naiven Glauben
an die Außenwelt aus. Er spricht überall von Objekten, die auf die
Sinne einwirken; ja er läßt die Ideen von den Körpern durch einen
Stoß hervorgebracht werden (IL 8, 11). Seine Unterscheidung ein-
facher und zusammengesetzter Ideen, primärer und sekundärer
Qualitäten ist nicht möglich ohne die Annahme einer von den Ideen
verschiedenen Wirklichkeit, Auf der andern Seite aber sind Sinnes-
wahrnehmung und Selbstbeobachtung für ihn die einzigen Quellen
unsrer Ideen. Durch sie werden uns aber nur die einfachen Ideen
geliefert, welche die sinnlichen Eigenschaften der Dinge, wie Aus-
dehnung, Gestalt und Farbe zum Inhalte haben. Unsere Ideen sind
wohl zu unterscheiden von der Natur der existierenden Gegenstände;
von diesen können wir, da unser Geist keinen andern unmittelbaren
Gegenstand hat als unsre Ideen, überhaupt nichts aussagen. Die
einfachen Ideen bilden die Grenzen unsres Denkens, über die der
Geist nicht um ein Jota hinauskommen kann; von der Idee der Sub-
stanz des Körpers sind wir gerade soweit entfernt, als wenn wir über-
haupt von ihm nichts wüßten. (IL 23, 29 u. 16).
Locke setzt also auf der einen Seite ein von der Idee verschiedenes
Sein voraus, auf der andern lehrt er, daß es von unsem Ideen nicht
erfaßt wird. Daher ist seine Lehre von der Substanz zwiespältig
und ist es immer geblieben. Er faßt den Begriff zuerst in der alten
Weise; es ist das den wahrgenommenen Erscheinungen zugrunde-
liegende wahre und bleibende Sein, der Träger der sinnlichen Eigen-
schaften. Von der Substanz in diesem Sinn haben wir gar keine
a) John Locke, Über den menschlichen Verstand, übers, von Schultz»
(Reclam). Buch III, Kap. 9, § 21.
58 Karl Fahrion,
Erkenntnis; wer sein Denken prüft, findet, daß er keine andere
Idee von ihr hat als nur die Voraussetzung von er weiß nicht welcher
Stütze solcher Eigenschaften, die einfache Ideen in uns hervorzubringen
vermögen, und die man gewöhnlich Accidentien nennt. (II. 23, 2).
Neben diesen alten Begriff stellt Locke einen neuen. Für den
Philosophen sind nach seiner Meinung die Substanzen nur eine Samm-
lung solcher einfachen Ideen, die als Repräsentanten von bestimmten
einzelnen aus ihnen bestehenden Dingen gelten. (II. 12, 6). Der erste
Begriff bezieht sich, wie Locke sagt, auf die Substanz im allgemeinen,
der andere betrifft die einzelnen Substanzen, also die Dinge. Es
ist nun aber nicht so, daß Locke, wie später Berkeley, den alten
Substanzbegriff aufheben und den Dingbegriff allein übrig behalten
würde, sondern die zwei Bestimmungen sind nach seiner Meinung
beide notwendig und nicht von einander zu trennen. Auch die Sub-
stanz im zweiten Sinn, als Summe einfacher Ideen, ist kein genauer
Begriff. Die Eigenschaften und Kräfte der Substanzen sind so mannig-
faltig, daß keines Menschen Idee sie alle enthält. (IL 31, 8). Locke
gibt also den metaphysischen Begriff der Substanz nicht auf; deshalb
hat sein Begriff, seinem doppelten Ausgangspunkt entsprechend,
einen doppelten Inhalt. Die Substanzideen haben in unsrem Geist
eine doppelte Beziehung: 1. Zuweilen beziehen sie sich auf ein voraus-
gesetztes wirkliches Wesen jeder Art von Dingen. 2. Zuweilen sollen
sie nur Abbildungen und Darstellungen existierender Dinge im Bewußt-
sein mit Hilfe von Ideen der in ihnen zu entdeckenden Eigenschaften
sein. So wie so sind diese Kopien jener Originale und Urbilder un-
vollkommen und ungenau. (IL 31, 6). Unsre komplexen Ideen von
Substanzen enthalten neben allen den einfachen Ideen, woraus sie
bestehen, immer noch die verworrene Idee von etwas, dem jene an-
gehören und worin sie den Grund ihrer Existenz finden. Es ist immer
noch die Voraussetzung dabei, daß die Substanz etwas außer der
Ausdehnung, Gestalt, Solidität, Bewegung, dem Denken oder andern
wahrnehmbaren Ideen sei, obgleich wir nicht wissen, was das ist.
(IL 23, 3).
Es ist zu verstehen, daß Locke das Bedürfnis empfand, diesen
so merkwürdig verwickelten und verworrenen Begriff aufzuklären 3).
3) A. Riehl, Der philosophische Kritizismus. 1876. I. S. 52: Der
Begriff der Substanz bereitet der Lockeschen Theorie augenscheinlich ( ie
Die Sprachphilosophie Lockes. 59
Daß er zu diesem Zweck auch auf die Bedeutung der Wörter zurück-
ging, mag äußerlich darin begründet sein, daß der Philosoph in seiner
Jugend die mittelalterliche ' Philosophie und namentlich die Lehre
des Occam von den Universalia studiert hatte. Innerlich begründet
ist sein Unternehmen in dem Umstand, daß der Substanzbegriff
Lockes, wenigstens nach einer Seite hin, inhaltslos, also nichts weiter
als ein Wort ist; wenn außerdem beide Substanzbegriffe ungenau
sind und das Wesen der Substanz nicht wiedergeben, so lag der Schluß
nahe, ihre Bedeutung beruhe auf dem Zweck der sprachlichen Mit-
teilung. Der Philosoph jedenfalls betrachtet sein Zurückgreifen
auf die Bedeutung der Wörter wie eine neue, wichtige Entdeckung.
Die Erzählung im 3. Buch (Kap. 9, § 16) steht in Parallele zu der
aus der Einleitung bekannten. Wie ein Streit unter Bekannten ihn
auf den schöpferischen Gedanken geführt hat, vor der Entscheidung
über die Probleme müsse man prüfen, wie weit unsere eigenen Fähig-
keiten gehen, so geht ihm bei einem zweiten Streit die Erkenntnis
auf, vor jeder genaueren Untersuchung müsse man zuerst die Be-
deutung der Wörter prüfen.
Die Ausführung seiner Absicht enthält das 3. Buch. Für unsern
Zweck genügt es, einen kurzen Überblick über ihren allgemeinen
Teil, also über die drei ersten Kapitel, zu geben. Manches ist dabei
ausgelassen oder umgestellt, da Lockes Darstellung wegen ihrer
ewigen Wiederholungen wenig übersichtlich ist; auch so tritt die
eigentliche Meinung Lockes erst allmählich deutlich hervor.
Im 1. Kapitel ist die Rede von der Sprache im allgemeinen,
von der Fähigkeit des Menschen, artikulierte Laute hervorzubringen,
diese zu Zeichen seiner Ideen zu machen und allgemeine Zeichen
zu bilden. Bald geht Locke über zur Einteilung des Stoffs; er will
zeigen, erstens, worauf im Sprachgebrauch Namen unmittelbar An-
wendung finden und zweitens, worin das Wesen der Gattungen und
Arten bestehe; denn die meisten Namen sind nach seiner Meinung
allgemein und drücken Arten und Klassen von Dingen aus. Weiter
soll gezeigt werden, worin die natürlichen Vorzüge und Mängel der
Sprache bestellen, wie der Mißbrauch der Wörter entstehe und wie
ihm gesteuert werden könne.
größten .Schwierigkeiten, daher die beständig wiederkehrende Bemühung,
diesen Begriff aufzuklären.
60 Karl Fahr ion,
Die erste Frage wird rasch in dem zweiten, kurzen Kapitel ab-
gehandelt. Die Wörter sind für die Mitteilung unsrer Gedanken
notwendige sinnliche Zeichen. Sie sind zunächst nur die Zeichen der
Ideen dessen, der sie gebraucht; sie drücken weder die Idee eines
andern noch die Eigenschaft eines Dings aus. Tatsächlich aber haben
sie oft eine verborgene Beziehung auf die Ideen anderer. Sie setzen
voraus, daß unsre Wörter auch den Ideen anderer entsprechen und
ebenso werden sie auch auf die wirklichen Dinge bezogen, da die
Menschen nicht in den Verdacht kommen wollen, von bloßen Ein-
bildungen zu reden.
Im 3. Kapitel wendet sich Locke der zweiten Frage zu, wie es
sich mit den Namen der Gattungen und Arten verhalte. Die meisten
Wörter, führt er aus, sind allgemein; denn es ist unmöglich und un-
nötig, für jedes einzelne Ding einen Namen zu haben. Wörter werden
dadurch allgemein, daß sie zu Zeichen allgemeiner Ideen gemacht
werden, Ideen dadurch, daß sie von den örtlichen und zeitlichen
Umständen und irgend welchen anderen Ideen getrennt werden,
die ihnen die Bestimmtheit dieser oder jener einzelnen Existenz geben.
Man läßt von den Ideen der einzelnen Individuen das aus, was jeder
von ihnen eigentümlich ist und behält nur das allen Gemeinsame
zurück. Auf diesem Weg der Abstraktion erhalten die Ideen die
Fähigkeit, mehrere Individuen als eins darzustellen. Die allgemeinen
Wörter bezeichnen nicht bloß ein einzelnes Ding, auch nicht eine
Mehrheit, sondern eine Art von Dingen. Sie sind Erfindungen und
Schöpfungen des Verstands und deshalb besteht das Wesen der Arten
eben in der abstrakten Idee.
Freilich ist zuzugeben, daß die Natur bei der Hervorbringung
der Dinge eine Anzahl derselben ähnlich gestaltet, wie wir es besonders
deutlich sehen an den Tiergeschlechtern und an allen sich durch
Samen fortpflanzenden Wesen. Aber das reale Wesen dieser Gat-
tungen, d. h. die Ursache der Gleichförmigkeit, kennen wir nicht,
Wir wissen nichts von einer gewissen Anzahl von Formen und Scha-
blonen, worin alle existierenden Naturdinge gegossen wären, und
woran sie gleichmäßig teil hätten. Mit der Vernunft läßt sich über
das reale Wesen der Gattungen und Arten nichts ausmachen. Ein
Beweis dafür ist die Tatsache, daß schon oft bei der Geburt eines
Kindes ein Streit entstand, ob es ein Mensch sei oder nicht. Das
ist nur deshalb möglich, weil wir das reale Wesen des Menschen nicht
Die Sprachphilosophie Lockes. 61
kennen und weil unsre Idee „Mensch" nur eine unsichere und wandel-
bare Sammlung einfacher Ideen ist, die der Verstand zusammen-
gefügt hat. Wir bilden solche Sammlungen einfacher Ideen zum
Zweck der leichteren Mitteilung des Wissens und legen ihnen ein-
heitliche Namen bei, um so die Dinge gleichsam bündelweise betrachten
und besprechen zu können.
Es sind demnach zwei Bedeutungen von Wesen auseinander-
zuhalten, das nominale und das reale. Das reale ist die wirkliche,
innre, wenn auch unbekannte Beschaffenheit der Dinge, das, wodurch
sie sind, was sie sind. Unsre allgemeinen Ideen beziehen sich nun
gewöhnlich auch auf ein solches reales Wesen, aber mit Unrecht,
da uns dieses unbekannt ist und wir nach ihm niemals die Dinge
in Gattungen und Arten einteilen könnten. Wir können die Dinge
nur nach den vom Verstand gebildeten abstrakten Ideen sortieren.
Das Wesen der Gattungen und Arten liegt also in der abstrakten
Idee; sie stellen nur das nominale Wesen dar, d. h. die Summe der
wahrnehmbaren Eigenschaften, nach denen wir die Dinge benennen.
Auf diese drei ersten Kapitel des dritten Buchs folgen noch
andere, in denen Locke zuerst seine allgemeine Sprachphilosophie
auf die einzelnen Arten von Ideen anwendet und dann allgemeinere
Bemerkungen über die Unvollkommenheit der Wörter und ihren
Mißbrauch macht. Er stellt darin seine Auffassung der Wörter immer
wieder von einer neuen Seite dar, in der Hauptsache aber gibt er
eine praktische Anwendung und eine Wiederholung seiner Sprach-
philosophie.
Es ist nicht schwer zu sehen, daß diese hauptsächlich oder fast
allein auf den Substanzbegriff berechnet ist. Denn nicht nur ist der
Abschnitt über die Substanznamen (Kap. 6) der umfangreichste,
die Unterscheidung von Nominal- und Realwesen, in der die all-
gemeinen Ausführungen Lockes gipfeln, findet gar keine Anwendung
auf die andern Wortarten. Bei den Namen der einfachen Ideen fällt,
wie Locke im 4. Kapitel ausführt, Real- und Nominalwesen zusammen ;
sie sind vollständig dem Dasein der Dinge entnommen und ganz
und gar nicht willkürlich. Ihnen entspricht also wirklich eine reale
Existenz. Die Namen der gemischten Modi und Relationen aber
sind willkürlich und ohne Rücksicht auf ein reales Dasein vom Geist
geschaffen. Bei ihnen handelt es sich also gar nicht um ein reales
62 Karl Fahrion
Wesen; denn ihre Realität besteht allein und ganz in der Idee. Nur
nebenbei soll erwähnt werden, daß auch die Art, wie die Namen der
einfachen und gemischten Modi entstehen, nicht zu der im 3. Kapitel
(§ 6 und 7) angegebenen paßt, d. h. daß sie nicht auf dem Weg der
Abstraktion zustande kommen können. Was Locke dagegen über
die Substanznamen sagt, ist nichts anderes als eine Wiederholung
seiner allgemeinen Sprachphilosophie. Hier fallen nominales und
reales Wesen auseinander. Die Natur macht die Ähnlichkeiten, aber
die Menschen bestimmen die Arten. Jede Substanz hat wohl ihre
eigentliche innere Beschaffenheit, worauf die sinnlichen Eigenschaften
und Kräfte, die wir an ihnen wahrnehmen, beruhen; aber das Ein-
ordnen der Dinge in Arten geschieht den Ideen gemäß, die wir von
ihnen haben. (III. 6, 13). Die Substanzidee besteht nur aus einer
Sammlung von sinnlichen Ideen, die wir an den Substanzen wahr-
nehmen. (III. 6, 9). Bei ihrer Bildung verfahren die Menschen will-
kürlich; sie haben mehr die Bequemlichkeit der Sprache im Auge
als die wahre und genaue Natur der Dinge; die Namen sind deshalb
schwankend und unsicher und bei verschiedenen Menschen ver-
schieden. Die Substanznamen haben also nach Lockes Meinung
eine Beziehung sowohl auf das reale als das nominale Wesen; aber
beide Beziehungen sind ungenau. Das reale Wesen ist uns unbekannt
und die Sammlung einfacher Ideen, welche das nominale Wesen
darstellen, ist unvollständig, weil es dem doch vorhandenen realen
Wesen nicht entspricht.
Das zeigt, daß die Sprachphilosophie nicht bloß auf den Substanz-
begriff berechnet ist, sondern, daß sie von Anfang an die Eigen-
tümlichkeiten des Lockeschen Substanzbegriffs in sich enthält. Locke
stellt nicht eine voraussetzungslose Untersuchung an über die alte
Frage nach der Bedeutung der Universalia, sondern er nimmt sogleich,
wie es seiner Erkenntnistheorie entspricht, an, daß die allgemeinen
Ideen, auf welche die allgemeinen Wörter sich beziehen, zusammen-
gesetzter Art sind; diese Ideen aber sind nach seiner Lehre vom mensch-
lichen Geist geschaffen und sind keine Abbilder der Wirklichkeit.
Daneben aber setzt er voraus, was allein für die Substanz zutrifft,
daß die allgemeinen Ideen doch in der Ähnlichkeit der Dinge ihre
Grundlage haben; sie enthalten also doch eine Hinweisung auf das
Sein. Lockes Auffassung der Wörter ist also von Anfang an durch
seinen Substanzbegriff bestimmt; die Unterscheidung des realen und
Die »Sprachphilosophie Lockes. 63
nominalen Wesens entspricht ganz seinem doppelten Substanzbegriff.
Lockes Antwort ist deshalb beidemal nicht eindeutig. Seine Sprach-
philosophie ist nicht rein nominalistisch, wie sie vielfach aufgefaßt
wird4). Die allgemeinen Begriffe sind nicht bloße Namen; es ent-
spricht ihnen ein Sein, nur ist uns dieses Sein verborgen. Die Sprach-
philosophie enthält deshalb auch dieselben Widersprüche wie die
Substanzenlehre. Die Namen der einfachen Ideen sollen von einer
realen Existenz entnommen sein und auf eine solche hinweisen; die
Namen der Substanzen aber, die doch aus einfachen Ideen zusammen-
gesetzt sind, sollen willkürlich gebildet und das ihnen entsprechende
Sein soll uns vollständig unbekannt sein. Weiter sollen auf der einen
Seite unsre Substanznamen mit der wahren Natur der Dinge über-
einstimmen, wir sollen, verlangt der Philosoph, die Natur und die
Eigenschaften der Dinge selbst untersuchen, um dadurch unsre Art-
begriffe zu vervollkommnen; auf der andern Seite wird nach Lockes
Lehre (III 6, 48 ff.) ein reales Wesen nur deshalb vorausgesetzt,
um den Arten Festigkeit zu geben und dadurch die Wörter brauch-
barer zu machen.
Durch die Sprachphilosophie ist also die Frage nach der Substanz
in keiner Weise gelöst oder auch nur geklärt; im Gegenteil, das 3. Buch
ist, wenn das genialste, dann gewiß auch das widerspruchvollste.
Auf alle Widersprüche einzugehen ist hier nicht der Ort; wenn aber
die Sprachphilosophie so wenig zur Lösung beiträgt, so müssen wir
fragen: Welchen Zweck hat sie dann und welchen Dienst leistet sie
Locke? Sie soll seinen widerspruchsvollen Substanzbegriff stützen
und rechtfertigen, indem sie eine psychologische Erklärung desselben
gibt. Die SprachpHilosophie gibt an, was der Begriff, sofern er aus
einer Sammlung einfacher Ideen besteht, zu bedeuten hat und welchen
Zweck er erfüllt. Er ermöglicht es, die Dinge bündelweise zu betrachten
und unser Wissen rasch und leicht mitzuteilen. Aber auch die Be-
ziehung des Begriffs auf eine reale Existenz ist erklärt. Die eben er-
wähnten letzten Paragraphen des 6. Kapitels sind hier wohl zu be-
achten. Nur aus sprachlichen Gründen, sagt Locke, wird ein reales
Wesen vorausgesetzt. Unsre Substanzideen als Sammelbegriffe sind
unvollständig und deshalb schwankend. Müßten wir deshalb an-
4) z. B. von Ed. Fechtner. John Locke, ein Bild aus den geistigen
Kämpfen Englands im 17. Jahrhundert. Stuttgart 1897, S. 178.
64 Karl Fahrion,
nehmen, unsre Nebenmenschen verstehen unter ihren Namen etwas
anderes als wir, so wäre das ein großes Hindernis für den Gebrauch
der Sprache. Man setzt daher voraus, daß zu jeder Art ein reales
Wesen gehöre und daß unser Name dieses reale Wesen in sich enthalte
und ausdrücke. Durch diese Erklärung ist der Dualismus Lockes
sanktioniert. Freilich ist zugleich der Substanzbegriff noch mehr
in den Hintergrund gedrängt. Es gibt wohl eine Substanz, aber unsre
Erkenntnis erscheint doch ganz als subjektiver Besitz und zum Teil
als subjektiven Ursprungs. Nun ist eine Vermittlung zwischen dem
2. und 4. Buch gefunden; Locke konnte getrost an die Aufgabe heran-
treten, Umfang und Sicherheit des Wissens zu untersuchen und konnte
mit dem Satz beginnen, daß die Wahrheit in der Erkenntnis der
Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung zweier Ideen bestehe,
ein Satz, an dem er freilich im späteren Verlauf wieder nicht konsequent
festhielt.
Die Sprachphilosophie stellt also eine idealistische Weiterbildung
der Lockeschen Lehre dar; bei dem Versuch, seinen Realismus zu
stützen, wird der Philosoph von selbst auf die idealistische Bahn ge-
lenkt 5). Das kommt äußerlich darin zum Ausdruck, daß Lockes
Nachfolger, Berkeley, gerade an die Sprachphilosophie angeknüpft
hat. Man brauchte nur diese Stütze des Substanzbegriffs wegzunehmen,
so wurde der Begriff hinfällig. Nun war ein Angriff auf die Sprach-
philosophie nicht schwer. Locke gründete das Recht des Substanz-
begriffs auf seinen sprachlichen Zweck und diesen auf den Charakter
des Begriffs als eines allgemeinen und abstrakten. Dadurch entstanden
große Schwierigkeiten. Denn im 2. Buch hatte Locke eine Idee der
Substanz im allgemeinen, dann die Ideen eigentümlicher Arten von
Substanzen, endlich komplexe Sammelideen von Substanzen unter-
schieden. Wie kann man sich nun unter diesen Ideen zurechtfinden,
wenn doch nach dem 3. Buch auch die Ideen der eigentümlichen Arten
der Substanzen allgemeiner Natur sind? Berkeley löste die Schwierig-
keit, indem er in der Einleitung zu den Prinzipien die Existenz all-
gemeiner, abstrakter Ideen kurzerhand leugnete. Damit war der
Lockesche Substanzbegriff zerstört. Berkeley fand dabei Anknüpfungs-
punkte bei Locke selbst, so im 4. Buch (17. 8), wo dieser ausführt,
5) Dieser Seite der Lockeschen Lehre steht ihr „recht massiver Realis-
mus" gegenüber. A. Schopenhauers Werke. Stuttgart, Cotta. VIII, S. 21.
Die »Sprachphilosophie Lockes. 65
daß das unmittelbare Objekt all unsres Wissens nur einzelne Dinge
seien, daß unsern partikularen Ideen Allgemeinheit nur beiläufig
zukomme und nur darin bestehe, daß ihnen mehr als ein einzelnes
Ding entsprechen könne. Und im 3. Buch (10, 15) bezeichnet schon
Locke die Materie als bloßes Wort und leugnet, daß es ein solches
vom Körper verschiedenes Ding wirklich in der Natur gebe.
So stellt die Sprachphilosophie den Höhepunkt des Lockeschen
Systems dar; es bezeichnet den Punkt, an dem die Lehre Lockes über
sich selbst hinausführen mußte. Gewiß geht im 3. Buch das Denken
des Philosophen am tiefsten, wenn auch seine Darstellung dieselben
Mängel aufweist wie sonst. Allein von dem Begründer eines neuen
Problems kann man nicht verlangen, daß er sogleich eine klare und
endgültige Lösung finde.
Archiv für Geschichte der Philoi«phie. XXVI. 1
VII.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer.
Von
Oscar Schuster.
Durch seinen glänzenden Stil, seine persönliche Art zu philoso-
phieren, seine ästhetisierende und moralisierende Richtung ist Schopen-
hauer in weitere Kreise eingedrungen. Er hat auch das Schicksal er-
lebt, daß sein Charakterbild durch der Parteien Haß und Gunst
verwirrt, in der Geschichte schwankt 1). Und dem muß wohl auch so
sein. Es gehen zu viele Gefühle, zu viel von der Persönlichkeit des
Philosophen in das Werk ein 2). Bei der fortschreitenden Psychologie
J) Zur Orientierung über die Schopenhauerliteratur: Überweg-Heinze,
Geschichte der Philosophie, 10. Aufl., 4. Bd., S. 96 ff. Laban, Schopenhauer-
literatur. Ein Nachtrag dazu ist erschienen. Hertslet, Schopenhauer, Register
zu den Werken. Gustav Friedrich Wagner, Enzyklopädisches Wörterbuch
zu Schopenhauers Werken. Ferner sind bei Abfassung dieser Arbeit auf den
Verfasser von Einfluß gewesen: Grisebach, Schopenhauers Leben. Grisebach,
Schopenhauer, neue Beiträge zur Geschichte seines Lebens nebst einer Schopen-
hauer-Bibliographie. Kuno Fischer: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre.
Lehmann: Schopenhauer, ein Beitrag zur Psychologie der Metaphysik. Möbius,
Schopenhauer. Dieses Buch ist stark psychiatrisch gefärbt. Volkelt, Schopen-
hauer. Von Gwinner: Schopenhauers Leben. Dieses bedeutende Buch hat
jetzt seine dritte Auflage erlebt. Jürgen Bona Meyer, Arthur Schopenhauer
als Mensch und Denker. Graf Keyserling, Schopenhauer als Verbilder. Fried-
rich Paulsen, Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles, drei Aufsätze zur Natur-
geschichte des Pessimismus. Kowalewsty, Studien zur Psychologie des
Pessimismus. Kowalewsky, Arthur Schopenhauer und seine Weltanschauung.
Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie Bd. 28, S. 33. von Brock-
dorff : Schopenhauer und die wissenschaftliche Philosophie. Eduard v. Hart-
mann: Zur Geschichte und Beg?ündurg des Pessimismus, dazu die Polemik
in den ,, Kantstudien" u. a. m.
"-) Vgl. dazu die bedeutenden Ausführungen von H. S. Chamberlain in
dem Abschnitt über Bruno in seinem Kantwerk, S. 308 ff.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 67
wird mancher Streit um Objekte mehr zum Subjekt führen, und es
wird vielleicht auf diesem Boden eine Duldung erwachsen können,
welche besser fundamentiert ist, als manch andere Toleranz. Wir sind
eben alle innerhalb gewisser Grenzen gegebene Größen und können
nur ein „Partialleben" führen. In dieser Richtung ist das Werk von
James: „Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit" sehr be-
grüßenswert. Hier wird der Versuch gemacht, bestimmte Menschen-
typen auseinnader zu spalten und zu charakterisieren, und dann
wieder durch Ideen zu vereinigen 3). „Velle non discitur" ! Dieses
„Velle" hat Schopenhauer tief in sich gespürt und zu einem Angel-
punkt seiner Philosophie gemacht, es künstlerisch gestaltet. Hier
handelt es sich nicht nur um etwas Anthropormorphes, sondern um
etwas Individuomorphes — sit venia verbo ! Ein Weltbild schuf der
Philosoph, das vom Typus der schwermütigen Seele geschaffen worden
ist, um mit James zu sprechen, und ein Bild auch, das in den Zeit-
verhältnissen lag: In manchem Sinne ein antirationalistisches4).
Vor 7 Jahren ist das Buch von Möbius zum ersten Male erschienen.
Es scheint mir, daß wir heute in der Lage sind, etwas tiefer in die
Persönlichkeit des Philosophen Einblick zu erhalten. Möbius hat
das Werk als Psychiater geschrieben. Seither ist eine Reihe von.
Publikationen in gleichem Sinne in der deutschen Literatur erschienen.5)
Für den philosophisch Geschulten fällt an vielen dieser Veröffent
lichungen das Durcheinanderwerfen des biologischen und des
ethischen Standpunktes in der regellosesten Weise auf. Nietzsche,
der starke Betoner biologischer Werte, die bei ihm freilich teilweise
mit den ethischen zusammenfielen, würde wohl Manches an seiner
Lehre zu modifizieren haben, wenn viele der neueren Anschauungen
bedingungslos gelten. Der Psychiater kann in manchen Fällen in
eine bedenkliche Lage kommen einem Manne gegenüber, der seiner
Zeit vorausgeeilt und in Widerspruch mit herrschenden Gewalten
gekommen ist. Ganz objektiv angesehen, müßte schon das Bestellen
so unendlich vieler Werte nebeneinander vorsichtig machen. Man
3) Vgl. auch Richert, „Schopenhauer", 6. Vortrag, Epikrise.
4) Am besten ist dem Jcel in seinem Buche über Nietzschs und die
Romantik, gerecht geworden. Siehe S. 202: Schopenhauer und die Romantik.
5) Alles Nähere darüber findet man in dem Literaturverzeichnis von
William Stern, das dieser seinem Buche „Dift'erenzielle Psychologie" bei-
gegeben hat.
5*
68 Oscar Schuster,
kann Arzt und dabei ein krasser Philister sein. Wie viele unserer
Anschauungen Klassenanschauungen sind, das möge man in dem
interessanten Buch von Hellpach, ..Xervenleben und AVeit an schauung"
nachlesen 6). Man kann sehr wohl fragen, ob etwas, das für den Homo
sapiens (Mitogenetisch wertlos, nicht phylogenetisch sehr wertvoll
sein könne. Der Begriff des Zweckes spielt stark in die Wertfrage
hinein. Man braucht nur an Kants „Kritik der Urteilskraft" zu er-
innern, um sich zu sagen, daß ohne Philosophie eine gedeihliche Be-
handlung dieser Probleme nicht wohl möglich ist. William Stern hat
viel Gründliches über den Begriff der Norm in seiner differentiellen
Psychologie gesagt. Abhandlungen über den „normalen" Menschen
würden vorerst noch sehr verdienstlich sein. Stern betont mit Recht,
daß normal keinen Punkt, sondern eine Strecke bezeichnet7). Schopen-
hauer gehört zu dem Typus von Menschen, welche man neuerdings
als „emotionelle Nichtaktöve" angesprochen hat8).
Hennann Cohen spricht in seinem bekannten Werke „Kants
Theroie der Erfahrung"9) bei der Verteidigung von Kants trans-
zendentaler Deduktion von Schopenhauers „Kraftsprache". Es wäre
aber ein großer Irrtum, hinter starken Ausdrücken ohne weiteres
eine Kraftnatur zu vermuten. Viele Psychopathen bewegen sich bei
ihrer leichten Erregbarkeit sehr schnell in starken Ausdrücken, manch-
mal sehr zu ihrem späteren Leidwesen. Die Nichtaktivität zeigt
sich an Schopenhauers ganzer Lebensführung. Sein Leben geht auf
ein Ausweichen hinaus. Seine Dozentenlaufbahn gibt er bald auf,
6) Drastische Beispiele für den Wert mancher „psychiatrischer" Be-
urteilung findet man bei Pelmann, „Psychische Grenzzustände", S. 61 und
in Lamarcks „Philosophischer Zoo'ogie", Ausgabe von Schmidt, Verlag von
Kröner, S. XIV.
7) Möbius hat außer über Schopenhauer noch über Rousseau, Nietzsche,
und Goethe geschrieben. Das zweibändige Werk über diesen halte ich für
die schwächste Arbeit. Ferner habe ich benützt Sadgers Psychopathologien;
Ribot, Die Persönlichkeit, 4. Auflage. Hoche. Moderne Analyse psychischer
Erscheinungen. Groß, Über psychopathische Minderwertigkeiten. Birnbaum,
Über psychopathische Persönlichkeiten. Hoffmann, Kant und Swedenborg.
Groß, Die zerebrale Sekundärfunktion.
8) Vgl. Zeitschrift für Psychologie, Bd. 51. De Artikel von Heymans
und Wiersmar über Menschentypen. Siehe auch Hejmans, „Die Psychologie
der Frauen", S. 192 ff., S. 252, S. 271 ff.
9) 2. Aufl. S. 349 ff. Der zitierte Ausdruck S. 354.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 69
sein Umgang beschränkt sich zeitlebens auf wenige Personen. Schopen-
hauer hat einige seiner pathologischen Seiten idealisiert, z. B. seine
Neigung zur Einsamkeit. Die Sprache spricht nicht umsonst von
Sonderlingen. Eine der charakteristischsten Episoden ist das Gespräch
des jungen Studenten mit dem alten Wieland: „Das Leben ist eine
mißliche Sache, ich habe mir vorgesetzt, es damit zuzubringen, über
dasselbe nachzudenken"10). In dem Alter ist der Mensch doch sonst
mit Aktivität gesättigt.
Bei dem hohen Intellekt eine sehr starke Reflexionslust. Diese
Neigung schuf ihm in der Jugend viel natürliches Leid: „Ein junger
Philosoph ist uns ein wenig gegen das Gefühl, und der Erwachsene
wird geneigt sein, in einem unerwachsenen Weltweisen einen vor-
lauten Burschen zu sehen"11). Und sehr hoch schätzte dieser Welt-
weise diese Welt nicht ein! „Einem Menschen wie ihm sei, besonders
solange er jung sei, in allen Lebensverhältnissen beständig zu Mute,
wie einem, der in Kleidern stecke, die ihm nicht passen". Alle per-
sönlichen Sorgen seien ihm gegenüber einem philosophischen Gedanken
verschwunden, der sei ihm Ernst gewesen, alles andere dagegen. Spaß 12).
Die starke Emotionalität tritt an vielen Stellen der Werke hervor.
Im Leben schuf sie ihm viele Leiden. Sie war ihm auch ein Feind,
der bekämpft werden mußte „aus Selbsterhaltimg" 1;'). Die Heftigkeit
seiner Polemiken, sein Benehmen gegen Beneke, seine Art, wie er
sogar gegen einen Kant zu Felde zog, sind besonders drastische Zeugen.
Das bekannte Abenteuer mit der Näherin Marquet war eine der
teuersten Lehren für ihn. Auch die Briefe gegen die Mutter, dann
deren Briefe an ihn sind charakteristisch, besonders der bei Gwinner,
S. 48 der 3. Auflage mitgeteilte Brief ist sehr bezeichnend. Der von
Grisebach herausgegebene Briefwechsel bildet eine reiche Fund-
grube seiner emotionalen Schreibart.
In seiner Jugend war Schopenhauer eine weiche höchst ver-
wundbare Natur. Diese ist ja für viele Psychopathen charakteristisch
und kann bei falscher Behandlung zu schweren Depressionen der
Anlaß werden. „Sensibilität und Intcllektualität waren in ihm alle
10) Cwinner S. 68.
n) Möbius, 1. Aufl S. 47.
la) (iwinner, 3. Aufl. S. 263.
13) Vgl. Sadger, „Konrad Ferdinand Meyer". Eine pathographisch-
psychologische Studie.
70 Oscar Schuster,
Zeit vorherrschend, weshalb er alle Zeit für die Übel und Unbilden
dieses Lebens die intensivste Empfänglichkeit hatte, von den Freuden
und Genüssen verhältnismäßig weniger bewegt wurde. Deshalb lagen
von Jugend auf seinen Träumen von Glück immer Szenen der Zurück-
gezogenheit, der Stille, der Einsamkeit und des Selbstgenusses zu
Grunde" 14). Damit vergleiche der Leser Betsys Worte über ihren
Bruder Konrad Ferdinand Meyer, den großen Schweizer Dichter,
der auch unter dem Erbteil seiner Ahnen litt. „Neben dem rastlosen
Gedankenflug war meinem Bruder noch eine zweite künstlerische
Anlage zuteil geworden, ein Erbstück meiner Mutter, das er aber
noch nicht wie sie in ihrer zarten Weise erheiternd und tröstend
Andern zu Gute kommen ließ, sondern als scharfes Werkzeug gegen
sich selbst wandte zur eigenen Qual. Er hatte wie sie em höchst reiz-
bares feinfühlendes Organ für fremde Individualitäten, ein echo-
gleiches langes Fortklingen persönlicher Eindrücke, die sich in den
verschiedensten Variationen weiterbildeten. Es war eine Schärfe des
Empfindens und des Unterscheidens, die ihn vorderhand nur un-
glücklich machte. Die leiseste Empfindung empfand er als schmerzenden
Stoß" 15). Diese Art hatte Schopenhauer vom Vater, auch bei Konrad
Ferdinand Meyer scheint der Vater sie gleichfalls besessen zu haben.
Betsy sagt über den Vater: ,,Jede Aufwallung der Demokratie, die
an den Andern spurlos abglitt, tat ihm augenscheinlich körperlich
weh."
Diese Sensibilität ist ein wesentliches Moment zum Verständnis
des Pessimismus des Philosophen. Sie verstärkte die düstere Gemüts-
lage, die ihm eigen war. Diese Sensibilität hat wohl auch Schuld an
einer gewis3en Härte des Charakters in den späteren Jahren, die in
so grellem Gegensatz zu seiner Mitleidsmoral steht 16). Diese Empfind-
samkeit züchtet leicht Egoisten ganz gegen ihren Willen. Solche
Menschen werden gezwungen, gegen ihre Absicht an sich zu
denken. Sadger leitet aus dem peinvollen Sich-Empfinden die
Assoziations-Unlust her. Diese Naturen sind su verwundbar, schon
im engen Kreise, geschweige denn in der Rohheit, Gleichgültigkeit
und Alogik des Lebens. Sie betasten ihren Seelenlcib ganz reflektorisch,
14) Gwinner, S. 204 der 3. Auflage.
18) Zitiert nach Sadger.
-6) Vgl. dazu die Ausführungen von Weininger in seinem Buche ,,Ce-
sclileclttund Charakter" S. 316 der 1. Auflage
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 71
wenn sie eine Berührung daran verspürt haben. Häufen sich solche
Eindrücke, so wird der Blick nach Innen mächtig entwickelt, und er
geht in die Tiefe, wenn eine bedeutende Persönlichkeit dahinter steht.
So war es auch bei Schopenhauer. Er verinnerlichte sich. "Was muß
ich tun, damit ich selig werde, war die Frage, die ihm vor die Seele
trat.
Solche Leute beschäftigen sich viel mit sich selbst, geben peinlich
Acht auf ihr Inneres, zergliedern sich und können sich auch wohl
selbst zerfleischen. Eine gewisse Entspannung kann durch die Ab-
lenkung auf ein bestimmtes in das Auge gefaßte Ziel geschaffen werden.
Schopenhauer wollte Reize meiden, weil er hochgradig verwundbar
war. Es fiel ihm auch schwer, bei seiner Nichtaktivität Bekannt-
schaften anzuknüpfen. Seine Verstimmungen ließen ihn gern größere
Geselligkeiten meiden. Mit Schopenhauers Sensibilität hängt seine
Ansicht über das Leiden eng zusammen. „Schopenhauer hat zum
ersten Male in. der neueren Philosophie den absoluten Wert des Leidens
betont, in Übereinstimmung wohl mit aller Mystik". „Alles
Leben, überhaupt alle Objektivation des positiven Willens bedingt
nach Schopenhauer ein Leiden" 1T). Es liegt nahe, hier auch an
Nietzsche zu denken 18). Im Zaratlmstra finden sich viele Äußerungen
über das „Reagieren-Müssen". Schopenhauer kannte es auch aus
eigener bitterer Erfahrung. Ein Gott gab ihm aber, dieses Leiden zu
verklären, und diese Verklärung war ein Auslösen von Spannungen
ähnlich wie sie der Dichter erlebt, eine der Triebfedern seiner Philo-
sophie. Das Leiden hat bei ihm zwei Wurzeln: Die erste ist diese
abnorme Seelenkonstitution. Der bekannte Schweizer Psychiater
Dubois hat dafür den Ausdruck Psychasthenie geprägt 19). Schopen-
hauers Lebensschicksale in der Jugend haben fremder Einwirkung
bei solcher seelischer Bauart stark Raum gegeben. Man stelle sich
doch vor: Ein junger Mensch wird schon mit 9 Jahren auf 2 Jahre
1T) Mühlethaler, „Die Mystik bei Schopenhauer". Siehe auch Sixomel,
„Schopenhauer und Nietzsche" S. 73 ff. E. von Hartmann, „Zur beschichte
und Begründung des Pessimismus", Abschnitt XV.
18) Bei Nietzsche spielt die Erscheinung des Reagieren-Müsscns eine
wichtige Rolle als Degenerationsmerkmal.
19) Dubois, „Die Psychoneurosen und ihre psychische Behandlung/*
Dubois, „Pathogenese der neurasthenischen Zustände" S. 512 ff., längere
Ausführungen übe: die Schwierigkeit einer scharfen Begriffsabgrenzupi:.
72 Oscar Schuster,
von Hause entfernt, wird dann wiederholt aus seinem Milieu gerissen
und geht mit 15 Jahren in diesem ohnehin enorm eindrucksfähigen
Alter auf eine fast 2 jährige Reise, die ihn durch halb Europa führt.
Vor dieser langen Wanderschaft hat ihn die Familie unsinnigerweise
vor eine Schicksalsfrage gestellt, er soll über den künftigen Beruf
entscheiden.
Dabei war es ein Frühreifer, mit 30 Jahren hatte Schopen-
hauer bereits sein Hauptwerk geschrieben. Und dazu handelte
es sich um einen Jüngling von außergewöhnlicher Intelligenz und
Rezeptivität. Es ist ja erstaunlich, wie schnell er die Lücken seiner
Bildung ausfüllte.
Er wird während des Aufenthaltes in England auf 6 Monate in
eine „infame Bigoterie" hineingedrängt, sieht eine Reihe der herr-
lichsten Landschaftsbilder an sich vorbeiziehen, besucht das ganze
südliche Frankreich und erblickt die Gletscher von Chamonix. Aber
er erblickt auch das Elend der Welt, „untreu dem glücklichsten
Leichtsinn des eigennützigsten Lebensalters" 20).
Und daß dies Elend so besonders starken Eindruck auf ihn
machte, kann ihm wohl nicht zur Unehre angerechnet werden. Hält
man neben die Ausführung Schopenhauers einen Optimismus, wie
er von vielen Naturwissenschaftlern im 19. Jahrhundert vertreten
worden ist, so muß man sich billig über die Flachheit dieser Herren
wundern 21). Man merkt es den Ausführungen Schopenhauers an,
daß es sich um Gedanken aus dem Herzen handelt, um in seiner
Sprache zu bleiben.
Es drängt sich hier unwillkürlich der Vergleich mit einem Größeren
auf, als er es war, mit Augustin. Auch in ihm lebte eine starke Emo-
tionalität. Er war von großer Sensibilität, eine von Grund aus vor-
nehme und wahrheitsliebende Natur, ein Mann von starkem Ge-
rechtigkeitsgefühl, ein Geist, der die Vereinheitlichung des wechsel-
vollen Chaos in einem Urgrund auf das Innigste erstrebte. Schopen-
hauer hat denn auch immer mit Hochachtung von Augustin ge-
20) Gwinner S. 14, 15, 16; S. 23 eine besonders charakteristische Stelle.
Vgl. dazu die Bemerkungen von Möbius S. 58 ff.
21) Siehe Gustav Wang, Schopenhauer-Darwin, Pessimismus oder
Optimismus. Vgl. auch Weininger, „Geschlecht und Charakter", 1. Aufl.
S. 441.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 73
sprechen, so rühmte er seine Ehrlichkeit gegenüber dem Problem der
Erbsünde und der Willensfreiheit -).
Für Schopenhauer waren diese beiden Probleme gleichfalls
brennend, er wählte den Weg zur Erlösung nicht durch die Gnade
Gottes, da er ihm nicht offen stand. Aber auch er mußte transzendentes
Land betreten, und er wurde ein Mystiker. Ja, er verwies auf die
großen Männer der Kirche. Seine Aktivität zog Augustin in den
Kampf. Aber auch sein inneres Leben fand einen großen Ausdruck
im Gottesstaat 23). Ein tiefer Pessimismus durchzieht auch dieses
Werk. Gerechtigkeit und Gnade sind die Schlußakkorde. Die massa
perditionis fällt der Verdammnis anheim -4).
Schopenhauers starkes Selbstgefühl ist oft ungünstig beurteilt
worden, ebenso seine Eitelkeit. Möbius hat ihn in Schutz genommen.
Gewiß, er empfand bis in den Grund seiner Seele hinein aristokratisch,
Begriffe wie Gleichheit der Menschen waren ihm zuwider. Aber ich
kann nicht finden, daß er damit so unrecht gehabt hat. Ohne allen
Zweifel haben sich diese Eigenschaften durch Jugenderlebnisse ver-
stärkt. Der junge Philosoph war nicht anerkannt worden, und so
fühlte er in sich auch die Wahrheit beeinträchtigt, und da verstand
er keinen Spaß. Es gibt ein Gefühl der Befriedigung, das mit Eitelkeit
nichts zu tun hat. Auch Konrad Ferdinand Meyer ist es nicht ver-
dacht worden, daß er sich seines Erfolges nach langem Harren im
Dunkel gefreut hat 25). Der Philosoph sah endlich sein Werk erhöht,
sein Kind, um dessen Fortkommen mit heißem Eifer er sich bemüht
hatte, anerkannt. Daß er das Haupt hochtrug, geschah wohl auch
— ) Schopenhauers Aussprüche über Augustin: Hertslet, Schopenhauer-
Register S. 14. Wagner, Enzyklopädisches Wörterbuch S. 24.
Über die eigentümliche Stellung, in die sich Augustin gedrängt sah,
wird man sich am besten klar» wenn man die Prädestination und Gnadenvahl
und die Lehre vom Bösen in das Auge faßt. Siehe Rottmanner, „Der Augustinis-
mus" und Scipio, „Schopenhauers Metaphysik im Rahmen seiner ehre vom
Übel". Die ganze Literatur über Augustin bei Bardenheber. Patrologie. Zur
Erlösungslehre Schopenhauers besonders Hecker, „Schopenhauer und die
indische Philosophie" IL und III. Abschnitt S. 182, 183, 184; S. 237 Charak-
terisierung der Persönlichkeit Schopenhauers.
23) Reuter, AugUStinische Studien, übersetzt „Ciottesstadt".
21) Für den Pessimismus Augustins ist sehr charakteristisch das 22. Ka-
pitel des XXII. Buches.
25) S. die Biograpl e von Frey, S. 305.
74 Ose arSc huster,
aus dem Geiste der Opposition. Das Pbilisterium hatte er am eigenen
Leibe gründlich kennen gelernt. Vielleicht ist hier auch eine der
Wurzeln für die Abneigung gegen sein Volk, zu dessen Kardinalfehlern
es gehört.
Die Einsperrung in den kaufmännischen Beruf hat sicher sehr
dazu beigetragen, den Pessimismus zu verstärken. Das Joch lastete
auf ihm schwerer als auf Andern, Erinnerungen daran traten ihm vor
die Seele und erregten ihn später noch, so daß er doppelt ängstlich
um die Erhaltung seines Vermögens besorgt war. Eine lebhafte Phan-
tasie spiegelt sicli in seinen Schriften wieder. Sie quäle ihn oft und
war ein getreuer Diener seines Mißtrauens. Sie half die Nebel in
seiner Welt zu gespenstigen Gestalten ballen, sie verbitterte ihm den
Ausblick in die Zukunft. Vielleicht war sie auch eine der Triebfedern,
warum er später den Ort nicht mehr wechselte. Er sah im Geiste an
neuen Örtlichkeiten neues Ungemach.
Über die Stellung des Philosophen zu den Frauen ist viel ge-
schrieben worden. Beinahe in jedem Buche über die Frauenfrage
kann man den Namen Schopenhauer finden. Ich brauche hier wohl
nicht das Märchen vom Frauenhasser wieder aufzuwärmen oder von
einem Sonderling, der nie zu ihnen in Beziehungen getreten ist 20).
Bei Schopenhauers Stellung zu den Frauen wollen folgende Punkte
in das Auge gefaßt werden: Seine starke lntellektualität, sein Un-
abhängigkeitssinn (Widerwille gegen Dauerverbindungen), seine Wahr-
heitsliebe, sein Denken an die gefährliche Stellung im Leben, seine
Selbstgenügsamkeit, seine syphilitische Erkrankung. Ein rein intellek-
tueller Typus des Mannes hat für die Frau im Durchschnitt wenig-
Anziehendes. Er steht ihrem Gesichtskreis zu fern. Abstrakte Ideen
fesseln das weibliche Geschlecht im allgemeinen nur, wenn sie mit
Emotionellem verknüpft sind, wie dies bei religiösen Lehren der Fall
ist. Heymans zitiert in semem Buche über' die Psychologie der Frauen
einen Ausspruch von Lotze und bemerkt selbst, daß die Seltenheit
weiblicher Genies weniger auf mangelnden Fähigkeiten, als auf
mangelnden Neigungen beruht, weniger auf dem Können als auf dem
26) Vgl. u. a. Joel, „Nietzsche und die Romantik" S. 266. Möbius,
„Schopenhauer" S. 8, 71 ff.; dann des gleichen Autors Buch über den physiolo-
gischen Schwachsinn des Weibes Iwan Bloch, „ras Sexualleben unserer
Zeit" S IX des Namensregisters der 7.-9. Stereotyp-Ausgabe. Weininger,
„Geschlecht und Charakt^ " 1. Aufl. S. 314.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 75
Wollen 2T)- Schopenhauer mußte nun aus seiner Natur heraus neue
Werte schaffen. Schon dem Durchschnittsmann gegenüber geriet er
in eine mißliche Lage, geschweige denn gegenüber der Frau. Er blickte,
wie aus seiner Kritik der Weiblichkeit hervorgeht, nach bestimmter
Richtung und erwartete, daß sich ihm von dieser Seite her das Weib
nähern sollte. Das aber war ein Irrtum. Nietzsche schätzte da besser
ein. Weininger sagt 28) : „Es ist die allgemeine Passivität der weiblichen
Natur, welche die Frauen auch am Ende die männlichen Wertungen,
zu welchen sie gar kein bestimmtes Verhältnis haben, akzeptieren und
übernehmen läßt." Möbius drückt einen ähnlichen Gedanken so aus,
daß er von einer verlogenen Anerkennung der Sittlichkeit von Seiten
der Frauen redet, die man gar nicht Heuchelei nennen kann, weil
nichts antimoralisches durch sie verdeckt werden soll. Schopenhauer
konnte, wollte er sich nicht selbst aufgeben, wie auch Möbius schon
betont hat, keine Ehe auf geistiger Gemeinschaft gründen. Er sah,
daß es sich für ihn um eine Utopie handelte. Er wußte, daß er in
ein Joch s:ebeuet werde. Er trachtete nach dem Werke und nicht
nach dem Glück. Freilich fiel ihm Werk und Glück bis zu einem ge-
wissen Punkte zusammen. Sein Selbst stand auf einer Karte. Sie
zu spielen war zu gewagt. Zu viel Nieten standen in Aussicht. Es ist
für mich kein Zweifel, daß auch für den Sehopenhauerschen Menschen-
typ eine Ergänzung existiert. Aber will man ihn tadeln, bei der
verschwindenden Seltenheit eines Gegen parts und bei der eignen, klar
erkannten Unfähigkeit, zu suchen?
Vielleicht spielt auch die Assoziationsunlust eine Rolle, aber wohl
bemerkt neben den andern Umständen. Seine von Iwan Bloch nach-
gewiesene syphilitische Erkrankung 2B) mag ihn stark beschäftigt
haben. Seinem Pessimismus war sie eine gute Nährstätte, besonders
wohl durch Meditationen über das enge Zusammenliegen der Lust
mit dem Gift.
In späteren Jahren, hat er sehr wenig weiblichen Umgang gehabt,
und das ist in vielen Beziehungen zu bedauern. Manches seiner Urteile
ist dadurch, zu hart geworden 30).
27) Heymans, „Die Psychologie der Frauen" S. 152 und 153.
28) „Geschlecht und Charakter", 1. Auf age S. 355.
29) Medizinische Klinik 1906 Heft Nr. 25 und 26.
co) »S. Jtel, „Nietzsche und die Romantik" S. 266.
76 Oscar Schuster,
Als Faktor, der zur weiteren Verdüsterung seines Gemütes bei-
trug, müssen die Familienverhältnisse angesprochen werden. Den
Vater verlor er früh 31), ein Schicksal, das ja die Söhne höherer Stände
öfter trifft, als die anderer. Es fehlte ihm die im Kämmerlein über-
mittelte Erfahrung. Die ersten Erfahrungen der Welt müssen bei der
Verlogenheit und Konventionalität der gesellschaftlichen Zustände
immer täuschen. Schopenhauer bemerkt denn auch einmal, sicherlich
auf Grund eigner Erfahrungen, daß es das Zeichen eines gemeinen
Charakters für einen jungen Mann sei, wenn er lernt, sich in der Welt
schnell zurecht zu finden.
Der Vater starb auf eine unglückliche Weise. Plötzlich wird er
dem so tief impressioniblen Sohn geraubt. Die Mutter wurde ihm
immer mehr zum Fremdling. Die größere Schuld an dem Zwiespalt
ist ihr zuzumessen: Weltdame, Schöngeist, eine ziemlich kaltherzige,
aber gern in Gefühlen schwelgende Egoistin. Sie heiratete den älteren
und ungeliebten Mann. Als Schriftstellerin fühlt sie sich als inter-
essante Frau. Sie spielt die Rolle mit Vergnügen. Sie schmeichelt
ihrer Eitelkeit. Solche Frauen messen sich mit Vorliebe an ihren
Geschlechtsgenossinnen und verlieren dann häufig den Maßstab für
sich gänzlich. Man sehe sich einmal diese Briefe an, diese Verständnis-
losigkeit der federgewandten Literatin dem grübelnden Sohn gegen-
über, dieses kühle nüchterne Wägen, diese berechnend gesetzten
Worte. So wenig von Wärme und Gefühl. Es würde falsch sein,
Schopenhauer für einen Mann zu halten, der für Liebe unzugänglich
war. Bei seiner Konstitution konnte sich wenig nach außen entladen.
Gerade die Empfindsamkeit schiebt immer den Riegel vor, wo es gilt,
ein Gefühl zu zeigen. Es ist ein schädliches Phänomen auch nach
meiner Überzeugung für die Entwicklung der Seele. Von Mensch
zu Mensch, besonders bei der gegenseitigen Annäherung, sind derartige
Naturen ziemlich hilflos. Eine merkwürdige Rolle spielen sie darum
häufig in der Liebe 32). Möbius meint, dem jungen Schopenhauer
sei der Pessimismus Herzenssache gewesen, dem alten Sache des Ver-
standes. „Bald scheint die Sonne schon um Mittag, bald bricht sie
erst gegen Abend durch die Wolken. Das Leben eines Menschen mit
ausgesprochener Dyskolie gleicht einem Tage, an dem der Himmel sich
31) Literatur über Schopenhauers Vater bei Gwinner, 3. Aufl. Register
S. 435.
3'-) Möb'.us, „Schopenhauer", 1. Auflage S. 39 und 40, vgl. auch S. G3.
Die Wurzeln des Pessimismus bei Schopenhauer. 77
schon in den Morgenstunden umzieht, und erst dann, wenn die Sonne
sich neigt, ihre Strahlen zum wehmütig-heiteren Abschiede leuchten.
So war Schopenhauers Leben" 33).
Als die Beziehungen zur Mutter sich lockerten, da kam auch
sein Stolz, seine Hartnäckigkeit, sein Rechthabenwollen um jeden
Preis mit in das Spiel, und nüchterne geschäftliche Erwägungen traten
dazu. Die Verschwendungssucht der Mutter scheint mir gegenüber
Möbius1 Ansicht doch zu Recht zu bestehen 34). Möbius beurteilt im
Gegensatz zu Grisebach Johanna Schopenhauer sehr wohlwollend.
Sehr wenig sind wir über die meines Erachtens wichtige Frage
der Arbeitskraft und der Ermüdung unterrichtet. Es ist wichtig, sich
klar zu machen, daß die Leistungsfähigkeit sehr häufig durch das
Maß der Willenskraft verdeckt wird, das einem Menschen zu eigen ist.
Neuerdings ist darauf hingewiesen worden, welche Wichtigkeit der
Ermüdbarkeit für die Seelenkonstruktion zukommt 35).
Ein besonderes Licht auf die Persönlichkeit des Philosophen
wirft seine Lehre von der Kunst. Hier merkt der Leser, der sich ein
wenig in sie versenkt hat, überall Schopenhauer selbst. Der Frank-
furter Sonderling war ein Mann, dem die Kunst Erlösung brachte,
Sich-selbst-verlieren, Ruhe von Gefühlsstürmen, von der Sensibilität,
von der Weltverachtung, vom Ärger, vom peinvollen Empfinden des
eigenen Ich. Der Denker hatte das Denken in der Kunst verloren.
Er hatte empfunden, daß die höchsten Augenblicke im künstlerischen
Genießen die sind, in denen das Subjekt im Kunstwerk verschwindet.
Ich glaube, daß wir berechtigt sind, in Schopenhauer einen Vorläufer
der Einfühlungstheorie zu sehen und habe das in einem Vergleich mit
der Einfühlungstheorie von Theodor Lipps in diesen Blättern näher
ausgeführt 36).
33) Eucken spricht von „ohnmächtiger Geistigkeit" Schopenhauers.
Eucken, „Lebensanschauungen großer Denker", 6. Auflage S. 470.
34) Über das Verhältnis zur Mutter, Möbius S. 17 ff., 19, 45. Gwinner
S. 435 (Register).
35) Die Literatur bei Offner, die geistige Ermüdung S. 83. Stadelmann,
„Ärztlich-pädagogische Vorschule", besonders S. 161 ff. Man vgl. die Aus-
führungen Stadelmanns über den katatonischen Typus mit einzelnen Schil-
derungen Schopenhauers bei Möbius.
36) Vgl. Hellpach, „Ner ^enleben und Weltanschauung" Kap. IV „Die
nervöse Psyche". Über Einfühlung (der Druckfehlerteufel hat Einführung
daraus gemacht) Archiv für Geschichte der Philosophie Bd. 25 Heft 1, vgl.
be sonders S. 116.
78 Oscar Schuster,
Sein Pessimismus bricht in seiner Ästhetik teilweise ganz im-
verhüllt durch. Lehrreich ist auch zu sehen, wie Lipps entgegen dem
Nichtaktiven-Emotionellen dem Aktivitätscharakter der Einfühlung
gerecht wird 37). Bei Schopenhauer ist es immer mehr das passive,
entspannende Element: „Das Rad des Ixions steht still, auf die
Zuchthausarbeit des Willens folgt Sabbatruhe. Wir kennen diese
Ruhe, die den von Leidenschaften und Not Gequälten überkommt,
wenn er in die Fülle der schönen Natur blickt. Glück und Unglück
sind verschwunden, wir sind nicht mehr das eine Individuum, sondern
das Weltauge" 38).
Der Drang zur Ruhe wurde mit dem zunehmenden Alter stärker.
In späteren Jahren hat Schopenhauer recht hart über das Reisen
geurteilt. Wir müssen aber doch dem Schicksal dankbar sein, daß ei-
sernst die Welt gesehen hat. Der Weltmann spricht aus seinen Schriften,
nicht der Stubengelehrte. Der englische Aufenthalt und der Verkehr
mit Engländern scheinen ihn besonders stark beeinflußt zu haben,
wie man bei Gwinner näher nachlesen kann. Von den trüben Ein-
drücken der Jugend ist schon gesprochen worden.
Auf das Kapitel vom „Genie" bei Schopenhauer kann nicht ein-
dringlich genug hingewiesen werden. Viele Züge sind vom eigenen
Ich genommen. Er betont die Unpraktischkeit des Genies: „Alles
kommt zuletzt darauf an, wo der eigentliche Ernst des Menschen
liegt. Bei fast allen liegt er ausschließlich in dem eigenen Wohl und
dem der Ihrigen, dalier sie dies und nichts anderes zu fördern imstande
sind, weil eben kein Vorsatz, keine willkürliche und absichtliche An-
strengung den wahren, tiefen, eigentlichen Ernst verleiht oder ersetzt
oder richtiger verlegt, Denn er bleibt stets da, wo die Natur ihn
hineingelegt hat: Ohne ihn kann alles nur halb betrieben werden.
Daher sorgen, aus demselben Grunde, geniale Individuen oft schlecht
für ihre eigene Wohlfahrt" 39). Schopenhauer spricht wenige Zeilen
später von „abnormen Menschen", ebenso von „Unnatürlichkeit",
dann aber von „Übernatürlichkeit".
37) Lipps, „Ästhetik" 1. Teil, Grundlegung de- Ästhetik S. 101, 109,
120—124; vgl. auch den Leitfaden der Psychologie 2. Aufl. (die 3. ist inzwischen
erschienen), 5. Abschnitt.
•i8) Zitiert nach H. R'chert, „Schopenhauer" S. 02.
:!9) 2. Bd. von ürisebachs Ausgabe S. 452.
Die Wurzeln -les Pessimismus bei Schopenhauer. 79
Im 31. Kapitel der Ergänzung des dritten Buches der „Welt als
Wille und Vorstellung" heißt es: „Intellekt und Willenstrennung sind
der Grundzug des Genius." Alle Genies aber seien Melancholiker.
Schon Aristoteles habe das gefunden. Der hauptsächlichste Grund
dafür nun sei der, daß der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt
er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes
wahrnimmt 40).
Der Philosoph kommt bei seiner Lehre vom Genie auch auf die
Sensibilität zu sprechen und erklärt sie geradezu für unerläßlich.
Er schreibt : , Wenn wir uns endlich noch das Genie von der somatischen
Seite betrachten, so finden wir es durch mehrere anatomische und
physiologische Eigenschaften bedingt, welche einzeln selten voll-
kommen vorhanden, noch seltener vollständig beisammen, dennoch
alle unerläßlich erfordert sind, so daß daraus erklärlich wird, warum
das Genie uns als eine völlig vereinzelte, fast potentose Ausnahme
vorkommt". — „Die Grundbedingung ist ein abnormes Überwiegen
der Sensibilität über die Irritablilität und Reproduktionskraft, und
zwar, was die Sache erschwert, auf einen männlichen Körper" 41).
Anlagen, die Schopenhauers Pessimismus noch verstärkten, waren
seine Bedenklich- und Ängstlichkeit. Der Leser findet bei Möbius
und Gwinner darüber nähere Ausführungen. Sein Mißtrauen, das sich
auf die tiefe Mißachtung und Furcht vor den „Zweifüßlern" aufbaute,
hatte aber doch einen berechtigten Kern. Naturen wie diese müssen,
sofern sie überhaupt klug mit sich zu Werke gehen, mehr Vorsichts-
maßregeln ergreifen, als andere. Schopenhauer war ein solcher Mann,
der sich gefährdet fühlte. Die Überzeugung seiner Jugend predigte
ihm das. Seine hohe Intellegenz sagte ihm auf Grund der Selbst-
beobachtung, was Andern nicht so bald auffiel. Denn wie er selbst
einmal äußert, muß man etwas von dem Wesen der Person in sich
tragen, welcher man gerecht werden will. Es ist das ein Prinzip, das
in politischen Dingen, in Klassenkämpfen z. B. eine viel größere Rolle
spielt, als man häufig meint. Gelehrte, die nach bestimmten ttichtungen
logisch eingestellt sind, meinen, andere müssen auch ein logisches
Leben führen. So entsteht häufig ein verstiegener Rationalismus.
,0) 2. ßd. von Grisebachs Ausgabe S. 442, 450, 551. Vgl. Crotjan,
Soziale Pathologie, S. 532, An m.
") S. 2. Bd. der Grisebachschen Ausgabe S. 4G1.
80 Oscar Schuster,
Reaktionen der Welt gegen ihn steigerten seinen Pessimismus,
ohne daß ihm daraus ein Vorwurf zu machen ist. Oberflächlichkeit
und Heuchelei haben ihn mehr als einmal auf das tiefste verletzt.
Sein intellektuell reines Gewissen warf ihm Hindernisse in den Weg,
und es ist ein sympathischer Geist in dem Buche von Möbius, der ihn
gegen die wackere Schar der „Guten und Gerechten" verteidigt, die
keinen Hauch Schopenhauerschen Geistes gespürt haben und nun
meinen, er hätte an ihrem Stricke durch die Zeit ziehen müssen.
Friedrich Paulsen, den ich nicht im Verdacht habe, allzu wohl gesinnt
gegen die Schopenhauersche Geistesart zu sein, lehnt doch das vor-
geschriebene Gleis für sie ab 42).
In seinem Buche über die religiösen Erfahrungen hat James die
„leichtmütige" und die ,, schwermütige" Seele einander gegenüber-
gestellt, die „Einmal Geborenen" und die „Wiedergeborenen" 43).
Schopenhauer gehörte zu den letzteren. Als ein besonderes
Zeichen der Wiedergeborenen werden ihre metaphysischen Neigungen
und ihre Reflexionslust aufgeführt. Die ganze Philosophie des Mannes
ist von Moral durchtränkt. Er wertete nach seiner Meinung im wahren
christlichen und buddhistischen Sinne und zwar von Jugend auf.
Mit starker Abstraktion trat er an die Welt heran. Durch die Er-
fahrungen erhielt er starke Rückschläge. Ich muß hier wohl noch
einmal an den katatonischen Typus von Stadelmann erinnern, ob-
gleich ich schon unser mangelndes Wissen nach dieser Hinsicht hin
über Schopenhauer betonte. Die starken Rückschläge können eine
Unlust zu weiteren Erfahrungen und ein sich Beschränken auf die
eigene Welt hervorrufen und Konstruktionen und immer wieder
neue Konstruktionen, bis schließlich die Realität ganz unter der
Phantasie verschwindet 44). Hier ist der Boden für die Mystik vor-
bereitet. Schopenhauer stand diesem Gebiete des Geisteslebens kraft
seiner Seelenkonstitution gerechter gegenüber als Kant. Kants System
weiß mit einem Franz von Assisi nichts anzufangen, sagt irgendwo
ein neuerer Denker, wenn ich nicht irre Simmel. Schopenhauer zog
auch noch ein anderes Ding zur Mystik, sein Unabhängigkeitsdrang,
denn „die Mystik als Prinzip gesetzt, ergibt als Konsequenz das un-
42) L. Paulsen, „Schopenhauer, Hamlet, Mephistopheles" S. 19.
43 ) Im 4. und 5. Kapitel.
44) Vgl. Eugen Dühring, „Wert des Lebers", 6. Aufl. S. 130 ff., S. 373f :.t
S. 405 ff.
Die Wurzeln des Pessimismus bei »Schopenhauer. 81
endliche Recht der subjektiven Überzeugung aller Autorität gegen-
über" 45).
Häufig flüchten sich solche Naturen wie Schopenhauer, wenn
sie weniger männlich sind, ganz in die Ästhetik. Die schönste Be-
gründung, die ich jemals für den Wert der Kunst von einer pessimisti-
schen Seele gelesen habe, sind die Schlußworte von W. Paters
„Renaissance". Den Zwiespalt zwischen Lehre und Werk bei seiner
nichtaktiven Natur hat Schopenhauer wohl gefühlt. Es ist dies oft
hervorgehoben worden. Auch hier erhebt sich im inneren Kampfe
wieder ein neues Moment für seine düstere Weltanschauung. Sich
selbst gegenüber glich der Philosoph einem angeschmiedeten Pro-
metheus 46).
Ein Kapitel, das ein sehr interessantes Licht auf den Pessimismus
Schopenhauers wirft, ist das von der Askese. Es wurde bekanntlich
später von Nietzsche in die entgegengesetzte Beleuchtung gerückt,
ebenso wie das Kapitel von der Einsamkeit. Nietzsche hatte für
manche Regungen der menschlichen Seele, die das Gebiet des Krank-
haften streifen oder wohl auch noch hineingehören, ein sehr feines
Organ. Und mit der Heftigkeit des Renegaten griff er seines Meisters
Lehre an. Eine vermittelnde Stellung nimmt James in seinem schon
öfter erwähnten Buche ein. Nach ihm ist weder die verdammende,
noch die lobpreisende Anschauung die richtige. Er zählt 6 Wurzeln
der Askese auf47).
1. Asketisches Leben kann lediglich der Ausdruck physischer
Kraft sein, die alles Weichliche verachtet.
2. Mäßigkeit im Essen und Trinken, Einfachheit in der Kleidung,
Keuschheit und das allgemeine Streben, den Körper nicht zu ver-
zärteln, können aus dem Streben nach Reinheit hervorgehen, die vor
jedem Sinnengenuß zurückschreckt.
3. Sie können auch der Liebe entspringen, d. h. sie können
dem Menschen als Opfer erscheinen, die er der von ihm geglaubten
Gottheit mit Freuden darbrindt.
4. Ferner können die Kasteiungen und Martern des asketischen
Lebens eine Folge des pessimistischen Urteils über das eigene Ich sein.
«) Lasson, „Meister Eckhart, der Mystiker" S. 32.
48) Kucken, „Lohensiinsclmuung großer Denker", G. Aufl. S. 4<U.
,7) James, „Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit".
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 1. (5
82 Oscar Schuster.
das sich mit den kirchlichen Sühnevorstellungen verbindet. Der
Fromme kann das Gefühl haben, als kaufe er sich frei und entgehe
schlimmeren Leiden in der Zukunft, wenn er hier Buße tut.
5. Psychopathische Personen üben diese Kasteiungen oft in
vernunftwidriger Weise auf Grund einer Art Besessenheit oder auf
fixe Idee, die als Forderung auftritt und erfüllt werden muß, wenn
der betreffende Mensch seine innere Ruhe wiederfinden soll.
6. Schließlich können asketische Übungen — wenn auch seltener —
durch wirkliche Umkehrungen der körperlichen Empfindsamkeit
angeregt werden. Schmerz bereitende Reize werden dann geradezu
als Lust empfunden.
Schopenhauer knüpfte besonders am 2. und 4., Nietzsche in
der Hauptsache am 5. Punkt an. Nietzsche sah hier vieles
richtiger an als Schopenhauer, und dieser ist in seinem taedium
vitae bis zu einer Grenze gegangen, wo er abstoßend wirkt. Wie
konnte er die Verirrungen in Altertum und Neuzeit einer Welt, von
der ihn sonst ein Abgrund trennte, in derartiger Weise preisen! Ich
will damit nicht seinen Pessimismus überhaupt absprechend be-
urteilen. Wenn heute ein neuer Schopenhauer käme, ein wie weites
Feld wäre vor ihm aufgetan! Bei der Beurteilung des Pessimismus
muß man immer die Hilfsquellen im Auge haben, welche dem Optimis-
mus aus sozialen und religiösen Gründen und aus der Feigheit und
Oberflächlichkeit im allgemeinen reichlicher fließen. Die Vorwürfe
gegen die Gefühlsphilosophie kann, ich nur zum Teil als berechtigt
anerkennen. Welche Unsumme von emotionellem Leben ist in die
logischen und positivistischen Untersuchungen des letzten Jahr-
zehntes halb oder ganz unbewußt eingeströmt. Wir werden in Schopen-
hauer immer einen Mann zu verehren haben, dem es mit dem Er-
kennen bitter ernst war. Und dieser Ernst schritt auch über die eigene
Person hinweg. Es ändert nichts an der Sache, wenn wir heute in der
Lage sind, an Hand einer freilich noch recht dürftigen Psychologie
der Metaphysik Manches auf der subjektiven Seite zu buchen, was
Schopenhauer als objektiv ansah.
VIII.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius
mit Berücksichtigung seiner Fechtsphilosophie.
Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie
von
Dr. Martin Joseph.
Ich selbst kann mir keine angenehmere Be-.
schäftigung machen, als die Xamen berühmter
Männer zu mustern, ihr Recht auf die Ewigkeit zu
untersuchen, unverdiente Flecken ihnen abzu-
wischen, die falschen Verkleisterungen ihrer Schwä-
chen aufzulösen, kurz alles im moralischen Sinne
zu tun, was derjenige, dem die Aufsicht über einen
Bildersaal anvertraut ist, physisch verrichtet.
L e s s i n g : Rettungen des Horaz,
Inhaltsangabe.
Einleitung.
1. Vergleich der griechischen Aufklärung mit der Aufklärung des 16. und
17. Jahrhunderts.
2. Die Bedingungen der Ethik des Chr. Thomasius.
3. Der Standpunkt und der Charakter derselben.
I. Buch.
1. Die Normen der Sittenlehre.
2. Das Ziel der Sittlichkeit,
3. Die Prinzipien der Sittlichkeit.
a) die vernünftige Liebe,
1)) die unvernünftige Liebe.
4. Die Tugendlehre,
a) die allgemeine Liebe,
I)) die besondere Liebe,
c) die vernünftige Selbstliebe
5. Die Stellung der Ethik zu andern Disziplinen.
a) zur Religion.
b) zum Recht.
G*
84 Martin Joseph,
IL Buch.
A. Psychologische Grundlegung der Ethik.
1. Verstand und Wille,
2. Willensfreiheit und Gewissen,
3. Verantwortlichkeit.
B. Affektenlehre.
1. Die Hauptaffekte,
2. Die vermischten Affekte,
3. Die Mittel zur Befreiung von den Affekten.
Schluß.
1. Bewertung dieser Lehren von Seiten des Philosophen,
2. Historische Würdigung der Ethik des Chr. Thomasius.
Literaturverzeichnis.
Chr. Thomasius:
1. Historie der Weisheit und Torheit 1693.
2. Versuch vom Wesen des menschlichen Geistes 1693.
3. Lustige und ernsthafte Monatsgespräche 1688 — 1694.
4. Von den Mängeln der aristotelischen Ethik 1721.
5. Einleitung in die Hofphilosophie 1710.
6. Von den vier Temperamenten 1693.
7. Hällische Bemerkungen 1700.
8. Einleitung zur Sittenlehre 1692.
9. Ausübung der Sittenlehre 1696.
10. Höchst notwendige Wissenschaft, das Verborgene des Herzens anderer
Menschen zu erkennen 1694.
11. Grundlagen des Natur- und Völkerrechts 1688.
12. Drei Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit 1705.
13. Luden: Chr. Thom. nach seinen Schicksalen und Schriften.
14. B. A. Wagner: Chr. Thom., Ein Beitrag zur Würdigung seiner Verdienste
um die deutsche Literatur.
15. G. G. Fülleborn: Beiträge zur Geschichte der Philosophie Bd. IV.
16. Klemperer: Chr. Thom., ein Vorkämpfer der Volksauf klärung.
17. Windelband: Geschichte der Philosophie, Bd. I, 2. Aufl., Bd. III u. IV,
4. Aufl.
18. Alex. Nicoladoni: Chr. Thom., Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung.
19. Überweg: Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 190—198.
20. Schröckh: Allgemeine Biographie Bd. V.
21. Brucker: Historia philosophiae tom IV.
22. Ziegler: Geschichte der Ethik.
23. Jodl: Geschichte der Ethik.
24. Franz von Holtzendorf: Enzyklopädie der Rechtswissenschaften.
25. Felix Dahn: Rechtsphilosophische Studien.
26. Bluntschli: Staatswörterbuch.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 85
27. Adolf Lasson: Rechtsphilosophie.
28. Siegel: Deutsche Rechtsgeschichte.
29. Gierke: Naturrecht und deutsches Recht.
30. Hinrichs: Geschichte der Rechts- und Staatsprinzipien.
31. Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik. Leipzig 1857.
32. Archiv für Geschichte der Philosophie VII.
Die Bedingungen, aus denen heraus die Ethik des Naturrechts-
lehrers Chr. Thomasius zu erklären ist, haben in mancher Hinsicht
eine gewisse Ähnlichkeit mit jenen Umständen, auf Grund deren wii
die griechische Aufklärung und ihre Ableger zu begreifen haben.
Die Verschiedenheit in den metaphysischen Ansichten, die gerade, in
den Systemen der bedeutendsten Denker zu Tage trat, erregte die
Unzufriedenheit der Zeit. Der Untergang des griechischen Gemein-
wesens lenkte das Interesse des einzelnen von den Aufgaben der
Gesamtheit ab und bewirkte die Zurückziehung des Individuums auf
sich selbst, auf sein eigenes Heil und seinen eigenen Nutzen und Vorteil.
..Wo die Geschicke der äußeren Welt vernichtend über ganze
Völker und gewaltige Reiche dahinrollten, da schien nur noch im
Innern der Persönlichkeit Glück und Genuß zu winken, und so wurde
für alle Besseren die Frage nach der rechten Einrichtung des persönlichen
Lebens die wichtigste und brennendste". (Windelband, Präludien
S. 16/17.)
Man fragte nach dem praktischen Wert der Wissenschaften und
suchte das bisher Geleistete — nicht immer zum Frommen derselben —
zu popularisieren. (Vgl. Windelband, Geschichte der alten Philosophie
S. 63 ff.) Außerdem gehört auch das Anwachsen der einzelnen empi-
rischen Wissenschaften innerhalb des Bereiches der alles umfassenden
Philosophie zu den Faktoren, welche die Emanzipierung der einzelnen
Disziplin 'ii herbeiführten. Sie lenkten das Augenmerk der Denkenden
von den expansiv größeren Fragen der metaphysischen Spekulation
auf rein praktische Probleme. Dazu kam, daß das einst fest gefügte
Gebäude der Religion zu wanken begann. Die religiösen Vorstellungen
verschoben sich, um sich allmählich zu läutern. Sie gestalteten sich
derart um, daß sie für den Denkenden wie für die Massen keinen
festen Orientierungspunkt mehr boten. (Vgl. Ziegler, Geschichte der
Ethik B. 1 § 7 S. 141.) I »er Spiegel solcher wie aller Kulturströmungen
86 Martin Joseph,
ist die Kunst und Literatur. Anstelle der griechischen Tragödie tritt
vielfach die Satire, d. h. die Kritik an dem Bestehenden und den
Tdealen der Zeit. Aristophanes verspottet die sokratische Lehre und
in ihr die ganze Schulphilosophie: „Das Vorwiegen des Interesses für
das Individuum zeigt sich auch in der Kunst, wo an der Stelle des
Ideellen mehr und mehr das Realistische und Charakteristische tritt.'
(Ziegler, Geschichte der Ethik B. 1 S. 141.)
Ähnlich verhält es sich zur Zeit der Aufklärung. Bereits der
Westfälische Friede hatte, wenn auch nicht formell, so doch der Wirk-
lichkeit nach das deutsche Reich in ein Konglommerat von Einzelstaaten
ohne jeden einheitlichen, organischen Zusammenhang aufgelöst.
Die Scholastik lag im Todeskampf und konnte die Bedürfnisse des
Gemütes nicht mehr befriedigen. Durch den Widerstreit der einfluß-
reichsten Lehrsysteme des Aristoteles, Descartes und Spinoza fühlte
sich der menschliche Geist beunruhigt. Dazu kam das Aufblühen
der Naturwissenschaft.
Die Erkenntnis ihrer Unvereinbarkeit mit den herrschenden
religiösen Anschauungen brach sich bei den Gebildeten Bahn. Die
Überzeugung, daß der menschliche Geist allein für die Erforschung
aller Wissensgebiete wie der Religion ausreichend und kompetent sei,
gewann immer mehr und mehr Boden *).
So schwankte der Boden der althergebrachten und der neueren
Systeme, die in ihrem schwerfälligen Kothurne den Anspruch
auf Allgemeingültigkeit erhoben, unter den Füßen derjenigen,
denen es nicht so sehr an kritischer Gabe und Skepsis wie an pro-
duktiver Kraft und tiefer, schöpferischer Energie zu neuen Geistes-
taten fehlte. Man suchte am „gesunden Menschenverstand" Halt,
denn von den Antworten auf die Rätsel, die das Dasein stellt, fühlte
man sich nicht mehr befriedigt. Man will, abgelenkt von den großen
nationalen Aufgaben und dem Ringen nach streng wissenschaftlicher
Erkenntnis, lieber ergründen, was für den Menschen als solchen,
x) „Diese Hoffnungen auf eine Religion der Vernunft empfingen schon
seit dem 15. Jahrhundert eine immer zunehmende Stärke durch die Erfolge
dieser Vernunft in der Unterwerfung der Natur durch das Wissen." (Dilthey,
Die Autonomie des Denkens im 17. Jahrhundert. Archiv für Geschichte
der Philosophie VII S. 42). „Die Vernunft besitzt in sich selbst das Ver-
mögen aller, auch der religiösen moralischen Wahrheiten" war der Hauptsatz
in der Philosophie Herberts v. Cherbuery. (Dilthey, ebendaselbst S. 31.)
Die Ethik des Xaturreehtslehrers Chr. Thomasius. 87
losgelöst von der Gesamtheit, nützlich ist. Auch die Form, in welcher
diese Frage beantwortet werden soll, kann des methodisch-systemati-
schen Charakters entbehren.
Die belletristischen Produktionen zeigen deutlich diese Physio-
gnomie; in Frankreich veröffentlicht Pierre Bayle seine Nouvelles
de la republique des Lettres, während in Deutschland nicht nur die
satirischen Gedichte Alexanders von Sittenwald, die Thomasius in
seinen „Monatsgesprächen" bespricht, sondern auch die höchsten
Leistungen der Aufklärungsperiode und des Rationalismus den Geist
der Verflachung und des Praktisch-Nüchternen atmen. In Gottsched
ist der Kulminationspunkt und das Konterfei solcher Denkungsart
gegeben, und Rousseaus „Devin de village" tendiert ebenfalls von der
Überkultur zur Einfachheit und zum Natürlichen.
Ebensowenig wie in der Literatur sämtliche Faktoren einer Zeit-
strömung durch eine Persönlichkeit zum Ausdruck kommen, brauchen
alle Bedingungen der Aufklärungsperiode zusammen in einem einzelnen
ethischen Systeme konsequent den Standpunkt zu ergeben. Die
Konsequenz in solchen Lehrgebäuden ist in der Regel abhängig von
der Individualität, ihrer geistigen Stärke, ihrer Lebensstellung, ihrer
Gewohnheit und ihres Milieu. Gerade die Inkonsequenz, das Schwanken
zwischen dem Alten und dem Neuen, das Streben, sich von dem einst
Ehrwürdigen im Geistesleben loszulösen und die Ohnmacht, sich von
diesen Fesseln entgültig zu befreien, sind bei jenen mehr praktisch als
theoretisch angelegten Naturen das Natürliche und Charakteristische.
Eine solche praktische Natur sucht, das in den einzelnen Systemen
ihr nützlich und richtig Scheinende zu vereinen und für ihre Zwecke
zu verwerten. So zeichnen sich solche Lehrgebäude durch den eklek-
tischen Charakter aus, dem es weniger auf streng systematische
Begriffe als auf praktische Anwendung und Brauchbarkeit ankommt.
Damit ist der Standpunkt bestimmt, den Chr. Thomasius auf
dem Gebiete der Ethik einnimmt. Er ist im großen und ganzen von
keinem Philosophen direkt abhängig. Er bekennt sich zum Eklektizis-
mus 2) und will die Mitte zwischen den Peripatetikern und Descartes
halten. (Einleitung zur Sittenlehre und Einleitung zur Philosophie,
K;i|>. 1 § 92.)
2) Nach der Ansicht des Th. sind alle großen Philosophen wie J'lato,
Aristoteles, Descartes, Eklektiker gewesen. (Einl. zur Hofphilosophie 1. Kap.
§ 93.)
88 Martin Joseph,
„Das Unsystematische ist bei ihm geradezu beabsichtigt." (Windel-
band, Geschichte der neueren Philosophie 1. B. 4. Auff. S. 516.) Für
die Popularisierung philosophischer Gedanken sah er in Leibniz das
Vorbild. Windelband (ebendaselbst S. 510) charakterisiert ihn deshalb
als „einen allseitig aufgelösten Charakter, einen unruhigen Neuerer,
der die Wissenschaften zum Hebel gemeinnütziger Interessen macht,
einen kritiklosen Eklektiker und dabei einen überaus wirkungsvollen
Popularisator."
Die Epikureische Doktrin von der Glückseligkeit hat er sich in der
Umgestaltung, die sie durch Gassendi erfahren hatte, zu eigen gemacht.
Einen größeren Einfluß hatte auf sein Denken die englische Philosophie.
Ihr auf das Praktische und Erfahrungsmäßige gerichteter nüchterner
Sinn konnte dem Juristen und banausen Denker zusagen, ohne daß
er die volle Tragweite und Bedeutung dieser Geistesrichtung verstand.
So entnimmt er Baco von Verulam die vernünftige Liebe als das rechte
Maß aller Tugenden. Den empirisch-sensualistischen Charakter seiner
Erkenntnistheorie hat er Locke entlehnt. Im übrigen soll der gesunde
Menschenverstand die verworrenen Fäden des menschlichen Geistes
und Wollens auseinanderlegen. Die Ablösung des abstrakten Denkens
und der Begriffe durch schwankende, mehrdeutige populäre Aus-
drücke und platte Allgemeinverständlichkeit, die Vereinigung und
Verschmelzung heterogener Bestandteile zu einem einheitlichen
Ganzen wirkt bei der ethischen Systembildung — soweit von einer
solchen die Rede sein kann — mit. Ihre Prinzipien oder Motive sind
eben bestimmt durch jene utilitaristischen Zwecke und so zahlreich
und unbestimmt wie die Wege, die in den verschiedenen Lebenslagen
zu dem jeweiligen Ziele führen. In diesem Sinne urteilt Jodl (Geschichte
der Ethik B. 2 S. 25): „Es darf hier daran erinnert werden, daß dem
Eudaimonismus des 17. und 18. Jahrhunderts, soweit er einer rein
rationalen humanen Ethik zustrebte, vielfach das imperative Moment,
das Sollen, fehlte; daß er statt reiner und scharfer Ausprägung der
Form, im Gegensatz zu allem sittlich Abweichenden, sich in ein bloßes
Beschreiben der gutartigen Menschennatur verlor" 3).
Recht charakteristisch für die seichte Behandlung und die Ver-
mischung fremdartiger Gesichtspunkte in der Ethik des Thomasius
3) „Alle Moralphilosophie ist schlechter als die natürliche Sittlichkeit,
die sie erklären und begründen wollte." (Jodl, Geschichte der Ethik, Bd. II,
S. 13.)
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 89
ist die Behandlung altruistischer Fragen. „Sein Leben für sein Vater-
land wagen, ist, wenn man einen rechten Menschen ansieht, ein be-
lustigendes und nützliches Gut; denn ein tugendhafter Mann tut es mit
Freuden und erhält dadurch den gemeinen Nutzen, in welchem sein
eigener steckt." (S. 40 Einl. d. Sittl.). An einer andern Stelle (S. 343
bis 345 ebendaselbst) begründet er die Pflicht der Selbsterhaltung
zum Zwecke der Förderung des Nächsten mit dem Hinweis, daß wir
ohne Hilfe anderer Menschen nicht auskommen können und auf
gegenseitige Unterstützung angewiesen sind. Daß es Güter und Ideale
gibt, die unter Hintansetzung des eigenen Wohles zu erstreben sind,
daß sie gerade das Wesen sittlicher Handlungs- und Denkweise aus-
machen und ihr vornehmlich den Stempel echter Moralität aufdrücken,
hat Thomasius nicht erfaßt. Es ist eben das Fehlen des Pflicht-
begriffes, daß sich hier bitter rächt. An ihm geht man, wie ein neuerer
Philosoph einmal sagt, nicht ungestraft vorbei, wenn man ihn außer
acht läßt. In demselben Sinne sagt Alexander Nicoladoni (Chr.
Thomasius, Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung. Berlin 1888
S. 67): „Charakteristisch ist allen (sc. Werken), daß ihnen nicht
etwa ein ideales auf den Begriffen der Pflicht, vor dem alle andern
zurücktreten, beruhendes Sittengesetz als Zweck vorschwebt, zu
dessen Verwirklichung sie dienen sollen, sondern daß sie sichtlich
bestrebt sind, das eigene Wohlergehen mit den Interessen der Gesamt-
heit, aber mit mehr Rücksicht auf das liebe Ich in Einklang zu bringen."
Selbst der begeisterte Verehrer des Juristen konnte sich dieses
Vorwurfes nicht enthalten. Luden schreibt in seiner trefflichen
Biographie (Chr. Thomasius nach seinen Schicksalen und Schriften.
Berlin 1805 S. 185 ff.): „Etwas Scientifisches wird man von dem
Eklektiker wohl nicht erwarten; aber auch von der Idee der Moral,
die darauf ausgeht, alle Moralität, die nur das Produkt des Streites
zwischen Neigung und Pflicht ist, in welchem diese den Sieg behält,
und die aufhören muß, wenn der Streit aufhört, überflüssig zu machen,
von einem allgütigem Gesetz, das regierend eingreifen soll in der
Menschen Tun und Wollen, bei den großen wie bei den kleinen Ver-
hältnissen des Lebens, verrät dies Werk des Thomasius keine Ahnung.
Ja nicht einmal der Begriff der Pflicht ist ihm dabei eingefallen,
sondern es ist vielmehr ein wohlgemeintes, gutmütiges Raisonnement,
das die Menschen nicht eben nimmt, wie sie sind, ebensowenig, als es
sie zu machen sucht, wie sie sein sollen, sondern das nach einem
90 Martin Joseph,
gewissen Romanideal die Glückseligkeit der Menschen preist, die auf
Wackefieldsclie Weise zufrieden leben in häuslicher Freude, voll
Liebe gegen andere Menschen, die ihnen gleichen, und vollGutmütigkeit
gegen solche, die sie nicht leiden können. Ja, man könnte einen guten
Teil des Werkes, ohne ihm zu nahe zu treten, eine Ehestanddisziplin
nennen, das zwar nicht gute Menschen beschreibt, das aber nie als
Regulativ fürs Leben etwas bedeuten kann."
Bevor wir daher in die Darstellung der Ethik des Thomasius ein-
treten, muß betont werden, daß die systematischeDarstellung doppelten
Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen hatte. Die ersteren liegen
sowohl in dem eben bezeichneten Standpunkt und den Bedingungen,
aus denen heraus die Sittenlehre unseres Naturrechtslehrers zu be-
greifen ist, zweitens hat bereits Fülleborn in den Beiträgen zur Ge-
schichte der Philosophie (Bd. 1 Stück 4 S. 7) bemerkt, daß der über-
große Eifer und die heftige Polemik gegen die Pedanterie seiner Zeit,
besonders gegen den Aristotelismus4), Thomasius daran gehindert hat,
eine streng wissenschaftliche Untersuchung über die Moral anzustellen.
Nicht anders denkt auch Scherer. (Geschichte der deutschen Literatur
S. 333.) „Er (Th.) haßte das Mittelalter und stellte Hans Sachs über
Homer. Er zog überall die Berufung auf den gesunden Menschen-
verstand einem streng wissenschaftlichen Beweise vor und legte den
höchsten Wert auf den Nutzen der Wissenschaft."
Wofern man nicht den Gedanken unseres Philosophen Zwang
antun will, mußte deshalb von einer sogenannten Vertiefung seiner
sittlichen Ideen Abstand genommen werden, da sie sich nicht in seinem
Geiste rechtfertigen läßt. Anderseits mußte vieles Material in seinen
ethischen Schriften, unberücksichtigt bleiben, wenn auf den einheitlich
wissenschaftlichen Charakter der Darstellung nicht ganz verzichtet
werden sollte. Dies läßt sich um so eher rechtfertigen, als Thomasius
häufig mehr als moralisierender und predigender Lehrer auftritt an-
statt als wissenschaftlicher Denker. Er mußte nach der bisherigen
Charakteristik als Ethiker das Katheder mit der Kanzel vei wechseln.
Außerdem sei schon hier bemerkt, daß auch die Rechtsphilosophie
4) „Freiheit von der aristotelischen Philosophie, — das war ein Losungs-
wort, unter welchem sich Neuerer der mannigfachsten Richtungen zusammen-
fanden " (Windelband, Geschichte der neueren Philosophie. Bd. I,
4. Aufl., S. 6/7.)
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 91
unseres Juristen berücksichtigt worden ist. Die Gründe hierzu er-
geben sich aus dem Kapitel über die Stellung der Ethik zum Recht.
(S. 106/107.)
I. Buch.
1. D i e Normen der Sittenlehre.
Wir wenden uns zunächst dem Begriffe „gut" zu. Thomasius
definiert: „Gut ist, wenn zwei Dinge mit einander übereinkommen,
d. i. ein Ding, das ein anderes in seiner Dauer erhält und dessen Wesen
und Beschaffenheit vermehrt. Böse, wenn ein Ding dem andern zu-
wider ist, d. h. wenn ein Ding die Dauer des andern verkürzt oder
dessen Wesen und Beschaffenheit verringert". (Einl. der Sittenl. S. 6.)
Unser Philosoph will also nicht psychologisch aus der Natur des
sittlich wollenden Menschen den Begriff „gut" erklären, sondern er
fällt ein Werturteil über Objekte in ihren Beziehungen zu einander,
um es dann auf den Menschen selbst zu übertragen. Der Grund hierfür
liegt eben darin, daß seine ganze Ethik auf eine Nützlichkeitspolitik
für den Menschen in seiner psychophysischen Natur hinausläuft. Die
Prädikate „gut" und „böse" werden gefällt in bezug auf die Er-
haltung und Dauer des Lebens. An diesem Maßstabe sollen alle sitt-
lichen Werte gemessen werden. Demnach gibt es zwei Arten von Gütern,
die der Seele und die des Körpers. Auch als Kriterium des ersteren
gilt „die Dauerhaftigkeit" d. h. das Verharren in einem Zustande,
der das Wesen des Geistes vermehrt. Für die Seele gehört zu dem Be-
griffe „gut" die Bestimmung, daß sie nicht zu sehr von den Gefühlen
der Lust und des Schmerzes affiziert wird, sondern sich einer gewissen,
gleichmütigen, fast apathischen Stimmung erfreut. Eine gewisse
Beschaulichkeit des Daseins, eine Selbstzufriedenheit, die durch kein
Ereignis aus der Ruhe gebracht wird, eine fröhliche Tatenlosigkeit,
ein „Stilleben" ist das wesentliche Gute der Seele.
Ziehen wir aus dem bisher Gesagten die Konsequenzen, wie es
auch unser Philosoph tut, so können wir noch hinzufügen:
1. Ein Gut von kurzer Dauer, dem ein langes Übel folgt, ist kein
Gut, sondern ein Böses.
2. Ein Gut, das nach der einen Seite hin für den Menschen förder-
lich ist, nach der andern schädlich, ist kein Gut, sondern ein Böses
(Einl. d. Sittenl. S. 10—12).
92 Martin Joseph,
Thomasius polemisiert von diesem Standpunkte gegen die in
seiner Zeit übliche Einteilung des Begriffes „gut". Man teilte nämlich
das Gute ein in honestum, utile und iucundum, als ob es verschiedene
Arten wären. Dieser Unterschied ist, so lehrt der Philosoph, hinfällig;
denn nur in seiner Betrachtung nach den veischiedenen Gesichts-
punkten und Gegenständen, auf die es bezogen wird, liegt seine Ver-
schiedenheit.
Auf Gott wird das Prädikat honestum angewandt, dasselbe Gute
aber angesichts seines Genusses für denAugenblick nennt man iucundum,
hinsichtlich seines Wertes und seiner Nützlichkeit utile.
Thomasius hat offenbar, ebenso wenig wie Descartes 5), einen
richtigen Einblick in das Wesen der Gefühle und Leidenschaften, denn
bald faßt er das Wort iucundum als angenehm auf und versteht darunter
einen rein emotionellen Gefühlszustand, der sich als eine Fröhlichkeit
des Gemütes, gewissermaßen als eine Art stehenden Gemeingefühles
bezeichnen läßt. Bald aber versteht er hierunter die Befriedigung,
die ein mit Bewußtsein erstrebtes Gut gewährt. Natürlich hat er sich
durch diese Verwechslung den Kampf mit seinen Gegnern leicht ge-
macht. (Einl. d. Sittenl. S. 33 u. 34.)
Freilich gewährt der Besitz eines Gutes eine Freude. Aber diese
Freude ist doch eben das Accidens, die Folge jenes Besitzes im Unter-
schiede von dem Gefühle des Angenehmen und „Belustigenden", das
sich nicht auf den bewußten Besitz eines Gutes gründet. Es ist nicht
die Freude oder die Zufriedenheit über einen erlangten Besitz, sondern
lediglich ein augenblicklicher Zustand, der als Lebenserhöhung emp-
funden wird. Man kann das Gefühl des Angenehmen bzw. Unan-
genehmen je nach seinen Wirkungen und Folgen verschieden be-
werten, es selbst ist aber niemals mit Gut oder Böse identisch.
Ebenso tritt eine gewisse Beschränktheit und Einseitigkeit in
dem Erfassen ethischer Gesichtspunkte hervor, wenn er honestum
nur in bezug auf Gott als ein richtiges Prädikat anerkennen will.
Er hat bei dieser Behauptung zwar wohl das Gefühl der Unsicherheit
gehabt, wenn er sagt (S. 34 Einl. d. Sittenl.): „Endlich ist es (das
wahrhaft Gute) auch ehrbar oder zum wenigsten unehrbar." Jedoch
zur Klarheit des Begriffes hat er sich nirgends durchgerungen. Das
5) Vgl. Bark, Die Lehre von den Leidenschaften bei Descartes. Rostock,
Dissert. 1892. Pleßner, Descartes' Lehre von den Leidenschaften. Leipzig 1888.
Die Ethik des Xaturrechtslehrers Chr. Thomasius. 93
utile erscheint ihm als das einzige Gewisse, insofern es die Förderung
und die Erhaltung des somatischen Menschen bedeutet. Nach dieser
Richtung wird auch das honestum umgebogen. „Die Ehrbarkeit
gründet sich auf den gemeinen Nutzen des Menschengeschlechtes."
(S. 34 Einl. d. Sittenl.) Daß die Handlungen des honestum zuletzt
auch dem Menschen oder der Menschheit dienlich sind, läßt sich nicht
bestreiten. Aber zweckmäßig sind sie weder ihrem Ursprünge noch
ihrem Wesen nach. Es ist der Nachteil der eklektischen Philosophie,
die überall mehr die zufällige, äußere Gleichheit der Dinge, als deren
innere Verschiedenheit betrachtet. So hat unser Philosoph übersehen,
daß das Absehen der Moral in erster Linie auf den Willen 6) gerichtet
ist, während den Gegenstand des Rechtes die Handlung bildet 7).
2. Das Ziel der Sittlichkeit.
Die Ethik hat keine streng wissenschaftliche, sondern eine rein
praktische Aufgabe. Sie will weniger zeigen, worin das Wesen der
Sittlichkeit besteht, als vielmehr die Menschen glücklich machen und
ihren Charakter verbessern. Sie ist „nichts anderes, als eine Lehre,
die den Menschen unterweiset, worin seine wahre und höchste Glück-
seligkeit besteht, wie er dieselbe erlangen und die Hindernisse,
so durch ihn selbst verursacht werden, ablegen und überwinden
solle." (Einl. zur Sittenl., Kap. II S. 57.) Diese Glückseligkeit besteht
in einem Zustande, der die größte Ähnlichkeit mit der Ataraxie der
Griechen besitzt. Unser Philosoph versteht unter ihr eine Apathie
und Interesselosigkeit gegen die Außenwelt. Sie ist ein „ruhiges Ver-
langen und gemäßigtes Vorstellen". (S. 85 Einl. d. Sittenl.) Ihre
einzige Tätigkeit ist ein Streben nach Vereinigung mit andern In-
dividuen, die ebenfalls den Willen bis zui Verneinung aller Begierden
ertötet haben. Aber auch dieses Streben hat nur den Zweck, den einmal
gewonnenen Zustand aufrecht zu erhalten. Das höchste Gut ist „eine
ruhige Belustigung, die darin besteht, daß der Mensch weder Schmerz
noch Freude über etwas empfindet und in diesem Zustande sich mit
andern Menschen, die eine dergleichen Gemütsruhe besitzen, zu vei-
6) Über das Verhältnis von Moral zum Recht bei Thomasius siehe das
nachfolgende Kapitel. (S. 106/107.)
7) Wenn im Strafrecht die Begriffe dolus und culpa auch ihren Platz
halien, so liegt der innere Grund dennoch in den dem Recht innewohnenden,
eigentümlichen Prinzipien.
94 Martinjoseph,
einigen trachtet." (S. 86 Einl. d. Sittenl.) Diese Tätigkeit soll die
erlangte Gemütsruhe des Individuums nicht stören, sondern ist „ein
ruhiges Bemühen und Darbieten und folglich eine Kontinuierung
der einmal erhaltenen Gemütsruhe, als welche ordentlich durch eine
dergleichen Vereinigung entsteht oder auch eine stets währende
Wirkung dieser Gemütsruhe, um dadurch anzuzeigen, daß diese Ruhe
nicht in einer Trägheit oder Faulheit oder Mangel aller Bewegung,
welches alles böse Dinge sind, sondern in einer munteren, aber pro-
portionalen Bewegung besteht". (S. 86/87 Einl. d. Sittenl.)
Zunächst springt hier wieder der naturalistisch-utilitaristische
Charakter der Ethik in die Augen. Vollständige Untätigkeit involviert
das Fehlen an Bewegung des Körpers. Das ist ungesund und schädlich,
ergo unsittlich und schlecht. Um aber diese Lehre ganz zu verstehen,
sei sie in ihre einzelnen Bestandteile zerlegt.
Aristoteles, gegen den unser Philosoph über Gebühr eifert 8)
(vgl. Jon. Matthias Schröckh. Allgem. Biographie 5. Teil 1778 S. 334),
bestimmt die Glückseligkeit als eine Tätigkeit der Vernunft. Diese
besteht in der Tugend. Als Konsequenz solcher Betätigung tritt das
Lustgefühl ein, das jedoch nicht als Triebfeder zur Sittlichkeit zu be-
trachten ist. (Th. Ziegler, Geschichte der Ethik Bd. 1 S. 108.) Nach-
dem die Oyrenaiker das Wesen der Moral lediglich in der Lust er-
blickten, erklärte die Schule Epikurs als das Ziel des Lebens die
Ataraxie ; sie ist eine Lust, die im Stillstand der Seele und ihrer Regungen
besteht, ein Schweigen aller andern Affekte mit Ausnahme eben, jenes
Lustgefühls. Der Genuß einer solchen Ruhe ist das größte Glück und
das einzig erstrebenswerte Gut des Menschen. (Ziegler, Geschichte
der Ethik S. 153.) Die Anschauungen Epikurs in dieser Gestalt waren
durch Gassendi wieder zum Ansehen gelangt, der sie gegen die Ver-
dächtigung des Materialismus rechtfertigte. (Gassendi, de vita, moribus
et doctrina Epicuri 1647.)
Die Lehre unseres Philosophen ist, wie das Luden in seiner Bio-
graphie S. 188 betont, aus diesen Bestandteilen zu erklären. Er hat
als echter Eklektiker vergebens versucht, diese verschiedenen Elemente
zu einem einheitlichen Ganzen zu verschmelzen. Die Schwierigkeiten
8) Die Polemik gegen Aristoteles scheint eine Erbschaft der Abneigung
Luthers gegen diese Philosophie zu sein. Der Reformator sah in dem scholas-
tischen Aristotelismus „eine gottlose Wehr der Papisten", und in dem neueren,
wie ihn die Philologen brächten, das pure naturalistische Heidentum.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 95
werden sich im folgenden Abschnitt über die Prinzipien der Ethik
deutlich zeigen.
3. Die Prinzipien der Sittlichkeit.
a) Die vernünftige Liebe.
Das höchste und einzige Prinzip des sittlichen Handelns ist die
vernünftige Liebe. Sie ist ein Affekt, dessen psychologische Natur
weiter unten erörtert werden soll. Ihre Tätigkeit wird hervorgerufen
durch die Erkenntnis, daß etwas gut ist. Hierzu tritt der Wille, das
letztere an sich zu ziehen, daß es zu einem Bestandteile des Liebenden
wird. (S. 159 Ein, d. Sittenl.) Die vernünftige Liebe gewährt ferner
allein die Sicherheit für den Bestand der Gemütsruhe. Dies hat die
negative Bedeutung, daß sie die Schäden und Gefahren, die aus egoisti-
schem Handeln entstehen, abwehrt; „denn ohne eine friedliche Gesell-
schaft kann er (der Mensch) nicht vergnügt leben." (Einl. d. Sittenl.
S. 187.) Positiv erzeugt sie stets neue Liebe und Freuden über den
erreichten Zustand. Sie selbst beruht nicht nur auf der Erkenntnis
von dem Nutzen ihrer Betätigung, sondern ist auch ein dem Menschen
innewohnender Trieb. Denn einerseits erklärt Thomasius: „Die Liebe
ohne den Gedanken, daß etwas gut ist, kann nicht begriffen werden"
(S. 159 Einl. d. Sittenl.), anderseits ist er der Meinung: „Wenn der
Mensch gar keine Liebe oder Zuneigung zu einer ruhigen und fried-
lichen Gesellschaft in seinem Herzen hätte, so wäre nicht möglich,
daß er jemals ein Verlangen nach derselben haben oder nur begreifen
könnte, daß Ruhe und Friede etwas Gutes für ihn wäre." (S. 345
Ausübung d. Sittenl.) Unser Philosoph preist die vernünftige Liebe
als „das rechte Maß aller Tugenden" (S. 190 Einl. d. Sittenl.); sie ist
die Tugend selbst. Sie ist im Gegensatz zu der Lehre des Aristoteles,
gegen den er offenbar hier polemisiert, nicht nur ein habitus, sondern
auch eine actio virtutis (vgl. Windelband, Geschichte der alten
Philosophie § 43 S. 169 u. 170). Sie ist auch umfassender als das
Prinzip der Gerechtigkeit. Denn, ein Übermaß in dieser Tugend ist
schon unvernünftig. Dagegen gibt es kein Zuviel in der Liebe. Während
die Mitte in der Tugend etwas Schwankendes ist, hat die vernünftige
Liebe nach keiner Seite einen Überschuß oder Mangel aufzuweisen.
Auch hier zeigt sich die Mißlichkeit der Vermengung individueller
und altruistischer Gesichtspunkte. Die vollständige Hingabe des
Einzelnen an die Interessen der Gesamtheit als die höchste sittliche
96 Martinjoseph,
Leistung hat in einem solchen Schema keinen Platz. Der utilitaristische
Gedanke kann keine echte moralische Liebe erzeugen, sondern in
letzter Instanz nur die Kücksicht auf das eigene Ich. Das sittlich-
altruistische Streben jedoch kennt keine Beziehung auf den eventuellen
Nutzen oder Schaden des Handelnden oder Wollenden. Es besteht
eben, um mit J. St. Mill (philosophie of Hamilton) zu reden, in einer
uninteressierten Liebe zu dem Nächsten. Eine solche Liebe kann den
Nutzen für die Gesamtheit wie für das eigene Ich involvieren, aber in
ihrem Ursprünge kennt sie diese Absicht nicht.
Der Vollständigkeit halber sei hier noch eine Bemerkung des
Philosophen erwähnt, die für die ganze Ethik ohne Belang bleibt,
höchstens dokumentiert sie seine Unklarheit auf diesem Gebiete und
die Willkür im Gebrauche ethischer Determinationen. An einer
einzigen Stelle (Einl. d. Sittenl. S. 111) erklärte er die Tugend, worunter
er vermutlich hier das tätige sittliche Handeln im altruistischen Sinne
versteht, als das Prinzip der Sittlichkeit. „Sie ist Mutter und Tochter
sowohl der Weisheit als der Glückseligkeit." Auch ist ihm die Arbeit
für die Gesamtheit die größte sittliche Tat. Das Wohl des Ganzen
ist das höchste Strebensziel. Denn der Mensch ist im Grunde ein
^cöov jioZiTixov. (S. 90 u. 91 Einl. der Sittenl.)
Man kann es begreifen, wenn Fülleborn (Beiträge zur Geschichte
zur Philosophie Bd. 1 Stück 4 S. 69 ff.) sich aus der Verwirrung und
dem Konglommerat von individuellen und generellen, utilitaristischen
und altruistischen Bestandteilen nicht ganz zurechtfinden konnte.
Denn Ataraxie und tätige Liebe oder das Wohl der Gesamtheit lassen
sich logisch nicht gut vereinigen. Er sucht in die sich ausschließenden
Bestimmungen Einklang zu bringen, indem er ausführt: ,,Da bei
Thomasius das Prinzip der Ethik die Liebe ist und zu ihr sowohl ein
Liebender wie eine geliebte Person gehören, so war es ihm einleuchtend,
daß das Wohl des Ganzen der Zweck der Handlung eines jeden In-
dividuums sein müsse, und daß jedes einzelne Mitglied sein eigenes
Wohl durch das Ganze befördere." Diese Erklärung und Interpretation
ist wohl kaum ausreichend. Denn insofern die Liebe mit einem be-
glückenden Lustgefühl verbunden ist, würden dann das Wesen und
das Prinzip der Sittlichkeit zusammenfallen. Außerdem folgt noch
nicht aus dem äußeren Umstände, daß zur Liebe stets zwei Personen
gehören, die notwendige Gleichstellung der Interessen der geliebten
Person mit denen der liebenden. Der Gegenstand der Liebe läßt sich
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 97
im Hinblick auf die Gemütsruhe des Individuums auch als Mittel zum
Zweck auffassen 9). Demnach scheint kein anderer Ausweg für eine
Erklärung übrig zu sein als die folgende Armahme : Glückseligkeit im
Sinne der Ataraxie wird auf altruistischem Wege durch die
Liebe erreicht. Der Endzweck dieser Liebe bleibt der Zustand der
Ataraxie als des höchsten Glückes des Individuums.
b) Die unvernünftige Liebe.
Die mit dem intellektuellen Faktor der Einsicht in den Nutzen
begründete Liebe ermöglicht es unserem Philosophen, die Selbstliebe
als töricht zu bezeichnen. Denn in Wirklichkeit ist der Egoismus nicht
unsittlich, sondern „eitle Einbildung unvernünftiger Menschen" (S. 160
Einl. d. Sitten!.). Sie entspringt der mangelhaften Erkenntnis des
Wertes einer Handlung, die das augenblickliche Vergnügen und Lust-
bedürfnis des Handelnden bezweckt. Sie besteht in einem Verlangen
nach Dingen, die sich auf die Dauer als schädlich und untauglich er-
weisen, deren Erlangen sich also vor dem Forum des Nützlichkeits-
prinzipes nicht rechtfertigen läßt. Sie entsteht durch starke, plötz-
liche Affizierung der Sinne, die einen turbulenten, hitzigen Wunsch
nach Gegenständen hervorrufen, ohne daß der Verstand ihren
dauernden Nutzen genügend geprüft hat.
Ihre nähere Natur und ihre besonderen Arten sollen in der Aflekten-
lehre erörtert werden, da sie von Thomasius lediglich von diesem
Gesichtspunkte aus betrachtet werden.
4. Tugendlehre.
Das Kapitel über die Prinzipien der Ethik bezeichnete die ver-
nünftige Liebe im weitesten Sinne als deren Prinzip. Welche Tugenden
durch sie verwirklicht werden sollen, sei der Gegenstand dieses Kapitels.
a) Die allgemeine Menschenliebe.
Sie äußert sich in folgenden fünf Tugenden:
1. Die Leutseligkeit. Sie ist eine Leistung, die man ohne große
Opfer vollziehen kann, und gilt als officium humanitatis. Sie ent-
springt — hier legt Thomasius Gewicht auf die Gesinnung — dein
9) Vgl. Nicoladoni. Chr. Tli. S. G7.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 1.
98 MartinJoseph,
freien Willen und ist deshalb von jedem Zwange frei. (S. 211 Einl. d.
Sittenl.) Doch soll sie anerzogen werden durch Beschämung beim
Unterlassen solcher gefälligen Handlungen. Sie darf nicht mit Dank
erwidert werden, sofern sie nicht ihren spezifischen Charakter als
solche verlieren soll 10).
Geschieht die „Leutseligkeit" mit Aufwand von Mühe und Opfer,
so heißt sie „Guttat". Sie soll eintreten, wenn ihre Unterlassung
schweren Schaden nach sich zieht, und kann dann erzwungen werden.
Genau betrachtet fällt eine solche Handlung in das Gebiet des
Rechts 11). Bei der engen Verbindung oder richtiger bei der Ver-
mengung von Moral und Recht nimmt es nicht Wunder, wenn rein
juridische Themata bisweilen in dei Sittenlehre erörtert werden.
2. Die Wahrhaftigkeit 12). Sie besteht darin, daß wir unser Ver-
sprechen jedem Menschen 13) gegenüber genau halten. (S. 216 Einl.
d. Sittenl.) Sie ist eine Erweiterung der Leutseligkeit. Denn sie kann
vom Geber nicht jederzeit gewährt, als auch im Interesse des Empfängers
nicht stets empfangen werden, ohne daß beide bisweilen ideellen
Schaden an Ehr und Ansehen nehmen.
3. Die Bescheidenheit. Sie äußert sich darin, daß der Mensch
dem andern keinen ihm gesellschaftlich zustehenden Vorzug be-
ansprucht. Er wünscht gleiches Recht mit ihm zu haben und die-
selben Forderungen zu erfüllen. Er verzichtet mit Rücksicht auf die
Wandelbarkeit und Unsicherheit des menschlichen Schicksals und
Besitzes auf jeden Vorzug und Vorrang, der ihm gemäß einer glück-
lichen Anlage und sozialen Stellung zusteht 14).
10) „Die Leutseligkeit ist eine Tugend, die den Menschen antreibt, allen
Menschen, die dessen von Nöten haben, mit allen denjenigen Dingen, die er
noch nicht hoch ästimiert, oder deren Mitteilung ihm nicht sauer ankommt, bei-
zustehen und einen Gefallen zu erweisen." (S. 208 Einl. d. Sittenl.)
X1) Vgl. das Kapitel „Recht und Moral" (S. 106 ff.).
12) „Durch die Wahrhaftigkeit verstehe ich allhier die Tugend, nach
welcher wir schuldig sind, das Versprechen, das wir allen Menschen, sie mögen
sein, wer sie wollen, getan haben, treu und unverbrüchlich halten." (S. 216
Einl. d. Sittenl.)
1S) Charakteristisch ist die Bemerkung, daß man auch Ketzern gegenüber
.Versprechen halten soll, da sie sich dadurch auch ihrerseits zum Halten der-
selben verpflichtet fühlen. (S. 223 Einl. d. Sittenl.)
14) „Die Bescheidenheit ist eine Tugend, die den Menschen antreibt,
daß er allen Menschen, sie mögen sein, von was Stande sie wollen, freundlich
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 99
Thomasius will diese Tugend streng von der "Demut geschieden
wissen. Denn man kann wohl begreifen, daß man mit allen andern
Mensehen auf derselben Stufe steht, nicht aber, daß man sich geringer
als sie bewerten soll. Das ist eine Forderung der Religion, nicht der
Ethik (S. 229 Einl. d. Sittenl.).
4. Die Verträglichkeit. Sie fordert, jedem das Seine zu lassen,
das Eigentum des Nächsten in keiner Weise zu schmälern ; wenn dieses
irrtümlich oder vorsätzlich geschehen ist, so soll dem Geschädigten
Ersatz geleistet werden. Diese Tugend umfaßt also mit einem Worte
die ganze Sphäre des juristischen Begriffes Besitz und Eigentum 15).
5. Die Geduld. Diese Tugend verlangt Nachsicht gegen die-
jenigen, die aus irgend einem Grunde, sei es mit Vorsatz oder un-
absichtlich, die bisher aufgezählten Tugenden nicht geübt haben.
Außerdem verlangt sie Verzicht auf diejenigen Rechte und An-
sprüche, die der Benachteiligte als Äquivalent erheben könnte, falls
man die vier letzten Tugenden gegen ihn nicht geübt hat.
Es ist eine Art Feindesliebe, die in der Absicht geübt wird, den-
jenigen, der gegen die vier ersten Tugenden gefehlt, gerade durch die
„Geduld" in seiner Schlechtigkeit zu besiegen. Daß dies kein ungebühr-
liches Verlangen ist, wird mit folgendem Hinweis begründet: Auch
der Gute erfüllt andern Menschen gegenüber nicht immer die Pflicht
und schuldigen Leistungen, verlangt oder wünscht dagegen für sich
bei jedem Fehltritte Nachsicht. Im Interesse des Ausgleiches soll
man also Geduld gegen denjenigen gebrauchen, der seinen Pflichten
nicht nachkommt 16). (S. 235 Einl. d. Sittenl.)
und als Menschen, die in diesem Stück seinesgleichen sind, begegnet, sie gleiches
Recht mit sich genießen läßt und sich nicht mehr herausnimmt, als ihm von
Rechts wegen gebührt." (S. 225—226 Einl. d. Sittenl.)
15) „Die Verträglichkeit ist eine Tugend, die den Menschen antreibt,
daß er allen andern Menschen das Ihrige in Fried' und Ruh' genießen läßt
und ihnen an ihren Gütern sowohl des Leibes als des Glückes keinen Schaden
tun oder derselben auf eine Weise sie beraube, oder wenn ja allenfalls hier-
w ider etwas aus Vorsatz geschehen, die Sache nebst allen verursachten Schaden
erstatte oder sonsten annehmliche Satisfaktion leiste." (S. 230 Einl. (1. Sittenl.)
16) „Die Geduld ist eine Tugend, die den Menschen antreibt, daß sie den
andern Menschen, die die allgemeine Liebe nicht wohl in acht genommen,
sondern vielmehr wider die bisher vier aufgezählten Tugenden entweder aus
Vorsatz oder Versehen angestoßen, ihre Beleidigung aus allgemeiner Liebe
7*
100 Martin Joseph,
Alle diese fünf Tugenden sollen nach der Ansicht unseres Philoso-
phen wegen der allgemeinen Gleichheit des Menschengeschlechtes
geübt werden. Er versteht darunter die physische Beschaffenheit der
Menschen, deren Leben denselben Bedingungen des Geschehens
unterworfen ist. Sie sind als Naturprodukte denselben Prozessen
des Entstehens und Vergehens ausgesetzt. Glück und Zufall sind
häufig genug die Faktoren, welche die soziale und gesellschaftliche
Stellung bedingen. Stand, Rang und Würde sind wandelbar. Auch
die moralischen Anlagen und Fähigkeiten sind im Grunde dieselben,
trotz einiger Abweichungen. ,,Sie sind alle gleich unfähig, durch ihre
eigenen Kräfte zur wahren Tugend zu gelangen." (S. 200 ff. Einl. d.
Sittenl.)- Auch sind sie alle Kinder Gottes, vor dem sie gleich sind,
und der ihnen gleiches Recht widerfahren läßt. Schließlich kann auch
der schlechteste, dümmste und unglücklichste Mensch uns genau so
nützen und schaden wie der beste, klügste und glücklichste. (Eben-
daselbst.)
Aus drei Gründen also sollen wir uns der fünf Tugenden befleißigen.
Wir können den ersten den physischen Grund der Einheit des Menschen-
geschlechtes nennen. Er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der
metaphysischen Einheit im Sinne Schopenhauers, der von ihr das
Mitleid als Motiv der Sittlichkeit ableitet. Der zweite Grund ist religiös.
Wir wollen ihn kurz als moralische Impotenz bezeichnen. Der dritte
Grund enthält wieder das Nützlichkeitsprinzip als das eigentliche
Agens der Moral.
Es ist klar, daß die Zahl und die Reihenfolge der Tugenden, die
aus solch verschiedenen Gesichtspunkten heraus aufgezählt werden,
nicht auf eine nach logischen Gesichtspunkten geordnete Vollständigkeit
Anspruch erheben können. Ihre Zahl kann beliebig vergrößert oder
verkleinert werden. Jedoch spricht aus dieser Einteilung und Auf-
zählung nicht so sehr der Philosoph als der Jurist und Naturrechts-
lehrer, der das Interesse der Gesellschaft im Auge hat 17).
verzeihen und sich solchergestalt auch der nach dem natürlichen Rechte zu-
gelassenen Mitteln freiwillig wegen des allgemeinen .Friedens begeben." (S. 231
Einl. d. Sittenl.)
17) Vgl. Chr. Thomasius, 3 Bücher der göttlichen Kechtsgelahrtheit,
S. 161.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 101
b) Die besondere Liebe.
Sie ist das Streben zweier Wesen, die dasselbe sittliche Ziel
haben. Wenn Thomasius auch ausdrücklich erklärt, daß diese Zahl
nicht auf zwei eingeschränkt zu bleiben braucht (S. 266, Einl. d.
Sittenl.), so ist hier das Urteil Ludens (S. 186 ff.) für die Ethik unseres
'Philosophen als eine Ehestandsdisziplin durchaus am Platze18).
Es folgt in diesem Kapitel eine ermüdende Abhandlung über
den Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern, zwischen Freund-
schaft und Liebe besteht nur ein gekünstelter Unterschied. Während
nur dieselbe Inklination für das sittliche Ziel von den beiden Liebenden
verlangt wird, kann ihr Grad und ihre Intensität verschieden sein.
Die Voraussetzung dieser Liebe ist die Hochachtung. Sie äußert
sich in:
1. Gefälligkeit und Sorgfalt, durch die man den Tugendliebenden
näher kennen lernen will. Sie besteht in kleinen Liebesdiensten und
Galanterien, die von Seiten der Empfangenden nicht verlangt werden.
Dies ist das erste Stadium der besonderen Liebe. Auf einer höheren
Stufe hören diese kleinen Dienste auf, da sie nicht eigentlich das
Zeichen, sondern nur ein Mittel zur Prüfung und Bestätigung der
vermuteten Liebe waren. Wo diese Höflichkeiten nicht schwinden,
hat man es mit keiner wirklichen Liebe zu tun (s. 282, Einl. d. Sittenl.).
2. Vertrauen und Opferbereitschaft. Das Vertrauen entspringt
aus der Liebe, die das Wohl der geliebten Person mit Hintansetzung
aller persönlichen Interessen bezweckt. Ihr Korrelat ist die Dank-
barkeit als ein Trieb, diese Guttätigkeit zu erwidern und sie freudig
anzunehmen lö).
3. Gütergemeinschaft, sowie Gemeinschaft alles Tuns und Lassens.
Diese sittliche Forderung steht im engsten Zusammenhang mit den
rechtsphilosophischen Anschauungen des Thomasius. Sie ist eine
Konsequenz aus der Lehre, daß das Eigentum aus der moralischen
Verschiedenheit der Menschen entstanden ist. Denn im Urzustände,
als dem eigentlich normalen, herrschte Liebe, die erst durch den
Sündenfall aufhörte. Dazu kommt, daß unser Philosoph gleich
18) Vgl. oben S. 90.
19) Es verrät praktisch-psychologischen Scharfsinn, wenn Th. sagt, wer
derartige Dienste demjenigen erweist, den er nicht genau kennt oder liebt,
dient damit seinem Eigennutz. (S. 278 Einl. d. Sittenl.)
102 Martin Joseph,
Aristoteles (Niko machische Ethik VIII, 12) den Menschen mehr zur
Ehe als zum Bürger geschaffen sein läßt. (S. 344 der drei Bücher der
göttlichen Rechtsgelahrtheit). Da bei ihm Liebe und Freundschaft
fast identische Begriffe sind, so erklärt sich auch hieraus die Forderung
der Gemeinschaft alles Tuns und Lassens 20).
Thomasius hat sich die Schwierigkeiten bei der Erreichung jenes
Idealzustandes nicht verhehlt, doch soll dem Menschen die Idee als
Regulativ vorschweben. Denn das Arbeiten an jenem Ziele gewährt
Vergnügen und ist ein besonders geeignetes Beförderungsmittel zur
Glückseligkeit. (S. 306 ff. der Einl. d. Sittenl.)
c) Die vernünftige Selbstliebe.
Da den Inhalt und das Ziel der vernünftigen Liebe zum großen
Teil der Nutzen des Nächsten bildet, so folgt aus ihr auch, daß der
Liebende solche Pflichten gegen sich zu erfüllen hat, die ihm und
seiner tätigen Liebe gegen den andern förderlich sind. So ist die Er-
klärung unseres Philosophen zu verstehen: „Aus der Liebe gegen
andere fließt Liebe gegen uns selbst". (S. 343 Einl. d. Sittenl.)
Sie wird aus doppelten Gründen gefordert:
a) aus der „allgemeinen Liebe", weil wir auf die Dienste der
„allgemeinen Liebe" angewiesen sind und gegenseitig der Hilfe be-
dürfen;
b) aus der „besonderen Liebe", weil wir Objekte der Betätigung
dieser Liebe für andere sind. Durch Schädigung unserer eigenen
Person würden wir uns ihrer Liebe entziehen.
Diese Pflichten gegen uns selbst zerfallen in: 1. Mäßigkeit;
2. Reinlichkeit; 3. Arbeitsamkeit; 4. Tapferkeit.
Gerade dieses Kapitel über die „Selbstliebe" zeigt deutlich, wie
wenig klar sich unser Philosoph über das Wesen und den Gegensatz
von individualistischer und altruistischer Moral geworden ist. Ohne
^daß ihm der Gedanke ihrer Vermittlung bzw. Unvereinbarkeit ge-
kommen ist, stehen die beiden Elemente ruhig nebeneinander. Denn
ist der Altruismus das Ziel unseres Handelns, so ist es unlogisch,
Tugenden aus „allgemeiner Liebe", d. i. aus egoistischen Motiven zu
20) Th. scheint dabei an den Eklektiker Cicero in der Schrift Laelius,
de amicitia zu denken, der wahre Freundschaft als idem velle et idem nolle
definiert.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thoruasius. 103
fordern, vice versa: Ist der individualistische Utilitarismus der eigent-
liche Kern sittlichen Strebens, so ist es eine ungerechtfertigte Forderung,
daß der Einzelne sich nur als Mittel zur Betätigung von Willens-
regungen anderer gebrauchen lassen soll, die ihm keinen direkten
Nutzen bringen 21).
Die vier menschlichen Gesellschaften.
Obwohl das Vorbild für alles sittliche Leben die Ehe ist, sollen
dennoch alle diese Tugenden in den folgenden Gesellschaftskreisen
geübt werden:
1. Mann und Weib. 2. Eltern und Kind.
3. Herr und Knecht. 4. Obrigkeit und Untertan.
Die dritte und vierte Gesellschaftsklasse ist durch den Mangel
an Liebe entstanden. Das Prinzip, das in ihnen herrscht, ist die
Gerechtigkeit, im Unterschied zu den ersten beiden Klassen, in welchen
die Liebe die Herrschaft führt. Gerechtigkeit und Liebe unterscheiden
sich aber dadurch, daß jene ihre Forderungen erzwingt, diese jeden
Zwang verpönt. (Einl. z. Sittenl. Kap. 5 § 104.) Gleichwohl sollen
die dritte und vierte Gesellschaftsklasse auch in der Ethik und nicht,
wie man erwarten sollte, im Naturrecht ihren Platz haben. Denn
ohne Liebe kann keine Gesellschaft bestehen, wohl aber ohne Zwang.
Die Gewalt wurde nur deshalb eingeführt, weil einige aus moralischer
' Unvollkommenheit oder Böswilligkeit ihre Obliegenheit gegen die
Gesamtheit nicht erfüllten.
Sie ist deshalb nur ein Mittel, um den Zustand der Liebe wieder
herzustellen und ihn vor Haß und Beleidigung zu schützen. In dem
Augenblick, wo die Gesellschaft wieder „ein einig Volk von Brüdern"
bildet, schwindet der Zwang von selbst. (Einl. z. Sittenl. Kap. 5 § 82
und Kap. 9 §§ 8—24.) Zur Staatslehre bemerkt Thomasius im
Anschluß an diese Gedanken, daß der Fürst lediglich das Wohl der
Untertanen zu fördern hat. Die letzteren sollen seine Aufgabe durch
Gehorsam und freiwillige Unterwerfung erleichtern. Der Adel darf
die Bürger und Bauern nicht unterdrücken und demütigen. Denn
alle Menschen sind gleichmäßig zur Beobachtung der Tugenden, die
die allgemeine Liebe umfassen, verpflichtet. (Einl. z. Sittenl.
Kap. 9 S. 369 ff.)
21) Vgl. oben S. 89 die Ansicht Thomasius' über den Tod für das Vater-
land.
104 Martin Joseph,
5. Stellung der Ethik zu den andern Disziplinen.
a) Religion und Ethik.
Mußte nach den historischen Voraussetzungen und Bedingungen
die Erörterung nach dem Kriterium und den Prinzipien, nach dem
„Was" und „Wie", spärlich ausfallen, so wird sich auch für die strenge
Abgrenzung der Ethik von andern Wissensgebieten wenig Wissen-
schaftliches und logisch Konsequentes erwarten lassen. So hat
Thomasius auf die Frage nach der Sanktion der Moral durch die
Religion keine ganz widerspruchsfreie Antwort gegeben.
Insofern als das höchste Gut oder die Glückseligkeit auf einem
Gefühle beruht, ist auch bei ihm der Grund des sittlichen Strebens
eo ipso klar. Denn jedes Gefühl, das in der Lust besteht, ist genügend
als Erklärung für bestimmte Handlungen, die diesen höchsten Lust-
effekt bezwecken sollen. Somit sind die sittlichen Betätigungen nicht
Selbstzweck, sondern sie werden vollzogen mit Rücksicht auf die aus
ihnen resultierende Lust. Zwar spricht unser Philosoph viel von der
vernünftigen Liebe zu den Menschen, doch ist sie, so sahen wir, nicht
der Grund sittlichen Handelns, sondern gibt nur ein Mittel an, wie der
Mensch zu dem höchsten Gute gelangen kann. Jedenfalls genügte die
Erklärung, daß die Moral auf dem Streben nach Glückseligkeit beruhe,
und bedürfte keiner weiteren Deduktion. Er weist den Einwurf,
daß die Liebe zu Gott ihr Prinzip sei, mit der Erklärung zurück:
„Gott weist uns auf die Liebe zu den Menschen hin, je mehr wir sie
lieben, um so mehr lieben wir ihn." (S. 191 Einl. d. Sittenl.) „Die
vernünftige Liebe zu den Menschen ist das einzige Mittel, die wahre
Gemütsruhe zu erlangen." (S. 187 Einl. d. Sittenl.) Ebenso erklärt er
in der Lehre vom Naturrecht (Vorrede zu 3 Büchern der göttlichen
Rechtsgelahrtheit S. 20 u. 41), daß die Theologie sorgfältig von der
Moral und dem Recht zu scheiden sei. Denn die Religion erstrebt
ewige Glückseligkeit, die Moral dagegen nur zeitliches Glück. Thomasius
hat somit an dieser Stelle ein Kriterium für beide Disziplinen gegeben,
er hat eine scharfe Trennung der Moral von der Religion vollzogen und
die erstere auf sich selbst gestellt, eine Tat, die ihm Ehre macht.22)
Gleichwohl soll die Religion für die Ethik nicht entbehrlich
sein. Theoretisch ist Gott die letzte Ursache der Glückseligkeit.
22) Vgl. auch Einl. der Hofphilosophie S. 71 und S. 249 der „3 Bücher der
göttlichen Rechtsgelahrtheit".
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 105
Doch ist er nicht im psychologischen Sinn Erreger sittlichen Stre-
bens etwa derart, daß er als moralisches Prinzip in uns tätig ist.
Der Gottesbegriff antwortet nicht auf die Frage, warum soll der
Mensch nach Glückseligkeit trachten, indem er sagt: „Gott veran-
laßt den Menschen, nach der Realisierung des höchsten Gutes zu
streben. Unser Philosoph erklärt vielmehr Gott dem Ursprünge
nach als den Geber alles Guten, somit auch des höchsten Glückes.
Praktisch ist dieser Gedanke notwendig, denn ohne Gotteserkenntnis
ist kein wahres Glück möglich. Die Vollkommenheit der Gemütsruhe
erfordert Gott. Er dient zu ihrer Förderung und hat in dieser Hin-
sicht pädagogischen Wert. Er lehrt unsere Handlungen mit Rück-
sicht auf ihn als den Spender des höchsten Glückes einzurichten,
nach seinem Willen zu leben und auf ihn zu vertrauen. Diese Reli-
giosität soll der Moral den negativen Nutzen gewähren, daß unsere
Gemütsruhe nicht durch Furcht vor andern Menschen und äußeren
Schicksalsschlägen gestört wird. (S. 147 Einl. d. Sitten 1.)
Kann man die relative Berechtigung des Wertes dieser Ausfüh-
rungen für die Moral anerkennen, so kann man den wackeren Vor-
kämpfer für Volksaufklärung nicht von Einseitigkeit und Voreingenom-
menheit freisprechen, da, wo er über die falschen Arten des Glaubens
handelt. Der Atheist, so meint Thomasius, kennt nur sein eigenes
Wohl und begeht deshalb heimlich Ungerechtigkeit. In manchen
Stunden aber kommt ihm sein Vergehen, die Existenz Gottes und
dessen sittliche Forderung zum Bewußtsein. Die Folge davon ist
Angst und Furcht, und so besitzt der Mensch keine Gemütsruhe.
Ebenso schädlich ist der Aberglaube. Er besteht darin, daß der Mensch
sich falsche und schlechte Vorstellungen von Gott macht, seine eigenen
Leidenschaften ihm oder irgend einem andern Wesen oder Gegenstand
vindiziert. Indem er ihnen dient, geht er ebenfalls der wahren Gemüts-
ruhe verlustig. (S. 150 Einl. d. Sittenl.)
Schon aus dem bisher Gesagten ist es einleuchtend, daß die reli-
giösen Anschauungen in letzter Instanz den größten Einfluß auf die
Ethik des Naturrechtslehrers gehabt haben. Ein durchgehender Zug in
ihr ist seine Abhängigkeit von der Religion trotz des Versuches, jene
Disziplin selbständig zu machen. Genau genommen ist sogar die
Bibel der Leitfaden und die Grundlage seines ganzen Systems. (Aus-
übung der Sittenlehre S. 530.) In dem „Beschluß der Sittenlehre"
legt er dann auch das offene Bekenntnis ab, daß die Quelle für sein
106 Martin Joseph,
dreiteiliges Schema der Leidenschaften23) jene Stelle ist, wo Johannes
sagt: „Alles, was in der Welt ist, und nicht von Gott, gehört zu den
drei Klassen: Wollust, Ehrgeiz und Geldgeiz. Während er ferner
die Sittenlehre mit dem stolzen, selbstbewußten Versprechen be-
gonnen, sichere Kriterien und Mittel für einen moralischen Lebens-
wandel zu geben24), beschließt er dieses Werk resigniert mit dem Ge-
danken der Erbsünde. Wer wahrhaft sittlich handeln und denken will,
wird auf die Bibel verwiesen als das einzige echte Mittel für die Tugend
und Glückseligkeit. (S. 251 Ausübung d. Sittenl.)
So bleibt die Philosophie die hörige Magd der Theologie, bei
der es, um an ein Scherzwort Kants zu erinnern, nicht zweifelhaft
bleibt, ob sie ihr die Schleppe trägt oder ihr mit dem Lichte voran-
geht. Es ist nichts weiter als ein kleiner Anlauf zur Emanzipation
der Moral von der Religion. Thomasius ist in diesen Problemen das
Kind seiner Zeit, wenn auch ein sehr kluges, das sich nicht von dem
Gängelbande der Kirche befreien konnte.
b. Die Stellung der Ethik zum Recht.
1. Ethik und positives Recht.
Das positive Recht ist eine Rechtsordnung, deren Grundlage
die Offenbarung, d. h. der Dekalog bildet. Je nach dem jeweiligen
Bedürfnisse und den Interessen der Gesellschaft ist es modifizierbar.
Der Zweck des Rechtes ist der äußere, materielle Nutzen der Ge-
meinschaft, hinter den alle geistigen Forderungen des Individuums
zurücktreten müssen. Wie der Ursprung und das Ziel des positiven
Rechtes sich von der Moral unterscheiden, so sind auch die Mittel,
durch die es verwirklicht wird, andere als die der Ethik. Das Prinzip
des Rechtes ist die Gerechtigkeit, sie verschafft sich durch Gewalt
Geltung. Das Prinzip der Sittlichkeit — so sahen wir — die Liebe,
sie kennt keinen Zwang. (Einl. zur Sittenlehre Kap. 5 § 104 u. a, 0.)
Gemeinsam ist beiden Disziplinen der Unterschied von der Theologie.
Während sie das ewige Wohl anstrebt, zielen Recht und Moral nur
auf das zeitliche Glück hin. (Chr. Th. Vorrede zu den 3 Büchern der
göttlichen Rechtsgelahrtheit S. 41.)
23) Vgl. unten S. 119 ff.
24) Vgl. auch Chr. Th., Von den Mängeln der aristotelischen Ethik, S. 80.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 107
2. Ethik u n d K a t u rrec h t.
Von diesem positiv geoffenbarten Rechte unterscheidet Tho-
masius und seine Zeit noch das Naturrecht als die eigentliche
Rechtsdisziplin. Um das Wesen und den Charakter dieser
Wissenschaft zu verstehen, soll zunächst ihre Entstehung ent-
wickelt werden. Die historischen Untersuchungen haben es als
unumstößlich festgestllt, daß alle Systeme in der Geisteswissen-
schaft, alle großartigen Gesichtspunkte und Prinzipien, die der Zeit
völlig neu erschienen, gleichsam wie die Minerva aus dem Haupt
des Zeus entsprungen, historisch durch reale Umstände bedingt wurden.
Diese Umstände sind zwar nicht, wie die materialistische Auffassung
behauptet, Ursachen im Sinne des kausalen Geschehens, sondern,
wie bei der Erkenntnis der Stoff von außen gegeben, Veranlassungen,
an denen sich die idealen Faktoren betätigen.
Die zur Neugestaltung der Lebensanschauung und der Gesell-
schaft treibenden Kräfte des 16. Jahrhunderts waren der Humanis-
mus und die Reformation. Doch weder die Renaissance noch Luther
konnten die praktischen Probleme ihrer Zeit lösen. Die freudige
Bejahung des Lebens, die man als ein Charakteristikum jener Be-
wegung ansieht, war allein noch kein in die Speichen der Politik und
des sozialen Getriebes eingreifender Faktor. Die Vertreter jener
Epoche verloren sich in gelehrte Untersuchungen über das Alter-
tum. Auch Luthers Wirken hatte für die neue Gesellschaftsorgani-
sation und Gestaltung des öffentlichen Lebens nicht die angemessene
Form gefunden. Die Feudalität war dahin. In die festgeschlossene
Einheit der katholischen Welt war ein wuchtiger Keil getrieben.
Die Autorität und die Grundfesten der kirchlichen Vernunft waren
erschüttert. Andererseits war es der Reformation nicht gelungen,
ein einheitliches und allgemein anerkanntes religiöses Lehrgebäude
an die Stelle des alten zu setzen. Religionshader und Religionskriege
waren die Folgen. Dieser Hader zwischen den Konfessionen wird von
den tiefer und harmonisch angelegten Naturen auf die Dauer als
unerträglich empfunden. Im Jahre 1654 klagt Logau: „lutherisch,
päpstisch, calvinisch, diese Glauben alle drei sind vorhanden. Doch
ist Zweifel, wo das Christentum denn sei." Solche Stimmungen und
25) Audi Lasson unterscheidet in seiner Rechtsphilosophie die beiden
Disziplinen durch die Erzwingbarkelt bzw. Nichterzwingbarkeit.
108 Martin Joseph,
Ahnungen wecken die Ansicht, daß alle Religionen eine gemeinsame
Grundlage haben und in ihnen eine gemeinsame Wahrheit enthalten
ist. Diese Wahrheit wurzelt in der Vernunft als dem alleinigen und
hinlänglichen Vermögen aller Erkenntnisse. „So entstand der Begriff
der natürlichen Religion. Mit dieser Richtung auf eine natürliche Reli-
gion, welche nunmehr für die Seligkeit zureichend gefunden wird,
gehen die Probleme aus der Hand der Theologie in die der Philosophie
über. Das natürliche System bildet sich aus." (Dilthey, Natürliches
System der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert. Archiv für
Geschichte der Philosophie Bd. VI, S. 116.) „Der Protestantismus war
somit nur eine Form jenes Freiheitsdranges, welcher die ganze Re-
naissance belebte." (Windelband, Geschichte der neueren Philosophie,
Bd. I, S. 34. 4. Auflage.)
Während Herbert v. Cherboury (de veritate 1624) als erster
Vertreter der natürlichen Religion gelten kann, reichen die Wurzeln
des natürlichen Rechtes bis in das Mittelalter zurück. Aber auch
diese Disziplin vermochte erst durch die große Revolution, die das
Wirken Luthers heraufbeschwor, im 17. Jahrhundert sich voll zu ent-
wickeln. Denn erst in dieser Epoche zeigt sich das Verlangen, die äußere
Gestaltung des bürgerlichen Lebens durch das Gesetz zu begründen
und zu rechtfertigen. Ebendahin tendieren auch die neuen Formen
der Bildung und Gesittung.
Man ging ähnlich wie bei der natürlichen Religion von dem Ge-
danken aus, daß die menschliche Vernunft Quelle und Grund alles
Rechtes sei. Der isoliert gedachte, sittlich wollende Mensch ist der
Maßstab, an dem man Recht und Unrecht messen kann. Aus diesem
Begriffe allein sollen alle Rechtsvorschriften abgeleitet werden. Es
ist das Ideal des Rationalismus, der auch auf diesem Gebiete von der
Erfahrung unabhängige Wahrheiten aus der denkenden Natur des
Menschen erschließen will. Dieses Recht soll deshalb auch die Eigen-
schaften besitzen, die den eigentümlichen Charakter der Vernunft-
wahrheiten ausmachen. Es ist, weil logisch, ewig und unveränderlich,
allgemein gütig und notwendig. Hugo Grotius (de iure pacis ac belli I
cap. I 10) erklärt: „Das Naturrecht ist so unveränderlich, daß es selbst
von Gott nicht verändert werden kann So wenig Gott bewirken
kann, daß zweimal zwei nicht vier ist, ebensowenig kann er bewirken,
daß das, was seiner inneren Natur nach schlecht ist, nicht schlecht
sei." Der Nutzen dieser Lehre besteht darin, daß man mit Heiden und
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 109
Atheisten ein gemeinsames Gesetz habe. (Thomasius inst, iuris pr.
divin. 1 I. cap. 1 §'84. ) Die Basis des Naturrechts ist bei Thomasius
die Glückseligkeit. Er steht hierin im Widerspruch mit seinen Vor-
gängern. Hobbes wollte aus der Furcht die Entstehung des Staates
ableiten. „Nach Grotius hat der Mensch ein geselliges Bedürfnis,
und deshalb ist der Staat der Zweck der Natur." (Stahl, Ge-
schichte der Rechtsphilosophie, Bd. I, S. 175.) Er ist der klassische
Vertreter für die Tendenzen dieser Epoche; sein Ziel ist, für die
neue Gesellschaftsordnung rechtlich politische Begriffe zu finden.
Nach ihm hat Pufendorf (de jure naturae 1672, de officio hominis
et civis 1693) dieses sozialistische System weiter ausgebaut. Tho-
masius folgte zwar anfangs Grotius und seinem Nachfolger in dieser
Ansicht (Vorrede zum Grotius). „Der Mensch ist zwar ein t,coov
jtoXirixov, doch nicht nur aus einem inneren Instinkt, sondern er wird
aus Furcht vor dem Unglück, das ihm von andern Menschen beständig
droht, zur Gemeinschaft getrieben." (Inst, iurisp. divinae III. Bd.
3 lib. cap. 6 § 11.) Doch die Vermischung von Moral und Recht, die
er schon damals bei seinen Vorgängern bemängelt, brachte ihn zu dem
Ergebnis, daß der Sozialismus kein ausreichendes Prinzip für das Natur-
recht sei. An seine Stelle setzt er deshalb die Glückseligkeit, die im
äußeren und inneren Frieden besteht. (Fund, juris nat. et gentium
I. Buch cap. 6 § 19 und 21.) Hierdurch wird es ihm möglich, ein
doppeltes Gesetz zu folgern: Das forum externum und das forum
internum. Das Ziel des Rechts ist der äußere Friede, die Moral da-
gegen zweckt den inneren Frieden ab. Das Recht trägt ferner einen
andern Charakter als die Moral. Die Prinzipien der Ethik sind das
honestum und decorum. Von ihnen werden dann alle einzelnen sitt-
lichen Gebote abgeleitet. (Fund, juris naturae et gent. I. cap. 5.)
Der Grundsatz des honestum lautet: „Was du willst, daß dir
andere tun sollen, das tue dir selbst."
Der Grundsatz des decorum lautet: „Was du willst, daß andere
dir tun sollen, das tue ihnen."
Der Grundsatz des iustum lautet: „Was du dir nicht willst getan
wissen, das tue du andern auch nicht."
Als drittes das Recht von der Moral unterscheidendes Kriteiium
tritt hinzu, daß die Pflichten des justum erzwingbar sind, dagegen
die Forderungen des honestum und decorum keinem Zwange unter-
110 Martin Joseph,
liegen. (Einl. zur Sittenlehre, cap. 5 § 104. Fund, juris nat. et gent.
S. 105 deutsche Ausgabe.)
Um diese Eigenschaft des Rechtes zu begreifen, ist es nötig,
auf eine Gedankenentwicklung einzugehen, die von hervorragender
Bedeutung für die ganze Zeitrichtung gewesen ist. Ein Recht, das aus
der sittlichwollenden, vernünftigen Natur des Menschen sich ergeben
soll, ist dem Zwange abhold. Sein Charakteristikum ist der autonome
Wille des Menschen oder die Freiheit. Weil alle dieselbe Freiheit
haben, so konnte Thomasius die Gütergemeinschaft als einen natür-
lichen Zustand der Gesellschaft bezeichnen, denn sie kann ohne Zwang,
nicht aber ohne Liebe bestehen. (Einl. d. Sittenl. S. 42 u. Fund,
juris nat. et. ent. lib. I cap. 5. § 12.)
Der Ursprung des Zwanges wird bei den meisten Naturrechtslehrern
auf einen freiwilligen Vertrag gegründet, der zum Schutze der Freir
heit geschlossen ist. Aus dieser Institution sollen alle Rechte und Ver-
pflichtungen deduziert werden, bzw. auf ihr beruhen. Die verschieden-
sten, dem Begriffe der frei wollenden Natur des Menschen entgegen-
gesetzten Abhängigkeitsverhältnisse sollen durch sie gerechtfertigt
werden. Bodin wollte den, unumschränkten Despotismus, die absolute
Souveränität des Monarchen durch einen solchen Vertrag begründen.
Sogar die für alle Zeit dauernde Sklaverei als ein zu Recht bestehender
Zustand wird durch ihn sanktioniert. „So ist es nur ein Moment im Ver-
trage, in welchem Freiheit ihr volles Dasein übt. Wie der Blitz stirbt
sie mit der Geburt." (Stahl, Geschichte d. Rechtsphilosophie, 1. Bd.
S. 153.)
Als eine dem Recht innewohnende Eigenschaft brauchte bei
Thomasius der Zwang nicht erst durch das Medium des Vertrages ab-
geleitet zu werden. Denn während die Pflichten der Moral, des hones-
tum und decorum eine innerliche, besitzt der Grundsatz des iustum
eine äußerliche Verbindlichkeit. Der Vertrag dagegen verpflichtet
nicht an und für sich, er kann für sich weder das Recht erzeugen noch
bestätigen. (Fundamen ta juris nat. et gent. lib. I cap. 5 § 27.)
Schon vor ihm hat der Mensch angeborene Rechte, zu denen die
Freiheit und die ursprüngliche Gemeinschaft gehören, im Unterschied
von dem angenommenen Recht, in dessen Bereich die Herrschaft
und das Eigentum fallen. (Fund, juris nat. et gent. lib. I cap. 5 § 12.)
Die Pflichten, die das Vertragsrecht auferlegt, haben ihre Grenze
an der Norm des auf Vernunft beruhenden und frei begehrten Rates
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 111
des Naturrechts und an der Norm der Herrschaft des Vertrags-
und des bürgerlichen Rechts26). (Fund. lib. I cap. 4 §§ 91—99.)
Es war schon des öfteren erwähnt worden, daß die Konsequenz
nicht zu den stärksten Seiten des Thomasius gehört. So hatte unser
Philosoph gelehrt, daß die „Guttat" bisweilen erzwungen weiden kann
(vgl. S. 16). Auch fanden sich in seiner Ethik genug Begriffe, die eher
unter die Kategorie des iustum als die des honestum und decorum
fallen (vgl. S. 16 f.). Hinriehs (Geschichte der Rechts- und Staats-
prinzipien Bd. 3, 209) will eine innere Entwicklung in den ethischen
und naturrechtlichen Anschauungen des Thomasius annehmen und
die „Fundamente" für das reifste Werk des Philosophen halten. Er
schreibt: „Wir finden in den Fundamenten des Natur- und Völker-
rechts manches von Thomasius aufgenommen und verworfen, was
er in seinen früheren Schriften behauptet und erörtert hatte. Die
Fundamente haben namentlich durch den Wegfall der Institutionen
und die Aufnahme so vieler Bestimmungen, besonders aus der
Vernunft- und Sittenlehre, ihre eigentümliche Form und Gestalt
empfangen. Die Fundamente müssen als das Resultat und das Produkt
aller Bemühungen und Kämpfe angesehen werden, welche Thomasius
um die Entwicklung und höhere Fassung des Naturrechts gehabt hat."
Falls hiermit gesagt sein soll, daß Thomasius seine frühere in den
„Einleitungen" niedergelegte Ethik ignoriert, in den „Fundamenten"
allein ein endgültiges Moralsystem aufstellt, so halten wir das nicht für
wahrscheinlich. Richtig ist nur, daß große Teile der Einleitung der
Vernunft- und Sittenlehre sich in den Fundamenten wiederfinden, und
daß sie hier tiefer begründet und klarer durchdacht sind. Aber das
Hauptgewicht liegt in dem letzten Werke auf dem Recht. Nur um es
philosophisch zu begründen und aus der Natur des vernünftigen
Menschen zu deduzieren, mußte es Thomasius gegen die verwandte
Disziplin, abgrenzen. Da es einmal im Wesen des Rechts liegt,
gesellschaftliches Leben zu ermöglichen und zu fundieren, mußte auch
die Ethik im Naturrecht einen mehr sozialethischcn Charakter tragen.
In der Einleitung und Ausübung der Sittenlehre zeigt die Moral — so
sahen wir — rein individuell-utilitaristische Ziele und Prinzipien.
Wenn in diesen Werken des Philosophen auch rein juristische Probleme
26) Da hier nur das Verhältnis <l<r Moral zum Recht erörtert werden
soll, so mag die ausführliche I Darstellung der El liil< des Xaturrechts den < Jegen-
stand einer besonderen Abhandlung bilden.
112 Martin Joseph,
behandelt wurden, so erklärt sich das aus dem bereits gerügten
Mangel an Konsequenz bei Thomasius und dem Prävalieren seines
Verständnisses und Interesses für Recht vor dem der Moral. Wir glauben
deshalb mit Luden und Fülleborn (Beiträge zur Geschichte der Philo-
sophie Bd. I, IV. Stück, S. 7 ff.), daß wir es in den „Einleitungen" mit
der von Thomasius gemeinten Ethik zu tun haben. Doch konnte das
Naturrecht eben deshalb, weil diese Ethik in ihm tiefer begründet
wird, in den Bereich der vorliegenden Betrachtung gezogen werden.
Es bildet eine Ergänzung und mag deshalb die großen Lücken des
Systems der Morallehre einigermaßen ausfüllen und über einige gar
nicht in ihr behandelte Fragen Aufschluß geben.
II. B'uch.
A. Die philosophische Grundlage der Ethik.
1. Verstand und Wille.
Will man die psychologischen Bedingungen in der Ethik unseres
Philosophen verstehen, so muß man die Rudimente seiner Psychologie
und Erkenntnistheorie vorausschicken.
Thomasius hat folgende Einteilung:
1. Verstand.
a) Sinnlichkeit.
b) Sinn und Gedanken.
2. Wille.
a) Inklination zu einem gegenwärtigen Objekt.
b) Neigung oder Leidenschaft für ein abwesendes Objekt.
Der Sinn wird durch äußere Dinge affiziert, durch innere Ver-
arbeitung der Affektion entstehen Gedanken. Unser Philosoph steht
ganz auf dem Boden Lockes und zitiert häufig: nihil est in intellectu,
quod non fuerit in sensu. (3 Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit
3 cap. 1 §§ 38—55 Fund. II cap. 12, § 9.) Werden die Affektionen nicht
intellektuell verarbeitet, so sind die Gedanken passiv. Die höhere,
aktive Form gewinnen sie erst, wenn man mit Willen bedenkt, was
man sinnlich empfunden. (Chr. Thom., Ein), zur Vernunftlehre,
III. cap. S. 34.) Sie haben eine doppelte Natur, sie bestehen aus Ver-
stand und Willen. Jeder Willensakt ist in der Regel mit einem Ver-
standesmoment „vergesellschaftet". Der Verstand ist das Tun und
Leiden der Seele, sofern sie das Wesen oder die Beschaffenheit der
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 113
Dinge betrachtet, der Wille ist das Tun und Leiden deiselben, sofern
sie etwas durch die Glieder und Organe des Körpers zu tun gedenkt.
Er wird auch die Kraft der Seele genannt, durch welche der Mensch
sich einer gewissen Sache zuneigt, und die übrigen Kräfte antreibt,
etwas zu tun. (Ausübung der Sittenlehre cap. 3 § 22.) Dem Verstände
fällt auch die Aufgabe des Urteilens zu. Er hat die Mittel zur Erlangung
derjenigen Objekte zu wählen, nach denen der Wille begehrt. In diesem
Falle ist er unfrei. Frei urteilt er nur, wenn er vom Willen nicht an-
getrieben wird. Der Wille hingegen ist stets in seinem Tun und
Lassen vom Verstände unabhängig, gleichwohl ist er mit dem Verstände
verbunden. Er wird nicht von dem letzteren dazu bestimmt, das
Gute zu begehren und das Entgegengesetzte zu meiden; nicht des-
halb, weil der Verstand etwas für gut hält, wird es der Gegenstand
des Verlangens für den Willen, sondern weil man es begehrt, hält es
der Verstand für gut. Er kann das, was dem Willen angenehm ist,
nicht anders als gut beurteilen. (Fund. lib. Ic cap. I §§35—53, Aus-
übung der Sittenlehre Kap. 3 § 69.)
überhaupt ist bei unserem Philosophen der Wille das eigen Gliche
Agens des Seelenlebens. Ihm entspringen auch die Neigungen. Thoma-
sius tadelt deshalb Descartes, der die Affekte mehr aus dem Verstände
als aus dem Willen ableiten will. (Ausübung der Sittenlehre S. 78.)
„Die Gemütsneigungen sind Bewegungen des menschlichen Willens
zu angenehmen oder widrigen Dingen, die abwesend oder zukünftig
sind, die von den starken Eindrücken äußerlicher Dinge in das Herz
des Menschen oder der daraus erfolgten außerordentlichen Bewegungen
des Geblütes entstehen." (Ausübung d. Sittenlehre S. 105.) Wenn
der Wille von den innerlichen Leibesbewegungen affiziert wird, ver-
hält er sich passiv, wenn er diesen Eindrücken trotzt und den ihm
eigenen spontanen Antrieben folgt, ist er aktiv. (Ausübung der Sitten-
lehre S. 75 ff.) Es gibt nur eine Hauptneigung des Begehrens oder
Verschmähens. Sie heißt Liebe bzw. Haß. Alle andern Neigungen
sind nur Arten dieser Gemütsbewegung. Sie werden weitet unten
näher aufgezahlt und beschrieben werden. Hier seien nur noch zwei
Tätigkeiten des Begehrens erwähnt, die auf der Grenze zwischen
Willen und Verstand liegen. Der Wille hat die Vorurteile der Ungeduld
und der Nachahmung. (Ausübung der Sittenlehre S. 23/24, Einleitung
in die Hofphilosophie Kap. 6 §8.) Das ersterc veranlaßt uns häufig
dem nachzustreben, „was unsere Sinne und Gemütskiäfte augen-
Archiv l'ür Geschichte der Philosophie. XXVI, 1. 8
114 Martin Joseph,
blicklich und empfindlich rührt", dagegen als schlecht zu meiden,
was uns nicht stark affiziert, oder dessen gute Wirkung erst in der
Folge sich geltend macht. Das letztere veranlaßt uns, dem nachzu-
jagen, was andere, die wir lieben und schätzen, für begehrenswert
halten und umgekehrt das zu meiden, was sie verabscheuen. Ferner
liegt der Grund für die widersprechenden Vorstellungen und Ideen
nicht im Verstände, sondern im Willen, der aus Vorurteil und Gewohn-
heit den Verstand verdunkelt. (Einl. zur Vernunftslehre S. 88.)
Es ist deshalb ein Mißverständnis, wenn B. A.Wagner (Chr.Thoma-
sius, Ein Beitrag zur Würdigung seiner Verdienste um die deutsche
Literatur, S. 8) sagt: „Das irdische Glück ist von einem tugendhaften
Leben, dieses aber von der Erkenntnis der Wahrheit abhängig. Da
aber die Erkenntnis durch diepraejudicia, d. h. vorgefaßten Meinungen,
oder wie er in späteren Schriften sagt, , Vorurteile' gehemmt werde,
so müssen diese beseitigt werden." B. A. Wagner übersieht, daß diese
„Vorurteile" nicht intellektuelle, sondern emotionelle Vorgänge sind,
die ihren Ursprung im Willen haben.
Charakteristisch für den Popularphilosophen ist es, wenn er den
Trieb nach wissenschaftlicher Erkenntnis als einen Affekt bezeichnet,
der durch Eindrücke auf unsere Sinnlichkeit entsteht. Er begründet
seine Ansicht mit dem Hinweis auf das Lustgefühl, das auf wissen-
schaftliche Betätigung folgt. „Zu geschweigen, daß auch diese Begierde
durch das vorhergehende Lesen erweckt wird." (Ausübung der Sitten-
lehre S. 93.) Thomasius verwechselt den Trieb mit Affekt, Begierde und
Leidenschaft. Das Lustgefühl ist das sekundäre. Zunächst sind
beim Triebe zwei Seiten zu unterscheiden. Der Trieb bezeichnet
erstens das Bedürfnis der Tätigkeit, ohne daß irgend ein Lustgefühl
erwartet wird. Zweitens umfaßt er sowohl ein Gefühl der Lust als
der Unlust, durch das er rege gemacht wird. „Daraus, daß der Zweck
(oder das Objekt) des Triebes etwas ist, das Lust erregt oder zu er-
regen scheint, folgt nicht, daß derselbe notwendigerweise das Lust-
gefühl selbst ist." (Höffding, Psychologie im Umrisse auf Grundlage
der Erfahrung, III. Auflage, Leipzig 1901, S. 431.)
Der Affekt ist ein Grad des Gefühles, der Vcr&tand und Willen
vollständig beherrscht; die Leidenschaft dagegen ist ein durch Ge-
wohnheit eingewurzeltes Gefühl, das sich beständig in derselben
Richtung entladen will. Kant sagt: „Affekle sind von Leidenschaften
spezifisch verschieden. Jene beziehen sich bloß auf das Gefühl, diese
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 115
gehören dem Begehrungsvermögen an ui>d sind Neigungen, welche
alle Bestimmbarkeit der Willkür durch Grundsätze erschweren und
unmöglich machen. Jene sind stürmisch und unvorsätzlich, diese
anhaltend und überlegt." (Kritik der Urteilskraft, 1. Teil, TL Buch,
Allgemeine Anm., Reclam, S. 131.)
2. Will e-n sfreiheit, Gewissen, Verantwort-
1 i c h k e i t.
Der Wille wird von Thomasius eine moralische Kraft ohne jede
Wahl genannt. Diejenige Handlung, die mit Notwendigkeit seinem
innersten Wesen entspringt, heißt freiwillig. (Fundamenta lib. I cap.
1 § 68.) Insofern aber der Wille andern Kräften dient und äußeren wie
inneren Einwirkungen ausgesetzt ist, ist er innerlich gebunden. (Fund,
lib. L § 56.) Wenn diese Kräfte dem Willen angenehm sind, merkt
der Mensch nicht die Abhängigkeit von ihnen, und dann kann man
auch von einer äußeren Freiheit des Willens reden. „Der Schein der
inneren Freiheit entsteht dadurch, daß man Handlungen und Ent-
schlüsse, die leicht ohne große seelische Anstrengungen und Kämpfe
geschehen, für frei hält, während in Wirklichkeit die herrschende
Leidenschaft es zuwege bringt, sei es durch Hoffnung auf Belohnung
oder Furcht vor Strafe." (Fundamenta S. 136.)
Der eigentliche Grund für die deterministische Lehre unseres
Philosophen liegt in dem kirchlichen Dogma. Thomasius steht betreffs
der Unfreiheit des Willens auf dem Boden Luthers. (Alexander
Nicoladoni dir. Thom., Ein Beitrag zur Geschichte der Aufklärung
S. 70.) „Zu der Erkenntnis des natürlichen Unvermögens und Unzu-
länglichkeit der menschlichen Kräfte haben mich so viele klare Aus-
sprüche, die in allen Büchern der Heiligen Schrift stehen, durch Gottes
Gnade gebracht und gewiesen, wie die mir noch anklebende gemeine
Lehre unserer Leute von dem freien Willen des Menschen damit nicht
bestehen kann." (Ausüb. der Sittenlehre S. 500.)
Andererseits war es ein Dogma der ganzen Aufklärungsphilosophie,
daß der Mensch vermöge seines Verstandes das Gute und Böse klar
erkennen und unterscheiden kann und dann bloß zu wählen habe.
In diesem Sinne soll die Ethik unseres Philosophen die Aufgabe
haben, (\vn Charakter zu verbessern und so lehrt sie denn, wenn auch
zweideutig, die Freiheit (U^ Willens. „Das natürliche Vermögen
des Menschen ist zwar nicht hinlänglich, die bösen Affekte zu dämpfen.
8*
116 Martin Joseph,
aber die Lehrsätze der Vernunft von der Dämpfung der Leidenschaften
sind auch nicht ganz aus den Augen zu setzen." (Ausübung der
Sittenlehre S. 500 ff.)
Aus diesem Zwiespalt erklärt sich das beständige Schwanken
der Ansicht des Thomasius über den menschlichen Willen27). Offenbar
ist der Jurist über derartige Probleme nicht ins klare gekommen, und
so kann es dann nicht Wunder nehmen, daß in einem solchen tohu-
wabohu Gedanken auftauchen, die bald die Determination, bald
die Indetermination zu lehren scheinen. Thomasius kennt die Stimme
des Gewissens als ein Zeichen der Möglichkeit des Freiwerdens von.
den schlechten Affekten oder Begierden. Freilich ist es dem Worte
gemäß nur das Wissen von einem Gesetze. (3 Bücher der göttlichen
Rechtsgelahrtheit S. 19 und 20.) Es ist nicht angeboren, wie die
Cartesianer lehren; denn es besteht im Urteil. Deshalb kann es eben-
sowenig wie angeborene Gedanken ein apriorisches Gewissen geben.
Das beweist ja auch die Verschiedenartigkeit in der Bewertung von
gut und böse, wie denn auch die Anhänger der Gewissenslehre ein
wahres und falsches Gewissen kennen. (Grundlehren S. 79 und 80.)
Der Naturrechtslehrer unterscheidet ferner ein vorhergehendes und ein
nachfolgendes Gewissen. Mit dem letzteren haben wir uns hier nur
zu beschäftigen. Es ist, je nachdem die Tat gebilligt oder verworfen
wird, ein ruhiges oder unruhiges, bzw. gut oder böse. Es ist sodann
fast gleichbedeutend mit dem Begriffe der sittlichen Freiheit etwa in
dem Sinne Kants. Es ist die Stimme des Sittenrichters in uns oder,
um mit Kant zu reden, jene Göttin, vor der wir ehrfurchtsvoll unser
Knie beugen; es ist der unliebsame Mahner, der trotz aller Recht-
fertigungsversuche der unsittlichen Handlungen sich nicht beschwich-
tigen läßt. Andererseits ist das Gewissen eine rein empirische Tat-
sache, auch identisch mit der vernünftigen Liebe, ein Affekt oder
Leidenschaft gleich den andern Affekten. „Der noch bei jedem
Menschen vorhandene Funke der vernünftigen Liebe erinnert den-
selben oft und täglich und bestraft ihn wegen seines Tuns und
Lassen s." (Ausübung der Sittenlehre S. 514 und 515.) 28)
2?) Alexander Nicoladoni, Chr. Thomasius S. 70, vgl. auch Fülleborn,
Beitrag zur Geschichte der Philosophie, Bd. III, S. 27.
28) „Pflicht ist eine Neigung des Willens durch verursachte Furcht oder
Weckung von Hoffnung." (Chr. Thom., Grundlehren S. 86.)
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 117
„Es wird ein jeder Mensch bei sich befinden, daß dieses Verlangen,
oder die vernünftige Liebe zuweilen oder bei manchen gar oft, bei
allen aber doch zum wenigsten einmal durch eine außerordentliche
Bewegung rege werde und ihm die Torheit seiner herrschenden Be-
gierde dergestalt zu erkennen geben, daß er vom Verlangen getragen,
dieselbe loszuwerden, auch sich solches ernstlich vorgenommen,
es sei nun, daß diese Selbstbestrafung, welches man die Aufwachung
des Gewissens nennt, aus dem Unglück, das uns unsere herrschenden
Begierden über den Hals gezogen, als Schmerzen, Krankheit, Bevor-
stehung der Strafe usw. oder auch aus einer Ursache, die wir selbst
nicht sagen oder begreifen können, entstanden." (Ausübung der
Sittenlehre S. 346.)
„Obwohl ein Mensch nicht vermögend ist, die herrschende Be-
gierde zu dämpfen und gar selten kapabel ist, der stärkeren Reizung
Widerstand zu leisten, daß sie nicht in äußerliches Tun und Lassen
herausbrechen sollte, wenn ihn nicht die Furcht einer andern laster-
haften Passion oder die Strafe zurückhält, so ist er dennoch unver-
mögend, aus freiem Willen immer mehr Böses zu tun und durch mut-
willige Suchung der Gelegenheit und freiwillige Neigung zu den Taten,
die seinen Affekt noch mehr stärken, denselben noch mehr zu reizen
und also schlimmer zu werden; ingleichen, daß, wenn er schon ofte
vorher sieht, daß er was tun werde, das ihm hernach selbst leid ist,
und daher wohl manchmal Gelegenheit zu verfallen meiden könnte,
wenn er sich derselben in Zeiten, und da seine Passion noch nicht
gereizt worden, enthielte, er dennoch ohne stärkeren Antrieb sich
resolvieit wieder die vernünftige Begreifung zu tun." (Ausübung der
Sittenlehre S. 514.)29)
Insofern als die Handlungen des Menschen aus seinem Willen
und Können entspringen, werden sie ihm zugerechnet, und ist er
für sie verantwortlich. Unverantwortlich ist er in solchen Fällen,
wo sein Tun und Lassen aus Zwang oder Nötigung erfolgt. (Drei
Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit S. 19 und 20.)
Die Lehre von der Verantwortlichkeit läßt sich ebenso aus dem
29) Vgl. auch Chr. Thom., 3 Bücher der göttlichen Rechtsgelahrtheit, Vor-
rede S. 59, wo Thomasius gegen die herkömmliche Methode der Ethik mit ihren
11 aristotelischen Tugenden polemisiert, ..das vornehmste Stück der Sitten-
lehre, nämlich die Richtschnur eines tugendhaften Lehens, und wie man die
Laster vom Halse loswerden sollte, blieb unberührt".
118 Martin Joseph,
Indeterminismus deduzieren. Denn der Determinismus verlangt nichts
weiter, als daß die Handlung ursächlich aus dem Wesen und Chai akter
des Individuums hervorgeht. Der Indeterminismus dagegen begründet
eben seine Lehre mit dem Hinweis auf das Verantwortlichkeitsgefühl
bzw. mit den eben erwähnten Erörterungen über das Gewissen. Es
ist nicht zu verwundern, daß der Jurist und Philosoph bei diesen
Fragen auf keine Schwierigkeiten gestoßen ist, die ihn hätten veran-
lassen können, sich mehr nach der einen oder andern Anschauung
zu bekennen. Denn der Begriff der Verantwortlichkeit im deter-
ministischen Sinne entspricht vollkommen den Anforderungen des
Rechtes, im indeterministischen Sinne bietet er eine bequeme Hand-
habe, um aus ihm die Willensfreiheit zu beweisen.
B. Affektenlehre.
Infolge der Verwechslung und Identifizierung von Affekt, Leiden-
schaft und Trieb, sowie sämtlichen ursprünglichen und abgeleiteten
Willenserscheinungen 30) kennt Thomasius nur einen Grundtrieb,
der als genereller Begriff „Verlangen" heißt. Er teilt dieses Verlangen
— oder auch Begierde genannt — ein in 1. Liebe, 2. Haß.
Die Bewertung der Gemütsneigungen soll durch das Gleichnis
mit einem Kreise veranschaulicht werden. Der Mittelpunkt ist die
Gemütsruhe als Ziel des Strebens. Diejenigen Linien, deren Punkte
von der Peripherie zum Mittelpunkte fortschreiten, bezeichnen die
guten, diejenigen, deren Punkte den umgekehrten Weg gehen, die
bösen Affekte. Danach lassen sich zwei Regeln über die Affekte auf-
stellen.
1. Regel:
„Diejenigen Gemütsneigungen, die den Menschen außer sich
selbst (von dem Mittelpunkt) führen und ein anderes Ziel haben als
die Vereinigung mit andern Menschen, die nach der Gemütsruhe
trachten, sind böse." — „Alle Gemütsneigungen, die den Menschen
in sich selbst führen und mit andern ruhigen Menschen vereinigen,
sind gut."
2. Regel:
„Ein jeder Affekt, der mit einer so empfindlichen Bewegung
begleitet ist, daß davon entweder der Leib an seinen Kräften auch
3Ü) Vgl. S. 113 ff.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 119
nur einen Augenblick merklich geschwächt wird, oder der Wille in
größere Unruhe kommt oder mit großer Mühe zurückgehalten wird,
ist böse." (Einleitung der Sittenlehre S. 153.)
1. Die Hauptaffekte.
Thomasius zählt die Affekte wie folgt auf:
1. vernünftige Menschenliebe, das ist Charakter des Phlegmatikers.
2. Liebe zur Ehre, das ist Charakter des Cholerikers.
3. Liebe zur Wollust, das ist Charakter des Sanguinikers.
4. Liebe zum Gelde, das ist Charakter des Melancholikers 31).
Jeder Affekt involviert zugleich die Abneigung gegen den ent-
gegengesetzten Trieb, so die Menschenliebe den Haß des Irrtums
und des Lasters, der Ehrgeiz den Haß der Schande, die Wollust den
Haß der Enthaltsamkeit, der Geldgeiz den Haß der Armut.
Da die vernünftige Liebe gleichsam nur das Produkt aus den
drei übrigen Affekten als Faktoren ist, so besteht die menschliche
Natur im Grunde nur aus diesen drei Lastern.
Wie willkürlich und unwissenschaftlich32) diese Trichtomie ist,
sieht man auch aus dem Vergleich, den Thomasius mit der Physik
zieht. Man wird an Bombastus Paracelsus erinnert, wenn unser
Philosoph in vollem Ernste erklärt: der Mensch besteht aus den
Elementen Salz, Quecksilber, Schwefel.
Schwefel erzeugt Ehrgeiz, Quecksilber Wollust, Salz Geldgeiz.
Stehen diese Elemente in einem richtigen Verhältnis zueinander, so
herrscht die vernünftige Liebe. Jede der drei Leidenschaften hat
ihren besonderen Sitz; der Ehrgeiz im Kopfe, der Geldgeiz im Herzen,
die Wollust im Unterleib.
Entsprechend dieser Dreiteilung wird jedes Laster durch einen
besonderen politisch-sozialen Vorgang oder Einrichtung hervor-
gerufen.
a) 1. Der Ehrgeiz durch Unterschied der Geburt.
2. Der Geldgeiz durch Aufhebung der Gütergemeinschaft.
3. Die Wollust als Folge der ersten beiden Ursachen.
") Chr. Thom., Ilislnrie der Weisheit und Torheit. 3. 7. 8.245 und
Kinl. (I. Sittcnl. S. 3.
8a) Vgl. auch das Kapitel Religion und Ethik, S. 104 ff.
120 Martin Joseph,
b) 1. Die Wollust ist besonders heimisch im Nährstand.
2. Der Ehrgeiz ist besonders heimisch im Wehrstand.
3. Der Geldgeiz ist besonders heimisch im Lehrstand.
(Ausübung der Sittenlehre S. 160 ff.)
3. Die Affekte und ihre Nebenaffekte.
I. „Die vernünftige Liebe ist die Gemütsruhe; die Gedanken
können nicht ruhig sein, wenn nicht eine vollkommene Harmonie
zwischen den Kräften ist." (Ausübung S. 175.)
Tabelle der Tugenden, die aus ihr hervorgehen:
1. Verschwiegenheit.
2. Freigebigkeit.
3. Freundlichkeit.
4. Herzhaftigkeit.
5. Keuschheit.
6. Sparsamkeit.
7. Geschäftigkeit.
8. Geduldsamkeit und Großmütigkeit.
9. Dienstfertigkeit.
10. Gedächtnis, Erfindungsgabe und Scharfsinn.
II. „Die Wollust ist eine Gemütsneigung, die ihre Ruhe in stets
währender veränderlicher Belustigung des Verstandes und der Sinne
hauptsächlich des Geschmackes und des geilen Gefühles vergeblich
sucht und dieserwegen sich mit gleichgearteten Menschen zu vereinen
trachtet33)." (Ausübung der Sittenlehre S. 186.)
Tabelle der Untugenden, die aus ihr hervorgehen:
1. Klatschsucht.
2. Liederliche Verschwendung.
3. Unterwürfigkeit.
4. Feigheit und Ungeduld.
5. Geilheit und Schlemmerei.
6. Verschwendung.
7. Müßiggang.
33) Der lediglich auf den praktischen Nutzen gerichtete Sinn des Philo-
sophen bringt es zuwege, daß selbst die Liebe zur Wissenschaft aus der Wollust
abgeleitet wird. (Ausübung d. Sittenl. S. 207.)
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 12l
8. Jähzorn, dem bald darauf Weichherzigkeit folgt.
9. Kuppler- und Spielmannsdienste.
10. Ingenieuse Erfindungsgaben.
III. „Der Ehrgeiz ist eine Gemütsneigung, die ihre Ruhe in stets-
währender veränderlicher Hochachtung und Gehorsam anderer,
sonderlich aber gleich gesinnter Menschen durch Hochachtung seiner
selbst und Unterfangung teils verschmitzter, teils gewaltsamer Taten
vergebens sucht und deswegen mit gleichgearteten Menschen sich
zu vereinigen trachtet." 34) (Ausübung der Sittenlehre S. 220.)
Tabelle der Untugenden, die aus ihm hervorgehen:
1. Hartnäckige Stöckigkeit.
2. Eitle Verschwendung.
3. Verächtlicher Hochmut.
4. Grimme Tollkühnheit.
5. Stoische Unempfindlichkeit.
6. Genauigkeit.
7. Wachsame Arbeitsamkeit.
8. Zornige Rachgier.
9. Banditendienstfertigkeit.
10. Kritische Entscheidungsgabe.
IV. „Der Geldgeiz ist eine Gemütsneigung, die ihre Ruhe in stets
währender veränderlicher Besitzung allerhand Kreaturen, die unter
den Menschen sind und mit Geld können angeschafft werden, vergebens
sucht und dieserwegen mit solchen Kreaturen, oder wenn die Begierde
in einem solchen Grade ist, mit dem Gelde allein durch eigentüm-
liche Erlangung und Verwahrung dieser oder desselben sich zu ver-
einigen trachten." (Ausübung der Sittenlehre S. 223.)
Tabelle der Untugenden, die aus ihm hervorgehen:
1. Tückische Lügen und Simulierung.
2. Unbarmherzige Knickerei.
3. Närrische Aufgeblasenheit.
4. Hämische Grausamkeit.
5. Haß gegen das Weib.
6. Knechtische Submission.
:u) Der Ehrgeizige und der Wollüstige können der Gesellschaft nicht ant-
raten, jedoch kann und will der letztere sich unterordnen, während der erstere
sich andere Untertan machen will. (Ausübung d. SittenL fc>. 223.)
122 Martin Joseph,
7. Mühsame Eselsarbeit.
8. Neidische Schadenfreude.
9. Verbeißende Nachtragung.
10. Starkes Gedächtnis.
Zu bemerken ist hier, daß unter 10. stets eine geistige Fähigkeit
genannt wird, die natürlich nicht als ein schlechter Affekt zu nehmen
ist, sondern nur stark im Dienste des Hauptaffektes inzitiert wird.
3. Vermischte Affekte.
Die Laster kommen gewöhnlich in Verbindung mit einander vor
und erzeugen dann verschiedene Tugenden und Untugenden.
Wollust und Ehrgeiz in gleicher Stärke erzeugen eine der ver-
nünftigen Liebe ähnliche Mischung.
1. Klatscherei der Wollust und Stöckigkeit des Ehrgeizes ergeben
verschwiegene Offenherzigkeit.
2. Liederliche Verschwendung der Wollust und Verschwendung
des Ehrgeizes ergeben guttätige Freigebigkeit.
3. Submission der Wollust und Hochmut des Ehrgeizes ergeben
gleichmütige Freundschaft.
4. Feigheit der Wollust und Tollkühnheit des Ehrgeizes ergeben
geduldige Herzhaft] gkeit,
5. Geilheit der Wollust und stoische Unempfindlichkeit des
Ehrgeizes erzeugen geduldige Großmut.
6. Wollüstige Verschwendung und Genauigkeit des Ehrgeizes
erzeugen nüchterne, mäßige Keuschheit.
7. Müßiggang der Wollust und wachsame Arbeitsamkeit des
Ehrgeizes erzeugen tugendhafte Sparsamkeit.
8. Jähzorn mit Weichherzigkeit der Wollust und zornige Rach-
gier des Ehrgeizes erzeugen geschäftige Munterkeit.
9. Lust und Freudentaumel der Wollust und Ernst der Banditen-
geschäftigkeit des Ehrgeizes erzeugen freudige Dienstfertigkeit.
10. Erfindungsgabe der Wollust und kritische Entscheidungs-
gabe des Ehrgeizes erzeugen gute Geistesanlage und Urteilsfähigkeit
bei gutem und schlechtem Gedächtnis.
Ehrgeiz stärker als Wollust erzeugt einen zurückhaltenden,
verschlossenen, ernsten Charakter.
Wollust stärker als Ehrgeiz erzeugt ein freundliches, fried-
liebendes Temperament. (Ausübung der Sittenlehre S. 313.)
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 123
WeDn Wollust und Ehrgeiz gleich stark sind, und zu ihnen Geld-
geiz hinzutritt, so ergeben sich folgende Charaktere:
1. Aus der verschwiegenen Offenherzigkeit wird eine Art Unwahr-
heit und Heuchelei, die die Menschen für verständige Klugheit halten.
2. Aus der gilttätigen Freigebigkeit wird eine Art Sparsamkeit
und Knickerei, die in der Politik für sorgfältige Haushaltung gilt.
3. Aus der gleichmütigen Freundlichkeit wird eine Art Hochmut
und Glück, Unterwürfigkeit im Unglück.
4. Aus der geduldigen Herzhaftigkeit wird eine Art Grausamiveit.
5. Aus der geduldigen Großmut wird eine Art verbissener Nach-
tragung, die Verschlagenheit genannt wird.
6. Aus der mäßigen Keuschheit wird eine Art Haß gegen das Weib.
7. Aus der Sparsamkeit wird eine Art Knickerei.
8. Aus der geschäftigen Munterkeit wird eine Art Arbeitsamkeit.
9. Die freudige Dienstfertigkeit wird durch Schadenfreude auf-
gehoben.
10. Zur guten Geistesanlage und Urteilsfähigkeit tritt stets ein
gutes Gedächtnis.
Ehrgeiz und Geldgeiz gleich stark erzeugen geehrte und gefürchtete
Menschen.
Aus hartnäckiger Stöckigkeit des Ehrgeizes und tückischer
Simulierung des Geldgeizes ergibt sich kluge Verschwiegenheit. Solche
Menschen eignen sich besonders für Staatsdienste und andere diploma-
tische Zwecke. (Ausübung der Sittenlehre S. 315.)
Ehrgeiz stärker als Geldgeiz erzeugt äußerliche Beherrschung
und Unterdrückung innerer Erregungen.
Geldgeiz stärker als Ehrgeiz erzeugt erheuchelte Freundschaft
und herablassendes Wesen.
Tritt zum Ehrgeiz und Geldgeiz noch die Wollust hinzu, so ver-
ringert sich die Verschwiegenheit. Solche Menschen erscheinen in
der Gesellschaft angenehm und treuherzig. (Ausübung der Sitten-
lehre S. 316.)
W ollusl u n (I G e 1 d ge i z.
Sie sind das Zeichen jener inkonsequenten, unschlüssigen, energie-
losen, schwankenden und grotesken Naturen. Der Wollüstige kann
schlecht schweigen, und so verrät sich die Lüge des Geldgeizigen.
Im Glück kennt er kein .Mall für sein großsprecherisches Tun, im Un-
124
Martin Joseph,
glück ist er unfähig, sich zu fassen. „Fauler Müßiggang ist mit müh-
samer Eselsarbeit, jähzornige Weichherzigkeit mit verbissener Nach-
tragung, ingeniöse Erfindungen ohne iudicium mit gutem Gedächtnis
vermischt."
Bei der Beurteilung des einzelnen Charakters ist der Stand,
das Alter und die Gelegenheit zur Tat zu berücksichtigen. Die Wollust
ist bei einem Jüngling natürlicher als bei einem Alten. Ein junger
Geizhals ist mehr zu verachten als ein alter. Der Stand, das Alter
und die Umstände verleihen demselben Laster bisweilen ein verschie-
denes Aussehen und eine verschiedene Bewertung.
Die in den angeführten Tabellen aufgeführten Mischungen der
Leidenschaften sollen bisweilen Charaktere ergeben, die der vernünftigen
Liebe sehr ähnlich sind. Im schroffen Gegensatz hierzu steht deshalb
die Behauptung, daß die vernünftige Liebe mit der unvernünftigen
nichts gemeinsam habe. Aus der Annahme der Berechnung der ein-
zelnen Leidenschaften in Graden folgt auch, daß zwischen ihnen
nicht qualitative, sondern nur quantitative Unterschiede bestehen.
Ausübung der Sittenlehre S. 361.)
Innerhalb der Gradberechnung herrscht folgende Reihenfolge
der "Affekte :
I.
IL
III.
1. Ehrgeiz.
IV. 1. Geldgeiz.
2. Geldgeiz.
2. Wollust.
3. Wollust.
3. Ehrgeiz.
4. Vernünftige
Liebe.
4 Vernünftige Liebe.
1. Geldgeiz.
V. 1. Wollust.
2. Ehrgeiz.
2. Ehrgeiz.
3. Wollust.
3. Geldgeiz.
4. Vernünftige
Liebe.
4. Vernünftige Liebe.
1. Wollust.
VI. 1. Ehrgeiz.
2. Geldgeiz.
2. Wollust.
3. Ehrgeiz.
3. Geldgeiz.
4. Vernünftige
Liebe,
4. Vernünftige Liebe.
Als Werte für die Leidenschaften nimmt Thomasius für die vierte
1, für die erste 12, in andern Schriften 5 und 60 an. (Historie der
Weisheit und Torheit.) Man vermag nicht ohne Lächeln die Versuche
zu lesen, in denen unser Philosoph die Charaktere der Könige Saul,
David und Salomon nach dieser Schablone berechnen und beurteilen
Die Ethik des Naturreehtslehrers Chr. Thomasius. 125
will. Doch soll hier nicht verschwiegen werden, daß auch Helvetius
in seiner Schrift de l'esprit (disconrse II) Maße für sittliche Werte
aufgestellt hat. Ebenso glaubte Kant in seiner vorkritischen Periode
(Versuch, den Begriff der negativen Größen in die Welt Weisheit einzu-
führen 1763) Grade sittlicher Gesinnung annehmen zu dürfen, wenn
sie auch nicht erkennbar seien»
4. Die Mittel zur Befreiung von den Leiden-
schaften.
Die Voraussetzungen, um zur vernünftigen Liebe zu gelangen,
sind: 1. ein vorurteilsfreier Verstand, 2. häufige unbefangene kritische
Beleuchtung desselben, 3. Belauschung der herrschenden Leidenschaft
in den Augenblicken, wo sie klar zutage tritt. (Ausübung der
Sittenlehre S. 397.)
Die nächste Aufgabe besteht darin, alle Hindernisse aus dem
Wege zu räumen. Der Mensch soll sich vom Vorurteil der Nachahmung
und der Ungeduld befreien. Sodann belehrt ihn die Tugend, daß sie
wahrhaft angenehm und nützlich ist, während Ehrgeiz, Geldgeiz
und Wollust nur vorübergehend einen gewissen Sinnenkitzel hervor-
rufen. In Wirklichkeit aber untergraben sie die Gesundheit und
führen zur Gemütsunruhe. Die böse Gesellschaft und Gelegenheit
zur Betätigung schlechter Handlungen müssen gemieden werden.
Auch gehört Geduld zur Erreichung der wahren Glückseligkeit.
„Gut Ding will Weile haben." (Ausübung der Sittenlehre S. 473 ff.)
Mit dem Fortschreiten auf dem Wege zur sittlichen Besserung hat es
dieselbe Bewandtnis, wie mit einem von schwerer Krankheit Ge-
nesenden. Wie er bisweilen Rückfälle hat, so geht es auch auf sitt-
lichem Gebiete nicht ohne Rückfälle in die alte Lebensweise ab.
Mag man immerhin zugeben, daß durch die Betätigung der drei
Laster das Ziel der Ataraxie verfehlt wird, so tragen die praktischen
Vorzüge, welche aus der Bezähmung dieser Leidenschaften hervor-
gehen sollen, doch das Gepräge der Unwahrscheinlielikeit. Es zeugt
nicht gerade von großer Folgerichtigkeit im Denken und pädagogischem
Geschick, wenn man dem unsittlichen Menschen Nachteile vorspiegelt,
die ihm ;ius seinen Lastern erwachsen, im Gegensatz zu den Chancen,
die ein rechtschaffener Lebenswandel im Gefolge halten soll. ..Mau
muß durchaus sich klar machen, daß sittlich zu handeln kein Mittel
ist, um glücklich und mächtig zu werden; es gibt kein törichteres
126 Martin Joseph,
Unternehmen, als das der Moralisten, die dem Menschen einreden
wollen, daß er am klügsten daran tue, sich der sittlichen Norm zu
unterwerfen: sie werden von der Erfahrung alle Tage widerlegt."
(Windelhand, Präludien: Normen und Naturgesetze S. 268/269.)
C. 1. Die Bewertung dieser Lehren von Seiten
des Philosophen.
Thomasius hat den Wert seiner Lehren keineswegs überschätzt.
„Die Mixtur menschlicher Begierden bleibt in stets währender Pro-
portion und Ordnung, als er selbige auf die Welt gebracht hat." Nur
augenblicklich kann das Temperament unterdrückt werden, um später
mit um so größerer elementarer Gewalt wieder hervorzubrechen.
Unser Philosoph zitiert: natura expellas furca, tarnen usque reccurret.
(Ausübung der Sittenlehre S. 387/388.) Er ist deshalb nicht
weit von der Verzweiflung an der Möglichkeit der Besserung mensch-
licher Charaktere sowie von fatalistischen Anwandlungen entfernt,
(Ausübung der Sittenlehre Seite 556/557.) Eine sittliche Recht-
fertigung der Strafe kennt er deshalb nur soweit, als durch sie andere
Übeltäter abgeschreckt werden könnten. Er weiß sehr wohl, „daß
durch diese Furcht kein Mensch fromm und tugendhaft gemacht wird".
Der Mensch tut stets Böses. Nur ein quantitativer Unterschied be-
steht zwischen den einzelnen schlechten Handlungen. Das einzige
Mittel gut und glücklich zu werden, ist die Bibel und die Gnade Gottes.
(Ausübung der Sittenlehre S. 521.)
2. Historische Würdigung der Ethik des
Christian Thomasius.
Das Urteil, welches bei der Behandlung der Sittenlehre unseres
Philosophen gefällt wurde, ließ sie in einem keineswegs günstigen
Lichte erscheinen. Der große Vorkämpfer der Aufklärung, um die
er sich bedeutende Verdienste erworben, der vielgenannte Rechts-
gelehrte, dessen Lehre von Naturrecht noch in Trendelenburg,
Ahrens 35) u. a. Anhänger findet, hat sich hier auf ein Gebiet gewagt,
auf dem er nicht heimisch war.
86) Vgl. den ersten Aufsatz in Holtzendorfs Enzyklopädie der Rechts-
wissenschaften.
Die Ethik des Naturrechtslehrers Chr. Thomasius. 127
„Seine Lehre ist ein kritikloser Eklektizismus ohne systematische
Einheit und ohne methodisches Prinzip." „Der Weg, den er ein-
schlug,, führte mehr aus der Wissenschaft heraus, als in die Wissen-
schaft hinein. Aber dieser unwissenschaftliche Charakter des Mannes
zeigte nur die jugendliche Unreife, womit sich ein bedeutender Ge-
danke zuerst Bahn bricht. Die Forderung, daß die Wissenschaft
mit dem wirklichen Leben Fühlung halte und die Ausbreitung ihrer
Gedanken durch eine verständliche Form ihrer Darstellung befördere,
war im Wesen der Sache ebenso wie in den Bedürfnissen der Zeit
begründet," (Windelband, Geschichte der neueren Philosophie I. Bd.,
,4. Aufl., S. 516/517.)
Auch darf die historische Bedeutung der vorliegenden Ethik
nicht unterschätzt werden. Im Gegensatz zu den Scholastikern be-
deutet seine Lehre eine Vereinfachung. Descartes, ein älterer Zeif-
genosse unseres Juristen, hat es über eine Affektenlehre, in der sich
ethische Apercus befinden, nicht hinausgebracht. Leibniz konnte
von seinem metaphysischen Standpunkte und der Theodizee darauf
verzichten, eine besondere Ethik zu entwerfen. Das große Vorbild
unseres Philosophen, Locke, hielt es mit Rücksicht auf die Bibel
für überflüssig, eine Morallehre zu entwickeln36). Die wenigen Be-
merkungen über die Ethik in seiner Erkenntnistheorie (Bd. II Kap. 20,
21 und 28) sind belanglos.
Thomasius hat deshalb das Verdienst, in seiner Zeit den, wenn
auch mißglückten, Versuch zu einer von aller Scholastik freien Ethik
gemacht zu haben, in der Absicht, sie auf sich selbst zu stellen und
von allen verwandten Disziplinen unabhängig zu machen. Aus diesem
Grunde rühmt ihm Lasson (Rechtsphilosophie S. 94) nach, „daß die
ethische Prinzipienlehre durch ihn entschieden Fortschritte gemacht
hat". Aber diesem Urteil stehen andere gegenüber, in denen mit Recht
ein scharfer Tadel gegen den Naturrechtslehrer ausgesprochen wird.
Stahl (Rechtsphilosophie III. Bd. S. 127) nennt ihn ideenlos imdLuden
einen unphilosophischen Kopf, der seinen Zeitgenossen Spinoza
nicht versteht, (Chr. Thomasius S. K7 ff.) Auch Hinrichs (Geschichte
der Rechts- und Staatsprinzipien, III. Bd. S.304) bezeichnet ihn als
eine vielseitige entzweite Natur, ohne Genialität. Die Ethik unseres
Philosophen ist verglichen mit den Moralsystemen seiner Zeit ein
36) Brief Locken an Molineux vom 30. 3. 1896 bei Stephan 1. Kap. 2S, 86.
128 Martin Joseph.
dürftiges Werk und ihre Emanzipierung von der Religion nicht seine
schöpferische Tat. Hierin sind ihm Baco v. Verulam und Charron
vorausgegangen. Sie haben mit Konsequenz und Energie eine syste-
matische Ethik aufgestellt, mit der die Sittenlehre unseres Philosophen
nicht annähernd verglichen werden kann. Baco hat seine Doktrin
auf ein Naturgesetz gegründet, indem er an die römische Stoa an-
knüpfend lehrte : die sittlichen Ordnungen stehen unter einem Natur-
gesetz. „Die Herrschaft des Naturgesetzes begreifen und fördern, heißt
es psychologisch auffassen, sonach muß es auf die in ihm wirkenden
Kräfte zurückgeführt werden." (Dilthey, Die Autonomie des Denkens
im 17. Jahrhundert. Archiv der Geschichte der Philosophie Bd. VII,
S. 48.) Auch Charron hat zwar kein absolut neues ethisches Prinzip
aufgestellt. Aber auch er kennt ein oberstes Gesetz der Ethik, und das
ruht nicht in der Religion, sondern in der Natur und in der mensch-
lichen Vernunft.
Ebensowenig kann es Thomasius mit den englischen Gefühls-
moralisten aufnehmen. Ihre Systeme bedeuten einen großen Versuch,
psychologisch aus dem Gefühl den Ursprung und die Aufgabe der
Ethik herzuleiten. Sie" bilden einen Eckstein in der Geschichte der
Moralwissenschaft. Denn von ihnen allein führt der Weg zu dem rigo-
rosen Pflichtbegriff J. Kants (vgl. Windelband, Geschichte der neueren
Philosophie § 36 ff.).
Rezensionen.
Otto Gilbert, Griechische Religionsphilosophie. Leipzig, Engelmann,
1911. (554 S.)
Dieses Buch kommt einem Bedürfnis entgegen, das in der letzten Zeit
für die Erforschung der griechischen Philosophie immer fühlbarer wurde, —
im Einzelnen das Herauswachsen der Philosophie ans der Religion nach-
zuweisen und im weiteren die enge Verwandtschaft zwischen theologischer
und philosophischer Spekulation zu verfolgen. Die Grundidee des Buches ist
die, daß fast alle griechische Welterklärung im Grunde eine Zurückführung
des Weltgeschehens auf ein göttliches Prinzip ist. Am glücklichsten hat der
Verfasser seine Grundidee in den Abschnitten über die Vorsokratik durch-
geführt, die daher eine eingehendere Betrachtung verdienen.
Gemeinsam aus der staunenden Betrachtung der im Himmel und auf
der Erde waltenden Mächte hervorgegangen, lassen sich Religion und Philosophie
der Griechen im Anfange kaum scheiden. Unmerklich geht die Theologie
in die Physik über, die auch nach ihrer Loslösung einen durchaus religiösen
und theologischen Charakter bewahrt und an ihren Begriffen noch lange
später mytologische Schlacken mitschleppt.
Die alten Kosmogonien enthalten im Keime die Begriffe, die später in
der griechischen Philosophie eine Rolle spielen. Es sind in den Kosmogonien
drei Eormen der Welterklärung zu unterscheiden. Die erste leitet alles Sein
aus Himmel und Erde oder dem Chaos als der gähnenden Kluft zwischen
Himmel und Erde ab und bringt zum Ausdruck, daß alle Weltbildung sich
aus dem Räume heraus vollzogen hat. Die zweite Form der Kosmogonien
läßt alles Sein aus der Nr cht entstehen, die als die ursprüngliche Zeiteinheit
autzufassen ist, oder drückt die Abhängigkeit alles Seins von der Zeit noch
schärfer durch Einführung des Chronos als Urvater der Göttergeschlechter
aus. Natürlich wurden Raum und Zeit nicht als Abstraktionen gefaßt, sondern
dem mythologischen Denken gemäß als stoffliche Substanzen vorgestellt.
I ranz in den Vordergrund tritt das Interesse für den Stoff in der dritten Form
der Kosmogonien, die Erde und Wasser zu den Urprinzipien erhebt. Zu allen
diesen Welterklärungen hat schon früh die eigene Beobachtung geführt,
und es ist nicht not io; anzunehmen, die Kenntnis der Elementarstoffe sei den
Griechen aus der Fremde gekommen. Neben dein hei vorragenden Interesse
der kosmologisclien Spekulation für den Stoff als welterklärendes Prinzip
tritt die Frage nach den weltbewegenden Klüften zurück, weil tue Stoffe
selbst als lebendig, das Prinzip der Bewegung in sich tragend gefaßt winden.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 1. 9
-i OA Rezensionen.
Dennoch finden sich auch nach dieser Richtung hin Anfänge, welche besondere
Kräfte statuieren. Dem Eros als der Kraft der Anziehung tritt die Eris als
die Kraft der Abstoßung gegenüber.
Eine zweite gemeinsame Quelle der Religion und Philosophie ist in den
psychischen Erfahrungen des Menschen zu finden. Die Orphiker als die Be-
gründer dieser Gedankenrichtung haben damit in die Spekulation einen
mystischen Zug gebracht, den von ihnen die Pytagoräer übernahmen. Zu-
gleich haben diese das dualistische Moment, das in der orphischen Gegenüber-
stellung von Seele und Leib besteht, noch schärfer betont und sind so die
Begründer der dualistischen Weltanschauung geworden. In den folgenden
Jahrhunderten kämpft der dualistische Gedanke mit dem monistischen, der
in den Joniern seine Vertretung fand.
Den Joniern und Pythagoräern gemeinsam ist der Gedanke,
daß allem Wandel der Erscheinungswelt ein bleibendes göttliches Sein zu-
grunde liegen müsse. Die Verschiedenheit beider Weltkonzeptionen besteht
darin, daß die Jonier ein einheitliches Weltprinzip annehmen, nämlich die
Materie als Ausgangspunkt und treibende Kraft aller Bewegung, die Pytagoräer
dagegen zwei ursprünglich von einander getrennte Weltprinzipien aufstellen,
das schöpferische Formprinzip und die ungeschiedene chaotische Materie.
Alle Jonier sind darin einig, daß die Materie, von einem gegebenen Anfang
ausgehend, sich aus eigener Initiative noch einer festen Ordnung stufenweise
in alle Formen des Kosmos umwandelt. Nur über den Ausgangspunkt dieser
Stoffevolution herrscht unter den einzelnen Joniern Differenz. Immer wird
die Grundsubstanz durchaus animistisch als göttliche Persönlichkeit auf-
gefaßt; ebenso sind die vier Grundelemente, in die sie sich scheidet, ewige
persönliche Substanzen, und die wiederum aus diesen hervorgehenden Einzel-
dinge persönliche aber vergängliche Wesen. Diese Götterlehre bedeutet keines-
wegs einen Bruch mit dem Volksglauben, sondern versucht die nationalen
Götter tiefer zu erfassen und umzudeuten. Dem göttlichen Gesamtwillen
treten in den Einzelwillen der Elemente und den freien Entscheidungen der
Einzeldinge Hemmungen entgegen, aus deinen Unrecht und Sünde entspringen.
Der Gipfelpunkt der jonischen Philosophie ist H e r a k 1 i t , für den die
Gottessubstanz die allen Wandlungen zugrunde liegende Vernunft, somit das
Weltgesetz ist. Die Gottesvernunft ist in der mit ihr identischen menschlichen
Vernunft tätig, und die Sprache als eine unmittelbare Schöpfung der letzteren
ein organischer Bestandteil der Gottheit. Der Begriff, der sich in der mensch-
lichen Vernunft bildet, ist der adäquate Ausdruck des Wesens der Dinge,
d. h. Denken und Sein sind identisch.
Für die P y t a g o r ä e r ist das Charakteristische der Welteinheit nicht
mehr der einheitliche Stoff, sondern die Einheit der Form. Nicht aus dem
wandelbaren Stoff, sondern aus der Form, den äußeren Form Verhältnissen,
Maß und Zahl, bildet sich unsere Erkenntnis. Die Einzelformen gehen alle
auf ein göttliches Formprinzip zurück, das mit dem Feuer als dem form-
gebenden Element identifiziert und als höchster Gott oder Zeus bezeichnet
wird. Bestimmte Einzelformen werden bestimmten Göttern des Volksglaubens
gleichgesetzt. Ihre Aufgabe ist der Kampf mit der widerstrebenden Materie.
Rezensionen. 131
Die Einigung von Stoff und Form, die Harmonie, führt zur Bildung der Einzel-
dinge. Auch die Seele, das Formprinzip des animalischen Körpers, wird
als Harmonie bezeichnet. Wie die Formen überhaupt ist auch die Seele aus
Feuerstoff gebildet. Das Dogma von der Seelenwanderung übernahmen die
Pytagoräer von den Orphikern aus religiösen Rücksichten, ohne es erklären
zu können. Die religiöse Erfassung der Welt und des Lebens beherrscht alles
Denken, Fühlen und Handeln der Pytagoräer.
Xenophanes übernimmt von den Pytagoräern den dualistischen
Gedanken, indem er die Gottessubstanz von der elementaren Materie scheidet,
von den älteren Joniern das Dogma von der Einheitssubstanz, die er als eine
mit Sinnen und Vernunft begabte Persönlichkeit auffaßt und als Gottheit
bezeichnet. Sein Versuch, die Einheit der Gottheit begrifflich zu erweisen,
ist völlig ungenügend. Wie bei den Joniern ist die Gottheit eine materielle
Substanz. Sie steht in organischer Verbindung mit der Materie, deren vier
Grundformen Wandlungen einer Materie, des Erdelements, sind. Die Materie
als solche ist tot und unbewegt, ihre Bewegung ist durch die Gottessubstanz
bedingt. So nehmen zwei verschiedene Substanzen denselben Raum ein; die
Gottessubstanz erscheint also als ein geistiger Begriff. Daß Xenophanes
außer dem einen Gotte noch untergeordnete Gottheiten angenommen habe,
ist nicht wahrscheinlich. Parmen ides schließt sich in der Charakteri-
sierung der Einheitssubstanz an Xenophanes an und entwickelt ebenso wie
dieser seine Beweisführung aus dem Begriffe selbst. Da das logische Denken
aus der Gottesvernunft selbst stammt, so muß sich das Seiende in seiner
Realität mit dem Begriff decken. Aus dem Begriffe des Seienden folgt aber
in erster Linie, daß es unwandelbar in Zeit und Raum ist. Diese Überwertung
des begrifflich fixierten Seins hat zu der verständnislosen Verachtung des
Weltgeschehens geführt. Nicht metaphysisch, sondern physikalisch will
Parmenides sein Seiendes verstanden wissen. Pytagoräisch-heraklitischen
Einflüssen folgend, bestimmt er es näher als das Feuer. Dem Seienden tritt
die wandelbare Stoffmasse entgegen, die als das Nichtseiende bezeichnet wird
und in der Erde konzentriert ist. Die Art der Einwirkung der feurigen Gottes-
substanz auf die Materie ist für Parmenides ein unlösbares Rätsel, er versucht
aber eine wahrscheinliche Erklärung zu geben. Obgleich es nach Parmenides
für das logische Denken nur einen Gott gibt, versucht er zur Befriedigung des
Gemüts einen Ausgleich zwischen der eigenen Welt konsl Miktion und den
religiösen Traditionen nach Art der Jonier und Pytagoräer herbeizuführen.
Empedokles kombiniert monistische und dualistische < .'edanken zu
einein mystischen, widerspruchsvollen Welt!) ilde, indem er /.war der Materie.
den Joniern folgend, eine zentrale Stellung anweist, die bewegende Kraft aber
loslöst und verselbständigt. Die Materie verliert bei ihm ihre absolute Ein-
heitlichkeit, indem er vier verschiedene Klenientarsubstanzen von selbständiger
Struktur lehrt urd jede mit einer Gottheil des Volksglaubens identifiziert.
Die den Elementen übergeordneten urd v< n ihnen völlig unabhängigen Kräfte
der Anziehung und Abstoßung, die aber auch räumlich ausgedehnte Wesen-
heiten sind, vei einigen in sich alle Initiative. Aber sie handeln nicht in freu m
Entschlüsse, nichl cach einem festen Gesetze, sondern werden planlcs und
9*
132 Rezensionen.
ordnungslos von einer blinden Zufallsmacht, der ärdyxr}, in Bewegung ge-
setzt. Wie eine bewußte Reaktion gegen diesen Standpunkt erscheint die
Weltanschauung Anaxagoras', der, obgleich auch auf dualistischem
Boden bauend eine einheitliche Weltanschauung erstehen läßt. »Sein Nus ist
die schöpferische, ordnende Gottesvernunft, die die Kosmosbildung zum
Zweck hat. Damit knüpft Anaxagoras an die Jonier an, läßt aber die Vernunft
nicht wie jene sich aus der Materie selbst entwickeln, sondern stellt sie dieser
als höheren Weltfaktor gegenüber. In der Materie sieht Anaxagoras abweichend
von seinen Vorgängern nicht nur die vier Elementarformen, sondern eine
Mischung der Keime aller in der Welt vorkommenden Gebilde. Auf Scheidung
und Vereinigung dieser Weltkeime geht alles kosmische Geschehen zurück.
Was den Nus bewogen hat, seine Ruhe und Isolierung zu verlassen und an die
Materie heranzutreten, hat Anaxagoras nicht erklärt. Das Wirken des Nus
besteht darin, daß er die der Materie inhärenten, zwecklos und im Wider-
streite mit einander tätigen Kräfte seinem Ziele unterordnet, dessen Durch-
führung sich bis in Ewigkeit fortsetzt. In dem Nus ist alle Göttlichkeit kon-
zentriert, neben ihm ist für die Götter des Volksglaubnes kein Platz. Der
Gottheit des Xenophanes ähnlich ist der Nus auch als Substanz zu fassen.
Wie er aber durch seine Beweglichkeit weit über diesen hinausgeht, läßt er
besonders die Gottheiten der früheren Denker weit hinter sich, indem er über
aller Materie steht und sich damit dem Begriffe des rein Geistigen nähert.
Dem Nus eignet die höchste Sittlichkeit. Daher verleiht er der menschlichen
Seele, indem er in sie als ihr Bestandteil eingeht, das sittliche Streben.
In Anaxagoras System haben wir den reinsten Ausdruck des Monotheismus.
Mit ihm hat sich die Philosophie von der Volksreligion losgelöst. Nach ihm
hat sich die Philosophie verschieden zur Volksreligion verhalten. Die sophi-
stische Spekulation, die alle kosmischen Werte ihrer absoluten
Geltung entkleidete, zog natürlich auch die Götter in den Bereich ihres Zweifels.
Für sie gab es keine Gottesvernunft und keine Götter mehr. Sokrates
dagegen gelten die Götter wieder als Realitäten, die über jeden Zweifel er-
haben sind. Gilberts weitere Ausführungen über Sokrates sollen hier über-
gangen werden, da sie, auf unsicheren Boden aufgebaut, nicht haltbar sind.
Gilbert stützt sich nämlich auf die Platonischen Dialoge bis zum Phädon
inklusive, in denen seiner Meinung nach Plato ein Gesamtbild der ganzen
Weltanschauung des Sokrates entwirft. Die Auffassung des Phädon als einer
historischen Darstellung von Sokrates' letzten Gesprächen kann nun aber als
überwunden angesehen werden, da die Lehren des Phädon sich von denen
der früheren Dialoge allzuweit entfernt haben. Auch die Tatsache, daß sich
der von den Dialogen bis zum Phädon eingenommene Standpunkt verändert
hat, spricht gegen die Auffassung dieser Dialoge als einer Gesamtdarstellung
der sokratischen Weltanschauung. Außerdem war Plato, als er den Phädon
schrieb, schon etwa 45 Jahre alt, und es ist anzunehmen, daß er dann schon
eigene und nicht Sokratische Lehren vortrug. Endlich ist die Annahme, Plato
habe bis zum Phädon inklusive sokratische, in den folgenden Dialogen aber
eigene Lehren vorgetragen, durchaus willkürlich.
Durch die Auffassung von Sokrates leidet auch die Darstellung der
Rezensionen. 1 3
Philosophie P 1 a t o s. Die erste Entwicklungsperiode Piatos geht bei Gilbert
verloren, denn sie ist ja Sokrates zugeschrieben worden. Daher ist für Gilbert
die weitere Entwicklung Piatos nichts als eine Ausführung und Vertiefung
Sokra tischer Gedanken, und erst die unter den Einflüssen der Pytagoräer
und Eleaten stehenden Dialoge des Alters führen nach Gilbert weit ab von den
Geleisen sokratischer Spekulation. Gilbert ist bemüht, zu erweisen, daß gleich
Sokrates auch Plato mit beiden Füßen fest auf dem Boden nationalen Glaubens
steht. Dies kann jedoch nicht bedingungslos angenommen werden. Indem
Gilbert seine Behauptung auf die mythischen Partien der Platonischen Dialoge
gründet, übersieht er, daß Plato dann zur mythischen Darstellung greift,
wenn seine Gedanken sich noch nicht zu Begriffen kristallisiert haben, und
daß seine Mythen nicht wörtlich genommen werden dürfen, weil sie mit den
gangbaren und dem Leser geläufigen Vorstellungen und Anschauungen
operieren. Jedenfalls ist die Götterwelt Piatos weit über die Götter des Volks-
glaubens erhaben. Gilberts Darstellung der Platonischen Philosophie ist
ferner durchdrungen von der Überzeugung, daß nicht der logische, sondern
der religiöse Gesichtspunkt für Plato der entscheidende ist. Diese Überzeugung
kann aber auch nur mit Einschränkungen gelten. Während sie einerseits
Gilbert zu einer wohlbegründeten Ablehnung der Natorpschen Auffassung der
Ideenlehre als eines transzendentalen Idealismus veranlaßt, führt sie ihn
andererseits zu einer einseitigen Auffassung der Ideenlehre. Er versteht die
Ideen als überkosmische Substanzen, welche in mystischen Prozessen sich
mit den Dingen verbinden. Zwischen dem überkosmischen Reiche der Ideen
und den irdischen Dingen nehmen die Götter und Dämonen eine Mittler-
stellung ein. Die Idee des Guten faßt Gilbert als ein lebendiges und persönliches
Wesen, die von den Grenzen der Welt aus ihre Wirkung auf die Materie des
Kosmos ausübt. Auch diese Anschauungen entspringen aus des Verfassers
Auffassung der Platonischen Mythen als ernst gemeinter Lehren.
Aristoteles hat sich nach Gilbert hauptsächlich dadurch als echter
Platoniker erwiesen, daß er auch die Gottheit mit den Enden des Kosmos
organisch verbindet. Da Aristoteles nun die Gottessubstanz als immateriell
charakterisiert hat, so muß er natürlich durch ihre räumliche Fixierung bei
der Darlegung des Wechselverhältnisses von Gott und Welt in unlösbare Wider-
sprüche geraten. Diese Substanz zu einer rein geistigen Potenz zu erheben,
hat Aristoteles nicht vermocht. In dieser Beschränkung bleibt die Gottheit
in aristotelischer Auffassung das Höchste was antikes Denken geschaffen hat.
Gott ist die absolute Energie und löst im Kosmos immer neue bewegende
Kräfte aus. Aul ihn geht alle Bewegung, wie sie in unendlich verschiedener
Weise das Werden der Dinge bestimmt und beherrscht, zurück. Der Gegenpol
zur Gottheit ist die ewige, ungewordene, an sich von der Gottheit völlig un-
abhängige Materie. Aristoteles schließt sich also an die dualistischen Vor-
stellungen der Pytagoräer und Piatos an, nimmt aber an ihnen eine bedeutsame
Korrektur vor, indem er sie nicht als ein der Gottheit feindliches Prinzip,
sondern als ein der Gottheil /.um Aulhau der Welt dienliches Baumaterial
ansieht. Unter der Einwirkung der Gottheit vollzieht sich der Wandel der
Materie in einer festen Ordnung. Gott steht aber nicht nur am Anfang der
134 Rezensionen.
Weltevolution, sondern ist auch ihr Endpunkt. Der Weltplan ist der Gedanke
Gottes und gelangt in dem erreichten Ziel zum Ausdruck. Gott ist das Gute,
das Schöne, das Beste. Die Materie ist daran schuld, daß die göttlichen In-
tentionen sich nicht immer vollkommen realisieren lassen. In der Überwindung
der Materie und in ihrer Erhebung zum Mittel für die Durchführung der
göttlichen Pläne hat Aristoteles einen entscheidenden Schritt vorwärts zur
monistischen Welterklärung getan. Dabei hält er aber die Gestirne und die
ätherischen Sphären für Einzelgötter, die dem höchsten Gottesprinzip unter-
geordnet sind und erkennt so die Berechtigung des Volksglaubens im all-
gemeinen durchaus an. Aus dieser ätherischen Substanz stammt die mensch-
liche Seele, die Vernunft des Menschen aber entstammt direkt dem höchsten
Gottesprinzip. Was die Lehre vom vovg 7iot>]Tix6g und voZg Tiu&rjTixög an-
betrifft, so tritt Gilbert für die Identität beider vovg ein, indem er die Aktivität
und Passivität des vovg als seine wechselnden Phasen betrachtet. Mit dieser
Auffassung kann sich der Rezensent jedoch nicht einverstanden erklären, da
sie das von Aristoteles in de an. III, 5, 430 a 10 ff. ausdrücklich ausgesprochene
Prinzip, der in der Natur beobachtete Gegensatz von dvvafJig und evEoysiu
solle auch auf dem Gebiete der Psychologie durchgeführt werden, ignoriert.
Im Übrigen verweist der Rezensent für diese Frage auf seinen Aufsatz in
Band 22 (1909) unserer Zeitschrift, S. 493.
Bei der Darstellung des atomistischen Materialismus ist
Gilbert in seinem Streben die Göttlichkeit der welterklärenden Prinzipien
in der griechischen Philosophie nachzuweisen zu weit gegangen. Seine Auf-
fassung des demokritischen Feuerstoffes als einer Art Weltseele und die
Meinung, daß die einzelnen Feueratome die Fähigkeit zu empfinden und zu
denken besitzen, sind falsch.
Glücklicher hat Gilbert die Grundidee seines Buches bei der Darstellung
der tiefreligiösen Welterfassung der Stoiker durchgeführt.
P. Bokownew.
Franz Brentano, Aristoteles und seine Weltanschauung. 153 S.
Quelle und Meyer, Leipzig 1911.
Brentano hat die Tendenz seines Buches im Vorwort selbst charakte-
risiert. Er wendet sich gegen die Mehrheit der heutigen Aristotelesinterpreten,
die, seiner Meinung nach, in ihren Darlegungen der Aristotelischen Philo-
sophie uns etwas Unharmonisches voller greifbarer Absurditäten bieten.
„Wenn sie bei ihrer Forschung auf Sätze stoßen, die aufs auffälligste ein-
ander zu widersprechen scheinen," sagt Brentano, „so nehmen sie ohne wei-
teres an, daß hier wirklich Unvereinbares gelehrt werde und fragen darauf-
hin nur noch, ob man sich bei der Darstellung mehr an diese oder jene Be-
hauptung zu halten habe. Und doch liegt hier die Vermutung nahe, jene
Stellen möchten sich auch in einem anderen Sinne deuten lassen, der die eine
mit der anderen in Einklang bringt, wo dann das, was dem Verständnis eine
Schwierigkeit zu bereiten schien, ihm vielmehr sur Erleichterung dient. . . .
Vielleicht verlangt die Erklärung des Zusammenhangs des einen mit dem
anderen Ausspruch gewisse vermittelnde Glieder, und so enthüllt sich uns
Rezensionen. 135
dann das Ganze der Aristotelischen Lehre in viel größerer Vollständigkeit."
Es ist klar, daß Brentano in seinem Streben Unklarheiten und Widersprüche
des Aristoteles wegzuretuschieren uns nicht den wirklichen, sondern einen
idealisierten Aristoteles gibt. Obgleich Brentano in seinem Abschnitt über
die Schriften des Aristoteles (S. 9 ff.), der neben dem über das Leben des Ari-
stoteles zu den besten des Buches zählt, die mangelhafte Redaktion der Aristo-
telischen Schriften richtig einschätzt, so ist er doch fortwährend bemüht,
die mannigiachen widerspruchsvollen Äußerungen Aristoteles' miteinander
verträglich erscheinen zu lassen. Aber nicht nur die Schriften, sondern auch
gerade den Gedankenbau des Aristoteles spricht er von Widersprüchen und
Unklarheiten frei. Für ihn ist Aristoteles der Philosoph, in dessen Denken
keine Inkonsequenzen vorkommen. Der ist Aristoteles in Wirklichkeit aber
nicht, und darum leistet Brentano der Aristotelesforschung keinen Dienst,
wenn er z. B. „unsere modernen Interpreten" dafür rügt, daß sie Aristoteles
lehren lassen, die Materie gelange zur Wirklichkeit vermöge ihres Begehrens
nach der Gottheit (92 ff.). Gewiß ist diese Lehre nicht konsequent, da nach
Aristoteles einerseits das Begehren der Materie sich in der Weise darstellen
würde, daß die Materie vor allem die Gottheit denke, und indem sie sie denke,
gut finde, ihr ähnlich zu sein, und so nach ihr begehre, andrerseits aber die
Materie gar nicht denken, geschweige denn die Gottheit denken könne. Es
ist gut, eine solche Insonkequenz des Aristoteles hervorzuheben, wie das
..unsere modernen Interpreten" getan haben, denn das führt uns zu den
innersten treibenden Kräften des Aristotelischen Denkens. Es ist aber weniger
gut, wie Brentano das Begehren der Materie nach der Gottheit als einen me-
taphorischen Ausdruck für die Einwirkung der Gottheit auf die Materie zu
deuten. Warum denn dem Aristoteles eine so unglückliche metaphorische
Wendung zuschreiben? Warum sollte Aristoteles statt zu sagen, was er ge-
meint habe: „Die Gottheit wirkt auf die Materie" gesagt haben: „Die Ma-
terie begehrt nach der Gottheit"? Offenbar nur, weil er das Problem nicht
so konsequent durchdacht hatte wie sein Ausleger Brentano.
Ein anderes Beispiel für die Methode Brentanos (S. 97). Aristoteles
lehrt einerseits, die Gottheit in ihrer Vollkommenheit habe keine Kenntnis
vom Schlechten, andrerseits sei es mit der Vollkommenheit der Gottheit nicht
vereinbar, wenn irgendwelche Wahrheit von seinem Wissen ausgeschlossen
wäre. Die richtige Lösung der Schwierigkeit ist nach Brentano diese: es
gibt nichts Schlechtes in der Welt, denn die Welt ist in unendlicher Weisheit
geordnet und erscheint als das denkbar vollkommenste Werk; die Teile der
Welt mögen, losgelöst vom Ganzen gedacht, tadelnswert erscheinen, im Zu-
sammenhang mit dem Ganzen betrachtet, erscheinen sie aber aufs beste ge-
rechtfertigt. Nur in dieser Weise erkennt die Gottheit die Welt; daher muß
die Gottheit nicht etwas Schlechtes erkennen, wenn sie die Welt erkennt.
Hier haben wir es wiederum nicht mit der wirklichen Lehre des Aristoteles,
sondern mit ihrer Weiterinidung durch Brentano zu tun. Denn die Welt
ist in der Auffassung des Aristoteles nicht so vollkommen, wie Brentano ihn
lehren läßt. Brentano wird der Aristotelischen Materie, der Ursache aller
Hemmungen und Unvollkoinmenheiten, nicht gerecht.
136 Rezensionen.
Wenn beide Beispiele zeigen, daß Brentano die Aristotelische Lehre
umbildet, so zeigen sie auch, nach welcher Richtung hin er sie umbildet. So
tadelnswert es auch ist, diese Umbildung für Aristotelische Lehre auszu-
geben, so sehr er dafür den Vorwurf verdient, den er für seine Ausführlich-
keit glaubt fürchten zu müssen, nämlich er habe Aristoteles gar vieles in den
Mund gelegt, woran dieser selbst nicht gedacht habe, so sehr spricht es für
das tiefe Verständnis, das Brentano den Intentionen des Aristoteles entgegen-
bringt, wenn er seine Lehre nach der Richtung hin umbildet, die auch Aristo-
teles erstrebte. Aristoteles war bemüht, die Materie zu überwinden und
einen reinen Monismus herzustellen, hat dieses Ziel aber nicht erreicht. Den
für Aristoteles charakteristischen Dualismus von Stoff- und Formprinzip
sucht Brentano zu beseitigen, indem er der Materie die Realität raubt, welche
ihr Aristoteles zuschreibt.
Wie schon oben erwähnt, liegt ein Verdienst des Verfassers in den Ab-
schnitten über das Leben und die Schriften des Aristoteles. Nur wer sich
mit so viel Gründlichkeit und Liebe in Aristoteles' Schriften versenkt hat
wie Brentano, kann eine so treffliche Charakteristik der Aristotelischen Dar-
stellungsweise geben. Sehr dankenswert ist das, was der Verfasser über den
lauteren Charakter und die edle Persönlichkeit des Aristoteles sagt, um so
mehr, als Aristoteles heutzutage so viel geschmäht wird.
P. Bokownew.
Franz Brentano, Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen
Geistes. VIII und 165 S. Veit & Comp., Leipzig 191L
Brentano erneuert in diesem Buch eine alte, vor fast 30 Jahren be-
gonnene Polemik gegen Zeller. Auf Brentanos Abhandlung „Über den Crea-
tianismus des Aristoteles" vom Jahre 1882 hatte Zeller noch in demselben
Jahre eine Entgegnung folgen lassen. Das Neuerscheinen dieser Zellerschen
Schrift im ersten Bande der Sammlung von Zellers „Kleinen Schriften" hat
nun dieses Buch hervorgerufen. Es ist vielleicht doch nicht mehr so lohnend
wie der Verfasser meint, diese alte Polemik zu erneuern, da Zellers Inter-
pretationen der Aristotelischen Nuslehre, insbesondere seine Auffassung von
der Teilung des Nus in einen vovg TtovtjTtxvg und vovg 7ru&rjTix6g, im Laufe
der Zeit schon als unzulänglich erkannt worden ist. Der erste Teil des Buches ist
ein Abdruck der erwähnten Abhandlung „Über den Creatianismus des Aristo-
teles", der zweite behandelt die Einwände Zellers und stellt ihnen Widerlegungen
gegenüber. Die beiden aufeinanderstoßenden Auffassungen der Aristote-
lischen Nuslehre sind in Kürze folgende: Zeller lehrt die Präexistenz des
Nus, Brentano lehrt, daß die schöpferische Kraft der Gottheit auf einer ge-
wissen Stufe der fötalen Entwicklung den Nus zu den niederen Seelenteilen
hinzufügt — das ist der Creatianismus des Aristoteles. Auf die Einzelheiten
der Kontroverse einzugehen, erlaubt der Rahmen einer Rezension nicht.
Es sei nur über die Methode Brentanos ganz allgemein bemerkt, daß er bei
der Aristotelesinterpretation wie ein echter Nachfolger des Thomas von Aquino
verfährt, indem er wohl die Schwierigkeiten und Lücken im Aristotelischen
Denken scharf ins Auge faßt, aber sie immer auszugleichen und zu über-
Rezensionen. 137
brücken bestrebt ist. Die absolute Einheitlichkeit und Konsequenz, die Bren-
tano dem System des Aristoteles und besonders seiner Nuslehre, in der alle
Fäden des Aristotelischen Denkens zusammenlaufen, zuschreibt, lassen sich
wohl kaum noch aufrecht erhalten. P. Bokowne w.
Hans Kurfeß, Zur Geschichte der Erklärung der Aristotelischen Lehre
vom sog. vovq TtoirjTixug und 7va&r]Tix6g- Dissertation. VIII und 60 S.
G. Schnürten, Tübingen 1911.
Der Verfasser behandelt sehr eingehend die bedeutendsten Erklärungen,
die die Lehre vom voic ttoujtixoq und vovg na&r\Tixog im Laufe der Jahr-
hunderte, angefangen von Aristotels' ersten Kommentatoren bis herab zur
Gegenwart, erfahren hat. Ausgehend von der Überzeugung, daß keine Er-
klärung, mag sie sich auch auf Aristotelische Aussprüche gründen, befrie-
digte, weil jede von ihnen einseitig das eine oder andere Wort des Aristo-
teles betonte, unterzieht sich der Verfasser der sehr lohnenden Aufgabe durch,
eine historische Betrachtung der Erklärungen eine breite Basis für einen
Lösungsversuch zu schaffen. Indem Kurfeß bemüht ist, die organische Ein-
heit der einzelnen Erklärungen möglichst hervortreten zu lassen, zeichnet
er mit großer Klarheit die eine über die andere, so daß wir auf die verschie-
denen Momente aufmerksam werden, die das Problem in sich schließt. Die
Zusammenstellungen früherer Erklärungen, die vor mehreren Jahrzehnten
Brentano und andere gemacht hatten, benutzend, bearbeitet er weit voll-
ständiger die Erklärungen des Problems im Altertum und im Mittelalter und
legt dann den Schwerpunkt auf die wichtigsten neuesten. Erklärungen, ohne
dabei Vollständigkeit anzustreben, um dadurch die früheren Zusammen-
stellungen nach dem neuesten Stand zu ergänzen. Die Gründlichkeit der Ar-
beit läßt es wünschenswert erscheinen, daß Kurfeß recht bald die in Aus-
sicht gestellte zusammenfassende Untersuchung über die Nuslehre liefern möge.
P. Bokowne w.
Visvald Sanders, Der Idealismus des Parmenides. Dissertation.
München 1910. (76 S.).
Sanders versucht zu beweisen, daß Parmenides mit dem Sein nicht
eine materielle Substanz, sondern ein ,,intelligibles" Sein gemeint und somit
die Ideenlehre begründet habe. Dieser Versuch ist aber verfehlt, da aus der
Beweisführung Schwierigkeiten und Widersprüche erwachsen, die der Ver-
fasser nicht imstande ist . zu lösen, so die Kugelgestalt des Seins und die Lehre,
daß das Sein voll {t/jjvleov) sei. Schon die These, daß das Sein „intelligibel"
sei, deutet auf eine Unklarheit der Begriffe. Es ist ganz offenbar, daß der
Verfasser das Sein als ein logisch-transzendentales verstanden wissen will.
Dafür ist ,, intelligibel" aber nicht der geeignete Ausdruck, da es nach antiker
Auffassung intelligible stoffliche Substanzen gibt, so das Feuer Heraklits.
das niouQ der Pytagoräer, den vovq des Anaxagoras. Konsequent denkt
der Verfasser, wenn er bei seiner Auffassung vom Sein des Parmenides den
zweiten Teil des Pannenideischen Gedichtes nicht als Meinung des Panne-
nides selbst, sondern als Bammhing fremde! Leinen ansieht, operiert doch
138 Rezensionen.
Parmenides hier mit zwei materiellen Prinzipien, Feuer und Erde, die dem
Sein und Nichtsein des ersten Teiles entsprechen. Mit Unrecht schenkt aber
der Verfasser Arist. Metaph. I, 5, 986 b 33 — 987 a 2, wo davon die Rede ist,
daß diese Prinzipien einander entsprechen, nur wenig Beachtung (S. 45).
Um ein Bedeutendes erschwert er sich seine Aufgabe, indem er einerseits
nachzuweisen sucht, daß die Parmenideische .Scheinlehre Anaximandrisch-
Heraklitische Welterklärungen enthält, andrerseits Parmenides gegen Heraklit
polemisieren läßt, ohne angeben zu können, von welchem Standpunkt aus
Parmenides gegen Heraklit polemisiere. P. Bokownew.
J. J. Jagodinsky, Der Sophist Protagoras. Kasan 1906. In russischer
Sprache. 35 S.
Diese Monographie behandelt Leben und Lehren des Protagoras. Die
Darlegung seiner Philosophie wird auf die Referate Piatos, Aristoteles' und
des Sextus Empirikus gegründet. In der Beurteilung der Quellen schließt
sich der Verfasser an Zeller an. Die Philosophie des Protagoras wird auf fol-
gende Lehrsätze zurückgeführt: 1. die Materie ist fließend; 2. die Materie
ist qualitätslos; 3. das Wissen stammt aus den Sinnesempfindungen; 4. die
wahre Gestalt des Seins ist Relativität; 5. der Mensch ist das Maß aller Dinge.
Für die Ethik ergeben diese Prinzipien einen moralischen Indifferentismus:
Protagoras erkennt keine absoluten moralischen Vorschriften an. Nichts-
destoweniger versucht er die moralische Grundlage der Gesellschaftsordnung
zu erklären. Als solche gelten ihm die in der Natur des Menschen begrün-
deten dixr\ und aldiJüQ. Das widerspricht nicht seinem erkenntnistheore-
tischen Prinzip, denn es bleibt dem Einzelnen überlassen, diese Begriffe nach
eigenem Ermessen zu interpretieren. Während die Ethik des Protagoras
eine vereinzelte Erscheinung in der griechischen Philosophie ist, bildet seine
Erkenntnistheorie ein Glied in der Entwicklungsreihe Heraklit, Protagoras,
Demokrit, Plato. Protagoras hat, Heraklits Lehre vom Weltfeuer weglassend,
die Konsequenzen seiner Philosophie gezogen. Demokrit behält die Lehre
von der Subjektivität der sinnlichen Qualitäten bei, findet aber, ein rationa-
listisches Element in sein System aufnehmend, einen festen Stützpunkt für
das Wissen in den Atomen. Plato erkannte, daß der Materialismus wider-
spruchsvoll ist und daß der Stützpunkt für das Wissen nur in dem Gebiet
des Geistigen, den Ideen, gefunden werden kann.
Die Aufstellung dieser Entwicklungsreihe ist willkürlich und unbegründet,
denn das gegenseitige Verhältnis von Protagoras und Demokrit ist proble-
matisch, und zwischen Demokrit und Plato ist kein historischer Zusammen-
hang nachzuweisen. P. Bokownew.
Aristotelis De anima libri III recognovit Guilelmus Bielil,
editio altera, curavit Otto Apelt. Teubncr 1911, in der Biblio-
theca scriptorum Graecorum et Romanorum.
Es ist erfreulich und dankenswert, daß Apelt die Biehlsche Ausgabe
von Aristoteles' de anima neu ediert hat. Seit dem Erscheinen der vorzüg-
lichen Ausgaben von Rodier (Aristote, Traite de l'äme. Traduit et annote
Rezensionen. 139
par G. Kodier. Tom. I et II. Paris 1900) und Hicks (Aristotle, de anima.
With translation, introduction and notes by R. D. Hicks. Cambridge 1907),
die eine kritische Zusammenstellung alles dessen, was seitBiehl in der Text-
forschung geleistet worden ist. liefern, war eine Xeuedierung dieses Werkes
in der Teubnerschen Bibliothek notwendig geworden. Das vorliegende Buch
zeugt nicht nur von einer fleißigen Benutzung dieser beiden Ausgaben, son-
dern weist auch sonstige Fortschritte im Vergleich zur ersten Ausgabe auf.
Mehrfach wird das, was in der ersten Ausgabe noch als unentschieden dahin-
gestellt war. zu einer glücklichen Entscheidung gebracht. So findet sich
jetzt, z. B. p. 403 b 2 ode tov anstatt des unbefriedigenden eld'og tov
der ersten Ausgabe, wo Biehls schon bemerkt hatte, daß cds tov vielleicht
richtig sei, ohne sich entschließen zu können, es in den Text aufzunehmen.
P. B o k o w n e w.
J. L o 1 1 i n , Quetelet, Statisticien et Sociologue, Louvain et Paris (Alcan),
1912. —
Apres biograpbie et bibliographie critiques, L. montre comment, imbu
des idees de Laplace et Fourier, Quetelet a considere la theorie des probabilites
comme la base des Sciences exrerimentales. Sans doute, vu la complexite
des phenomenes de la nature, il est bon de recourir, pour plus de precision et
d'exactitude, ä l'observation de la masse, ä la methode strtlfitique. Mais la
theorie des probabilites, pour etablir ses moyennes objectives, suppose connu
un ensemble de causes communes. Des conditions dans lesquelles se pro-
duisent les regularites statistiques, nous ne savons ricn de semblable. II faut
ceperdant reconnaltre qu'ä mesure qu'elles se reproduisent, la probabilite
de causes communes s'accrcit. Mais ce qui importe au savant, ce n'est pas
tant d'inferer l'existence des causes que d'en determiner la nature et le modus
operandi. Une regularite statistique n'est pas une loi: eile ne nous apprend
rien des conditions d'apparition des phenomenes. La prevision meme qu'elle
fonde repose en realite sur la presomption de circonstances identiques, mais
inconnues. Quetelet s'est donc un peu abuse sur la portee experimentale de la
theorie des probabilites.
La maniere dont Quetelet comprend la statistique n'est nullement ori-
ginale. Quant ä sa physique sociale, eile n'a avec celle de Comte, qu'il semble
du reste avoir ignoree, que des analogies superficielles. II n'a pas davantage
connu ses autres precurseurs et peut-etre meme Condorcet avec lequel il a plu-
sieurs points commune. C'est de Laplace et de sa mecanique Celeste qu'il a sur-
tout ici sulii l'influence: il a voulu creer une mecanique sociale qui etudierait
Iea lois qui regissent le Systeme social. Au point de vue statique, toutes les
particularites individuelles oscillent autour d'un point d'equilibre, veritable
centre de gravite social, l'homme moyen, tyjie harmonieux du beau et du
bien, de la vertu et de la sante dont ä chaqueepoque cesont les grands hominis
qui se rapproehent le plus. Au point de vue dynarnique, dont l'etude supj>ose
celle de l'homme moyen, le mouvemenl social depend de deux ordrea de
causes: les causes naturelles, independantea de l'homme, Boumisea an prin-
cipe de conservation des forces et agentfl tle d^veloppement uniforme; les
140 Rezensionen.
causes perturbatrices, issnes de l'activite humaine et surtout de l'intelligence
et de la Science, agents d'evolution et deprogres, tendant ä resserrer les liniites
autour du type moyen.
La constance des donnees statistiques (criminalite, suicide, mariage
etc.) amena Quetelet ä proclamer la predominance des causes sociales, des
causes morales qui existent en dehors des individus, sur les initiatives indivi-
duelles. Quetelet a-t-il ou non ete deterministe ? Les commentateurs dis-
cutent lä-dessus. En iait il n'a jamais soutenu le determinisme de la volonte
individuelle, mais peulement le determinisme social La liberte humaine,
soumise a la raison, assure la regularite de la marche de la societe; mais eile
ne peut la modifier que tres lentement, car les particularites individuelles
s'y neutralisent pour ainsi dire dans l'ensenible des faits observes, qui seuls
Interessent le statistioien Le milieu social n'est pas essentiellement variable
et il existe une connexion intime entre le milieu et les faits moraux qui en de-
coulent: sinon comment tirer du passe des lecons pour l'avenir? Quetelet affirme
donc l'influence du milieu sur les hommes, qui permet seulement des previsions
d'ensemble; l'individu pris isolement echappe ä toute conjecture. Tout
homme a son libre-arbitre, mais les hommes en general n'en usent pas. Cette
conception du determinisme social a montre sa vitalite en creant un courant
d'idees qui n'est pas etranger aux theories sociologiques actuelles. On n'en
saurait dire autant de l'hypothese de 1' homme moyen, qui a maintenant vecu.
Ch. Blondel.
Pohorilles, Noah' Elieser, Entwicklung und Kritik der Erkenntnis-
theorie Eduards von Hartmanns. Heller & Co., Wien 1911. VI und
147 S.
Ein schätzbarer Beitrag zur Hartmann-Literatur, in dem namentlich
die Beziehungen Hartmanns zu seinen Vorgängern, insbesondere zu Kant
beachtet und berücksichtigt, anderseits aber auch die Fäden, die in die Gegen-
wart reichen, nicht übersehen werden. Die Hartmar.nsche Philosophie findet
eine sehr systematische, wenn auch etwas trockene Darstellung. Das Buch
ist jedem zu empfehlen, der sich mit den Gedankengängen des Philosophen
vertraut machen will, ohne doch alle seine Werke genau durchzustudieren.
W. Bloch.
Christ. Edzard Kreipe, Dr., Die Abhängigkeitsbeziehungen
zwischen den beiden philosophischen Vermächtnisschriften des Frei-
herrn G. W. von Leibniz. Leipzig 1911. (Abhandlgn. zur Philos. u.
ihrer Gesch. ed. Prof. Falckenberg. 21. Heft.) 71 S. 2,25 Mk.
K. untersucht das Verhältnis von Leibnizens sogenannter Monadologie
und den Principes de la nature et de la grace, fondes en raison, über das bis
heute noch nicht volle Klarheit herrscht, obwohl der Irrtum der Identifizierung
der beiden Schriften schon 1840 durch Erdmann aufgedeckt worden ist. Eine
eingehende und systematisch orientierte Analyse des Aufbaues, eine ver-
gleichende Betrachtung der Grundgedanken macht es einleuchtend, daß die
Monadologie die jüngere Fassung der Gedanken Leibnizens bietet. K. geht
Rezensionen 141
in seiner Betrachtung von dem Begriff der substance composea aus, den Leibniz
in der Monadologie ganz und gar vermeidet. Er nimmt mit Recht an, daß
sich L. zu dieser geklärteren Auffassung dieses Begriffes auf Grund seines
Briefwechsels mit Clarke erhoben habe. Das principium identitatis indis-
cernibilium findet sich in der Monadologie in zweifacher Anwendung, in den
principes in einfacher. Der Begriff der perception wird in der Monadologie
genau fundiert, in den principes lückenhaft. Die Tafel der Irrtümer der Car-
tesianer ist in der Monadologie systematischer und bestimmter gefaßt als in
den principes. Diese Vergleichung führt K. für die Hauptbegriffe durch. Er
kommt zu dem Schlüsse, die Principes mit Gerhardt in das Jahr 1714 zu setzen,
während die Monadologie, wie aus der Datierung des 5. Schreibens Clarkes,
das in der Zeit vom Juni — November 1716 abgefaßt sein muß, in die letzten
Monate des Philosophen fällt.
Gießen. Dr. G. Falter.
John Lockes Versuch über den menschlichen Verstand. 2. Bd. über-
setzt von Carl Winckler. Leipzig 1911. Philos. Bibl. Nr. 76. 428 S.
5,40 Mk.
Der vorliegende 2. Band enthält Buch III und IV der berühmten Locke-
schen Schrift. Buch III untersucht den Einfluß der Sprache auf das Denken,
IV die Arten und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis.
Die Übersetzung Wincklers ist nicht eine Umarbeitung von J. H. von
Kirchmanns Übersetzung, sondern eine völlige Neuübersetzung, die unter
sorgfältigster Vergleichung älterer Übersetzungen insbesondere der philo-
logisch strengen von Schnitze in der Reclambibliothek veranstaltet ist.
Winckler hat seiner Übersetzung die kritische Ausgabe von Fräser zugrunde
gelegt, die Schnitze noch nicht benützt hat. Die Übersetzung ist wohl ge-
lungen. Sie ist genau, ohne dabei der Anmut der Sprache Eintrag zu tun.
Dem 1. Band, der im Laufe des Jahres noch erscheinen wird, soll ein
ausführliches Register beigeben werden.
Gießen. Dr. G. Falter.
Eva S c li a p i r a , Dr., Lichtenberg als Philosoph. Diss. Bern. 1011.
56 S.
Die Verfasserin geht zunächst historisch den Einflüssen nach, die auf
den philosophischen Werdegang Lichtenbergs eingewirkt haben. Sie zeigt,
daß es hauptsächlich die Philosophen seines Zeitalters, vor allem die Engländer
sind, die auf ihn eingewirkt baben. Von (\i'n Engländern, für die er überhaupt
eine große Vorliehe liebte, kennt er nicht nur liaeon, Berkeley und besonders
Hume, dessen Einfluß unverkennbar ist, sondern auch die Assoziationspsycho-
logen Hartley und Prieetley. In den 80er Jahren machte sich der Einfluß
des Spinoza hei ihm bemerkbar. Er sah jedoch im Spinozismus nicht ein end-
gültiges System, sondern eine Religion. Zu Kant hat er erst spät ein näheres
Verhältnis gewonnen. Er hatte zwar die vorkritischen Schriften gelesen.
Aber erst durch die Bekannlsehafl mit der knt ik der reinen Vernunft gelangte
er zu jener hohen Schätzung des Kantischen Systems, das ihm als Vollendung
142 Rezensionen.
galt. Auf dem Gebiete der Erkenntnistheorie berührt er sich in vielen Punkten
mit Kant und, wie die Verf. zeigt, hat ei diesen Standpunkt, nachdem er
ihn einmal erreicht hatte, auch nicht wieder verlassen (cfr. S. 37). Nachdem
so im 2. Teil der Arbeit die Philosophie Lichtenbergs behandelt wird, gibt der
3. eine allgemeine Char&kt3ristik der Persönlichkeit unseres Philosophen.
Nicht berücksichtigt wurde die Ästhetik Lichtenbergs, die gerade seinen Humor
in Beziehung zu seiner Philosophie zu setzen hätte. Seine Erklärungen der
Hogarthschen Kupfertafeln und viele zerstreut sich vorfindenden Bemer-
kungen hätten Material hierzu geliefert. Eine Neubearbeitung dürfte auch die
Psychologie Lichtenbergs in den Kreis ihrer Darstellung einbeziehen. Alles
in allem ist die interessante Arbeit ein wertvoller Beitrag zur Kenntnis Lichten-
bergs.
Gießen. Dr. G. Falter.
Rene Descartes, Über die Leidenschaften der Seele. 3. Auflage.
Übersetzt und erläutert von Dr. ArturBuchenau. Leipzig 1911.
Philos. Bibl. Bd. 29. 150 S. 2,20 Mk.
Die Schrift über die Leidenschaften der Seele enthält die Psychologie
des Descartes. Descartes ist nicht nur der Begründer der modernen Philo-
sophie, er ist auch der Begründer der streng wissenschaftlichen Psychologie.
Gerade die Schrift über die passions de l'äme, die 1646 zu Ehren der Pfalz-
gräfin Elisabeth entstanden ist, hat in hervorragendem Maße die nachfol-
gende Zeit in ihren Ansichten über das Verhältnis von Leib und Seele be-
einflußt. Wie der um die Descartesforschung verdiente Herausgeber Dr. Buche-
nau in den Anmerkungen (S. 111) erklärt, ist es das Verdienst des Descartes,
auf die Notwendigkeit einer physiologischen Fundamentierung der Psychologie
hingewiesen zu haben, wenn es ihm auch nicht gelang, seine physiologischen
Grundsätze streng festzuhalten.
Die vorliegende Übersetzung verdient in jeder Hinsicht alles Lob, das
einer Übersetzung gespendet werden kann. Sie ist besonders zum Gebrauch
in Seminarien und für Studierende geeignet. B. empfiehlt S. 150, das Studium
der Cartesischen Philosophie mit der Abhandlung über die Methode und den
„Regeln" zu beginnen, über die „Meditationen" fortzuführen und hiernach
erst die „Leidenschaften der Seele" zu lesen. Der Übersetzung sind ausführ-
liche Register (S. 120 — 150) beigegeben, die auf sämtliche in der Philo-
sophischen Bibliothek erschienenen Schriften Descartes'- Rück-
sicht nehmen.
Gießen. Dr. G. Falter.
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Abhandlungen, philosophische, Hermann Cohen zum 80. Geburtstag. Berlin,
Cassirer.
Avenarius, R., Der menschliche Weltbegriff. 3. Aufl. Leipzig, Reisland.
Balzac, H., Physiologie des Alltagslebens. Herausgegeben v. Fred. München,
Müller.
Chamberlain, H. St., Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 10. Aufl. München,
Bruckmann.
Erdmann, B., Gedächtnisrede auf W. Dilthey. Berlin, Reimer.
Fuente, H., W. v. Humboldts Forschung über Ästhetik. Gießen, Töpelmann.
(Joedeckemeyer, A., Die Gliederung der aristotelischen Philosophie. Halle,
Xiemeyer.
Hegels Entwürfe zur Enzyklopädie und Propädeutik nach den Handschriften
der Harvard-Universität. Hegel-Archiv, hrsg. v. G. Lasson. Leipzig,
Meiner.
Hume, D., Traktat über die menschliche Natur. Hrsg. v. Lipps. 3. Aufl.
Leipzig, Voß.
Knauth, A., Die Naturphilosophie J. Reinkes und ihre Gegner. Regensburg,
Manz.
Kronenberg, M., Geschichte des deutschen Idealismus. Von Kant bis Hegel.
München, Beck.
Kuntze, F., Die Philosophie Salomon Maimons. Heidelberg, Winter.
Lewin, J., Die Lehre von den Ideen bei Malebranche. Halle, Niemeyer.
Meier, M., Die Lehre des Thomas v. Aquino passionibus animae. Münster.
Aschendorff.
Xatorp, P., Kant und die Marburger Schule. Berlin, Reuther.
Orelli, K., Die philosophischen Anschauungen des Mitleids. Bonn, Marcus.
Reiner, J., Aus der modernen Weltanschauung. Leipzig, Tobies.
Rosalewski, W., Schillers Ästhetik im Verhältnis zur Kantischen. Heidel-
berg, Winter.
Sauter, ('., Avicennas Bearbeitung der Aristotelischen Metaphysik. Freiburg,
Herder.
Steinbüchel, Th., Der Zweckgedanke in der Philosophie des Thomas v. Aquino
Münster, Aschendorff.
Walleser, M., Die buddhistische Philosophie in ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung. Heidelberg, Winter.
144 Die neuesten Erscheinungen a. d. Gebiete der Geschichte der Philosophie.
B. Englische und amerikanische Literatur.
Adams, J., The Evolution of Educational Theory. London, Macmillan.
Angell, J., Chapters from Modern Psychology. New York, Longmans.
Elliot, H., Modern Science and the Illusicns of Bergson. London, Green.
Husik, J., Matter Form in Aristotle. Berlin, Siniion.
Leland, A., The Educational Theory and Practice of Green. New York,
Teacher's College.
Seth, J., English Philosophers and Schools of Philosophy. London, Dent.
Wheeler, Ch., Critique of Pure Kant or a Real Realism. Boston, Arakelyan.
Wilson, J., Aristotelian Studies. Oxford, Clarendon.
C. Französische und belgische Literatur.
Beilange, Ch., Spinoza et la Philosophie moderne. Paris, Didier.
Brunschvig, L., Les etapes de la philosophie mathematique. Paris, Alcan.
Le Bon, G., La Revolution francaise et la psychologie des revolutions. Paris,
Flammarion.
Picard, R., Pages choisies de Comte. Paris, Crcs.
Roques, P., Hegel, sa vie et ses oeuvres. Paris, Alcan.
Talbot, E., Piaton. Apologie de Socrate. Paris, Hachette.
Terraillon, E., La morale de Geulincx dans ses rapports avec la philosophie
de Descartes. Paris, Alcan.
D. Italienische und spanische Literatur.
Billia, L., Piatone psicofisico. Citta di Castello.
Colozza, II Metodo attivo sur „Emilio". Palermo, Trimarchi.
Saitta, G., Le origini del neo-tomismo nel secolo XIX. Bari, Laterza.
Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Philosophisches Jahrbuch. Bd. XXV, H. 3. Linsmeier, Die Weiter-
entwicklung der Atomistik in der neuesten Zeit. Breit, Die Engel-
und Dämonenlehre des Andr. Caesalpinus. Heidegger, Das Realitäts-
problem in der modernen Philosophie. Endres, Studien zur Geschichte
der Frühscholastik. Leiber, Name und Begriff der Synthesis in der
mittelalterlichen Scholastik.
Zeilschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 147, H. 2. Jacoby,
Der amerikanische Pragmatismus und die Philosophie des Als ob.
Spengler, Das Verhältnis der „Philosophie des Als ob Vahingers zu
Meinongs ..Über Annahmen'".
Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. XXIV, H. 1. Bericht über den V. Kon-
greß für experimentelle Psychologie, Berlin, vom IG. — 19. April 1912.
Schröbler, Bericht über die Ausstellung des Instituts für angewandte
Psychologie und psychologische Sammelforschung auf dem V. Kon-
gref.» für experimentelle Psychologie in Berlin. — H. 2 u. 3. Külpe,
Wilhelm Wundt zum 80. Geburtstag.
Zeitschrift für Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft. Bd. VII, H. 3.
Moog, Die homerischen Gleichnisse. Baumgarten, Die Lyrik K. F.
Meyers. Bemerkungen: Vereinigung für ästhetische Forschung, 1911.
Imago, Zeitschrift für Anwendung d,,- Psychoanalyse auf die Geisteswissen-
schaften. Bd. 1, H. 1, 3. Freud, Der Wilde und der Neurotiker. Ferenczi,
Symbolische Darstellung des Lust- und Realitätsprinzips im Üdipus-
Mythos.
■ phüo8ophique. An. XX.W'll. Nr. 8. Segond, L'idealisme des valeurs
et la doctrine de Spir. Robin, L'oeuvre philosophique de V. Broohard.
Nr. !'. SdiliiT. La philosophie russe contcmporainc
Revue dt Philosophie. An. \li. Nr. 7. Beimond, L'univocite skotiste. Dies,
Revue oritique d'Histoire (!<• la Philosophie antique. L'Orphisme et
la question Eippocratique. Nr. 8. Beimond, L'univocite scotiste.
La Douvelle Organisation de l'enseignemenl philosophique ä l'institul
catholique de Pai
Revue de M Haphysiqw et dt Morale. An. XX. Nr. I. Millioud, Ch. Secretan,
rie ei son ociivrc. Belot, Lcs ideea oosmogoniquea modernes. Du-
furnier, La philosophie des mathematiques de Russell ei Whitehead.
Mamelet, La philosophie de <>. Simmel.
Archiv im Geschichte der l'liilosophie. XXVI, t. jq
146 Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Revue Neo-Scolastique. An. XIX. Nr. 75. Lebrun, Neo-Darwinisme et Neo-
Lamarckisme. Grabmann, Le „Correctorium corruptorü" du Domi-
nicain J. Quidort de Paris j- 1306. De Wulf, Ouvrages recents sur
l'histoire de la philosophie medievale en Occident. Le mouvement
neo-scolastique.
The American Journal of Psychology, Vol. XXVIII. Nr. 3. Hall, Why Kant
is Passing. Titchener and Foster, A List of the Writings of J. Ward.
The Monist. Vol. XXII. Nr. 3. Russell, The Philosophy of Bergson. Jordan,
Kant and Bergson. Jourdain, Maupertius and the Principle of Least
Action. Carus, The Anti-Intellectual of To-Day. Garbe, Postcript
on Buddhism and Christianity. Poincares Cosmogonic Hypotheses.
Mind. Nr. 83. Taylor, The Analysis of Em6Tr}[i/r} in Piatos Seventh Epistle.
Sharp, The Ethical System of Richard Cumberland and its place in
the History of British Ethics. Hicks, Eulers Circles and Adjacent
Space.
The Philosophical Review. Vol. XXI. Nr. 5. Ewald, Philosophy in Germany
in 1911. Lovejoy, The Problem of Time in recent French Philosophy.
Sabine, Bosanquets Logic and the concrete Universal. Schaub, Hegels
Criticism of Fichtes Subjectivism.
Rivista di Filosofia. An. IV. Fase. III. Paladino, Per l'edizione critica della
„Citta del Sole" di Tommaso Campanella. Mieli, Scienziati e pensatori
di Kyrene.
Zur Besprechung eingegangene Werke.
A. Deutsche Literatur.
Dahlniann-Waitz, Quellenkunde der Deutschen Geschichte. VIII. Auf.
Leipzig, K. F. Koehler.
Dörfler, J., Zur Urstofflehre des Anaximenes. Freistadt O.-Ö., Selbstverlag.
Erhardt, F., Tatsachen, Gesetze, Ursachen. Rostock, Stiller.
Fiedler, F., Vom Zuge der Menschheit. I. Teil. Die logische Konstruktion
des Hauptproblems der Metaphysik. Hamburg, E. Behrens.
Flügel, 0., Herbarts Lehren und Lebe,n. IL Aufl. Leipzig, Teubner.
Goedeckenmeyer, A., Die Gliederung der Aristotelischen Philosophie. Halle,
Niemeyer.
Gomperz, H., Sophistik und Rhetorik. Leipzig, Teubner.
Heininchen, 0., Die Grundgedanken der Freimaurerei im Lichte der Philo-
sophie. Berlin, A. Unger.
Hensel, P., Rousseau. IL Aufl. Leipzig, Teubner.
Hönigswald, R., Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik. Heidel-
berg, Carl Winter.
Kade, R., Rudolf Euckens noologische Methode in ihrer Bedeutung für die
Religionsphilosophie. Leipzig, Veit.
Külpe, O., Immanuel Kant. III. Aufl. Leipzig, Teubner.
Lewin, J., Die Lehre von den Ideen bei Malebranche. Halle, Niemeyer.
Menzel, A., Naturrecht und Soziologie. Wien, Fromme.
Niemeyer, Th., Der Rechtsspruch gegen Shylock im „Kaufmann von Venedig".
München, Duncker & Humblot.
Petrescu, N., Zur Begriffsbestimmung der Philosophie. Berlin, L. Simion Nf.
P. N., Gedanken und Winke. Ebd.
Pichler, H, Möglichkeit und Widerspruchslosigkeit. Leipzig, Barth.
Pribram, K., Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie. Leip-
zig, Hirschfeld.
Römer, A., Der Gottesbegriff Franks. Halle, Niemeyer.
Schuck, K., Studien über Johannes Müller. Diss. Heidelberg, Pfeffer.
Staudenmaier, L., Die Magie als experimentelle Naturwissenschaft. Leipzig,
Akademische Verlagsgesellschaft.
Sturmfels, W., Recht und Ethik in ihrem gegenseitigen Verhältnis. Diss.
Gießen, Kindt.
Thesing, R., Georges Bohn. Die neue Tierpsychologie. Leipzig, Veit.
Wanderer, R., Glück. München, Reinhardt.
10*
148 Zur Besprechung eingegangene Werke.
B. Französische Literatur.
Archambault, P., Stuart Mill. Paris, Louis Michaud.
Dupreet, E., Le Rapport Social. Paris, F. Alcan.
Severac, J.-B., Condorcet. Paris, Louis Michaud.
Sortais, G., Histoire de la philosophie ancienne. Paris, Lethielleux.
C. Italienische Literatur.
Billia, L. M., L'esiglio di Sant'-Agostino. Seconda ed. Torino, Fiandesio.
Saitta, G., Le origini del Neo-Tomismo nel secolo XIX. Bari, Latezza.
Berichtigung.
In Bd. XXV Heft 4 S. 500 Zeile 7 von oben lies:
Henning, H. : Goethe und die Fachphilosophie. Straßburg 1912, Bongard.
^
Arohiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XIX. Band, 2. Heft.
IX.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie
des Geistes".
Eine problemgeschichtliche Einführung in seine Philosophie.
Vortrag, gehalten in der ..Phil. Gesellschaft- zu Jena am 12. Juni 1912,
von
Fritz Münch.
»
Meine Damen und Herren ! Wie Sie wohl alle wissen, wird Hegel
wieder modern in dem Sinne, daß sich in erhöhtem Maße die Auf-
merksamkeit der philosophischen Kreise von neuem seinem Gedanke n-
Bystem zuwendet.
Es ist darum nicht nur sachgemäß, Hegel zu studieren — das war
es von jeher bei allen, die etwas von der Sache verstanden — , sondern
auch zeitgemäß, und Zeitgemäßheit gilt ja in einzelnen philosophischen
Lagein als höchste Wertinstanz des Philosophierens. Ich bin kein
I freund dieses pragmatistischen Grundsatzes, sondern bin so unmodern,
immer noch zu glauben, daß ein Gedankensystem nicht deshalb wahr
ist, weil es Erfolg hat, nicht deshalb sachgemäß, weil es zeitgemäß ist,
sondern umgekehrt zeitgemäß ist und Erfolg hat, weil es wahr. d. h.
eben sachgemäß ist. J>n aber im vorliegenden falle m. E. die Zeit-
gemäßheit auch in der Sache begründet ist, ist sie als erfreuliches
Zeichen der Zeit zu begrüßen 1).
1) — erfreulich allerdings nur unter der Bedingung, daß man sich nun
wirklich an der Hand von riegele Gedankengängen am die Sache be-
müht; nicht aber, wenn ein bloßes iurarc in verba magistri resultiert, wobei
man sich nur — der Abwechslung halber — mal an den Magister Hegel halt,
statt an den Matristi-r Kant.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 2. iq
150 Münch,
Wenn ich darum beschlossen habe, Ihnen etwas über Hegel vor-
zutragen, so ergab sich mir zunächst ein Dilemma in der Wahl des
Themas. Wenn ich bloß im allgemeinen zu Ihnen von Hegel reden
wollte, so bestände, bei der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit,
eine doppelte Gefahr: entweder daß ich Ihnen bloß erzähle, was Sie
in jedem Kompendium der Philosophiegeschichte auch finden können,
oder aber, wenn ich Ihnen darzulegen unternähme, was ich von Hegels
Gesamtsystem für bleibend richtig halte; die andere Gefahr: daß,
wer nicht eine ähnliche philosophische Entwicklung durchgemacht
hat, wie ich selbst, und demgemäß von andern Prämissen ausgeht
wie ich, schwerlich den eigentlichen letzten Gesamtsinn des von mir
Gemeinten aus den kurzen Ausführungen zu entnehmen vermöchte.
Ich habe mir deshalb eine viel speziellere und zugleich viel bescheidenere
Aufgabe gestellt, nämlich bloß, Sie in problemgeschichtlicher Weise
zu Hegel hinzuführen, in specie zu der grundlegenden Problemstellung, .
von der er ausgegangen ist. Um meine Absicht in einem Bilde an-
schaulich zu machen: Ich will versuchen, aus dem ungemein ver-
wickelten Knoten der damaligen philosophischen und geistesgeschicht-
lichen Lage Ihnen einige Fäden in ihrer besonderen Färbung sichtbar
werden zu lassen, aus deren Ineinander sich die besondere Form der
Schürzung und Lösung des Knotens durch Hegel in ihren logischen
Grundmotiven begreifen läßt. Denn wie immer, so liegt auch hier in
der Stellung des Problems schon das allgemeine logische Schema
seiner Lösung, durch welche Hegel dann seinerseits in die problem-
geschichtliche Kette als Glied eintritt.
Es liegt in der Natur dieser meiner Problemstellung begründet,
daß ich mich wiederholt auf Vorrede und Einleitung werde beziehen
müssen, die Hegel seiner „Phänomenologie" vorausgeschickt hat.
Während die Einleitung ein Kabinettstück einer klar, scharf und
präzis formulierenden philosophischen Abhandlung ist, ist die Vorrede
sehr schwer zu verstehen, weil sich in dieser Hegel mit der gesamten
Problemlage seirer Zeit auseinandersetzt und dabei die Kenntnis dieser
ganzen Geisteslage voraussetzt. Aber Kudolf Haym hat nicht mit
Unrecht von dieser Vorrede gesagt: wer sie versteht, versteht das
ganze Hegeische System. Um dieses Vorzugs willen will ich mich
trotz jenes Nachteils bemühen, Hegel selbst zu Ihnen reden zu lassen,
soweit er ohne Kommentar verständlich ist. Jenem Mangel aber will
ich abhelfen, indem ich Ihnen die Problemlage, die er vorfand, in
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 151
kurzen Strichen vorher skizziere. Um den Fluß des Vortrages nicht
ins Stocken zu bringen, werde ich die Zitate nicht jedesmal aus-
drücklich als solche kennzeichnen; Sie werden ja am Stil schon selbst
herausmerken, ob Hegel zu Ihnen spricht oder ich.
Die Wahrheit eines philosophischen Systems ist eine anders be-
gründete als die Wahrheit in irgend einer Einzeldisziplin, etwa der
Anatomie. Und es ist grundfalsch, bei der Verschiedenheit philoso-
phischer Systeme vornehmlich nach Übereinstimmung oder Wider-
spruch ihrer Resultate zu fragen; sie sind vielmehr zu betrachten als
„die fortschreitende Entwicklung der Wahrheit, die eine organische
Einheit ist, in der jedes Glied seine notwendige Stelle hat, wie bei der
Pflanze Knospe, Blüte und Frucht".
Darum liegt der Haupt wert eines philosophischen Systems nicht
in seinen Zwecken und Resultaten, vielmehr ist hier gerade „die Sache
nicht in ihrem Zwecke erschöpft, sondern in ihrer Ausführung, noch
ist das Resultat das wirkliche Ganze, sondern es zusammen mit seinem
Werden; der Zweck für sich ist das unlebendige Allgemeine, wie die
Tendenz das bloße Treiben, das seiner Wirklichkeit noch entbehrt;
und das nackte Resultat ist der Leichnam, den die Tendenz hinter sich
gelassen hat."
Demgegenüber ist die richtige Art der philosophischen Befassung
mit einer Sache, „in ihr zu verweilen und sich in ihr zu vergessen,
sich ihr voll und ganz hinzugeben". Nicht auf Beurteilen und Ab-
sprechen kommt es an, sondern auf Erfassung der Sache, wie sie
in sich selbst beschaffen ist in dem ganzen Reichtum ihrer inhaltlichen
Bestimmungen. Erst dann kann „der Ernst des Begriffs in ihre Tiefe
steigen".
Nur durch ein solches Verhalten kann es gelingen, die Philosophie
zum Range einer Wissenschaft zu erheben. Das aber muß das Ziel
alles philosophischen Bemühens sein; denn „d i e w a h r e Gestalt,
in w e 1 c h er d i e W a h r h e i t existiert, k a n n a 1 1 e i n
das wissenschaftliche System sein".
Mit diesen Gedanken beginnt Hegel seine Vorrede. Ihre und der
Einleitung Aufgabe ist es, aus einer Auseinandersetzung mit der zeit-
genössischen Philosophie heraus den Plan eines neuen Systems der
Philosophie zu entwerfen. Diese Auseinandersetzung und diesen Plan,
10*
152 Münch,
dessen Ausführung dann natürlich die Phänomenologie selbst ist,
nach Thema und Methode wollen wir nun betrachten.
I.
Als erster Teil die Auseinandersetzung. Bei ihr ist als nicht
weiter zu diskutierender Ausgangspunkt vorausgesetzt: einerseits
das Kantische System, anderseits das Bedürfnis nach einer einheit-
lichen Synthese des unausgeglichenen Gedankenreichtums desselben.
Denn unter diesem Zeichen stehen alle philosophischen Bemühungen,
die sich an Kant anschließen.
In diesem Bestreben stehen sich nun zwei Richtungskomplexe
gegenüber, die man etwa bezeichnen kann als: 1. d i e Gefühls-
und Glaubensphilosophie (eines Jacobi, der Roman-
tiker, eines Schleiermacher) ; 2. dieBegriffsphilosophie,
die, von Fichte inauguriert, von Schelling fortgesetzt, Hegel
zum Abschluß zu bringen sucht. Mit beiden setzt sich
Hegel auseinander, dort indem er das Prinzip, hier indem
er die spezifische Ausgestaltung des Prinzips bekämpft. Um diese
Auseinandersetzung nun verstehen zu können, müssen wir wenigstens
eine Skizze von den einzelnen Phasen jenes gewaltigen Ideenkampfes,
von dessen Führern und Hauptevolutionen vor Augen haben. Ich
werde Ihnen zuerst die begriffsphilosophische Linie vorführen, nicht
allein deshalb, weil diese die mächtige Oberströmung bildet, neben
der die andere Linie eben nur nebenher läuft, sondern auch deshalb,
weil diese in Schellings letzter Entwicklungsphase sich unmittelbar
mit der andern Linie berührt, so daß deren Darstellung da bequem
anknüpfen kann. In beiden Darlegungen werde ich
mich natürlich darauf beschränken, die zum
Verständnis Hegels wichtigen Momente hervor-
zuheben. Daran sollen sich dann die Ausführungen Hegels zu
diesen Philosophien reihen, die mit Bekämpfung der Gefühlsphilosophie
beginnen. Seine Darlegungen zur Begriffsphilosophie seiner Zeit
werden dann unmittelbar zu dem systematischen Teile dieses Vortrags
überleiten, der Ihnen zuerst das Grundprinzip der Hegeischen Philoso-
phie und die sich aus ihm ergebende Methode, und dann die spezielle
Aufgabe der Phänomenologie vorführen soll, mit der ja Hegel selbst als
ein Glied in die begriff sphilosophische Entwicklung eintritt.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 153
1. Kant hatte es unternommen, die Grundstruktur des „Be-
wußtseins überhaupt", d. h. der Vernunft, und zwar zunächst der
menschlichen, herauszustellen, um von dieser Einsicht aus alle Er-
kenntnis, von der Erkenntnis ans dann aber alle Gegenstände derselben
in ihrer Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit begreiflich zu machen.
Bei der Kantischen Lösung blieb aber ein Riß zwischen theoretischer
und praktischer Vernunft, der sich besonders beim Ding-an-sich-
Begriff zuspitzte, und den der Primat der praktischen Vernunft, so
wie Kant ihn faßte (mit seiner Postuliermethode), ebensowenig ganz
zu schließen vermochte, als die ästhetisch-teleologische Synthese der
„Kritik der Urteilskraft". Hier setzt nun Fichte ein, um, wie er
selbst sagt, den Punkt zu finden, „der Denken und Wollen in Eins
vereinigt und Harmonie in mein "Wesen bringt". Diesen findet er
dadurch, daß er 1. den Ding-an-sich-Begriff zerstört, und 2. dem Primat
der praktischen Vernunft seine denkbar größte Ausdehnung gibt:
diese bestimmt jetzt auch das Erkennen, indem auch dieses als ein
wertgetragenes Handeln begriffen wird. Der Begriff des Sollen s —
damit aber auch, was für Hegels Gegensatz zu ihm wichtig ist, der-
jenige rastlosen Handelns und Strebens ohne Ende — wird von Fichte
zum Zentralbegriff der ganzen Philosophie gemacht.2) Nach ihm ist
der Grund aller Wirklichkeit in dem Ideal zu suchen, dem sie sich
in unendlichem Streben annähert. Daraus aber ergibt sich eine durch-
aus einheitliche Methode für die ganze Philosophie: es ist diejenige
der teleologischen Dependenz, gemäß der alle einzelnen Formen
des Bewußtseins zu begreifen gesucht werden als notwendige Mittel
für notwendige, in der Vernunft selbst begründete Aufgaben (ob-
jektive Zwecke). Damit ist dann aber weiterhin notwendig ein Dua-
lismus statuiert, da alles Sollen einen Sinn nur hat aus dem Wider-
spruch zwischen der Aufgabe und dem Material, an, in und mit dem
Sie erfüllt werden soll. Daraus resultiert ferner — der zweite für Hes:el
wichtige Punkt — unmittelbar der Dreitakt der dialektischen Me-
thode, d. h. der Weg zum Ziel besteht immer und überall in dem Fort-
schritt von der Aufgabe über ihren Widerpart zu einer Synthese
beider, die dann wieder eine Antithese und eine neue Synthese fordert,
und so fort.
Kiehtes Lehre ist. wenn man will, Metaphysik, aber eine
2) Die spätere Entwicklung Pichtes bleibt hier außer Betracht.
154 Münch,
Metaphysik ohne Ding-an-sich; die ontologische Seins-Zwei-
heit der Welt ist weggefallen: es gibt nur die eine von uns erlebte
Welt. Deren einheitliche Erfassung in der Vernunft erfüllt die Auf-
gabe, die alle Metaphysik lösen wollte. Aber wohlgemerkt: das
Grundprinzip von Fichtes Philosophie liegt in der praktischen
Vernunft. Das mag von Fichte für vorliegenden Zweck genügen.
Wir kommen zu Schellin g. Daß Fichte in seiner ganzen
Philosophie auf dem Standpunkte der praktischen Vernunft stand,
bewirkte bei ihm, daß ihn die Natur nur interessierte in ihrem Zu-
sammenhang mit dem sittlichen Handeln des Menschen ; er fragt nur
nach dem Sinn, den sie für die Gesamtanschauung des Menschen
als eines sollenden und handelnden Wesens hat. Eine eigentliche
Naturphilosophie, die die Natur in ihren eigenen Zu-
sammenhängen zum Objekt macht, lag ihm, auch schon nach
seinem Bildungsgange, fern ; ihn interessiert nur die Deduktion ihrer
Notwendigkeit für und durch die praktische Vernunft. Hier setzt
nun ergänzend Schelling ein, der sich während seiner Studien auch
eingehend mit Naturwissenschaft, wie sie zu seiner Zeit doziert wurde,
befaßt hatte. Er geht dabei zunächst von Fichtes „Wissenschaftslehre"
aus, will nichts anderes geben als die Ausfüllung einer Lücke in der-
selben. Die in dieser gegebenen Prämissen für eine Naturphilosophie
aber sind folgende: Die Natur ist als die Gesamtheit der anscheinend
gegebenen Einzeldinge transzendentalphilosophisch zu begreifen als
Urpositionen der produktiven Einbildungskraft zum Zwecke der Pflicht-
erfüllung. Da aber diese Einbildungskraft nicht die individuelle,
möglicherweise willkürlich verfahrende sein kann, sondern der über-
individuellen Vernunft angehört, muß die Gesamtheit dieser Ur-
positionen = Naturdinge und Naturvorgänge, Vernunftcharakter haben.
Das aber bedeutet: Sie müssen einen zweckvoll in sich geordneten
Zusammenhang, ein System, bilden. Das ist soweit genau die Ein-
sicht, die sich in der transzendentalen Analytik von Kants „Kritik
der reinen Vernunft" mit ihren Kategorien und Grundsätzen begründet.
Während aber Kant dieses System der Natur, sofern es strenge Wissen-
schaft sein soll, ausdrücklich auf die kausal-mechanische Auffassung
beschränkte, die teleologische Betrachtung dagegen bloß als ein —
möglicherweise vernunftnotwendiger — Glauben, aber auf jeden Fall
kein Wissen im strengen Sinne, gelten ließ, mußte nun, nach der Aus-
dehnung des Primates der praktischen Vernunft auch auf das Gebiet
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 155
des Erkennens, dieser Naturzusammenhang seinen transzendentalen
Sinn empfangen in Rücksicht auf das letzte Ziel eben dieser prak-
tischen Vernunft. Dies Ziel aber ist nach der auf der Wissen schafts-
lelire fußenden Sittenlehre Fichtes: das sittliche Handeln aus Frei-
heit um des sittlichen Handelns willen. Soll nun hiermit die Natur
in Verbindung gebracht werden, so kann dies gemäß der beherrschen-
den Grundkategorie der teleologischen Dependenz nur so geschehen,
daß sie daraufhin betrachtet wurde, ob sie für diesen Zweck ein not-
wendiges Mittel darbiete. Was aber ist die notwendige Vorbedingung
dafür, daß sittlich gehandelt werde? Antwort: Es müssen selbst-
bewußte Subjekte da sein, die dies als ihre Pflicht empfinden. Da-
mit aber ergibt sich: Die Natur muß transzendentalphilosophisch auf-
gefaßt werden als ein organisches System von Kräften, das auf Her-
vorbringung von menschlichem Leben und Bewußtsein abzielt.
Die Ausführung dieses naturphilosophischen, Grundprinzips
durch Schelling in bezug auf die einzelnen Naturphänomene ist
vielfach willkürlich und läßt sich durch ganz äußere Analogien leiten.
Ich werde später3) eine polemische Bemerkung Hegels gegen die-
selbe vorlesen, der selbst aber nichtsdestoweniger in seiner eigenen
Naturphilosophie von der Schellings sehr abhängig ist. Es trat also
bei Schelling vor das eng an Fichte sich anlehnende „System des
transzendentalen Idealismus" als weiterer Teil seines Gesamtsystems
das „System der Naturphilosophie". Das System des transzendentalen
Idealismus untersucht, wie das Ich zur Natur kommt, die Natur-
philosophie umgekehrt, wie die Natur zum Ich kommt. Über diesen
Dualismus strebt aber nun Schelling hinaus, und er versucht es zu-
nächst unter dem Einfluß eines Teils der Romantiker, namentlich
aber der unmittelbar an Kants Kritik der Urteilskraft anknüpfender
Kunsttheorie Schillers: Die Kunst ist ihm dasjenige Verhalten
des Ich, in dem jener Dualismus von Natur- und Vernunftwesen
sich zur Einheit schließt. So wird ihm auf dieser Phase seiner Ent-
wicklung die Ästhetik zur abschließenden philosophischen Disziplin,
zu der sich die beiden andern philosophischen Disziplinen (Transzen-
dentalphilosophie und Naturphilosophie) gleichmäßig erheben, um in
ihr ihre Einheit zu finden.
Aber immer noch ist das Subjekt der Träger aller Wirklichkeit.
f) S. 164 des Textes.
156 Münch,
Nun aber kommt bei Schelling der entscheidende Wendepunkt, der
wohl schon mit unter dem Einfluß Hegels erfolgt: das Fichtesche
„Ich als Idee" wird zu einer metaphysischen Realität, von der Sub-
jekt und Objekt nur zwei verschiedene Erscheinungsweisen sind.
Diese dritte Phase in der Entwicklung Schellings bildet sein „Identitäts-
system". Seine Philosophie gab ihm bis jetzt zwei Gegenstände, die
Natur und das Ich. Ihre Synthese hatte er, v o m St a n d punkte
des Subjekts aus gesehen, in dem ästhetischen Ver-
halten gefunden. Aber es blieb das Problem einer objektiven
Synthese der Gegenstände der subjektiven V e r h a 1 -
t u n g s w e i s e n , das Bedürfnis, ein gemeinsames Prinzip zu finden,
aus dem sich Natur und Ich, Objektives und Subjektives, gleicher-
maßen begreifen, ließen. Dieses aber konnte nicht mehr das Fichtesche
„absolute Ich" sein, weil dieses für Schelling unter dem Einfluß
seiner eigenen Naturphilosophie allmählich aus dem überindividuellen
Ich zum individuellen Ich geworden war, dem die Natur als eine
selbständige Macht gegenübersteht. Der Urgrund beider mußte
etwas anderes sein: Schelling nannte ihn schlechthin das Absolute;
er griff damit auf Spinoza zurück, dessen Einfluß damals durch
Herder und Goethe immer größer wurde : Natur und Geist
sind zwei Offenbarungen des einen Absoluten, Gottes. Dies Absolute
aber wird erfaßt in der genialen Intuition, der intellektuellen Anschau-
ung, die, schon mit Fichtes Selbstanschauung des Ich beginnend,
von seinen Nachfolgern, im Gegensatz zu Kant, in immer stärkerem
Maße als wirkliche Eigenschaft des menschlichen Erkennens bezeichnet
wurde.4) Bei Schelling war sie allerdings bloß ein Vorzug besonders
begabter Subjekte, des Genies; wir werden gleich hören, daß Hegel
hiergegen opponierte und sie — umgeformt ! — als wissenschaftliche,
also allen zugängliche Methode proklamierte. Da aber das Anschauende
doch auch zugleich ein Teil des Angeschauten ist, so schaut das Abso-
lute sich selbst an: Subjekt und Objekt sind identisch in ihrem Wesen.
Diese Identität aber ist bei Schelling die völlige Indifferenz:
Es ist die ungeschiedene Einheit aller Gegensätze; die entgegen-
gesetzten Prädikate kommen ihm gleicher Weise zu; mit andern
4) Es sei jedoch ausdrücklich bemerkt, daß dieser Begriff, infolge der
anderen Gesamtproblemstellung, schließlich eine andere Bedeutung bekommt,
als dasselbe Wort bei Kant hat.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 157
Worten : Es ist das absolute Nichts. Dieses Nichts aber hat die Mög-
lichkeit der Differenzierung in Natur und Geist (Geschichte). Jedes
einzelne Ding ist eine differenzierte Bestimmtheit des Absoluten
und als solche eine Mischung von Natur und Geist in verschieden
abgestuftem Verhältnis. Von den zwei Reihen, die sielt so ergeben,
hat Schelling bloß das Reich der Natur näher ausgeführt; Hegel hat
es dann unternommen, auch der zweiten Entwicklungsmöghchkeit des
Absoluten, der Geschichte, zu ihrem Rechte in der Gesamt Weltan-
schauung zu verhelfen.
Unter dem Einfluß von Hegel verbindet sich dann bei Schelling
mit dieser Lehre von der Entwicklungspotenz des Absoluten P 1 a t o s
Ideenlehre, und zwar in der neu platonische n Form, die in
den Ideen Gedanken Gottes sieht. Nunmehr ist das, was vom Stand-
punkte der Objekte gesehen, Differenzierungen des Absoluten sind,
vom Standpunkte des absoluten Subjekts betrachtet, Ideen Gottes.
"War in seiner früheren Phase die Ästhetik die einheitliche Spitze des
Systems, diese Einheit vom Standpunkte des Subjekts gesehen, so ist
es jetzt die Religionsphilosophie. Dabei ist das Verhältnis der
realen und idealen Reihe so, daß die letztere die Priorität hat: die
empirische Welt der endlichen Erscheinungen ist die äußere Ge-
staltung des unendlichen Ideenreiches Gottes. Die Ausgestaltung
dieses letzten Gedankenganges, die Lösung des hier liegenden Pro-
blems, wie das Herausfließen des Endlichen aus dem Unendlichen
begrifflich zu begreifen sei, ist die Aufgabe Hegels.
2. "Wir haben die begriffsphilosophische Linie bis zu dem Punkte
verfolgt, wo Hegel in sie eingreift. "Werfen wir nun noch einen Blick
auf die gefühlsphilosophische Strömung. Wir können uns hier kürzer
fassen, weil Hegel aus dieser keine positiven Momente übernommen
hat, sondern in schroffer Opposition zu ihr steht.
Auch hier können wir noch bei Schelling bleiben. Die Frage,
bei der wir ihn verlassen haben, weil es auch die Frage Hegels ist,
läutet: AVie geht die AVeit aus Gott hervor? Hegel gibt, wie wu-
schen werden, auf sie eine rein begriffliche Antwort. Ganz anders
Schelling: Er sucht sie zu lösen durch eine Verschmelzung von Reli-
gion und Philosophie. Seine Antwort lautet völlig irrational: Das
Heraustreten der Ideen aus Gott ist ein Abfall von ihm, der aus seinem
"Wesen nicht zu begreifen ist; es ist eine undeduzierbare Urtatsache.
Und diese Urtatsache nennt Schelling Sündenfall, und faßt dem-
158 Münck,
gemäß jetzt die ganze Weltentwicklung als Sühne dieses Abfalls,
als Rückkehr zu Gott.
Mit diesem Irrationalismus ist ein ungemein interessanter Punkt
in der nachkantischen Entwicklung berührt, den ich gleich in der
klaren Form angeben will, in der ihn Medicus formuliert hat: es
handelt sich um die Frage nach einem ,,für das (endliche) Bewußt-
sein dunklen Gebiet innerhalb der Vernunft selbst"5).
Darüber folgendes: Die pragmatische Notwendigkeit der Ideen-
entwicklung aus Kants Gedankenmassen heraus führte in ihrem
Hauptstrome zu einer immer stärkeren Rationalisierung der Wirk-
lichkeit : es soll schließlich alles restlos in Begriffe der Vernunft auf-
gelöst werden. Aber all diese Systeme müssen Halt machen vor einem
Letzten, das sie nicht mehr rational begreifen können, weil es sich
bloß noch erlebend fassen läßt. Das war bei Kant darin zum Aus-
druck gekommen, daß er erklärt hatte: für die Vernunft ist der Er-
iahrungs s t o f f ein Gegebenes; das ist, wie besonders Maimon
betont, der tiefsfe Sinn der theoretischen Seitfr seiner Lehre vom
Ding-an-sich: sie drückt aus, daß für uns eine inhaltliche Grenze
des Begreifens bleibt, ein letztes Inhaltliches, von dem man nur noch
das vorkritische Wort Kants aussagen kann: Est; hoc et concepisse
et dixisse sufficit! Und nichts anderes besagt doch wohl auch bei
Fichte der Begriff der Urposition der Empfindungen: Sie sind in
ihrem Inhalt eben einfach da, sind die bloß erlebend faßbare Inhalt-
lichkeit des Wirklichen. Die Transzendentalphilosophie vermag aus
dem Primat der praktischen Vernunft heraus wohl zu sagen, was sie
für einen Sinn haben, d. h. w o z u sie da sind, aber nicht ihr ele-
mentares Daß und W a s begreiflich zu machen.
Hier setzen nun eine Reihe von Denkern mit ihrer Kritik am
kritischen Idealismus ein, indem sie gegen dessen Allvernünftigkeit
protestieren. Diese Richtung umfaßt eine Menge von Persönlichkeiten,
deren Anschauungen im einzelnen ganz große Differenzen zeigen,
auch nach der prinzipiellen Seite. Nur durch eine weitgehende Ab-
straktion ist es möglich, sie zum Zwecke unserer Problemstellung zu-
sammenzufassen, indem ich mich eben darauf beschränken muß,
die ihnen gemeinsamen Momente hervorzuheben, gegen die Hegel
5) Vgl. F. Medicus ,, Fichte" in „Große Denker" (herausg. von E. von
Aster), Bd. II, S. 160.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 159
sich wendet. Diese aber scheinen mir im folge» den zu liegen : 1. In der
Betonung des Gefühls als bestimmendem Grundprinzip der philo-
sophischen Gesamtan schauung, ur>d zwar einerseits des ästhetischen,
wie bei den Romantikern, anderseits des religiösen, wie bei Schleier-
macher; 2. damit zusammenhängend, in der (eben erwähnten) Be-
tonung der Irrationalität des wirklich Wirklichen, wie bei dem „Glau-
bensphilosophen" Jacobi. Mit letzterem Punkte berühren sich dann,
eigentümlicher aber begreiflicher Weise, empiristische Einwände von
Seiten der Männer der empirischen Einzelwissenschaften, denen ihr
Stoff unter den Händen „zu Vernunft zu verdampfen droht".
Was nun zuerst Jacobi anlangt, so ist er durch und durch
Gefühlsmensch: Das Gefühl beherrscht bei ihm alles, ist ausschlag-
gebender Faktor in allen Fragen. Dabei ist er erfüllt von dem philo-
sophischen Streben nach Erfassung des unendlichen Weltinhaltes.
Aber hierbei steht es ihm eben von vornherein unerschütterlich fest,
daß dies nur durch das ursprüngliche Gefühl (Rousseau!) geschehen
könne; nur dieses sei imstande, das Unbedingte, die übersinnliche
Welt, zu erfassen; das unbedingte Sein sei nie zu beweisen — schon
dies Verlangen sei ein unsinniges! — , sondern nur unmittelbar zu
erfühlen: Es ist kein Objekt des Wissens, sondern nur ein Gegenstand
des Glaubens. Solcher Gegenstände des unmittelbar in sich selbst
gewissen Glaubens aber gebe es, genauer zugesehen, zwei: das sinn-
lich Wahrnehmbare und das Übersinnliche. Nur letzteres aber inter-
essiert eigentlich Jacobi: die einzige Geltungsinstanz für Erfassimg
desselben liege im individuellen Gefühl; die gefühlserfüllte Individuali-
tät allein sei der Grund aller Gewißheit.
Diese Betonung der Individualität ist der Punkt, der Jacobi
mit den Romantikern verbindet. Sie knüpfen (mit Schiller,
mögen sie sich persönlich auch von diesem noch so weit entfernen)
an Kants „Kritik der Urteilskraft ' (erster Teil) und damit an das
ästhetische Gefühl als das vereinheitlichende Prinzip des Lebens an.
„Gefühl ist alles. ' Von da aus wird aber dann sehr rasch bei ihnen das
ästhetisch fühlende Individuum alles, nicht ohne starken Einfluß der
mißverstandenen Ichlehre Fichtes. Es bildet sich der Kultus des
Genies aus, wie er vorbildlich in Friedrich Schlegel hervortritt, dessen
Moral in der schrankenlosen Willkür des allein auf sich selbst stehenden
individuellen Ichs gipfelt, das auf nichts außer sich Rücksicht zu
nehmen, nur sich auszuleben hat.
160 Münch,
Zum Schlüsse muß hier auch noch Schleier m acher
erwähnt werden.6) Er knüpft direkt an Kant an. Die letzte
Synthese für dessen Dualismus wäre die Erkenntnis der Gottheit.
Dies ,, Ideal der Vernunft", die „theologische Idee", ist aber
bei Kant bloß eine in ihrem Sinn und Inhalt wissen schaft-
lich-konstitutiv nicht erkennbare, nur regulative Richtlinie
unseres Wissens und Handelns. Hier sucht Schleiermacher weiter
zu kommen: unerkennbar allerdings ist die Gottheit, aber sie ist
erfühlbar. In, diesem Gefühl begründet sich das Wesen aller
Religion, die deshalb von der Moral und der Erkenntnis
gleichmäßig unabhängig ist. Die Religionsphilosophie ist die Lehre
nicht von Gott, sondern vom religiösen Gefühle. Sie ist die
Wissenschaft, die sich dadurch, daßsie sich
jenes Gefühls Voraussetzungen klar macht,
den Inhalt des subjektiven Gefühls objek-
tiv macht. Für die theoretische Vernunft ist sonach
Gott das schlechthin Unerkennbare, die absolute Indifferenz, über die
wissenschaftlich schlechterdings nichts ausgesagt werden
kann.
IL
Unser historischer Gang ist zu Ende. Schauen wir nun zu, wie
sich Hegel zu den entwickelten Geistesströmungen stellt.
1. Er setzt sich zunächst mit der Gefühls- und Glau-
bensphilosophie auseinander und sucht sich diese Erschei-
nung der zeitgenössischen Philosophie nach ihren Ursachen und ihrem
Sinn klar zu machen. Er sieht in ihr — zweifellos mit Recht — eine
typische Erscheinung in der Entwicklung des Menschheitsgeistes.
Der Menschengeist ist an seinem Anfange eingeschlossen in einen
sozialpsychischen Gesamtzusammenhang. Das Individuum taucht
mit seinem Denken, Fühlen und Wollen vollkommen unter in die
Apperzeptionsmassen seines Volkes und seiner Zeit. Mit dem er-
wachenden und erstarkenden Selbstbewußtsein aber löst sich all-
mählich der individuelle Geist von dem Banne der allgemeinen Mei-
nung, er „ist über das substanzielle Leben, das er sonst im Elemente
6) Ich rufe in Erinnerung, daß ich mich durchgängig beschränke auf
Hervorhebung nur derjenigen Momente, die mir zum Verständnisse Hegels
wichtig erscheinen.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 161
des Gedankens führte, hinaus". Er übt nun Kritik und verfällt dabei
meist in „das andere Extrem der substanzlosen Reflexion", in der
die gesamten bisherigen Anschauungen zersetzt werden. (Man denke
etwa an die Zeit der Sophistik in Athen.) Da kommt die Erwachung
und Ernüchterung, die Einsicht, daß nun alles und jedes wankt, daß
man den Boden unter den Füßen verliere. Man ruft nach einem festen
Halt, und zwar geht dieser Ruf zunächst zurück in der Richtung des
Alten, das man verloren hat. Man verlangt von der Philosophie in
diesem Stadium nicht, daß sie „das chaotische Bewußtsein zur ge-
dachten Ordnung und zur Einfachheit des Begriffes bringe", sondern
daß sie „vielmehr die Sonderungen des Gedankens zusammenschütten,
den unterscheidenden Begriff unterdrücken und das Gefühl des
Wesens herstellen, nicht sowohl Einsicht, als Erbauung gewähren"
soll. „Das Schöne, Heilige, Ewige, die Religion und Liebe sind der
Köder, der gefordert wird, um die Lust zum Anbeißen zu erwecken ;
nicht der Begriff, sondern die Ekstase, nicht die kalt fort-
schreitende Notwendigkeit der Sache, sondern
die gärende Begeisterung soll die Haltung und fort-
leitende Ausbreitung des Reichtums der Substanz sein." Ein Symptom
für solche Zeitströmungen seien (sind!) die gegenwärtigen philoso-
phischen Versuche, die das Absolute nicht begriffen, sondern gefühlt
und angeschaut haben möchten.
Damit verbinde sich als zweites Moment die Richtung dieser
Strömung auf das Überirdische. Während die „Zeit der Ge-
bundenheit" sich charakterisiere durch ein Versunkensein in das Gött-
liche, in die, wenn man so sagen darf, „jenseitige Gegenwart"- (man
denke an das Mittelalter), hafte das „zerrissene Bewußtsein" mit
all seinen Interessen am Irdischen; darum müsse natürlich die philo-
sophische Richtung, die von diesem zu jenem Zustand zurückstrebe,
auch wieder mit aller Macht auf das Göttliche hinweisen, sich in
Ekstase zu ihm erheben.
Aber all diese Bemühungen sind nach Hegel falsch und verderb-
lich. Der richtige Weg, der allein zu einer neuen, bleibenden Synthese
führen könne, sei allein der der Wissenschaft. „Wer nur Er-
bauung sucht, wer die irdische Mannigfaltigkeil seines Daseins und
des Gedankens in Nebel einzuhüllen und nach dem unbestimmten
Genüsse dieser unbestimmten Göttlichkeil verlangt, mag zusehen,
wo er dies findet; er wird leicht selbst sieh etwas vorzuschwärmen
162 Münch,
und damit sich aufzuspreizen die Mittel finden. Die Philosophie
aber muß sich hüten, erbaulich sein zu wolle n."
„Wie es eine leere Breite gibt, so auch eine leere Tiefe, wie eine Ex-
tension der Substanz, die sich in endliche Mannigfaltigkeit ergießt,
ohne Kraft sie zusammenzuhalten, so eine gehaltlose Intensität,
welche, als lautere Kraft ohne Ausbreitung sich haltend, dasselbe ist,
was die Oberflächlichkeit."
Der Begriff allein sei das Mittel, zu festen Anschauungen zu ge-
langen. Zu ihm sei aber auch alle Anstrengung begrifflich wissenschaft-
lichen Denkens erfordert. Hier genüge weder der sogen.
gesunde Menschenverstand, noch die Genialität.
Was zunächst den ersteren anlangt, so kommt er über triviale
Wahrheiten nicht hinaus, für deren Bedeutsamkeit er aber immer
bereit ist, mit den Phrasen von der „Unschuld des Herzens" und der
„Reinheit des Gewissens" einzutreten. Hält man ihm die Unbe-
stimmtheit oder Schiefheit seiner Ansichten vor, so hilft er sich so,
daß er gereizt einfach erklärt, seine Behauptungen seien „ausge-
machtermaßen" richtig, alles andere sei „Sophisterei". Hilft auch dies-
nicht, so beruft er sich auf das innere Orakel seines Gefühls und er-
klärt, „daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe
in sich finde und fühle". Hiermit aber tritt er die Wurzel der Humanität
mit Füßen. „Denn die Natur dieser ist, auf die Übereinkunft mit
andern zu dringen, und ihre Existenz besteht nur in der zustande
gebrachten Gemeinsamkeit der Bewußtseine."
Ganz anders verhält es sich mit den Aposteln der Genialität.
„Macht sich jener gemeine Weg im Hausrocke, so schreitet hier das
Hochgefühl des Ewigen, Heiligen, Unendlichen im hohepriesterlichen
Gewände einher — einen Weg, der vielmehr schon selbst das un-
mittelbare Sein im Zentrum, die Genialität tiefer origineller Ideen
und hoher Gedankenblitze ist. Wie jedoch solche Tiefe noch nicht
den Quell des Wesens offenbart, so sind diese Raketen noch nicht das
Empyreum. Wahre Gedanken und wissenschaft-
liche Einsicht ist nur in der Arbeit des Be-
griffs zu gewinnen. Er allein kann die Allgemeinheit
des Wissens hervorbringen, welche weder die gemeine Unbestimmtheit
und Dürftigkeit des gemeinen Menschenverstandes, sondern gebildete
und vollständige Erkenntnis, noch die ungemeine Allgemeinheit
der durch Trägheit und Eigendünkel von Genie sich verderbenden
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 163
Anlage der Vernunft, sondern die zu ihrer einheimischen Form ge-
diehene Wahrheit, — welche fähig ist, das Eigentum aller selbst-
bewußten Vernunft zu sein."
Diesen beiden Arten zu philosophieren stellt Hegel sein
begriffliches Philosophieren gegenüber, von dem
er behauptet, daß es Wissenschaft im strengen Sinne, kein esoterisches
Besitztum einiger Einzelner sei, daß es also jedem vernünftigen Wiesen
vermittelt werden könne. Bevor er aber das Grundprinzip dieses
Philosophierens entwickelt, setzt er sich zunächst auseinander mit
demjenigen Grundprinzip der Philosophie, das Sehe Hing in
seinem Identitätssystem aufgestellt hatte, mit dessen Begriff des
Absoluten.
Die Auseinandersetzung wird folgendermaßen eingeleitet: ,,Die
AVissenschaft, die erst begirnt und es also noch weder zur Vollständig-
keit des Details noch zur Vollkommenheit der Form gebracht hat,
ist dem Tadel darüber ausgesetzt. Aber wenn dieser ihr Wesen treffen
soll, so dürfte er ebenso ungerecht sein, als es unstatthaft ist, die
Forderung jener Ausbildung nicht anerkennen zu wollen. Dieser
Gegensatz scheint der hauptsächlichste Knoten zu sein, an dem die
wissenschaftliche Bildung sich gegenwärtig zerarbeitet, und worüber
sie sich noch nicht gehörig versteht. Der eine Teil pocht auf den
Reichtum des Materials und die Verständlichkeit, der andere ver-
schmäht wenigstens diese und pocht auf die unmittelbare Vernünftig-
keit und Göttlichkeit. Wenn auch jener Teil, es sei durch die Kraft
der Wahrheit allein oder auch durch das Ungestüm des andern zum
Stillschweigen gebracht ist, und wenn er in Ansehung des Grunds
der Sache sich überwältigt fühlte, so ist er darum in Ansehung jener
Forderungen nicht befriedigt; denn sie sind gerecht, aber nicht er-
füllt. Sein Stillschweigen gehört nur halb dem Siege, halb aber der
Langeweile und Gleichgültigkeit, welche die Folge einer beständig
erregten Erwartung und nicht erfolgten Erfüllung der Versprechungen
zu sein pflegt." Sie sehen, m. D. u. H., das Problem, das Hegel be-
schäftigt, ist genau das, welches sich uns am Schlüsse der Ausführung
über die historische Entwicklung der begriffsphilosophischen Richtung
ergeben hat, nämlich: Wie kommen die Einzeleinsichten mit dem
philosophischen Grundprinzip zu einer Einheit zusammen? Zur
Lösung der Frage weist nun Hegel zunächst das Unzureichende an
dem Schellingschen Begriff des Absoluten nach: Dieser Begriff sei
164 Münch,
absolut leer und tot. „Irgend ein Dasein, wie es im Absoluten ist,
betrachten, besteht hier in nichts anderem, als daß davon gesagt wird,
es sei zwar jetzt von ihm gesprochen worden, als von einem Etwas;
im Absoluten jedoch gebe es dergleichen gar nicht, sondern darin sei
alles eins." Mit andern Worten: Dies Absolute ist „die Nacht, worin,
wie man zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind, es ist die Naivität
der Leere an Erkenntnis!" Mit diesem Formalismus sei nicht weiter
zu kommen, bis das Erkennen der absoluten Wirklichkeit sich über
seine Natur vollkommen klar geworden, sei, bis ein, Prinzip gewonnen,
aus dem Form und Inhalt des Wirklichen sich gleichermaßen begreifen
ließe. „Es7) ist mit solchem Formalismus derselbe Fall als mit jedem.
Wie stumpf müßte der Kopf sein, dem nicht in einer Viertelstunde
die Theorie, daß es asthenische, sthenische und indirekt asthenische
Krankheiten und ebenso viele Heilpläne gebe, beigebracht, und der
nicht, da ein solcher Unterricht noch vor kurzem dazu hinreichte,
aus einem Routinier in dieser kleinen Zeit in einen theoretischen
Arzt verwandelt werden könnte ? Wenn der n a t u r p h i 1 o s o -
p h i s c h e Formalismus etwa lehrt, der Verstand sei die Elektrizität,
oder das Tier sei der Stickstoff, oder auch gleich dem Süd oder Nord
u. s. f., oder repräsentiere ihn, so nackt wie es hier ausgedrückt ist,
oder auch mit mehr Terminologie zusammengebraut: so mag über
solche Kraft, die das weit entlegen Scheinende zusammengreift,
und über die Gewalt, die das ruhende Sinnliche durch diese Verbin-
dung erleidet und die ihm dadurch den Schein eines Begriffs erteilt,
die Hauptsache aber, den Begriff selbst oder die Be-
deutung der sinnlichen Vorstellung, auszusprechen
erspart, — es mag hierüber die Unerfahrenheit in ein bewunderndes
Staunen geraten, darin eine tiefe Genialität verehren, sowie an der
Heiterkeit solcher Bestimmungen, da sie den abstrakten Begriff durch
Anschauliches ersetzen und erfreulicher machen, sich ergötzen und
sich selbst zu der geahndeten Seelenvcrwandtschaft mit solchem herr-
lichen Tun glückwünschen. Der Pfiff einer solchen Weisheit ist so-
bald erlernt, als es leicht ist, ihn auszuüben; seine Wiederholung wird,
wenn er bekannt ist, so unerträglich, als die Wiederholung einer ein-
gesehenen Taschenspielerkunst. Das Instrument dieses gleichtönigen
7) Das hier folgende Zitat war oben S. 154 gemeint; es illustriere zugleich
Diktion und .Stil Hegels und die humorvolle Überlegenheit seiner Polemisier-
weise.
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 165
Formalismus ist nicht schwerer zu handhaben, als die Palette eines
Malers, auf der sich nur zwei Farben befänden, etwa Rot und Grün,
um mit jener eine Fläche anzufärben, wenn ein historisches Stück,
mit dieser, wenn eine Landschaft verlangt wäre. — Es würde schwer
zu enstcheiden sein, was dabei größer ist, die Behaglichkeit, mit der
alles, was im Himmel, auf Erden und unter der Erden ist, mit solcher
Farbenbrühe angetüncht wird, oder die Einbildung auf die Vortreff-
lichkeit dieses Universalmittels ; die eine unterstützt die andere.
Was diese Methode, allem Himmlischen und Irdischen, allen natür-
lichen und geistigen Gestalten die paar Bestimmungen des allgemeinen
Schemas aufzukleben und auf diese Weise alles einzurangieren, her-
vorbringt, ist nichts geringeres als ein „sonnenklarer Bericht" über
den Organismus des Universums, nämlich eine Tabelle, die einem
Skelette mit angeklebten Zettelchen, oder den Reihen verschlossener
Büchsen mit ihren aufgehefteten Etiketten in einer Gewürzkrämer-
bude gleicht, die so deutlich als das eine und das andere ist, und die,
wie dort von den Knochen Fleisch und Blut weggenommen, hier aber
die eben auch nicht lebendige Sache in den Büchsen verborgen ist,
auch das lebendige Wesen der Sache weggelassen hat. — Daß sich
diese Manier zugleich zur einfarbigen absoluten Malerei vollendet,
indem sie auch, der Unterschiede des Schemas sich schämend, sie
als der Reflexion angehörig in der Leerheit des Absoluten versenkt,
auf daß die reine Identität, das formlose Weiße, hergestellt werde,
ist schon bemerkt worden. Jene Gleichfarbigkeit des Schemas und
seiner leblosen Bestimmungen und diese absolute Identität und das
(hergehen von einem zum andern ist eines gleich toter Verstand als
das andere und gleich äußerliches Erkennen."
2. Nachdem sich Hegel so mit seinen philosophierenden Zeit-
genossen auseinandergesetzt hat, geht er nun daran, diesen falschen
oder unzulänglichen Bestrebungen seineu neuen Versuch gegenüber
zu stellen. Ich will mich bemühen, Ihnen die Grundanschauungen,
von der aus Hegel an die „Phänomenologie des Geistes" herantritt,
an folgenden 3 Punkten, klar zu machen:
a) Substanz und Wahrheit,
b) die dialektische .Methode,
c) Räsonnieren und BegreifeUi
und werde Ihnen dann als Abschluß
Archiv für (Jeschichte der Philosophie. XXVI. '2. JJ
166 Münch,
d) die Aufgabe der Phänomenologie
zusammenfassend formulieren.
In der Einleitung der Phänomenologie gibt Hegel eine von seinem
Standpunkte aus ungemein scharfsinnige Kritik der Kantischen
Erkenntnistheorie. Sie trifft Kant deshalb nicht, weil sie gerade
davon als einem Zugestandenen ausgeht, was Kant zum Problem
macht, nämlich daß das Ideal des wissenschaftlichen Erkennens die
Erfassung der absoluten Realität sei. Aber item: man lernt wenigstens
daraus, wie Hegel sein System und dessen Prinzip meint. Ich glaube,
man kann das sehr einfach formulieren.
Hegel geht von einer doppelten Überzeugung aus, nämlich:
1. daß wir tatsächlich das letzte Wesen der Dinge zu erkennen ver-
mögen. Er hat an der Hand der griechischen Philosophie den „Mut
zur Wahrheit" zurückgewonnen; er ist von der Überzeugung getragen,
daß das Universum nicht die Kraft besitze, sich dem Erkenntnis-
streben gegenüber verschlossen zu halten. Das ist das eine. Und er
setzt 2. voraus, daß das, was dies Wahrheitsstreben erfasse, eo ipso
(nicht das „D i n g - a n - s i c h" — das hat Fichte endgültig
gestrichen — wohl aber) das „A n - s i c h der Dinge" sei.
Von diesen zwei Prämissen aus kommt nun Hegel auf folgende
Weise zu seinem Grundprinzip. Er kann sich natürlich nicht verhehlen,
das daß An -sich der Dinge nicht „als solches" in
unser Bewußtsein hineinspaziert, sondern daß es zu diesem Zwecke
ein An- sich „für uns" geworden sein muß. Wie aber kann
nun dieses „Für-uns" trotzdem wahr, d. h. „an sich" sein? Die Ant-
wort ergibt sich bei Hegel so: Das „Für-uns" ist dann zugleich das
„An-sich", wenn das An-sich zugleich ein „Für-uns" ist, d. h. wenn
jenes desselben Wesens ist, wie dieses. Nun ist dieses Bewußtsein,
also muß auch jenes Bewußtsein sein. Hier kommt die Kantische
Einsicht zum Vorschein, daß ein Erkennen nur möglich ist gegen-
über „möglichem Bewußtseinsinhalt." Wodurch wird nun aber
Bewußtseinsinhalt zu Erkanntem, zu Wahrem? Antwort: Dadurch,
daß er gemäß den logischen Gesetzen, denen alles Denken, sofern
es Erkennen sein will, untersteht, bearbeitet wird. Das ist wieder
eine Kantische Einsicht: Alle Denkgegenständlichkeiten sind Pro-
dukte des logischen Denkens, sind Funktionen (im mathematischen
Sinne) der erkennenden Vernunft. Hegel will nun aber ausgesprochener-
maßen über diese Kantische Position noch hinausgehen, indem er
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 167
die logische Konstituiertheit zugleich auch in den Objekten, in dem
Bewußtseins i n h a 1 1 , gesetzt sein läßt. Auch hierin liegt noch ein
Kantisches Moment: Die Notwendigkeit der An-
nahme einer Angepaßtheit des Inhalts an
die Formen der Vernunft. Nur daß Hegel den
bloßen Postulatscharakter des „Postulats der Begreiflichkeit der
Natur" (wie es die „Kritik der Urteilskraft" hat) abstreift. Also:
Das „Für-uns" kann wahr, d. h. „an sich" sein, wenn das An-sich
seinem Wesen nach dasselbe ist, wie das „Wir" in dem „Für-uns".
Nun ist uns unser Wesen als erkennende Subjekte bekannt: Es ist
das Fehlen von aller individuellen Willkür und das durchgängige
Gebundensein an die logischen Gesetze. Dann aber kann auch das
An-sich der Dinge nicht anderer Art sein: es muß logische Vernunft
sein ; Erkennen der Sache ist Befolgung der
Logik der Sache. Fazit: Das An-sich der Dinge ist die
reine logische Vernunft selbst. Die Welt ist, ihrem letzten reinen
Wesen nach, durchaus rationalistisch, ist panlogistisch.
Betrachten wir nun dies Grundprinzip etwas näher, so zeigt
sich zunächst ein durchgängiger Parallelismus von Denken und Sein:
alles was ist, ist vernünftig, und: alles was vernünftig ist, ist. Was
auf der subjektiven Seite gilt, gilt genau so auf der objektiven, und
umgekehrt; ja, beides ist in seinem letzten Wesen eins: Substanz,
Subjekt, Wahrheit ist ein und dasselbe.
Man braucht nicht viel Philosophiegeschichte zu kennen, daß
einem hier Spinoza, auf den ich ja auch schon oben bei Schilling
verwiesen habe, einfällt mit seiner Allsubstanz und den Parallel-
attributen der Ausdehnung und des Denkens, der beständigen Kor-
relation des esse und coneipi. Aber ein fundamentaler Unterschied
darf nicht verkannt werden: dort ist die Gottheit ein toter Mechanis-
mus, ja nur ein „mos geometricus", hier dagegen ein lebendiger Orga-
nismus, Dynamismus, Logismus. Dort „geschieht" alles bloß,
hier dagegen „lebt die Vernunft", indem sie sich auswirkt als der
dtit^coog hr/oq, (Heraklits), als die „lebendige Wahrheit".
Damit hängt als weiterer Unterschied zusammen: Dnrl ist die
Substanz ein leeres w e r t i n d i f I' e r e n t e s Gefäß, hier ein
an Entwicklungsmöglichkeiten unendlich reiches lebendiges V e r -
n u n f t prinzip. Besteht hierin zugleich der Unterschied zu
Schellings absoluter Indifferenz, so begründet sich darin anderseits
11*
168 Münch,
die Verwandtschaft, ja Abhängigkeit von Fichte; denn -dessen Ich
als Idee hatte auch diesen unerschöpflichen Inhalt des Strebens
und Wirkens besessen. Nur daß hier bei Hegel dieser Träger alles
Werthaften und Grund aller Wirklichkeit, die diesen Namen ver-
dient, keine bloße Idee im Sinne von Ideal ist (wie es nach
Hegels Meinung bei Fichte der Fall war), sondern der
,, Geist" sich als das absolute Realität besitzende Traggerüst alles
Wirklichen präsentiert. Die Begriffe (dialektische)
„Idee" und „logische Möglich keitsbedin -
g u n g", die Kant auseinanderhält, sind nach
Hegel ein und dasselbe.
Da dieser absolute Weltgeist aber Leben ist, alles Leben aber
in einem Sich-Auswirken besteht, ist dies Urprinzip rastlose Selbst-
bewegung. Hier kommt die platonische Idee in der aristoteli-
schen Umformung zur Entelechie zum Vorschein. Hegel
gebraucht ungemein häufig das Wort „Moment": Gemeint ist selbst-
redend movimentum = bewegende Kraft, Tendenz, Zielstrebigkeit,
forma substantialis. Dies Leben ist, eben weil es das Leben der Ver-
nunft ist, von Zwecken geleitet: Die Weltvernunft ist zweckmäßiges
Tun; „der Zweck ist das Unmittelbare, Ruhende, das Unbewegte,
welches selbst bewegend ist", das axivt/tor xlvoiv, das xivsi coq
SQca(isvov (Piatos „egcog" als Lebensprinzip des „Gottes" des Aristo-
teles!).
Endlich noch zwei Prädikate des Absoluten, die uns hinüber-
führen sollen zur Betrachtung der dialektischen Methode. Seite 14 8)
heißt es: „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das
durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem
Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende
das ist, was es in Wahrheit ist." Auf der vorigen Seite 13 aber hatte
es geheißen: „Das Wahre ist das W erde n seiner selbst; der Kreis,
der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum Anfang hat, und
nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist." Mag sein,
daß Schelling bei solchen Stellen in Erinnerung an den scharfen Vor-
wurf Hegels gegen sein Absolutes als die Vereinigung aller Gegensätze
etwas ironisch gelächelt hat. Und in der Tat zeigt sich hier die un-
gemeine Flüssigkeit der Hegeischen Grundbegriffe, die oft von Ver-
Ausgabe von Georg Lasson in der „Phil. Bibl."
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 169
schwommenheit fast nicht zu unterscheiden ist. Aber immerhin:
obige beiden Sätze lassen sich vereinigen; nämlich so: da alles und
jedes Vernunft ist, diese aber in verschiedenen Formen erscheint,
kann die eine und dieselbe Vernunft von der einen Seite als Werden,
von der andern Seite als Resultat angesehen werden.
Ich gehe nun zur Betrachtung der sogenannten dialek-
tischen Methode über. Wir haben soeben gesehen,
daß das Weltpririzip logische Vernunft ist. Alle Logik
aber gründet auf dem Satze der Identität und des Wider-
spruchs. Sind nun die logischen Gesetze Realitätsgesetze,
so muß auch der Widerspruch absolute Realität sein, d. h.
im Weltprinzip muß embryonal, in nuce, sowohl die Positivität wie
die Negativität enthalten sein, die beide nur aufeinander hin sinnvoll
sind, und so sagt auch Hegel auf Seite 13: „Die lebendige Substanz
ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Ent-
zweiung des Einfachen oder die entgegensetzende Verdoppelung,
welche wieder die Negation dieser gleichgültigen Verschiedenheit und
ihres Gegensatzes ist."
Diese Negativität spielt nun im Hegeischen System eine eminente
Rolle. Sie ist das Mittel, durch welches die Selbstbewegung der Sub-
stanz erfolgt. Im Anschluß an Fichte (der seinerseits an Kants „artige
Bemerkung" zu der Kategorientafel, daß jeweils die dritte Kategorie
die erste und zweite in sich enthalte, anknüpft) übernimmt Hegel das
triadische System, wonach aller Fortschritt in der Substanz vernunft-
notwendig zu denken sei als Übergang von einer Thesis über eine
Antithesis zur Synthesis, in der dann jene beiden „aufgehoben" wären,
(1. li. nicht mehr in ihrer früheren Existenzweise, sondern in einer
höheren Daseinsform weiterlebten.
Wenn aber das logische Weltwesen sich so bewegt, muß natürlich
die Wissenschaft, die ja bloß dessen „Schattenbild" ist, sich eben
so bewegen. Das ergibl sich unmittelbar aus dem Parallelismus der
Welt- und der Mensobenlogik, die ja im Grunde eins sind. Und so
wird nun diese dialektische Methode zur wissenschaftlichen üniversal-
methöde, zu der Form, in ^rr später Hegel alle seine Ausführungen
einkleidete. Ein allgemein bekanntes gutes Beispiel hierfür ist die
Definition drr Strafe als „der Negation der Negation <h^ Hechts":
Das Recht ist die Thesis, das dieses negierende Unrecht ist die Anti-
thesis, und dessen Negierung in der Strafe endlich ist die Synthesis.
170 Münch,
Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, daß diese Methode nur
Einkleidungsform: die genialen sachlichen Einsichten Hegels hat er
nicht durch, sondern trotz dieser Methode gewonnen. In noch höherem
Grade als von Kant gilt darum von Hegel:
Wenn die Glock' soll auferstehn,
muß die Form in Stücke gehn.
Wir brauchen auf diese Trias hier nicht noch näher einzugehen.
Hegel sagt selbst auf Seite 32, daß „ihre eigentliche Darstellung nicht
der Phänomenologie, sondern der Logik angehört, oder vielmehr diese
selbst ist". Und ferner auf Seite 39, daß ,,die Natur dieser Methode
in der spekulativen Philosophie, d. h. in der Logik, ihre eigentliche
Darstellung habe". Erwähnt sei bloß noch, weil es von Bedeutung
für das Verständnis der Phänomenologie ist, daß sich gemäß diesem
Dreitakt die gesamte Wirklichkeit unter transzendentalem Aspekt
(wie ihn Hegel versteht) in 3 Schichten zerlegt: Das A n - s i c h der
Idee gelangt über das Für-sich (Anderssein) der Natur zu
dem An-und-Für-sich („Beisichselbstsein") des Geistes.
Im Anschluß hieran seien noch kurz zwei Begriffe erörtert, die
Hegel sich gegenüber stellt : Räsonnieren und Begreifen.
Sie sind geeignet, uns zurückblickend nochmals die Eigentümlichkeit
der Hegeischen Begriffsphilosophie zu vergegenwärtigen. Das Rä-
sonnieren ist dasjenige angeblich wissenschaftliche Denken,
das den Standpunkt Hegelscher Einsicht von der Selbstentfaltung
des Logos noch nicht erreicht hat. Es ist die Freiheit von dem In-
halt und die Eitelkeit über ihn; es besteht in einem unwirklichen,
bloß formal-abstrakten Hin- undHerlaufen
der Gedanken, ohne daß sie sich in die
Sache versenkten. „Es verhält sich gegen den auf-
gefaßten Inhalt nur negativ, weiß ihn zu widerlegen und zunichte zu
machen. Daß etwas nicht so sei, diese Einsicht ist das bloß Negative ;
es ist das Letzte, das nicht selbst über sich hinaus zu einem neuen In-
halt geht; sondern, um wieder einen Inhalt zu haben, muß etwas anderes
irgendwoher vorgenommen werden. Es ist die Reflexion in das leere
Ich, die Eitelkeit seines Wissens." „Diese Eitelkeit drückt aber nicht
nur dies aus, daß der Inhalt eitel sei, sondern auch, daß diese Eitel-
keit selbst es ist, denn es ist das Negative, das nicht das Positive in
sich erblickt."
Demgegenüber ist das Begreifen das adäquate Verhalten
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 171
zur Sache. Es versenkt sich in diese selbst
und sucht deren immanente Logik zu er-
fassen, ihre reinen Selbstbewegungen, ,,die man Seelen nennen
könnte, wenn nicht ihr Begriff etwas Höheres bezeichnete als
diese". Das Begreifen vermag auch das Nichts anzusehen als ein Re-
sultat eines Entwicklungsprozesses, das Übergangspunkt für eine
neue Entwicklung ist. Im begreifenden Denken wird nicht von dem
als ruhende Basis gedachten Subjekt ein Akzidens von außen her als
Prädikat ausgesagt, sondern, „indem der Begriff das eigene Selbst
des Gegenstandes ist, das sich als sein Werden darstellt, ist es nicht
ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidentien trägt, sondern
der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende
Begriff."
Diesem Sachverhalt hat sich dann auch die sprachliche Formu-
lierung anzupassen, indem sie dies begrifflich-logische Wesen des
Gegenstandes zum Ausdruck bringt. Gelingt ihr dies, so erspart sie
sich den Beweis, der bloß dem „äußerlichen Erkennen" angehört:
Der Fortschritt des Gedankenganges trägt als Abbild der Weltlogik
seine Gewißheit in sich selbst, bedarf keines Beweises.
Welches ist nun in dieser Grundanschauung die Aufgabe der Phä-
nomenologie? Zur Beantwortung dieser Frage ist zu betonen, daß
Hegel energisch dagegen protestiert, daß Schelling das Absolute so
ohne weiteres, „wie aus der Pistole geschossen" einfach an die Spitze
seiner Ausführungen stellt. Von dieser genialen Intuition des
Wahren will Hegel nichts wissen. Die Wrahrheit ist Gegenstand
des Wissens ; dann muß a u c h der Weg zu ihr
Gegenstand des Wissens sein. Die Wahrheit
ist allen vernünftigen Wesen faßbar; darum wird sie sich wohl
auch erkennen lassen durch eine Betrachtung der Entwicklung
dieser vernünftigen Menschheit. Bevor die Philosophie mit ihren
Deduktionen aus dem obersten Prinzip beginnen kann, bedarf sie
daher einer Disziplin, die den Weg zu diesem obersten Prinzip zum
Gegenstand ihrer Untersuchung macht. Diese Aufgabe will die Phäno-
menologie erfüllen: Sie will durch eine Betrachtung des „erscheinenden
Wissens" langsam aufsteigen von dem natürlichen Bewußtsein bis
zur Erfassung von dessen letztem Wesen in der absoluten Substanz der
logischen Weltvernunft. „Das Individuum hat das Recht zu fordern,
daß die Wissenschaft, für die das reine Selbsterkennen im absoluten
172 Münch,
Anderssein, dieser Äther als solcher, der Grund und Boden ist, ihm
wenigstens die Leiter zu diesem Standpunkte reiche, ihm in ihm
selbst denselben aufzeige." „Das Werden der Wissenschaft überhaupt
oder des Wissens ist es, was die Phänomenologie des Geistes darstellt."'
„Die Keine seiner Gestaltungen, welche das Bewußtsein auf diesem
Wege durchläuft, ist die ausführliche Geschichte der Bildung des Be-
wußtseins selbst zur Wissenschaft." Daß aber die Beschäftigung
hiermit, mit dem bloß erscheinenden Wissen, selbst Wissenschaft in
prägnantem Sinne ist, ergibt sich daraus, daß sich dieser Weg als.
ein von innerer logischer Notwendigkeit beherrschter herausstellt,
dessen Erfassung also, gemäß dem erkenntnistheoretischen Grund-
prinzip, selbst auch Logik, also Wissen sein muß. Die Aufgabe ist
also in der Phänomenologie des Geistes nicht die, eine statisch-kritische
Transzendental p h i 1 o s o p h i e , als System, sondern die, eine
dynamisch-genetische Transzendental psychologie als Geschichte
der Wissenschaft zu schreiben, wobei aber das Wort „Wissenschaft"
in dem umfassenden Sinne Hegels gemeint ist, wo es die ge-
samte Menschheitskultur in sich „begreif t".
Es handelt sich also darum, bei jeder Station des Gesamtentwick-
lungsprozesses des menschlichen Bewußtseins, sowohl des Einzel-
bewußtseins als des Menschheitsbewußtseins, zuzuschauen, was daran
Vernunft ist, um so, nach Durchlaufung der gesamten sogenannten
Geistesgeschichte, das vernünftige Grundwesen des gesamten Pro-
zesses und in diesem das letzte treibende Prinzip des Weltgeschehens
überhaupt zu erfassen.
Wie Sie sehen, m. D. u. H., eine ungeheure Aufgabe; in dieser
Ungeheuerlichkeit gründet es, daß das Verständnis der Phänomeno-
logie Hegels in all ihren Einzelheiten so ungemein schwer ist. Denn
es wird keine Geschichte erzählt, sondern diese als bekannt voraus-
gesetzt, und nur jeweils — ohne zu sagen, welche historischen Phäno-
mene gemeint sind — deren Vernunftgehalt im Zusammenhang des
Ganzen herausgestellt. Diese Schwierigkeit des Verständnisses wird
dann noch weiter gesteigert dadurch, daß Hegel bei seinem Versuche,
hinter die transzendentalen Kulissen der Geistesentwicklung zu blicken,
gar nicht scheidet zwischen individuellem und allgemeinem Bewußt-
sein. In Vorausnahme des „biogenetischen Grundgesetzes", in trans-
zendentaler Vertiefung der Korrespondenz von „0 n t o g e n i e
und P h y 1 o g e n i e" (hier natürlich vom Leben des Geistes
Die Problemstellung von Hegels „Phänomenologie des Geistes". 173
gemeint) wird jeweils immer das eine an dem andern gegenseitig
veranschaulicht und gestützt, so daß also Psychologie, Erkenntnis-
theorie, Philosophiegeschichte und Kulturgeschichte fortwährend in-
einandergreift, bald aus diesem, bald aus jenem Gebiete argumentiert
und exemplifiziert wird.
So begreift es sich, wie ein so geistreicher und scharfsinniger
Beurteiler, wie Rudolf Haym, zu dem Resultat kommen kann: Hegels
Phänomenologie sei das konfuseste Werk, das je geschrieben worden
sei, in dem alles und jedes durcheinander gehe.9) Aber dem steht das
Urteil eines ebenso kompetenten Richters gegenüber, Eduard Zellers,
der das Buch als eines der genialsten Werte der gesamten Weltliteratur
bezeichnet, vergleichbar nur mit „Faust II. Teil", oder mit Dantes
„Göttlicher Komödie". Die drei bedeutendsten Historiker der neueren
Philosophiegeschichte: Johann Eduard Erdmann, Kuno Fischer und
Wilhelm Windelband urteilen wie Zeller.
9) Vgl. R. Haym „Hegel und steine Zeit" S. 232 ff., besonders S. 243.
X.
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants als Be-
weis für den idealen Charakter seiner Philosophie.
Von
Dr. Emil Raff.
I.
Überblicken wir die Gesamtlehre Kants, so finden wir, daß in
seinen drei Hauptwerken eine für die Eigentümlichkeit des Stand-
ortes seiner Philosophie charakteristische Dreiteilung ausgesprochen
wird. Während nämlich die Kritik der reinen Vernunft, indem sie
logische, psychologische und metaphysische Probleme in sich befaßt,
das ganze Feld des Erkenntnisvermögens begrenzt, und durch
zwei wichtige Grenzbegriffe, einerseits den der Erscheinung, als
dem gegenüber dem Bereiche der Erfahrungswelt unmittelbarsten Er-
kenntniselemente, andererseits den der transzendentalen Apperzeption,
als dem letzten subjektiven Aktivitätsprinzip unserer Bewußtseins-
sphäre gegenüber dem transzendentalen Bereiche der geistigen Phäno-
mene, das weite Gebiet der Subjektivität eingeengt, überschreitet
die Kritik der praktischen Vernunft diese Grenzen durch Affirmation
der Realität absoluter Vernunftelemente in uns, als dem Ausdrucke
ethischer Apriorität. Als vermittelnde Lehre zwischen beiden, viel-
fach diese erst einem genaueren Verständnisse zugänglich machend,
tritt die Urteilskraft als die Summe und der Inbegriff desjenigen
Geistesbereiches hinzu, der die Brücke zwischen Vernunftideen und
den formalistischen Prinzipien der Facultates ac actiones mentis
herzustellen hat.
Betrachten wir zuvörderst das Gebiet der ,, reinen Vernunft"
in seiner Totalität von der sich uns darbietenden „Erscheinung" als
der empirischen Polarität bis zur absoluten Vernunftidee in ihrer
immer mehr des Charakters der Bedingtheit sich entledigenden Form
(transzendentale Polarität), so ist ohne weiteres klar, daß der Komplex
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 175
der seitens Kant aufgestellten kritischen Lehrmeinungen sich in
aufsteigender Linie bewegt, welche mit dem Phänomenon beginnend,
ohne Bedachtnahme seiner Beziehung zum Dinge an sich, bis zur
Kategorie fortschreitet (psychologischer Dynamismus). Die Dialektik
ist demzufolge dem immanten psychologischen Entwickelungsgange
eine dynamische, welchen Standpunkt Kant jedoch nicht konse-
quenterweise beibehielt, was 1.) die Undeutlichkeit und schwere
Verständlichkeit seines Systems bedinget, andrerseits 2.) auch dazu
führen mußte, daß die in seinem Hauptwerke zu Tage tretenden
zahlreichen Widersprüche die Nachkantianer und viele andere kri-
tische Forscher dahin bringen mußte, die verschiedensten Inter-
pretationen seinen Lehrsätzen beilegen zu müssen.
Zum zweifelsfrei klärendem Verständnisse ist es daher erforderlich,
ein Resume der Hauptpunkte mit beigefügter kritischer Erläuterung
zu geben, welche Hauptpunkte in jenen Abschnitten behandelt werden,
in denen die wichtigsten erkenntnismäßigen Elemente als reale
Faktoren, wie der Erscheinung, Vorstellung, Begriff, synthetische
Einheit der Apperzeption und Kategorie in ihren wesentlichen qualita-
tiven Bestimmtheit, als auch in ihrer gegenseitigen Wechselbeziehung
besprochen werden, das ist in der Lehre von der Deduktion der reinen
Verstandesbegriffe und dem Abschnitte von den Kategorien, den
Phänomen izis und Numenis. Und hier ist einschlägig gleich zu be-
merken, daß Kant auf das zweite Moment dieses Forschungsbereiches
mehr Augenmerk verwendet hat, nämlich, daß er nur die eigentliche
psychologische Seite der Denkelemente mehr in ihrer gegenseitigen
Relativität einer Untersuchung unterzogen hat.
Aus obiger Nomination Kantischer Lehrelemente ist ersichtlich,
daß mit dem Progresse zu den jeweilig höheren, psychologischen
Faktoren des Gesamtbewußtseins, bis zur Näherung an die trans-
zendentale Idee, das Denkelement immer mehr von der Bedingtheit
verliert, welche ihm in der Erscheinungsform noch immanent an-
haftet, in den weiteren Weseneinheiten jedoch nur noch als Accidens
zuzusprechen ist, dergestalt, daß das erkenntnismäßig früheste Element
der Phänomenalität am meisten bedingt, die reine Vernunftidee
als der Einheitsbegriff der rationalen Sphäre sowohl an sich die ab-
solute Unbedingtheit zur Manifestation bringt, als auch gleichzeitig
die Totalität aller Bedingungen in objektiv einheitlicher Form unter
sich begreift: mithin im Entwicklungsgange der Erkenntnismodi
176 Raff,
die Einzeldarbietimg der Sinnenwelt sich in der subjektiven Sphäre
immer mehr der ihr, — ob an sich oder durch andere Umstände herbei-
geführt — zukommenden Eigenart, der Individuation entlediget,
um im Felde des Bewußtseins aufwärts schreitend, zur Selbstdiremtion
im Generativen und Abstraktiven der Idee zu gelangen.
So bewegt sich auf obig beschriebene Weise die Dialektik nur
in Gemäßheit einer durchaus rationalistischen Beweisführung; denn
der einzelnen in der Sinneswelt uns sich darbietenden Form ist damit
das Moment absoluter Selbständigkeit genommen und ihre Position
vom Bewußtsein abhängig gemacht; sie wird als ens rationis hin-
gestellt, wodurch der Schwerpunkt der kritischen Wissenschaft trotz
der besonderen Betonung der Anwendung der Kategorien nur auf
mögliche Erfahrung in die Tätigkeit der Kogitation verlegt wird,
welche Auffassung außerdem noch gestützt wird durch die Lehre
von der Apriorität räumlicher Anschauung und der objektiven Realität
der Kategorien. Dadurch ist der idealistische Charakter der Vernunft-
kritik unbeschadet ihrer im historischen Verfolge sich darbietenden
Veränderungen fixiert.
Gleichzeitig geht aus mannigfachen Ausführungen deutlich
hervor, daß auch die qualitative Wesenheit der einzelnen Elemente
verschiedenartig ist. Sie ist nämlich bis zum real-formalistischen
Prinzipe der Kategorie durchaus materiale Perzeption (in ihrer Gänze
der Inbegriff des empilischen Bewußtseins), von da ab, die Katego ien
miteinbezogen, wesentlich elementologisch generativer und abstrakter
Faktor des zu einer Einheit strebenden Verstandes. Die Synthese
selbst ist Aktualität, Ausdruck der Tätigkeit eines unbekannten
transzendenten Subjektes, die Kategorie formalistisches, selbständiges
Einzelelement, als Teilprinzip der gesamten Subjektivität mit Gültig-
keit und Anwendung nur auf mögliche Erfahrung: Die Richtungs-
linie von der Erscheinung bis zu der bewußten Erkenntnis durch
die Kategorien ist festgelegt durch die drei aktual-psychologischen
Momente der Synthesis apprehensionis, reproductionis und recog-
nitionis. Mit den Kategorien endigt der deskriptiv-psychologische
und positive Teil der Vernunftkritik, während darüber hinaus, zu-
gänglich und im Bewußtsein vorhanden, durch transzendentalen
Paralogismus der reinen Vernunft sich das Gebiet der Vernunftideen
befindet; ihre Abhandlung stellt dar den negativ-kritischen Teil
seiner Lehre.
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 177
Nur durch sinngemäße, wissenschaftliche Darstellung und klare
"Übersichtlichkeit über den Zusammenhang der einzelnen Prinzipien
ist es möglich, das Gesamtgebiet des positiven Teiles des Systemes
zu überschauen, und die Relationen ordnend, die sich zwischen den
einzelnen Denkformen und Denktätigkeiten manifestieren, zur Dar-
bietung zu bringen. Unter diese gehört in erster Linie das Verhältnis
der Erscheinung zum Dinge an sich.
! IL
Nichts bietet im ganzen Gebiete der Vernunftkritik der Forschung
derartige Schwierigkeiten, wie die Frage nach dem Wesen des Dinges
an sich. Um die dahin bezügliche Interpretation eindeutig gestalten
zu können, müssen alle jene Hindernisse, die sich der Durchdringung
des psychischen Prozesses bis zu einer gültigen Vorstellung von dem-
selben und Darstellung derselben entgegenstellen, systematisch und
in logischer Sukzession aus dem Wege geräumt werden. Einerseits
ergeben sich Schwierigkeiten im Verfolge der Nachforschung infolge
der undeutlichen, nicht genügend demonstrierten Position des Dinges
an sich ; teils bedingt durch die nicht genügend umschriebene Fixierung
desselben als eines Prinzipes, das völlig unabhängig, in absoluter
Selbständigkeit vom' Erkenntnis-Subjekt sein Dasein behauptet.
Im Gegensatz hinzu käme ihm eine in den Bereich des Ich teilweise
oder mit ihm ganz zusammenfallende Stellung zu. Durch diese proble-
matische Position wird insgesamt die Frage nach der empiristischen
oder nach der rationalistischen Form dieses Prinzipes offen gelassen
und da mit der entscheidenden Antwort darauf für die Bestimmung
besagter Position auf deren beiden möglichen Seiten gleichzeitig
in der Entfernung der Lehrauffassung das ganze System Kants sich
charakterisiert, ob Empirismus oder Idealismus das Fundament
seiner Lehre gewesen, so ist die Aufhellung dieser Streitfrage gleich-
zeitig für die Bezeichnung seines ganzen Systemes von Bedeutung
und bestimmender Wichtigkeit. Als weitere Punkte der Forschung
gehören dann hierher die einschlagigen Streitpunkte bezüglich der
doppelten Affektion des transzendentalen Subjektes, und auch das
Urteil in Hinsicht der dualistischen oder monistischen Eigenschaft-
lichkeit seiner Philosophie. Endgiltig kann auch schließlich von
besagtem Gesichtspunkte aus die Frage, ob die Vernunftkritik end-
178 Raff,
gültig in Pantheismus oder auch in Illusionismus auslaufe, mit ge-
nügender Befriedigung einer Lösung zugeführt werden.
Der Wichtigkeit obiger Entscheidungen durchaus entsprechend
ist der Gang der Forschung bis zum Ding an sich, mit strengster
methodischer Konsequenz vorgezeichnet. Denn die Dialektik in
Hinsicht des Dinges an sich, hat sich erstens mit der Essentialität
und mit der qualitativen Wesensart desselben zu beschäftigen. Unter
Erscheinung ist das durch die sinnliche Erfahrung als vollendetes
Prinzip sich darbietende Bild zu definieren. Nur ist diese in Hinsicht
ihrer Darbietung etwas Einheitliches, in Wirklichkeit aus verschiede-
nen Prinzipien objektiver und subjektiver Accidenzen sich Zu-
sammensetzendes. Die Qualität dieser Erscheinung ist teils durch
die rational-psychischen Aktus und Fakultates, mit Inbegriff der
Apriorität des Raumes und der Zeit, teils durch die von diesen völlig
unabhängigen, dem Objekte zugehörigen Elemente bedingt. Durch
Durchdringung und gegenseitige Ergänzung und Limitation, wobei
die positive Seite dem Objekt (transzendentales Objekt) die negative
(einschränkende) dem Subjekt (transzendentales Subjekt) angehört,
wird erst mit ganz bestimmter, naturmäßig gesetzter Bestimmtheit
diese Wirkung erzielt, welche die Erscheinung als Fertiges, erfahrungs-
mäßig Gesetztes bedingt. Erst die Untersuchung beider Beteiligungen
an sich, die Eigenschaf tlichkeit des transzendenten Objektes und
transzendenten Subjektes für sich betrachtet, in weiterer Folge die
Wirkungen des Objektes als auch die Tätigkeit des Subjektes mit
Einschluß der Aufklärung der restlos einsehbaren Verhältnisse der
diese begleitenden elementologischen Beziehungen (Kategorienlehre)
lassen dann mit Verbindung beider das letzte, als subsistierendes
Prinzip, als Ding an sich interpretieren. Beginnen wir der Einfach-
heit wegen mit dem Objekte selbst und verfolgen wir in aszendierender
Dialektik den Fortgang der Untersuchung bis zum transzendenten
Subjekte. An der Erscheinung ist außer ihrer räumlichen Ausdehnung,
(Materialität), noch die Gestalt, (Form), und die Farbe zu bemerken.
Erstere als räumliches Empfinden ist Folge der Apriorität des Raumes,
die Farbe ist bedingt durch die Tätigkeit des optischen Sinnes und
die Form (inkl. der Dimensionalität) kann nur durch vereinigte
Aktivität der Sinne und durch Präformation des Raumes im Sinne
der Kantischen Lehre gedeutet werden. Es bleibt daher von der
Erscheinung nur die Materialität der Materie übrig und diese ist es,
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 179
die die vom Subjekt völlig unabhängige, eine Eigenexistenz besitzende,
in ihrer qualitativen Besonderheit unerforschliche, eine Polarität
des Seins in sich befaßt und die man dem transzendentalen Objekt
gleichsetzen kann. Jedoch ist dies kein bloß passives Prinzip, denn
verschiedene Stellen der Vernunftkritik lassen mit zweifelsfrei deut-
licher Bestimmtheit erkennen, daß Kant diesem Seinprinzip eine
gewisse positive Aktivität zuerkannt wissen wollte. Die darauf be-
züglichen Stellen vereinigen sich in dem Lehrsatze (These) von der
Affektion durch das transzendente Objekt, und ihre Wirkung ist
der durch Affektibilität des inneren Sinnes (in weiterer Folge des
transzendenten Subjektes) sich manifestierende Effekt, Also im
ersten Stadium ein durch Aktivität des Objektes sich vorbereitender
psychischer Vorgang (I. Stadium der Erscheinungsbildung). Dieses
erste, reinste und unvermischteste Stadium in der vorläufig nur die
der Gesetztheit der Materialität entsprechende Wirkung des trans-
zendenten Objektes auf die geistige Substanzialität zur Geltung
kommt, ist das Stadium irritationis(a). Welcher Art diese Irritation
ist, welcher Eigenschaftlichkeit des gesetzten objektiven Prinzipes
sie entspricht, entzieht sich jeder wie immer gearteten Forschung.
Sie ist die stille Anteposition, der Grundpfeiler für Kants Lehre vom
Verhältnisse der Erscheinung und der psychischen Aktualität. Die
Wirkung geschieht jedoch nicht auf das Totale der psychischen
Substanz, sondern nur auf einen Teil derselben, der noch nicht durch
die zunächst höheren, vereinheitlichten Facultates psychicae berührt
wird, noch außerhalb der Wirkung der Apperzeption, Apprehension,
Rekognition und Reproduktion steht. Dieser Teil der psychischen
Sphäre stellt das dar, was wir das Unterbewußtsein nennen, dem
eine eigentliche primäre Aktivität nach Kant nicht zugesprochen
werden kann, und der erst durch die Reaktion auf die Affektion,
also durch das zweite Stadium der Erscheinungsbildung sich zu
höherer Psychoaktivität erhebt. Indem nämlich die psychische
Sphäre, soweit es die dem Objekte zunächststehende Seite betrifft,
auf die Affektion antwortet, entsteht die erste Tätigkeit des dem
Unterbewußtsein zunächst gerückten Teiles des Bewußtseins und
jenes des von Kant als empirischen Bewußtsein gedeuteten Teiles
der Psyche. Und dieses Moment, das in Hinsicht der Eut wickeln ng
des Erscheinungsbildes das zweite Stadium vorstellt (1>), in Hinsicht
der Aktualität von Seiten des Subjektes, das diesem zugehörige erste
180 Raff,
Stadium ist, äußert seine limitierende (weil die Materialität als solche
einschränkende Wirkung) in der Anschauung des Gegenstandes des
Objektes als einer Form. Die reine Form hat jedoch noch nichts
mit der räumlichen Anschauung zu tun. Um zu letzterer zu gelangen,
bedarf es noch der Verknüpfung von Materialität und Form zu einem
Element und Anschauung derselben unter der Bedingung der Apriorität
des Raumes als dem obersten Prinzipe des sinnlichen Bewußtseins.
In diesem Stadium kommt daher zuerst die Anwendung subjektiv-*
präformierter Prinzipien, die ihren Ausdruck in der transzendental-
idealen Apriorität, zur Geltung. Und wenn auch diese als konstitutive
und regulative Prinzipien des Subjektes in ihrer Anwendung auf die
empirische Realität des gegebenen Objektes einen höheren psychischen
Geltungswert hatten, als das Unterbewußtsein, ist dennoch seine Ein-
reihung in das Bereich des empirischen Bewußtseins gerechtfertigt und
erfährt seine Bestätigung und wissenschaftliche Sicherheit noch durch die
Tatsache, daß jenes Stadium des Entwicklungsganges des Erscheinungs-
bildes (pereeptio intuitiva) als Element für sich auch in jenen Zu-
ständen sich findet, in denen das Oberbewußtsein ausgeschaltet
ist (pathologische Zustände, Traumvorstellungen). Das Räumliche
an sich, ohne Beiziehung des Inbegriffes des Raumes als dem Raum-
begriffe, dessen Lokalisation ins Oberbewußtsein zu setzen ist, be-
weißt diese Tatsache und geben der Zweiteilung des Aprioritäts-
wesens, sowohl in Hinsicht der -Zeit und des Raumes, als auch in
Hinsicht der transzendenten Idealität und empirischen Realität
des Raumes selbst, als auch zuletzt die verschiedene Position des
Prinzipes der Einzelraumvorstellung, als des abstrakten allgemeinen
Rauminbegriffes, bereits interpretative Zustimmung.
Was nun das Wesen der Apriorität selbst anlanget, das schon
teils durch die ungenügende Aufklärung Kants, teils durch andere
Momente so viel Mißverständnisse hervorgerufen hat, ja das sogar
von einigen (Fichte) für identisch mit der Subjektivität angesprochen
wurde, glaube ich durch obige Erläuterungen vollkommen eindeutig,
wissenschaftlich bewiesen zu haben, daß der Apriorität nur als einem
formalen Prinzip des Subjektes der Rang eine Teilbetätigung (eines
actus singularis) zukommen kann. Bei Antezipation einer materialen
Substanz ist sie in der physiologisch-biologischen Eigenschaftlichkeit
des Denkorgancs begründet, (physiologische Apriorität), und dies
kann wieder Folge biologischer Entwicklung (Biomechanische, biovita-
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 181
listische Apriorität) entstehen oder immanent jedem höheren Organismus
(immanent-vitale Apriorität) zukommen. Letztere Apriorität wurde
scheinbar schon widerlegt durch den Sensualismus und zwar durch
das Fehlen des reinen, Ich- Bewußtseins in den ersten Jahren der Lebens-
entwicklung- und auch durch die Hypothese, daß allgemeine (generelle,
abstrakte) Begriffe (conceptus) erst durch permanent-empirische
Erwerbung im infantilen Lebensalter zur Erscheinung gelangen.
Dem ist jedoch nich so, und wir müssen sowohl einerseits die ein-
seitige sensualistische, als auch die Nativitäts-These ablehnen, da
es viel wahrscheinlicher ist (was sich auch durch Tatsachen erhärten
läßt), daß trotz dieser Fakta (sukzessive Entwicklung des Selbst-
bewußtseins und auch zeitliches Prius der reinen Vorstellungen
gegenüber den später sich bildenden Begriffen) nur die rein materiale
Seite des Denkorganes getroffen wird, nicht aber seine aktual-forma-
listische Seite. Und diese ist es, die (nach Kant) mit den präformierten
Schemata (die jeder Erfahrung antezedieren) und die der Erfüllung
durch den gegebenen Stoff harren, um zur Einheit des selbständigen
Begriffes sich zu formen. Die Apriorität ist daher bloß die gültige
bestehende Disposition, die Facultas functionis, das Subjekt (der
Träger), der auf das Gegebene der Anschauung gerichteten formalen
Tätigkeit. Und wenn schon bezüglich der Raumbegriffserklärung
hier einige Zweifel obwalten könnten, bezüglich der Apriorität, in
Hinsicht des inneren Sinnes, ist Kants Lehre unwiderleglich. Denn
es ist eine exakte, absolut sichere, durch Sclbstanschauung gegebene
Tal sache, daß die Sukzession der psychischen Elemente, die Erkenn-
barkeit der formalen Abwicklung der Elementa cogitandi auf einer
außerhalb jeder Erfahrung stehender, in uns gelegener Fälligkeit
der Psyche ruhen muß, da sie eben aller steigenden Bewußtheit ante-
zediert. Wird nun die Duplizität der Ontogenese gelehrt, dann ist
die Apriorität nichts anderes als die Affirmation der Beziehung
zwischen. Psychoaktualitäl und der sich darbietenden Materie, hie
oben bereits aufgestellte Wissenschaftsthese, daß die Apriorität
des Kauines dem Unterbewußtsein zugehörl und dabei gleichzeitig
einen Grenzbegriff darstellt, ist in Hinsicht obiger Dialektik zu be-
jahen. Scheinbar stellt damit die psychologische Tatsache, daß alles
der Erfahrung vorausgehende, dem höheren Bewußtsein angehöre,
im Widerspruche. Jedoch diese Ansicht ist längst verlassen, indem
mau bedenkt, daß auch die Sphäre des Unterbewußtseins jene Ele-
Arcliiv tüi- (:<!S(-.hirlitt< < 1 . r I 'li i li .-nphie. XXVI, 2. jo
182 Raff,
mente enthält, welche im Verlaufe der biologischen und physiologischen
Entwickelung schon früher dem Oberbewußtsein angehörten, dann
aber als immanente Qualitäten, als Eigenschaftlichkeit intuitiver
Denkzonen, sich manifestieren. Hier hinein gehört die Vererbung
erworbener Eigenschaften des physischen und psychischen Organismus
und zu gleicher Zeit die Wesensart der menschlichen Imagination.
Und hier zeigt sich gleichzeitig der Wert Kantischen Denkens, durch
seine Aufwerfung mehrerer neuer Probleme fruchtbringend auf die
Forschung der Psychologie gewirkt zu haben. Gehen wir wieder
zurück zum Räume, so ist einleuchtend, daß wir zwischen Einzel-
raumvorstellung, Raumempfindung und allgemeinem Raumbegriff
differieren müssen. Erstere ist die einzelnen äußeren Gegenständen
correspondierende psychische Darbietung, die Empfindung ist teils Folge
der Affektion durch die Materialität, im weiteren Folge sinnenphysiolo-
gischer Qualitäten und psychischer, reaktiver Aktualität. Beiihristdie
Annahme der Apriorität nicht absolut notwendig. Auch ist die
Empfindung des Raumes als der Ausdruck seiner empirischen Realität
anzusprechen. So bleibt für die Apriorität nur mehr die Perceptio
und der conceptus des Raumes übrig und diese ist nach Kant als jeder
Erfahrung vorausgehend anzusehen. Es zeigt sich daher, daß die
Interpretation des Raumes in psychologischer Beziehung viel kom-
plizierter ist, als dies die metaphysische Seite dieses Problemes
von vorneherein erscheinen läßt.
Fassen wir daher in Kürze das Wesen der Apriorität zusammen,
so können wir sagen, daß durch die Relation zu Raum
und Zeit der Umkreis derselben vollständig umschrieben ist; sie
ist derjenige Teil der Totalzone eines tätigen Bewußtseins, als dem
Träger aller psychischen Akte, der nur Anwendung auf diese zwei
Kategorien hat; sie hat als gültiges Prinzip ihre scharfe Begrenzung
einerseits gegen die Materialität, andererseits gegenüber den Kate-
gorien als den reinen Verstandesbegriffen. In bezug auf die Zeit
ist sie nur von sekundärer Bedeutung; in Hinsicht auf die Räumlich-
keit ist sie jedoch in der zeitlichen Sukzession der Formalprinzipien
das Primäre, da doch an dem uns bekannten Teile des Dinges an
sich die Raumerfüllung das erste, bestimmte und bestimmbare an
dem Wesen der Materialität ausmacht. In diesem Grenzbegriffe
birgt sich das Problem, ob mit dem Hinübergreifen der subjektiven
Tätigkeit (als Apriorität), das erste Moment der Phänomenalität
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 183
als Element sich bilden muß, weshalb wir mit der Erledigung ihres
Wesens jenen Punkt im Progresse der Entwicklung des Phänomenes
erreicht haben, jenseits dessen bereits alle weiteren Geschehnisse
partiell mit Bewußtheit und der Anteilnahme des transzendentalen
Subjektes beginnen.
Wir kamen hiemit zu jenem Stadium der Erscheinungs-
entwicklung, bei dem die Wirkung des transzendentalen Subjektes
noch nicht zur Durchdringung gelangte. Die nun folgenden Bezie-
hungen desselben lassen eine übersichtliche Darstellung aus dem
Grunde leicht zu, weil alle auf eine einzige Formel zurückführbar
sind; es ist die durchgängige superiore Wirkung des Subjektes über
das Objekt, des o r g a n u m meditaris über die data experientiae
objectivae. Diese Tätigkeit des Subjekts ist gleichzeitig nur der
Ausfluß seines Wesens als eines durchgängigen Einheitsprinzipes
und seine Actus ist identisch mit Vereinheitlichung des im obigen
Stadium gegebenen. Da jedoch das transzendentale Subjekt etwas
völlig unbekanntes ist, das reine Ich nach der Kantischen Lehr-
auffassung jedoch nichts Substantielles, sondern ein bloßes negatives
Prinzip, ein bloßes Bewußtsein, wie wir später noch ausführen werden,
so mußte Kant durch Einschiebung der synthetischen Einheit der
Apperzeption als dem eigentlichen, konkreten Ausgangspunkt der
vereinheitlichenden Tätigkeit, dieser die oberste und wichtigste psycho-
aktuale Tätigkeit zuschreiben, als der von dem transzendentalen
Subjekte am unmittelbarsten, ausgehenden Causa efficiens für die
drei Akte der psychischen Synthese. Wir können daher sagen, daß
der fertige Akt der Bewußtheit gegenüber dem Objekte erst mit
dem Eintreffen der Beziehung aller Stadien mit der synthetischen
Apperzeption zusammentrifft.
Die zur Synthesis der Apperzeption in Beziehung tretenden
einheitlich verknüpfenden Manifestationen des Bewußtseins sind
dreifacher Natur und als Synthesis apprehcnsionis, reproductionis
und recognitionjs anzusprechen. Es ist klar, daß diese drei Tätig-
keiten des Geistes, zu einer Einheit verbunden, auf ein. weiteres zu-
sammengefaßtes, vorgebildetes Prinzip bezogen werden mußten,
bevor sie zur Einheit der Apperzeption in direkte, unvermittelbare
Beziehung traten. Die Form dazu, in der der angegebene Inhalt
nunmehr sich ergoß, sind die Kategorien, als höchstes, noch selb-
ständiges Prinzip, ihrer Genese nach subjektiv, ihrer Anwendung
12*
184 Raff,
nach jedoch nur empirisch. Die drei Akte der Synthesis beziehen
sich zunächst auf das Manngfaltige an der Erscheinung. Und ihre
Einordnung und Unterordnung unter diese Aktualität der Appre-
hension bringt sie in eine gesetzmäßige Folge, sodaß sie dann nichts
in der empirischen Gegebenheit bietet, als das Wesen der Einheit;
daher ist, da wir in den Erscheinungen des Denkens sie vorfinden,
nur die Annahme einer subjektiven Genese der Einheitstatsache
notwendig. Die Apprehension ist auch zeitlich der erste Akt des
Selbstbewußtseins. Ist durch sie eine bestimmte Perzeption zur Auf-
fassung gelangt und befindet sich in dem empirischen Geschehen
eine bestimmte zweite Perzeption, wobei der kausal-notwendige
Konnexus beider gleichgültig ist (teleogisches und mechanisches Ge-
schehen), so wird bei Ablauf der bestimmten Perzeptionen (auch
in Abwesenheit des entsprechenden Perzeptionsobjektes), herbei-
geführt durch die Imagination, dieselbe Reihe der Vorstellungen
im Bewußtsein sich manifestieren, die Regularität im Erzeugen
korrespondierender Perzeption setzt wieder einen Aktus voraus,
dessen Transzendalität keines weiteren Beweises bedarf, und dies
ist nach Kant die Synthesis der Reproduktion, Apprehension und
Reproduktion sind korrespondierende, sich gegenseitig bedingende
Tätigkeiten der Psyche. Die erstere, als frühere, und von der Apper-
zeption entferntere, bezieht sich auf die räumliche Anschauung,
die letztere in Hinsicht ihrer Position zur Apperzeption auf das
Geschehen in der Zeit. Die erstere projiziert das Mannigfaltige,
erscheinungsmäßig differente des Phänomenes in eine Darstellung
(sie ist daher der konzeptualen Begriffsbildung schon nahe gerückt),
die Reproduktion projiziert die sukzedierende Reihe derselben.
]^och ist jedoch die Wirkung durch beide eine solche, daß in-
folge des relativ geringen Intensitätsgrades derselben eine klare Be-
ziehung zu den Kategorien und durch diese zum Selbstbewußtsein
nicht hervorgebracht wird. Erst durch Rekognition erhebt sich
die Aktivität bis zur Intensität der Bewußtheit, indem durch die
Synthesis der letzteren eine Relation zum numerisch-identischen
Selbst hervorgerufen wird. Sie können wir schon als konzeptuale
Funktion des Bewußtseins definieren, und die also als Produkt aller
drei Funktionen entstandenen Erkenntnisse geben nunmehr das sub-
stratum materiale für die formal-objektiven Kategorien ab. Und erst
durch diese wird das vorher apprehendierte, der reproduetio, als re-
Die Deduktion«- und Kategorienlehre Kants. 185
cognitio unterworfene, in eine Relation zum transzendentalen Subjekte
als dein Träger der Apperzeption (an dem Ichbewußtsein) gebracht;
zum klaren, reproduzierbaren, zirkumskripten Bewußtsein als eines
außer uns statthabenden Geschehens, mit Beziehung auf eine
unteilbare Einheit in uns, kommt es durch die Natur der Kategorien;
und sie führt zur unwiderleglichen Konklusion, daß der Träger all
dieser einheitlich-verknüpfenden Tätigkeiten auch ein reales Sein
für sich in Anspruch nehmen muß. Dieser unterwirft alles zufällig
Gegebene der Phänomenalität durch identische Tat der Gesetz-
mäßigkeit des Denkens.
So hatte Kant in seiner Deduktionslehre durch Progreß von den
Phänomenen bis zur Kategorie die wichtigsten erkenntnismäßigen
Punkte sowohl als Prinzipien aktualer Natur, als solche formaler
Wesenheit erforscht und als durchaus subjektive Quellen des Erkennens
demonstriert. Nunmehr mußte aber zur Erprobung des Experimentes
der Versuch gemacht werden, ob auch der nun rückschreitende Weg
vom Subjekt zur Erscheinung diese Fakta bestätigen konnte. Als
solche Erkenntnisquellen, die als Vermögen nach jeweilg geordneten
Regeln Erkenntnistätigkeiten in synthetischer Richtung ausüben,
bezeichnet er den Sinn, die Einbildungskraft und die Apperzeption,
so daß der Übersichtlichkeit und des klaren Verständnisses halber
folgende Tabelle dafür passend erscheint.
I. Fakultates (Vermögen) IL Aktus (Tätigkeiten).
a) Sinn (sensus) Synthesis der Apprehension.
b) Einbildungskraft (imaginatio) - - Reproduktion.
c) Apperzeption - - Rekognition.
Diese Tabelle lehrt in konkreter Weise, daß der Sinn durch die
Apprehension, die Imagination durch ihre Fähigkeit der Reproduktion
und die Apperzeption durch ihre Rekognition das qualitative Wesen
der Perzeptionen beeinflußt.
1. Affektion durch das Ding an sich.
2. Reaktion des empirischen Bewußtseins,
.'». Akzidenz der Apriorität.
1. Synthesis der Apprehension,
B. ' 2. Synthesis der Reproduktion,
3. Synthesis der Rekognition.
186 R a f t,
In A ist a) sowohl die Mitbeteiligung des transzendenten Ob-
jektes noch mitzunehmen, b) beginnt der empirische Charakter der
Kantischen Philosophie.
In B ist die Superiorität des Subjektes ausgesprochen, der ideal-
transzendentale Charakter das Vorherrschende.
Wir kommen nunmehr zu jenem Stadium des Entwicklungs-
ganges der Erscheinung, das das schwierige Problem der Kantischen
Philosophie überhaupt in sich birgt, nämlich zur Einordnung des
Phänomens in die Kategorie.
Wenn wir die Lehre Kants von den Kategorien uns vor Augen
halten, nach welcher dieselben genetisch als durchaus subjektive
Prinzipien zu deuten sind, deren Dasein in gar keiner Relation und
Abhängigkeit zur Phänomenalität steht, ist es schwer einzusehen,
wieso selbst bei Antezipation der psychischen Möglichkeit eines zwei-
fachen Bewußtseins (Rezeptivität durch Materialität und Aktualität
durch Subjektivität) die Vereinigung eines mechanischen Prinzipes
mit einem organischen, eines wirklichen und möglichen, eines zufälligen
(akzidentellen) und gesetzmäßigen (kausalen) zu einem bestimmten
Einheitsbilde (Kategoriale Einheit) statthaben könne ; dies führte uns
zu einem psychophysischen Parallelismus, der durchaus nicht den
Sinn der Kantschen Lehrmeinungen ausmachen könnte. Aber auch
die stufenweise gradatün fortschreitende Vermitteltheit des Allge-
meinen mit dem Individuationsprinzipe erscheint dem logischen
Denken kongruent dem Sinne der Vernunftkritik unmöglich.
Am besten hat diesen Hauptmangel der ganzen Kantischen Lehre
J. PI. Fichte erkannt, indem er ausführt: 1. wie paßten äußerlich
die Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes zu einander (Rezep-
tivität und Synthese sind durchweg, als in einem Bewußtsein gedacht,
unmöglich) und 2. wie ist innerlich logisch ihre Vereinigung, gerade
zu jener bestimmten Einheit der Erscheinung denkbar. Nehmen wir
das Gesamtbild der Phänomene als in seinem Verlaufe selbständig
an, soweit sich diese auf das Substrat stofflicher Prinzipien aufbauet,
und ist dieses Substrat die causa efficiens der Rezeptibilität des
Gemütes, so ist das durchaus Zufällige an dieser Polarität der Erschei-
nungen dargetan. Zu diesem regellosen Wesen des Mannigfaltigen
der Objektivität, welches also einen Aktus des Bewußtseins auslöst,
kommt die spontane Aktivität des Gesamtbewußtseins hinzu.
Die Sinnlichkeit der Erscheinungen bewirkt das Hervortreten der
Die Deduktion«- und Kategorienlehre Kants. 187
potenziellen Erkenntnisquellen (Apperzeption). Und diese legt die
Art ihrer Wirkung als eine gesetzmäßige in das Zufällige der Er-
nungen hinein, um gerade durch Vermittelung der Kategorien das
Einzelding zu erzeugen. Wollte man nicht eine hinter beiden causae
effieientes stehende gemeinsame Wurzel annehmen, so ist die Un-
möglichkeit eines Einzelbildes vollkommen einleuchtend. Eine ähn-
liche Vorstellung, jedoch dieses Problem einfacher auffassend, findet
sich bei Aristoteles in seiner Erklärung des övvolov (aus vh] und sldoq
bestehend), und bei einzelnen Scholastikern.
Die Kategorien bedürfen einer Bestimmung in der Zeit. Hierin
sieht Fichte einen Widerspruch mit der Lehre der subjektiven Genese
des Zeitbegriffes. Und mit völligem Rechte: denn die Auslegung
der Kategorienlehre macht den empirischen Charakter des Zeit-
begriffes zur notwendigen Voraussetzung, widerspricht daher den
Ausführungen des einleitenden Teiles der Vernunftkritik. Auch
ist nach Fichte nicht einzusehen, warum ausschließlich die Zeit und
nicht auch der Raum, von Kant zum Aufbaue des Schematismus
herangezogen wurde. In seinen diesbezüglichen, hochbedeutsamen
kritischen Ausführungen findet er, daß durch die alleinige Annahme
der Zeitbestimmung das Besondere dem Allgemeinen untergeordnet
sei. und dies sei lückenhaft, da ja auch unsere Vorstellungen zum
Teile in einem räumlichen Sinne sich abwickeln und in weiterer Folge
den Kategorien schließlich nur der Rang allgemeiner Begriffe zu-
erkannt werden müßte. Und da diese entweder empirisch oder rein
sind, so stellen die Kategorien nichts anderes vor, als die reinen gene-
rellen Begriffe. Fichte deklariert daher zum Schlüsse dieser kritischen
Ausführungen, daß durch die Kategorien die Einheit von Verstand
und Sinnlichkeit wieder hergestellt werde und daß behufs restloser
Vermittelung der an sich konträren Wesenheit eines allgemeinen
Begriffes und eine sinnliche Anschauung ein Drittes hinzukommen,
müßte welches die Allgemeingültigkeit der abstrakten Begriffe in
Hinsicht sinnlicher Anschauung darböte (als ein der Vernunft-
allgemeinheit zugehöriges selbständiges Prinzip), womit nichts anderes
demonstrieret wird als die Theorie, daß dem gegebenen Einzeldinge
materiales Substrat und formales Element azzedieren müsse.
188 Raff,
III.
Welches ist nunmehr das letzte Stadium, das zur fertigen, zur
wirklichen Erkenntnis führt? Es ist die Beziehung aller Erschei-
nungen zu einem im Wechsel des äußeren und inneren Geschehens
beharrenden Prinzip, dem Selbstbewußtsein oder dem Ich. Urteils-
mäßig formuliert, findet sich die Anerkennung seines eigenen Daseins
als eines konstanten Prinzips in dem Satze: Ich denke. Während
ähnlich schon bei Vorgängern Kants die Bedeutung des Ich hervor-
getreten ist, wurde jedoch immer nur apriori die Substantialität
des denkenden Subjektes prämittiert. In der Vernunftkritik wird
jedoch mehr auf die logisch-formale Seite dieses Problemes Beziehung
genommen, ja in erweiterter Dialektik überhaupt das Dasein eines
solchen, als eines substantiellen Prinzips bestritten. Es ist eben
gerade so Erscheinung, wie wir es auch in der objektiven Sphäre
nur mit Phänomenen zu tun hatten. Um die äußerst schwierigen
Darlegungen in Hinsicht des höchsten Einheitsbegriffes in uns bei
Kant verstehen zu können, sind folgende Erörterungen notwendig,
welche deutlich dokumentieren, daß wir es dabei nur mit einem
Grenzbegriffe zu tun haben. Dem faktischen Sein nach sowohl als
ein Ding an sich selbst oder als Erscheinung (Phänomenon) aller-
dings vollkommen einheitlicher Natur, ist dialektisch eine Teilung
des Ich-Begriffes durchaus notwendig, um nach solcher Art vor-
genommener Untersuchung darzutun, daß die in der rationalen
Psychologie vorzufindenden Eigenschaften unseres Ich gänzlich
hinwegzufallen haben. Diese Bestimmungen an der scheinbaren
Substantialität des Ich, wie Personalität, Inkorruptilität, Simplizität,
Idealität und Immortalität sind dann nur Prädikate (Azzidenzen)
an einem unbekannten Träger als dem transzendentalen Subjekte.
Nun ist im Ich zweifellos die Tatsache der Fähigkeit des Setzens
der auf die Außenwelt bezüglichen Vorstellungen gegeben; diese
Tätigkeit hat, insoferne sie den ganzen Bereich der Phänomene um-
faßt, auch sich selbst mitzunehmen, und so wäre auch die Vorstellung
vom Ich (das objektive Ich) nur der Ausdruck der Tätigkeit eines
unbekannten Subjektes. Es rückt mithin jede dem Selbstbewußtsein
noch so nahestehende Azzidentalität, selbst in unmittelbarster Form,
immer wieder dasselbe außer dem Bereich möglicher Einsicht und
Erkenntnis. Wenn wir jedoch obig aufgeführte Qualitäten dem
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 189
Selbst zuschreiben wollen, so wenden wir einfach die Kategorien
auf die Sphäre der Ideen und des Ich an, während doch nach Kants
Lehre dieselben nur eine Anwendung auf die mögliche Erfahrung
gestatten. Es ist dies daher ein Paralogismus der reinen Vernunft
und wir erhalten einen transzendentalen Schein. So wie nämlich
diese Elemente des Denkens in einem anderen als empirischen Ge-
brauche sich befinden, entsteht ein Paralogismus. Da nun der Begriff
des Einheitsbewußtseins in keinem Bereiche der empirischen Welt
sich vorfindet, deren Prinzipien und Elemente wir bereits besprochen
und solcher Art das Gesamtfeld des empirischen Bewußtseins sinn-
gemäß den Kantschen Lehrmeinungen und Thesen ausgemessen
haben, so ist es nur eine logische Folge, daß die Faktizität des Daseins
eines numerisch-identischen Selbsts, anderen Ursprungs sein muß.
Die dahin gerichtete Untersuchung, die Relation des Ich zum em-
pirischen Bewußtsein, zur Synthesis der Apperzeption, zu den Kate-
gorien, und zuletzt zu den Vernunftideen aufzuklären, den Schein
einer Personalität, Simplizität und der anderen Azzidenzen am Ich
dialektisch zu zerstören, gehört ins Gebiet der rationalen Psychologie.
Ausgehend von der realen Existenz der Vernunftsideen, als höchsten
1 )enkelementen ohne konkrete adäquat-objektive Bestimmung, deren
Wirklichkeit einfach aus der Notwendigkeit ihres Geschehens dia-
lektisch deduzierbar ist, die aber keine empirische Voraussetzungen
haben können, für deren Objektivität keine konkrete Basis auf-
findbar ist, die aber dennoch zu immer weiterer Abstraktion fort-
leiten, (woraus wir die Realität ableiten müssen) bespricht Kant
entsprechend der Dreiklassigkeit der Ideen, die daraus resultierenden
drei sophistikatorischen Konklusionen, von denen hier nur der auf
das Ich bezüglichen Erwähnung getan wurde, und eine solche Kon-
klusion, bei der von der bloßen nicht näher determinierten Gegeben-
heit des Ich auf die scheinbare Beharrung und einheitliche Realität
desselben geschlossen wird, ist ein Paralogismus der reinen Vernunft.
Kant unterschied strenge zwischen Verstandes- und Vernunfttätigkeit.
Sowie erstere die Regeln angibt für den Gebrauch der Erkenntnis
möglicher Erfahrung, so ist die Idee in höherem, dem konkreten
Empirismus entrückterem Bereiche die transzendentäre Bedingung
für dn\ Verstandesgebrauch.
Während jedoch die Elemente der Intellekt ualsphäre der Er-
kenntnis als vereinzelte, selbständige Prinzipien zugänglich sind,
190 Raff,
ist das Objekt der Vernunftideen etwas abstraktes, nämlich die Ein-
ordnung des Verstandesinhaltes in die Synthesis der Bedingungen,
aszendierend bis zur absoluten, unbedingten Einheit selbst. Und
diese Einheit selbst ist dreiklassig, d. h. unter keinerlei Bedingung
gehört das transzendentale Subjekt, das transzendentale Objekt
als Gesamtheit und die Totalität aller Erscheinungen als absolut
höchste Idee. Während die zwei letzten Prinzipien den Inhalt der
Kosmologie und Ontologie ausmachen, beschäftigt sich mit dem
Subjekt die rationale Psychologie. Wir können daher die Summe
aller Tätigkeiten des erkennenden, reflektierenden Denkvermögens
als Prädikate ansprechen, die sich insgesamt auf ein Subjekt als den
Träger und Ausgangspunkt beziehen. Und da dieses infolge der
Unmöglichkeit der Erkenntnis transzendentaler Prinzipien (infolge
des empirischen Gebrauches der Kategorien), und dann in Anbetracht
des Umstandes, daß die elementa rationis (die Ideen) nur in ihrem
Dasein als wirklich erschließlich, in ihrer Form und Reinhaltung
jedoch nicht faßbar sind (infolge der Impossibilität der Anschauung
und Vergegenwärtigung der transzendentalen Prinzipien), ist die Er-
kenntnis, bezüglich der Realität des Ichs als des transzendentalen
Subjekts zu af firmieren, seine qualitativen Bestimmungen absolut
unerforschlich. In dem weiten Felde des rationalen und intellektualen
Bereiches ist jedoch etwas zu finden, das wenigstens in seiner Phäno-
menalität durchaus als konstantes sich darbietet, das ist das Phäno-
menon eines Einzelnen, einer realen Einheit, auf das alle data ex-
perientiae (als Erscheinungen) und Reflexionen, als auf ein numerisch-
identisches, in der Sukzession der Zeit, konstante Beharrung zeigendes,
sich gleichbleibendes, Beziehung haben und dies ist eben die Er-
scheinung des Ich.
Die Ausschließung allgemeiner Bestimmungen bedingen die
Annahme, daß auch der Träger des Selbstbewußtseins für uns nur
ein Phänomen ist, das Ich selbst ein unbekanntes Ding an sich und
in dieser Hinsicht das von Hartmann also aufgefaßte transzendente
Subjekt. Nun bezeichnet Kant das Ich als Erscheinung mit voll-
ständig negativen Bestimmungen, ähnlich wie er es mit den Numenon
tut. Es ist weder Vorstellung, noch Begriff, sondern bloßes Bewußt-
sein (also eine logische Form) und da es die Kategorien nach oben
hin einheitlich abschließt, eine bloße Grenze zwischen der obersten
Sphäre des Denkens (dem Subjekte der synthetischen Apperzeption)
Die Deduktions- und Kategorienielire Kants. 191
^e
und dem transzendentalen Subjekte. Damit ist die substantielle
Wirklichkeit eines Individual-Ichs geleugnet und mit der durch nichts
gerechtfertigten Annahme einer dualistischen Auffassung der Vernunft-
kritik fällt der Begriff des reinen Selbstbewußtseins in Nichts zu-
sammen. Was noch übrig bleibt für die Möglichkeit der Einbeziehung
alles Erscheinungsmäßig-Empirischen auf Einheit des Denkens ist
die Apperzeption und mit Annahme eines Dynamismus der Kant-
schen Psychologie das empirische Bewußtsein als der Ausdruck der
nach unten reichenden verknüpfenden Aktualität desselben. Es
ist dieselbe Auffassung vom Ich wie in der modernen Lehre von diesem
nur bei Kant von einem rational-idealistischen dort von einem physio-
logischen Standpunkte heraus. Denn heute sieht man im Selbstbewußt-
sein nur die stufenweise Entwicklung (biologische und individuelle) der
psychischen Fähigkeiten bis zur Anerkennung eines Selbsts. Die
Sensibilität der zentripetalen Nervenstämme vermittelt die sinnliche
Beziehung zu den Dingen und bringt dieselben mit den Zentren
unseres Denkorganes (cerebrum) in Beziehung. Dort werden die-
selben entsprechend der Topik des Gehirns und associativ geordnet
und stellen die Summe der Eindrücke in Hinsicht der uns inne-
wohnenden Fähigkeiten zu apperzipieren. das Gesamtbewußtsein
her. So wie bei Kant ist auch hier die schlechthinnige Ausschaltung
eines substantiellen Ich durchaus nicht geeignet dem Probleme der
Personalität näher zu kommen. Die Widersprüche und schwierige
Vennittelbarkeit zwischen Vielheit der Erscheinung und Einheit
des Denkens kann auf diese 'Weise nicht gelöst werden.
So wäre durch obige Ausführungen die Phänomenalität des
Ich ausgesprochen. Und dieses Ich als Erscheinung ist ein rein
formales Prinzip, keine Vorstellung, kein Begriff, sondern ein bloßes
Bewußtsein. Es stellt kein reines Dasein, sondern nur eine Möglich-
keit dar. Es ist daher nicht an sich in reinster absoluter Form als
das bestimmende Objekt der Selbstanschauung, sondern es ist nur
das bestimmbare Selbstaxiom und unbedingter Grundsatz, der keines
weiteren Beweises bedarf und keinen weiteren auch zugänglich
erscheint.
IV.
Ziehen wir nun aus obigen Darlegungen den Schluß, so können
wir füglich sagen, daß es gerade die Deduktionslehre Kants gewesen,
192 . • Raff,
die eine eindeutige Antwort auf die vielumstrittene Frage nach der
Wesenart seiner Lehre, ob Empirismus oder Idealismus, uns in voll-
kommen klarer Hinsicht gestattet, und für die sich trotz scheinbarer
Widersprüche in seinen Ausführungen verschiedene unterstützende
Sätze aus seinem Hauptwerke anführen lassen. Sind doch, diese
Antithesen hauptsächlich deshalb behauptet worden, weil erstens
dem Aufbau seiner Lehre die stützende Einheitlichkeit des Funda-
mentes fehlt, da er seine Untersuchungen in einigermaßen regelloser
Weise und Form unternahm, und da zweitens als Folge dieses, je-
weilig bald die Superiorität empirischer Eigenschaftlichkeit seines
Seinsprinzipes, bald eine solche rationalistische Wesensart desselben
zum Vorschein gelangte und da drittens nicht zum mindesten mehr
die psychologische als die metaphysische und ontologische Seite
von ihm einer Demonstration unterzogen wurde. Dazu gesellt sich
die bei keinem Philosophen so deutlich und prägnant hervortretende
Eigentümlichkeit dort wo es einer zur Klarlegung einer mehr dog-
matischen These bedürfte, sich auf die negative-kritische Hypothese
zurückzuziehen. So kann mit Einbeziehung der Tatsache, daß Kant
nachdem er dem Denken und seiner möglichen Anwendungsweise
genaue Grenzen gezogen, nur innerhalb des so entstandenen Geistes-
bereiches die Struktur und den Gang der Denkelemente (in psycho-
logischer und nicht in logischer Hinsicht) genau untersuchte, seine
Lehre eher als eine Psychologie denn als eine Metaphysik inter-
pretiert werden, wie er denn überhaupt Metaphysik als Wissenschaft
negieret hat. Und in ersterer Hinsicht hat er teils durch genaue Dar-
legung der einzelnen Funktionen, die auf Erfahrung sich bezogen,
teils positives geschaffen, teils durch die Aufwerfung neuer Probleme
für die spätere Forschung anregend und belebend gewirkt. Welches
sind nun die Fundamente, auf denen die Suppositionen eines materialen
(realen) Seinsprinzipes mit selbständiger Existenz, dem Denksubjekte
anteponiert, beruhet: a) die Lehre von der Affektion des Geistes
durch das transzendentale Objekt, als welches nur die in ihrer Wesens-
art unerkennbare, in ihrem Dasein jedoch zu affirmierende Materialität
aufgefaßt werden muß und b) die Lehre von der empirischen Realität
des Raumes. Für die ideale Auffassung spricht die ganze Lehre von
der Apriorität des Raumes und der Zeit, von denactiones et func-
tiones mentis, dem Wesen der Kategorien, und der Einheit der
Apperzeption. So stehen sich zwei selbständige ontologische Prin-
Die Deduktions- und Kategorienlehre Kants. 193
zipien in durchaus voneinander getrennter, von einander in ihrer
höchsten Polarität unabhängigen Selbständigkeit entgegen und lassen
den Grundsatz aussprechen, daß Kants Philosophie eine rationalistische
gewesen ist. Und da trotz der zwischen und in beiden Daseins-
prinzipien wirkenden Einheit und durch zweifellose Überordnung des
psychischen über das materielle, die Affirmation der idealen Inter-
pretation sich ausspricht, so können wir doch nur zu dem einen Schluß
gelangen, daß die Philosophie Kants ein Idealismus gewesen ist,
da das Produkt des Phänomenes unbeschadet der jeweilig durch
Azzidentalität der Materialität des Bildes, doch als transzendentales
Prinzip sich manifestiert. Hiermit fallen alle entgegengesetzten
Hypothesen zusammen und müssen wir Kants Philosophie als Sub-
jektivismus ansprechen.
Resümieren wir nun schließlich obiges, und knüpfen daran all-
gemeine Konklusionen betreffs der Eigenart der Kantischen Philo-
sophie, so ist zu sagen, daß nach der eigentlich deskriptiv-psycholo-
gischer Weise seiner Lehre, betrachtet, nach oben dargestellten
Richtungslinien, es keinem Zweifel unterliegen kann, daß ungeachtet
aller bedeutenden und neuartigen Erweisungen der Charakter seiner
Philosophie eher ein analytischer als ein synthetischer gewesen ist.
Denn in dem gesamten Natur- und Denkgeschehen manifestiert sich,
wenn auch nicht eine doppelte Substanzialität, dennoch eine zwei-
fache Polarität (Materialität und Spiritualität). Wenn wir auch
die stufenweise verfolgbaren Zusammenhänge beider gleichgültig
der Antezipation der einen, konzedieren müssen, die Konstanz einer
Polarität wird immer durchbrochen und zwar im Grenzbereiche der
Organisiertheit und der Materialität, wie auch im Bereiche der un-
bewußten Vitalität und der selbstbewußten Intellegibilität. Mit dem
Versuche, in fortschreitendem Progresse eine Seite der allgemeinen
Seins-Polarität in die zweite Polarität hinüberzuleiten, wie dies durch
hypothetische Annahme anorganischer Elemente (Atome), belebter
Einheiten (Monaden) oder organischer Bestandteile (Zellen) geschieht,
gelingt es niemals, das wissenschaftliche Bedürfnis, nach Lösung
und einheitlicher Klärung der höchsten Probleme restlos zu befriedigen.
Auch der psych ophysische Parallelismus hilft über diese Schwierig-
keiten nicht hinwög. Was tat nun Kant, um sich in diesem Labyrinthe
zurecht zu finden? Er ging überhaupt von vorneherein über die
Frage doppelter Polarität hinweg, indem er die Erkennbarkeit
194 Raff,
des Dinges an sich leugnete (negativer Charakter seines Lehrbegriffes).
Er projizierte die Materialität auf das transzendentale Objekt, während
er das Selbstbewußtsein als ein Phänomenon, als einen Schein hin-
stellte. Dadurch schuf er zwei Grenzbegriffe, die Erscheinung und
die transzendentale Apperzeption, innerhalb derer sich die ganze
Möglichkeit positiver Wissenschaft befinde, jenseits derer jedoch
bestimmte Thesen nicht aufgestellt werden können.
XL
Wiederentgegnung.
Die Ausführungen des Herrn Husik im Beiheft zu Heft 3 des
Archivs für Geschichte der Philosophie Bd. XXV unter dem Titel
„Matter and Form in Aristotle" veranlaßten mich, die Frage der
Aristoteles-Interpretation in einer besonderen Schrift wiederauf-
zunehmen, die im Verlag von Georg Reimer-Berlin, als Anhang
zum Kapitel „Materie und Form bei Aristoteles" im ersten Bande
meiner Geschichte der jüdischen Philosophie, erscheint.
In diesem Anhang wird folgendes nachgewiesen:
1. In meiner Erwiderung in den Nrn. 3 u. 4 des Archivs für G. d.
Philosophie Bd. XXIV habe ich mich darauf beschränkt, H.s „Kritik"
der Wahrheit gemäß zu charakterisieren.
2. Die vielen griechischen und lateinischen Zitate, die H. bei-
bringt, zeugen nur von seiner vollständigen Unkenntnis des Gegen-
stands und der literarischen Erfordernisse der Situation.
3. H. hat die Autoren, die er jetzt zitiert, während der Abfassung
seiner „Kritik" nicht gekannt, wie er überhaupt von den involvierten
Problemen keine Ahnung hatte.
4. Viele der von ihm zitierten Stellen versteht H. überhaupt
nicht, in andere trägt er fälschlich das Gegenteil von dem hinein,
was sie besagen, und so zitiert er Stellen gegen mich, die in Wahrheit
für mich sprechen.
5. In manchen Fällen konstruiert H., um seine unglaublichen,
äußerst kompromittierenden Schnitzer zu decken, eine Kontroverse
zwischen den Interpreten, wo in Wahrheit keine besteht, und meine
Interpretation durch alle Autoritäten gedeckt ist.
6. Wo H. keinen andern Rat mehr weiß, da w e c h s e 1 1 er ein-
fach den Gegenstand der Kontroverse, indem er den ursprüng-
lichen Streitpunkt fallen läßt und etwas ganz anderes behandelt.
196 Neumark,
0
7. Eine nähere Prüfung der Ausführungen H.s ergibt, daß,
während er versichert, nichts von seiner ursprünglichen „Kritik"
zurückzunehmen, er in Wahrheit alles zurücknimmt: Von
der Wucht der von mir in meiner Erwiderung angeführten Tatsachen
und Argumenten gezwungen, nimmt H. die wichtigsten Punkte direkt
zurück, andere, indem er, konfuserweise, J a und Nein in einem
Zuge sagt.
8. Oft verwechselt H. Mein und Dein und bringt so die wunder-
lichsten Kombinationen von Elementen zustande, die zu prinzipiell
entgegengesetzten Standpunkten gehören.
9. Hier handelt es sich um die wichtigste Leistung dieses An-
hangs: Es war für H. ein leichtes, an Stellen, wo ich ausdrücklich
hervorhebe, daß ich von den Interpreten abweiche, diese gegen mich
zu zitieren. Ich benutze nun diese Gelegenheit, mich (nicht mit H.,
der in der Regel gar nicht weiß, worum es sich handelt, sondern) mit
den Interpreten auseinanderzusetzen. Entgegen dem unzulässigen
Verfahren H.s, die Stellen wild durcheinander zu werfen, um so im
Trüben zu fischen, gehe ich auf die Ausführungen Aristoteles in deren
systematischem Zusammenhang ein. Dadurch gelingt es mir, in ge-
drängter Kürze ein systematisches Bild der aristotelischen Metaphysik
zu entwickeln und den Nachweis zu führen, daß meine Interpretation
des Aristoteles die einzige ist, die alle Schwierigkeiten und Wider-
sprüche behett, und in der die sonst trivial, unzusammenhängend
und bedeutungslos erscheinenden Ausführungen Aristoteles systema-
tischen Sinn und philosophische Bedeutsamkeit gewinnen.
David Neumark.
XII.
Gregor Skovoroda, ein Philosoph der Ukraine.
(1722—1794.)
Von
Dr. Marie von Besobrasof in St. Petersburg.
„Die Welt hat mich fangen wollen und nicht gefangen". (In-
schrift auf dem Grabmal).
Glückselig sind diejenigen, denen es zu viel wird an dem vielen
Leben — seiner Mannigfaltigkeit und Pracht — teilzunehmen, die es
verstehen sich Grenzen zu stellen und das Leben in seiner Tiefe auf-
fassen. Glückselig die wahren Philosophen, zu denen unzweifelhaft
der ukrainische Weise Skovoroda gehört. Es muß auch das oft ver-
gessene Wort hervorgehoben werden — nicht Alles ist aus Einflüssen
zu erklären und die feinen Fäden zwischen den Denkern gesponnen
verblassen da, wo eine neue Macht zutage tritt. Diese ist das Originelle,
nie als Erzeugtes zu verstehen. Originell und elementar steht vor uns
der Glaubensphilosoph Skovoroda, Lehrer des Naturgemäßen und
des Ewigen, der schroffste Dualist, der je existiert hat, dessen Dualismus
ein verfeinerter Spiritualismus ist. Ein tiefer Abgrund teilt, seiner
Meinung nach, das Zeitliche, Vergängliche, Dunkle, den Schatten,
Körper, Lüge, Schwanz oder Ferse von dem Ewigen, Wahren, Hellen,
der Seele, dem Herzen, Haupte. Die Wahrheit ist ewig, weil unsicht-
bar und unsichtbar, weil ewig. Aus dem Wesen des Ewigen und des
Naturgemäßen entquillt der extreme Optimismus seiner Ethik. Das
Zeitliche, Sterbliche faßt er nicht minder extrem pessimistisch auf.
Originell gestaltete sich das Leben des schlichten Kosakensohnes,
der zur wandernden Akademie und Universität der Ukraina wurde.
10 Jahre nach dem Tode Skovorodas gründete Karasin die Harkowsche
Hochschule, und werden zu diesem Zwecke 618.000 R. nicht ohne
Kinfluß desjenigen gegeben, der es verstanden hatte die* Liebe zur
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI, 2. iq
198 Marie von Besobrasof,
Wissenschaft zu wecken. Das Geld wurde von Freunden und
Bekannten des wandernden Philosophen geopfert. Er kannte nur
fremde Dächer — große und kleine, hielt sich am liebsten in Bienen-
stöcken auf, hing leidenschaftlich an der schönen Dniepr-Heimat
und machte keinen Unterschied zwischen reich und arm.
„Das Volk schläft tief, wird aber erwachen", meinte ein Freund
Sk., der sich selbst Bauernpeitsche nnd seine Reden Bauerngewebe
nannte.
„Meine Flöte und ein Lamm (fremdes) gehen mir über alle Zaren-
kronen, lautete seine Antwort auf die Einladung der großen Catharina
nach Petersburg zu kommen, und er blieb seiner Armut treu. Zu
den 2 Hemden, Heften, Korb, Stock und paar Bücher paßte die
Tagesordnung: 4 Stunden Schlaf, langes Gebet um Mitternacht,,
kurze einzige Mahlzeit ohne Fleisch.
Als Jüngling hatte Skovoroda in der Hauptstadt gelebt, war
als Chorsänger am Hofe Elisabeths angestellt. Das Studium in einer
geistlichen Schule Kievs gab ihm tüchtige Kenntnisse der hebräischen,
griechischen, lateinischen und deutschen Sprachen. Sokrates, Plato,
Aristoteles, Epicur, Philo, Cicero, Plutarch, Marc Aurelius, Dionysius
v. Areopagita, Clemens und Origenes sind seine Gewährsmänner.
Eine Reise durch Wien, Ofen, Preßburg und die Schweiz bringt
ihn unter anderen in Verkehr mit Daniel Meinhardt in Lausanne
(1775). Derselbe wurde 1773 von dem beliebtesten Schüler Sko-
vorodas Kovalinski besucht und schien in seinem Äußeren, Manieren,,
Redeart eine große Ähnlichkeit mit dem Meister zu haben. Es gibt
eine Schrift Skovorodas (Dialog über die alte Welt), wo die Vorrede,
ein Brief an Kovalinski, „Daniel Meinhardt" zur Unterschrift hat.
Näheres über diesen Verkehr zu ermitteln, wie auch über den Be-
such bei Kant zu erfahren, ist mir nicht gelungen. Möglich ist
es, daß während dieser Reise Skovoroda die Rationalisten des
XVIII. Jahrhunderts kennen lernte und Reimarus las. Als origi-
neller Strich erscheint das warme Verhältnis zu Deutschland und
sein Franzosenhaß. Die französischen Lehrer in Rußland regen
den gläubigen Skovoroda unangenehm an.
Kurze Zeit bekleidet er die Ämter eines Lehrers der Poetik und
später der Moral an dem Harkovschen geistlichen Seminar und der
Poetik an dem Pereiasliawlschen. Die letzte Stelle verliert er, weil
der Bischof seine Poetik verwirft, und mit dem scharfen Wort an
( iregor Skovoroda. JM9
denselben gerichtet: „alias res spectrum, alia plectra", geht er.
Zweimal nimmt er seinen Abschied, weil ihm die Mönchskutte geboten
wird. Mönche sind seiner Meinung nach Pharisäer oder Affen der
wahren Heiligkeit.
Skovoroda hat 21 philosophisch-theologische Werke verfaßt,
meist in dialogischer Form (er selbst ist eine der Personen), 100 Briefe,
teilweise lateinisch, 30 Fabeln (anständige Spielzeuge. Ein
weises Spielzeug; ist eine Kraft; nichts ist lächerlicher als ein kluges
Äußere und leeres Innere, nichts angenehmer als ein komisches Ge-
sicht und innerer Ernst); 2 Parabeln, 30 Gedichte (Garten göttlicher
Lieder) und 7 Übersetzungen (Plutarch, Cicero, Sidronii Hosii, Über
die Einsamkeit). Nichts ist von ihm gedruckt — dazu war er zu arm
und zu bescheiden. Vieles wurde von seinen Anhängern abge-
schrieben, einiges ist verloren gegangen, wieder anderes fälschlich
unter seinem Namen verbreitet. Die erste Ausgabe seiner Werke
erschien 1861 in Petersburg (Lissenkov). Die zweite, vollständigere
ist von Prof. Bagalei (Harkov, 1894) besorgt und mit einer inhalt-
reichen Vorrede versehen.
Die Lebensbeschreibung Kovalinski, 1796 verfaßt, wurde nur
1883 veröffentlicht. Sie ist authentischer als vieles Andere, so die
Biographien Heß de Calve und Vernet (1817), Snegirefs (1823),
Hijdeus (1835). — 11 Fragmente aus „Gregor Skovorodas Lebens-
wandel und Wirkungskreis oder historisch-kritische Würdigung seiner
Schriften als Beitrag zu einer Geschichte der slavischen Volksweisheit
in Briefen an Joh. Jos. Görres, Professor an der Universität zu Mün-
chen" (deutsch). Ob diese Schrift gedruckt ist, bleibt ungewiß.
Hijdeu hat solche Schriften Skovorodas gekannt, die allen übrigen
Forschern unbekannt geblieben, und es kann Zweifel erregen,
ob dieselben echt sind. Es wird selbst von einer absichtlichen
Fälschung erwähnt, dieses ist aber tatsächlich nicht erwiesen. Wohl
aber ist es Prof. Bagalei gelungen darzulegen, daß Gavriil (Geschichte
der Philosophie in Rußland) Hijdeu abgeschrieben hat.
In den 40er Jahren des XIX. Jahrhunderts sind zu erwähnen
Sresnevski, in den 50er Askochenski, nach 1861 Danilevski, Kosto-
marof, Sumzof, Potebnia, Efinicnko. Das Verhältnis Skovorodas zu
Sokrates, Plato, Aristoteles, der Stoa und Philo ist von Professor
Zelenogorski aufgeklärt ]).
J) Voprossi plii]os(.|)liii i psychologii. 1894, 3 u. 4.
13*
200 Marie von Besobrasof,
Skovoroda wird mit Diogenes, Sokrates, Spinoza, Rousseau,
Lomonossof, Novikof verglichen und zum Manichäer, Skeptiker,
Freimaurer, Pessimisten und Rationalisten pur sang getauft. Alle diese
Vergleiche und Benennungen charakterisieren nicht die Weltanschauung
des Philosophen und wurzeln in einer flüchtigen Bekanntschaft
mit seinen Werken.
Als neu stellt sich die Definition der Philosophie 2) — als des
Fundaments der allgemeinen Bildung.
„Was ist die Philosophie? Das Hauptziel des menschlichen
Lebens. Das Haupt der menschlichen Taten ist sein Geist, Gedanke
und Herz. Jedermann hat ein Lebensziel, aber nicht jeder ein Haupt-
ziel, d. h. nicht jeder bekümmert sich um das Haupt des Lebens.
Der eine um den Leib (Magen), der andere um die Augen, Haare,
Beine oder irgendwelche Organe des Körpers, ein anderer um Kleider
oder leblose Dinge. Als das Haupt des Ganzen bestrebt sich die
Philosophie dem Geist Leben zu geben, dem Herzen Adel, dem Ge-
danken Klarheit.
Das Leben des Geistes ist Erkennen der Wahrheit. Hieraus
entquillt die Fröhlichkeit des Herzens und der Seelenfriede., Plato
sagt, es gibt nichts Süßeres als die Wahrheit. Sie ist anfanglos, ewig,
und wir sind in ihr, wie der Apfelbaum in seinem Kern.
Vernunft sondert den Menschen von den übrigen Geschöpfen
ab; deswegen muß er, um sein Lebensziel zu erfüllen, die Wahrheit
erkennen. Dank seiner Weisheit und Gnade hat der Schöpfer ihm
die Wahrheit nicht offenbart und bloß Streben gegeben (lessinginisches
Motiv — Bagalei). Darin besteht das wahre Leben. Suchen und
Staunen sind identisch.
Eine solche Tätigkeit belebt und erfreut die Seele. Läge aber die
Wahrheit offen, so gäbe es kein Staunen. Der Appetit würde ab-
nehmen, die Übersättigung folgen, dann Langeweile und Verzagtheit.
Philosophie ist die einzige Wissenschaft, die es nicht gestattet Gott
zu gleichen oder tierähnlich zu werden. Das Höchste, was es für den
Menschen gibt, ist Mensch zu sein. Der heilige Augustin kennt diese
Wissenschaft. Ihr gemäß ist der größte Mensch nur ein Punkt. „Ich
belernte mich der Tugend und lernte in der Bibel", sagt Skovoroda
von seinem Studium, das er mit 30 Jahren begann. Neu erscheint
2) Nach Zelenogorski im Sinne Plato's.
Gregor Skovoroda. 201
seine Deutung der Bibel, als einer der 3 Welten. Es gibt einen Tempel
oder die große Welt — den Makrokosmos, in dem wir leben, und in
demselben 2 kleine Welten — den Mikrokosmos — Mensch und die
symbolische Welt — die Bibel. „Ich glaube und weiß, daß alles,
was in der großen Welt existiert, auch in der kleinen ist, was in der
kleinen möglich, auch in der großen, dank ihrer Übereinstimmung
und der Einheit des Geistes, der sie erfüllt. Auch der Geist ist einfach."
Die Welt ist der Bauch der Ewigkeit, die Bibel ihre Wege. Sie ist
Gottes Hospital, Apotheke, ein Sphynx. In der Gottheit können
drei in einem und einer in dreien sein, — nach unseren menschlichen
Begriffen ist dies unmöglich. Wie die Kochbücher es lehren den
Magen zu befriedigen, die Modebücher sich schön zu kleiden, so lehrt
die Bibel das menschliche Herz zu veredeln. Theologie ist Ausrottung
böser Gedanken.
Mensch und Bibel haben zwei Naturen oder zwei Körper — einen
irdenen, sichtbaren, geschaffenen, sterblichen, sklavischen, und
einen geistigen, unsichtbaren, ewigen, freien, grenzenlosen, toten
und lebendigen Baum. „Deine Hand wird nicht faulen, sondern ist
ewig in Gott. Es vergeht der Schatten, nicht die wahre Hand." Es
gibt zwei Intellekte, zwei Willen, zwei Herzen. Zwei sind eins in
der Bibel — Geist und Körper, Gott und Schlange. Das Zeitliche,
Körperliche sind in der Bibel die Wunder, das Ewige der Sinn, das
yvwfti oeavzov. Diese ägyptische Weisheit ist zur hebräischen
Theologie geworden. Daß der buchstäbliche Sinn der Bibel zum
Atheismus führt, war Skovoroda klar. Ewigkeit und Zeit haben
denselben Bau, sind aber nicht dasselbe. Die alte Welt ist Schatten
der neuen — christlichen. „Man verleumdet mich, weil ich das alte
und neue Testament ablehne, — ich vernichte nichts, sondern ergänze
nur." Wie der Körper ohne Seele leer ist, so die heilige Schrift ohne
Glaube. Es ist aber nicht Rede vom Glauben an den Buchstaben.
Das fromme Herz geht den geraden Weg zu dem göttlichen Berg,
sinkt nicht ein in die Sümpfe des Aberglaubens — diesen Sklaven
der Leidenschaften — und vermeidet die rasende Gottlosigkeit. Aus
dem Aberglauben, der von Skovoroda mehr als der Atheismus be-
kämpft wird, entstehen Furcht, Hader, Hand- und Wortgefechte,
Sekten. Jede Sekte trachtet nach eigenem Besitz, und wo es Eigentum
gibt, wird das Hauptziel nicht erreicht. Weisheil kennt kein»' Sekten.
Nicht ohne Grund urteilt Plutarch, daß der Aberglaube schlimmer
202 Marie von Besobrascf,
sei als die Gottlosigkeit: lieber sage, es hat keinen Plato gegeben,
als er war undankbar, unverschämt usw. Es gibt nichts Galligeres und
Grausameres als den Aberglauben — der Vernunft bar. Besser nicht
lesen und hören, als ohne Augen lesen und ohne Ohren lauschen.
Der Mensch, der keinen Glauben hat, ist ein giftiges Tier. Wahres
Auge und Glaube sind identisch. Schwer der Unglaube. Was auf
dem Schiff der Kompaß ist, dasjenige im Menschen Gott — Mittel-
punkt, Kreis, die höchste Ursache der Ursachen. Nichts ist unser,
alles kann vernichtet werden, selbst unsere eigenen Götterbilder 3) —
diese Schatten der wahren Menschen — , ewig sind nur unsere Ge-
danken oder die Wahrheit, und wir sind in ihr versteckt, wie der
Apfelbaum in seinem Kern. Das Licht der Weisheit hat nur dann
in den Menschen Eingang, wenn er seine zwei Naturen erkennt,
daß zwei in einem und eins in zweien ist, unteilbar, nicht zusammen-
fließend, wie der Apfelbaum und sein Schatten.
Ist Skovoroda ein völlig konsequenter Denker, wie dies von
Prof. Zelenogorski angenommen wird4)?
Das Verhältnis von Seele und Körper flößt gewisse Bedenken ein.
Das Notwendigste im Menschen ist am spätesten geschaffen,
so das Herz. Jeder ist das, was sein Herz ist, z. B. der Wolf, der Biber
usw. — das Gesicht kann aber ein anderes sein.
Der Gedanke (Intellekt) ist auch Hauptpunkt. Mens cujusque
is est quisque (Cicero). Bei den Teutonen Mensch = mens, bei den
Griechen cpog oder Licht. Mens oder Herz ist Äußeres, Schatten, Ferne.
Herz oder Seele ist die Essenz, Kraft, der Kern des Menschen, die
,,ista", worin nur das Leben besteht. Ohne die ista sind wir tote
Schatten, wenn auch Herrscher aller kopernikalischen Welten.
Was ist die Seele, wenn nicht der Abgrund der Gedanken? Was
ist Gedanke, wenn nicht Wurzel, Same und Kern unseres Körpers?
Es ist unmöglich die Seele mit dem Körper zu vereinigen. Die
Seele kann unabhängig vom Körper leben, aber nicht ohne im Ver-
hältnis zu Gott zu bestehen.
3) Mein Körperchen ist ein kleiner Haufen und dieser langweilt mich.
4) Prof. Zel. widerspricht sich selbst, denn an einer anderen Stelle
behauptet er, daß die Widersprüche Sk. ihre Erklärung in dem Einflüsse
auf ihn der alten Philosophie haben, so hauptsächlich des philosophischen
Synkretismus.
Gregor Skövoroda. 203
Die Tätigkeit der Seele offenbart sich allmählich, je nachdem
der Körper kräftiger wird; sie paßt sich immer an denselben an —
in der Kindheit scherzt sie, lernt in der Jugend, urteilt im Mannesalter
und ruht im Alter. Seele ist Herrscherin der Sinne, ihr Minister.
Nur die Wahrheit ist die wahre Seligkeit und nur sie belebt das Herz,
welches in der Gewalt des Körpers steht. „Wenn du etwas im Geiste
erkennen willst, mußt du es zuvörderst im Körper oder Angesicht
■erkennen." Die Vereinigung erscheint eng und wunderbar zugleich.
Es ist nicht schwer, hier einen Widerspruch zu bemerken und
über das Verhältnis von Seele und Körper nicht im Klaren zu sein.
Dagegen kann eingesehen werden, daß der innere Verkehr der
Seele mit sich selbst dieselbe vom Körper absondert. Dieser Verkehr
ist das yvwd-i asavzov. Skövoroda spricht gegen die Verehrung
des Körpers bei den Ägyptern. Das Leben ist nicht mit dem Arshin
(3/4 Meter) der Jahre zu messen, sondern durch Taten. Die Regel
des Weisen lautet: , .wenige Jahre zu leben, lange Jahre tätig zu sein."
Das yvoi&i osaviov bei den Ägyptern vorhanden, wird von Sokrates
aufgenommen.
Ob die Schrift, worin Skövoroda sich mit Sokrates vergleicht,
authentisch ist, bleibt ungewiß. Es heißt dort:
„Wie blind wir da sind, wo wir es nicht sein müssen. Viele wollen
in Rußland die Piatos, Aristoteles, Zenons, Epicure sein und bedenken
nicht, daß die Akademie, dasLyceum und derPorticus aus der Wissen-
schaft des Sokrates entsprossen sind, gleich dem wie das Hühnchen
sich aus dem Ei entwickelt. Bis wir nicht unseren eigenen Sokrates
besitzen, können wir keinen Plato und irgend einen anderen Philo-
sophen haben. Vater, der du bist im Himmel! Wirst du uns bald
«inen Sokrates schicken, der uns zuvörderst der Erkenntnis unserer
selbst lehren wird, und nachdem wir uns erkannt haben, werden wir
diejenige Wissenschaft entwickeln, welche unsere eigene, natürliche,
sein wird. Es sei dein Name heilig in dem Gedanken deines Sklaven,
der es gedenkt und ein Sokrates in Rußland sein will. Aber das russische
Land ist größer als Griechenland, und nicht so leicht wird es deshalb,
dies Land mit der Predigt zu durchdringen. Es komme dein Reich,
und der Same soll keimen. Es werde dein Wille und meinem Urteil
gemäß soll das Wissen nicht nur den Priestern der Wissenschaft
gehören, die essen und sich äbersättigen, sondern dem ganzen Volke."
204 Marie von Besobrasof,
Dieses zu erfüllen fühlte sich Skovoroda berufen und diese Tätigkeit
machte ihn selig.
Außerdem schreibt ihm Hijdeu dreifache Erkenntnis zu — eine
individuelle, bürgerliche und göttliche — ich erkenne mich als
Johann, Russe und Gottes Ebenbild. Er soll Sokrates vorwerfen, daß
dieser nur die Erkenntnis erster Art kannte, wie Solon der zweiten
und Christus der dritten.
Die Welt ist eine Bühne, wo alle Gegenstände Masken tragen.
Mögen wir, so viel wir wollen, die Gegenstände, welche uns umringen,
tasten, wir fühlen nur eine undurchdringliche Fläche; umsonst kommt
uns der Mikroskop zur Hilfe. Die Berührung der Intellekte hingegen
elektrisiert sie und läßt Funken sprühen. In der tiefen Einsamkeit
können die Begriffe dunkler werden und die Menschen zu Feinden
des Menschen. Viele verstehen es nicht in der Einsamkeit mit sich
selbst zu verkehren, — sie tun es mitten in der Welt. Es gibt kein
einziges Insekt, welches nicht voll Wunder wäre. Das vom Fuß
zertretene Gras besitzt wunderbare Schönheit. Was uns verächtlich
scheint, könnte nach der Ursache unseres Verachtens fragen.
Aber um dieses zu begreifen muß der Mensch mit seiner Seele
verkehren. „Ich bin dann mitten in einer Welt, die spricht und mich
belehrt." Dank dem Verkehr mit der Seele fühlen wir in uns eine
Welt gleich der, in welcher wir leben. Diese Welt ist voll Freuden.
Dieser Verkehr hat zum Resultat die Betrachtung selbst, wie auch
derjenigen Gegenstände, die uns umringen, in weiser Vorsehung der
Handlungen und Vorgänge. Nur durch diesen Verkehr entkommt
der Mensch dem Chaos der Zweifel und des Ungewissen — diesem
Grab der Welt.
Der nachdenkende Mensch eilt mit zitternden Füßen zu sich
selbst um die Wahrheit zu erlangen, welche die Menschen verloren
haben.
Der Verkehr mit sich selbst gibt Sieg über den Tod. Das Gegen-
teil des Verkehrs bilden die Zerstreuungen, welche den Menschen
aus der inneren Welt in die äußere führen.
Wenn wir nachdenken, wissen wir, daß unsere Seele uns näher
ist als alles übrige. Unsere Seele ist etwas uns sehr Nahes und wiederum
Entferntes — nahe, weil sie unser bester Teil ist, entfernt, weil wir
mit ihr nicht verkehren wollen. Alexander der Große kannte seine
Seele nicht. Viele Philosophen haben nur aus Selbstliebe gearbeitet.
Gregor Skoyoroda. 20o
Wo kann man die Seele besser fühlen als in der tiefen Nacht?
Ist es nicht richtig zu sagen, die Seele ist mein einziges Gut — es gibt
kein Naturereignis, welches mich derselben berauben kann.
Vernichten wir die Liebe zu den Kleinigkeiten des Lebens und
haben wir die Seele allein im Auge. Wie viele Freunde würden wir
in diesem Falle verachten. Es gibt aber nichts köstlicheres, süßeres
und nützlicheres als Freundschaft, „Habe nicht 100 Rubel, sondern
einen Freund", sagt ein kleinrussisches Sprichwort.
Lieben, fühlen und erkennen sind die einzigen Fähigkeiten, die
Freude geben. Die Wissenschaft pflegt diese Fähigkeiten, schafft
sie aber nicht.
Warum lieben viele Sterblichen nicht ihre Seele?
Weil sie die Tugenden und Fähigkeiten nicht ehren, sondern
nur Reichtum verfolgen und Armut scheuen.
Die Erkenntnis ist der rechte Flügel, die Tugend der linke.
Mutter aller Tugenden ist reines Herz; die erste die Dankbarkeit;
Mutter aller Leidenschaften der Neid. Weisheit und Tugend sind
zwei Brüder — ein Blinder und Lahmer — , und ihre Vereinigung
gibt Glückseligkeit. Dazu gehören ein reines Herz, Heiterkeit, Seelen-
stärke und Seelenfrieden.
Der Mensch besitzt drei Mittel glücklich zu sein — wahre Ge-
danken, Erinnerung an wahre Gedanken und Hoffnung solche zu
haben. Das wahre Glück ist ein Seelenzustand, den alle erreichen
können, — dazu gehört nichts vom Menschen Unabhängiges.
Prof. Zelenogorski betont mit Recht den Moralismus Skovorodas,
was von Efimenko bestritten wird.
Liebe zur Tugend ist ein brennendes Licht, Liebe zum Laster
ein gelöschtes.
„Was macht Skovoroda im Leben? Wie zerstreut er sich?
Ich freue mich in Gott. Oblectatio, öiarqißri ist die Höhe, die
Blüte und der Kern des menschlichen Lebens, sein Zentrum". Die
körperliche Sättigung macht nicht heiter. In diesem Sinne lehrt
Epikur die Heiterkeit des Herzens sei dasjenige, was dem Menschen
das Leben gäbe. Auch Horatius, Seneca — vive hodie.
Je mehr Eintracht und Friede mit Gott, desto seliger und fried-
licher das Leben; desto weiter rückt der Schatten zurück und heller
wird es.
206 Marie von Besobrasof,
Die "Welt ist voll Heuchelei. Rede und "Wahrheit sind nie
identisch. Die "Welt preist das. was verachtet sein muß.
..Fliehe die Meinung der "Welt, suche die Einsamkeit auf, schließe
Freundschaft mit der Geduld, lebe mit Demut, sei eifrig bei Gott
dem Allmächtigen."
Liebe zum Nächsten ist nicht nur zuträglich, sondern süß, wenn
du dazu geboren bist. Liebe ist Form Gottes selbst. Gott ist Liebe.
Gottes Willen sich ergeben heißt mit anderen "Worten der Natur
gemäß leben, nicht aber der blinden Natur, sondern der göttlichen,
seligen, ewigen in uns. Neigung, Lust, Natur, Gottes Kraft. Gott
sind identisch. Naturgesetz = eine Notwendigkeit für die Seligkeit
der Menschen ist allgemein, eingeprägt in jedem Herzen, dem letzten
Sandkorn anheim.
Die Arbeit ist nützlich, wenn man Lust dazu hat. Ein kleines
Gefäß kann ebenso voll sein, wie ein großes, denn Gott hat jedem
das Seine gegeben. In diesem Sinne lautet die Antwort Skovorodas
an den Gouverneur Tscherbinin, der ihm nützlich sein will:
„Ich kann auf der "Weltbühne keine andere Rolle spielen, als
diejenige, welche ich gewählt habe — sie ist schlicht und sorgenfrei.
Fühlte ich mich dazu geboren die Türken zu schlagen, würde ich
mich mit dem Säbel umgürten und wegziehen."
Die Natur rächt sich an dem, der eine fremde Rolle spielt — die
Resultate sind Unzufriedenheit. Langeweile, Gram. Die Eltern sollen
die Fälligkeiten des Kindes genau betrachten und dieselben ent-
wickeln, nicht aber ihm etwas Fremdes aufbürden. Der Lehrer ist bloß
Diener der Natur. Bist du zum Studenten geboren, siehe ob es sich
so zuträft? Du bist vielleicht ein "Würmchen und unecht. Aus solchen
werden Drohnen geboren. Horche zu dir selbst auf, prüfe dich mit
Gefahr, schaue dich recht um. wenn es sich aber wirklich so verhält
und nicht Eitelkeit im Spiele ist. Gott selbst dich anruft und du Liebe
zu der Tätigkeit hast, die dir angeboren ist, folge Gott und laß
alles Übrige liegen."
Im ..Alphabet des Friedens- heißt es:
Similem ad similem ducit Dens, seine Gnade und geheimes Gesetz
— Natur und Verwandtschaft (Affinität) ist und deswegen sind ihm
drei Dinge zuwider:
A. Einen Beruf der Natur zuwider haben.
B. Das lernen, wozu wir nicht geboren sind.
Tregor Skovoroda. 207
C. Mit denen befreundet sein, mit denen man keine Verwandt-
schaft hat.
Diese drei Dinge machen zum Feind Gottes und dem Freund
des Teufels. Der Teufel sagt das Reich Gottes sei schwer zu erreichen.
Bonitas gravissima, malitia levissima, die größte Strafe für Böses
ist Böses zu tun, wie Lohn für Gutes Gutes zu schaffen.
Es ist im Gegenteil leicht selig zu sein und schwer böse. Dank
dem seligen Gott, der das Notwendige nicht schwer gemacht hat
und das Schwierige unnötig (Epikur). Der Wille der Menschen ist
frei und er wählt das wahre Naturgemäße, was das Tier nicht kann.
Was ist das Leben?
Wir finden folgende vier Definitionen, die den materiellen Pessi-
mismus und geistigen Optimismus Sk. zur Genüge charakterisieren.
1. Der Schlaf eines Türken von Opium betrunken, schrecklicher
Traum, — der Kopf ist schwer, das Herz stöhnt.
2. Eine Pilgerschaft. Ich gehe ohne den Weg zu kennen, wohin
und wozu.
3. Das vergängliche Leben ist der Schlaf unserer denkenden
Kraft. Es kommt die Stunde, wo der Schlaf ein Ende nimmt und
die Denkkraft erwacht. Unser Geist kommt in den Kreis des Seins.
Aus ihm herausgerissen ist es das Kind der Mutter beraubt.
4. Süße Freude des Herzens, welche das Streben zur Wahrheit
gibt. Unius interitus est. alterius generatio.
Das Leben des ukrainischen Philosophen war die Verwirk-
lichung seiner Lehre, kein Schatten und Samen, sondern der Apfel-
baum selbst, wenn man sein Steckenpferd paraphrasiert.
XIII
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen auf
Grund der Marbeschen Beziehungslehre.1)
Von
Heinrich Schüßler.
I. Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen.
§ 1. Die Duplizität des Beziehungsproblems.
Wie so manches andere philosophische Problem läßt sich das-
jenige der Beziehungen sowohl vonseiten der Psychologie,
als auch von seiten der Logik behandeln. Werden die psychischen
Vorgänge, die sich im Bewußtsein bei der Herstellung von Be-
ziehungen abspielen, festgestellt und analysiert, so haben wir die
psychologische Seite, fragen wir hingegen, unbekümmert
um die Qualität dieser Vorgänge, nur nach ihrem Sinn, nach ihrer
Bedeutung, so haben wir die logische Seite des Problems.
Diese Duplizität des Beziehungsproblems wurde nicht immer
scharf auseinander gehalten. Man hat inmitten logischer Er-
örterungen die Beziehungen auch von ihrer psychologischen
Seite betrachtet und so beide Seiten miteinander vermengt. Ich
erwähne hier nur kurz John Stuart M i 1 1 , der in seinem
„SystemderdeduktivenundinduktivenLogi k"2)
seine einfachen und zusammengesetzten Relationen von der logi-
schen, seine einfachsten Relationen aber von der psych o-
logischen Seite aus behandelt hat. Ausführlicher soll davon
noch in den letzten Paragraphen dieser Arbeit die Rede sein.
a) Karl Marbe, „Die logische Theorie der Beziehung und die Auf-
gabe der Logik". Vierteljahrsschrift f. wiss. Philos. u. Soziologie, Bd. XXXIV,
S. 1, Leipzig 1910.
2) Ges. Werke v. Gomperz. 1872, Bd. II, S. 56 ff.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 209
§2. Übersicht über die einzelnen Beziehungen.
Was für einzelne Arten von Beziehungen lassen sich bilden?
Man spricht von Raum- und Zeitbeziehungen, wie
z. B. „Der Tisch steht in dem Zimmer" und „Mein Bruder ist vor
mir geboren worden".
Man bildet Größenbeziehungen. Ich erinnere an die
arithmetischen Ausdrücke „a+b"; „a — b" oder „a+b=c". Auch
Beziehungen wie „Das Königreich Bayern ist ein Teil des Deutschen
Reiches" gehören hierher.
Sodann läßt sich eine ganze Gruppe von Abhängigkeits-
oder Funktionsbeziehungen herstellen. Man kann hierbei
konditionale, kausale, teleologische und eine
Reihe anderer Beziehungen unterscheiden. Eine konditionale
Beziehung hegt vor in dem Satze „Wenn das Getreide reif ist, wird
es gemäht". Der Satz „Die Wärme dehnt die Körper aus" enthält
eine kausale Beziehung. Eine teleologische Beziehung
ist vorhanden, wenn wir sagen: „Um den Zug noch zu erreichen,
eilte er fort." Andere zu den Abhängigkeits- oder Funktionsbeziehungen
gehörige Beziehungen sind z. B. die der W e c h s e 1 w i r k u n g.
Eine solche enthält der folgende Satz: „Gesetz und Sitte beein-
flussen einander."
Eine andere Art von Beziehungen sind die Ähnlichkeits-
und Kontrastbeziehungen. „Der neue Rathausturm ist
dem alten Festimgsturm ähnlich" und „Das Bild ist schön, aber der
Rahmen ist häßlich" sind Beispiele für solche Beziehungen.
Beziehungen ganz besonderer Art sind die Merkmalsbe-
ziehungen. Sie entstehen, wenn einem Gegenstand ein Merkmal
als zugehörig beigelegt wird, z. B. „Die Rose ist rot" oder „Mein Freund
ist tugendhaft". Hierzu sind auch die Urteilsbeziehungen
zu rechnen, die bei jedem Urteil zwischen Urteilserlebnis und Urteils-
gegenstand hergestellt werden3).
Die vorliegende Übersicht über die einzelnen Beziehungen macht
keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wollte nur die
geläufigsten und gebräuchlichsten von ihnen zusammenstellen. Es
lassen sich sicherlich noch eine ganze Reihe anderer Beziehungen
bilden. So viele Gesichtspunkte es gibt, unter
3) Siehe S. 222.
210 Schuß ler,
denen man irgend zwei Gegenstände betrachten
kann, so viele Beziehungen sind auch möglich.
Auffallen mag, daß bei unserer Übersicht ganz geläufige Be-
ziehungen wie „groß", „klein", „Vater", „Sohn" usw. nicht genannt
worden sind. Sie wurden mit Absicht unberücksichtigt gelassen,
weil sie vom Standpunkte der M a r b e sehen Beziehungstheorie
nicht zu den Beziehungen gehören. Die Marbe sehe Beziehungs-
theorie, von der aus die einzelnen Beziehungen in dieser Arbeit be-
trachtet werden sollen, wird im § 3 kurz dargestellt werden.
„Vater", „Sohn" und ähnliche andere Ausdrücke sind, vom
Marbe sehen Standpunkte aus betrachtet, keine Beziehungen,
sondern Gegenstände.
Auch „groß", „klein", „dick", „dünn" usw. sind nach Marbe
keine Beziehungen, sondern Beziehungsmerkmale.
Eine kurze Darlegung soll diese Auffassung erläutern. Unter
Gegenstand4) versteht Marbe alles, was irgendwie bezeichnet,
ja alles, was irgendwie Objekt werden kann. Zur Herstellung
einer Beziehung ist aber das Betrachten zweier Gegenstände
unter einem gemeinsamen Gesichtspunkte erforderlich. Alle Be-
ziehungen lassen sich daher wohl als Gegenstände, aber niemals läßt
sich ein einzelner Gegenstand als Beziehung auffassen.
Aus demselben Grunde geht auch schon hervor, daß „groß",
„klein" usw. keine Beziehungen sein können. Sie gehören nach
Marbe zu den Merkmalen, und zwar zu den Beziehungs-
merkmalen. Merkmale sind Unterschiede zwischen Gegenständen5).
Die Merkmale teilt M a r b e in zwei große Klassen ein, in E i g e n -
merkmale und in Beziehungsmerkmale. Eigenmerk-
male kommen einem Gegenstande an und für sich zu, z. B. „Der Würfel
ist hölzern". Hölzern kommt dem Würfel an und für sich zu. Be-
ziehungsmerkmale kommen einem Gegenstand nicht an und für
sich zu, sondern nur in Beziehung auf einen dritten Gegenstand,
z. B. „Der Würfel ist groß". Groß ist genau so wie hölzern ein Merk-
mal für den Würfel. Es kommt ihm aber nicht an und für sich zu
wie etwa hölzern, sondern nur in Beziehung auf einen dritten Gegen-
stand, den Beziehungsgegenstand, der in diesem Falle ein Würfel
4) A. a. 0., S. 1, u. Vierteljahrsschrift Bd. XXX, S. 465 ff. Leipzig 1906.
6) Vierteljahrsschrift Bd. XXX, S. 468, 469. Leipzig 1906.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 211
oder ein beliebiger anderer Gegenstand sein kann, der eben kleiner
ist als unser Würfel. Die Beziehungsmerkmale sind ursprünglich
an der Hand von Beziehungen gewonnen worden. Aber sie sind zu
Merkmalen und zwar zu Beziehungsmerkmalen herabgesunken.
§ 3. Marbes Beziehungslehre ,;).
Zur Herstellung einer Beziehung gehören mindestens zwei Gegen-
stände und ein beziehendes Subjekt. Wir stellen eine Be-
ziehung zwischen zwei Gegenständen h e r , w e n n
wir sie unter einem gemeinsamen Gesichts-
punkte, d. h. als Gegenstände eines bestimmten
oder mehrerer bestimmter koordinierter
Merkmale betrachten. Je nach den verschiedenen
Gesichtspunkten, unter denen wir zwei Gegenstände betrachten,
stellen wir verschiedene Beziehungen zwischen ihnen her. Die
einzelnen Beziehungen können indessen sinnvoll und sinnlos
sein. Eine Beziehung ist sinnlos, wenn das charakteristische
Merkmal auf beide Gegenstände prinzipiell nicht anwendbar ist,
d. h. wenn kein koordinierter Gegenstand bekannt oder denkbar ist,
dem das Merkmal zukommt. Ist das charakteristische Merkmal
aber auf beide Gegenstände prinzipiell anwendbar, so hegen sinnvolle
Beziehungen vor. Die sinnvollen Beziehungen sind entweder gültig
oder ungültig. Sie sind gültig, wenn das charakteristische Merkmal
den Gegenständen tatsächlich zukommt, aber ungültig, wenn es ihnen
nur im Prinzip, nicht aber in Wirklichkeit zukommt. Die Frage,
ob eine Beziehung gültig ist, läßt sich teilweise von der Erfahrung,
teilweise aber auch unabhängig von der Erfahrung beantworten,
allerdings unter Voraussetzung anderer gültiger Beziehungen. Eine
Beziehung ist nämlich auch dann gültig, wenn sie aus andern gültigen
Beziehungen abgeleitet werden kann. Urteile, welche die Gültigkeit
oder Ungültigkeit von Beziehungen ausdrücken, bezeichnet Marbe
als Beziehungs urteile. Richtige Beziehungsurteile heißen
Wahrheiten.
6) Karl Marbe, „Die logische Theorie der Beziehung und die Auf-
gabe der Logik". Vierteljahrsschrift f. wiss. Philos. u. Soziologie Bd. XXXIV,
S. 1. Leipzig 1910.
212 Sc büß ler,
§ 4. Subjektive und objektive Beziehungen.
Wir stellen eine Beziehung zwischen zwei
Gegenständen her, wenn wir sie unter einem
gemeinsamen Gesichtspunkte betrachten. Es
gibt Gesichtspunkte, die sich nur auf ganz spezielle Gegenstände
anwenden lassen, z. B. der Gesichtspunkt der K a u s a 1 i t ä t. Es
lassen sich eine ganze Reihe von Gegenständen namhaft machen,
die nie in einem Kausalitätsverhältnis stehen können, die daher
nie _ wenn es überhaupt noch einen Sinn haben soll — unter dem
Gesichtspunkte der Kausalität betrachtet werden können. Ich nenne
solche Gegenstände: mathematischer Punkt und Tugend, das Meer
und die Zahl jr, der Montblanc und Friedrich der Große usw. Die-
jenigen Gegenstände, "die sich unter dem Gesichtspunkte der Kausalität
auffassen lassen, sind ganz spezielle, mag ihre Zahl auch noch
so groß sein. Die Betrachtung unter diesem Gesichtspunkte erfordert
von den Gegenständen eine ganz bestimmte Beschaffenheit, die der
Gesamtheit aller Gegenstände nicht zukommt. Es sind ganz bestimmte
objektive Tatsachenverhältnisse, wie die Erfahrung uns lehrt,
die die Kausalität bedingen. Weisen zwei Gegenstände diese Beschaffen-
heiten nicht auf und werden sie trotzdem in Kausalitätsbeziehung
gebracht, so wird die Beziehung ungültig oder gar sinnlos.
Alle im § 2 aufgezählten Beziehungen sind solcher Art. Bei
ihrer Herstellung kommen samt und sonders nur spezielle Ge-
sichtspunkte in Betracht.
Anderseits gibt es aber Gesichtspunkte, unter welchen sich alle
Gegenstände ohne Ausnahme betrachten lassen, die also im Hinblick
auf die speziellen Gesichtspunkte von genereller Natur
sind. Alle Gegenstände lassen sich z. B. durch die Konjunktion „und"
als Glieder irgend eines einheitlichen Ganzen auffassen. Kein Gegen-
stand kann sich der Zusammenfassung mit irgend einem andern Gegen-
stand, wie sie durch die Konjunktion „und" ausgedrückt wird, ent-
ziehen, z. B. „Mein Tintenfaß und Piatos Ideenlehre sind Gegenstände
im Sinne philosophischen Denkens". Daher sind solche Beziehungen,
sobald sie von einem beziehenden Subjekt hergestellt worden sind,
immer sinnvoll.
Während also, wie wir gesehen haben, die Beziehungen der
speziellen Gesichtspunkte von erfahrungsmäßigen o b -
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 213
jektiven Tatsachenverhältnissen abhängig sind, sind die Be-
ziehungen der generellen Gesichtspunkte nur vom
beziehenden Subjekt abhängig.
Die Beziehungen lassen sich hiernach einteilen in objektive
und s u b j e k t i v e Beziehungen.
Objektive Beziehungen sind solche, bei
deren Herstellung spezielle, subjektive Be-
ziehungen sind solche, bei deren Her-
stellung generelle Gesichtspunkte in Be-
tracht kommen.
§ 5. Untersuchung der Subjektivität und
Objektivität einzelner Beziehungen.
Als Beispiel für die subjektiven Beziehungen war
im vorhergehenden Paragraphen die „u n d - B e z i e h u n g" ge-
nannt worden. Um Mißverständnisse zu vermeiden, sei hier hervor-
gehoben, daß unter diesem Begriff niemals „S u m m e n beziehungen"
wie 3+4 verstanden werden sollen, die durch „plus", aber auch durch
„und" ausgedrückt werden können. Unter ,,und-Beziehungen'
sind Beziehungen ganz eigner Art gemeint, wie beispielsweise „Vater
und Sohn", „Hof und Herd", „Mann und Maus", „Kind und Kegel"
usf. Während bei der „Summenbeziehung" der gemeinsame Ge-
sichtspunkt der ist, daß die beiden Gegenstände eine Summe i m
arithmetischen Sinne bilden sollen, ist es bei der „und-Be-
ziehung" derjenige, daß die beiden Gegenstände in gewisse m
Sinne ein einheitliches Ganze bilden. Unter
diesem Gesichtspunkte sind, wie schon hervorgehoben wurde, alle
Gegenstände ohne Ausnahme zusammenfaßbar. Der Gesichtspunkt
ist also generell und die Beziehung daher subjekti v.
Andere subjektiv e Beziehungen werden ausgedrückt durch
„o d e r" und ,,v o n — b i s". Der gemeinsame Gesichtspunkt bei
der „o d e r - B e z i e h u n g" ist der, daß jeder der beiden Gegenstände
an die Stelle dr< andern treten kann, daß es aber gleichzeitig dahin-
gestellt bleibt, ob es einer tatsächlich tut oder nicht. Alle Gegen-
stände lassen sich durch „oder" mit einander verbinden, wie folgende
Beispiele zeigen werden:
Auf die Frage: „Sagen Sie einmal, womit beschäftigt sich Herr
X.?" kann ich antworten: „Ich weiß nicht, beschäftigl er sich mit
Archiv iür Geschichte der Philosophie. XXVI. -'. jj.
214 Schuß ler,
dem Perpetuum mobile oder mit Herbarts Metaphysik." Ich könnte
auch sagen: „Er beschäftigt sich mit der Definition von „und" oder
mit der Konstruktion einer neuen Flugmaschine." Ähnliche Bei-
spiele lassen sich massenhaft bilden.
Eine dritte subjektive Beziehung soll ausgedrückt werden durch
„von — b i s". Die verschiedensten Gegenstände lassen sich als
Endglieder irgend einer Reihe zu einander in Beziehung setzen. Es
ist ganz dem Beheben eines Subjekts anheimgestellt, irgend welche
Gegenstände zu irgend welcher Reihe zu vereinbaren. Werden zwei
Gegenstände als solche Endglieder einer Reihe betrachtet, so entsteht
die „von — bis — Beziehung". Einige Beispiele mögen dies zeigen:
„Von der Existenz Gottes bis zum Wörtchen „und" ist schon
alles Gegenstand des Philosophierens gewesen." „Vom Nirwana der
Buddhisten bis zur Verständigung mit den Marsbewohnern sind noch
unzählige Rätsel dem Menschengeist zur Lösung aufgegeben". „Von
meinen Freunden bis zu meinen Eltern hat mich alles betrogen."
Eines hat die Betrachtung der subjektiven Beziehungen wohl
gleichzeitig mit gezeigt, ich meine den geringen Grad von
Selbständigkeit gegenüber den objektiven
Beziehungen. Sie vermögen sich — für sich allein — gar nicht
zu behaupten. Sie sind, wie eine Betrachtung unserer Beispiele zeigt,
stets in eine objektive Beziehung eingeschlossen. Sie sind — obwohl
gleichzeitig an sich Beziehungen — nur der eine oder andere Gegen-
stand von einer andern, von einer objektiven Beziehung.
„Mein Tintenfaß und Piatos Ideenlehre" ist unser Musterbeispiel
für die „und-Beziehung". An und für sich besagt es nicht viel.
Es fehlt noch etwas. Es muß noch hinzukommen: „sind Gegenstände
usw." Die „und-Beziehung" finden wir eingegliedert in eine Merk-
malsbeziehung.
Die „oder-Beziehung" „die Definition des Wörtchens „und"
oder das Perpetuum mobile" zeigt denselben Charakter der Unselbst-
ständigkeit. Es fehlt, um bei unserem Beispiele zu bleiben, der Mensch,
der sich mit ihnen beschäftigt. Also auch hier muß die subjektive Be-
ziehung ein Teil einer objektiven Beziehung, einer Funktionsbeziehung,
sein.
Genau so ist es bei der „von — bis — Beziehung". Was heißt:
„Vom Nirwana der Buddhisten bis zur Verständigung mit den Mars-
bewohnern"? Ein Mensch, der nur diese Worte ausspricht, wird
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 215
mehr noch sagen müssen, um verstanden zu werden. Er muß diese
subjektive Beziehung in eine objektive, sei es eine Merkmalsbeziehung
oder eine andere, eingliedern.
Zusammenfassend können wir sagen : Die subjektiven
Beziehungen müssen als Gegenstand in einer
objektiven Beziehung enthalten sein.
Wir wenden uns jetzt zu den objektiven Beziehungen.
Alle im § 2 aufgezählten Beziehungen, sagten wir, sind objektiver
Natur. Bei dem Nachweis dieser Behauptung wird es sich einmal dar-
um handeln, den speziellen Gesichtspunkt nachzuweisen und,
was damit eigentlich schon gegeben ist, die Möglichkeit ,daß sie sich
in sinnvolle und sinnlose, gültige und ungültige Beziehungen einteilen
lassen. Da das Kriterium für die Einteilung in sinnvolle und sinnlose
Beziehungen der Nachweis oder Nichtnachweis von koordinier ten
Gegenständen ist, zwischen denen die Beziehung wirklich stattfindet,
so empfiehlt es sich, zunächst einmal den Begriff der Koordina-
tion ins Auge zu fassen.
Wann ist ein Gegenstand „a" einem Gegenstande „b" koordiniert?
Der Gegenstand „a" ist dem Gegenstand „b" koordiniert, wenn er
unter den nächst höheren Begriff von„bu, wenn er unter das genus
proximum von „b" fällt.
Wann stellen wir eine R a u m b e z i e h u n g zwischen zwei
Gegenständen her? Wir stellen eine Raumbeziehung zwischen zwei
Gegenständen her, wenn wir sie unter dem gemeinsamen Gesichts-
punkte ihrer räumlichen Ausdehnung betrachten. Ist dieser Gesichts-
punkt von spezieller Art? Ja, denn er läßt sich nicht in sinngemäßer
Weise auf alle Gegenstände anwenden, wie dies unsere Beispiele zeigen
werden. Es gibt sinnlose und ungültige, neben sinnvollen Raumbe-
ziehungen. „Wo die Alpenflora herrscht, gedeihen keine Laubbäume
mehr" ist eine sinnvolle und gültige Beziehung. Behaupte ich aber,
„Wo die Alpenflora herrscht, da gedeihen keine Blumen mehr",
so ist diese Beziehung falsch oder ungültig. Denn die Alpenflora
weist eine ganze Reihe von Blumen auf. Aber sie ist noch sinnvoll.
Denn es gibt koordinierte Gegenstände zu der Alpenfloraregion, wie
die Steinregion und die Region des ewigen Schnees, wo tatsächlich
keine Blumen mehr gedeihen. In dem Satze „WTo die Alpenflora
herrscht, gedeiht die Zahl % nicht mehr" ist die Raumbeziehung
sinnlos geworden. Es geht prinzipiell nicht an, diese beiden Gegen*
14*
216 S c h ü ß 1 e r,
stände unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte der Raumausdehnung
zu betrachten. Dieser Gesichtspunkt ist folglich speziell und die
Raumbeziehimg objektiv.
Zu den Raumbeziehungen im weiteren Sinne gehören auch die
Ortsbeziehungen. Eine Ortsbeziehung liegt vor, wenn
wir zwei Gegenstände unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte ihrer
örtlichen Lage betrachten. In dem Satze „Berlin liegt in Preußen"
drücken wir eine gültige sinnvolle Ortsbeziehung aus. In dem Satze
„Berlin hegt in Baden" stellen wir eine ungültige sinnvolle Orts-
beziehung her. Behaupten wir aber „Berlin liegt im Pythagoräischen
Lehrsatz", so wird die Beziehung sinnlos. Daher gehört auch die
Ortsbeziehung zu den objektiven Beziehungen, weil ihr Gesichts-
punkt spezieller Natur ist.
Betrachten wir zwei Gegenstände unter zeitlichem Gesichts-
punkte, so haben wir eine Zeitbeziehung. Zeitbeziehungen
werden häufig durch die Partikeln „wenn — so" eingeleitet. „Wenn
der Winter beginnt, so hört der Herbst auf" ist eine sinnvolle und
gültige Beziehung. Die Beziehung „Wenn der Winter beginnt, so
hört der Frühling auf" ist zwar noch sinnvoll, aber doch schon un-
gültig. Denn sie trifft tatsächlich nicht mehr zu. Wohl aber gibt es
koordinierte Gegenstände, die mit dem einen oder dem andern der
beiden Gegenstände gültige Zeitbeziehungen bilden können, z. B.
„Wenn der Sommer beginnt, so hört der Frühling auf". Sinnlos ist
die Zeitbeziehung in unserem letzten Satze „Wenn der Winter
beginnt, so hört die Winkelfunktion im Dreieck auf". Prinzipiell
geht es nicht an, diese beiden Gegenstände unter dem gemeinsamen
Gesichtspunkte der zeitlichen Aufeinanderfolge zu betrachten. Auch
die Zeitbeziehimg hat sich hiernach als objektiv erwiesen.
Wir kommen zu der zweiten Gruppe unserer Übersicht, zu den
Größen beziehungen. Zu ihnen wollen wir zunächst Größen-
beziehungen arithmetischer Art, wie die Beziehungen der Summe,
der Differenz, des Produktes, des Quotienten, der
Gleichheit rechnen, sodann aber auch Beziehungen allgemeinerer
Art, wie z. B. die „Ganzes- und - T e i 1 - B e z i e h u n g e n".
Arithmetische Größenbeziehungen sind, wenn sie sinnvoll sein
sollen, nur zwischen Zahlengrößen möglich. Die Zahlen können aber
benannt und unbenannt sein. Betrachten wir zwei Zahlen unter dem
Gesichtspunkte der Summe, so haben wir eine S u m menbe-
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 217
ziehung, z. B. 9+6; 3 Äpfel + 2 Äpfel. Diese Beziehungen sind
sinnvoll. Bei den benannten Zahlen lassen sich auch sinnvolle un-
gültige Summenbeziehungen herstellen. Äpfel und Birnen sind
koordinierte Gegenstände. Sagen wir daher „3 Äpfel + 2 Birnen",
so haben wir eine sinnvolle aber ungültige Summenbeziehung herge-
stellt. Denn einmal lassen sich 3 Äpfel und 2 Birnen nicht tatsächlich
zusammenzählen, die Summenbeziehung trifft also nicht in Wirklich-
keit zu, anderseits läßt sich aber zu 3 Äpfeln ein koordinierter Gegen-
stand 3 Birnen denken, der mit dem andern Gegenstand 2 Birnen
eine sinnvolle gültige Summenbeziehung bildet. Eine sinnlose Summen-
beziehung liegt jedesmal dann vor, wenn statt einer oder statt beider
Zahlengrößen Nicht zahlengrößen als Gegenstände der Summen-
beziehung in Betracht kommen, wie z. B. „Gott + 5" oder „Der
Main + die Juraformation".
Genau aus denselben Gründen lassen sich sinnvolle und sinnlose,
gültige und ungültige Differenzbeziehungen bilden. Eine
Differenzbeziehung hegt dann vor, wenn wir zwei Gegenstände unter
dem Gesichtspunkte der Differenz betrachten. Die bei der Summen-
beziehung genannten Beispiele lassen sich durch Verwandlung des
Plus- in ein Minuszeichen ohne weiteres zu den entsprechenden Bei-
spielen der Differenzbeziehung abändern.
Wesentlich anders hegen die Verhältnisse bei der Produkten-
und Quotientenbeziehung. Solche Beziehungen entstehen,
wenn zwei Gegenstände unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte des
Produktes oder des Quotienten betrachtet werden. Der Multiplikator
eines Produktes und der Divisor eines Quotienten im arithmetischen
Sinne müssen notwendigerweise unbenannte Zahlen sein, während
Multiplikand und Dividend benannt sein können. Sind Multiplikator
und Divisor unbenannt, so sind die entsprechenden Beziehungen immer
sinnvoll und gültig, sind sie aber benannt, so sind die Beziehungen
immer sinnlos. 3x4 oder 3x1 Tisch; 9:3 oder 12 Nüsse :3 sind
sinnvolle Beziehungen. Aber 3 Tische x 4 oder 3 Tische x 4 Bänke
und 9: 3 Stühle oder 12 Bänke : 3 Stühle sind sinnlose Beziehungen.
Sinnlos sind natürlich auch alle diejenigen Produkten- und Quotientcn-
beziehungen, die zwischen N i c h t zahlengrößen hergestellt werden,
z. B. „Die Seele x blau" oder „Gott: Elefant". Sinnvolle aber un-
gültige Produkten- und Quotientenbeziehungen sind daher nicht au t-
zeigbar.
218 Seh ü ß 1 e r,
Betrachten wir schließlich zwei Gegenstände, unter dem gemein-
samen Gesichtspunkte der Gleichheit, so haben wir eine Gleich-
heitsbeziehung. 7 x 8 = 56 ist eine sinnvolle gültige Gleich-
heitsbeziehung, hergestellt zwischen dem Gegenstand 7x8, der
selbst schon eine Produktenbeziehung ist, und dem Gegenstande 56.
7x8; 3x8; 9x8 sind ohne Zweifel koordinierte Gegenstände. Bilden
wir nun die Gleichheitsbeziehung 3x8=56, so haben wir sicherlich
eine sinnvolle Beziehung hergestellt, denn ein koordinierter Gegen-
stand 7x8 bildet mit 56 eine gültige Beziehung. Sie selbst ist aber
ungültig, denn sie trifft tatsächlich nicht zu. Tritt aber an die Stelle
der einen Zahl in unserem Beispiel eine Nicht zahl, so wird die Be-
ziehung sinnlos. „7x8= einem Eichhörnchen" hat keinen Sinn.
Es läßt sich kein koordinierter Gegenstand zu Eichhörnchen auf-
zeigen, der mit 7x8 eine gültige Gleichheitsbeziehung bilden kann.
Zu den Größenbeziehungen gehören auch die ,,G a n z e s - u n d -
Teil-Beziehungen". Eine solche Beziehung wird zwischen
zwei Gegenständen hergestellt, wenn sie unter dem Gesichtspunkte
betrachtet werden, daß der eine einen Teil von dem andern bildet.
„Sachsenhausen bildet einen Teil von Frankfurt a. M." ist eine sinn-
volle Ganzes- und -Teil -Beziehung. Es gibt unzählige Städte,
deren Stadtteile besonders benannt sind, also koordinierte Gegenstände
genug mit gültigen derartigen Beziehungen. Unser Beispiel selbst
ist gültig, weil es tatsächlich einen Stadtteil von Frankfurt a. M. gibt,
der Sachsenhausen heißt. Sage ich aber: „Sachsenhausen bildet einen
Teil von Hanau", so stimmt diese Beziehung mit der "Wirklichkeit
nicht mehr überein. Sie ist ungültig geworden. Trotzdem ist sie
noch sinnvoll, weil es einen koordinierten Gegenstand — Frankfurt
am Main — gibt, bei dem sie tatsächlich zutrifft. Sinnlos wird die
Beziehung, wenn ich zwei Gegenstände, die niemals Teil und Ganzes
sein können, unter diesem Gesichtspunkte betrachte, z. B. „Sachsen-
hausen bildet einen Teil vom 1. Kongruenzsatz". Alle Größenbe-
ziehungen zeigen somit spezielle Gesichtspunkte auf und sind daher
objektiv.
Die dritte Gruppe soll dieAbhängigkeits-oderFunk-
tionsbeziehungen umfassen. Wir stellen derartige Beziehungen
zwischen zwei Gegenständen her, wenn wir sie unter dem gemeinsamen
Gesichtspunkte der Abhängigkeit oder überhaupt einer Funktion
betrachten. Nach der besonderen Art dieses Gesichtspunktes lassen sich
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 219
konditionale, kausale, teleologische und eine Reihe
anderer Abhängigkeitsbeziehungen bilden.
Eine konditionale Beziehung liegt vor in dem Satze
„Die Bestäubung des Wiesenklees (Trifolium pratense) ist von den
Hummeln abhängig". Sie ist sinnvoll und gültig. Keine andern
Insekten als die langrüsseligen Hummeln können den Wiesenklee
bestäuben. Setze ich in dieses Beispiel für Hummeln den koordinierten
Gegenstand „Bienen" ein, die den Wiesenklee ihres kurzen Rüssels
wegen überhaupt nicht bestäuben können, so erhalte ich eine zwar
sinnvolle aber ungültige Abhängigkeitsbeziehung. Behaupte ich
schließlich die Abhängigkeit der Bestäubung des Wiesenklees von einem
Gegenstand, der nirgends in der Natur jemals eine Rolle bei der Be-
stäubung von Pflanzen gespielt hat, so daß sich kein koordinierter
Gegenstand finden oder denken läßt, dem unsere Abhängigkeits-
beziehung in Wirklichkeit zukommt, so ist die Beziehung sinnlos:
z. B. „Die Bestäubung des Wiesenklees ist von der städtischen Straßen-
bahn abhängig".
Zu den konditionalen Beziehungen läßt sich in gewissem Sinne
auch die Grundbeziehung rechnen.
Wir erhalten eine Beziehung des Grundes, wenn wir zwei Gegen-
stände unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte des logischen Grundes
betrachten. Sie wird ausgedrückt durch die Konjunktion „weil".
„Das Zimmer wird geheizt, weil es kalt ist" enthält eine sinnvolle
und gültige Grundbeziehung. „Das Zimmer wird geheizt, weil es
heiß ist" ist eine sinnvolle aber ungültige Grundbeziehung. Sie ist
ungültig, weil sie in Wirklichkeit nicht zutrifft. Es wird keinem
Menschen einfallen, ein Zimmer aus dem Grunde zu heizen, weil es
heiß ist. Sie ist aber sinnvoll, weil es koordinierte Gegenstände gibt
- z. B. „Das Zimmer wird gekühlt" — , die mit dem andern Gegenstand
eine gültige Grundbeziehung bilden können. „Das Zimmer wird
geheizt, weil 1 + 1 =2 ist" ist eine sinnlose Grundbeziehung, weil es
prinzipiell nicht angängig ist, diese beiden Gegenstände unter dem
Gesichtspunkte dr^ logischen Grundes zu betrachten.
Kausalbezi e h u n g e n sind dann vorhanden, wenn wir zwei
Gegenstände unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte von Ursache
und Wirkung betrachten. „Der Druck der atmosphärischen Luft
bewegt die Quecksilbersäule im Barometer" ist eine solche Kausal-
beziehung. Sie ist sinnvoll und gültig. Setze ich in diese Beziehung
220 Schuß ler,
statt "Barometer" den koordinierten Gegenstand „Thermometer",
so erhalte ich die sinnvolle Beziehung „Der Druck der atmosphärischen
Luft bewegt die Quecksilbersäule im Thermometer". Sie ist aber
ungültig, weil sie in Wirklichkeit nicht zutrifft. Sage ich schließlich
„Der Druck der atmospärischen Luft bewegt die Zeiger meiner Uhr",
so ist diese Kausalbeziehung aus den bekannten Gründen sinnlos.
Eine teleologische oder Z w e c k b c z i e h u n g kommt
dann zustande, wenn wir zwei Gegenstände unter dem gemeinsamen
Gesichtspunkte des Zweckes betrachten. „Winkelried opferte sich
in der Schlacht bei Sempach, um die Schweiz zu retten" ist eine
sinnvolle und gültige Zweckbeziehung. „Winkelried opferte sich in
der Schlacht bei Sempach, um England zu retten" ist eine sinnvolle
aber ungültige Zweckbeziehung. „Winkelried opferte sich in der
Schlacht bei Sempach, um das Einmaleins zu lernen" ist eine sinn-
lose Zweckbeziehung. Es erübrigt sich wohl, die immer wiederkehrenden
Gründe aufs neue aufzuzeigen.
Von den andern Abhängigkeits- oder Funktionsbeziehnngen, die
sich noch bilden lassen, soll die Beziehung d e r W e c h s e 1 -
w i r k u n g besprochen werden.
Wir stellen die Beziehung der Wechselwirkung zwischen zwei Gegen-
ständenher, wenn wir sie unter dem Gesichtspunkte der Wechselwirkung
betrachten, z. B. „Magnetische und elektrische Wellen verstärken sich
gegenseitig'1. Diese Beziehung stimmt mit der Wirklichkeit überein, sie
ist daher sinnvoll und gültig. Treten in diese Beziehung für die „elek-
trischen Wellen" die koordinierten „Ätherwellen" ein, so verwandelt
sich die sinnvolle gültige in eine sinnvolle ungültige Beziehung. Be-
hauptet man gar „Magnetische Wellen und mathematische Punkte
verstärken sich gegenseitig", so ist die Beziehung aus den bekannten
Gründen sinnlos geworden. Überblicken wir sämtliche Abhängig-
keitsbeziehungen noch einmal, so finden wir bei allen spezielle Ge-
sichtspunkte; sie sind daher sämtlich objektiver Natur.
Als eine besondere Gruppe haben wir in unserer Übersicht die
Ähnlichkeitsbeziehungen aufgefaßt. Ähnlichkeits-
beziehungen kommen zustande, wenn zwei Gegenstände unter dem
gemeinsamen Gesichtspunkte der Ähnlichkeit betrachtet werden.
Wenn ich sage „Der Hügel, auf dem Montabaur liegt, ist dem Mons
Tabor in Palästina ähnlich", so betrachte ich beide Bodenerhebungen
unter dem gemeinsamen Gesichtspunkte der Ähnlichkeit. Weil es
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 221
einen Sinn hat. zwei Berge hinsichtlich ihrer Ähnlichkeit zu vergleichen,
ist unsere Beziehung sinnvoll. Weil die Ähnlichkeit ferner tatsächlich
vorhanden ist, ist sie gültig. Setze ich aber zwei Berge in Ähnlich-
keitsbeziehung zu einander, die absolut keine Ähnlichkeit haben,
so ist diese Beziehung ans dem soeben angeführten Grunde immer
noch sinnvoll — es ist vielleicht ein anderer Berg vorhanden, der die
geforderte Ähnlichkeit hat, zum mindesten ist ein solcher Berg denk-
bar — , aber sie selbst ist ungültig, weil sie in Wirklichkeit nicht zu-
trifft. Vollständig ungleichartige Gegenstände — wie der Montabaurer
Hügel und die Tugend — unter dem Gesichtspunkte der Ähnlichkeit
betrachtet, ergeben sinnlose Beziehungen, weil kein koordinierter
Gegenstand bekannt oder denkbar ist, dem das Merkmal „ähnlich"
in Wirklichkeit zukommt.
Die K o n t r a s t b e z i e h u n g , die wir zu den Ähnlichkeits-
beziehunoen im weiteren Sinne rechnen wollen entsteht durch die
o
Betrachtung zweier Gegenstände unter dem gemeinsamen Gesichts-
punkte des Gegensatzes. Sie wird ausgedrückt, durch das Bindewort
„aber"; z. B. „Eisen ist kein edles Metall, aber es ist nützlicher als
Gold." Diese Beziehung ist sinnvoll und gültig. Die Kontrastbeziehimg
aber „Kobalt ist kein edles Metall, aber es ist nützlicher als Gold"
ist zwar noch sinnvoll, weil „Kobalt" und „Eisen" als unedle Metalle
koordinierte Gegenstände sind, sie ist aber ungültig, weil in Wirklich-
keit Gold nützlicher ist, als Kobalt, das für uns fast gar keine Be-
deutung hat. Wie ganz ungleichartige Gegenstände unter dem Gesichts-
punkte der Ähnlichkeit betrachtet, sinnlose Ähnlichkeitsbeziehungen
ergaben, so ergeben dieselben Gegenstände unter dem Gesichtspunkte
des Kontrastes betrachtet, sinnlose Kontrastbeziehungen, z. B. „Das
Eisen ist kein edles Metall, aber der Himmel ist blau". Auch die
Ähnlichkeitsbeziehungen haben somit spezielle Gesichtspunkte und
gehören daher zu den objektiven Beziehungen.
Die letzte Gruppe unserer Aufzählung wird von den M e r k m a 1 s -
beziehungen gebildet. Merkmalsbeziehungen linden nur statt
zwischen einem Gegenstand einerseits und einem Merkmal anderseits.
Legen wir einem Gegenstande — beispielsweise „Gold" -- das Merk-
mal „gelb" zu, oder betrachten wir beide Gegenstände „Gold" und
„gelb" unter dem Gesichtspunkte der Zugehörigkeit, so haben wir
eine gültige sinnvolle Merkmalsbeziemmg hergestellt. Sagen wir
aber „Gold ist weiß", so ist die Merkmalsbez.iehung ungültig geworden.
222 Schuß ler,
Immerhin ist sie noch sinnvoll. Denn es gibt einen „Gold" koordi-
nierten Gegenstand „Silber", dem das Merkmal tatsächlich zukommt.
Bilden wir die Merkmalsbeziehung „Gold ist tugendhaft", so ist diese
Beziehung sinnlos. Denn es hat keinen Sinn, Gegenstände wie „Gold"
und „tugendhaft" unter dem Gesichtspunkte der „Zugehörigkeit"
zu betrachten. Es läßt sich kein „Gold" koordinierter Gegenstand
denken, noch viel weniger aufzeigen, dem das Merkmal „tugendhaft"
in Wirklichkeit zukommt.
Zu den Merkmalsbeziehungen rechneten wir auch die „U r t e i 1 s -
beziehunge n". Was darunter verstanden werden soll, läßt sich
am besten der M a r b e sehen Urteilsdefinition entnehmen. Diese
lautet :
„Urteile sind diejenigen Erlebnisse, die nach der Absicht des
Erlebenden direkt oder ihrer Bedeutung nach mit den Gegenständen
übereinstimmen sollen, auf die sie sich beziehen7)."
Bei jedem Urteil wird hiernach eine Beziehung herge-
stellt zwischen dem Urteilserlebnis (an sich oder in seiner
Bedeutung) und dem Urteilsgegenstand. Ich möchte daher
für sie den Namen „U r t e i 1 s b e z i e h u n g" in Vorschlag bringen.
Früher haben wir Beziehungen hergestellt, deren beide Gegen-
stände Dinge der Außenwelt waren, z. B. „Sachsenhausen ist ein Teil
von Frankfurt a. M.". Bei der Urteilsbeziehung ist der eine Gegenstand
immer das „Urteilserlebnis", der andere, der „Urteilsgegenstand",
kann beliebig variieren. Bei unserem Musterbeispiel im folgenden
ist er ein Ding der Außenwelt.
Zeige ich auf die Frage „Wo liegt das Frankfurter Opernhaus"?
mit dem Finger nach der Richtung ,in der das Opernhaus liegt, so
habe ich zunächst nach Marbe ein Urteil gefällt. Ich habe aber
gleichzeitig nach unserer obigen Auseinandersetzung eine Beziehung
hergestellt zwischen dem Urteilsgegenstand — dem Opernhaus —
und dem Urteilserlebnis — meinem Fingerzeig.
Nach der Marbe sehen Beziehungsdefinition werden bei der
Herstellung einer Beziehung zwei Gegenstände unter einem gemein-
samen Gesichtspunkte betrachtet. Die beiden Gegenstände sind bei
der Urteilsbeziehung das Urteilserlebnis (an sich oder in seiner Be-
deutung) und der Urteilsgegenstand.
') Karl Marbe, „Experimentell-psychologische Untersuchungen
über das Urteil". Leipzig 1901. S. 48 u. 52.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 223
Was ist aber der gemeinsame Gesichtspunkt? Offenbar der Um-
stand, daß sie zusammen ein Urteil bilden sollen.
Ist dieser Gesichtspunkt speziell und die Beziehung objektiv?
Läßt sich die Urteilsbeziehung in sinnlose und sinnvolle, gültige und
ungültige Beziehungen einteilen?
Auf die Frage „Wo Hegt das Frankfurter Opernhaus?" zeige
ich nach dem Mond. Ich erhalte dadurch eine sinnlose Beziehung.
Es hat keinen Sinn, das Frankfurter Opernhaus auf dem Mond zu
suchen.
Zeige ich aber dahin, wo das Opernhaus tatsächlich hegt, so
habe ich eine sinnvolle und gültige Beziehung hergestellt.
Zeige ich irrtümlicherweise nach einer falschen Richtung, z. B.
nach Nordwesten statt nach Osten, so ist es zwar eine sinnvolle Be-
ziehung, aber sie ist ungültig.
Somit gehören auch die Merkmalsbeziehungen samt den Urteils-
beziehungen zu den objektiven Beziehungen, weil ihre Gesichtspunkte
spezieller Natur sind.
§ 6. Weitere Untersuchungen der im § 5 abge-
handelten Beziehungen nach den Gesichts-
punkten der Mar besehen Beziehungslehre.
Wir haben im §5 gesehen, daß alle objektiven Beziehungen
sich der Marbe sehen Einteilung, die an der Hand von Merk-
malsbeziehungen aufgestellt worden ist, einordnen ließen,
während die subjektiven Beziehungen dieser Einteilung un-
zugänglich waren. Wie ist dieser Unterschied zu erklären?
Er erklärt sich einmal aus der Natur der generellen und der
speziellen Gesichtspunkte, sodann dadurch, daß alle ob-
jektiven Beziehungen zugleich Merkmals-
beziehungen sind. Letzteres sei an den einzelnen objektiven
Beziehungen nachgewiesen.
In dem Satze „Wo die Alpenflora herrscht, gedeihen keine
Laubbäume mehr" stellten wir, wie wir gesehen haben, eine Rau m -
beziehung her, indem wir die beiden Gegenstände „Alpenflora"
und „Laubbäume" unter dem Gesichtspunkte der „räumlichen Aus-
dehnung" betrachteten. Gleichzeitig enthält aber der Satz auch eine
Yh 'rkmalsbezichung. Wir konstatieren doch, daß dem Gegenstande
224 Schüßler,
„Alpenflora" das Merkmal „keine Laubbäume mehr habend" zu-
kommt.
Unsere Ortsbeziehung hieß: „Berlin hegt in Preußen."
Weil wir in diesem Satze dem Gegenstand „Berlin" das Merkmal „in
Preußen liegend" zuerkennen, ist die Ortsbeziehung zugleich eine
Merkmalsbeziehung.
In der Zeitbeziehung „Wenn der Winter beginnt, hört
der Herbst auf" wird zugleich ausgedrückt, daß dem Gegenstand
„Winters Anfang" das Merkmal „den Herbst beendigend" zukommt.
Auch die Zeitbeziehung enthält somit eine Merkmalsbeziehung.
Ist die Summenbeziehung „a+b" auch eine Merkmals-
beziehung? Wenn wir sie ihrer arithmetischen Formulierung ent-
kleiden, die ihrem Wesen nach doch weiter nichts als eine Abkürzung
ist, und sie in einem Satze ausdrücken, etwa in folgendem: Die Gegen-
stände a und b bilden eine Summe, ■ — die Formel „a+b" besagt doch
genau dasselbe — , so ist klar, daß den Gegenständen a und b das
Merkmal „eine Summe bildend" zugelegt wird. Wir haben also auch
bei der Summenbeziehung eine Merkmalsbeziehung. Bei den andern
arithmetischen Beziehungen ist dasselbe der Fall. Es dürfte sich da-
her erübrigen, den Nachweis im einzelnen zu bringen.
Unsere Ganzes- und -Teil-Beziehung lautete:
„Sachsenhausen bildet einen Teil von Frankfurt a. M." Weil hierbei
dem Gegenstand „Sachsenhausen" das Merkmal „einen Teil von
Frankfurt a. M. bildend" zugelegt wird, haben wir gleichzeitig eine
Merkmalsbeziehung hergestellt.
Ebenso wird in der konditionalen Abhängigkeits-
beziehung „Die Bestäubung des Wiesenklees ist von den Hummeln
abhängig" dem Gegenstand „Bestäubung des Wiesenklees" das
Merkmal „von den Hummeln abhängig" als zugehörig zuerkannt.
Bei der Grundbeziehung „Weil es kalt ist, wird das
Zimmer geheizt" wird gleichzeitig eine Merkmalsbeziehung her-
gestellt, indem dem Gegenstand „Kalt sein" das Merkmal „das
Zimmer heizen veranlassend" zugelegt wird.
Auch die Kausalbeziehung „Der Druck der atmo-
sphärischen Luft bewegt die Quecksilbersäule im Barometer" ist
eine Merkmalsbeziehung. Denn es wird dem „atmosphärischen Luft-
druck" als Gegenstand das Merkmal „die Quecksilbersäule des Baro-
meters bewegend" zugelegt.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 2 25
Die teleologische Beziehung „Winkelried opferte
sein Leben, um die Schweiz zu retten" ist zugleich eine Merkmals-
beziehung zwischen dem Gegenstand „Winkelrieds Opfertod" und
dem Merkmal „die Schweiz retten wollend".
Auch die B e z i e h u n g der Wechselwirkung „Mag-
netische und elektrische Wellen verstärken sich gegenseitig" läßt
sich als Merkmalsbeziehung betrachten, indem dem Gegenstand
„magnetische und elektrische Wellen" das Merkmal „des sich gegen-
seitigen Verstärkens" zugelegt wird.
Dasselbe ist bei den Ähnlich keits- und Kontrast-
beziehungen der Fall. In der Ähnlichkeitsbeziehung „Der
Montabaurer Hügel ist dem Mons Tabor ähnlich" wird dem Gegen-
stand „Montabaurer Hügel" das Merkmal „dem Mons Tabor ähnlich
seiend" zugelegt, und in der Kontrastbeziehung „Eisen ist kein edles
Metall, aber es ist nützlicher als Gold" wird dem Gegenstand „Eisen"
das Merkmal „nützlicher als Gold seiend" zugelegt.
Lassen sich die Urteils beziehungen auch als Merkmals-
beziehungen auffassen? Wird der Urteilsgegenstand durch das Ur-
teilserlebnis „bemerkmalt"? Ich glaube, daß dieser Auffassung nichts
im Wege steht. Merkmale sind Unterschiede zwischen Gegenständen.
Eine Bemerkmalung des Gegenstandes „Opernhaus" in unserem
Beispiel findet auch durch meinen Fingerzeig statt. Logisch ist der
Fingerzeig gleichbedeutend mit Worten. Jede Sprache ist nichts
weiter als ein Zeichensystem. Ob die Zeichen in Gebärden oder in
Worten bestehen, ist für die Logik gleichgültig. Wird daher die Ur-
teilsbeziehung als Merkmalsbeziehung aufgefaßt, so ist der Urteils-
gegenstand der Gegenstand und das Urteilserlebnis (direkt oder seiner
Bedeutung nach) das Merkmal für die Merkmalsbeziehung.
In den soeben besprochenen Beispielen war die objektive Be-
ziehung gültig und sinnvoll, daher war es auch die Merkmalsbeziehung.
Wäre jene ungültig oder gar sinnlos gewesen, so wäre es auch die
Merkmalsbeziehung gewesen. Der Sinn oder die Sinn-
losigkeit, die Gültigkeit oder die Ungültig-
keit einer Merkmals beziehung hängt demnach
von der entsprechenden Beschaffenheit der
in ihr enthaltenen objektiven Beziehung ab.
Damit soll aber nicht behauptet sein, daß jede Merkmals-
beziehung in ihrem Sinne oder in ihrer Gültigkeit von andern objek-
226 Schüßler,
tiven Beziehungen abhängig ist. Es gibt auch Merkmalsbeziehungen,
die davon unabhängig sind, z. B. „Die Rose ist schön". In den a n a
lytischen Beziehungen, wie z. B. „Alle Körper sind aus-
gedehnt", behaupten wir sogar die Gültigkeit einer Beziehung un-
abhängig von der Erfahrung.
"Wie es Beziehungen gibt, in welchen die Gültigkeit oder der Sinn
der Beziehung behauptet wird, so gibt es auch Beziehungen, in denen
es dahingestellt bleibt, ob die Beziehung gültig, ungültig oder sinnlos
ist. Solcher Art sind die problematischen Beziehungen
und die Beziehungen, die in Fragen enthalten sind. Bei den pro-
blematischen Beziehungen („Der Weg ist vielleicht beschwerlich.")
lassen wir es dahingestellt, ob die Beziehung gültig, ungültig oder
sinnlos ist. Bei den in Fragen enthaltenen Beziehungen („Ist der
Himmel blau"?) fragen wir erst nach dem Sinn und der Gültigkeit.
Beide Beziehungen können also in diesem Falle nicht behauptet
werden.
Werden aber Merkmalsbeziehungen, die, wie wir
gesehen haben, alle objektiven Beziehungen umfassen,
als gültig oder ungültig oder sinnlos hingestellt, so sind es U r t e i 1 e
im Sinne von M a r b e s Urteilsdefinitionen8). M a r b e nennt sie
im Gegensatz zu den Urteilen, welchen keine Beziehungen als Urteils-
gegenstände zugrunde hegen, also im Gegensatz zu den Urteilssach-
vorstellungen, Beziehungsurteile.
Umfassen die M a r b e sehen Beziehungsurteile alle
gewöhnlichen Urteile? Wenn wir für den Nachweis die Kant sehe
Urteilstafel zugrunde legen, so erhalten wir folgende zwölf Definitionen
des Urteils:
A. Urteile der Quantität.
1. Allgemeine Urteile sind Merkmalsbeziehungen, deren
Gegenstand ein Gattungsbegriff nach seinem ganzen Umfange ist.
(Alle Raubtiere fressen Fleisch.)
2. Besondere Urteile sind Merkmalsbeziehungen, deren
Gegenstand ein Gattungsbegriff nach einem Teil seines Umfanges
ist. (Viele Raubtiere sind schädlich.)
3. Einzelne Urteile sind Merkmalsbeziehungen, deren
Gegenstand ein Individuum ist. (Der Main ist ein Fluß.)
8) A. a. O., S. 9 und S. 48 u. 52.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 227
B. Urteile der Qualität.
4. Bejahende Urteile sind Merkmalsbeziehungen, die
behauptet werden. (Die Kose ist rot.)
5. Verneinende Urteile sind Merkmalsbeziehungen,
die abgelehnt werden. (Die Rose ist nicht rot.)
6. Unendliche U r t ei 1 e sind Merkmalsbeziehungen, deren
Gegenstand ein negatives Merkmal in bejahender Form zugelegt wird.
(Die Seele ist unsterblich.)
C. Urteile der Relation.
7. Kategorische Urteile sind gültige Merkmalsbezie-
hungen. (Der Main ist über seine Ufer getreten.)
8. Hypothetische Urteile sind Merkmalsbeziehungen,
deren Gültigkeit von einer Bedingung abhängig gemacht wird. (Wenn
das Tauwetter anhält, tritt der Main über seine Ufer.)
9. Disjunktive Urteile schließen von zwei gültigen
Merkmalsbeziehungen die eine durch die andere aus. (Die Länder
leiden entweder unter der Tyrannei oder unter der Anarchie.)
D. Urteile der Modalität.
10. Problematische Urteile sind Merkmalsbeziehungen,
welche die Möglichkeit der Gültigkeit der Beziehung offen lassen.
(Mein Freund ist vielleicht krank.) Man könnte auch kurz sagen:
Problematische Urteile sind problematische Merkmalsbeziehungen.
11. Assertorische Urteile sind gültige Merkmals-
beziehungen. (Gold ist gelb.)
12. Apodiktische Urteile sind gültige Merkmals-
beziehungen, deren Gültigkeit mit Notwendigkeit behauptet wird.
(Jeder Mensch muß sterben.)
Während auf alle Urteile die Prädikate richtig und falsch eine
sinngemäße Anwendung finden, läßt sich das Prädikat wahr nur
auf die richtigen Bezichungsurteile anwenden. Wahrheiten
sind richtige Beziehungs urteile.
Gültige Beziehungen lassen sich nur an der Hand von Erfah-
rungen aufstellen. Sind aber solche Beziehungen gegeben, so lassen
sich andere daraus unabhängig von der Erfahrung ableiten. Das ge-
schieht bei den rein 1 o gi s c h e n Schlüssen, bei der 1) e d u k t i o n
und vollständigen I n d u k t i o n.
228 S c h ü ß 1 e r,
Nicht rein logische Schlüsse liegen vor bei der unvollständigen
Induktion. Es wird dabei nicht mit logischer Stringenz geschlossen.
Gestützt auf die Erfahrung, sei sie empirisch oder außerempirisch,
wie K a n t die Mathematik auffaßt, beanspruchen wir die Gültigkeit
von Merkmalsbeziehungen, die in einer Anzahl von Fällen zutraf,
auch für andere Fälle.
II. Die Beziehungslehre in der neueren logi-
schen Literatur.
§ 1. Verschiedene neuere Beziehungslehren.
Unter den Logikern des 19. Jahrhunderts, die sich mit dem Pro-
blem der Beziehung befassen, sei zuerst M i 1 1 9) genannt. Er betrachtet
die Beziehungen als Attribute eines Gegenstandes, die nicht nur durch
den Gegenstand, dem das Attribut zukommt, und das wahrneh-
mende Subjekt allein, sondern noch durch andere Gegenstände bedingt
sind.
In jeder Relation ist eine Tatsache oder Erscheinung vorhanden
(war vorhanden oder wird vorhanden sein), an der die beiden Dinge,
zwischen denen die Relation stattfinden soll, beteiligt sind. Diese
gemeinsame Tatsache oder Erscheinung ist das fundamentum re-
lationis.
Läßt sich eine Größe in den Raum einer andern einschließen,
ohne ihn ganz auszufüllen, so ist diese Tatsache für die Relation
„groß und klein" das Fundament. In dem Falle eines Rechtsverhält-
nisses wie Schuldner und Gläubiger, Auftraggeber und Beauftragter,
Vormund und Mündel besteht das Fundament der Relation ganz und
gar aus Gedanken, Gefühlen und Willensakten entweder der betreffen-
den oder anderer daran beteiligter Personen, wie z. B. der Richter.
Ist das Fundament einfach (wie bei dem Beispiel „groß und klein"),
so ist auch die darauf gegründete Relation einfach, ist es aber ver-
wickelt (wie bei den angeführten „Rechtsverhältnissen"), so ist auch
die Relation verwickelt. M i 1 1 unterscheidet also
einfache und
verwickelte Relationen. Die verwickelten lassen sich in
einfache zerlegen. „Aus welch einer ungeheuren Menge von Teil-
9) „System der deduktiven und induktiven Logik". Ges. Werke v.
Gomperz. 1872. Bd. II, S. 56 ff.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 220
ähnlichkeiten muß die Ähnlichkeit zusammengesetzt sein, die uns dazu
bringt, von einem Porträt oder einem Landschaftsbild zu sauen,
daß es dem Urbild gleiche!"
Die einfachsten aller Relationen sind diejenigen, in denen
das fundamentum relationis keine von den Dingen verschiedene Tat-
sache oder Erscheinung ist, sondern bei denen es i n den Dingen
selbst hegt. Es sind die Relationen der Aufeinanderfolge,
Ähnlichkeit und Unähnlichkeit. Als charakteristische
Beispiele nennt Mi 11 die dem Sonnenaufgang vorausgehende Dämme-
rung, einen Menschen, der zwei Schwarz-Empfindungen und einen
Menschen, der eine Schwarz- und eine Weiß-Empfindung hat. Bei
diesen Relationen lassen sich nur zwei Gegenstände, aber keine Funda-
mente feststellen. Es ließe sich zwar beim ersten Beispiel die Auf-
einanderfolge als ein Drittes und somit als fundamentum relationis
und bei den andern Beispielen che Bewußtseinslagen (M i 1 1 nennt
sie Gefühle) der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit als Drittes, als Funda-
ment auffassen. M i 1 1 lehnt jedoch diese Auffassung als zu weit-
gehend ab und vereinigt die genannten Relationen zu der Gruppe
der einfachsten, in denen das fundamentum relationis in den
Dingen selbst hege.
John Stuart M i 1 1 kennt demnach
1. einfachste,
2. einfache und
3. verwickelte Relationen.
Nach Moritz Wilhelm D robisch 10), dem bedeutend-
sten Logiker aus der Schule Herbarts, gibt es zwei Arten syn-
thetischer Begriffsformen; solche mit innerem Zusammenhang der
Begriffe (connexus), z. B. die Zusammenfassung der Begriffe Mann
und Frau zu dem Begriff Ehe, und solche mit bloß äußerlicher Zu-
sammenfassung (comprehensio), z. B. die Zusammenfassung der
Buchstaben a, m, o und r zu dem Worte amor. Die äußerliche Syn-
these „besteht einzig und allein in der K o m b i n a t i o n unterscheid-
barer Element e".
Nur die innerliche Synthese liefert Begriffe, die im eigentlichen
Sinne des Wortes Beziehungen (rclationes) genannt werden dürfen.
10) „Neue Darstellung der Logik nach ihren einfachsten Verhältnissen,
4. Aufl. Leipzig 1875. S. 32, 34 ff.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 2. j;,
230 Schuß ler,
Zu ihrer Herstellung gehören mindestens zwei selbständige Begriffe,
welche Glieder oder Elemente der Beziehung heißen. Ihre im Denken
vollzogene Synthese ist die Beziehung.
D r o b i s c h faßt also die Beziehungen auf als synthetische
Begriffe, die inneren Zusammenhang haben und aus der Synthese
zweier selbständiger Begriffe entstanden sind.
D r o b i s c h unterscheidet einfache und zusammen-
gesetzte Beziehungen.
Die einfachen Beziehungen, bestehen zwischen nur zwei Begriffen.
So besteht die Beziehung Ehe zwischen den Elementen Mann und
Frau, die Beziehung Krieg zwischen Angreifer und Verteidiger.
Die zusammengesetzten Beziehungen bestehen zwischen mehreren
einfachen Beziehungen, die selbst wieder untereinander in Beziehung
stehen. So zerfällt die zusammengesetzte Beziehung Familie in
mehrere einfache Beziehungen zwischen ihren Gliedern, des Gatten
zur Gattin, des Vaters und der Mutter zu den Söhnen und Töchtern,
dieser untereinander als Brüder und Schwestern.
Jede Beziehung drückt entweder nur ein Verhältnis zwischen
den Beschaffenheiten ihrer Elemente oder auch noch ein Verhältnis
zwischen ihrer Setzung aus.
Beziehungen der ersten Art sind alle quantitativen und quali-
tativen Bestimmungen, wie groß, klein, dick, dünn und durchsichtig,
verbrennbar, schmelzbar, wärmeleitend.
Beziehungen, die neben den Beschaffenheitsverhältnissen auch
noch auf Verhältnissen der Setzung beruhen, sind die Beziehungen,
welche die Mathematik an den Zahlen, Figuren und Funktionen nach-
weist.
Bei Christoph S ig wart11) sind die Beziehungen Vor-
stellungen, welche die Vorstellungen von Dingen voraussetzen und
einen Inhalt haben, der durch die beziehende Tätigkeit des Subjekts
erzeugt ist.
Er unterscheidet
1. räumliche und zeitliche,
2. logische,
3. kausale und
4. modale Beziehungen.
") „Logik", Bd. I, S. 32 ff. Tübingen 1904.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 231
Die r ä u m liehen (wie rechts, links, oben, unten) und zeit-
lichen Beziehungen (wie vorher und nachher) entstehen durch
die subjektive Tätigkeit des Hin- und Hergehens, des „Linienziehens",
zwischen den in räumlicher und zeitlicher Ausbreitung angeschauten
Dingen. Das ist zugleich ihr Inhalt.
Auf die räumlichen Verhältnisse geht ursprünglich die Relation
des G anzen und der Teile zurück. Sie entsteht durch die
Zerlegung eines Ganzen in seine Teile und deren nachheriges Zusammen-
fassen zum Ganzen. (Bsp. : Körper = Kopf + Übriges, Hand =
Finger -f Handfläche.)
Diese Relationsvorstellung ist die Voraussetzung aller Vorstellung
von Groß e. (A ist größer als B, wenn B als Teil von A betrachtet
werden kann.)
Die logischen Beziehungen (Identität, Gleichheit,
Unterschied) entstehen durch die mit Bewußtsein vollzogene Tätig-
keit des Unterscheidens und Vergleichens.
Aus solchen Denkprozessen entspringen die Zahle n. Die Zahl
ist nicht dadurch gegeben, daß drei Dinge anders aussehen als zwei
und ein Ding; sondern dadurch, daß ich zähle, d. h. mit Bewußtsein
von einer Einheit zur andern fortschreite, erhalte ich die Vorstellung
der Zahl 3.
Der Inhalt der kausale n Beziehungen besteht in der Vor-
stellung des Wirkens. Wirken ist kein Tun. Tun ist eine Ver-
änderung des eigenen Zustandes oder eine Bewegung und dergleichen.
Wirken sagt, daß das Tun des einen Gegenstandes das des andern
hervorruft. Das Tun ist in der Anschauung gegeben. Das Wirken
ist hinzugedacht. Es ist das Produkt des verknüpfenden Denkens.
Die modalen Beziehungen (sehen, hören, gut, wahr, falsch)
bestehen in der Beziehung der Objekte unseres subjektiven Tuns
zu uns selbst als dem Subjekte geistiger Tätigkeit. Wenn ich etwas
als seiend denke, so steht das Gedachte zu mir als dem Denkenden
in einer Beziehung. Es ist aber keine Beziehung des Wirkens. Das
Seiende wird nicht durch mein Denken hervorgebracht. Es geschieht
ihm auch nichts, wenn ich es denke. Es ist aber auch kein Tun;
denn die Beziehung erstreckt sich auf ein vom Subjekt Verschiedenes.
Sie bilden eben eine besondere Klasse. Es gehören dazu diejenigen
Beziehungen, in welchen vorgestellte Objekte von uns begehrt, ge-
wünscht oder in ihrem Wette für uns beurteilt werden.
J5
232 Schuß ler,
Nach Wilhelm Wundt12) entstehen die Beziehungsbegriffe
durch die Tätigkeit des vergleichenden Denkens, das durch ent-
gegengesetzte Erfahrungsinhalte angeregt worden ist. (Durch über-
einstimmende Erfahrungsinhalte angeregt, entstehen durch dieselbe
Tätigkeit Gattungsbegriffe.)
Die entgegengesetzten Erfahrungsinhalte kommen als Gegen-
standsbegriffe für die Beziehung in Betracht. Wundt sucht zu
beweisen, daß die Beziehung nur durch Vergleichen von Gegenstands-
begriffen entstehen kann.
Der Begriffsvergleichung zugänglich sind nur Begriffe derselben
Kategorie. Weil jede Vergleichung ein Urteil erzeugt, das Subjekt
eines jeden Urteils aber ein Gegenstandsbegriff ist, so ist eine Ver-
gleichung nur zwischen Gegenstandsbegriffen möglich. Andere Be-
griffe müssen daher in Gegenstandsbegriffe umgewandelt werden.
Wir tun dies, wenn wir sie behandeln, als wenn sie Objekte
wären. (Rot ist eine Farbe. Empfinden ist eine Seelentätigkeit.)
Zusammenfassend können wir sagen:
Eine Relation entsteht nach W undt durch die Vergleichung
von Gegenstandsbegriffen entgegengesetzten Inhalts.
Er unterscheidet sechs Klassen von Relationen:
1. die Relation der Identität,
2. d e r Über- und Unterordnung,
3. der Nebenordnu n g ,
4. der Abhängigkeit und Wechselbestimmung,
5. die positiven und negativen Begriffe und
6. die dis paraten Begriffe.
Die Identitätsrelation besteht zwischen zwei Begriffen,
wenn sie sich vollkommen decken (z. B. A = A), oder wenn infolge
von Abstraktion der Verschiedenheiten sie als gleich gesetzt werden
dürfen. (Bsp.: Der Lehrer Alexanders des Großen — der Philosoph
aus Stagira. Beide Begriffe heben verschiedene Seiten der-
selben Person hervor, von denen wir jedoch absehen, wenn wir sie
als identisch setzen.)
Die Relation der Ü b e r - und Unterordnung erstreckt
sich ausschließlich auf das Umfangsverhältnis der Begriffe. Zwei Be-
12) „Allgemeine Logik und Erkenntnistheorie". Stuttgart 1906.
S. 110 ff.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 233
griffe stehen in dem Verhältnis der Über- und Unterordnung, wenn
der eine einen engeren Umfang als der andere hat, der in diesem voll-
ständig enthalten ist. (Bsp.: Die Katze ist ein Säugetier. Karl ist
verreist. Verreist ist in diesem Falle ein Gegenstandsbegriff geworden :
die verreisten Menschen.)
Die Relation der Nebenor d n u n g bezieht sich wiederum
auf den Begriffsumfang. Nebengeordnet kann nur sein, was in dem
Umfange eines allgemeineren Begriffes enthalten ist. (Bsp.: Rot-
Blau [Farbe]; Klang-Geräusch [Schall]; Mann— Frau [Menschen]).
W u n d t unterscheidet fünf Einzelfälle der Nebenordnung (dis-
junkte, korrelate, konträre, kontigente und interferierende Begriffe),
auf die wir aber nicht näher eingehen wollen.
Ist von zwei Begriffen eines allgemeineren Begriffssystems nur
der eine vom andern abhängig (wie die Bewegung vom Räume, die
Handlung von der Gesinnung, die Strafe von dem Verbrechen), so
haben wir eine einseitige Beziehung der Abhängigkeit, ist
ein jeder vom andern abhängig (wie Denken und Wollen, Gesetz
und Sitte, Verkehr und Lohn), so haben wir eine wechselseitige Be-
ziehung der Abhängigkeit oder eine Wechselbestimmung.
Die positiven und negativen Begriffe sind disjunktive
Begriffe. Der negative Begriff fällt mit dem positiven, den er negiert,
unter einen übergeordneten Begriff, der beide als disjunktive Glieder
enthält. (Diese Wand ist nicht rot, heißt nicht, sie ist hoch oder niedrig,
dick oder dünn; sie ist anders gefärbt.)
D i s p a r a t oder unvergleichbar sind zwei Begriffe, wenn sie
völlig verschiedenen Begriffsgebieten angehören und daher in kein
Verhältnis gebracht werden können. (Bsp. : Tugend— Viereck, blau-
redlich.)
Nach AI exi u s M ein o ng 13) entstehen die Beziehungen
durch die psychische Tätigkeit des Vergleichens. Man kann nur ver-
gleichen, was man vorstellt. Daher gibt es nur subjektive Beziehungen.
Stellt man eine Verschiedenheit zwischen Fuß und Meter fest,
so kann diese Relation nur auf die Vorstellungen von Fuß und Meter
gegründet sein. Es gibt also nicht ein, sondern zwei fundamenta
relationis, die nichts anderes sind als die verglichenen Vorstellungs-
inhalte selbst.
18) „Humestudien", II. Teil. Zur Relationstheorie. Sitzungsber. d.
Wiener Akademie, Philos.-histor. Klasse. Wien 1882. Bd. 100, S. 573 ff.
234
Schüßler,
Meinong unterscheidet zwei Hauptklassen von Relationen:
1. Idealrelationen und
2. Realrelationen.
Idealrelationen sind Relationen zwischen Vorstellungsobjekten.
Realrelationen sind Relationen zwischen „wirklichen Dingen".
Darunter sind aber keine Relationen zwischen außerpsychischen
Dingen zu verstehen, sondern Relationen zwischen dem Vorstellen
und dem Inhalte, auf den es gerichtet ist, zwischen Urteilen, Fühlen,
Wollen einerseits und dem, was beurteilt, gefühlt, gewollt wird,
anderseits.
Näher beschäftigt hat sich Meinon g in seinen „Humestudienu
nur mit den Idealrelationen.
Bei ihnen unterscheidet er einfache und zusa m m en-
gesetzte Relationen.
Die einfachen teilt er ein in
1. Vergleichungsrelationen und
2. Verträglichkeitsrelationen.
Vergleichungsrelationen entstehen durch die Vergleichung zweier
Attribute hinsichtlich ihrer selbst.
Verträglichkeitsrelationen entstehen durch die Vergleichung
zweier Attribute hinsichtlich ihrer Zeit- und Ortsbestimmung.
Die Vergleich ungsrelationen zerfallen in Relationen
der Gleichheit und
der Verschiedenheit. Bei diesen unterscheidet er wieder
Relationen der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit.
Eine Vergleichung kann keine andern Ergebnisse haben als
Gleichheit einerseits und Ungleichheit oder Verschiedenheit ander-
seits. Was gleich ist, ist vollkommen gleich, oder es ist überhaupt
nicht gleich, d. h. es ist verschieden. Ein Drittes gibt es nicht. Sind
bei der Verschiedenheit übereinstimmende Bestandteile vorhanden,
so reden wir von Ähnlichkeit, sind keine vorhanden, von Unähnlich-
keit.
Die Verträglichkeitsrelationen zerfallen in Re-
lationen
der Verträglichkeit und
der Unverträglichkeit.
Verträglich ist, was zusammen bestehen kann (Der runde Tisch
ist poliert), unverträglich, was nicht zusammenbestehen kann (Der
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 235
V°1'"V -m^^ii^ «VI WWUW1JUU .l^UlWlllUg
runde Tisch ist viereckig). Die „evidente Negation" — eine nicht
näher beschreibbare Art von Gefühl — , die sich alsobald aufdrängt,
sofern zwei Attribute hinsichtlich der Gleichzeitigkeit und Gleich-
artigkeit miteinander verglichen werden, macht das Wesen der Un-
verträglichkeitsrelationen aus. Tritt die Negation nicht ein, so haben
wir eine VerträgHchkeitsrelation.
■o*
Zu den zusammengesetzten Relationen oder
Komplikationen zählt M e i n o n g die Kausalität und Iden-
tität, Sie sind nichts als Komplikationen der aufgezählten einfachen
Relationen. Die Kausalität ist die Vereinigung bestimmter Ver-
gleichungs- und Verträglichkeitsfälle. Die Identität ist die Eigenschaft
eines Dinges, Fundament mehrerer Relationen zu sein.
Meinongs Schüler haben wiederholt in den „Untersuchungen
zur Gegenstandstheorie und Psychologie" 14) die Relationen behandelt.
Wir skizzieren zunächst M a 1 1 y s Darlegungen über die Relationen.
Ernst Mally 15) sagt:
Eine Qualität, die nicht an einem Gegenstand, sondern zwischen
Gegenständen besteht, ist eine Relation.
Den Gegenstand definiert Mally folgendermaßen16):
„Alles, was etwas ist, heißt ein Gegenstand. — Das Gebiet der
Gegenstände umfaßt also schlechthin alles, ohne Rücksicht darauf,
ob es gedacht oder nicht gedacht, oder ob es überhaupt denkbar ist."
Unter einer Qualität versteht er jede implizite Eigenschaft,
die kein Objektiv ist 17).
Jeder Gegenstand ist irgendwie beschaffen. Diese Beschaffenheit
oder diese Bestimmung oder dieses „Sosein", wie Mally sich auch
ausdrückt, ist eine Eigenschaft des Gegenstandes, der dadurch
bestimmt wird. Ist die Eigenschaft tatsächlich an dem Gegenstand
so ist sie eine implizite Eigenschaft.
Jeder Gegenstand hat zwar ein „Sosein", aber nicht jeder ein
„Sein". So hat ein allwissender Mensch ein Sosein (er ist eben all-
wissend), aber er hat kein Sein (ein allwissender Mensch existiert
nicht). „Sein" und „Sosein" werden von M e i n o n g und seinen
14) Herausgegeben von A. M e i n o n g. Leipzig 1904.
15) „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie des Messens". III. Auf-
satz in Meinongs Unters. Leipzig 1904. S. 141, 142.
16) A. a. 0., S. 126.
17) A. a. O., S. 141.
236 S c h ü ß 1 e r,
Schülern „Objektive" genannt und allen andern Gegenständen,
die dann Objekte heißen, gegenüber gestellt.
A ist verschieden von B. Verschieden sein ist eine Relation, d. h.
eine Qualität nicht an A und nicht an B, sondern zwischen A
und B. Sie ist tatsächlich vorhanden, also implizit. Sie ist aber kein
„Sosein" von A und kein „Sosein" von B, sie ist auch kein „Sein"
von A und B. Daher ist sie kein „Objektiv".
An einzelnen Relationen führt M a 1 1 y die von Meinong her
bekannten Relationen der Ähnlichkeit, Gleichheit, Verschiedenheit
und Verträglichkeit auf.
Rudolf Ameseder, ein anderer Meinong schüler,
stimmt mit M a 1 1 y nicht überein. Er betrachtet die Relationen als
Soseinsobjektive und stellt sich damit zu M a 1 1 y in Gegen-
satz, der doch von den Relationen als Qualitäten behauptet, daß
sie keine Objektive sind. Ameseder schreibt18):
„Ist a und b in der Verschiedenheit v, so ist dieses Verschieden-
sein ein Sosein; gleichzeitig ist es das, was unter der Bezeichnung
Relation gemeint ist,"
Theodor Lippsw) erklärt die Relation als das Zusammen-
sein von Gegenständen in ihrer durch die apperzeptive Zusammen-
fassung entstandenen Einheit des Bewußtseins.
Nach der Art dieses Beisammenseins unterscheidet L i p p s
1. numerische Relationen,
2. Verweb ungsrelationen oder „Verhält-
nisse",
3. Verknüpfungsrelationen oder „B e z i e -
h u n g e n".
Jede Zusammenfassung setzt einen Boden oder ein Medium
voraus, auf oder in welchem die zusammengefaßten Gegenstände
sich treffen. Dieses Medium kann sein
a) das Bewußtsein,
b) ein Gegenstand.
Ist das Medium das B e w u ß t s e i n und erleiden die zusammen-
gefaßten Gegenstände keine qualitative Änderung,
18) „Beiträge zur Grundlegung der Gegenstandstheorie". IL Aufsatz
in Meinongs Unters. Leipzig 1904. § 12. S. 75.
19) „Leitfaden der Psychologie". Leipzig 1906. S. 125.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 237
d. h. bleiben sie trotz der Zusammenfassung selbständig nebenein-
ander bestellen, genau so selbständig wie vor der Zusammenfassung,
so haben wir eine numerische Relation. Sie ist die Relation
des „und" oder des „+".
Ist das Medium wiederum das Bewußtsein, erleiden die
Gegenstände aber eine qualitative Änderung, d. h. ver-
lieren sie, ohne sich an und für sich zu ändern, durch die Zusammen-
fassung an Selbständigkeit, wird überhaupt ihr „Dasein im Geiste-1
ein anderes, so haben wir eine Verwebungsrelation oder
ein Verhältnis. (Die qualitative Änderung ist keine objektive,
sie bezieht sich nur auf das Dasein im Geiste.) Eine Verwebungs-
relation liegt vor bei der Verwebimg von Tönen zu dem Gesamt-
gegenstand „Melodie".
Die Verwebungsrelationen oder Verhältnisse sind einerseits
die Verhältnisse der Identität und Verschiedenheit,
der Gleichheit und Ungleichheit, der Ähnlichkeit
und Unähnlichkeit usw. und anderseits die Relationen der
Verwandtschaft, z. B. der Tonverwandtschaft, der Rhythmen-
verwandschaft usw. Es sind mit einem Worte die „Relationen des
Mehr oder Minder der Übereinstimmung'".
Geschieht drittens die Zusammenfassung in einem gegen-
ständ 1 : c hen M e d i u m , d. h. werden die verknüpften Gegen-
stände als in Etwas seiend gedacht, so haben wir eine Ver-
knüpf u n g s r e 1 a t i o n oder eine Beziehung.
Nach der Art dieses gegenständlichen Mediums unterscheidet
L i p p s sodann bei den Verknüpfungsrelationen
a ) r ä u m liehe,
b) zeitliche,
e ) inhaltliche B e z i e h u n g e n.
Bei den räumlichen und zeitlichen Beziehungen sind die Medien
Raum und Zeit, bei den inhaltlichen Beziehungen ist das Medium
ein einziger Empfindungsinhalt. So ist z. B. das Zusammensein von
Tonhöhe und Tonstärke im Ton eine inhaltliche Beziehung.
Verknüpfungs- und Verwebungsrelationen kommen nicht Hin-
get rennt, sondern auch vereint vor. Im letzteren Falle haben wir eine
Komplexion. Denke ich mir jetzt eine Melodie aus, so setze
ich Töne in zeitliche „Beziehung", „verknüpfe" sie also. Gleich-
238 Schuß ler,
zeitig stehen die Töne in den Verhältnissen der Ähnlichkeit usw.,
sind also „verwoben".
L i p p s Einteilung der Relationen können wir also in folgendem
Schema zusammenfassen :
1. Numerische Relationen.
2. Verwebungsrelationen oder Verhältnisse:
a) die Verhältnisse der Identität und Verschiedenheit, der Gleich-
heit und Ungleichheit usw.
b) die Verwandtschaftsrelationen.
3. Verknüpfungsrelationen oder Beziehungen:
a) räumliche,
b) zeitliche,
c) inhaltliche Beziehungen.
4. Verwebungs- und Verknüpfungsrelationen (Komplexionen).
In den „Grundzügen der Logik" von L i p p s (Auflage vom Jahre
1893) sind nur die räumlichen und zeitlichen Beziehungen erwähnt20),
als Akzidenzien nicht des einen oder des andern der in Relation stehen-
den Dinge, sondern des Z u s a m men der beiden. Das „Znsammen"
der Dinge ist eine durch mein Denken geschaffene Einheit. Es ist
für die Relation e i n Ding.
Nach Benno Erdmann 21) ist eine Beziehung bewußtes
Beisammensein von mindestens zwei Gegenständen.
Unter Gegenständen, die zueinander in Beziehung treten können,
versteht Erdmann nicht nur Dinge, Eigenschaften und Vorgänge,
sondern auch selbst wieder Beziehungen.
Nach obiger Definition müssen bei einer Beziehung die Gegen-
stände also
1. im Bewußtsein beisammen sein,
2. dieses Beisammensein im Bewußtsein muß selbst bewußt sein.
Das Bewußtsein des Beisammenseins ist vorhanden, wenn wir
unsere Aufmerksamkeit vergleichend und unterscheidend von dem
einen der zusammen befindlichen Gegenstände zum andern wenden.
Dieses bewußte Beisammensein im Bewußt-
sein ist die Beziehung.
20) A. a. 0., S. 90.
21) „Logik". Bd. I, S. 97 ff. Halle a. S. 1907.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 239
Weil die Gegenstände als Beziehungspunkte nur mit der Beziehung
zugleich vorgestellt werden können, sind alle Beziehungen w e c h s e 1-
s e i t i g oder Korrelationen. (Bsp. : Ich— Nicht-ich; Subjekt-
Prädikat; größer— kleiner usw.)
Alle Beziehungen sind umkehrbar, d. h. wir können eine jede
Beziehung infolge ihrer Wechselseitigkeit von jedem Beziehungs-
punkte aus entwickeln.
E r d m a n n teilt die Beziehungen ein in
1. ideale und
2. reale Beziehungen.
Ideale Beziehungen sind solche, deren Wirklichkeit
lediglich in ihrem Gedachtwerden besteht.
Reale Beziehungen sind solche, die als unabhängig
von unserem Vorstellen wirklich vorausgesetzt werden.
Zu den idealen Beziehungen rechnet E r d m a n n
1. die logischen (wie Gleichheit und Verschiedenheit mit
ihren Folgebestimmungen),
2. die grammatischen (wie Wort und Bedeutung, Subjekt
und Prädikat),
3. die mathematischen (wie Größe und Lage),
4. die teleologischen oder Z w e c k b e s t i m -
m u n g e n.
Die realen Beziehungen sind
1. die formalen (Nebeneinander im Räume, Nacheinander
in der Zeit),
2. die kausalen der Wechselwirkung und
Inhären z.
Zwecks Gliederung der Aussagen in Real- und Idealurteile ordnet
Erdman n die Beziehungen folgendermaßen22):
1. Ideale Beziehungen:
a) die grammatischen,
b) die Ähnlichkeits-,
c) die normativen Beziehungen.
2. Reale Beziehungen:
a) die formalen des Zugleich-, Neben- und Nachcinanderseins,
b) die Iiihärenzbestimnuingen von Ding und Eigenschaft,
J) A. a. O., & 43Ü.
240 Schüßler,
c) die im engeren Sinne kausalen Beziehungen des Verhältnisses
von Ursache und Wirkung.
§ 2. Vergleich zwischen der Marbeschen
und den neueren Beziehungslehren.
Wenn wir die Beziehungslehren aus der neueren logischen Lite-
ratur mit der Beziehungslehre M a r b e s vergleichen, so finden wir
zwei Hauptunterschiede.
Einmal haben fast alle genannten Autoren Beziehungen auf-
gezählt und besprochen wie groß, klein, lang, kurz, dick, dünn, Ur-
sache, Wirkung, Zweck u. dergl., die bei Marb e vollständig fehlen.
Sie gehören seiner Theorie nach zu den Beziehungsmerkmalen.
Rechnet man aber eine Reihe von Beziehungs merkmalen,
die aus der Literatur her geläufig sind, zu den Beziehungen,
so muß man — will man konsequent sein — alle Beziehungsmerk-
male zu den Beziehungen rechnen. Das führte aber sicherlich nicht
zu einer Klärung, sondern wahrscheinlich zu einer Verwirrung der
Lehre von den Beziehungen, die nirgends willkommen sein dürfte23).
Der zweite große Unterschied besteht darin, daß sich bei allen
Autoren — mit Ausnahme von M a 1 1 y und Ameseder — eine
mehr oder weniger psychologisierende Betrachtung der
logischen Seite der Beziehungen vorfindet.
Ich erinnere nur an Mills einfachste Relationen,
die er durch Analysierung der Bewußtseinsvorgänge fand, an D r o -
b i s c h s Auffassung der Beziehungen als synthetische Be-
griffsformen, die inneren Zusammenhang haben, an S i g -
w a r t s Beziehungsvorstellungen, die durch die be-
ziehende Tätigkeit des Subjekts aus zwei andern Vorstellungen ge-
wonnen werden. Auch Wundt, der ein Gegner des „Psycholo-
gismus" ist, legt bei seinen Beziehungsbegriffen dar, wie
sie psychologisch entstehen. Meinong läßt die Beziehungen ent-
stehen durch die psychische Tätigkeit des Ver-
gleich e n s. Sein Kriterium für die Verträglichkeits- und Unver-
träglichkeitsrelationen ist ein Gefühl, die „evidente Negation".
L i p p s erklärt die Relationen als das Zusammensein von Gegen-
ständen inderapperzeptiven Einheit des Bewußt-
23) Vierteljahrsschrift Bd. 30, S. 478, 479. Leipzig 1906.
Die logische Theorie der einzelnen Beziehungen. 241
|e i n s 21), und nach E r d m a n n ist die Kelation bewußtes
Beisammensein von Gegenständen im Bewußtsei n.
Eine Ausnahme machen wie schon gesagt — nur Mally
.md A meseder, welche die Beziehungen als Qualitäten
bzw. als Soseinsobjektive auffassen.
Der Vergleich lehrt fernerhin, daß fast alle Autoren nur M a r b e s
ȟltige Beziehungen in den Kreis ihrer Betrachtungen gezogen
haben. Marbes sinnlose und ungültige Beziehungen
hat nur M e i n o n g in seinen Unverträglichkeitsrela-
tionen. Marbes Urteilsbeziehung findet sich auch
nur bei M e i n o n g in Gestalt seiner Realrelationen. Während
L i p p s in seinen numerischen Relationen einen Teil der sub-
jektiven Beziehungen Marbes, nämlich die „und-beziehung",
betrachtet hat.
Nur eine Relation, S i g w a r t s modale Relation,
läßt sich in Marbes System nicht unterbringen. Sie ist nach Marb e
überhaupt keine Relation.
24) In seinen „Grundzügen der Logik" hat L i p p s die räumlichen und
zeitlichen Beziehungen mehr logisch betrachtet. Siehe S. 238.
XIV.
Grillparzer und Kant.
Von
Wilhelm Börner.
Wenn man bedenkt, wie oft und wie gründlich die Beziehungen
Schillers und Goethes zu Kant zum Gegenstand der Unter-
suchung gemacht worden sind r), dann muß man sich wundern, daß
Grillparzers Verhältnis zum Königsberger Weisen bisher noch gar
nicht behandelt worden ist. In den „Kant-Studien" ist kein einziges
Mal auch nur andeutungsweise davon die Rede gewesen. Max
Ortner bricht seine Abhandlung über „Kant in Österreich" 2)
absichtlich bei Grillparzer ab. J o d 1 hatte keine Veranlassung, bei
Behandlung des Problems „Grillparzer und die Philosophie"3) mehr
zu tun als das Thema zu streifen. Bei Schiller ist es freilich ein
aanz anderer Fall: er ist in vielfacher Hinsicht direkter Schüler
Kants und ladet schon deshalb zur Klarstellung seiner Abhängigkeit
von seinem Meister ein. Nicht so aber bei Goethe. Dessen
Beziehungen zu Kant sind kaum intimer zu nennen als diejenigen
Grillparzers. Deshalb wird es wohl gerechtfertigt sein, die Stellung
des größten deutschen Dichters der nachklassischen Zeit zu Kant
zu beleuchten. An gelegentlichen Äußerungen hierüber fehlt es aller-
dings in Monographien über Grillparzer nicht. Im folgenden soll
jedoch ausführlicher an der Hand aller Äußerungen des Dichters über
Kant sein Verhältnis zu ihm dargelegt werden. —
x) Man vgl. das wertvolle Buch von K. Vorländer: Kant — Schiller
— Goethe. Leipzig 1907. Hier findet sich auch eine Übersicht über die
einschlägige Literatur.
2) Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 14. Jahrg., S. 1 ff.
3) Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft, 8. Jahrg., S. 1 ff.
Grillparzer und Kant. 243
I.
Entsprechend der damaligen österreichischen Studienordnung,
besuchte Grillparzer ab 1804, nach Absolvierung des Gymnasiums, einen
zweijährigen philosophischen Kurs, der die Einleitung, den Übergang,
zum eigentlichen Universitätsstudium bildete. Zu diesem Zeitpunkte
kam der Dichter zuerst mit der Philosophie überhaupt in Berührung,
und zwar in einer Weise, die dem Verständnisse Kants nichts weniger
als günstig gewesen ist. Der Professor für Philosophie war der L e ib -
uiz-Wolff- Anhänger Franz Samuel K a r p e (geb. 1741 zu
Laibach, gest. 1806 zu Wien), der wohl überhaupt nur mehr durch
Grillparzers Selbstbiographie der Nachwelt bekannt ist 4). Er schrieb
eine „Darstellung der Philosophie ohne Beinamen" (1802/4), ferner
„Institutiones philosophiae dogmaticae" (1804) und endlich „Institu-
te mes philosophiae moralis" (1805) durchwegs vergessene, ja
verschollene Werke. K a r p e war ein verbissener Kant- Hasser,
wie in Grillparzers humorvoller Schilderung dieses Mannes drastisch
dargetan wird. „In dem Professor für Philosophie", so berichtet
der Dichter, „hatten wir einen Pedanten, aber nicht nur im gewöhn-
lichen Sinne, sondern als eigentliche Lustspielfigur, als ob der Dottore
aus der italienischen comedia dellarte sich in ihm verkörpert hätte.
Er hatte eine „Philosophie ohne Beinamen" als Vorlesebuch ge-
schrieben und hielt sich für ganz selbständig, bloß weil er die Neue-
rungen Kants von sich stieß, indes sein System nichts als der bare
Wolffianisnius war. Oft, erinnere ich mich, rief er während der Vor-
lesung aus: Komm her, o Kant, und widerlege mir diesen Beweis !" 5)
Auch später noch macht sich der Dichter über seinen ehemaligen
Philosophie-Lehrer lustig6). Es ist klar, daß auf diese Weise das
Interesse für die kritische Philosophie nicht geweckt werden konnte.
Überhaupt sollen die Wiener Dichter keinerlei Verständnis für sie
aufgebracht haben '•).
') Vergl. H. Eisler: Philosophen-Lexikon. Berlin 1912, S. 354. Im
IVlirrweg-Heinzeschen „Grundriß" ist er gar nicht namhaft gemacht.
•') Grillparzer, Sämtl. Werke (herausgeg. von A. Sauer), 5. Aufl.. XIX. Bd.,
B. 31. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden stets zitiert.
6) (irillparzers Tagebücher (herausgeg. von C. G 1 o s s y und A. Sa u e r),
Stuttgart, S. 38.
T) a. a. O. S. 270. Vgl. auch die erwähnte Abhandlung von M. Ortner.
244 Born er,
Grillparzers Beschäftigung mit Kant setzte erst ein, als er schon
Jurisprudenz zu studieren begann und mit dem Sohne des Hof-
sekretärs Fr. A. v o n W o h 1 g e m u t h Freundschaft schloß. Dieser
junge Mann hatte für die neue Richtung in der Philosophie großes
Interesse, besaß auch viele Streitschriften und Kommentare über sie
und so wurden zahlreiche Stunden der Diskussion Kantscher Ge-
danken gewidmet. Freilich mögen die jungen Leute nicht allzu tief
in diese schwierige Gedankenwelt eingedrungen sein, denn Grill-
parzer selbst berichtet, daß er erst um die 20 er Jahre mit ihr wirk-
lich bekannt geworden sei (XIX. S. 100). Nun aber hat er sich mit
größtem Fleiße und starker innerer Anteilnahme in sie versenkt und
im Jahre 1832 lesen wir in den Tagebüchern anläßlich des Studiums
von Hegels Logik den Satz: „Alles, was ich Philosophisches lese,
vermehrt meine Achtung für Kant." (Tagebücher, S. 108.) Dieser
Achtung und Wertschätzung für den großen Königsberger Denker
blieb Grillparzer sein ganzes Leben hindurch treu; wie sehr er die
Werke in sich aufgenommen hat, kann man auch aus wiederholten
gelegentlichen Bezugnahmen auf Kantsche Anschauungen erkennen
(z. B. XIX. S. 153, Tagebücher, S. 41). Wie E h r h a r d richtig be-
merkt, war Kant der einzige deutsche Philosoph, den Grillparzer
bewunderte und verehrte 8). Diese Anerkennung ist umso höher zu
veranschlagen, als Grillparzers allgemeine Denkrichtimg von der-
jenigen Kants so weit abhegt, daß J o d 1 zu ihrer Charakterisierung
treffend Feuerbachs Philosophie heranzieht 9). Seine Ab-
weichung ersieht man deutlich, wenn man Grillparzers Kritik der
Auffassungen und Lehren Kants etwas näher betrachtet.
O
IL
Will man den Geistestypus des Dichters kurz kennzeichnen, so
muß man Grillparzer einen Sensualisten nennen. An unzähligen Stellen
und in den verschiedensten Wendungen spricht er sich dahin aus, daß
die Sinne die primäre und eigentliche Erkenntnisquelle seien 10).
Es ist deshalb leicht verständlich und erklärlich, daß die meisten seiner
8) A. Ehrhard (M. Necker): Fr. Grillparzer. München 1902, S. 132.
9) Jodl, a.a.O., S. 10 f.
10) Vgl. auch W. Jerusalem: Grillparzers Welt- u. Lebensanschauungen.
Wien 1891. Jetzt leicht zugänglich in dem Buche: , Gedanken und Denker'.
Wien 1905.
Grillparzer und Kant. 245
Äußerungen über Kants theoretische Philosophie sich auf dessen
Kategorienlehre und che Lehre vom „Ding an sich" beziehen.
Über Kants Stellung zu Aristoteles im Hinblick auf die
Kategorienlehre u) meint Grillparzer, daß letzterer sie keineswegs zu
einem transzendentalen, sondern zu einem rein logischen Zweck auf-
gestellt habe und deshalb Kants Polemik nicht verdiene. „Sie sprechen
ihm (Aristoteles) die Form der Prädikate in allen möglichen Urteilen
aus, ohne daß er sich um ihre Herstammung besonders bekümmerte.
Ja, selbst die Genauigkeit der Einteilung hegt ihm nicht gar so sehr
am Herzen. Er will lieber ein Einteilungsglied zweimal in zwei Gat-
tungen aufführen, als daß es der Schüler vermissen sollte; wie er es
selbst bei Erwähnung jener Grenzlinien ausspricht, wo die jcqogtl
und die jcoicc zusammenlaufen." (XIV. S. 25.)
Die Unterscheidung Kants zwischen „Ding an sich" und
Phänomen findet der Dichter schon bei P 1 a t o — va ovxa und
r« yr/roi/era — und ebenso auch die Auffassung, daß das Gesetz der
Kausalität nur auf die letzteren anwendbar sei, im Dialog Timaios
deutlich ausgesprochen. Da die ovra keine yivsaig haben (sonst
wären sie yiyvofisva), so werden sie, meint Grillparzer, von selbst
von dem Kausalitätsnexus ausgeschlossen (XIV. S. 25). Noch eine
andere historische Bemerkung findet sich bei Grillparzer hinsichtlich
des „Ding an sich"-Begriffes. „Es ist falsch" — so schreibt er —
„daß die Vor-Kantsche Philosophie das Ding-an-sich nicht gekannt
habe. Wenn S p i n o z a an die Spitze seines Systems den Satz stellt:
Gott ist die Substanz, bestehend aus unendlichen Attributen, von
denen uns aber nur zwei, das Denken und die Ausdehnung, be-
kannt sind, so gibt er ja stillschweigend zu, daß eine unendliche
Modifikation dieser unendlichen uns unbekannten Attribute gar nicht
in unsere menschliche Vorstellung fallen, ja es hindert nichts, daß selbst
in jenem Kreis, den wir vorstellen, Bestandteile jener uns unfaßbaren,
göttlichen Wesenheiten enthalten sind, die eben daher von uns uner-
kannt bleiben und so das eigentliche Ding-an-sich bilden, nicht allein
unserem Vorstellen, sondern selbst unserem Denken unerreicht."
(XIV. S. 26 f.)
Der Dichter verteidigt jedoch Kant gegen Schopenhauer,
indem er schreibt: „Wenn Kant sagt: das Ding an sich, das wir nicht
X1) Kants Werke, Akad.-Ausg. III. Bd. (Berlin 1904), S. 92 ff. (Kritik
der reinen Vernunft II. Teil, 1. Abt., § 10.)
Archiv tür Geschichte der Philosophie. XXVI, 2. ig
246 Born er,
kennen, so schließt er dadurch ein Analogem der Materie nicht aus,,
allenfalls ein uns unerforschliches Drittes, das sich in Kraft und Stoff
dirimiert. Nenne ich aber das Ding an sich Wille und weiß letzteren
nicht anders zu bezeichnen, denn als nimmer ruhendes Streben, so
habe ich nur ein anderes Wort für das Wort Kraft, das zu allen Zeiten
die Verzweiflung der Denker war." (XIV. S. 33.)
Und ebenso lehnt er Trendelenburgs Widerlegung durch
Aufstellung des Prinzips der Bewegung ab. „Wie aber" — fragt
Grillparzer — „wenn die Bewegung allerdings die primitive wesen-
hafte Eigenschaft der Dinge wäre, den Geist gleichfalls als Ding(ens)
genommen, könnten dann nicht Zeit und Raum noch immer die
Form sein, in der sie der Vorstellung erscheinen? Überhaupt, wenn
Kant gemeint hätte, daß Zeit und Raum nur Formen der Anschauung
seien, so hätte er dadurch indirekt erklärt, daß er das Ding an sich
kenne, was er immer geleugnet." (XIV. S. 29.)
Grillparzer war, soviel man aus seinen zahlreichen philosophischen
Reflexionen ersehen kann, kritischer Realist und dürfte der Auffassung
Herbert Spencers von einem „unknowable" nicht ferne gestanden
sein. Von einer Verflüchtigung des „Ding an sich", des objektiven
oder transsubjektiven Faktors in der Welt und beim Zustande-
kommen der Erkenntnis, im Sinne F i c h t e s (oder neuerdings
eines Schuppe oder Mach) wollte der Dichter nichts wissen
und war fest überzeugt davon, daß eine solche Auffassung auch
nicht der Kantschen entspricht. Dieser Überzeugung gibt er in den
humorvollen Versen Ausdruck:
„Laß, ehrlicher Kant, sie reden,
Sie kommen schon noch auf dich,
Die Leugner des Dinges an sich
Sind Denker außer sich." (III. S. 145.)
Freilich war Grillparzer mit Kant der Anschauung, daß sich
über das Ding an sich nichts aussagen lasse und rechnete es ihm
zum Verdienste an, die Grenzen menschlichen Erkennens abgesteckt
zu haben. „Kants Philosophie", sagt er einmal, „ist die wissenschaftliche
Anerkennung der menschlichen Beschränktheit." (XVI. S. IC.)
Und anläßlich einer Charakteristik des Verfassers der bekannte«:
„Diätetik der Seele", Ernst von Feuchterslebens, der ein
warmer Verehrer Kants gewesen, bezeichnet Grillparzer die kritische
Philosophie als die „Philosophie der Bescheidenheit, die das demütige
Grillparzer und Kant. 247
,Ich weiß nicht' an die Spitze des Systems stellt, das Gegebene, als
eines Beweises ebensowenig fähig als bedürftig, zum Ausgangspunkte
nimmt, völlig zufrieden, wenn sie das logisch Richtige, Würdige und
allen Förderliche damit in Übereinstimmung bringen kann; die,
gerade weil sie dem Denken seine Grenzen setzt, der Ahnung und
Empfindung möglich macht, die leergewordenen Räume als Religion
und Kunst auszufüllen."
III.
Hinsichtlich des religiösen Kardinalproblems, des Gottesbegriffes,
verficht Grillparzer mit der größten Entschiedenheit die Überzeugung
von der Unmöglichkeit einer theoretischen Erkenntnis Gottes. Darin
stimmt der Dichter mit Kant vollkommen überein, daß Gott niemals
ein Postulat der theoretischen Vernunft sein könne. Eine solche An-
nahme nennt er direkt „lächerlich". Er weicht aber darin vom Königs-
berger Weisen ab, daß er Gott auch als praktisches Postulat nicht
gelten läßt. Dieses nennt er „überflüssig, da das Sittengesetz mensch-
lich so begründet ist, daß es einer göttlichen Herleitung gar nicht
bedarf." (XIV. S. 31.) Man ersieht aus diesem Satze, wie positivistisch
Grillparzer auch auf ethischem Gebiete dachte. In dem Gedichte
„Gottlose ! ihr sucht einen Gott", findet diese Auffassung poetischen
Ausdruck. Die Verse lauten:
Gottlose! ihr sucht einen Gott!
Er fehlt und ist euch doch vonnöten.
Dem Sünder tut ja auch ein Scherge not,
Soll er nicht fälschen, rauben, töten.
Euch wäre fremd des Rechts Bereich,
Wenn's ein Gesetz nicht scharf umschrieben?
Unschuldig ist das Mädchen euch,
Das leiblich unberührt geblieben.
Euch hebt sich nicht die dürre Brust,
Wenn menschlich Hohes aus sich kündet;
Die Lust, sie dünkt euch dann noch Lust,
Wenn sie auf fremdes Weh sich gründet.
s*
Euch ist, was war und ist und wird,
Nicht Glied derselben, Einer Kette;
16*
248 Born er,
Der Lohn, den Rechttun selbst gebiert,
Ihr wollt ihn bar auf einem Brette.
Was in der Brust, im Geiste lebt,
Gilt euch für wesenlose Träume;
Damit ihr Wirklichkeit ihm gebt,
Muß Ort erfüllen es und Räume. "
So ballt denn, was lebendig quillt,
Nehmt einen Götzen euch zum Schilde,
Und wie er euch nach seinem Bild,
So schaffet ihn nach eurem Bilde.
Wenn euer Aug kein Großes faßt,
So schließt ihn ein in enge Rahmen;
Nehmt einen Gott, der liebt und haßt,
Und hebt und haßt in seinem Namen. (IL S. 198.)
Es bleibt demnach nur das Gefühl als Postulat Gottes übrig. Gefühls-
mäßig mag Gott annehmen, meint Grillparzer, „der sich dazu ge-
drungen fühlt, wo dann mit der Allgemeinheit der Aufforderung auch
ihre Gültigkeit wegfällt." (XIV. S. 31.) Mit Recht nennt Jodl
diesen Standpunkt des Dichters denjenigen des „Agnostizismus".
IV.
Naheliegenderweise hat sich Grillparzer von allen philosophischen
Disziplinen am meisten mit der Ästhetik beschäftigt 12) und deshalb
auch der „Kritik der Urteilskraft" das größte Interesse entgegen-
gebracht. Das äußert sich in der Ausdehnung seiner Notizen, die sich
auf dieses Gebiet der kritischen Philosophie beziehen. Im allgemeinen
stellt Grillparzer Kant das Zeugnis aus, daß niemals ein Philosoph
„aneignender über die Vorfragen der Kunst gesprochen" habe als er.
(XV. S. 79.) Den Angelpunkt der Kantschen Ästhetik scheint Grill-
parzer in der Theorie von der Zweckmäßigkeit ohne Zweck erblickt
zu haben, weil er zu wiederholtenmalen speziell auf sie zu sprechen
kommt und sie als besonders gelungen bezeichnet. Freilich erkennt
12) Siehe E.Reich: Grillparzers Kunstphilosophie. Wienl890; Fr. Jodl:
Grillparzers Ideen zur Ästhetik (Jahrb. d. Grillparzer-Gesellschaft 10. Jahrg.,
S. 45 ff.; Fr. Stich: Grillparzers Ästhetik. Leipzig 1905.
Grillparzer und Kant. 249
man auch hier wieder deutlieh die psychologisch-realistische Inter-
pretation, die dem Dichter sich aufdrängt, Er schreibt: „Ich stelle
mir die Sache so vor: Der Mittelpunkt des menschlichen Wesens,
sinnlichen und geistigen, ist die Seele. In ihr liegt alles vereinigt
und aufbewahrt: Erfahrenes, Erlebtes, Gedachtes, Gefühltes. Dieser
Zuwachs ist, was man Bildung nennt. Er ändert in einem gewissen
Grade selbst die Substanz der Seele und durch ihn ist der Mensch
im vierzigsten Jahre ein anderer als im vierten. Den Gesamtausdruck
der Seele, insofern ihr Streben nicht nach außen geht, nenne ich die
Empfindung. Die Empfindung12) ist nicht ohne Unterscheidung, weil
das Geistige eben auch in ihr liegt, Wird die Empfindung durch starke
Eindrücke angeregt, so verliert sich diese Unterscheidung und sie
wird Gefühl, so wie anderseits durch gemäßigte Anlässe die Unter-
scheidung vom Geiste aus sich mehr und mehr Platz macht und das
entsteht, was Kants Urteilskraft ist, ein anschauender Ver-
stand, der die Regel aus dem Geiste und die Teile aus dem sich gliedern-
den, unermeßlichen Vorrate von aufbewahrten Eindrücken nimmt.
Diese Urteilskraft liegt dem gesunden Menschenverstand zugrunde.
Im vollständigen Auseinandertreten verfällt die Empfindung einer-
seits dem sinnlichen Bedürfnis, anderseits verfeinert sie sich zum
Verstände oder Vernunft oder Geiste, wie man es eben nennen will.
Der Sitz der Kunst ist in der Empfindung, die einerseits den Unter-
scheidungen der Urteilskraft nahe steht, anderseits aber durch ihr
Hineinreichen in den ganzen Menschen eine ungeheure Verknüpfung
— Ideenassoziation — anregt, deren Vorstellungen ihrem Ursprung
von außen nach sich zu Bildern verkörpern und als Phantasie die
natürliche Auffassung des Menschen nachahmen, die sinnlichen
Eindrücke mit Gedanken verbindet, nur daß hier die Bilder sich
schon nach einem Gesichtspunkte einstellen, indes die äußeren
Eindrücke zufällig und unvermittelt überraschen." (XV. S. 28.)
Viele Jahre vorher hatte er sich zum selben Problem wie folgt.
geäußert: „Kants Zweckmäßigkeit ohne Zweck und Zusammen-
Stimmung zur Erkenntnis, überhaupt ohne Begriff, in seiner
Erklärung der Schönheit, verstehe ich ungefähr so: Außer der
objektiven Beschaffenheit eines Gegenstandes, die vor allem dem
1 ) Grillparzer gebraucht dieses Wort für „Gefühl" nach der heute
üblichen psychologischen Terminologie.
250 B ö r n e r,
Begriff zugrunde liegt, und den subjektiven Beziehungen, die am
vorherrschendsten in der Empfindung des Angenehmen walten, kann
es ja noch einen dritten Bezug geben, das Dasein, z. B. eines gemein-
samen Bandes, das, aus einem gemeinschaftlichen Urheber hervor-
gehend, den Betrachtenden und das Betrachtete umschlingt und sich
gegenseitig nähert. Vielleicht oder vielmehr wahrscheinlich liegt der
im Geschmacksurteil gefühlten Zustimmung ein solches Drittes zu-
grunde, welches das Wort des Rätsels, den wirklichen Begriff des
Zweckes zur anerkannten bloßen Form der Zweckmäßigkeit enthält;
dies Dritte kommt aber nicht in unser deutliches Bewußtsein und wir
müssen es daher beim Denken über das Schöne außer der Rechnung
lassen." (XV. S. 22.)
Kants Definition des Schönen als uninteressiertes Wohl-
gefallen findet Grillparzers uneingeschränkte Zustimmung und er
verdeutlicht sie in nachstehender Weise: „Aller Poesie hegt die
Idee einer höheren Weltordnung zugrunde, die sich aber vom Ver-
stände nie im ganzen auffassen, daher nie realisieren läßt und von
welcher nur dem Gefühl vergönnt ist, dem Gleichverborgenen in
der Menschenbrust, je und dann einen Teil ahnend zu erfassen. Zweck-
mäßigkeit ohne Zweck hat es Kant ausgedrückt, tiefer schauend,
als vor ihm und nach ihm irgend ein Philosoph." (XV. S. 57.)
Außer diesen Äußerungen Grillparzers, welche wesentliche Punkte
der Kantschen Ästhetik betreffen, findet sich noch eine Bemerkung,
die hier nicht unterdrückt werden soll, obwohl sie von untergeordneterer
Bedeutung ist. „Was von der bildenden Kunst gilt" — so schreibt er —
„gilt in noch viel höherem Grade von der Musik. Ihre erste unmittel-
bare Wirkung ist Sinn- und Nervenreiz; weshalb ihr auch Kant (für
jeden Fall nach seinen Voraussetzungen richtig) den Platz viel tiefer
als den übrigen schönen Künsten anweist; weil nämlich ihre Wirkung
so überwiegend physisch ist, daß der Verstand, dessen mögliche regu-
lative Mitwirkung Kant als das Kriterium jeder schönen Kunst be-
trachtet, nur einen höchst untergeordneten Einfluß auf das Gefühl der
Lust und Unlust dabei nehmen kann. Wenn nun auch Kant hierin
zu weit gegangen ist, so bleiben doch die Tatsachen richtig, von denen
er ausging." (XV. S. 126 f.) 14).
") A. Ehrhard ist nach dieser Erklärung Grillparzers wohl im
Irrtum, wenn er meint, der Dichter hätte sich seine hohe Wertung der Musik
von Kant angeeignet, (a. a. 0., S. 145 f.)
Grillparzer und Kant. 251
V.
Im Voranstehenden wurden die Äußerungen Grillparzers über
Kant, soweit sie sich auf einzelne Gebiete der kritischen Philosophie
beziehen, ihrem Inhalte nach übersichtlich zusammengestellt. Zum
Schlüsse sollen nun noch zwei Aufzeichnungen des Dichters Platz
finden, die seine allgemeine Einschätzung des „Alleszermalmers"
zum Ausdrucke bringen. Psychologisch sehr fein sagt die eine: „Gerade
bei Menschen, bei denen das Gemüt vorherrscht, sind Kants Schriften
höchst nützlich. Da sie von dem ihrigen da anzustücken vermögen,
wo Kant aufhört, indes er ihnen Ordnung machen hilft in der Sphäre,
die in seinem Bereich liegt. Trockene Verstandesmenschen müssen durch
Kants Philosophie notwendig ganz austrocknen." (XIV. S. 29.)
Nicht weniger beachtenswert ist die andere Bemerkung: „Jeder, der
sich der Literatur, wenn auch bloß der schönen, widmen will, sollte
Kants Werke studieren, und zwar, abgesehen vom Inhalt, schon
bloß wegen ihrer strenglogischen Form. Nichts ist mehr geeignet,
an Deutlichkeit, Sonderung und Präzision der Begriffe zu gewöhnen
als dieses Studium und wie notwendig diese Eigenschaften selbst dem
Dichter sind, leuchtet wohl ein." (XIV. S. 28 f.) Diese letzteren
Sätze, aus der Feder eines echten und großen Dichters, sind an sich
bedeutungsvoll; umsomehr aber vom Dichter der Tragödie „Ein
treuer Diener seines Herrn", welche Reich sehr treffend „die drama-
tische Verkündigung des kategorischen Imperativs Kants" nennen
konnte u '■).
lä) E. Reich: Fr. Grillparzers Dramen. (3. Aufl.) Dresden 1909, S. 163.
XV.
Die Grundlehre Spinozas im Lichte der kritischen
Philosophie.
Von
Otto Samuel.
Jedes Grundprinzip eines philosophischen Systems ist ursprüng-
lich irgendwie Bestandteil der Masse von Ansichten, Gedanken und
Anschauungen, die zur Verfolgung der Zwecke und Aufgaben des prak-
tischen Lebens erforderlich sind und die man unter dem Namen des
naiven, gesunden Menschenverstandes zusammenfaßt. Als System-
prinzip erfährt dann der Bestandteil des natürlichen Systems des
gemeinen Verstandes eine wesentliche Umbildung, eine Reinigung*
von den in ihm liegenden Widersprüchen und eine spekulative Ver-
tiefung seiner ideellen Momente. Allerdings findet auch der umge-
kehrte Vorgang statt: das System des naiven Verstandes ist einer
immerwährenden Entwicklung unterworfen; fortwährend gehen Be-
standteile der Kunstsysteme in das „Zeitbewußtsein" über, sodaß
das Verhältnis zwischen beiden das einer befruchtenden Wechsel-
wirkung ist. So kommt z. B. ein besonders großer Anteil an der Ge-
staltung unseres heutigen Bewußtseins auf das System des Aristoteles.
Die andere Seite des erwähnten Wechselverhältnisses zeigt sich
besonders an demjenigen Systemprinzip, das wir hier näher betrachten
wollen, dem Substanzbegriff Spinozas, der dem ursprünglichen Be-
wußtsein zuerst als das Beharrliche in den Einzeldingen erscheint,
als dasjenige, was bleibt, während diese sich verändern. Dies ist ein
Begriff, der zur verstandesmäßigen Auffassung von „Etwas, das sich
verändert", wozu das naive Bewußtsein tausendfach genötigt wird,
schon vorausgesetzt werden muß. Das alltägliche Erlebnis eines
sich verändernden Einzeldings führt zwar erst, da der Anschauende
ursprünglich noch gar kein ausgebildetes Gegenstandsbewußtsein
Die Grundlehre Spinozas. 253
besitzt, sondern nur den "Wechsel von Zuständen erlebt, zur An-
nahme eines Beharrlichen, aber — mit der Ausbildung des Verstandes
— auch zur Voraussetzung desselben, wenn auch dieser Begriff sich
zunächst noch nicht klar und deutlich von andern im Bewußtsein
abhebt.
Aber selbst, wenn das geschehen ist, so ist doch das Bewußtsein
noch weit davon entfernt, nur eine, wenn auch noch ganz körperlich
aufgefaßte Substanz in der Erfahrungswelt anzunehmen — diese
Auffassung ist vielmehr schon echt spekulativ — sondern jedes
empirische Einzelding ist, sofern es beharrt, Substanz. Es gibt ver-
schiedene Substanzen. Das naive Bewußtsein hat eben noch keine
Ahnung von der Notwendigkeit, die zur Verneinung dieses Satzes
drängt.
Um aber diejenigen Züge herauszustellen, durch die der Substanz-
begriff erst zum Grundprinzip des Systems Spinozas erhoben wird,
dürfen wir uns nicht an die Darstellung, die er in der Ethik gewählt
hat, eine Nachahmung der geometrischen Methode, binden; wir
dürfen nicht etwa den Weg einschlagen, erst die Definitionen auf ihre
Richtigkeit hin zu prüfen, dann zu entscheiden, ob die Grundsätze
annehmbar sind, oder nicht; endlich die einzelnen, hier in Betracht
kommenden Beweisgänge der Lehrsätze zu verfolgen usw. Es ist
nämlich darauf zu achten, daß Spinoza sein System ganz anders
erlebt als dargestellt hat. Aus seiner Grundkonzeption der Substanz
haben sich ihm erst die dazu passenden Definitionen und Grund-
sätze und die darauf fußenden Beweise ergeben. Diese Grundauf-
fassung, ja dieses ursprüngliche Erlebnis seines Substanzbegriffs, aus
dem das ganze System herfließt, müssen wir unabhängig von dem
Wüste seines ganz unzulänglichen Beweisverfahrens darzustellen
versuchen. Ja, wir dürfen uns sogar einige Freiheit in der Begründung
seiner Anschauungen, die manchmal ganz äußerlich ist, erlauben, wenn
uns hierdurch das Eigenartige derselben besser hervortritt. Auf dieses
allein haben wir es abgesehen. Hielten wir uns eng an seine Darstellung,
so würden wir wohl das Gegenteil unserer Wünsche erreichen. Um
aber diese Darlegung zu rechtfertigen, wollen wir erst noch das Un-
geeignete der geometrischen Methode für die Philosophie ins rechte
Licht setzen.
Auf die schwierige Frage nach dem Wesen der mathematischen
Erkenntnis können wir hier aber nicht eingehen. Es ist nur auf das
254 Samuel,
Verhältnis, das zwischen Philosophie und Mathematik besteht, kurz
hinzuweisen. Vieles ist ja hierüber schon bemerkt worden, das beste
von Kant. Es bestehen nun aber nicht allein wesentliche Unterschiede,
sondern auch eigenartige Berührungspunkte zwischen der philoso-
phischen und mathematischen Erkenntnis. Bei beiden findet nämlich
ein Unterschied zwischen der ersten Konzeption, dem ursprüng-
lichen Erleben einer neuen Erkenntnis, und ihrer späteren Darstellung
statt; auch in der Mathematik, besonders in der Geometrie, hat das
„Sollte es nicht so sein?", die durch die Analogie geleitete Vermutung
als heuristisches Prinzip seine Stelle. Auch hier ist das Gedanken-
experimentieren und -probieren nicht ausgeschlossen, aber es hat für
die endliche Gestaltung dieser Wissenschaft eine viel mehr unter-
geordnete Bedeutung als für die der Philosophie. Hiermit kommen
wir auf die wesentlichen Unterschiede zwischen beiden zu sprechen.
Die Mathematik bedarf nämlich der fortwährenden Bestätigung
und Bekräftigung der Ergebnisse ihrer begrifflichen Verstandes-
arbeit durch die Anschauung; bleibt diese einmal aus, dann stockt
das ganze Unternehmen. Das fehlt aber der Philosophie. Sie beweist
durch Begriffe, verwendet dagegen nicht Anschauungen als Normen.
Auch sie hat auf Schritt und Tritt das Bedürfnis, ihren Begriffen
Anschauung zu geben, aber diese Konstruktionen — Schemata durch
die Einbildungskraft nennt sie Kant — sind von denen der Mathematik
wesentlich unterschieden: es sind nämlich nur Veranschaulichungen,
die selbst der fortwährenden Bestätigung bedürfen, selbst aber keine
sind. Hierdurch werden einem Begriffe schematisch Gegenstände
gegeben, die aber den Begriff nie adäquat repräsentieren. Zum Begriff
des Dreiecks läßt sich gar kein adäquater Einzelgegenstand geben;
denn jener geht sowohl auf spitz-, als auf stumpf-, als auf recht-
winklige Dreiecke. Ein gegebenes Dreieck muß aber immer eins von
diesen dreien sein. Das Schema eines Begriffs, aus dem Anschauungs-
bedürfnis der Philosophie heraus geboren, ist also immer eine
inadäquate Vergegenständlichung, sehr zum Unterschiede der
Konstruktionen der Mathematik. Diese dagegen zeigt etwas immer
nur von konstruierten Einzeldingen; sie geht z. B. die Glieder der
erwähnten Disjunktion durch und beweist von allen drei Arten von
Dreiecken, daß ihre Winkel zwei rechte betragen. Dann gelangt
sie zu der Aufstellung, es liege im Begriff des Dreiecks, diese Winkel-
summe zu haben. In der Mathematik gehen Anschauungen normativ
Die Grundlehre Spinozas. 255
den Begriffsbildungen vorher; in der Philosophie dagegen folgen die
Schemata der Einbildungskraft den Begriffen nach.
Die Mathematik schränkt ihren Blick auf das weite Reich der
Quantitäten ein, als das anschaulich Bestimmbare. Nur der Begriffs-
gegenstand hat Quantität, nicht der reine Begriff. Also ist die Haupt-
kategorie, die in dem Gebiete des Anschaulichgegenständlichen An-
wendung findet, die Quantität. Das wird man aus dem vorigen ohne
weiteres verstehen: war doch ausführlich von der gegenständlichen
Unbestimmtheit des Begriffs die Rede. Indessen bedarf der Satz,
daß sich die Mathematik mit Quantitäten, den reinen Raumgrößen
und Zahlen, beschäftige, einer Richtigstellung: Quantität und Qualität
sind nämlich zwei sich ausschließende Kategorien, aber nicht das
Quantitative (Quantum) und das Qualitative. Am Quantitativen ist
nämlich ein qualitatives Moment und umgekehrt 1). Deswegen ist
es nicht richtig zu sagen, daß die Mathematik dadurch, daß sie auf
Quanta reflektiert (ein wahrer Satz), von aller Qualität abstrahiere.
Die Mathematik sucht vielmehr vom Quantitativen aus das Qualitative
zu erreichen, und ihre erstaunliche Fruchtbarkeit und Anwendbarkeit
auf Erfahrungsinhalte beruht zum guten Teil auf dieser quantitativen
Konstruktion des Qualitativen. Aber auch hier wird sie dem oben
geschilderten Verfahren nicht untreu, d. h. sie konstruiert rein mit
gleichartigen Größen.
Deshalb führt also in der Philosophie eine ganz andere Methode
zum Ziel als in der Mathematik, und sehr zu Unrecht haben viele
Philosophen in dem Verfahren der Mathematik, deren Vorteile aus
ihrer Eingeschränktheit stammen, ein in der Philosophie zu erstreben-
des methodisches Ideal erblickt.
Schließlich gibt es auch noch einen ganz speziellen Grund, der
die geometrische Methode gerade für das System Spinozas noch be-
sonders ungeeignet macht: Die Geometrie abstrahiert nämlich bei
ihren Konstruktionen, die zur Erzeugung von reinen Raumgrößen
führen, von aller empirischen Substanz. Was soll nun also ein Denken
mit dieser Methode anfangen, das gerade umgekehrt auf diese empirische
J) Kant sieht in dem Grundsatze des reinen Verstandes, daß alle Er-
scheinung intensive Größe habe, eine Erkenntnis, dadurch wir etwas vom
Erfahrungsinhalt selbst apriori antizipieren und kann sich nicht genug übet
diese Erscheinung wundern.
256 Samuel,
Substanz reflektiert, um sie durch spekulative Umbildung zum Prinzip
eines philosophischen Systems zu machen!
Was nun die Darstellung des Substanzprinzips Spinozas betrifft,
so werden wir zuerst über den Begriff der Substanz handeln, sodann
über ihre Eigenschaften (was sie ist), endlich über die Art der Gesetz-
lichkeit ihrer Natur (wie sie wirkt). Auf die Darstellung sollte die
Kritik folgen; diese fügen wir aber, um Wiederholungen zu vermeiden,
an den geeigneten Stellen ein.
Es existiert eine Substanz, deren wesentliche Bestimmungen
der Verstand als Attribute erkennt. Aber diese faßt von den Inhalten
nur zweier Attribute etwas auf, die Denken und Ausdehnung heißen;
im übrigen aber weiß er nur. daß die Substanz unendlich viele Attribute
besitzen müsse. Denn sie muß als ein Wesen von höchster Realität
gedacht werden, und je mehr Wesenheit eine Substanz hat, desto
mehr Realität besitzt sie. Deshalb kann auch nicht eine zweite Substanz
außer ihr gedacht werden, denn das Attribut, durch das sie dem Ver-
stände als ein in sich Bestehendes und ein durch sich selbst zu Be-
greifendes erscheint, müßte ja schon in der Substanz von unendlich
vielen Attributen enthalten sein, dann existierte aber jene in dieser.
Denn wohl kann eine Substanz mehrere Attribute haben, nicht aber
können zwei Substanzen dasselbe Attribut besitzen, weil sie dann
nichts hätten, wodurch der Begriff der einen vom Begriff der andern
verschieden wäre. Die Substanz, unter dem Attribut der Ausdehnung
betrachtet, die Welt, ist also ganz in der Substanz von unendlich
vielen Attributen, in Gott, aber umgekehrt ist Gott nur teilweise
in der Welt.
Jede Substanz ist unteilbar, auch die körperliche; oder besser
ausgedrückt, auch unter dem Attribut der Ausdehnung, des Teilbaren
selbst, betrachtet, ist die eine Substanz, die es ja nur gibt, unteilbar.
Das endliche teilbare Ding ist also nur eine Modifikation des Attributs
der Ausdehnung, also eine rein räumliche Synthese. Hier erkennt
man den Einfluß Descartes. Die Teilbarkeit betrifft deshalb nicht die
Substanz selbst. Ebenso ist die Substanz als solche ewig, unendlich,
frei von jeglicher Bewegung und Veränderung, das Eine des Parmenides,
auch unter dem Attribut der Ausdehnung betrachtet. Denn alle
gegenteiligen Prädikate betreffen nur dieses Attribut (und die andern
Attribute) und seine Modifikationen. So ist sie beispielsweise unend-
lich; denn wäre sie endlich, so müßte es nach Definition 2 des ersten
Die Grundlehre Spinozas. 257
Teiles etwas geben, was sie begrenzte. Dann wäre aber nicht dieses
Endliche die Substanz, sondern dasjenige, was ihm und dem Begrenzen-
den zugrunde läge. Der regressus in infinitum, der hier entsteht,
hat den Begriff der unendlichen Substanz zur Grenze; ihr kann keine
teilweise Verneinung zukommen. Das Wasser, als dieser bestimmte
Körper, ist endlich, teilbar, vergänglich und veränderlich. Als Substanz
aber ist das Wasser dasselbe, was jeder andere Körper ist, dasselbe
auch, was dasjenige ist, welches beharrt, während das Wasser ent-
steht und vergeht, woraus es entsteht und worin es vergeht; dieses
also entsteht und vergeht nicht, ist ewig unvergänglich. Auch teilbar
ist das Wasser, aber nur als Wasser. Denn dem geteilten Wasser
liegt dasselbe zugrunde, wie dem ungeteilten, dieses ist also nicht ge-
teilt, sondern unteilbar. In alles endliche Vergängliche so die wahren
Prädikate der Substanz hineinzuschauen — darin besteht die Be-
trachtung aller Dinge sub specie aeternitatis.
Halten wir hier einen Augenblick inne. Zunächst sehen wir,
daß wir es hier mit einer ganz und gar transzendenten Konstruktion
in Begriffen der spekulativen Vernunft zu tun haben. Die Frage,
wie der Verstand etwas derartiges überhaupt von Substanzen wissen
kann, hat sich Spinoza weder aufgeworfen, noch aufwerfen können.
Denn von seinem Standpunkt aus ist sie wesentlich unbeantwortbar.
Hier stoßen wir auf den Fehler, der dem System Spinozas notwendig
als einer vorkantischen Spekulation anhaftet.
Kant hat zuerst die Frage nach dem Verhältnis von Sein und
Erkennen auf eine neue Grundlage gestellt 2), er hat den Lehrsatz
2) Dieser Ausspruch soll nur eine allgemeine, abstrakte Formel sein.
Von hier bis zur im Einzelnen haltbaren Ausführung des Gedankens ist noch
ein weiter Weg. Mit der ersten Aufstellung dieses neuen Standpunktes ist
noch lange nicht eine befriedigende, allseitige, in sich konsequente Durch-
führung desselben gegeben, und nicht nur hat die Kantsche Position in halben
Köpfen, den „Kantianern", von denen Reinhold noch der beste unter den
schlechten ist, erbärmliche kritisch-dogmatische Zwittergebilde erzeugt,
gegen die der schlechte und rechte Dogmatismus noch etwas Erträgliches dar-
stellt, sondern auch der große Urheber dieses Standpunktes ist selbstverständ-
lich nicht in allen Einzelheiten der Durchführung des neu Erkannten glücklich
gewesen. Es sei nur an den Streit ums Ding an sich erinnert. Aber daß Kant
zuerst den Mut gehabt hat, in der Erkenntnisfrage eine kopernikanische Um-
kehrung herbeizuführen, bleibt sein ewiges Verdienst und auch der sicherste
Stützpunkt, an dem die heutigen systemat isclien Bemühungen der Philosophie
neu anknüpfen können.
258 Samuel,
Spinozas, daß der Verstand nicht zur naturenden, sondern zur gena-
usten Natur zu rechnen sei, umgekehrt. Raum und Zeit als An-
schauungen, die Kategorien als Begriffe, die Grundsätze als das
zwischen beiden Vermittelnde, endlich die eine höchste Einheit der
Erkenntnis anstrebenden, wenn auch nicht erreichenden Ideen der
Vernunft hat Kant zuerst in umfassender Weise als die Bausteine der
ganzen Erfahrungswelt nachgewiesen. Die Bedingungen der Erfahrung
als Erkenntnis sind zugleich die Bedingungen der Gegenstände dieser
Erfahrung. Nicht mehr sind alle Erkenntnisgebilde bloße Wirkungen
von transzendent außer uns bestehenden Dingen an sich (welches
„Außer uns" eine Unbegreiflichkeit einschließt, wie Berkeley einsah)
auf ein passiv hinnehmendes Subjekt, sondern die Spontaneität des
Geistes beteiligt sich selbst an dem Aufbau der Welt der Objekte,
die allerdings keine Dinge an sich, sondern nur Erscheinungen ent-
hält; dies ist die Machtverengerung, die die Erkenntniskraft gewisser-
maßen als Ausgleich jener Machterweiterung erfährt, nämlich auf die
Leistung in der Erscheinungswelt eingeschränkt zu sein und nichts
außerhalb der Grenzen unserer Erfahrung an selbständiger, stoff-
freier Erkenntnis schaffen zu können.
Offenbar fällt nun auch Spinozas transzendente Substanzkon-
struktion dem Spruch der Kantschen Kritik anheim, der verbietet,
ein den Verstand überragendes an sich Seiendes, auf das die Form des
Verstandes zwar Anweisung gibt, als ein erforschbares Reales zu
setzen. Tut er das doch, dann ist alles scheinbar von dem transzen-
denten Gegenstande, von dem Ding an sich Erforschte nichts als
Erschleichung, deren Inhalt aus der Erscheinungswelt stammt. Die
Substanz mit unendlich vielen Attributen ist nun das Ding an sich
Spinozas. Das sicherste Anzeichen, daß wir hier eine unreale Begriffs-
konstruktion vor uns haben, besteht darin, daß, wenn eine so be-
schaffene Substanz überhaupt existiert, das, was Spinoza von ihr
ausmacht, ja wahr sein könnte, daß aber durch seine Begriffs-
entwicklung gar nicht bewiesen wird, ob überhaupt so etwas wie eine
Substanz von unendlich vielen Attributen existiert, sobald man die
Existenz ursprünglich nicht als Prädikat, sondern der Wahrheit
entsprechend, als absolute Position auffaßt.
Deshalb hatte Kant seine synthetische Beziehung auf mögliche
Erfahrung nötig. Der Dogmatismus allerdings ersetzt diese Lücke
durch einen ontologischen Beweis der Existenz der Gegenstände
Die Grundlehre Spinozas. 259
seiner Begriffskonstruktionen, was bei Spinoza im 7. Lehrsatz des
ersten Teils geschieht. Aber dieser Beweis ist allemal ein offenbares
Sophisma. Nach seinen Begriffen könnte sein Gegenstand ebenso gut
sein wie nicht sein. Gerade dadurch, daß der Dogmatismus die Er-
kenntnis des Seienden an sich erstrebt, verstrickt er sich in leere
Begriffsdichtung 3).
Aber nicht nur ein dem Spinozistisehen System mit andern seiner
Zeit notwendig gemeinsamer Fehler wird durch die Anwendung
Kantscher Kritik auf jenes klargestellt, sondern auch die ihm eigen-
tümlichen Unwahrheiten. Sein Substanzbegriff nötigte ihn, unendlich
viele Attribute anzunehmen, aus denen unendlich vieles folge, ohne
aber daß eine Modifikation eines Attributs auf die Modifikation eines
andern Attributs einzuwirken vermöchte, denn das Bindende der
Attribute sollte nur die Substanz sein. Da aber die Modifikationen
der verschiedenen Attribute an sich ein und dasselbe Ding 4), eben die
3) Sollen wir den Substanzbegriff aufgeben, dessen Fassung mit solchen
Schwierigkeiten verbunden ist? Das wäre eine Lehre, die die Philosophie
Spinozas der heutigen zu geben vermöchte. In der Tat besteht eine Richtung
des Neukantianismus, die den Relationsbegriff an die Stelle des Substanz-
begriffs setzen will. Hierzu gehört auch das Werk Cassirers über das Erkennt-
nisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, über dessen
ersten Band eine Besprechung von mir in der Zeitschrift für Philosophie und
philosophische Kritik erschienen ist. Dort habe ich darauf hingewiesen,
daß gar keine Notwendigkeit für diesen Ersatz eines Substanzbegriffs für eine
nachkantische Philosophie besteht.
4) Man hat die Frage aufgeworfen, ob die Attribute nur verschieden
vom Standpunkt der Betrachtungsweise des endlichen Verstandes, oder real
in Gott verschieden und unterschieden seien. Diese Frage ist aber durch die
Mittel des Systems Spinozas ganz und gar nicht beantwortbar. Daraus, daß
wir selbst ein Modus des Attributs des Denkens in Gott sind, dieses Attribut
unmittelbar durch unsere Selbstheit von andern unterscheiden, folgt nicht,
daß auch die Wesenheiten in Gott nur getrennt existieren können und daraus,
daß wir alles von unserem subjektiven Standpunkt aus betrachten, nicht, daß
mit ihm auch die Unterschiede zwischen den Attributen verschwinden, da
auch dann, wenn jenes stattfand, die Wesenheiten getrennt in Gott bestehen
können. Entscheidet man sich für die erste Auffassung, dann kann man die
Gründe nur aus der Erseheinungswelt hernehmen, indem man etwa sagt, jede
Einheit setze eine Vielheit voraus, an der sie ihre Funktion erst vollziehe.
Die andere Annahme, die Verschiedenheit der Attribute sei nur ein Schein,
der die Modifikation des göttlichen Denkens, die wir nur sind, täusche, un-
abhängig von unserer Betrachtungsweise existiere nur ein unterschiedloses
260 Samuel,
Substanz sein sollten, so mußte er, mit gleichzeitiger Berücksichtigung
jener Wirkungslosigkeit der Attribute aufeinander, in den Substanz-
attributen einen durchgängigen Parallelismus annehmen. Die Ord-
nung und Verknüpfung der idealen Dinge ist dieselbe wie die Ordnung
und Verknüpfung der realen Dinge. Mit der wirklichen Durchführung
dieses Satzes und Parallelismus sah es aber schlimm aus, und es konnte
gar nicht anders kommen, als daß bei der unendlichen Verschieden-
artigkeit der beiden Gebiete des objektiv Seienden und der Welt des
Geistes zwar einiges gefunden wurde, was in ein System des Parallelis-
mus zu passen schien — und dies fand in der naiven Auffassung der
Wahrheit als der Übereinstimmung eines Begriffes mit seinem Gegen-
stande seinen Stützpunkt — anderseits aber auch vieles, was gar nicht
zu einander stimmen wollte. Es blieb dann nichts weiter übrig, dieses
als Schein zu erklären, oder umzudeuten. Soweit dies aber nicht ge-
lang, entstanden innere Widersprüche und eine Erscheinung, die
man mit Begriffswechsel bezeichnen kann. Endlich konnte Spinoza
sich auf jene Grundauffassung von dem Verhältnis der Attribute
nur da berufen, wo es für seine Auffassung ersprießlich war, das übrige
aber, was aus der Annahme eines Parallelismus zwischen Geistigem
und Objektivem ebenso notwendig folgt, im Dunkeln lassen, was
umso eher gelingen konnte, als Spinoza gar kein methodologisches
Regulativ für die Anwendung seines Grundsatzes aufstellt.
Aus dem hier Dargelegten sind wie aus einem Keime die haupt-
sächlichsten Fehler des Systems Spinozas zu entwickeln. In eigen-
artiger Weise werden sich uns mit dieser Darlegung die Resultate
der Kantschen Kritik verbinden. Zu demjenigen, was Spinoza, um
die Attribute des Denkens und der Ausdehnung in Parallele setzen
Eines, hat auch ihre Schwierigkeit. Denn dann läßt sich die Möglichkeit, wie
es zu einem solchen Schein kommen könne, gar nicht ausmachen. Man sieht
leicht, daß derartige Unbestimmtheiten dem transzendenten Dogmatismus
notwendig anhaften ; denn woher sollten auch die Mittel genommen werden, sie
abzustellen ? Von der Art, wie die Substanz, insofern sie Substanz ist, die
Attribute in sich enthält, können wir überhaupt nichts wissen. Läßt man
aber mit Kant nur eine transzendentale Einheit der Apperzeption als höchste
zu, so verschwindet die Unbestimmtheit augenblicklich. Denn die Frage, ob
die Vielheit des reinen Mannigfaltigen real in ihr unterschieden sei, fällt, da
die Einheit der transzendentalen Apperzeption eine Erkenntniseinheit ist,
mit der andern, ob dieser Unterschied nur vom subjektiven Standpunkt aus
bestehe, zusammen.
Die Grundlehre »Spinozas. 261
zu können, so daß alles, was in dem einen enthalten ist, in dem andern
auffindbar ist, als Schein erklären mußte, gehört die Realität der
Begriffe des Zweckes, der Schönheit, des Guten und Bösen und ähn-
licher. Im Attribut der Ausdehnung, der rein materiellen Welt, sind
derartige Postulate nicht auffindbar; also wäre mit ihrer sich auf
die geistige AVeit beschränkenden Realität der Parallelismus verletzt.
Also existieren jene Begriffe gar nicht in Gott. Aber sie sind doch
auch Modifikationen des Attributs des Denkens und heischen als
solche dieselbe Berücksichtigung wie der Kausalbegriff , der in Spinozas
System eine ganz andere Stelle einnimmt. Des ganzen Reichtums
an unmittelbarem Besitz des Geistes, den die neuere Philosophie
als apriorische Elemente gerade in jenen Begriffen nachwies, muß
sich also Spinoza begeben. Den begrifflichen Inhalt, der ihm für
die Erforschung seines transzendenten Gegenstandes zur Verfügung
stand, benutzte er also nur teilweise. Die köstlichen Blüten, die ganz
dem Garten des Geistes angehören, trugen ihm keine Früchte. Er
mußte sie wie Unkraut ausjäten, damit Geist und Natur einander
angeglichen und sein Parallelismus möglich würde. Daher kommen
diese naturalistischen Züge in sein System hinein, das doch der ur-
sprünglichen Anlage nach das gerade Gegenteil des Naturalismus
ist, Akosmismus, wie Hegel treffend die Kehrseite des Pantheismus
benennt 5).
Gegen diejenigen, die nur einen äußeren Zweck kennen, und alles
nach dem engen Gesichtspunkte des Nutzens für ihre Einzelpersönlich-
keit betrachten, ist Spinoza mit seiner Einwendung gegen den Zweck-
begriff vollständig im Recht, Diese wollen aber auch den Zweckbegriff
in einer Sphäre zur Anwendung bringen, wo der Kausalbegriff fast
5) Ein anderer falscher Abstraktismus Spinozas zeigt sich in seiner
Verwechslung des kontret und abstrakt Gemeinschaftlichen. Jenes kann nur
die Substanz sein, das alles in sich Fassende; dieses dagegen, wodurch die
adäquate Erkenntnis in Begriffen möglich wird, ist das Gemeinschaftliche
von Attributmodifikationen. Das beiderseitige Vorkommen des Merkmals des
Gemeinschaftlichen bildet für Spinoza nun den Mittelbegriff zum Schluß auf
die adäquate Erkenntnis, die wir von Gott haben sollen. Aber dieses Merkma I
kommt in zwei ganz verschiedenen Begriffen vor, Spinoza begeht also den
Felder der quaternio terminorum, und diese Abstraktion einer Abstraktion
ist weit davon entfernt, eine adäquate Erkenntnis Gottes sein zu können.
Die Spuren des Weges, der zur Abstellung dieses .Mangels führt, halten in dvr
neueren Zeit nicht Kant, sondern Hegel und VA. v. Hartmann verfolgt.
Archiv tür Geschieht*- der Philosophie. XXVI. 2. 17
262 Samuel,
alleiniges Recht hat. Spinoza verfällt aber in den umgekehrten Fehler,
mit dem Begriff des Zwecks überhaupt auch den höheren Begriff
des inneren Zwecks als Scheinbildung zu verwerfen. Es bliebe dann
nichts anderes übrig, als da den Kausalbegriff einzuführen, wo der
Zweckbegriff fehlerfreie Anwendung findet: in den Geisteswissen-
schaften. In der Geschichte z. B. wird die Kategorie des Zweckes
fortwährend angewandt und ohne sie wäre jene gar nicht möglich.
Der erste Fehler, der Spinoza eigentümlich ist, besteht also in der
Einschränkung des Geistes, Ideellen auf das Naturhafte 6). Dieser
Fehler ist aber mit dem andern notwendig verknüpft, daß als Maß-
stab, nach dem die Art der Gesetzlichkeit der Substanz oder Gottes zu
begreifen ist, die reine Naturgesetzlichkeit, d. h. das Kausalgesetz,
angenommen wird. In diesem Sinne wird dann die Natur Gottes
verstanden. Das Kausalgesetz erkennt Spinoza ganz an: Alle Modi-
fikationen der Ausdehnung, alle endlichen Einzeldinge weisen auf
eine unendliche Reihe von Ursachen hin, durch die sie hervorgebracht
sind. Im Attribut des Denkens muß nach dem Prinzip des Parallelis-
mus etwas Entsprechendes aufzufinden sein: es ist das Gesetz von
Grund und Folge, nach welchem die Einzelgedanken ebenso not-
wendig auseinander folgen wie die Einzeldinge nach dem Kausalgesetz..
Der letzte Grund aller dieser Modifikationen endlich ist nicht das
Attribut, sondern die Substanz, Gott, aus dessen Natur alles not-
wendig folgt. Hieraus ergibt sich zunächst die Unfreiheit des
menschlichen Willens, der mit dem Verstände identisch ist: und
dieser ist ja nichts anderes als eine endliche Modifikation des
Attributs des Denkens.
Ferner ist Gott zwar in dem Sinne frei, als nichts außer ihm
Wirkendes existiert; aber diese Art von Freiheit können wir auch
6) Der Philosoph, der diesen Mangel vermeidet, der aber mit der ent-
gegengesetzten Einseitigkeit den Inhalt des Geistes für sein System verwertet,
ist Hegel. Sein Prinzip ist die Idee, der Geist, dessen Wesen ihm in der Freiheit
besteht. Trotz dieses verschiedenartigen Systemgefüges haben beide das Ge-
meinsame, daß ihnen das Problem der objektiven Existenz ungelöst bleibt.
Spinoza kommt zu einer bloßen Konstruktion in Begriffen über das Seiende,
von dem es aber zweifelhaft bleibt, ob es so existiert. Bei Hegel bleibt diese
Existenz nur eine Bestimmtheit des Geistes, der ,,sich zur Natur, seinem
Andern, entläßt", es aber, wie wir hinzufügen können, nie erreicht. Der Grund
dieser Übereinstimmung liegt darin, daß beide transzendent spekulieren.
Die Grundlehre Spinozas. 263
der Natur zuschreiben, wenn wir sie als unabhängig Wirkendes denken.
Das entspricht aber nicht dem Begriff, den wir uns von echter Willens-
freiheit machen. Gehört auch zu ihr, soweit wir sie im Besitz von
Menschen denken, nicht das Vermögen, logisch und real Unmögliches
ausführen zu können, so doch im Reiche desjenigen, was ebensogut
sein könnte wie nicht sein könnte, d. h. was möglich ist, eine
Freiheit der Wahl zu besitzen. Das sprechen wir der Natur ab,
und Spinoza muß es seinem Gotte absprechen. Dann besitzt aber
Gott noch nicht einmal Willensfreiheit im menschlichen Sinne.
Erst nachdem Spinoza das eigentümliche des Geistes seiner
unterscheidenden Bestimmungen beraubt hat, das Kausalgesetz zum
Maßstab der Wirkungsart Gottes angenommen hat, ist sein Parallelis-
mus, wie er ihn willkürlich faßt — denn es hätten ebenso gut andere
Bestandteile der Natur oder des Geistes unter besserer Wahrung der
Eigentümlichkeiten des letzteren in Parallele gesetzt werden können
— möglich. Dieser Parallelismus stammt ursprünglich, wie schon
bemerkt, aus dem naiven Realismus. Was aber die Bedeutung seiner
Spinoza eigentümlichen Umbildung ist, haben wir jetzt einzusehen.
Das kausale Folgen des einen aus dem andern betrifft nur die
endlichen Modifikationen der Attribute, nicht aber diese letzteren;
das eine Attribut wirkt nicht auf das andere. Sie sind nur durch
das Substanzsein miteinander verbunden. Das ist so, weil jedes
Attribut die Wesenheit eines und desselben Dinges, der Substanz,
ist. Gott ist also der Grund eines ausgedehnten Einzeldings, nicht
insoferne er das Ding erkennt, insofern in ihm eine Idee des Dinges
existiert, sondern insofern ihm das Attribut der Ausdehnung zu-
kommt, aus dem unendlich vieles auf unendlich viele Weise folgt.
Eine vollständige Durchbrechung des Prinzips liegt aber darin,
Ideen von nicht existierenden Dingen zugeben zu müssen. Die Möglich-
keit von falschen Ideen läßt sich nach den psychologischen Auf-
fassungen, die aus Spinozas Grundkonzeption der Substanz folgen,
auf die wir aber nicht näher einzugehen brauchen, noch dahin er-
klären, daß wir in uns nur Ideen von Affektionen unseres Körpers
haben, während wir mehr zu haben glauben; ähnlich die Möglichkeit
inadäquater Ideen dadurch, daß in Gott Ideen sein können derartig,
daß davon nur ein Teil unser ganzes Denken füllt. Aber bei dem Ver-
such, die Möglichkeit von Ideen nicht existierender Dinge einzusehen,
versagen alle Hilfsmittel, die der Parallelismus gewährt. Zwar ver-
17*
264 Samuel,
wertet Spinoza die Tatsache als Analogie, daß es einen Komplex
von als bloß möglich bestimmten Existenzen im Räume gibt, wie
z. B. im Kreise die Rechtecke aus den Schnittstücken je zweier Sehnen
nur der Möglichkeit nach existieren, solange dieses Sehnenpaar noch
nicht gezogen ist. So sollen auch die Ideen von nichtexistierenden
Dingen im Denken existieren. Hierauf ist zu sagen, daß die Erschei-
nung eines Komplexes bloß möglicher Existenzen im Räume nur da-
durch möglich wird, daß der Raum selbst schon eine Erkenntnisart,
und zwar eine Anschauung ist. Das Spinozistische Attribut der Aus-
dehnung — der reine Raum — gehört also selbst, wie Kant nachge-
wiesen hat, zum Attribut des Denkens im weiteren Sinne, reicht
gar nicht an das Sein an sich heran ; und nur hierdurch ist der Parallelis-
mus Spinozas, soweit er überhaupt gelingt, möglich. Soweit er aber
nicht gelingt, deutet er auf die ungeheure Verschiedenheit von Begriff
und Anschauung hin, und aus dieser läßt sich sehr genau jenes Miß-
lingen deduzieren. Wir kommen also zu dem überraschenden Resultat,
daß der Parallelismus Spinozas, durch den er das Denken und das
Sein der Objekte in Beziehung setzen will, gerade nur soweit gelingt,
als eine solche Beziehung gar nicht vorhanden ist, als aus dem Attribut
des Denkens gar nicht herausgetreten wird, als dieses jenes vielmehr
konstituiert.
Aber wir wollen das jetzt Widerlegte Spinoza einmal zugeben.
Dann zeigt sich noch Eigentümlicheres. Zugegeben also, daß der
bloß möglichen Existenz, der Existenz eines Dinges, insofern es bloß in
dem Attribut der Ausdehnung einbegriffen ist, nicht aber Dauer
besitzt, die ebenfalls bloß mögliche, nur in dem Attribut des
Denkens enthaltene Existenz der Idee entspricht und der wirk-
lichen Existenz eine wirkliche Idee, die aber außerdem natürlich
die Existenz ihres Gegenstandes, weil er existiert, als begriffliches
Merkmal enthält, dann ist bis jetzt der Parallelismus allerdings
streng gewahrt. Nun ist aber auch eine wirkliche Idee möglich,
ohne daß sie die Existenz ihres Gegenstandes einschließt; diese Be-
schaffenheit hat nämlich jede wirkliche, einzeln im Geiste existierende
Idee eines nichtexistierenden Gegenstandes; diese Erscheinung durch-
bricht auf alle Fälle den Parallelismus.
Sagten wir aber nicht, daß die Existenz gar nicht Merkmal eines
Begriffs, sondern Position sei? Natürlich handelte es sich damals
um das, was die Existenz ursprünglich ist: absolute Position; über
Die Grundlehre Spinozas. 265
diese können wir selbstverständlich auch einen Begriff bilden,
der in einem andern Begriff von irgendeinem Gegenstand enthalten
sein kann. Aber weil eben der Begriff, den wir uns von der Existenz
als absoluter Position machten, die Wahrheiten zur Folge hat, erstens
daß aus dem Enthaltensein dieses Merkmals niemals auf die Existenz
geschlossen werden kann, da dann die Folge zum Grunde gemacht
würde, daß zweitens ein Begriff wohl die Existenz eines andern
Gegenstandes, niemals aber seine eigene enthalten kann, ist er der
einzig mögliche.
Nach der naiven Auffassung bringt ein Gegenstand seine Vor-
stellung im Subjekt hervor; ein sonderbares Verhältnis: denn dann
ist der Gegenstand Ursache der Existenz der Vorstellung, die ihrer-
seits wieder die Existenz des Gegenstandes, wenn auch nur als Folge,
begrifflich enthält! Mit dem Gegenstande ist also die Vorstellung
zwar gesetzt, aber nicht ist sie umgekehrt nüt ihm aufgehoben. Aber
auch das Gegenstück dieser ganzen Auffassung besitzt die naive
Reflexion: mit der Vorstellung ist ihr nicht notwendig das Objekt
aufgehoben, sie kennt unabhängig von allen Vorstellungen existierende
Dinge. Aber welch ein Unterschied besteht zwischen diesen beiden
Aussprüchen! Gegen diesen richten sich die stärksten und berech-
tigsten .Zweifel der Philosophen, auch Spinozas. Auch er kennt keine
unabhängig existierenden Objekte, sondern von jedem gibt es not-
wendig eine Idee in Gott. Hierin liegt sogar das innerste Motiv zur
Aufstellung eines Parallelismus, der, soweit er sich hierin gründet,
vollauf berechtigt ist. Aber der andere Ausspruch der naiven Reflexion
von der Möglichkeit der Vorstellungen nicht existierender Dinge ist
von unbezweifelbarer Wahrheit, und er macht die Lösung des er-
wähnten Problems durch einen exakten Parallelismus unmöglich.
Will man trotzdem an ihm festhalten, dann wird er so kompliziert
und widerspruchsvoll, daß sein Lösungswert für unsere Frage nicht
größer ist als der der naiven Auffassung, während er doch nur der
Versuch ist, die Annahmen derselben, die sich in dem Zustande einer
verborgenen, aber heftigen Spannung befinden, zu vereinbaren. Eine
Bestätigung dieser Darlegung, wie die Systeme der neueren Philosophie
aus dem Gegenstandsproblem der naiven Reflexion geboren werden,
besteht darin, daß dem Spinoza mit der Aufgreifung seines Parallelis-
mus, eines immerhin höheren Denkmittels zum Versuch der Lösung
jener Frage, sofort die Kausalität des Gegenstandes in bezug auf die
266 Samuel,
Vorstellung zweifelhaft wird. Dieses drückt sich in seiner Unter-
scheidung von Vorstellung und Idee aus: jene ist ihm eine bloße
Wirkung der Einbildungskraft, wobei die Dinge Ursachen sind; diese
wird ihm unabhängig von den Objekten rein innerlich erzeugt. Des-
halb verwenden wir auch das Wort in diesem Sinne in unserer Ab-
handlung.
Wollte aber auch Spinoza in dem begrifflichen Nichteingeschlossen-
sein der Existenz des Gegenstandes das Entsprechende der bloß
möglichen objektiven Existenz erblicken (wodurch er sich aber mit
seiner vorigen Auffassung in Widerspruch setzte), so bliebe dann
eben das Verschwinden der Idee als Einzelnes im Denken und ihre
bloß mögliche Existenz in ihm übrig, dem dann nichts im Attribut
der Ausdehnung entspräche 7). Auf alle Fälle ist also der Parallelismus
verletzt. Dann käme aber noch das Wunderbare hinzu, daß dem Fort-
fall der dauernden Existenz im Ausgedehnten gar nicht ein Gleiches
im Denken entspräche, sondern nur der Fortfall des begriffsinhaltlichen
Merkmals in der nach wie vor existierenden Einzelidee. Das Gebiet
der Begriffe erweist sich eben wieder hier als viel beziehungsreicher als
das der Anschauung und des objektiv Seienden, und da ist es eben
nicht möglich, dieses Mehr an eigentümlichen Phänomenen einfach zu
vernachlässigen und Denken und Sein über einen Kamm zu scheren.
Nun müssen wir einige Einwände besprechen, die sich im Sinne
Spinozas hiergegen erheben lassen. Das Haben der Idee eines nicht-
existierenden Dinges könnte auf das Haben gewisser Körperaffektionen
zurückgeführt werden, und dann entspräche auch dieser ein Gegen-
stand im Attribut der Ausdehnung. Aber was ist das frei Hinzugefügte,
das ich mehr habe, wenn jene Idee in mir ist? Auf diese Frage läßt sich
im Sinne des Einwandes keine Antwort geben. Habe ich eine bloße
Körperaffektion und glaube ich die Idee des Dinges zu haben, mit der
sie in Wirkungszusammenhang stand, dann irre ich mich, habe aber
nicht eine wahre Idee eines nicht existierenden Dinges, die ein Be-
wußtsein darüber, daß das Ding nicht vorhanden ist, einschließt.
7) Die einzelnen Attributmodifikationen folgen kausal in jedem Attribut
für sich auseinander, was ein reines Entsprechen der Modifikationen ver-
schiedener Attribute mit begründet. Wird deshalb in einem Attribute
etwas aufgewiesen, dem in einem andern nichts entspricht, so ist diese Art der
Gesetzlichkeit, dieses Zusammen von reinem Entsprechen und kausalen Folgen,
unmöglich geworden.
Die Grundlehre Spinozas. 267
Die von innen nacherzeugte Körperaffektion ist wohl die psychologische
Bedingung der betrachteten Erscheinung, die conditio, sine qua non,
aber nicht die Sache selbst : der Gedanke an das Ding, das nicht
existiert.
Ein zweiter Einwand, den einer erheben könnte, wäre: Aber
Spinoza will ja die bekämpfte Auffassung nur als eine inadäquate
Veranschaulichung gelten lassen, denn er sagt (nach der Übersetzung
von Baensch): „Sollte jemand zur ausführlicheren Erläuterung des
eben Gesagten ein Beispiel wünschen, so werde ich allerdings kein?
geben können, das die Sache, von der ich hier rede und die nun einmal
einzigartig ist, adäquat erläutert; doch werde ich mich bestreben,
die Sache, so gut es geht, anschaulich zu machen." Ja, wenn das nur
wahr wäre ! Aber man sollte gerade das Gegenteil erwarten : denn es
handelt sich um das Verhältnis der Existenzweisen von Einzeldingen
als Modifikationen des Attributs der Ausdehnung und der Ideen
derselben. In demjenigen, was dem Zitat folgt, hat es aber Spinoza
genau mit demselben zu tun: sogar mit rein mathematischen Modifi-
kationen des Attributs der Ausdehnung und der Ideen hierüber. Gerade
in seinem Sinne redet er also von der Sache selbst und gar nicht in-
adäquat. Daß dies eine bloße Veranschaulichung sein sollte, kann ich
nicht gelten lassen. Sollte Spinoza etwas von der Schwierigkeit seiner
Auffassung gemerkt haben?
Auch daß Spinoza seinen Parallelismussatz auf die Ideen als
Objekte von andern Ideen anwendet, ist eine Durchbrechung seines
Prinzips, da ja dieser Vorgang der Vergegenständlichung der Ideen
für einander sich ganz in dem einen Attribut des Denkens abspielt.
Bezeichnenderweise ist diese Durchbrechung mit einer Anerkennung
des größeren Reichstums des Geistes verbunden: wer etwas weiß,
weiß auch, daß er dies weiß, und so fort ins Unendliche, so daß jedes
Wissen die vollendete Unendlichkeit eines Reihensystems von Ideen
und Gegenständen ist, derartig, daß jede Idee in ihm zweimal vor-
kommt, einmal als Idee, dann als Gegenstand der nächst höheren.
Die Anwendung des Parallelismussatzes erlaubt hier der Umstand,
daß die Idee das mit den ausgedehnten Dingen gemeinsam hat, zur
Ursache werden, das Attribut des Denkens zu einer andern Idee
affizieren zu können. Allein Spinoza berücksichtigt nicht, daß nach
der ursprünglichen Anlage seiner Auffassung das reine Entsprechen nur
das Verhältnis zwischen Denken und Ausdehnung bestimmt. Da mit
268 Samuel,
dieser Festsetzung die Frage nach der Subjekt-Objekt-Beziehung
mehr abgeschnitten als gelöst ist, wie wir noch sehen werden, so ist
allerdings auch die Tatsache, daß eine Idee für eine andere vergegen-
ständlicht werden kann, erst recht unbegreiflich geworden. Im Denken
soll sich zwar dieselbe Verknüpfung finden wie im Ausgedehnten.
Daß aber das Verhältnis, in dem beide Attribute zueinander stehen,
im einen noch einmal zur Anwendung kommt, ist ein entschiedener,
aber notwendiger Widerspruch des Systems des Parallelismus.
Jetzt können wir seine wahre Bedeutung erkennen und den Zu-
sammenhang des Urteils, das wir über ihn fällen, mit der Kantschen
Philosophie. Die naive Reflexion stellt im Wahrheitsbegriff schon
einen Parallelismus des Entsprechens der Gegenstände mit wahren
Begriffen auf, durchbricht ihn aber, wie wir gesehen haben, in doppelter
Weise. Einerseits dadurch, daß sie den größeren Reichtum der einen
Seite mit Recht nicht antastet, dann aber, daß sie mit ihm den frucht-
baren Begriff des Bedingens in der Weise verbindet, daß sie die Gegen-
stände, denen doch die Begriffe, sofern sie wahr sind, rein entsprechen
sollen, zu Ursachen eben dieser Begriffe als Vorstellungen stempelt.
Ein Philosoph, der sich durch die Einsicht des Problematischen, der
widerspruchsvollen Bestandteile, die dieser Standpunkt benutzt, zu
einer höheren und gefestigteren Ansicht erheben wollte, könnte das
z. B. dadurch versuchen, daß er den Begriff des Bedingens, wie er
hier verwandt wird, beiseite setzte, und die Vorstellung des Parallelismus
rein herauszuarbeiten strebte. Das hat nun Spinoza getan. Zu diesem
Zweck mußte er aber auch den Reichtum der einen Seite nivellieren.
Auf diese Weise gelangte er zu einer sehr exakten Vorstellung des
Parallelismus, aber hierdurch noch lange nicht zu einer glücklichen
Lösung der Probleme, die die naive Reflexion darbietet. Der größere
Reichtum der einen Seite darf nämlich in seiner Eigentümlichkeit
nicht gestört werden, und ferner können wir auch nicht auf den außer-
ordentlich fruchtbaren Begriff des Bedingens verzichten und den
Unterschied zwischen dem Bedingenden und Bedingten durch den
Begriff des reinen Entsprechens aufheben, der nur ein Trümmerstück
dieses Begriffspaares ist. Dergleichen durch eine Nivellierung begriff-
licher Problembestandteile zustande kommenden Lösungen stellen
eine besondere Klasse dar. Weil sie sich von der gewöhnlichen An-
sicht sehr weit entfernen, sind sie sehr schwer auszuführen und stellen
an die geniale Denkkraft ihrer Urheber die größten Anforderungen.
Die Grundlehre Spinozas. 269
Wenn man nun auch Spinoza zugestehen muß, daß er in dieser Hin-
sicht das Menschenmögliche geleistet hat, so ist damit doch nicht
gesagt, daß das Schwerste auch immer das Richtigste ist. Wenn nun
die naive Reflexion im Gebrauch des Begriffs des Bedingens im Recht
ist und nur die Art, wie sie ihn verwendet, falsch ist, dann gilt die
Frage: Da der Gegenstand nicht die Erkenntnis bedingt, welches
Verhältnis des Bedingens findet denn dann hier wahrheitsgemäß
statt? Hier setzt nun die großartige Leistung Kants mit seiner Ant-
wort ein: Gerade das umgekehrte. Die Erkenntnis bedingt den Gegen-
stand durch die apriorischen Elemente, die sie enthält. Der Verstand
ist der Gesetzgeber der Natur. Die nähere Ausführung dieser Idee
in der Kritik der reinen Vernunft hat, obgleich sie in gewissen Punkten
verbesserungsbedürftig ist, den Beweis erbracht, daß dabei der eigen-
tümliche Reichtum des Geistes im Vergleich mit der Welt der Objekte
nicht nivelliert, sondern gerade im Gegenteil recht plastisch heraus-
gearbeitet wird (und dies ist die zweite Art, mit den Problemen
der naiven Reflexion fertig zu werden), daß ferner der fruchtbare
Begriff des Bedingens und Bedingtseins die ihm zukommende Stelle
im System der Vernunft erhält. Hierdurch kommt so recht zum
Bewußtsein, daß eine Lösung, die jenen Begriff antastet, nichts ist.
Falls sich das aber so verhält, dann müssen die Mängel einer hiervon
abweichenden Lösung des Problems sich auch durch immanente
Kritik finden lassen, was oben durch Aufdeckung der Schwierigkeit,
den Parallelismus wirklich rein durchzuführen, zu leisten versucht
worden ist.
Zum Schluß noch ein Wort über die Bedeutung des Spinozistischen
Parallelismus für die heutige Philosophie. In der Gegenwart erleben
wir den höchst interessanten Vorgang der Lostrennung einer Einzel-
wissenschaft von dem Mutterboden der Philosophie: der Psychologie.
Sie geschieht nun wesentlich mit Hilfe des Spinozistischen Parallelismus,
der natürlich als eine metaphysische Theorie eine Umbildung ins
Empirische als psychophysischer Parallelismus erfahren muß. Auch
bei Wundt findet sich ein Hinweis auf diesen Zusammenhang. So
erlebt Spinoza heute eine ganz andersartige Wiederauflebung als zur
Zeit Lessings. Mit unserer Kritik ist nun auch zum größten Teil die
Kritik dieser speziellen Ausbildung des Parallelismus gegeben. Es
geht aus ihr vor allen Dingen hervor, daß die Psychologie als Einzel-
wissenschaft das Schicksal anderer physischer Einzelwissenschaften
270 Samuel,
teilt, auf sehr anfechtbaren Grundvorstellungen aufgebaut zu sein.
Man denkt hier unwillkürlich an den Atomismus. Es sieht beinahe
so aus, als ob eine Einzelwissenschaft nicht anders als auf Grund
solcher trümmerhaften Begriffe, die auf ihre Eingeschränktheit Rück-
sicht nehmen, möglich wäre. Aber als Arbeitshypothese mag der
psychophysische Parallelismus seine guten Dienste für die Psychologie
leisten. Man muß von ihm nur nicht verlangen, eine Lösung für die
letzten Fragen der Philosophie zu geben. In diesen natürlichen Fehler
ist aber schon Fechner verfallen. Das kann nur die Philosophie durch
eine begriff liehe Durchforschung derjenigen Gedankengebiete zu
leisten versuchen, aus denen die Grundvorstellungen der Einzel-
wissenschaften überhaupt hervorgehen, nämlich der Erkenntnisse
a priori.
Rezensionen.
Große Denker. Herausgegeben von E. v. Aste r. Quelle & Meyer,
Leipzig 1912. 2 Bände, 384 und 380 S. (Br. 14 Mk., gebd. 16 Mk.)
Es kann nicht zweifelhaft sein, daß ein Werk wie das vorliegende eine
ganz eigenartige Bedeutung und einen besonderen Reiz hat. Es scheint mir
ein sehr glücklicher Gedanke zu sein, gewissermaßen eine Geschichte der
Philosophie zu geben durch eingehende Charakterisierung der bedeutendsten
philosophischen Systeme. Und ebenso fruchtbar erweist sich hierbei das
Prinzip, für jedes der dargestellten Gedankensysteme einen eigenen Inter-
preten zu Worte kommen zu lassen. Dadurch bekommt das Ganze eine Frische
und Lebendigkeit, wie sie ein Einzelner bei der Wiedergabe einander so ent-
gegengesetzter Standpunkte wohl kaum erreichen dürfte. Allerdings sind
auch gewisse Nachteile, die diese Darstellungsweise mit sich bringt, nicht
zu verkennen, die mangelnde Einheitlichkeit der Auffassung, die durchaus
verschiedene Behandlung des jeweiligen Stoffes und schließlich sogar gewisse
Widersprüche zwischen den einzelnen Darstellungen. Auf einen davon, viel-
leicht den charakteristischsten und auffallendsten werden wir nachher noch
zu sprechen kommen. Zunächst lasse ich eine Übersicht über das Gebotene
folgen. Es haben behandelt:
A. Fischer, München: Die Grundlehren der vorsokratischen Philosophie.
R. Richter, Leipzig: Sokrates und die Sophisten.
P. Xatorp, Marburg: Piaton.
F. Brentano, Florenz: Aristoteles.
A. Schmekel, Greifswald: Die hellenistisch-römische Philosophie.
M. Baumgartner, Breslau: Augustinus.
Derselbe: Thomas von Aquin.
R. Hönigswald, Berlin: Giordano Bruno.
M. Frischeisen-Köhler, Berlin: Descartes.
O. Baensch, Straßburg: Spinoza.
W. Kinkel, Gießen: Leibnitz.
E. v. Aster, München: Locke-Hume.
P. Menzer, Halle: Kant.
F. Medikus, Zürich: Fichte.
H. Falkenheim. München: Hegel.
O. Braun, München: Scbelling.
R. Lehmann, Posen: Schopenhauer.
Derselbe : Herbart.
A. Pfänder, München: Nietzsche.
W. Windelband, Heidelberg: Die philosopbischen Richtungen der Gegen-
wart.
272 Rezensionen.
Es scheint mir ganz unzweifelhaft, daß der Herausgeber ein großes Ge-
schick in der Auswahl seiner einzelnen Mitarbeiter bewiesen hat, denn wer
auch nur einen oberflächlichen Überblick über die Arbeitsgebiete der bei
diesem Werke beteiligten Gelehrten hat, wird von vornherein erkennen,
daß hier jeder der großen Denker einen Darsteller gefunden hat, der gerade
der Eigenart dieses Philosophen oder dieser Zeit ein besonderes Verständnis
entgegenbrachte. Und in der Tat finden sich unter all diesen Darstellungen
vielleicht nur ein oder zwei, die man nicht als gelungen ansprechen dürfte.
Wir können natürlich nicht auf alle hier näher eingehen. Über einige aber I
möchte ich — ohne jedoch die nichterwähnten dadurch irgendwie zurück-
stellen zu wollen — ein paar Worte sagen. Gleich die erste Arbeit, die Dar-
stellung der Vorsokratiker durch Fischer, einer der umfangreichsten Auf-
sätze dieses Werkes, bietet nach Stil und Inhalt eine außergewöhnliche
Leistung. Hier finden wir nicht jene trockene systematisch abhandelnde
Art, die wir sonst bei Darstellungen der altgriechischen Philosophie gewohnt
sind. Fischer hat es nicht genügt, die Systeme dieser Denker nur darzu-
stellen, sondern er versteht es auch ihren Gründen nachzuspüren, die dunklen
Worte faßlich zu machen und uns so diese Männer wirklich näher zu bringen,
so daß wir ihre Probleme in den unseren wiedererkennen, ohne doch den Unter-
schied zwischen ihrer noch selbstsicheren monumentalen Fragestellung und
der unseren, die durch den Skeptizismus gesiebt eine viel vorsichtigere, aber
auch minutiösere geworden ist, zu vergessen. Sodann scheinen mir die beiden
Baumgartnerschen Aufsätze einer besonderen Beachtung wert, schon allein
um dessent willen, weil die mittelalterlichen Denker im Großen und Ganzen
sich für die Gegenwart in eine viel nebelhaftere Ferne verlieren, als die an-
tiken; sei es nun, daß das Interesse sich dieser Epoche nur selten zuwendet,
sei es daß die Darstellungen dieses Zeitabschnittes besonders zu wünschen
übrig lassen. Vielleicht auch aus beiden Gründen. Der Verfasser hat für
seine Darstellung der beiden einander so entgegengesetzten Systeme des
Augustin und des Thomas von Aquino eine außerordentliche übersichtliche
Gliederung gefunden, deren besonderer Vorzug es ist, daß sie wie von selbst
zu einem Vergleich dieser beiden Philosophen herausfordert und den Ver-
gleich fast durchführt. Allerdings scheinen mir im Bilde Augustins wesent-
liche Züge zu fehlen, die, wenn sie auch in erster Linie für seine kirchliche
Lehre von Bedeutung sind, in einer Darstellung seiner Philosophie doch nicht
übergangen werden dürfen. Als einen besonderen Vorzug der Asterschen
Darstellung von Locke und Hume möchte ich seine hervorragende" Klarheit
und Faßlichkeit hervorheben, die diesen Abschnitt wohl auch dem philo-
sophisch gar nicht Vorgebildeten zugänglich machen dürfte. Eine durchaus
eigenartige Leistung ist die Pfändersche Nietzsche-Darstellung. Wo bisher
über Nietzsches Philosophie geschrieben worden ist, da ist es meist in einem
Stil und einer Form geschehen, die es uns allmählich fast unmöglich gemacht
haben, Nietzsches eigentliche Gedanken und ihren systematischen Zusammen-
hang noch zu finden. Seine Darsteller pflegen ihn mit Begeisterung zu über-
schütten oder mit Unverständnis zu erdrücken. Nur gerecht werden sie ihm
nicht. So ist man denn zunächst ganz überrascht, hier eine gründliche, syste-
Rezensionen. 273
niatische Darstellung zu finden, die von jeder Phrase, ja von jedem über-
flüssigen Wort so weit entfernt ist, daß man sie fast trocken nennen möchte,
wäre sie nicht der einzige Weg, um uns einmal recht deutlich zum Bewußt-
sein zu bringen, daß Nietzsche nicht nur als Dichter, sondern auch als Philo-
soph Beachtung verdient, und daß der gedankliche Gehalt seiner Werke
doch das ist, worauf es ihm in erster Linie ankam. Besonders das Nietzscke-
sche Wort vom Übermenschen ist als Schlagwort so gründlich mißbraucht
worden, daß es schon einiger Anstrengung bedarf, um seinen Sinn wieder
zurechtzurücken. Möchten doch alle diejenigen, die sich über Nietzsche
zu reden oder zu schreiben bemüßigt fühlen — ■ und derer gibt es heute gar
viele — , es nicht unterlassen, sich mit dieser Darstellung seiner Lehre be-
kannt zu machen. Den Abschluß des ganzen Werkes bildet die Windelband-
sche Abhandlung über die philosophischen Richtungen der Gegenwart. Bei
dieser Gelegenheit muß ich auf den oben erwähnten merkwürdigen Wider-
spruch zurückkommen. Wer dieses Buch etwa hintereinander durchliest,
der hat soeben in dem Pfänderschen Aufsatz den wesentlichen philosophischen
Gehalt von Nietzsches Lehre in gedanklicher Klarheit dargestellt gefunden.
Dreht er jetzt eine Seite um, so findet er bei Windelband gleich auf der ersten
Seite den Satz: „Aus solchen Stimmungen ist es zu begreifen, daß man einen
Dichter wie Nietzsche für einen Denker genommen hat", und im Anschluß
daran noch ein paar Worte, die beabsichtigen, ihn weder ganz in das belle-
tristische Licht zu rücken. Im übrigen hat sich Windelband leider nicht die
Aufgabe gestellt, wirklich die Gegenwart zu behandeln, sondern er stellt
die jüngste Vergangenheit dar, diese allerdings mit der Meisterschaft, die
aus den Windelbandschen Werken zur Geschichte der Philosophie hinreichend
bekannt ist. Schade ist es aber doch, daß er nicht wirklich die Gegenwart
behandelt hat, denn das wäre ein Thema gewesen, das noch niemand gründ-
lich behandelt hat, und nur wenige darzustellen in der Lage wären
und von diesen wenigen wäre Windelband vielleicht der berufenste gewesen.
Wir wollen jetzt noch einen abschließenden Blick auf das Ganze des
Werkes werfen. Nach dem Vorwort des Herausgebers verfolgt es den Zweck,
nicht Philosophie, sondern philosophieren zu lehren. Und für diesen Zweck
macht es die Mitarbeit so vieler voneinander in Darstellungsweise, Auffassung
und Grundüberzeugung verschiedener Gelehrter gewiß besonders geeignet.
Seiner ganzen Art nach wendet es sich nicht nur an den Fachphilosophen,
sondern an den weiten Kreis philosophisch Orientierter und Interessierter.
Trotz der monographischen Behandlung der einzelnen Philosophen haben
es die meisten Verfasser mit glücklicher Hand verstanden, die geschichtlichen
und Zeitbeziehungen der Gedankensysteme zur Geltung zu bringen. Nur
das biographische Moment ist leider in einzelnen Darstellungen bedeutend
zu kurz gekommen.
Was das Äußere des Werkes betrifft, so hat sich der Verlag bemüht, durch
gute Bilderbeigaben, einen klaren und schönen Druck dem Inhalt des Buches
einen würdigen Rahmen zu schaffen. Allerdings läßt an einigen Stellen die
Sauberkeit des Satzes zu wünschen übrig. Der Einband ist von ungleichem
künstlerischen Wert. Während der Deckel in seiner klaren Einfachheit kaum
274 Rezensionen.
besser hätte entworfen werden können, scheint der Rücken mit verzierenden
goldenen Linien etwas überladen und läßt die stilistische Einfachheit, die
der Deckel zeigt und die einem solchen Werke auch angemessen erscheint,
vermissen. Immerhin sind das einzelne Ausstellungen, die den Gesamtcharakter
der Ausstattung nicht wesentlich zu beeinträchtigen vermögen.
So dürfen wir unser Urteil wohl abschließend dahin zusammenfassen:
Das Werk ist eine hervorragende Leistung in jeder Hinsicht und wir wünschen
ihm den Erfolg, den es verdient. W. Bloch, München.
Messer, A. : Geschichte der Philosophie im Altertum und Mittelalter.
Wissenschaft und Bildung Bd. 107. Verlag von Quelle & Meyer,
Leipzig 1912. VII und 136 S. gebd. 1,25 Mk.
Dieses Büchlein ist nicht für den Fachphilosophen geschrieben, wie
ja schon daraus hervorgeht, daß es in einer Sammlung populär-wissenschaft-
licher Darstellungen (im guten Sinne) erscheint, sondern es stellt sich die
Aufgabe, denjenigen Kreisen, die keine besondere philosophische Vorbildung
besitzen, einen Einblick in die Geschichte der Philosophie zu verschaffen,
deren Kenntnis ja zum Verständnis vieler anderer geschichtlicher und kultu-
reller Erscheinungen unentbehrlich ist. Es ist dem Verfasser gut gelungen,
auf engem Raum die schwierigen Fragen klar, anschaulich und fesselnd dar-
zustellen. Besonders erfreulich ist es, daß in dieser Darstellung auch die
mittelalterliche Philosophie, die in vielen populären Darstellungen kaum er-
wähnt wird, den ihr gebührenden Platz findet. In Fußnoten macht der Ver-
fasser häufig Bemerkungen, die die Beziehung zur gegenwärtigen Kultur-
lage herstellen. Außer einem Verzeichnis der behandelten Philosophen findet
sich auch ein Verzeichnis der Stellen, wo wichtige philosophische Begriffe
erklärt sind. Kurzum das Büchlein scheint mir in jeder Hinsicht seinen Zweck
zu erfüllen und ich möchte es daher der Beachtung empfehlen.
Bloch, München.
Stadler, August: Kants Teleologie und ihre erkenntnis theoretische
Bedeutung. Unveränderte Neuausgabe der 1. Auflage. Ferd.
Dümmler. Berlin 1912. 155 S. 3,60 Mk.
„Solange man die Werke Kants studieren und auf ihren Wortlaut unter-
suchen wird, um ihren historisch ewigen Sinn zu erforschen, solange wird
man auch die Kantbücher August Stadlers studieren und würdigen." Wir
können, wenn wir auf den Wert des vorliegenden Buches und das Verdienst,
das sich der Verlag mit der Neuausgabe erworben hat, hinweisen wollen,
nichts Besseres tun, als uns auf diese Worte Hermann Cohens zu beziehen.
Kant hat die Ästhetik in das System der Philosophie eingeordnet. In
diesem Zusammenhange mit dem Ganzen des Systems behandelt Stadler
das Prinzip der Zweckmäßigkeit. Dieser Terminus entspringt bei Kant aus
rein erkenntnistheoretischen Untersuchungen. Er stellt in letzter Hinsicht
die Hypothese von der Begreiflich keit der Natur dar, aber der neuen Natur
der Vernunftkritik als des Inbegriffs der Erfahrung und ihrer Bedingungen.
Rezensionen. 275
Die Kritik der Urteilskraft enthält nicht nur die Begründung der Ästhetik,
sondern auch die Begründung der beschreibenden Naturwissenschaft der
Organismen. Gerade hier hat der Gedanke der Zweckmäßigkeit seine eigent-
liche Stätte. Und hier wird die (gemeinhin verkannte, sogar von 0. Lieb-
mann) systematische Bedeutung des ,, Dinges an sich" als eines Grenzbegriffes
erst klar verständlich. Wer sich mit den Problemen der modernen Entwick-
lungslehre oder den Problemen der Ästhetik befaßt, wird sich notwendig bei
Kant Orientierung suchen müssen. Dabei werden ihm die gründlichen und
lichtvollen Ausführungen Stadlers gute Führerdienste leisten.
Dr. G. Falte r.
Hans Baer, Dr. phil., Beobachtungen über das Verhältnis von Herders
Kalligone zu Kants Kritik der Urteilskraft. Heidelberg.
Eine philologisch sorgfältig durchgeführte Studie. Bedenken muß es
erregen, wenn B. aus der Kalligone allein, ohne Heranziehung und Vergleichung
mit dem Reise-Journal, die Herdersche Ästhetik erschließen und mit der Kants
in Vergleich bringen will. B. zitiert Bleuke, Schlapp ; aus unerfindlichen Gründen
bezieht er sich nicht ein einziges Mal auf die grundlegende Arbeit über Kants
Ästhetik, H. Cohens: Kants Begründung der Ästhetik. Er hätte darin viel
Wertvolles für seine Arbeit nicht nur in bezug auf Kant, sondern auch hin-
sichtlich Herders gefunden.
Der beste Teil dieser Arbeit — eines ohne Zweifel geistreichen Mannes
— ist das 1. Kapitel des 2. Teils, in welchem die ästhetische Idee als innere
Form betrachtet wird.
Gießen. Dr. G. Falter.
Horst Engert, Dr., Das historische Denken Max Stirners. Leipzig,
Otto W i g a n d , 1911. 66 S. 1,80 M.
In dieser recht lesenswerten Abhandlung wird der Beweis \ ersucht,
Stirner sei aicht, wie man gemeinhin annimmt, Solipsist gewesen. Stirner
leugne nicht, daß es Probleme im Denken gebe, aber sie seien freiwillig auf-
gesuchte. Die Beweisführung des Verf. scheint mir nicht überzeugend. Denn
die Stellen, auf die er sich stützt, sprechen doch ohne Zweifel für die Auf-
lassung des Solipsismus. „Wahrheit erwartet und empfängt alles von dir
und ist selbst nur durch dich; denn sie existiert nur — in deinem Kopfe".
,, Durch meinen Willen erhält sie Wert. Ich bin das Kriterium der Wahrheit."
Daraus kann nur geschlossen werden, daß Stirner doch an der Klippe des
Solipsismus gescheitert ist.
Interessant ist der Nachweis, daß Stirner in seiner Auffassung der Ent-
wicklung des Einzelnen wie der < Jesellschaft von Hegels dialektischem Schema
abhängig ist. Wie im Egoismus des Mannes der Realismus des Knaben und
der Idealismus des Jünglings aufgehoben sei, erfolge im humanen Liberalismus
die Aufhebung des politischen und des sozialen Liberalismus.
Marburg a. L. Dr. G. F alter.
276 Rezensionen.
T i 1 1 i c h, Lic. theol. Dr. Paul: Mystik und Schuldbewußtsein in Schellings
philosophischer Entwicklung.
Ich zweifle nicht, daß die breiten Darlegungen, die nach ausdrücklichem
Geständnis des Verfassers einer „historisch-dialektischen" Methode folgen,
für Theologen großes Interesse darbieten werden, besonders für diejenigen,
die sich mit dogmengeschichtlichen Untersuchungen befassen.
Den Philosophen könnte höchstens die Einleitung, die die Methode der
Forschung begründet, zu eingehender Stellungnahme veranlassen. Der Ver-
fasser versucht eine Reduktion der sieben Perioden in der Entwicklung
Schellings auf zwei. „Vor der , Freiheitslehre' liegt der große Umschwung
in Schellings Denken." „Der Übergang ist aber nicht äußerlich, sondern
dialektisch." Der Verfasser meint, „daß Schelling durch den inneren Fort-
schritt seiner Entwicklung in die Nähe jener Philosophen (Spinoza, Plato.
Böhme usf.) geführt wurde und er sich, sobald ihm die Verwandtschaft zum
Bewußtsein kam, die ihm homogenen Elemente des verwandten Systems
aneignete". Er will Schelling zwar durchaus historisch aus seiner Zeit usf.
begreifen, allein er zieht für die vorgeführten Probleme eine immanente dialek-
tische Behandlung der systematischen Zusammenhänge vor.
Der Verfasser legt sich mithin selber Beschränkungen auf, die nach seiner
eigenen weiteren und tieferen Ansicht nicht berechtigt erscheinen. Die prak-
tische Durchführung der methodischen Grundsätze zeigt in der Tat, daß der
Verfasser sogleich ganz ins theologische und speziell dogmatische Fahrwasser
gerät. Ich glaube nicht, daß die Untersuchung, so fleißig und sorgfältig sie
angelegt sein mag, für die philosophiegeschichtliche Forschung einen för-
dernden Beitrag bedeutet. Immerhin ist der Versuch des Verfassers an sich
anzuerkennen und für die Theologie ohne Frage wertvoll, weil er die Auf-
merksamkeit auf wenig beachtete Probleme lenkt.
Dr. Bruno Jordan, Hannover.
Wilni, Emil Carl: The Philosophy of Schiller in its historical relations.
Der Verfasser will, gestützt auf die bekannten Werke von Überweg,
Tomaschek und Kuno Fischer und die moderne Forschung, nichtphilosophischen
englischen Lesern einen Überblick über Schillers Philosophie geben, soweit
ihr Verständnis aus allgemeinen literargeschichtlichen Gründen notwendig
erscheint. Der Versuch ist ihm innerhalb der selbst gezogenen Grenzen treff-
lich gelungen; sein Buch wird ohne Zweifel in Amerika und England viele
Leser finden. Da es die neueren Forschungen nach Kräften berücksichtigt,
klar und elegant geschrieben ist, kann es trotz mancher Mängel und Uneben-
heiten im einzelnen auch deutschen Lesern empfohlen werden.
Dr. Bruno Jordan, Hannover.
>n
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Averroes, Metaphysik. Hrsg. von Horten. Halle, Niemeyer.
Berkeley, Versuch einer neuen Theorie der Gesichtswahrnehmung. Hrsg.
von Schmidt und Barth. Leipzig, Meiner.
Diels, H., Fragmente der Vorsokratiker. 3. Aufl. Beilin, Weidmann.
Eucken, R., Die Lebensanschauungen der großen Denker. 10. Aufl. Leipzig,
Veit.
Frehn, J., Nietzsche und das Problem der Moral. Neubabelsberg-Berlin,
Akademische Verlagsgesellschaft.
Gomperz, Th., Griechische Denker. IL Bd. 3. Aufl. Leipzig, Veit.
Herbart. Einleitung in die Philosophie. 4. Aufl. Hrsg. v. Häntsch. Leipzig,
Meiner.
Hochfeld, S., Das Künstlerische in der Sprache Schopenhauers. Leipzig,
Veit.
Ihringer, B., Der Schuldbegriff bei den Mystikern der Reformationszeit.
Berner Studien. Bern, Francke.
Koltan, J., Die Gedankenwelt berühmter Biologen. München, Reinhardt.
Lotze, H., System der Philosophie. Hrsg. v. Misch. Leipzig, Meiner.
Maimon, S., Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. Hrsg.
v. B. Engel. Berlin, Reuther.
Mootz, H., Die chinesische Weltanschauung. Straßburg, Trübner.
Raab. F., Die Philosophie von R. Avenarius. Leipzig, Meiner.
Rehmke, J., Grundriß der Geschichte der Philosophie. 2. Aufl. Leipzig,
Quelle Mayer.
Sickel, P., Hebbels Welt- und Lebonsanschauung. Hamburg, Voß.
Slonimsky, iL, Heraklit und Parmenides. Gießen, Töpelmann.
Stadler, A., Kant. Akademische Vorlesungen. Leipzig, Barth.
Walther, II., Herbaits Charakter und Pädagogik in ihrer Entwicklung. Stutt-
gart, Kohlhammei.
Windelband, \\\, Lehrbuch der Geschiohte der Philosophie. ii. Aufl. Tübingen]
Mohr.
B. Englische und amerikanische Lite r a t u r.
Brett Sydney, History of Psychology ancient and patristic. London. Allen.
Boutroux, E., Historical Studies in Philosophy. I Ion. Macmillan.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. -J. |g
278 Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Holt, E. etc., The New Realism. New York, Macmillan.
Hall, S., Founders of modern Psychology. London, Appleton.
James, W., Essays in radical empiricism. London, Longmans.
Keller, The Problem of Exil in Plotinus. Cambridge.
Schiller, F., Studies in Humanism. London, Macmillan.
C. Französische und belgische Literatur.
Andler, Ch., Basch, Benrubi, etc. La Philosophie allemande au XIX siecle.
Paris, Alcan.
Bonet, P., Bossuet moraliste. Paris, Lethiellex.
Meyer, E., Histoire de l'antiquite. T. 1. Introduction ä l'etude des societes
anciennes. Paris, Geuthner.
Palante, Les Antinomies entre l'Individu et la Societe. Paris, Alcan.
D. Italienische und spanische Literatur.
Gemelli, A., Recenti scoperte e recenti teoiie nelle studio dell' origine dell'
nomo. Firenze.
Rutkiewicz, B., II psicomonismo o monismo psicobiologico. Firenze.
Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Viertel jahrsheft für wissenschaftliche Philosophie und Sociologie. Bd. XXXVI.
H. 3. Kuntze, Natur- und Geschichtsphilosophie.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 148. H. 2. Ferber,
Platos Polemik gegen die Lustlehre.
Philosophisches Jahrbuch. Bd. XXV. H. 4. Teixidor, B*e universalibus inxta
Suarez. Schindele, Friedrich der Große über Rousseau.
Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. XXV. H. 3 u. 4. Anschütz, Tendenzen
im psychologischen Empirismus der Gegenwart. Eine Erwiderung auf
O. Külpes Ausführungen „Psychologie und Medizin" und ,,Über die Be-
deutung der modernen Denkpsychologie".
Revue philosophique. An. 37. Nr. 11. Foucolt, Les revues allemandes de
Psychologie en 1911. — Nr. 12. Robet, La signification et la valeur
du pragmatisme. Peres, Vers une nouvelle conception du temps.
Revue de philosophie. An. 12. Nr. 9—10. Dom Quentin, La vie religieuse de
l'anachorete, du cenobite et du moine Benedictin. Maiie-Joseph du
Sacre-Coeur, Sainte Therese et le Carmel. Marechal, Sur quelques traits
distinctifs de la mystique chretienne. Pinaid, L'experience, la raison,
les normes exterieures dans le catholicisme.
— Nr. 11. Serol, La iin de l'homme selon W. James.
Revue de Metaphysik et de Morale. An. 20. Nr. 5. Le Savoureux, L'entiepise
philosophique de Renouvier. Mamelet, La philosophie de Simmel.
Zur Besprechung eingegangene Werke. 279
Lechalas, Une definition genetique du plan et de la ligne droite d'apres
Leibniz et Lobatschevsky. Koyre, Sur Ies nornbres de Russell.
Revue Neo-Scolastique. An. XIX. Nr. 76. Lebrun, Neo-Darwinisme et Neo-
Lamarckisrne. Gemelli, Une orientation nouvelle de la scolastique.
De Wulf, Le mouvement neo-scolastique. — L. de Lantsheere.
The philosophical Review. Vol. XXI. Nr. 6. Calkins, Bergson Personalist.
The American Journal of Psychology. Vol. XXIII. Nr. 4. Bentley etc., New
Apparatus for acoustical experiments. Ruckmich, The History and
Status of Psychology in America. Titchenei and Poster, Bibliography of
the Scientific Writings of W. Wundt.
The Monist. Vol. XXII. Nr. 4. Bostwick, Atomic Theories of Energy. Jacoby,
Pragmatism and Schopenhauer. Edmunds, Buddhist Loans to Christianity.
Schoff, A Postscript to Indo-Roman Relations in the first Century.
The Hibberl Journal. Vol. XL Nr. 1. Lobstein, Modernism and the protestant
consciousness. Scott, The Pessimism of Bergson. Strong, Quintilian,
A Study in ancient and modern methods of education. Glover, The
dämon environment of the primitive Christian. Landa. The future of
Judaism in England.
The Journal of Philosophy, Psychology and scientific Methods. Vol. IX. Nr. 25.
Lovejoy, Present Philosophical Tendencies. Mc Clure, A Point of
Difference between American and English Realism.
Rivisla di Filosofia. An. IV. Fase. IV. Calcagno, Bergson e la eultura con-
temporanea. Calosso, L'autonomia scientifica della storia dell' arte.
Zur Besprechung eingegangene Werke.
A. Deutsche Literatur.
Bacharach, A., Shaftesburys Optimismus und sein Verhältnis zum Leibnizschen.
(Diss.) Straßburg.
Caffi, E., Nietzsches Stellung zu Machiavellis Lehre. Wien, Selbstverlag.
Eucken, R., Erkennen und Leben. Leipzig. Quelle & Meyer.
Franzian, E., N. K. Michailowsky als Soziologe und Philosoph. Beilin.
Mayer & Müller.
Geijer, R., Die Situation auf dem psychologischen Arbeitsfeld. Berlin, Simion
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Grundriß der Geschichtswissenschaften. Hrsg. von Aloys Meistei. Bd. I.
Abt. 6. Leipzig, Toubner.
Harnack, A., Dio Benutzung der Königlichen Bibliothek und die deutsche
Nationalbibliothek. Berlin, Springer.
Hensel, I'., Hauptprobleme der Ethik. Leipzig, Teubner.
Hörter, F. H., Die Methode in Erich Wasmanns Tierpsychologie. Paderborn,
Ferd. Schöningh.
280 Zur Besprechung eingegangene Werke.
Jahrbuch der Philosophischen Gesellschaft an dei Universität zu Wien 1912.
Leipzig, J. A. Barth.
Jaskowski, Friedrich, Philosophie des Vegetarismus. Berlin, Otto Salle.
Jodl, Priedr., Geschichte der Ethik als philosophischer Wissenschaft. IL Bd.
Kant und die Ethik im 19. Jahrhundert. 2. Aufl., Stuttgart, Gotta Nfg.
Kant, J., Anthropologie. Hrsg. von K. Vorländer. Leipzig, F. Meiner.
Kiewer, M., Grundlagen einer organischen Weltanschauung. Berlin, Simion Xt.
Külpe, O., Die Realisierung. Bd. I. Leipzig, Hirzel.
Messer, A., Geschichte der Philosophie. Leipzig, Quelle & Meyer.
Monzel, A., Die Lehre vom inneren Sinn bei Kant. Bonn, Georgi.
Nietzsche, Friedrich, Werke Bd. XIX, Philologica. Bd. III. Leipzig, Kiöner.
Ostwald, Wilh., Die Philosophie der Weite. Leipzig, Ebd.
Rawitz, B., Der Mensch. Eine fundamental-philosophische Untersuchung.
Berlin, Simion Nf.
Rehmke, J., Grundriß der Gesohiohte der Philosophie. 2. Aufl. Leipzig,
Quelle & Meyer.
Schrecker, P., Henri Bergsons Philosophie der Persönlichkeit. München.
Reinhardt.
Schwieder, F. P., Nichts ist unmöglich. Straßbuig, Singer.
Slonimsky, H., Heraklit und Parmenides. Gießen, Töpelmann.
Stieglitz, O., Einfühlung in die Musikästhetik. Stuttgart, Gotta Nfg.
Teubners, B. G., Veilagskatalog auf dem Gebiete der Mathematik, Naturwissen-
schaften und Technik. Leipzig.
Westermann, E., Grundlinien der Welt- und Lebensanschauung Rudolf Hilde-
brands. Leipzig, Quelle & Meyer.
Wild, 0. C, Das Christentum im Lichte der modernen Wissenschaft. St. Galle i,
Selbstverlag.
Willmann, O., Aus der Werkstatt der Philosophia perennis. Freiburg, Herder.
Ziehen, Th., Erkenntnistheorie. Jena, G. Fischer.
B. Französische Literatur.
Dumesnil, G., La Sophistique contemporaine. Paris, G. Beauchesne.
Renouvier, Ch., Essais de Critique Generale. Deuxieme Essai. Traite de
Psychologie Rationelle. 2 Bde. Paris, A. Colin.
Roland-Gosselin, Les Methodes de la Definition d'apres Aristote. Kain.
C. Englische L i t e r a t u r.
Chatterton-Hill, The Philosophy of Nietzsche. London, John Ouseley Ltd.
Festskrift tillequad Edvard Westermarck. Helsingfors.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XIX. Band, 3. Heft.
XVI.
Kants Beweis für die transzendentale Synthesis der
Einbildungskraft.
(Kr. d. r. V. Kehrbach S. 116/118, 130/134.)
Von
Friedrich Maywald.
Inhaltsübersicht (die Zahlen beziehen sich auf die Absätze).
Aufstellung des Themas 1.
I. Das erste Glied des Beweises 2 — 11. Der Begriff der Reproduktion 3 — 4.
Reproduktion und Assoziation ohne Regeln und Wiederholungen der
Erscheinungen möglich 5 — 7. Assoziabilitat oder Affinität 8. Regel
und Folge 9—10. Ergebnis des 1. Teils 11.
II. Ein formeller Fehler des Beweises 12.
III. Die den Nerv des Beweises bildende Parallele zwischen empirischer
und transzendentaler Reproduktion 13 — 21. Vertauschung der Be-
griffe Assoziation und Reproduktion 13 — 14. Vereinbarkeit zu einer
„ganzen Vorstellung" als Erfordernis der Assoziation 15 — 16. Er-
fordernis von mindestens zwei Gliedern bei der Assoziation 17. Prüfung
der ,, reinen" Beispiele bezüglich dieser Erfordernisse 18 — 20. Ver-
schiedener Sinn des Begriffes Reproduktion bei der empirischen und
transzendentalen Synthesis 21.
IV. Eine Linie an sich usw. als Erfordernis der Parallele 22.
V. Affinität als Folge der Synthesis der Einbildungskraft betrachtet 23.
Dann der Beweis überflüssig 24. Empirisch und transzendental, ohne
Beweis vorausgesetzte Begriffe 25.
VI. Ein formeller Widerspruch des Beweises 26.
VII. Ein Zirkelschluß des Beweises 27. Ergebnis 28.
"■&"-
i Kant sucht in seiner Deduktion der Kategorien u. a. das Vorhanden-
sein und die Wirksamkeit einer produktiven bzw. reproduktiven
Einbildungskraft darzulegen. Tu der ersten Auflage der Kritik der
\ivhi\ für Geschichte der Philosophie. XXVI, 3. nj
282 Friedrich Maywald,
reinen Vernunft finden sich die darauf bezüglichen Ausführungen
besonders auf S. 116/118 und 130/134 (Ausgabe Kehrbach-Reclam).
Hier wird der Versuch gemacht, durch ein vom „Empirischen" (130)
ausgehendes Beweis verfahren zu zeigen, daß „man" eine reine trans-
zendentale Synthesis" „der Einbildungskraft" „annehmen müsse"
(117). Ich glaube, daß auf S. 130/134 im wesentlichen nur eine breitere
Ausführung der auf S. 116/118 dargelegten Gedanken zu finden ist,
und daß der Gedankengang hier durch Hereinziehung der „ursprüng-
lichen Apperzeption" (131 f.) gestört wird. Eine Kritik des Beweises
für die Annahme einer „transzendentalen Funktion der Einbildungs-
kraft" (132) kann sich also auf die Darlegungen auf S. 116/118 be-
schränken. Da sich eine solche Kritik auch bei H. Vaihinger („Die
transzendentale Deduktion der Kategorien", Halle 1902) nicht findet,
— er beschränkt sich auf die Bemerkung, daß dieser „Nachweis"
„sehr gesucht und geschraubt" sei (S. 17/39) — , so will ich versuchen,
eine eingehende (Kritik S. 9) Analyse der Gedanken Kants zu geben.
2 Das erste Glied des Beweises besteht in der Behauptung, das
„empirische Gesetz" der „Reproduktion" „setze voraus", „daß die
Erscheinungen selbst wirklich einer . . . Regel unterworfen seien"
und zwar „von selbst" (116 Nr. 2, Z. 7—16, 2-^5 v. u.), oder daß
„eine notwendige synthetische Einheit" in ihnen vorhanden sei.
Die Regelmäßigkeit oder Einheit der Erscheinungen bzw. ihr „Grund"
(117) ist also unmittelbar genommen als „etwas", „was selbst diese
Reproduktion der Erscheinungen möglich macht" (116/117, 119,
3—5 v. u.). „Ohne das" (116 Mitte), d. h. ohne Regelmäßigkeit,
„Affinität" (125/26. 132), Assoziabilität (131/132), „Reproduzibilität"
(117, 121 u.) oder „synthetische Einheit" (117) gäbe es keine Reproduk-
tion, mit andern Worten: Reproduktion ist nur möglich, wenn die
Erscheinungen Regeln unterworfen sind; nun findet Reproduktion
wirklich statt, sie ist ein empirisches Faktum, also müssen auch die
Erscheinungen Regeln unterworfen sein.
3 Daß die Reproduktion ohne Regelmäßigkeit der Erscheinungen
unmöglich sei, ist aber eine Behauptung Kants, die den Tatsachen
widerspricht, wie sich aus einer näheren Betrachtung des Begriffs
Reproduktion ergibt. Man kann vom realistischen Standpunkte
aus oder nach der sogenannten „Abbildstheorie" auch diejenige
Tätigkeit der Seele, welche ein Bild eines realen Gegenstandes ins
Bewußtsein hineinproduziert, reproduktiv nennen, weil es sich ja
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 283
um ein bloßes Nach seh äffen, um eine Wiederholung dessen handelt,
was in der realen Wirklichkeit als Urbild gesetzt ist. Betrachtet
man das im Bewußtsein befindliche Bild aber isoliert und losgelöst
von seiner Beziehung zum realen Gegenstande, so muß die Tätigkeit
der Seele als p r o d u k t i v bezeichnet werden, weil tatsächlich
ja etwas Neues, zu dem realen Gegenstande als zweites Hinzu-
kommendes, von ihm „Unterschiedenes" (119 oben), weil in der
imaginären, reell unräumlichen Dimension des Bewußtseinsraumes
Gelegenes erzeugt wird, wie Farben und Töne beweisen. „Emp-
findungen" und die daraus „gestalteten" „Wahrnehmungen" sind
eben durchaus „ein inneres Erzeugnis der Seele" (Ostermann-
Wegener, Pädagogik I, S. 37/40, 12. Aufl. 1902), und in diesem Sinne
bezeichnet auch Kant die „produktive" (128/29) „Einbildungskraft"
als „ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst", weil
sie aus den durch die „Sinne" „gelieferten" „Eindrücken" „Bilder
der Gegenstände" „zusammensetzen" müsse (130 Anm.).
i Es hegt auf der Hand, daß auch bei der Reproduktion von Wahr-
nehmungen oder bei Erinnerungsvorstellungen dieses produktive
Vermögen der Seele in Kraft treten muß; denn was von einer Wahr-
nehmung zurückbleibt, kann nichts weiter sein als die Spur des ersten
Eindrucks im Nervenorgan. Ähnlich wie die im Phonographen fest-
gehaltenen Eindrücke nicht von selbst die Töne reproduzieren können,
sondern wie hier bzw. im Grammophon eine bewegendeKraft hinzu-
kommen muß, die den Stift über die Schallspuren leitet und dadurch
die früheren Schwingungen neu erzeugt, so muß auch die produktive
Einbildungskraft auf die im Hirn zurückgebliebenen Spuren aufs
neue reagieren und dadurch die Erinnerungsvorstellungen neu er-
zeugen. Man nennt diese Tätigkeit der Seele aber reproduktiv, weil
das Hauptinteresse sich hier auf die Erinnerung richtet, also den
Umstand, daß die Vorstellung bereits früher schon mindestens ein-
mal in demselben Bewußtsein aufgetreten war, und als Wiederholung
erkannt wird.
5 Pur diese Reproduktion ist es aber unmittelbar genommen völlig
gleichgültig, ob die Vorstellungen früher nur ein einziges Mal oder
öfter dagewesen sind, ob sie „sich oft" oder gar nicht „gefolgt oder
begleitet haben" (116), d. h. ob sie als isolierte Einzelvorstellung
oder als Vorstellungsfolge oder Vorstellungskomplex ins Bewußtsein
getreten sind. „Reproduzibel" überhaupt sind alle Vorstellungen,
19*
284 Friedrich Maywald,
gleichgültig, ob sie durch einen Gegenstand erzeugt oder erdichtet,
ob die Vorstellungen in sich harmonisch oder regellos und willkür-
lich verbundene Konglomerate waren. Diese Rücksichten sind neben
andern Umständen nur von Bedeutung für die Leichtigkeit und den
Umfang der Reproduktion.
r. Danach ist es also falsch, daß die Fähigkeit zur Reproduktion,
die von Kant als „empirische Einbildungskraft" (116) anstatt als
Gedächtnis bezeichnet wird, nur dann etwas „zu tun bekommen"
würde, wenn die Erscheinungen gewissen „Regeln" „von selbst"
„unterworfen seien", oder daß mehrere Erscheinungen oder Vor-
stellungen sich „oft" oder überhaupt „folgen" oder „begleiten"
müssen (116), um reproduziert werden zu können. Es kann auch eine
in sich einfache Vorstellung, wie eine einfache Farbe oder ein einfacher
Ton, nach einmaligem früheren Erscheinen im Bewußtsein wieder
reproduziert werden, und Kant gibt selbst schon auf der nächsten
Seite (117) in den Teilen der Linie, den Zahl- und Zeiteinheiten Bei-
spiele einfacher Vorstellungen, bei denen mindestens für die erste
nach einmaligem Auftreten eine „Reproduktion stattfindet", wenn
auch keine „Synthesis der Reproduktion" (116 u.), denn an einer
einfachen Einheit ist nichts mehr zusammenzusetzen. Die Tatsache
bzw. die Fähigkeit zur Reproduktion würde also nicht dadurch auf-
gehoben, obgleich natürlich beeinträchtigt, wenn in den Erscheinungen
keine Regel wäre oder die Dinge sich fortwährend änderten. Das
kommt daher, daß der „subjektive Grund" (131) für diese Reproduk-
tion zunächst gar nichts mit der Regelmäßigkeit der Erscheinungen
zu tun hat, sondern allein in „einem reproduktiven Vermögen
der Einbildungskraft", d. h. in der Gedächtniskraft, welche frühere
„Wahrnehmungen" in die Erinnerung zurückzurufen vermag (131,
Z. 1 — 5). Die Regelmäßigkeit oder öftere Wiederholung bzw. Folge
von Erscheinungen oder Vorstellungen ist also nur insofern von Be-
deutung für mre Reproduktion, als hier die empirische Beobachtung
oder Regel gilt, daß die Reproduktion umso leichter erfolgt, je öfter
derselbe Eindruck, der auch ein ganz einfacher, isolierter sein kann,
sich wiederholt hat, also je tiefer er seine Spur in das materielle
Organ des Gedächtnisses, das Hirn, eingedrückt hat.
7 In ähnlicher Weise spielt die Wiederholung eine Rolle bei der
Einprägung mehrerer Einzelvorsteilungen zu einem Komplex oder
bei der Bildung von Assoziationsvorstellungen, nur daß hier die
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 285
Wiederholung als öftere Begleitung oder Aufeinanderfolge erscheint.
Das ist das „empirische Gesetz", worauf Kant S. 116 hinweist, das
er aber in ein „Gesetz der Reproduktion" und eine „empirische Syn-
thesis der Reproduktion" umtauft. Bei der Assoziation handelt es
sich um die Verknüpfung oder Vergesellschaftung mindestens zweier
selbständiger oder als selbständig möglicher Vorstellungen, und das
ist das Moment, das bei der Assoziation zur Reproduktion neu hinzu-
tritt. Diese Verknüpfung oder Assoziation wird um so fester und sie
taucht, wenn ein Glied derselben gegeben ist, um so leichter ganz
oder teilweise aus der Erinnerung auf, wird also reproduziert, —
aber als ganzer oder teilweiser Assoziationskomplex — , je „öfter"
sich die beiden Vorstellungen „gefolgt oder begleitet" (116) haben.
Es scheint, zunächst hier noch plausibler als bei der bloßen Reproduk-
tion einfacher Vorstellungen als Grund für die im Gedächtnis sich
bildende Verknüpfung „eine, gewissen Regeln gemäße Begleitung
oder Folge" der Erscheinungen „vorauszusetzen" (116). Der Schluß
auf diese Voraussetzung wäre aber nur dann unanfechtbar, wenn
dieses „empirische Gesetz" der öfteren Wiederholung von Vorstellungen
die conditio sine qua non zur Bildung von Assoziationen wäre. Aber
auch hier beweist die Tatsache des guten Gedächtnisses vieler Menschen,
daß eine einmalige Folge oder der einmalige Eindruck zweier gleich-
zeitiger, sich „begleitender" Vorstellungen, deren Verbindung oder
Folge eine „beständige Regel" nicht zu enthalten braucht, ausreicht,
um sehr enge und feste Assoziationen herzustellen. Es genügt also auch
hier vollständig der „subjektive" Faktor allein, „das Vermögen",
Wahrnehmungen zu assoziiren" (131,3) oder die Fähigkeit der Seele,
mindestens zwei Einzelvorstellungen gleichzeitig oder unmittelbar
nacheinander aufzufassen oder zu „apprehendieren" (115, 132,1),
um sie im Gedächtnis mit einander verbunden festzuhalten. Das
Gedächtnis als grundlegender Faktor bei der Bildung von Assoziationen
aus Folgeerscheinungen wird von Kant bei den transzendentalen
Beispielen (117) und bei der „Rekognition im Begriff" (118) erwähnt,
dagegen dort, wo es die ausschlaggebende Rolle spielt, in seinem
empirischen Beispiel (116) übergangen bzw. als „empirische Ein-
bildungskraft" bezeichnet, was um so merkwürdiger ist, als er gerade
auf die Reproduktion, wenigstens den Worten nach, den Schwerpunkt
legt. Denn wenn hier die Vorstellung der „roten Farbe" „einen
Übergang des Gemüts" zur Vorstellung des „schweren Zinnobers" (116)
86 F r i e d r i c h M a y w a 1 d ,
„hervorbringt", so ist zwar die früher gebildete Assoziation der beiden
Vorstellungen der Gelegenheitsanlaß zur Reproduktion und der
Grund dafür, daß die „eine Vorstellung vielmehr mit dieser, als einer
andern in der Einbildungskraft in Verbindung tritt" (131, 2). Aber
der eigentliche Grund dieser wie jeder Reproduktion kann nur in
der Gedächtniskraft, in dem „subjektiven", „reproduktiven
Vermögen der Einbildungskraft" (131, 1) gesucht werden.
8 Daneben erscheint der „objektive Grund" (131, 3),
die „Reproduzibilität" (117), besser Assoziabilität oder Affinität
(125, 131, 2), die objektive Beschaffenheit der Vorstellungen zunächst
völlig gleichgültig. Darauf macht Kant selbst durch das Beispiel
S. 116, Z. 5—7 v. u. aufmerksam, die Assoziation von Wort- und
Sachvorstellungen; das Bewußtsein kann, wie dieses Beispiel zeigt,
alle möglichen Vorstellungen mit einander assoziieren, ohne auf ihre
Affinität oder ihre objektive Folge nach „Regeln" (116) Rücksicht
zu nehmen. „Assoziabel" (131, 3) sind unmittelbar genommen alle
Vorstellungen; es bleibt nur in vielen Fällen „unbestimmt und zu-
fällig" (131, 3), welche oder ob überhaupt Assoziationen sich bilden.
Solche zufälligen, willkürlichen Assoziationen sind im Grunde ge-
nommen die Worte der verschiedenen Sprachen für dieselbe Sach-
vorstellung (116, 5 — 7 v. u.), ebenso wie die stenographischen Sigel
willkürliche Assoziationen willkürlicher Zeichen mit bestimmten
Wortvorstellungen sind. Jedenfalls hegt in der Verbindung eines
bestimmten Wortes oder Lautkomplexes mit einer bestimmten Sach-
vorstellung keine solche Notwendigkeit oder Regel, wie sie die Ver-
bindung der roten Farbe mit dem schweren Zinnober oder der be-
stimmten Gestalt mit einem bestimmten Tiere oder Menschen zeigt (116).
Selbst aus einer Folge von Erscheinungen, in welcher der absolute
Zufall herrschte, könnte sich das „Vermögen", „Wahrnehmungen
zu assozieren (131, 3), bestimmte, durch ihr zufälliges „Zusammen-
geraten" (131, 2) nahegelegte Vorstellungsverbindungen heraus-
greifen und ihre Verbindung im Gedächtnis feshtalten. Derartige
Verbindungen sind z. B. die „unmöglichen Gegenstände" Meinongs
(Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd. 129 (1906)
S. 54 — 66), d. h. sie sind nichts weiter als willkürliche Zusammen-
stellungen bloßer Worte, z. B. rundes Viereck (flatus vocis). Hier
ergibt die Assoziation keine „ganze Vorstellung" (117 u.) mit „not-
wendiger synthetischer Einheit" (117 oben), auf die es Kant ankommt,
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 287
und man dürfte danach in Kants Sinne nur solche Vorstellungen
„assoziabel" (131, 3) nennen, welche durch die „empirische Regel
der Assoziation" (125), bzw. ihr Korrelat, die „im Objekt hegende"
„Affinität", also durch ein „Gesetz der Natur" oder durch die Logik
als „assoziabel" und verknüpf bar erwiesen werden. Die Beschränkung
des Begriffs Assoziation auf Assoziabilität in Kants Sinne wäre aber
ganz willkürlich und würde gerade das in ihn hineinlegen, was Kant
erst als die „Voraussetzung" (116) oder als den „Grund a priori" (117)
für diesen Begriff, ja sogar für den bloßen Begriff der Reproduktion
aufzeigen will, nämlich eine bestimmte Beschaffenheit der Erschei-
nungen, ihre Affinität oder Reprocluzibilität.
o Selbst wenn man die öftere Wiederholung oder Folge als conditio
sine qua non für die Bildung von Assoziationen einräumen wollte,
so wäre der Schluß auf die „Regel" und „synthetische Einheit"
(116/17) der Erscheinungen noch immer nicht zulässig und jedenfalls
nicht von „apodiktischer Gewißheit" (7); denn es ist von vorn herein
(a priori) unwahrscheinlich, daß selbst in einer Folge von Erschei-
nungen, in welcher der absolute Zufall herrschte, wie sie Kant S. 116
schildert, in dem ewigen Wechsel nicht auch solche Umstands-
kombinationen auftreten sollten, die eine mehrfache Wiederholung
oder eine öftere Folge der gleichen Erscheinungen bieten. Hat doch
Hume den Kausalitätsbegriff auf die Assoziation des „geAvohnten
Nacheinander" solcher öfters ohne Regel wiederholten Umstands-
kombinationen zurückführen wollen.
io Das Ergebnis ist also, daß sowohl die Assoziation als die Re-
produktion von Vorstellungen möglich ist, ohne daß in den Erschei-
nungen selbst eine „beständige Regel" (116) oder „ein beständiges
Gesetz" (125) oder „notwendige synthetische Einheit" (117) herrscht;
ja selbst eine „oft" wiederholte „Folge" ist dazu nicht erforderlich.
Es wäre nun allerdings möglich, daß die Erscheinungen „von selbst"
(116, 3 — 4 v. u.), ohne sich um ihre Assoziation oder Reproduktion
durch irgend welche Einbildungskraft zu kümmern, unter Regeln
und Gesetzen ständen. Wenn man aber, wie Kant die Seele und d;is
Ding an sich zwar der Existenz nach nicht leugnet, aber zu einem
einflußlosen, aber gelegentlich doch „affizierenden" bzw. affiziert
werdenden X, zu einem „Grenzbegrüf" verflüchtigt hat (Benno
Erdmann, Prolegomena, Einleitung, Leipzig 1878, S. 41—79, 99—105
bes. 65/66, 103), so bleibt nichts übrig, als in den „Erscheinungen"
288 Friedrich Maywald,
„das bloße Spiel unserer Vorstellungen" (117) zu sehen, ebenso wie
Hume infolge der Ausschaltung des Substanzbegriffes und der Selbst-
beschränkung auf den bloßen Bewußtseinsinhalt die reine Erfahrung
„konsequent" (111 Anm.) zu einer bloßen Kette von Eindrücken
und Ideen, „die ohne angebbare Gründe und in grundloser Reihen-
folge bald in das Bewußtsein eintreten, bald aus ihm austreten"
(E. v. Hartmann, Gesch. der Metaphysik T, 532, 550), Kants „ganzen
Reihen" (131, 1) gemacht hatte. Hume war auch konsequent genug
zuzugeben, daß in dieser Kette kein notwendiges Kausalitätsgesetz
zu finden sei, und darin hatte er durchaus Recht, wie der Mißerfolg
aller Versuche gezeigt hat, auf parallelistischer Grundlage eine der
physischen realen Kausalität parallele geschlossene psychische
Kausalität aufzuzeigen, deren Geschlossenheit schon an der Tat-
sache des traumlosen Schlafes scheitert. Diese Tatsache wird neuer-
dings vom konsequenten Parallelismus bestritten und sogar das
Gegenteil als „experimentell" gesichert behauptet, um zu beweisen,
daß auch die psychische Kette nirgends abreiße, womit die „Paralleli-
tät" aber immer noch lange nicht bewiesen wäre. Wie aber an sich
klar ist und wie Eduard von Hartmann in seinen erkenntnistheoreti-
schen Arbeiten un widerlegt dargetan und Johannes Volkelt in seinen
„Quellen der menschlichen Gewißheit" (München 1906) gezeigt hat,
bleibt uns in der bloßen „Welt als Vorstellung "nur ein „wüstes"
sinnloses „Traumwirrsal" übrig, in dem keinerlei Gesetze, am aller-
wenigsten Naturgesetze herrschen, in dem vielmehr nur psychische
Gesetze herrschen könnten.
u Selbst wenn also das erste Glied des Kantschen Beweises, der
Schluß von der Möglichkeit der Reproduktion oder Assoziation auf
die Regelmäßigkeit der Erscheinungen — diese als „bloßes Spiel der
Vorstellungen" (117) genommen — richtig wäre, so würde er durch
diese Tatsache als hier nicht anwendbar erwiesen. Damit ist aber
auch der ganze auf die Regelmäßigkeit der Erscheinungen gegründete
Beweis abgetan.
12 Er fällt aber auch schon durch einen formellen Fehler. Kant
fährt nämlich in seinem Beweise fort: „Es muß also etwas sein, was
selbst diese Reproduktion" (soll heißen „Reproduzibilität" (117)
oder „Affinität" (125) der Erscheinungen möglich macht, dadurch,
daß es der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit
derselben ist" (116/117). Dieser Grund könne nur in einer „reinen
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 289
transzendentalen Synthesis der „Einbildungskraft" gesucht werden,
die „vor aller Erfahrung auf Prinzipien a priori gegründet" sei, und
die man deshalb „annehmen" müsse (117, 12 — 15). Es ist also die
Aufgabe des Beweises, die Berechtigung dieser „Annahme" einer
Einbildungskraft, und zwar einer „transzendentalen" oder „pro-
duktiven" zu zeigen, welche allein „a priori" stattfindet; denn die
„reproduktive beruht auf Bedingungen der Erfahrung" (128/129),
ist also a posteriori und wurde von Kant in der 2. Auflage (S. 673)
als in die Psychologie gehörig aus der Transzendentalphilosophie
überhaupt hinausgewiesen (Vaihinger, a. a. 0. 97/98). Daß Kant
die Absicht hatte, die „produktive Einbildungskraft" als
„transzendentale Handlung des Gemüts" (117) zu erweisen, zeigen
auch die Schlußworte des Alischnitts Nr. 2 (S. 118), wonach die
„Einbildungskraft", und nicht die „Synthesis der Reproduktion" (117)
als ein „transzendentales Vermögen" nachgewiesen erscheint. Nun
ist aber nach dem Beweise selbst und sogar nach Kants eigenen in
demselben Schlußabsatz enthaltenen Worten nur die „Synthesis
der Reproduktion" als „transzendentale Handlung des Gemüts" (117)
erwiesen Der Beweis hat also nach Kants eigenen Worten sein Ziel
verfehlt, denn er kann nur für die reproduktive und nicht für die
produktive Einbildungskraft Geltung beanspruchen, und ist daher
schon aus diesem Grunde abzulehnen. Daß Kants Beweis auf die
produktive Einbildungskraft abzielte, dafür spricht auch der Um-
stand, daß nur an dieser einen Stelle die reproduktive Einbildungs-
kraft als transzendentale Funktion gilt, sonst aber überall nur als
empirisch, während das Prädikat transzendental nur der produktiven
zuerteilt wird (Vaihinger, a.a.O. S. 5/27; 18/40).
13 Weil Kant aber wohl fühlte, daß er in der produktiven Ein-
bildungskraft einen ganz unentbehrlichen Faktor gefunden hatte,
der „ein nothwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sei"
(Anm. 1)30), in der sogar der Kardinal begriff der Zukunft, die unbe-
wußte Geistestätigkeit steckte (95 2; 145, 658 Z. 7— 8), so hielt er
mit Zähigkeit an ihm fest, und schreckte selbst vor solch groben
formellen Fehlern, ja direkten Widersprüchen und Sophistereien
nicht zurück, um den Schein eines Beweises, sei es auch nur „für die
Synthesis der Reproduktion" als „transzendentaler Handlung des
Gemüt bs" (117) zu erzielen. Der Beweis ist nun aber auch für diese
Synthesis der Reproduktion nicht geführt, weil die iWn Nerv des
290 Friedrich Maywald,
Beweises bildende Parallele zwischen empirischer und transzendentaler
Reproduktion (116/117) auf einen Widerspruch und einen Zirkel-
schluß gegründet ist, Um für diese Parallele zunächst gleiches Terrain
zu schaffen, und Erscheinungen in beiden Fällen nicht als Dinge an
sich selbst, sondern als „bloßes Spiel der Vorstellungen" behandeln
zu können, muß in dem transzendentalen Beispiel die Linie nur „in
Gedanken1" gezogen (117) und in dem empirischen Beispiel vom
roten Zinnober die „Gegenwart des Gegenstandes" (116), d. h. des
realen Dinges an sich ausgeschaltet oder doch wenigstens die Auf-
merksamkeit in sophistischer Weise von ihm abgelenkt werden.
Das erreicht Kant durch den einfachen Kunstgriff, daß er hier zuerst
und von vornherein von Vorstellungen spricht, „die sich oft gefolgt
oder begleitet haben" (116), daß er also mit der Entstehung und
Bildung der Vorstellungs- Assoziation anfängt während das
erste liier der Gegenstand ist und sein müßte in dem nicht
Vorstellungen, sondern die ihnen „korrespondierenden" (119 oben)
Eigenschaften in einer ursprünglichen Verknüpfung, Vergesell-
schaftung oder Assoziation bzw. Affinität stehen, „ohne die Gegen-
wart der Vorstellung", und ganz gleichgültig dagegen, ob auch die
Vorstellungen von diesen realen Eigenschaften sich mit einander
„vergesellschaften" (116) und dadurch ein Abbild der im Gegenstand
bereits bestehend e n , ursprünglichen Verknüpf u n g
liefern oder nicht. Da die beabsichtigte Parallele aber nur für die
R e p r o d u k t i o n paßt, so muß auch die in dem empirischen
Beispiel doch tatsächlich vorliegende Assoziation in den Hintergrund
geschoben werden, und das wird dadurch erreicht, daß nur eine ganz
bestimmte Seite der Assoziation bzw. die aus einer bestehenden Vor-
stellungs-Assoziation resultierende Folgeerscheinung in den Mittel-
punkt der Aufmerksamkeit gerückt wird, nämlich der Umstand, daß
sich diese Verknüpfung dann bemerklich macht, wenn nur eine Vor-
stellung gegeben ist, und diese „einen Übergang des Gemüts zu der
andern ... hervorbringt" (116). Dieser Übergang des Gemüts wäre
hier ganz unmöglich, wenn die zweite Vorstellung nicht aus dem
Gedächtnis hervorgeholt und reproduziert würde, und da-
durch wird es unauffällig und erhält sogar einen Schein des Rechts,
wenn Kant hier von einem „Gesetz der Reproduktion" spricht,
Trotzdem liegt aber sachlich in dem empirischen Beispiel der Schwer-
punkt nicht auf der Reproduktion, sondern auf dem Übergang,
Kants Beweis für die transzendent. Syntliesis der Einbildungskraft. 291
welcher der „gewissen Regeln gemäßen . . . Folge" (116) korrespon-
diert; sonst könnte nicht auf die „Regel" geschlossen werden, welcher
die Erscheinungen schon „von selbst" unterworfen sind (116). Es
zeigt sich also, daß das erste Argument des Beweises auf die Regel-
mäßigkeit der Erscheinungen abzielt, dafür sich aber scheinbar nur
auf die empirisch festgestellte Tatsache der Reproduktion stützen
will, was nicht angängig ist, daß dagegen das Beispiel, der Einzel-
fall, der für diese Tatsache angeführt wird, die Reproduktion nur als
untergeordnetes Moment enthält, in der Hauptsache aber beweisend
ist bzw. nur als Beleg dienen kann für eine Synthesis der Assoziation
und nicht für eine solche der Reproduktion. Den Unterschied beider
sucht Kant daher hier zu verwischen und beide als gleichwertig zu
behandeln.
i4 Er vertauscht sogar beide Begriffe — Reproduktion und Assozia-
tion — miteinander und an dieser mit Rücksicht auf das empirische
Beispiel scheinbar ganz harmlosen Vertauschung hängt wie an einem
dünnen Faden die ganze Parallele zwischen empirischem und trans-
zendentalem Beispiel und damit auch der Beweis. Geht man durch
Einsetzen der richtigen Begriffe den Konsequenzen dieser Parallele
gcnauei- nach, so zeigt sich sofort ihre Unhaltbarkeit und damit die
Verfehltheit des Beweises, trotzdem die Parallele auf den ersten Blick
ganz plausibel erscheint. Denn ähnlich wie in dem transzendentalen
Beispiel keine „ganze Vorstellung" der Linie „entspringen könnte,
wenn nicht die „vorhergehenden Teile" immer „reproduziert" (117)
würden, so würde auch in dem empirischen Beispiel die „ganze Vor-
stellung" vom roten und schweren Zinnober nicht „erzeugt" (116 oben)
werden (hier allerdings nur wiedererzeugt werden), wenn die zweite
Vorstellung nicht reproduziert würde. Die Reproduktion erscheint
also in beiden Fällen in gleicher Weise als die unmittelbare Ursache
der Verknüpfung oder Assoziation der Teilvorstellungen zu den
„ganzen Vorstellungen".
i5 Das scheint besonders beim empirischen Beispiel ganz einleuch-
tend. Hier handelt es sich aber zunächst darum, zu erklären, warn ni
überhaupt eine Reproduktion erfolgt, und wenn
sie erfolgt, warum „vielmehr" „diese als eine andere"' (131, 2) Vor-
stellung reproduziert wird, und warum es möglich ist, sie zu einer
ganzen Vorstellung zu vereinigen. Dafür liegt der „subjektive und
empirische Grund" in der „Assoziation der Vorstellungen" (131, 2).
292 Friedrich Maywald,
natürlich in der bereits bestehenden, früher gebildeten Assoziation,
die im Gedächtnis aufbewahrt ist, nicht in der durch die Reproduktion
erst zustande kommende Wiederholung der Assoziation; denn sonst
würde man die Ursache durch ihre Wirkung erklären und in einen
Zirkel geraten. Zur Erklärung der bei dieser Wiederholung einer
Assoziation wiederum erfolgenden Verknüpfung zweier Vorstellungen
zu einer ganzen Vorstellung reicht also die bloße Reproduktion
nicht hin, obgleich sie conditio sine qua non ist. Vielmehr ergibt sich
daraus, daß Kant an diesen Stellen (116, 131) den Begriff der Assoziation
auf die Fälle einschränkt, wo die zu assozierende Vorstellung zu
einer „ganzen Vorstellung" (117) vereinigt werden können,
die Forderung, die beim Begriff der Assoziation als solcher in ihrer
Reinheit genommen abzulehnen war, nämlich daß die Vorstellungen
auch „assoziabel" (131, 3) sind; denn sonst müßten sie ohne „be-
stimmten Zusammenhang" als „regellose Haufen" (131, 2), „zerstreut
und einzeln" „im Gemüthe . . . angetroffen werden" (130). etwa wie
in Meinongsunmöglichem Gegenstande „rundes Viereck" die Vor-
stellungen rund und viereckig, oder wie eine Reihe gleichzeitiger
Empfindungen verschiedener Sinne, z. B. der Geschmack eines Apfels,
das Rasseln eines vorüberrollenden Wagens, die Glätte der Tisch-
platte und der Eindruck eines an der Wand hängenden Bildes (Anm.).
Etwas derartiges scheint Kant S. 131, Abs. 3 im Sinne zu haben,
denn anders ist wohl diese sehr „dunkle" (115 oben) Stelle kaum zu
verstehen, wenn man nicht eine Andeutung des „relativ Unbewußten"
darin erkennen will. Immerhin würde das bei der Unklarheit der
Kantschen Ausführungen — infolge der „Verwerfung" mehrerer
„Schichten" (vgl. Vaihingers bereits zitierte Schrift über die Deduktion
der Kategorien) auch noch schwer sein, um so mehr als Kant selbst
diese „ganze Sinnlichkeit, ... in welcher viel empirisches Bewußt-
sein anzutreffen wäre, aber getrennt, und ohne daß es zu einem
Bewußtsein meiner selbst gehörete", für „unmöglich", für eine
Blktion erklärt. (Anm. Damit ist wohl das vielfarbige . , . Selbst
von S. 661 zusammenzustellen.)
16 In dem empirischen Beispiel ist nun diese Forderung, die Asso-
ziabilität der beiden Vorstellungen erfüllt, was durch ihre „Affinität"
oder ihr reales Beisammensein im realen Gegenstande bewiesen ist,
und infolgedessen ergibt auch ihre Wiedervereinigung in der Vor-
stellung sowohl als in der Erinnerung an diese ursprünglich gebildete
Vorstellung eine eindeutige „ganze Vorstellung".
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 293
17 Bei dem transzendentalen Beispiel liegt die Sache aber nicht so
einfach. Hier muß nämlich auf etwas aufmerksam gemacht werden,
was so selbstverständlich ist, daß eine besondere Betonung lächerlich
erscheinen könnte. Zu einer Assoziation gehören nämlich mindestens
zwei Einzelvorstellungen, wie aus dem Begriffe socius mit Evidenz
(analytisch) hervorgeht, und diese Forderung ist zwar beim empirischen,
nicht aber bei dem Linienbeispiel erfüllt. Denn bei der ersten der
„nach einander vorgestellten Einheiten" ist im Augenblick der Re-
produktion dieses ersten Teils nichts weiter vorhanden als dieser eine
Teil, der unmöglich mit sich selber assoziiert werden, sondern eben
nur reproduziert werden kann. Von Assoziation läßt sich hier erst
dann sprechen, wenn mindestens noch ein zweiter Linienteil „in die
Gedanken" hinzugekommen ist.
i8 Und auch die Reproduktion erscheint hier sehr merkwürdig und
unmotiviert, weshalb Kant ihre Notwendigkeit durch ein schnell
eingeschobenes: würde ich diese Vorstellung immer „aus den Gedanken
verlieren" (117) — , begründet. Von dieser Notwendigkeit, eine bereits
im Bewußtsein befindliche Vorstellung immer wieder neu zu re-
produzieren, weil sie sonst aus den Gedanken verloren würde, ist bei
dem empirischen Beispiel aber gar nichts gesagt, sondern es erscheint
dort als selbstverständlich, daß (he erste Vorstellung von der roten
Farbe solange in den Gedanken oder im Bewußtsein bleibt, bis die
zweite Vorstellung vom schweren Zinnober reproduziert und mit der
ersten vereinigt oder assoziiert ist.
L9 Während hier also der Begriff Assoziation zutrifft, ist er beim
transzendentalen Beispiel wenigstens bei der Reproduktion der ersten
Einheit ganz unanwendbar, und er trifft auch für die Verknüpfung
der übrigen Einheiten nicht zu, wenn man ihn, wie es nach S. 116 ge-
schehen muß, auf die Fälle der Vergesellschaftung auf Grund „oft"
wiederholte!- „Begleitung oder Folge" beschränkt. Davon kann hier
gar keine Rede sein, und hier haben wir offenbar den Grund dafür,
daß Kant in dem empirischen Beispiel nur von einem „Gesetz der
Reproduktion" spricht, auch in der Überschrift dieses Abschnitts
nur die Reproduktion und nicht die Assoziation erwähnt und zur
Bildung von Wortungeheuern wie „Reproduzibilität" (117) greift,
während ihm für den gemeinten Begriff an anderer Stelle das Wort
„Affinität" sofort bei der Hand ist. Jedenfalls erwartet man an dieser
Stelle (116) nach den vorausgegangenen Gedanken unbedingl ein
294 Friedrich May w a 1 d ,
„Gesetz der Assoziation". Kant mußte eben, um wenigstens den
notdürftigen Schein einer Parallele zu erzielen, zu der Vertausehung
zweier ganz landläufiger Begriffe seine Zuflucht nehmen, deren Unter-
schiede auf der Hand liegen.
20 Die Assoziabilität oder Verknüpfbarkeit der Linienteile (im
euklidischen Raum) ist zwar nicht zu bezweifeln, dagegen ist ihre
eindeutige Verknüpfung zu einer „synthetischen Einheit" oder
einer „ganzen Vorstellung' (117), die im empirischen Beispiel durch
den realen Gegenstand vorgebildet und gewährleistet ist, sehr an-
fechtbar. Es ist nicht einzusehen, warum die Teile sich gerade zu
einer Linie und nicht zu irgend einer andern Figur verbinden sollten,
und es ist ferner die Möglichkeit nicht zu bestreiten, daß sie trotz ihrer
Assoziabilität oder Affinität „zerstreut und einzeln" „imGemüth" (130)
verharren und sieh gar nicht verbinden, während im empirischen Bei-
spiel die in der Erinnerung festgehaltene Verbindung der beiden
Vorstellungen den Anlaß zu der Wiederholung der Assoziation bietet,
ja diese Wiederholung durch einen gewissen Zwang notwendig macht,
als Abbild der im realen Gegenstande vorliegenden notwendigen
Verbindung der beiden Eigenschaften.
21 Wenn also die im empirischen Beispiel vorliegenden Verhältnisse
durch ein Analogon transzendentaler erklärt werden sollten, hätte
Kant die Parallele auf die Gegenüberstellung einer empirischen und
transzendentalen Synthesis der Assoziation gründen müssen,
und nicht auf die Synthesis der Reproduktion. Aber auch in der
Beschränkung auf diese läßt sie sich nicht durchführen. Der
Begriff Reproduktion ist nämlich in beiden Fällen in ganz verschiedenem
Sinne angewendet, was schon berührt wurde. Ja er ist in dem einen
Falle überhaupt unzulässig, und deswegen ist auch der ganze Beweis
selbst in seiner Beschränkung auf die Reproduktion nicht haltbar,
in dem empirischen Beispiel ist es die hinzutretende, hervorgerufene
Vorstellung, welche reproduziert wird, und diese Vorstellung wird
mit Recht als r e produziert bezeichnet, weil sie früher mindestens
schon einmal dageAvesen ist. Hier ist die im Gedächtnis festgehaltene
und somit bereits bestehende „Assoziation" „der sub-
jektive und empirische Grund" (131, 2), besser die Gelegenheits-
ursache oder der Anlaß zur Reproduktion, deren eigentliche Ursache
in der Gedächtniskraft liegt, Das eine gegebene Glied dieser Ver-
bindum»- wirkt hier als h e r v o r r u f e n d e Vorstellung, und nachdem
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 295
die h e r v o r gern f e n e Vorstellung sich mit dieser verbunden
hat, haben wir nur eine W i e d e r h o 1 u n g einer früher erfolgten
oder im Gedächtnis bzw. im realen Gegenstande bereits be-
stehenden Verknüpfung. Bei dem Beispiel der transzendentalen
Synthese z. B. einer Linie aus selbst nur zwei Teilen liegt alles ganz
anders. Hier müssen immer die „vorhergehenden" Teile, also z. B.
der erste Linienteil reproduziert werden, der aber der hervor-
rufenden Vorstellung im empirischen Beispiel entspricht, von deren
Reproduktion gar nicht die Rede war. Wie sich Kant ganz von selbst
in die Feder drängt, liegt auch hier gar keine Reproduktion, sondern
ein bloßes „nicht aus den Gedanken verlieren" (117) vor. Bezeichnet
man aber das bloße Festhalten der hervorrufenden Vorstellung als
Reproduktion bzw. ist man der Meinung, daß dieses Festhalten nur
durch dauernde Reproduktion möglich sei, so müßte auch in dem
empirischen Beispiel dieses Festhalten der hervorrufenden Vorstellung
als Reproduktion bezeichnet werden, wobei dann aber der Unter-
schied gegen die Reproduktion der hervorgerufenen Vorstellung
sofort aufgefallen wäre, oder die Reproduktion sich auf beide Teil-
vorstellungen erstrecken würde, was wieder auf das transzendentale
Beispiel gar nicht paßt. Die „vorhergehenden Teile" können hier
auch in keiner Weise als hervorrufende Vorstellungen aufgefaßt
werden, sondern die „Einheiten" werden einfach „nacheinander vor-
gestellt" oder „eine . . . nach der anderen in Gedanken gefaßt" (117).
Demnach sind die hinzutretenden Einheiten auch nicht als hervor-
gerufene anzusehen, und es ist gerade bei ihnen ganz ausgeschlossen,
den Begriff der Reproduktion anzuwenden, während es die Parallele
zum empirischen Beispiel gerade hier unbedingt fordern würde.
Vielmehr sind die hinzukommenden Einheiten, was besonders wohl
bei hohen Zahlen deutlich wird, funkelnagelneue, man weiß nicht
woher „entsprungene" Vorstellungen, und sie ..geraten" mit den
„vorhergehenden" das erste Mal in ihrem Dasein „zusammen" (131, 2),
sie bilden zusammen eine ganz neue Erscheinung, die früher „nie-
mals" (117) existiert hat, weil nach Kants eigenen Worten die „ganze
Vorstellung"" oder „Anschauung"' (119 u.) z. B. einer Linie erst „ent-
springen" (117), oder „erzeugt" werden (116 oben, L18, Abs. 2 u. •">)
oder „hervorgebracht" (119 u.) werden muß, ebenso wie die „reinsten
und ersten Giundvorstellungen von Kaum und Zeit" (117 u.) - im
Widerspruch zur Ästhetik (S. 52 53). Dadurch ist aber auch eine früher
296 Friedrich Maywald,
„oft" erfolgte „Begleitung" und „Folge" ausgeschlossen, und es
fehlt die Parallele zu der „Regel" im empirischen Beispiele ganz.
Es bleibt auch ganz unklar, Avarum überhaupt neue Linienteile in
die Gedanken kommen, wenn man sich nicht dabei beruhigt, daß sie
einfach „im Gemüte . . . angetroffen" (130) oder „nacheinander vor-
gestellt" (117) werden, oder daß „ich eine Linie in Gedanken ziehe",
während im empirischen Beispiel gerade dieses unwillkürliche Auf-
tauchen der zweiten Vorstellung durch die früher gebildete Assoziation
und als bloße Wiederholung dieser einwandfrei erklärt ist.
22 Die „ganze Vorstellung" der Linie ist also weder eine Wieder-
holung einer früheren „ganzen Vorstellung", noch einer im Gedächtnis
aufbewahrten oder etwa in einer „Linie an sich" bestehenden Ver-
bindung ihrer Teile, wie bei der Zinnobervorstellung. Letzteres müßte
aber der Fall sein, wenn die Parallele zu dem empirischen Beispiel
stimmen sollte. Man müßte also als Parallele zu dem realen Zinnober
z. B. eine „Linie an sich" annehmen; dann wäre die durch Repro-
duktion der Teile „erzeugte" „ganze Vorstellung" der Linie ein
„empirisches Produkt" (114, 2) der „r e produktiven Synthesis der
Einbildungskraft" (117 u.) und die Verknüpfung bzw. Verknüpfbarkeit
ihrer Teile eine „bloße" empirische Folge" einer „transzendentalen
Affinität" (125/26) oder Verknüpfbarkeit, weil die Linie an sich als
„ganze" die „transzendentale Affinität" und Assoziabilität der
Linienteile begründen würde. Wenn man nun auch im empirischen
Falle einen „Gegenstand", den realen Zinnober als Ursache der Ver-
knüpfbarkeit der beiden Vorstellungen rot und schwer gelten läßt,
dann wäre die Parallele in gewisser Beziehung vorhanden, weil in
diesem realen Gegenstande die Eigenschaften auch in „transzendentaler
Affinität" stehen würden. Es müßte dann aber mindestens eine ein-
malige Gesamtanschauung der „ganzen" Linie an sich ebenso wie
beim roten Zinnober vorhergegangen sein, um die Assoziation der
Teilvorstellungen im Gedächtnis niederzulegen. Eine solche frühere
„reine" Gesamtanschauung könnte man sich aber wohl nur als ein
Schauen der Ideen durch die Seele „vor aller Erfahrung" denken.
Dann ließe sich die Verbindung der Linienteile zu einer Linie genau
so wie bei der Zinnobervorstellung durch eine Erinnerung an die
früher gehabte „ganze Vorstellung" oder an den Gegenstand, die
Linie an sich, erklären, und man könnte diese Erinnerung zum Unter-
schiede von der gewöhnlichen empirischen auch mit Plato „Anamnesis"
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 297
nennen; jedenfalls wäre dann das Auftauchen des zweiten und aller
folgenden Linienteile bei Gegebensein des ersten eine Folge der im
Gedächtnis haftenden Assoziation und des „reproduktiven Ver-
mögens der Einbildungskraft" genau wie bei der Zinnobervorstellung.
Das würde auch zu dem Satze S. 117, Z. 7—11 stimmen, wo Kant
sagt, daß die „r einen Anschauungen" die Verbindung des Mannig-
faltigen bereits „enthalten" sollen. Dann wären aber die „e r z e u g -
t e n" Vorstellungen, sowohl die der Linie als die von Raum und Zeit,
die ja auf gleiche Weise „entspringen" sollen (117, 116 o., 119 u.),
nicht „rein", sondern „empirisch", gerade so wie die Zinnobervor-
stellung, und es würden ferner „Gegenstände" zur Erklärung der
„synthetischen Einheit" (117 o.) der Vorstellungen angenommen,
während Kant als „Grund a priori" dafür gerade die reine produk-
tive Einbildungskraft erweisen will.
2:5 Man muß also nicht nur ohne die „Gegenwart" des Gegenstandes,
sondern überhaupt ohne ihn auszukommen suchen, und alle
„Affinität" als eine „nothwendige Folge" aus „einer Synthesis in der
Einbildungskraft" (132, 2) ableiten. Dann müßten aber auch in
dem empirischen Beispiel die beiden Vorstellungen rote Farbe und
schwerer Zinnober schon bei ihrem ersten Auftreten durch eine
„Synthesis" der „produktiven Einbildungskraft" a priori „erzeugt"
(116 0.) worden sein, und es müßte der „Grund a priori" der „not-
wendigen synthetischen Einheit" (117) dieser empirischen Vorstellungen
und der Grund der „Regeln", denen alle „Erscheinungen schon von
selbst unterworfen sind" (116), in der reinen Synthesis der Einbildungs-
kraft gesucht werden, weil alle Synthesis oder „die Synthesis über-
haupt", damit aber auch alle „synthetische Einheit" und die aus
solcher fließenden „Regeln" (116/117; 119 u. 121, 3; 125/126) die
„bloße Wirkung der Einbildungskraft" (95,2; 132 u.) wären. Die
Assoziation solcher empirischer Vorstellungen würde sich nur des-
halb bilden, weil die produktive Einbildungskraft sie beide mindestens
einmal oder öfter gleichzeitig oder als einander begleitend oder folgend
(116) ins Bewußtsein hineinproduziert und sie damit „reproduzibel"
(121 u.), soll heißen „assoziabel" (131, 3) gemacht oder ihnen .KV-
produzibilität" (117), d. h. Affinität (125/26, 132) verliehen halle.
Hier läge nur die Schwierigkeit vor, daß, wenn man die durch die
Einbildungskraft „erzeugte" Linie eine „reine" Anschauung nenn!,
man die auf gleiche Weise produziert»' Vorstellung vom roten Zinnober,
Vrohiv für Geschichte der Philosophie. \.\V1.:;. ..,,
298 Friedrich Maywald,
mindestens beim erstmaligen Auftreten, als reine Anschauung gelten
lassen müßte. Nun ist aber nach S. 114, 2 „alle Erfahrung" ein „em-
pirisches Produkt des Verstandes", und da die beiden Vorstellungen
auch bei ihrem ersten Auftreten unzweifelhaft eine Erfahrung aus-
machen, so müßte die Zinnobervorstellung unbedingt als empirisch
bezeichnet werden. Dann würde aber die Vorstellung der aus Teilen
erzeugten Linie dem gleichen Schicksal verfallen und selbst die „reinsten
Grundvorstellungen von Raum und Zeit" nur als „empirisches Pro-
dukt des Verstandes" bzw. der Einbildungskraft gelten können.
Die „transzendentale Affinität" könnte dann nur noch als potentielle
in der Einbildungskraft oder im Verstände hegen.
24 Jedenfalls verliert die Parallele und der ganze Beweis seinen
Sinn, wenn die Gegenüberstellung beider Fälle als empirischer oder
transzendentaler nicht möglich ist, sondern vielmehr beide als gleich-
wertig zu betrachten sind, entweder als empirisch, was nach 114, 2
eigentlich allein möglich ist, oder als transzendental. Im letzteren
Falle wird der Beweis überflüssig, weil dann auch von der Zinnober-
vorstellung als einer reinen ebenso gut wie von jeder andern direkt
auf das Vorhandensein der reinen Einbildungskraft geschlossen
werden kann, ohne den Umweg über Assoziation und Reproduktion
und die transzendentalen Vorstellungen von Linien- und Zeitein-
heiten usw. zu machen.
25 Man muß also unbesehen die Zinnobervorstellung als empirisch
und die einer Linie als transzendental gelten lassen, um überhaupt
die Grundlage für eine Parallele zu erhalten. Trotzdem bleibt sie
immer noch mit dem Mangel behaftet, daß sie nur dann, und auch
nur ungefähr, paßt, wenn man beim Zinnoberbeispiel nicht die erst-
malige Entstehung, sondern die Wiederholung der Assoziation zum
Vergleich heranzieht, Bei dieser Beschränkung wären die Teilvor-
stellungen in beiden Fällen von der Einbildungskraft erzeugt resp.
wiedererzeugt und ihre Affinität, — einmal die empirische, das andere
Mal die transzendentale — könnte als „Folge der Einbildungskraft"
(132) aufgefaßt Averden. Wie hier der erste Linienteil, so darf dort
die rote Farbe nicht aus den Gedanken verloren werden, wenn eine
„ganze Vorstellung" entspringen soll. Die „Rekognition", die für
das transzendentale Beispiel 118, 2 als erforderlich nachgewiesen
wird, wäre beim empirischen Beispiel zur Bildung der ganzen Vor-
stellung allerdings nicht notwendig, vorausgesetzt, daß die im „jetzigen
Kants Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 299
Zustande" als „neu" erscheinende Vorstellung der roten Farbe quali-
tativ genau so gleichartig wäre, wie z. B. die Zahleinheiten.
26 Damit wäre, wenn auch nicht das eigentliche, so doch ein ge-
wisses Ziel des Beweises erreicht; und die „r e produktive Synthesis
der Einbildungskraft" als „transzendentale Handlung des Gemüts"
(117 u.) erwiesen. Immerhin würde die Übertragung von dem em-
pirischen auf den transzendentalen Fall, und damit der ganze Beweis
nur auf einem Analogieschluß beruhen. Nun schlägt Kant aber weder
den einen noch den andern Weg, der hier zur Herstellung einer Parallele
versucht wurde, wirklich ein, sondern hält die „Annahme" (117, Z. 15)
oder „Voraussetzung" (116, 2, Z. 8) einer reinen Einbildungskraft
für gesichert, wenn er „dartun könne, daß selbst unsere reinsten
Anschauungen . . . eine solche Verbindung des Mannigfaltigen ent-
halten, die eine durchgängige Synthesis der Reproduktion mög-
lich macht" (117, 7 — 12). Der Umstand, daß die Reproduktion mög-
lich gemacht wird, ist hier das tertium comparationis, auf das Kant
hinaus will, und dieses Möglichmachen soll parallel zu der „syntheti-
schen Einheit" und der „Regel" der Erscheinungen hier von der
in den reinen Anschauungen „enthaltenen" Verbindung ausgehen.
Kant versteht nun aber hier unter diesen reinen Anschauungen nicht,
wie S. 52/53, die als „gegebenes Ganze vorgestellten" reinen
Anschauungen, oder z. B. eine Linie an sich, sondern die durch die
Synthesis der Reproduktion erst „entspringenden" (117) Anschau-
ungen, also z. B. die einer aus Teilen zusammengefügten Linie. Nun
kann aber eine Verbindung nicht in etwas enthalten sein, was erst
„erzeugt" werden soll, was vorläufig noch gar nichts oder überhaupt
nicht ist, was „niemals" (117 u.) zu einem etwas werden und „ent-
springen" könnte, wenn „ich" die Teile „immer aus den Gedanken
verlieren und nicht reproduzieren" würde (117 u.). Es ist ein auf
der Hand liegender Widerspruch, eine Verbindung in etwas enthalten
sein zu lassen, was erst durch die Verbindung reproduzierter Teile
zustande kommen soll.
27 Ferner entsteht hier ein ganz offenbarer Zirkelschluß.
Die Reproduktion wird nämlich nach Kants Schilderung dw Ent-
stehung einer reinen Anschauung zum erzeugenden Prinzip, sie ist
es, welche die „ganze Vorstellung" möglich macht, „entspringen"
läßt (117), „erzeugt" (116, o.; 118. 2 u. 3) oder „hervorbringt" (119 tu)
und die dann in i\w „ganzen Vorstellung" sieh zeigende oder „ent-
•20*
300 Friedrich Maywaid,
haltene" Verbindung ist die Folge, das Ergebnis oder die "Wirkung
der Reproduktion nach dem hier vorliegenden klaren Wortlaut Kants
(117, Z. 18 — 31). Nun ist aber gerade die Reproduktion dasjenige,
was „möglich gemacht" werden sollte, für dessen Möglichkeit der
Grund gesucht wird (116 Mitte; Z. 3—5 v. u.; 116/117; 117, Z. 11—12
und die in den reinen Anschauungen enthaltene Verbindung
soll den Erklärungsgrund für die Reproduktion abgeben, soll die
durchgängige Synthesis der Reproduktion möglich machen (117,
Z. 9 — 18). Die Reproduktion soll also die Folge, die Wirkung, das
Ergebnis des Möglich machens sein, und die in den reinen Anschauungen
enthaltene Verbindung ist in aktiver Konstruktion das grammatische
Subjekt, in passiver der Grund oder die Ursache des Möglich machens.
Es liegt also der Zirkel vor, daß zuerst die Verbindung als Subjekt
die Reproduktion als Objekt ermöglicht (117 Z. 8 — 12), und dann
umgekehrt die Reproduktion als Subjekt , die Verbindung als Objekt
hervorbringt (117 Z. 18—31). Dieser Zirkel wird von Kant nicht
nur einmal vorgetragen, sondern auch S. 130/131, hier sogar bezüglich
der Assoziation und Reproduktion zusammen wiederholt. Es scheint
dort, wie wir bereits sahen, sehr angemessen, daß neben dem eigent-
lichen subjektiven „Grunde" der Reproduktion, d. h. dem „reproduk-
tiven Vermögen der Einbildungskraft" (131, 1), also neben der Ge-
dächtniskraft auch noch als zweiter „subjektiver und empirischer
Grund" „die Assoziation der Vorstellungen" (131, 2) auftritt, welch
letzterer Grund als Gelegenheitsursache oder Anlaß der Reproduk-
tion erscheint, und zugleich als Grund dafür, warum „eine Vorstellung
vielmehr mit dieser, als einer andern in der Einbildungskraft in Ver-
bindung tritt" (131, 2). Dieser Satz würde also eine Hindeutung
auf das Zinnoberbeispiel S. 116 enthalten, und er würde dieses „Ver-
mögen der Einbildungskraft hier „n u r auf Reproduktionen ein-
schränken" (130 Anm.), weil es sich dann wie bei dem Zinnoberbeispiel
nur um die Wiederholung früher gebildeter Assoziationen
handelte, weshalb Kant die „Assoziation" den „subjektiven und
empirischen Grund der Reproduktion" nennt. Nun beabsichtigt
Kant aber, auf S. 130/132, die ursprüngliche Zusammenfügung der
„Eindrücke" zu „Bildern" zu erklären, dadurch, daß das „r e pro-
duktive Vermögen der Einbildungskraft" als „subjektiver Grund"
„eine Wahrnehmung, von welcher das Gemüt zu einer andern über-
gegangen, zu den nachfolgenden herüberzurufen, und so ganze
Kant« Beweis für die transzendent. Synthesis der Einbildungskraft. 301
Reihen derselben darzustellen" (131, 1) vermag. Kant will also
die ursprüngliche Entstehung von „Bildern" oder die „Verbindung"
(131, 2) bestimmter Vorstellungen miteinander, wie die der roten
Farbe und des schweren Zinnobers usw. (116) in gleicher Weise er-
klären wie die Entstehung einer Linie nach seiner Schilderung S. 117.
Dann ist aber der „Zusammenhang" dieser „ganzen Reihen" oder
ihre „Assoziation" (130/131) ebenso wie bei dem Linienbeispiel das
Ergebnis oder die Wirkung und nicht der „Grund der Reproduktion"
(131, 2), und wenn Kant trotzdem die Assoziation als „subjektiven
und empirischen Grund der Reproduktion" (131, 2) bezeichnet, so
ist der Zirkel wieder da. Man könnte hier dem Widerspruch dadurch
auszuweichen suchen, daß man von der in der Reproduktion und
Assoziation vorliegenden Tätigkeit des erkennenden Subjekts, die
sich auf die Vorstellungen als ihre Objekte bezieht, überspringt auf
ihr „Korrelat" (Vaihinger, a. a. 0. 19/41), auf die objektive
Beschaffenheit der Vorstellungen, ihre „Affinität" (132, 125/126)
oder „Assoziabilität (131/132), so daß unter Assoziation hier im zweiten
Falle (131, Abs. 2). diese Begriffe zu verstehen wären. Dieser Aus-
weg wäre wegen des Doppelsinns des Begriffs Assoziation sehr be-
denklich, Kant schlägt ihn aber bezüglich der Reproduktion auf
S. 117 ein, indem er die Affinität der Erscheinungen ihre „Reprodu-
zibilität" nennt. Diesen Ausweg schneidet er sich aber auf S. 130 L32
ab, indem er hier den Unterschied zwischen subjektiver Funktion
und „objektivem Grunde" der Reproduktion bzw. Assoziation (125,
131/132) klar durchführt, so daß er tue als „subjektiven Grund" be-
zeichnete Assoziation und Reproduktion nicht zugleich zum „ob-
jektiven Grunde", zur Assoziabilität oder Reproduzibilität machen
kann.
28 Kant hatte also zwar durchaus Recht, daß die „Einbildungs-
kraft" (als produktive und unbewußte, vergl. Vaihinger a. a. 0.
43/44, 65/66, Windelband, Gesch. d. n. Phil. 115 (1911), S. 73/74,
224/225) „ein notwendiges Ingredienz di'v Wahrnehmung selbst sei"
(130 Anm.), aber sein vom Empirischen ausgehender Beweis für
die Berechtigung ihrer Annahme ist in allen Punkten verfehlt. Damit
ist in der Hauptsache auch der „von unten" (130) ausgehende zweite
Weg der Deduktion als ungangbar erwiesen.
XVII.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft und dem
Entwicklungsgedanken.
Von
Richard Noll.
Es ist immer eine mißliche Sache, wenn Facharbeiter irgend
einer Wissenschaft über die Leistungen anderer Menschen Unter-
suchungen anstellen, die für diese nur von persönlicher Bedeutung
sind, weil sie einmal von ihrem naturgegebenen Lebenswege abbogen
und auf den Feldern ihrer Nachbarn pflügten. Die Untersucher
geraten gar zu leicht in die Gefahr, den andern entweder einen un-
bequemen Eindringling zu schelten, oder ihm, wenn er bei seiner
Arbeit ein wertvolles Gut gefördert hat, die Ehren der Fachgenossen-
schaft in besonderem Maße zu erweisen. Die Untersucher vergessen
meist die ganz besondere Art jenes Fremdlings, der mit völlig ver-
schiedenen Voraussetzungen und Mitteln die gleiche Aufgabe zu
lösen sucht. Sie sehen nur das Endergebnis und achten nicht darauf,
wie es geworden, sie postulieren sogar hintennach, ein gleiches Ding
könne nur einerlei Entstehung sein.
Einen derartigen Eindruck gewinnt man, wenn man die Fach-
naturwissenschaftler über den Naturwissenschaftler Herder reden
hört. Weil Herder von Entwicklung spricht, wird er ohne viel Feder-
lesens als Kronzeuge für die Entwicklungslehre angerufen, und für
den Darwinisten ist er natürlich Vertreter der darwinistischen, für
den Lama rckisten Vertreter der Lamarckschen Lehre. Jeder pflückt
aus seinen Werken soviel heraus, als ihm zum Erweis seiner Ansicht
dient, der eine die Sätze, der andere jene, und am Ende meint jeder,
das rechte gefunden zu haben. Widerstrebende Gedanken werden
mit dem Bemerken erledigt, daß natürlich niemand vor Darwin klar
gefaßte Anschauungen über Entwicklung habe bilden können, und
daß darum Unbestimmtheiten zu entschuldigen sind. Geht man
dann, getrübt durch die Aber und Wider der Ausleger zu dem Meister
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 303
selber, so schwankt man anfänglich zwischen den Gegensätzen einher,
gibt hier dem einen, da dem andern Kecht, und kommt wohl gar —
bei nicht vertieftem Eindringen — zu dem Schlüsse, daß die Wahr-
heit zwischen beider Mitte stehe. Nur befriedigt am Ende die Lösung
nicht, man möchte scharfe Grenzen, und man hält nur Halbheiten
in Händen. Darum sucht vor allem die nachfolgende Untersuchung
der Gefahr zu entgehen, einen neuen „Mittelweg" zum Verständnis
Herders ausfindig zu machen, vielmehr den Versuch zu unternehmen,
aus eingehendem Befassen mit dem Gesamtschaffen einen Standort
zu gewinnen, von dem aus die vielverzweigten Gedankengänge klar
zu überschauen und widerspruchslos zu ordnen sind. Denn nur wenn
wir perspektivisch blicken, d. h. wenn wir das Verhältnis der einzelnen
Gedanken nach ihrer Bedeutung hintereinander stellen, haben wir
ein rechtes Bild von Herders Denken; unterlassen wir dies, — wie
es manche Naturwissenschaftler getan haben — so bekommen wir
Verzerrungen und Entstellungen.
Herders Name verknüpft sich in erster Linie mit dem Dichter
und Kulturphilosophen. Während ihm aber seine kritische Ver-
anlagung grundlegende Gedanken über die Werke anderer eingab,
ist seine eigene dichterische Schöpfungskraft nicht zu großem empor-
gewachsen. Doch von beiden, der Eingebung und dem Verstände
spüren wir etwas in allen seinen Schriften, ja in ihnen liegt, wie wir
sehen werden, zum großen Teil seine Art die Welt zu betrachten,
beschlossen. Zweifellos ist Herder als Kulturphilosoph einer der
Großen, weil einer der Wenigen, die den Begriff und die Aufgabe
dieses Menschheitsproblems klar gesehen und in eigener Weise ge-
löst haben. Schon ungemein früh trat diese Frage in sein Bewußt-
sein und im Wachsen seiner Anschauungen verzweigte sie sich nach
allen Seiten. Helle Begeisterung hält den erst Fünfundzwanzig jährigen
in Bann, wenn er sich die unendliche Aufgabe „den Bildungsgang
der Gesamtmenschheit" darzustellen vergegenwärtigt. Wie wäre
es auch sonst möglich, daß er auf Naturwissenschaft gestoßen wäre,
da er doch sein Leben lang Theologe von Beruf und philosophischer
Grübler als Mensch gewesen ist? Nur auf seinen) Wege zur Kultur-
philosophie begeli 1 er auch Strecken reiner Naturwissenschaft; aber
wir haben kein Kecht, ihn darum einen Naturwissenschaftler zu nennen.
Denn innerhalb ihrer Grenzen leistete er keine „Facharbeit- (wie
etwa Goethe), sondern er raffte die Ergebnisse des damaligen Wissens-
304 Richard Noll,
Standes zusammen und machte sie seinen Absichten nutzbar. Immer
stand ihm seine Weltanschauung, sein Geschichtsproblem im Mittel-
punkt; alles andere ordnete sich diesem Blickpunkte unter. Darum
sind wir außerstande, seine Anschauungen — aus welchem Wissens-
gebiete sie auch seien — in ihrer Bedeutung für ihn zu würdigen,
und eindeutig zu bestimmen, falls wir diese nicht in ihren Haupt-
zügen kennen, sie allein kann uns Wegweiser sein aus dem oftmals
vielverschlungenen Labyrinthe seiner Ideen, sie allein macht uns
zugleich psychologisch manche Behauptungen verständlich, denen
wir ohne ihre Kenntnis kopfschüttelnd gegenüberständen. Nun
ist Weltanschauung dem Menschen weder ursprünglich eingeboren,
noch wird sie ihm mit allen ihren Verzweigungen urplötzlich ein-
gegeben: langsam wächst sie und entfaltet sich von Jugend an. Wir
scheinen daher in arge Bedrängnis zu geraten, den ganzen Werde-
prozeß in Breite und Tiefe zu beleuchten — es würde Seiten und Bogen
füllen. Aber schließlich müßte auch dieses geleistet werden, wenn
nicht Herder selbst uns das Mittel zur Vereinfachung an die Hand
gegeben hätte. Die Schrift nämlich, in der er seine kulturphiloso-
phischen - - und naturwissenschaftlichen — Anschauungen entwickelt,
zeigt zugleich seine abgeschlossene und vollausgereifte Weltanschauung :
es ist sein weltumspannendes Werk: „Ideen zur Philosophie der
Geschichte der Menschheit." Seine besondere Stellung in Herders
Gesamtschaffen gibt der Beschränkung eine starke innere Stütze.
Wohl selten ist es einem Schriftsteller in so einzigartiger Weise ge-
lungen, e i n Werk in den Mittelpunkt seines Lebens zu stellen, wie
es Herder mit seinen „Ideen" tat. Alles was er dachte, ist hier zur
Einheit zusammengeschmolzen, alles was er später schrieb, ist nur
eine Fortführung und Verzweigung desselben. Allein in seinen „Ideen"
breitet er die ungeheure Menge seines zusammengetragenen Wissens
geordnet vor uns aus. Der spätere Herder rückt mehr und mehr
von der Wissenschaft ab und beginnt im Bereich reiner Philosophie
den wenig glücklichen Kampf mit Kant. Nur von dem weltanschau-
lichen Hintergrund seiner „Ideen" hebt sich mit aller Klarheit seine
Stellung zu den Einzelwissenschaften ab, die wir s o durchaus in
seinem Sinne als Glieder seiner Kulturphilosophie sehen1).
x) Es fiele nun gänzlich aus dem Rahmen dieser Untersuchung, im ein-
zelnen Herders gedankliche Abhängigkeit von dem einen oder andern nach-
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 305
Herders Weltanschauung ist eine monistisch-idealistische. Die
großen Denker des 17. und 18. Jahrhunderts waren seine Vorbilder,
vor allem waren es die Systeme von Leibniz und Spinoza, die tief-
gehende Spuren in seiner gedanklichen Ausbildung hinterlassen
haben. Monistisch ist bei Herder die Art und Weise, wie er die Stellung
von Materie und Geist faßt; beide stehen sich nicht als einander aus-
schließende Wesenheiten gegenüber, sondern die Verschiedenheit
ihrer Seinsformen findet in einem höheren Orte ihre Lösung, indem
sie als die Modalitäten einer Substanz gedacht wird. „Einen Geist,
der ohne und außer alle Materie wirkt, kennen wir nicht, und in dieser
sehen wir so viele geistähnliche Kräfte, daß mir ein völliger Gegensatz
und Widerspruch dieser beiden allerdings sehr verschiedenen Wesen
des Geistes und der Materie, wo nicht selbst widersprechend, so doch
wenigstens ganz unerwiesen scheinet. Wie können zwei Wesen ge-
meinschaftlich und innig harmonisch wirken, die, völlig ungleichartig
einander wesentlich entgegen wären"? 2) Die trennende Schranke,
die Eigengesetzlichkeit der beiden Erscheinungsreihen im Körper-
lichen und Geistigen reißt er nieder, indem er sie einem einheitlichen,
beide beherrschendem Gesetze unterwirft. „Die Kraft, die in mir
denkt, und wirkt, ist ihrer Natur nach eine so ewige Kraft, als jene,
die Sonne und Sterne zusammenhält: ihr Werkzeug kann sich ab-
reiben, die Sphäre ihrer Wirkung kann sich ändern, die Gesetze aber,
durch die sie da ist, und in andern Erscheinungen wiederkommt,
ändern sich nie, Ihre Natur ist ewig, wie der Verstand Gottes, und
die Stützen meines Daseyns (nicht meiner körperlichen Erscheinung)
sind so vest, als die Pfeiler des Weltalls. Denn alles Daseyn ist sich
gleich, sowohl im kleinsten als im größten auf Einerley Gesetze ge-
gründet. Den Bau des Weltgebäudes sichert also den Kern meines
Daseyns, mein inneres Leben auf Ewigkeiten hin" 3). „Zwar geht er
hier und da noch weiter in der Vergeistigung der Materie: die wirken-
zuweisen. Uns kommt es allein darauf an, die Leitlinien seines Weltbildes
zu zeichnen, ohne im geringsten den Versuch zu unternehmen, sowohl histo-
rischen Beziehungen als auch inneren Widersprüchen nachzuspüren; aus
Gründen größerer Sachlichkeit lassen wir Herder so oft als möglich selbst
reden.
-) Herders Sämtliche Werke in 33 Bdn., herausgegeben von B. Suphan,
Bd. XIII, 172.
:!) a. a. ü. XIII, 16.
306 Richard No 11,
den „Kräfte" sind ihm in „höherem" Maße wirklich, als der leblose
Stoff; er macht aber noch nicht den letzten Schritt — wie es später
die idealistische Philosophie tat — den Geist als das schlechthin
einzig Seiende zu erklären. „Alles, was wir Materie nennen, ist also
mehr oder minder selbst belebt; es ist ein Reich wirkender Kräfte,
die nicht nur unseren Sinnen in der Erscheinung, sondern ihrer Natur
und ihrer Verbindung nach ein Ganzes bilden." 4) In eigener Weise
deutet er dabei die prästabilierte Harmonie um: „Das System der
Harmonie ist wahr, aber unvollständig, es erklärt nicht, was es er-
klären soll. Nicht der Philosoph, der sich seines Systems bewußt
war, nahm dazu die Zuflucht, sondern der witzige Kopf, der bei
dem Phänomenon stehen blieb, und im Drange der Not das Gleichnis
von den zwo Uhren zu Hilfe rief, das hier garnicht paßet. Weder
Seele noch Körper ist eine solche für sich gehende mechanische Uhr.
Die Seele hat bei ihrer göttlichen Natur, da sie eingeschränkt ist,
Sinne nötig, die ihr das Weltall ihrer göttlichen Natur gemäß vor-
spiegeln. Der Körper, ist in Absicht der Seele kein Körper: ist ihr
Reich : ein Aggregat vieler dunkel vorstellender Kräfte, aus denen sie
ihr Bild, den deutlichen Gedanken, sammelt. Sie sind also wirklich
von einander abhängig und für einander zusammengeordnet. Den
Grund des Aggregats vom Körper finde ich nicht anders als in der
Seele und im Körper den Grund, warum die Seele aus solchen und
diesen Formeln sich das reine Weltall, das in ihr liegt, wecket".
Später lehnt er ausdrücklich das Mißverständnis ab, als baue sich
die Vernunft ihren Körper. „Man würde mich unrecht verstehen,
wenn man mir die Meinung zuschriebe, als ob, wie einige sich aus-
gedrückt haben, unsere vernünftige Seele sich ihren Körper in Mutter-
leib, und zwar durch Vernunft gebauet habe. Wir haben gesehen,
wie spät die Gabe der Vernunft in uns angebauet werde, und daß
wir zwar fähig zu ihr auf der Welt erscheinen, sie aber weder eigen-
mächtig besitzen noch erobern mögen . . . Nicht unsere Vernunft
wars, die den Leib bildete, sondern der Finger Gottes, organische
Kräfte" 5). Die Überlegung nun, auf welche Art die „Seele, das Welt-
all, das in ihr liegt, wecket", führt ihn gleich Leibniz zur Annahme
einer stufenförmigen zweckbeherrschten Entwicklung. Er geht aller-
4) a. a. 0. XVI, 545.
5) a. a. 0. XIII, 174.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 307
dings einen gänzlich verschiedenen Weg: während Leibniz rein meta-
physisch aus der Vorstellungskraft der Monade selbst seine Theorie
aufbaute, will Herder aus der Empirie seine Begründung holen. Da
Leib und Seele im innersten zusammenhängen, müssen wir zum Ver-
ständnis des „höheren" Seelenlebens auch die niedere noch tierische
Natur im Menschen kennen. Wegweiser sind uns hier Psychologie
und deren Grundlage die Physiologie. Die elementarste und allem
zugrundeliegende Seelenkraft ist der Reiz, „das erste glimmende
Fünklein zur Empfindung, zu dem sich die Materie durch viele Gänge
und Stuffen des Mechanismus und der Organisation hinaufgeläutert
hat" 6). Dieses Reich der dunkelsten, weil unbewußten Erfahrung,
wird geordnet und damit auf eine höhere Stufe hinaufgehoben durch
die Sinne. Sie sind das notwendige Mittel der Erkenntnis. „Betrügt
mich der Schein, das Licht, der Duft, die Würze, ist mein Sinn falsch,
oder habe ich ihn nur falsch zu brauchen mich gewöhnt, so bin ich
mit aller meiner Känntnis und Specnlation verloren . . . Innig wissen
wir außer uns nichts: ohne Sinne wäre uns das Weltgebäude ein zu-
sammengeflochtener Knäuel dunkler Reize: der Schöpfer mußte
scheiden, trennen, für und in uns buchstabieren" "'). Jeder dieser
Sinne nimmt nun von der Außenwelt einen bestimmten Ausschnitt
heraus, so daß hierdurch die Erfahrung zergliedert wird. Zusammen-
gefaßt werden diese Einzelbeobachtungen durch die Einbildungs-
kraft: aber Einheit und Ordnung in dieses Reich der sinnlichen Ge-
gebenheiten bringt erst das „Nervengebäude". „Es ist wiederum
das Medium, welche die mannigfaltigen sinnlichen Tata dein lebendigen
Geiste, der in den Nerven lebt, also der im engeren Sinne so genannten
Seele, zubereitet, d. h., in seine geistige Natur verwandelt. Erst so
wird der sinnliche Eindruck zur Empfindung. Alle Empfindungen
nun, die zu einer gewissen Helle steigen, werden Apperception, Ge-
dünke. Die Seele erkennt jetzt, daß sie empfindet, sie ist sich dessen
bewußt. In dem Gedanken schafft sie sich aus vielem ein lichtes
I^ins und bezieht dieses reflexiv auf sich zurück, begleitet es gleich-
sam beständig mit dem Gefühl des Selbstbewußtseins, der Selbst-
thätigkeit"8). Mankönnte diese Darlegungen die HerderscheErkenntnis-
6) a. a, O. XIII, 171.
-) a. a. 0. VIII, 187.
8) M. Kronenberg, Herders Philosophie S. 59.
•308 Richard Null,
tjieorie nennen, denn es wird der Versuch unternommen, das Problem
des Ursprungs und der Art und "Weise der Erkenntnis zu lösen. Wir
sehen eine Entwicklung vom chaotischen Reiz durch mancherlei
Stufen bis zur klaren Vernunft. Aber dieses Hinaufstreben ist nicht
empirisch-historisch, sondern metaphysisch-dynamisch zu verstehen.
Es ist jener eigentümliche Leibnizische Finalismus, daß die Monade,
die „Urkeimzelle" — weil schon Abbild des Weltalls — Ursache und
Zweck in sich trage. Denn die Ursache der Entfaltung ist zugleich
das Ziel: das uranfänglich unbewußte Weltall in der höchsten Ver-
nunft zur Selbstdarstellung zu bringen. Auffallend ist hierbei —
zumal für seine sonst vorwiegend idealistische Weltauffassung — der
starke Einschlag empirischer Tatsachen der Psychologie und Sinnes-
physiologie. Was Herder zu solch seltsamer Verquickung von Meta-
physik und Erfahrung verleitete, war vor allem sein Haß gegen jede
„Begriffsmetaphysik". Er haßt sie, er poltert gegen sie als Tollhaus-
schwärmerei ; von der Erfahrung ausgehend möchte er seine Schlüsse
auf festgegründeten Boden stellen; aber es ist seltsam zu sehen, wie
bald er sich, ohne daß es ihm bewußt geworden sei, mit metaphysischen
Schwingen vom Boden hinweghebt.
Die bedeutendste und fruchtbarste Erweiterung seiner Welt-
anschauung verdankt Herder dem Gedanken Spinozas von der Allein-
heit Gottes. Damit macht er den Endschritt zu einer einheitlichen
Weltauffassung: er lernt von jenem die Gesamtheit alles Lebens, aller
Dinge in Gott zusammenfassen als dem wahrhaft Seienden und Wirken-
den. In dieser Gotteinigkeit findet der ganze Mensch Herder seine
volle Befriedigung, weil Religion und Weltanschauung ihm zusammen-
schmelzen zur allesumfassenden Einheit: sein intellektuelles Bedürfnis
wird befriedigt durch den strengen Monismus, der ihn die Welt von
„Einerley Gesetzen" der Schönheit und Ordnung geleitet sehen läßt,
sein religiöses durch das Alldasein Gottes, der durch jede Erscheinung
lebt und wirkt. Denn Gott und Welt sind weder nebeneinander, noch
in einander, sondern durch einander; es gibt nur eins: Gott —
und dieser Gott lebt und schafft in jeglicher Erscheinung, macht ihr
Wesen aus. Diese Gedanken bilden den krönenden Beschluß des
Herderschen Weltbildes: alle Begriffe, die sonst so leicht einen An-
klang von kalter Logik haben, bekommen nun, getaucht in die Glut
des religiösen Erlebnisses, Leben und Gefühlswerte. Urgrund der
Welt ist Gott; als Träger der höchsten Vernunft wird er zugleich
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 309
als Kraft der Schönheit, Ordnung und Harmonie gedacht. „Raum
und Zeit sind nur Maßstäbe eines eingeschränkten Verstandes, der
Dinge nach und neben einander sich bekannt machen muß; vor Gott
ist weder Zeit noch Raum. In der Ewigkeit Gottes gibts keine Augen-
blicke, und der wesentlich Wirksame ruhte nie. Wir endliche Wesen, mit
Raum und Zeit umfangen, die wir uns alles nur unter ihrem Maaß
denken, wir könen von der höchsten Ursache nur sagen: sie ist, sie
wirkt; aber mit diesem Wort sagen wir alles. Es besteht alles in ihm,
die AVeit ist eine Darstellung der Wirklichkeit seiner ewig thätigen
Kräfte. Jedes der göttlichen Gesetze ist das Wesen der Dinge selbst,
ihnen nicht willkürlich angehängt, sondern eins mit ihnen"9).
Höchste Gesetzmäßigkeit waltet in der Welt, denn jede Gesetz-
losigkeit müßte die Harmonie zerstören. Die Kraft als die unmittel-
barste Betätigung Gottes kann ebenso wenig wie dieser selbst zu-
grunde gehen. „Keine Kraft kann untergehen; denn was hieße es:
eine Kraft gehe unter? Wir haben in der Natur davon kein Beispiel,
ja in unsrer Seele nicht einmal einen Begrif. Ist es Widerspruch,
daß Etwas Nichts sei oder werde: so ist es noch mehr Widerspruch,
daß ein lebendiges, wirkendes Etwas, in dem der Schöpfer selbst
gegenwärtig ist, in dem sich seine Gotteskraft einwohnend offenbaret,
sich in ein Nichts verkehre. Das Werkzeug kann durch äußerliche
Umstände zerrüttet werden. So wenig aber auch in diesem sich nur
ein Atom vernichtet oder verlieret, um so weniger die unsichtbare
Kraft, die auch in diesem Atom wirket" lü).
Dieser Abriß Herderscher Weltanschauung mag für das vor-
hegende Ziel genügen. Als höchste Aufgabe, die Herder in (.kn „Ideen"
zu lösen sucht, schwebt ihm vor: aus Natur und Geschichte das
ewige Walten der Gottheit nachzuweisen, das sich hier wie dort offen-
bart „Gang Gottes in der Natur, die Gedanken, die der Ewige uns
in der Reihe seiner Werke thätlieh dargelegt hat: sie sind das heilige
Buch, an dessen Charakteren ich zwar minder als ein Lehrling aber
wenigstens mit Treue und Eifer buchstabirt habe und buchstabiren
werde. Wäre ieli so glücklich, nur Einem meiner Leser etwas von dein
süßen Eindruck milzut heilen, den ich über die ewige Weisheit und Güte
des unerforschten Schöpfers in seinen Werken mit einem Zutrauen
*) a. a. O. XIII.
"') a. ;>. O. XIII, 170.
310 Richard Noll,
empfunden habe, dem ich keinen Namen weiß: so wäre dieser Ein-
druck von Zuversicht das sichere Band, mit welchem wir uns im
Verfolg des Werks auch in die Labyrinthe der Menschengeschichte
wagen könnten" 11). Zentralbegriff seines Werkes ist die Menschheit
selber; ihre Geschichte ist im engeren und eigentlichen Sinne der
Stoff seiner Untersuchung. Da er die Natur, „als ein System über-
geordneter Kräfte" energetisch faßt, gelingt es ihm, sich ein inneres
Recht zu erweisen, den Menschen zugleich naturwissenschaftlich
und historisch zu betrachten: denn einmal ist er eine Bildung der
Natur „denn der Mensch ist ja, wie alles andere, ein Zögling der Luft
und im ganzen Kreise seines Daseyns aller Erdorganisationen
Bruder" 12), andermal sind die Gesetze seines Kulturzusammen-
schlusses, seiner Geschichte höhere Naturgesetze, die zu Ende geführte
Ausbildung der in der Natur schlummernden Triebe. „Da Geist und
¥foralität auch Physik sind und denselben Gesetzen, die doch zuletzt
alle vom Sonnensysteme abhangen, nur in einer höheren Ordnung
dienen ..." 13). Darum ist es notwendig, das Menschengeschlecht
rückwärts zu verfolgen, seine Naturbedingtheit zu ergründen, um
den Entwicklungsgang seiner Kultur zu begreifen. Die Geschichte
aller Stämme und Völker will er in seinen Kreis hineinziehen, um auf
dieser breitesten Grundlage der Erfahrung nachzuweisen, daß Harmonie,
Ordnung, Planmäßigkeit nicht Erzeugnisse des Menschenhirns, sondern
greifbar wirklich in ihrem Ablauf dargestellt seien; daß sich Dasein
und Wirken der Gottheit an der menschlichen Geschichte kundtue.
„Der Gott, der in der Natur Alles nach Maaß, Zahl und Gewicht ge-
ordnet, der darnach das Wesen der Dinge, ihre Gestalt und Ver-
knüpfung, ihren Lauf und ihre Erhaltung eingerichtet hat, so daß
vom großen Weltgebäude bis zum Staubkorn, von der Kraft, die
Erden und Sonnen hält, bis zum Faden eines Spinngewebes nur Eine
Weisheit, Güte und Macht herrschet, Er ,der auch im menschlichen
Körper und in den Kräften der menschlichen Seele alles so wunderbar
und göttlich überdacht hat . . . wie sprach ich zu mir, dieser Gott
sollte in der Bestimmung und Einrichtung unseres Geschlechts im
Ganzen von seiner Weisheit und Güte ablassen und liier keinen Plan
") a. a. O. XIII, 9.
'-) a. a. O. XIII, 31.
13
) a. a. O. XIII, 2(1.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. Sil
haben?" 14) Man kann sagen, daß zur Beantwortung dieser Frage
das Riesenwerk geschrieben worden sei: alle Ergebnisse der Einzel-
untersuchimg laufen wie die Radien eines Kreises in diesem Mittel-
punkt zusammen.
Es ist begreiflich, daß ein Mensch, der das gesamte Weltgebäude
als einen lebendigen Organismus auffaßt, geleitet von Gott als der
höchsten Vernunft, notwendigerweise alles als im höchsten Sinne
zweckmäßig ansehen wird; es hieße Gott die Vollkommenheit
rauben, gäbe es eins, das diesem „Kosmos" zuwiderlief e. Notgedrungen
kommt da in Herders Betrachtungsweise ein stark teleologischer Zug ;
er setzt jede Erscheinung in Beziehung zu diesem höchsten Sein
und findet Zweck und Absicht in ihr. Damit ist von vornherein die
Möglichkeit einer streng wissenschaftlichen Behandlung benommen,
indem gleich außergegenständliche und dem Ziel der Forschung
zuwiderlaufende Beziehungen in den Mittelpunkt der Betrachtung
gerückt werden. Die Frage nach dem Z w e c k des Dinges stellt sich
ihm zuerst, ist ihm wertvoller als die nach der Ursache. Der Zweck-
mittelpunkt : Gott ist ihm gegeben und von hier blickt er die Welt an
— mehr wertend als forschend, mehr behauptend als beweisend.
Wenn er die Natur als „gebärende Mutter" bezeichnet, so ist ihm
das mehr als ein schönes Bild: wie er in seinem starken religiösen
Erlebnis eine unmittelbare fast greifbare Gottnähe fühlt, so ver-
lebendigt ihm sein Gefühl die Natur derart, daß er sie menschlich
schaffend am Werke sieht. Sie ist ihm nicht wie uns das bewußt-
seinslose Wesen, das nach immanenten Gesetzen sich entfaltet, sondern
ein solches, das mit Selbstbewußtsein denkt und handelt. Diese
Personifikation der Natur ist ihm aber gar oft ein bequemes Mittel,
sich über die Schwierigkeiten der Probleme hinwegzusetzen : er gleitet
lastend über sie hinweg und faßt sie nirgends in ihrer Ganzheit; und
da er sie dazu in einseitiger, wohl schiefer Weise beleuchtet, entdeckt
er Schlagschatten, die ihn wie uns überraschen. Aber wenn wir solchen
Sätzen das Rampenlicht und den Esprit genommen haben, bleibl
als Rest eine schöne Redewendung, die uns gelallt: die uns aber über das
wissenschaftliche Erfahrbare des Dinges kaum eine Andeutung gibt,
„Der Krystall schießt fertiger und regelmäßiger zusammen, als die
Biene bauet und als die Spinne webet. In jenem ist es um- noch orga-
1 1
) a. a. (). XIII, 7.
312 Richard Noll,
nischer blinder Trieb, der nie fehlen kann 15)'\ „Das Gewebe der
Spinne, was ists anders als der Spinne verlängertes Selbst, ihren Raub
zu erhalten? Wie der Polyp die Arme ausstreckt, ihn zu fassen: wie
sie die Krallen bekam, ihn vest zu halten: so erhielt sie auch die Warzen,
zwischen welchen sie das Gespinnst hervorzieht, den Raub zu erjagen.
Sie bekam diesen Saft ungefähr zu so vielen Gespinnsten, als auf ihr
Leben hinreichen, und ist sie darin unglücklich, so muß sie entweder
zu gewaltsamen Mitteln Zuflucht nehmen oder sterben".16) „Bei Thieren
edlerer Art legte die Natur die Werkzeuge der Fortpflanzung, als ob
sie sich ihrer zu schämen anfingen, tiefer hinab" 17). „Die Natur
verschonte diese leichten fluchtigen Geschöpfe, ihre Jungen bis zur
lebendigen Geburt zu tragen, wie sie sie auch mit der Mühe des Säugens
verschonte. . . . Sobald das Meerthier warmes Blut und Organisation
genug hat, ein Lebendiges zu gebähren, ward ihm auch die Mühe
aufgelegt, es zu säugen" 18). Die Sätze zeigen deutlich, daß Herder
vor der wissenschaftlichen Aufgabe stehen geblieben ist: er sinnt nicht
nach den Gründen dieser Gegebenheiten, sondern er beschreibt
teleologisch. Wenn diese Art der Naturbetrachtimg auch
nicht die Regel ist, so tritt sie doch immerhin in einer Häufigkeit
auf, die den Wissenschaftler Herder fast zur Unmöglichkeit macht.
In besonders greller Weise tritt diese teleologische Beschreibung
hervor, als es gilt, die Geburt „des" Menschen zu schildern. Hier,
bei dieser weltbedeutsamen Schöpfung läßt sich Herder vom breiten
Strome teleologischer Gedanken treiben; man merkt es ordentlich,
mit welch innerer Freude er daran geht, zum Lob und Preis dieses
höchsten Erdengeschöpfs seine Stimme zu erheben; alle Dämme
nüchterner Verstandesbeengung werden durchbrochen, um für den
vollen Fluß des Gefühls und der Phantasie Raum zu schaffen. Der
Dichter spricht hier am meisten und liebsten, weniger der Philosoph,
und der Naturwissenschaftler darf nur hin und wieder ein Wort da-
zwischen werfen. „Als die bildende Mutter ihre Werke vollbracht und
alle Formen erschöpft hatte, die auf dieser Erde möglich waren,
stand sie still und übersann ihre Werke; und als sie sah, daß bei ihnen
allen der Erde noch üire vornehmste Zierde, ihr Regent und zweiter
15) a. a. O. XIII, 102.
16) a. a. O. XIII, 101.
17) a. a. O. XIII, 75.
18) a. a. O. XIII, 80.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 313
Schöpfer fehlte: siehe da ging sie mit sich zu Rat, drängte die Gestalten
zusammen und formte aus allen ihr Hauptgebilde, die menschliche
Schönheit. Mütterlich bot sie ihrem letzten künstlichen Geschöpf
die Hand und sprach : steh auf von der Erde ! Dir selbst überlassen,
wärest du Thier, wie andre Thiere ; aber durch meine besondre Huld
und Liebe gehe aufrecht und werde der Gott der Thiere'' 19). Die Stelle
zeigt deutlich wie gern Herder künstlerische Einschläge in seine Dar-
stellung verwoben hat; seine Sprache ist voll von Bildern, ein oft
deutlich spürbarer Rhythmus erhöhen den dichterischen Eindruck.
Aber wenn wir sein Pathos auf uns haben wirken lassen, fühlen wir
doch bald ein Mißbehagen, denn hinter all den schwungvollen Worten
findet der kritische Beschauer zu wenig Greifbares in üinen, das ihn
in seiner Erkenntnis fördern könnte. Man darf solche Stellen eigent-
lich nur formal genießen, d. h., wir müssen von dem buchstäblichen
Inhalt absehen und nur die allgemeine Wahrheit dieser Worte in
uns lebendig werden lassen. Man mag ja vielleicht weitherziger sein,
sogar mit Entschiedenheit behaupten, teleologische Gedanken hätten
da, wo der Mensch als wertendes Glied in die Kette der Erscheinung
tritt, ihr volles Recht; gewiß: im Augenblick wenn wir dies tun,
verlassen wir den Boden strenger Wissenschaft und begeben uns auf
Wissensgebiete, die mit gänzlich verschiedenen Zielen auch anders
geartete Methoden fordern. Der Versuch aber gegensätzliches zu ver-
einen, fordert zur Kritik heraus.
In hohem Maße bezeichnend und klärend für Herders Stellung
zur Naturwissenschaft will uns die Art und Weise sein, nach der ei-
serne Stoffgebiete ausgewählt hat. Ein Wissenschaftler muß einen
kleineren oder größeren Teil aus der Unendlichkeit der Außenwelt
herausschneiden und diesen verstandesgemäß zu ergründen suchen.
Was tut nun Herder? Wohl beschäftigt ihn nur ein kleiner Teil des
Naturganzen, aber nicht einer Naturwissenschaft, sondern d e r Natur-
wissenschaft. Er sieht nur die schmale Grenzzone, die den Menschen
mit der Natur verknüpft, nur die Beziehungen und gegenseitigen Be-
wirkungen reizen seine Aufmerksamkeit. Herders gesamte Natiu-
betrachtung ist auf dieses Ziel bei der Sichtung und Auswahl des
Stoffs eingestellt: all das, was dieser Absicht nicht gefügig ist, wird
ruhigen Gewissens beiseite geschoben; es wäre ja unnötige Zutat,
19) a. a. O. XIII, 114.
Archiv für (ujttchichte der l'liilnsopliin. XXVI. ::. .>i
314 Richard No 11,
störende Belastung seines Gesamtwerkes. Fragen innerhalb der
Grenzen der Naturwissenschaft sind ihm reichlich gleichgültig; er
drängt nur auf Zusammenordnung dieser mit Fragen der Philosophie
oder Geschichte. Die weitgehendste Beschränkung des — auch schon
zu seiner Zeit verhältnismäßig reichlich — erarbeiteten Stoffs macht
sich geltend; aus vielen Spezialforschungen rafft er sich die Sätze
zusammen und sucht sie mit der Aufgabe zu verknüpfen, deren Lösung
Zweck seiner Arbeit ist. Er mag ein Ding zur Hand nehmen, welches
es auch sei, mag Gesetze der Sonne und Sternen erörtern — immer
findet der prüfende Blick die deutlich aufzuweisenden Pfade, die zum
Menschen oder zur Menschheit hinleiten. Er beginnt seine Erörterung
mit der Besprechung der Erde als Planet. Denn: „Vom Himmel muß
unsre Philosophie der Geschichte des menschlichen Geschlechts anfangen,
wenn sie einigermaßen diesen Namen verdienen soll" 20). Er durch-
läuft die einzelnen Erdperioden: nur nebenbei bekümmern ihn die
Gesetze der Gestaltsveränderung — ihm genügt die bloße Frage-
stellung und der Wunsch auf baldige Klärung, — sein Hauptinteresse
ruht immer auf den Wandlungen der Erdoberfläche und ihrer Bedeutung
für die Geschichte; nicht Geolog, sondern Geograph ist er hier. Er
kommt zu den Pflanzen, von diesen zu den Tieren — aber wir erfahren
nichts von Botanik und Zoologie, sondern, wie er es uns selbst deutlich
sagt, will er behandeln: „Das Pflanzenreich unsrer Erde in Beziehung
auf die Mensch engeschichte."' „Das Reich der Thiere in Beziehung auf
die Mensch engeschichte." So durcheilt er die ganze Naturwissenschaft,
ohne uns innerhalb der Wissenschaft irgendwo genaueres mitzu-
teilen. Einen Naturwissenschaftler Herder gibt es nicht.
Seltsam muß es nun auf den ersten Blick erscheinen, wie es Herder
möglich war, die Prinzipien zweier so wesenverschiedener Gebiete
menschlicher Betätigung, wie Geistes- und Naturwissenschaft, zu
vereinen. Es stellt sich die Frage: nach welchen methodischen Grund-
sätzen hat Herder überhaupt gearbeitet; sie spitzt sich zu: Wie
stellt sich Herder zur Induktion? Ehe wir dies beantworten können,
müssen wir eine Vorfrage stellen: Besitzt Herder methodische Klar-
heit und hat er demgemäß nach scharfumschriebenen und feststehen-
den Prinzipien gehandelt? Bereits oben war Gelegenheit, mit aller
Deutlichkeit auf die dichterischen Zwischenläufe in seinen Beweis-
en
) a. a. O. XIII.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 315
führungen hinzuweisen, und schon aus den wenigen Andeutungen
scheint eine Bejahung kaum möglich. Wer vollends Herders Gesamt-
schaffen kennt, noch mehr wer Herders Charakter kennt, wird es
verneinen. Wie hätte es sein „Feuergeist", der mit Schnelligkeit
und Leidenschaftlichkeit dachte, ertragen, sich mit einem starren
Denkgerüst zu bannen; in Strömen flössen ihm die Gedanken, aber
nur zu selten mochte er in gleicher Weise einen kühlen Kritizismus
spielen lassen. „Sein Genie ist ihm statt aller geschulten Methode",
sagt Haym von ihm 21). Nicht also nach einer Methode im Sinne
einer Forschungsmaxime dürfen wir bei Herder suchen, sondern es muß
uns genügen, zu wissen, welche Art zu denken er am häufigsten
anwandte. Ein Mensch, der uns von Jugend an überrascht durch
seine Fähigkeit zwischen Weitentlegenem Zusammenhänge aufzu-
spüren, der es über alles hebt, Beziehungen zwischen den Dingen
zu knüpfen, vermag ein solches Bedürfnis am ehesten zu stillen, wenn
er analogisch denkt. Er sieht zwei Erscheinungen, findet in beiden
ähnliche Züge, — zunächst einerlei, ob innerer oder äußerer Art —
und erschließt daraufhin Wesensbeziehunoen. Dererlei Analogien
können nun erlaubt oder nicht erlaubt sein, d. h. die behauptete
Beziehung kann von beiden Gliedern Wesentliches aussagen oder sie
kann bei einem oder bei allen zweien nur Nebensächliches treffen.
Über die Möglichkeit solcher Trugschlüsse scheint Herder sich nicht
im klaren gewesen zu sein; in der tatsächlichen Anwendung wird
ihm wohl meist sein Gefühl den richtigen Weg gewiesen haben; aus
seinen eigenen Worten ist es zu entnehmen. „Was wir wissen, wissen
wir nur aus Analogie, von der Kreatur zu uns, und von uns zum
Schöpfer . . . Syllogismen können mich nichts lehren, wo es aufs
erste Empfängnis der Wahrheit ankommt, die ja nur jene entwickeln,
nachdem sie empfangen ist; mithin ist das Geschwätz von Wort-
erklärnngen und Beweisen meist mir ein Brettspiel, das auf ange-
nommenen Regeln und Hypothesen ruhet. Die stille Ähnlichkeit,
die ich im Ganzen meiner Schöpfung, meiner Seele und meines Lebens
empfinde und ahnde: der große Geist der mich anwehet und mir im
Kleinen und Großen, in der sichtbaren und unsichtbaren Welt Einen
Gang, Einerley Gesetze zeiget: der ist mein Siegel der Wahrheit"-).
21) A. Haym: Herder, Nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt.
II, 221.
--) a. a. O. XIII, 170.
i'l'
316 Richard Noll,
Was ihn dazu trieb, sich an der Natur zu orientieren, war — wie wir
oben erfahren haben — der Haß gegen alle reine Metaphysik, der ihm
seine Erkenntnis nicht zu erweitern vermochte. „Wir setzen also
Metaphysik beiseite und halten uns an Physiologie und Erfahrung"23).
Stattdessen will er die Natur befragen und aus ihr die Begriffe sich
bilden; aber er wahrt seinen „geistigen" Standpunkt dadurch, daß
er der Erfahrung keinen Selbstzweck beilegt und sie zum alleinigen
Träger seines Wissens macht, sondern sie ist ihm nur Hilfsmittel
und Beweisstück seiner vorgefaßten Gedanken. Sein Gefühl wird
etwa dies gewesen sein: Weltanschauung — in seiner religiösen Auf-
fassung — ist ein Stück erlebbaren Wissens, das, wie alles Wissen,
um so gewisser wird, je öfter es sich durch die Erfahrung bestätigen
läßt; da sich nun Gott als rein Ideelles aus der Natur — als Phäno-
menen — nicht darstellen läßt, ist er per analogim aus ihr zu
„erfühlen". So kommt er zu dem fast schlagwörtlich oft wiederholten
Wort: „Analogie der Natur." Erst wenn er diese gefunden, fühlt er
Beruhigung wegen der Richtigkeit seiner Behauptung. „Überall
hat mich die große Analogie der Natur auf Wahrheiten der Religion
geführt, die ich nur mit Mühe unterdrücken mußte, weil ich sie mir
selbst nicht zum voraus rauben, und Schritt vor Schritt nur dem
Licht treu bleiben wollte, das mir von der verborgenen Gegenwart
des Urhebers in seinen Werken allenthalben zustralet" 21). Es gibt
wohl kaum einen Gedanken von einiger Bedeutung, zu dem er nicht
in der Natur das Analogon gefunden hätte — über den Wert und die
Beweiskraft dieser Schlußfolgen sind wir zwar mit Herder nicht einerlei
Meinung. Den Grundirrtum, der ihm hier unterlaufen ist, sah er nicht,
Die kritische Erörterung über die Verwendbarkeit von Analogie-
schlüssen führt uns unmittelbar hinüber zur eigentlich wichtigen
Frage für die Wissenschaftlichkeit Herders: Wie stellt er sich zur
Induktion? Wenn Herder von „Analogie der Natur" redet, macht
er eine stillschweigende Voraussetzung: er parallelisiert nicht einen
Begriff mit einem einmalig gegebenen Vorgang in der Natur, sondern
mit einem Gesetz des Naturgeschehens. Woher nimmt er aber das
Gesetz, wie gelangt er zu ihm? Zwei Wege öffnen sich ihm da, ein
uns schon bekannter: der Analogie, ein anderer, echt naturwissen-
-3) a. a. O. XIII, 110.
-4) a. a. ü. XIII, 9.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 317
schaftlicher, der Induktion. Im ersteren scheint eine Tautologie zu
stecken: er erschließt die „Analogie der Natur" durch Analogie.
Wir haben es so zu verstehen : der Natur gegenüber sind zwei Betrach-
tungsweisen möglich, die wir kurz die naturwissenschaftliche und philo-
sophische nennen wollen. Seine theoretische Weltanschauung hat
sich bestimmte Begriffe erarbeitet; diese fühlt er nun in die Natur
hinein und postuliert sie dann — gewissermaßen rückwärts schauend
— als „Analogie der Natur". Man kann auch sagen: eine Analogie
vollzieht sein erlebnismäßig geweitetes Alleinsgefühl mit der Allgott-
heit, die andere der Intellekt, aber wir wollen nicht künstlich scheiden,
am wenigsten bei intuitiven Menschen wie Herder. Nehmen wir ein
Beispiel: in seinem Weltbild erscheint die Welt als vollendetster
Kosmos; die Erscheinung Gottes ist sie höchste Ordnung und Har-
monie; die gleichen Prädikate findet er auch für die uns umgebende
Natur. „Dysteleologien", die man ihm entgegenhält, läßt er nicht
gelten; schlimmstenfalls rettet ihn die Entgegnung: unser Menschen-
verstand sei zu engbegrenzt, um die höhere Absicht Gottes nach-
denken zu können.
So hilft ihm also hier die eine Denkmöglichkeit zu Naturgesetzen
zu gelangen, die Analogie; die Zahl der hiermit gefundenen Sätze
ist bei seiner vorherrschenden philosophisch-geschichtlichen Be-
trachtung die häufigere. Demgegenüber findet sich aber noch eine
ganze Reihe von Erörterungen, welche die allein zulässige Methode
zur Ergründung neuer Gesetzmäßigkeiten befolgen: die Induktion.
Bezeichnenderweise tritt sie vor allem da mit Deutlichkeit hervor,
wo Herder sich ein wenig in eine Fachwissenschaft vertieft und in
diesem begrenzten Teilgebiet arbeitet, Ursache dieser Behandlung
wird besonders der Umstand gewesen sein, daß mit der Aufnahme
des erstaunlich umfangreichen zusammengetragenen Stoffs auch die
Methode der Verarbeitung in sein Blut geflossen ist; ihm ist mit den
Begriffen, die andere induktiv gegründet haben, auch das Gesetz
eingegangen, das sie entwickelt und geformt hat. Zwar was uns Herder
über die Induktion selbst sagt, läßt begrifflich methodische Klarheit
vermissen; ihm fehlt die Einsicht in deren Bedeutung und Tragweite
für die empirischen Wissenschaften. Überhaupt verblaßt das Wort
Induktion bei ihm derart, daß man oft den Eindruck hat, er schreibe
es hin, um einen umständlicheren Ausdruck zu verkürzen. So sagt
er, nachdem er genauer von organischen Kräften gesprochen hat:
318 Richard Noll.
„Dürfen wir aus diesen Induktionen, die noch viel mehr ins Einzelne
geleitet werden könnten, einige Resultate sammeln". . . 25).
Und doch — nichts wäre törichter und schlimmer als die Be-
hauptung, Herder hätte keinen Sinn für Induktion gehabt, weil er
es uns nicht mit wünschenswerter Genauigkeit hinschreibt. Was
uns Herder nicht mit dem Verstände ausdrückt, das vermittelt uns
sein genialischer Instinkt, — man könnte -den Satz geradezu als
Formel aufstellen. Wer nur Worte in engster Wortbedeutung nimmt,
der findet bei Herder überraschend viel Dürftigkeit und Oberfläch-
lichkeit, er ahnt nichts von dem inwendig treibenden Gesetz, das alles
formt und schafft. Nicht nur den logisch gefaßten „Sinn" seiner
Worte müssen wir aufspüren, sondern auch die Beziehungen auf-
decken, die diese mit dem Menschen verknüpfen. Blicken wir aber
in das Triebwerk seiner Seele, so sehen wir noch andere Kräfte als
Analogie an der Arbeit: in fast gleicher Stärke wie diese die Induktion.
Früh keimte und entfaltete sich diese Kraft; sie äußerte sich zuerst
in einem Haß gegen jede Metaphysik und einer starken Zuneigung
zum Erfahrungswissen. Das heißt aber der Induktion das Wort
predigen; wohl mittelbar, denn nicht zwar sinnt er über den Weg,
wie wir die Erfahrung bilden, sondern er pflückt sie als fertige Frucht,
ohne zu fragen, wie sie entstanden. Er schilt alle sogenannte „reine
Philosophie", weil sie deduziere und sich dadurch ins traumhaft Un-
gewisse verlöre. „Alles sogenannte reine Denken in die Gottheit
hinein ist Trug und Spiel, die ärgste Schwärmerei, die sich nur selbst
nicht dafür erkenne. All unser Denken ist aus und durch Empfindung
entstanden, trägt auch trotz aller Destillation davon noch reiche
Spuren. Die sogenannten reinen Begriffe sind meistens reine Ziffern
und Zeros von der mathematischen Tafel, und haben, platt und plump
auf Naturdinge unsrer so zusammengesetzten Menschheit ange-
wandt, auch Ziffemwerth . . . Unsterblichkeit einer metaphysischen
Monas ist nichts, als metaphysische Unsterblichkeit, deren Physisches
mich nicht überzeuget . . . Wir wickeln in Worte ein, was wir her-
auswickeln wollen, setzen voraus, was kein Mensch erweisen kann,
oder auch nur begreift oder versteht, und kann sodann, was man
will, folgern" 26). Sein Kampf gegen die Metaphysik wurzelt schlechter-
25) a. a. 0. XIII, 91.
-6) a. a. 0. VIII, 233.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 310
dings in nichts anderm als dem Trieb, den Schlüssen von „oben herab",
aus der „Urzelle" den Garaus zu machen und durch Beweise der
breiten Empirie von „unten herauf" zu ersetzen. Liegt nicht selbst
in den „Analogien der Natur" ein induktiver Keim geschlossen?
Er will die „Wahrheiten der Religion" durch eine möglichst hohe Zahl
von beweiskräftigen Tatsachen der Erfahrung stützen; oder um die
Planmäßigkeit in der menschlichen Geschichte zu zeigen, untersucht
er die Völker und Völkchen aller Zeiten und Erdteile — nicht genug,
aus belebter und unbelebter Natur sammelt er Beispiele, die seine
These kräftigen sollen. Ein paar Sätze aus seiner Frühzeit bekunden,
wie weit er damals in der induktiven Zergliederung sogar von ab-
strakten Begriffen gegangen ist. „Alle Gesetze der Attraction sind
nichts als bemerkte Eigenschaften, die wir untereinander ordnen,
bis ein Hauptgrundsatz wird. Die Gesetze der Metaphysik sinds noch
sichtbarer. Alle Gesetze und Regeln, wornach Gott, die Welt, die
Seele würken soll, sind Bemerkungen, wie sie würkt oder würken
könne; es sind abgezogene Bemerkungen von Eigenschaften ihres
Wesens. Je mehr wir diese untereinander ordnen können, desto
weniger und einfacher werden die Gesetze, desto näher kommen wir
Einem Begriff, dem Hauptbegriff des Wesens" 27). Umgekehrt heißt
das: wir gelangen zu allgemeinen Begriffen dadurch, daß wir einzelne
Bemerkungen zusammenordnen und somit induktiv aufsteigen.
Immerhin ist es zweierlei — und das wollen wir nicht vergessen — :
methodische Prinzipien und psychologische Triebe. Unzweideutig
liegt es vor uns: allgemeine Begriffe werden durch analogisierte In-
duktionen gestützt und belebt. Seit wir den Begriff einer „induktiven
Metaphysik" geprägt haben, ist uns ein solches Verfahren, wie es
Herder anwandte, nicht mehr so unbegreiflich. Aber es ist doch
nicht das gleiche, aus der Erfahrung aufsteigend Begriffe immer
reiner und weiter zu fassen und schließlich metaphysisch zu postulieren,
oder — wie Herder — sich ein Gedankengerüst zurecht zu zimmern
und dann zu versuchen, wo es gerade angängig ist, an dieser oder
jener Ecke in der Erfahrung zu verankern. Es ist ja ungemein schwer,
in vielem ganz unmöglich zu sagen, dies stamme aus der Erfahrung
und jenes aus der Spekulation. Es scheint uns aber der Nachweis
zu genügen, daß Herder methodisch mehrdeutig vorgegangen ist
■J7
) a. a. O. IV, 4G5.
320 Richard Noll,
und in seiner Stellung geschwankt hat, je nachdem es ihm gerade
zufloß, um seine Art von Erfahrungsmetaphysik zu richten. Als
reiner Wissenschaftler würde er heute vielleicht mehr als je mit seiner
immerwährend starken Betonung sich auf das Nur-Erfahrungsgemäße
zu beschränken, ein zahlreiches Echo wecken. Denn alles, was über
das objektiv Nachprüfbare hinausgeht, muß aus ihrem Bereich gebannt
sein — es ist offene oder versteckte Metaphysik. Dieser Satz, den
Herder mit abgewandeltem Wortlaut wohl dutzendemal geschrieben
hat, wird aber nun sein eigenes Richtschwert. Denn prüfen wir,
wie oft Herder innerhalb der Grenzen der Naturwissenschaft gebheben
ist, wie unzähligemal oft er aber mit metaphysischen Flügeln aus ihr
enteilt ist, trotz des wahnvollen Glaubens, auf festgegründetem Boden
zu verharren, so schmerzt uns ein Bedauern über den nutzlosen Auf-
wand irregeleiteter Geisteskraft. Er verirrt sich in seiner Blindheit,
weil er nicht sah, wie ihn seine religiösen Vorstellungen, mit denen
er an die Wirklichkeit herantrat, von vornherein auf gänzlich un-
wissenschaftlichen Boden stellten; er war verblendet genug zu meinen,
daß die Gesetzmäßigkeiten, die er aufstellte, den Dingen selbst ureigen
wären. Die Realität seiner letzten und tiefsten Begriffe glaubte er
durch die Natur begründet und zugleich geoffenbart; er spürte nichts
von der Voreingenommenheit seiner „Beweise", die das zu Beweisende
schon als Voraussetzung hatten. An vielen Stellen lesen wir bei ihm,
daß er sich glücklich fühlt, einen nicht zu überbietenden Trumpf in
Händen zu halten, daß sein Weltbild eine Wirklichkeit zeichne, welches
die erfahrungsgemäße Nachprüfbarkeit nicht zu scheuen brauche.
Kant merkte diesen grundlegenden Irrtum und er stellte ihn klar
heraus in seiner Besprechung der „Ideen". „Was nun aber jenes un-
sichtbare Reich wirksamer und selbständiger Kräfte anlangt, so ist
es nicht wohl abzusehen, warum der Verfasser, nachdem er geglaubt
hat, aus den organischen Erzeugnissen auf dessen Existenz sicher
schließen zu können, nicht lieber das denkende Princip im Menschen
dahin unmittelbar, als bloß geistige Natur, übergehen ließ, ohne
solches durch das Bauwerk der Organisation aus dem Chaos heraus-
zuheben ; es müßte denn seyn, daß er diese geistigen Kräfte für ganz
etwas anderes als die menschliche Seele hielt, und diese nicht als
besondere Substanz, sondern bloß als Effect einer auf Materie ein-
wirkenden und sie belebenden unsichtbaren allgemeinen Natur an-
sähe, welche Meynung wir doch ihm beizulegen billig Bedenken tragen.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft 321
Allein was soll man überhaupt von der Hypothese unsichtbarer, die
Organisation bewirkender Kräfte, mithin von dem Anschlage, das,
was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man
noch weniger begreift, denken? Von jenem können wir doch wenigstens
die Gesetze durch Erfahrung kennen lernen, obgleich freylich die
Ursachen derselben unbekannt bleiben; von diesen ist uns sogar
alle Erfahrung genommen und, was kann der Philosoph nun hier
zur Rechtfertigung seines Vorgehens anführen, als die bloße Ver-
zweiflung den Aufschluß in irgend einer Kenntnis der Natur zu
finden und den abgedrungenen Entschluß, sie im fruchtbaren Felde
der Dichtungskraft zu finden. Auch ist dieses immer Metaphysik,
ja sogar sehr dogmatische, so sehr sie auch unser Schriftsteller, weil
es die Mode so will, von sich ablehnt"28). Herder sah sich durch diese
Kritik in den Grundfesten seines Denkens erschüttert, er wollte und
konnte nicht begreifen, daß all das, was er über die Natur gesagt
hatte, leere Worte waren. . . Metaphysik — gerade das, was er so sehr
haßte. Den Grad seiner Erregung kennzeichnen aufs deutlichste
die Briefe an seine Freunde über Kants Urteil: Gezeter und Schimpf-
worte wirbeln durcheinander. Zu einer eigentlichen Reform seiner
Gedanken vermochte er sich nicht zu entschließen: das hätte ja auch
von Grund auf neu zu bauen geheißen; nur in wenigen Fragen zeigte
sich Kants Einfluß: so findet er für das Recht teleologischer Be-
trachtungsweise eine neue klare Begründung. „Kein edleres Geschäft
kennt unser Geist, als in denen uns gegebenen Symbolen der Wirk-
lichkeit, der Ordnung zu folgen, die im Verstände des Ewigen war,
ist und sein wird. Das thut der Naturforscher, der von den sogenannten
Absichten des Teleologcn absieht, allen Trugschlüssen entgeht er,
indem er uns nicht zwar particulare Willensmeinungen aus der Kammer
des göttlichen Rats verkündigt, aber dafür die Beschaffenheit der
Dinge selbst untersucht. Er sucht und findet, indem er die Absichten
Gottes zu vergessen scheint, in jedem Punkt der Schöpfung den ganzen
Gott, d. h. in jedem Dinge eine ihm wesentliche Wahrheit, auf welcher
seine Existenz mit einer zwar bedingten, aber in ihrer Art ebenso
wesentliche Nothwendigkeit gegründet sieht, als auf welcher unbe-
dingt und ewig das Dasein Gottes ruht Z9)'\ Jedoch ist diese feine
28) Allgemeine Literaturzeitung, 1785, Nr. 4, 8. 21/22.
29) a. a. 0. XV.
Richard Noll,
Unterscheidung von mensch- und gottgewollter Zweckmäßigkeit der
Welt bei Herder nicht als die bloße Aufnahme eines kantischen Ge-
dankens zu verstehen: nur die schärfere Formulierung ist durch Kant
bedingt; inhaltlich folgt dieser unmittelbar auch seiner Weltanschau-
ung. Aber von hier aus begreift sich leichter die nicht hinwegzuleug-
nende Tatsache, daß Herder oftmals — wie früher methodisch neben
Analogie = auch Induktionsschlüsse zog — so auch hier die teleolo-
gische Betrachtung durch die rein kausale ersetzte. Es liegt ja im
Grunde bei ihm die enge Berührung, ja sogar Verschmelzung dieser
beiden an sich widersprechenden Methoden nahe: einmal ist der
Endzweck kein behebiger, von menschlichen Launen bestimmbarer,
sondern die Gottheit selber; dadurch wird die „schlechte" Teleologie
gleich beiseite geschoben, die aus der Natur für den Menschen Zwecke
aufstellt; andermal wird, da die Gottheit als vollkommenstes Wesen
höchste Vernunft ist, die strenge Gesetzmäßigkeit im ganzen Kosmos
behauptet. Damit ist unbedenklich die Möglichkeit rein kausaler
Forschung gegeben, deren Ergebnisse aber wiederum teleologisch
als Beweise für die Gottheit umgedeutet werden können. Ein deut-
liches Beispiel hierfür ist folgendes: „Und alle dies30) nicht etwa
nach der Willkür einer täglich geänderten unerklärlichen Fügung,
sondern nach offenbaren Naturgesetzen, die im Bau der Geschöpfe,
d. h. im Verhältnis aller der organischen Kräfte lagen, die sich auf
unserm Planeten beseelten und erhielten. Solange das Naturgesetz
dieses Baues und Verhältnisses dauert, wird auch seine Folge dauern:
harmonische Ordnung nämlich zwischen den belebten und unbelebten
Teilen unserer Schöpfung, die, wie das Innere der Erde zeigt, nur durch
den Untergang von Millionen bewirkt werden konnte" 3l). Es ist
das Gesetz, der Korrelation der Teile, das diesen Sätzen zugrunde
liegt — jedenfalls ein offenbares Zeugnis für den wissenschaftlichen
Spürsinn Herders. Dieses Gesetz, das die Abhängigkeit der einzelnen
Naturdinge voneinander behauptet, stellt zweifelsohne einen Gipfel
Herderschen kausalen Denkens dar. Mit kleinen Umdeutungen
wendet er es auf fast alle Gegebenheiten natürlichen und menschlichen
Daseins an; der ganze Kosmos ist ja ein System „abgewogener"
Kräfte, die belebte und unbelebte Natur steht in einem festen Ver-
30) Die harmonische Zuordnung der Geschöpfe.
31) a. a. O. XIV, 214/15.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 323
hältnis harmonischen Ausgleichs, Schönheit findet sich da, wo das
höchste Maß aufeinander abgestimmter Kräfte waltet — hier wie in
zahlreichen Einzelstellen deckt er das Gelten der Korrelation auf.
Seine Bedeutung für Herder liegt vor allem darin, daß wir erkennen,
wie nahe er auch oft methodisch der Wissenschaft gekommen ist.
Ein kleiner Schritt trennte ihn von der nur — kausalen Weltbetrach-
tung — er machte ihn manchesmal, aber seine vorgefaßte Metaphysik
zerrte ihn zurück: sie verdarb den reinen Wissenschaftler, und sich
selbst entzog sie die logische Grundlegung. Weil er die Grenze des
Transzendenten im Erlebnis zerbrach, und im Endlichen das Un-
endliche zu schauen wähnte, — dabei aber den Ort dieses Religiösen
ins Außerpersönliche, Objektive verlegte — , so entzog er sich den
Boden der Erfahrung, und beschwerte doch wieder mit ihr die Meta-
physik. Man könnte zwar einwenden, daß die Wissenschaft zu allen
Zeiten in ihren Grundbegriffen im Außerwissensehaftlichen, in der
Philosophie, wurzele, und daß darum ihr ganzes Gebäude auf mehr
oder minder transzendentem Grund ruhe. Dem ist jedoch zu er-
widern, daß diese Grundbegriffe als Grenzbegriffe zu fassen sind,
die der einen Seite, der Wissenschaft, als fraglose Größen gegeben
sind, während sie der andern, der Philosophie im höchsten Sinne
als Probleme erscheinen. Kein Wissenschaftler hat das Recht — ist
überhaupt imstande — auf Grund seiner Erfahrungen irgend etwas
über Raum, Zeit und Kausalität auszusagen. Das bleibt unveräußer-
liches Gut der Philosophie. Herders Einheitsstreben ging aber so
weit, daß er auch grundsätzlich Getrenntes zusammenzuknüpfen
suchte, und ihm dadurch das Bewußtsein entschwand, wo er eigent-
lich stehe, und wie weit er auf diesem Boden überhaupt gehen könne.
Ob er über Sonnenbewegung oder Tierseele, Erdrevolutionen oder
Unsterblichkeit des Menschen grübelt — in alles fügt sich sein nach-
giebiger Geist ohne Besinnen; seine weite Einfühlungsgabe läßt ihn
verständnisvolle Synthesen finden; aber vielen Schlüssen fehlt die
befriedigende Überzeugungskraft, weil wir nicht sehen, wie sie stetig
auf fest gegründeten Voraussetzungen emporwachsen. Wir schwanken
hin zwischen freudiger Zusage und kühler Ablehnung, weil seinen
Worten das Gesetz der unmittelbaren Notwendigkeit für ihre Wahr-
haftigkeit fehlt. „Und das Gesetz nur macht uns frei."
324 Richard Noll,
Die Lösung des andern Teils unserer Aufgabe, Herders Stellung
zum Entwicklungsgedanken, kann nichts mehr sein als eine Schluß-
folge aus dem schon Gesagten. Herders Naturbetrachtung im all-
gemeinen haben wir kennen gelernt als eine Mischung von Metaphysik
und Erfahrung. Entwicklung — als das umfassendste Gesetz der
Natur wurzelt auch darum in der Spekulation und wird dann empirisch
gefestigt. In seinem Weltbild ist eine Entwicklung schon vorgezeichnet:
wie oben dargelegt war, besteht sie in der stufenförmigen Empor-
läuterung des Reizes zur selbstbewußten Vernunft. Auf dem Wege,
diesen an sich spekulativen Satz empirisch-psychologisch zu be-
gründen, kommt er auch zur Naturwissenschaft, indem er die einzelnen
Stufen der Ausbildung, die ihm introspektiv gegeben sind, in der
belebten Natur aufweist. Im Grunde ist die Triebfeder zum Verfolg
seines Entwicklungsgedankens ein ganz unnaturwissenschaf tücher :
„. . . es wird ein Stufengang sichtbar vom Menschen, der zunächst ans
Thier gränzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde. Wir dürfen
uns auch hierüber nicht wundern, da wir die große Gradation der
Thiere unter uns sehen, und welch einen langen Weg die Natur nehmen
mußte, um die kleine aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit
in uns organisierend vorzubereiten" 32). Um nun der Richtigkeit
der Herleitung dieser „vorbereitenden Organisierungen" möglichst
sicher zu sein, treibt ihn sein induktives Bedürfnis dazu, die breiteste
Tatsächlichkeit um Rat zu fragen. So durchläuft er die ganze un-
belebte und belebte Natur und ordnet ihre Erscheinungen in eine
stufenförmige Folge — einmal schon vorgefundene Gesetzmäßigkeiten
in seiner Absicht umdeutend, andermal solche zwischen den Stoff hin-
eindeutend. Eine solche Art ist ja nun gerade bei der Durchführung
einer Entwicklung methodisch nicht so ohne weiteres zu beanstanden,
da doch auch die Naturwissenschaft von heute wissen muß, daß sie
eine Abstammung voneinander nie „beweisen" kann, daß vielmehr alle
Erfahrung nur imstande ist, eine größere Wahrscheinlichkeit für
dieselbe darzutun; ja daß alle Schlüsse, die aus Vererbungs- und
Variationsversuchen gezogen werden, nur den Wert eines Analogie-
schlusses besitzen, der von äußeren engumgrenzten Geschehnissen auf
innere Wandlungen übertragen wird. Denn wir müssen uns dessen
bewußt bleiben — und die Naturwissenschaft fehlt darin manchmal
32
) a. a. 0. XIII, 147.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 325
— daß all unser Erfahrungswissen doch nur die eine Seite der Welt
begreift, die nämlich, die wir sehen und tasten. Nur die Außenschale
des Naturgeschöpfs ergründen wir, zerspalten sie in ungezählte Teile
und lassen jeder Wissenschaft den ihren, damit sie das ihr zugemessene
Stück nach Bildung und Gesetz erforsche. Grenze unseres Wissens
setzt uns das Ding selber; denn bei jeglichem kommen wir an eine
Stelle, an der wir ein gewisses Ende fühlen, und wir uns rückwärts-
schauend vergegenwärtigen, daß wir die Versuchsmöglichkeiten an
ihm erschöpft, daß wir es von allen Seiten beleuchtet und durchdrungen
hätten. Und doch bleibt uns noch ein übriges: wir haben das Ding
vor unsern Augen klar zerlegt und bis ins einzelne die Mannigfaltigkeit
seiner Bedingungen aufgespürt — und doch sehen wir, daß der letzte
Grund seines Daseins uns verborgen bleibt. Die tiefe Frage des Kinder-
munds nach dem Woher und Warum drängt sich hier in gleicher
Weise dem entwickeisten Geiste wieder auf. Aber jede Antwort wird hier
eigenstes Bekenntnis, die Grenze nachprüfbarer Richtigkeit ist über-
schritten, und die Zone objektiver Sicherheit verlassen: wir sind im
Unendlichkeitsreiche der Metaphysik. Metaphysisch seinem Wesen
nach ist aber auch der Entwicklungsgedanke der empirischsten
modernen Naturwissenschaft. Denn durch keine Beobachtung ist
uns unmittelbar die Sicherheit geboten, daß die Beziehung, die wir
zwischen den verschiedenen Wesen behaupten, auch wirklich so
sein müsse oder nicht anders sein könne ; vielmehr sehen wir, daß die
nach einem einheitlich geordneten Zusammenschluß drängende Wissen-
schaft bemüht ist — wie sie es auch nie anders getan hat — alle Er-
scheinungen dem einen großen Zeitgesetze anzugleichen, das da grade
herrscht. Seit einem halben Jahrhundert stehen nun fast alle Wissen-
schaften unter dem leitenden Einfluß des Entwicklungsgedankens,
und jede bemüht sich auf ihre Weise seine Geltung in ihrem Bereiche
darzutun. Wir sehen einfach jede Erscheinung entwieklungsgemäß,
forden] vor allem die Gesetze ihres Werdens zu erarbeiten, und diese
Betrachtungsweise ist uns so sehr ins Blut geflossen, daß wir zunächsl
nicht fassen wollen, es könnten auch noch andere Blickinögiichkcitcn
vorhanden sein. Den Geistern, mit denen Herder in Beziehung stand,
war wohl auch der Entwicklungsgedanke nicht fremd, aber lediglich
in seiner ursprünglichen Bedeutung: der nur metaphysischen. Und
wo er in das Erfahrungsgemäße hinübergespiell wurde, verflüchtigte
er sich in phantastische Spielereien. Uns soll sich in folgendem zeigen,
326 Richard N o 1 1 ,
wie Herder sich zu der Entwicklungslehre, welche die Wissenschaft
seit den letztvergangenen Jahrzehnten gefaßt hat, stellt; denn einige
seiner Ausleger bezeichnen ihn als wesentlichen Vorläufer dieser Lehre.
Hat sich Herder zu ihr bekannt, so muß er auch wenigstens in den
wichtigsten Fragen mit ihr übereinstimmen. Als wesentlich für unsere
Vorstellung der Entwicklungslehre betrachten wir einmal die ver-
wandtschaftliche Abhängigkeit der einzelnen Pflanzen- oder Tier-
gruppen, ferner die u n u n t e r b r o c h e n e Fortbildung der Arten 33).
Je nach der Beantwortung dieser Fragen ergibt sich seine Stellung zur
Entwicklungslehre überhaupt. Wie oben gesagt war, bestand Herders
Aufgabe „die aufsteigende Empfindungskette" in der Natur zu er-
weisen. So lange dieser Gedanke bei ihm noch den Bezug zur Meta-
physik hat, ist bei jenem „Aufsteigen" noch nichts von einer zeitlich
und genetisch zusammenhängenden Abfolge zu merken; er ist rein
dynamisch gemeint. Der menschliche Verstand, der „den Gang
Gottes in der Natur nachdenkt", erkennt jenen dem Weltprozesse
immanenten Stufenbau des Reizes, Triebes, Empfindung, Gedanken,
deren Einzelglieder nicht eine Verschiedenwertigkeit besitzen, sondern
die im Wesen gleich, nur eine verschieden geartete Ausbildung dar-
stellen. Denn die Kraft wandelt sich nur, entwickelt sich, verändert
sich aber nicht, „Alles bleibt in der Natur, was es ist: meine mensch-
liche Substanz wird wieder ein menschliches Phänomenon, oder,
wenn wir Platonisch reden wollen, meine Seele baut sich wieder einen
Körper. Der Beweis, daß fortgehende Entwicklung unsere Be-
stimmung sei, beweist nichts dawider; denn jede Kraft entwickelt
sich nur bis zu einer bestimmten Stufe, macht dann einer andern
Platz ... Ich sehe bei keinem Geschöpf und Menschen ein Auf-
steigen: ich sehe ein Wechseln, einen Kreislauf, der sich verzehrt,
der in sich selbst zurückfließt . . . Entwicklung ist lediglich Veränderung
des Formellen, Akzidentellen, einzig auf diesen bestimmten Zustand
bezogen; dieser bestimmte Zustand hinweggenommen, bleibt nichts
als das Substantielle, das pure Wesen unserer Seele" 34). Diese durch-
aus klar gedachte dynamische Entfaltung der Leibnizisch gefärbten
Monade wird nun mehr und mehr getrübt als Herder in das Gebiet
33) Daß gerade diese beiden Kriterien zum Entscheid gewählt sind, hängt
vor allem von Herder selbst ab: hierüber hat er sich weitläufiger geäußert,
so daß er da eher eindeutig zu fassen ist.
:t4) Brief an Mendelssohn, aus Haym a. a. O. I, 296.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 327
der Naturwissenschaften hineingerät. Da gibt es Aussagen, bei denen
man sich mit unbehaglichem Zweifel fragt, ob die Entwicklung als
kontinuierliche Fortbildung oder als eine Reihe getrennter Schöpfungs-
akte zu denken sei; da stoßen sich in der Tat die Sätze einander
hart: solche, die das eine bestärken, andere deren Gegenteil. Nur
durch eine umsichtige Zusammenstellung aller Einzelbehauptungen
vermag man zu einem annehmbaren Endergebnis vorzudringen,
indem man dort den Sinn des weiteren Abschnitts erkundet, dort
wieder die Gründe aufzuzeigen sucht, die den Verfasser zur Gegen-
meinung verleitet haben. Den bisherigen naturwissenschaftlichen
Auslegern erschien es so, als sei die Entwicklung einwandfrei als
lückenloses Aufwärtsstreben zu verstehen, wreil Herder an vielen
Stellen davon spricht, daß die unbewohnte Erde vor den Pflanzen,
diese vor den Tieren, diese wiederum vor dem Menschen dagewesen
seien. Das deckt sich mit den modernsten Anschauungen, weil jedes
folgende Glied Teile des voraufgehenden in sich begreift und bruchlos
sich aus ihnen folgert. Die einzelnen Geschöpfe scheinen sich in Fäden
einzureihen, die in ihrer Gesamtheit einen ununterbrochenen Ver-
wandtschaftszyklus darstellen; die einzelne Art ist nicht ein in sich
abgeschlossenes Ganze, sondern als gewordene verknüpfen sie bestimmte
Eigentümlichkeiten mit dieser oder jener andern Art, Diese Labilität,
welche die moderne Entwicklungslehre behauptet und auch voraus-
setzen muß, wehrt aber Herder nachdrücklichst von sich ab. „Warum
z. B. sonderte die schaffende Mutter Gattungen ab? Zu keinem andern
Zweck, als daß sie den Typus ihrer Bildung desto vollkommener
machen und erhalten könne. Wir wissen nicht, wie manche unserer
jetzigen Tiergattungen in einem früheren Zustande der Erde näher
aneinander gegangen sein mögen; aber das sehen wir, ihre Grenzen
sind jetzt genetisch geschieden" :J5). „Kein Geschöpf, das wir kennen,
ist aus seiner ursprünglichen Organisation gegangen und hat sich
ihr zuwider eine andere bereitet; da es ja nur mit den Kräften wirkte,
die in seiner Organisation lagen, und die Natur Wege gnug wußte,
ein jedes der Lebendigen auf dem Standpunkt vestzuhalten, den
sie ihm anwies"" 36). Wie kann aber Herder gegenüber diesen Worten
die wirklich einen Zweifel an der Stetigkeit der Art nicht zulassen,
:ir') a. a. 0. XIII, 282.
3«) a. a. ü. XIII, 114.
328 Richard Noll,
Sätze wie die folgenden schreiben: „Überhaupt ist in der Natur nichts
geschieden, alles fließt durch unmerkliche Übergänge auf- und in-
einander; und gewiß, was Leben in der Schöpfung ist, ist in allen
Gestalten, Formen und Kanälen nur Ein Geist, eine Flamme" 37).
Oder solche, die das Problem viel gründlicher anrühren: „Es erhellet
also von selbst, daß, da diese Hauptform nach Geschlechtern, Arten,
Bestimmungen, Elementen immer variirt werden mußte, Ein Exem-
plar das andere erkläre. Was die Natur bei diesem Geschöpf als Neben-
werk hinwarf, führte sie bei dem andern gleichsam als Hauptwerk
aus: sie setzte es ins Licht, vergrößerte es, ließ die andern Theile, ob-
wohl immer noch in der überdachtesten Harmonie, diesem Teile jetzt
dienen... Wer studieren will, muß Eins im Andern studiren; wo
dieser Theil verhüllt und vernachlässigt erscheinet, weiset er auf ein
andres Geschöpf, wo ihn die Natur ausgebildet und offen darlegte" 38).
Wenn „Ein Exemplar das andere erklären soll", dann scheint das
keine andere Deutung zuzulassen, als diese, daß da, wo eine beliebige
Summe von Eigenarten in verschiedener Weise auf eine Anzahl von
Individuen verteilt ist, diese durch den Besitz eines dieser die ver-
wandtschaftliche Beziehung zueinander bekunden. Es ist die Methode
der Vergleichung, mit der wir besonders seit Darwin all unsere Er-
kenntnisse erarbeitet haben. Aber trotzdem dürfen wir Herder nicht
eine Wandelbarkeit der Art unterschieben; das Widersprechende der
Behauptung löst sich gleich, wenn wir einen der wichtigsten Leitsätze
seiner Naturerkenntnis ins rechte Licht gerückt haben. Aus seiner
Weltanschauung kennen wir den Satz, daß die „Eine Gotteskraft" das
Universum durchflutet; sie lebt in jedem Ding und macht sein Wesen
aus. Dieser geistige Urgrund ist zugleich das formgebende Prinzip
in der Welt: die „Eine Kraft" wird darum zugleich „Eine Haupt-
form", die der Erscheinung zugrunde liegt; jedes Geschöpf ist nur
eine durch die Umstände zufällig gefügte Abwandlungsform, in der
sich die „Eine Hauptform" offenbart, Dieser Satz gewinnt nun hier
seine volle Tragweite. „Eine Form verändert sich in allen irdischen
Wesen. Wo Bildung anfängt, von der Schneeflocke und dem Krystall
an, durch alle Gebilde und Pflanzen hinauf, scheint nur ein und der-
selbe Prototyp vorzuliegen" 39). „Nun ist unläugbar, daß bei aller
37) a. a. O. VIII, 178.
38) a. a. O. XIII, 67.
39
) a. a. O. XIV, 693.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 329
Verschiedenheit der lebendigen Erdwesen überall eine gewisse Ein-
förmigkeit des Baues und gleichsam Eine Hauptform zu herrschen
scheine, die in der reichsten Verschiedenheit wechselt" 40). Die Ver-
wandtschaft der Lebewesen, die wir heute empirisch-naturwissen-
schaftlich behaupten, ist für Herder nur eine metaphysische Ge-
bundenheit, ein Zusammenschließen aller Einzelleben in dem Alleben
der göttlich gedachten Substanz. Zwei Faktoren bestimmen also
die Ausbildung jedes Naturwesens — dadurch, daß sie in ihm zur
harmonischen Ausgeglichenheit kommen — : innere Formgebung
und äußere Bedingtheiten. Die Hauptform, das Typische wird ge-
wahrt, indem die Natur von innen nach außen schafft. „Im Innern
liegt der Grund des Äußern, weil durch organische Kräfte alles von
innen heraus gebildet ward und jedes Geschöpf eine so ganze Form
der Natur ist, als ob sie nichts anders geschaffen hätte" 41). Zu diesem
tritt verändernd aber noch eine Gruppe von äußeren Ursachen, die
Herder als „Klima" zusammenfaßt: „Das Klima ist ein Chaos von
Ursachen, die einander sehr ungleich, also auch langsam und ver-
schiedenartig wirken, bis sie etwa zuletzt in das Innere eindringen
und dieses durch Gewohnheit und Genesis selbst ändern; die lebendige
Kraft widersteht lange, stark, einartig und nur ihr selbst gleich;
da sie indessen doch nicht unabhängig von äußern Leidenschaften
ist, so muß sie sich ihnen mit der Zeit bequemen" 42). Nun wissen
wir auch ohne Fehl, was es heißt, „Ein Exemplar erkläre das andere":
nicht Blutsverwandtschaft, sondern Seinseinheit ist hier Voraus-
setzung. Im Innersten hängen alle zusammen, und nur das Hinzu-
tretende, „Accidentelle" wandelt sich. Den Grad der Abwandlungen
bestimmt das Maß der Einflüsse, er ist darum bei jedem einzelnen
verschieden; und durch die vergleichende Zusammenstellung vieler
vermögen wir sehr wohl die Breite der Abweichung ermessen, wobei
uns der Grad der Ähnlichkeit Leitfaden bei der Untersuchung sein
kann. Daß in der Tat Herder nicht eine Blutsverwandtschaft der
Lebewesen gekannt hat, ergeht aus einer mittelbaren aber nicht weniger
beweiskräftigen Tatsache hervor. Kant hatte in seiner Besprechung
der „Ideen" die Vorstellung einer Verwandtschaft als unvollziehbar
4Ü) a. a. ü. XIII, 66.
41) a. a. O. XIII, 129.
4i) a. a. O. XIII, 284.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 8. ■_>•>
330 Richard N oll,
bezeichnet: „Was indessen die Stufenleiter der Organisationen betrifft,
so darf man es üim nicht so sehr zum Vorwurf anrechnen, wenn sie
zu seiner weit über diese Welt hinausreichenden Absicht nicht hat
zulangen wollen; denn ihr Gebrauch in Ansehung der Naturreiche
hier auf Erden führt ebensowohl auf nichts. Die Kleinheit der Unter-
schiede, wenn man die Gattungen, ihrer Ähnlichkeit nach aneinander
paßt, ist, bey so großer Mannigfaltigkeit eine nothwendige Folge eben
dieser Mannigfaltigkeit. Nur eine Verwandtschaft unter ihnen,
da entweder eine Gattung aus der andern, und alle aus einer einzigen
Originalgattung oder etwa aus einem einzigen erzeugenden Mutter-
schoße entsprungen wäre, würde auf Ideen führen, die aber so un-
geheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt, dergleichen
man unserm Verfasser, ohne ungerecht zu seyn, nicht beymessen
darf." Hätte aber Herder wirklich an eine Verwandtschaft gedacht,
so wäre ihm dieser starke und ironische Hinweis Grund genug gewesen,
mit Kant darüber zu polemisieren; dann müßten sich in den nach-
folgenden Briefen und Schriften Stellen finden, die mit aller Deut-
lichkeit die Gegenmeinung entwickelten. Stattdessen lesen wir nur
vage Andeutungen und hören nichts von scharfumrisseren Beweisen.
So ist Herder in dieser Frage nicht als Deszendenztheoretiker
hinzustellen; es bleibt noch die zweite nach der ununterbrochenen
zeitlichen Entwicklung. Die Stellung zu diesem Problem muß selbst
dem flüchtiger Blickenden kaum fragwürdig erscheinen; denn Herder
spricht an nicht wenig Stellen von „Revolutionen", die gewaltsam
hereinbrechen, und die eine stetige Weiterbildung der Arten zunichte
machen. „Vielmehr ist alles, was sie 43) redet, dafür, daß unsere
Erde aus ihrem Chaos von Materien und Kräften unter der belebenden
Wärme des schaffenden Geistes sich zu einem eignen und ursprüng-
lichen Ganzen durch eine Reihe zubereitender Revolutionen gebildet
habe" 44). „Unsre Erde ist vielerley Revolutionen durchgegangen,
bis sie das, was sie jetzt ist, worden . . . Das Wasser hat überschwemmt,
und Erdlagen, Berge, Thäler gebildet: das Feuer hat gewütet, Erd-
rinden zersprengt, Berge emporgehoben und die geschmolzenen Ein-
geweide des Innern hervorgeschüttet: die Luft, in der Erde einge-
schlossen, hat Höhlen gewölbt und den Ausbruch jener mächtigen
43) sie = Erdgeschichte.
J1) a. a. (). XIII, 98/99.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. 331
Elemente befördert: Winde haben auf ihrer Oberfläche getobt und
eine noch mächtigere Ursache hat sogar ihre Zonen verändert . . .
Viele dieser Revolutionen gehen eine schon gebildete Erde an und
können also vielleicht als zufällig betrachtet werden, andre scheinen
der Erde wesentlich zu seyn und haben sie ursprünglich gebildet" 45).
„. . . da sollte die gebährende, die in ihrer jungfräulichen Jugend an
Samen aller Wesen und Gestalten so reiche Mutter, die wie der Bau
der Erde zeigt, Millionen lebendiger Geschöpfe in einer Revolution
aufopfern konnte . . . ihr wildes Labyrinth voll Leben . . . vollendet
haben?"46)
Bei der Annahme so vernichtender Katastrophen mag wohl
Herder mehrfach der Zweifel geplagt haben, wie sich denn dies mit
der göttlichen Weltharmonie zusammenreime; auch über dies hilft
ihm sein weltanschaulicher Optimismus hinweg: „Wenn Feuer und
Wasser, Luft und Wind, die unsere Erde bewohnbar und fruchtbar
gemacht haben, in ihrem Laufe fortgehen und sie zerstören . . . was
geschähe anders, als was nach ewigen Gesetzen der Weisheit und
Ordnung geschehen müßte" 47). So sind ihm die Revolutionen nicht
etwa bedeutungslose Zufälligkeiten wie in der Erdgeschichte die
Sternschnuppen am Himmel, sondern notwendige Begebenheiten
in dem Fortbildungsgange der Natur. Weil die „Art" aus ihren ein-
geborenen Grenzen nicht herausdrängen kann, so müssen ungezählte
Geschöpfe umkommen durch gewaltsamen Tod, damit die schaffende
Natur wieder Stoff und freie Kräfte zur Bildung bekommt, die sie
„emporläutern" kann. Nur diesen Gebärzeiten entstammen die
Keime zu neugearteten Lebewesen. Was da nicht angelegt ist, das
bringt später keine noch so lange „Entwicklung" zum Aufsprossen.
„Noch jetzt scheinet die Sonne, wie sie im Anfang der Schöpfung
schien; sie erweckt und organisiert aber keine neuen Geschlechter:
denn auch aus der Fäulnis würde die Wärme nicht das kleinste Leben-
dige entwickeln, wenn die Kraft seiner Schöpfung nicht schon zum
nächsten Übergange daselbst bereit läge" 48). „Die rege Wärme.
mit der der brütende Geist über den Wassern der Schöpfung schwebte
und die sich schon in den unterirdischen frühen] Gebilden, ja in ihnen
■•••) a. a. 0. XIII, 21.
4«) a. a. O. XIII, 400.
47) a. a. O. XIII, 24.
,s) a. a. O. XIII, 423.
332 Richard Noll,
mit einer Fülle und Kraft offenbart, mit der jetzt weder Meer noch
Erde etwas hervorzubringen vermögen, diese Urwärme der Schöpfung
sage ich, ohne welche damals sich so wenig etwas organisiren konnte,
als sich jetzt ohne genetische Wärme etwas organisiret, sie hatte
sich allen Ausgeburten, die wirklich wurden, mitgetheilt und ist noch
jetzt die Triebfeder ihres Wesens ... Da nun die Masse, die der Aus-
bildung unsrer Erde bestimmt war, ihre Zahl, ihr Maß, ihr Gewicht
hatte: so mußte auch die innere, sie durchwirkende Triebfeder ihren
Kreis finden. Die ganze Schöpfung lebt jetzt voneinander: das Rad
der Geschöpfe läuft umher, ohne daß es hinzutue: es zerstört und
bauet in den genetischen Schranken, in die es der erste schaffende
Zeitraum gesetzt hat . . . Daß nun aber ein solches Kunstwerk nicht
ewig bestehen könne, daß der Kreislauf, der einen Anfang gehabt
hat, noth wendig auch ein Ende haben müsse, ist Natur der Sache.
Die schöne Schöpfung arbeitet sich zum Chaos, wie sie aus einem
Chaos sich herausarbeitete: ihre Formen nützen sich ab: jeder Organis-
mus verfeint sich und ah . Auch der große Organismus der Erde
muß also sein Grab finden, aus dem er, wenn seine Zeit kommt, zu
einer neuen Gestalt emporsteigt" 49). So ist alle Schöpfung auf der
Welt in ewigem Kreislauf begriffen: Keim, Entfaltung, Blüte, Tod
umschließt den Ring des Einzeldaseins, von Generationen, ganzer
Völker, ja der Erde selbst. Dieser in sich geschlossene Ablauf tritt
nun als Glied in eine Kette höherer Zusammenordnung ein, der
immanenten Zielstrebigkeit, die ihr Ende in der Allgottheit selber
findet. Das Weltgeschehen stellt sich dar als ein stetes Hinaufstreben
zu Gott, das sich stufenweise manifestiert in den abgeschlossenen
Kräftezyklen der Individualgemeinschaften. Nicht das langsame
Hinübergleiten einer Fo^m zur andern — höheren — macht für Herder
das Wesen der Entwicklung aus, sondern gerade die Zerspaltung des
ganzen Ablaufs in eine unbestimmte Reihe von Schöpfungsakten.
Was die nachfolgende Wissenschaft — namentlich unter dem Voran-
tritt Cuviers — auf ihren Schild erhob, die Katastrophentheorie,
findet in Herder einen wankellosen Vorkämpfer. Uns aber, die wir
derartige Gewaltsamkeiten ins Märchenland gewiesen haben, kann
darum Herder nicht mehr als Vorkämpfer eines Entwicklungsgedan-
kens hingestellt werden, dessen eine Denkmöglichkeit in der Un-
is
) a. a. 0. XIII, 426.
Herder« Verhältnis zur Naturwissenschaft. .'i.'i.'J
Zerrissenheit des Bildimgsprozesses begründet liegt. Mit diesem
Gedanken hat er Lamarck und Darwin weder vorgedacht noch vor-
gearbeitet.
Obwohl die eigentliche Aufgabe erledigt ist, möge hier noch eine
kurze Auseinandersetzung mit den bisherigen Auslegern beigefügt
sein, die mehr der Abrundung der Arbeit als der Möglichkeit weiterer
Feststellungen über Herder dient. Was er seinen Zeitgenossen an
neuen Aufgaben gestellt und an Anregungen gegeben hat, müssen
wir hier übergehen. Der aufmerksame Leser findet Spuren Herder-
scher Gedanken allenthalben bei den Großen und Kleinen der nach-
folgenden Generation. Sie waren nicht seine Ausleger und Erläuterer
— und diesen allein gilt unsere Aufmerksamkeit.
Den ersten Versuch, Herders Bedeutung für die Entwicklungs-
lehre darzutun, unternimmt Bären b ach in seiner Schrift: „Herder
als Vorgänger Darwins und der modernen Naturphilosophie." 1877.
Die Jahreszahl ist bedeutsam: es ist die Zeit, da unter Haeckels Führung
die Darwinschen Gedanken ihren Siegeslauf antreten; die breite
Öffentlichkeit ist durch sie in Erregung versetzt. Unser Verfasser,
ein in der Naturwissenschaft kundiger Laie (er selbst sagt, er habe
mit Freude Darwin und Haeckel studiert) ist ein begeisterter Ver-
fechter der neuen Lehre; so ist es begreiflich, daß er Herder als über-
zeugten Darwinisten sieht. Er glaubt den Beweis zu erbringen,
indem er einen grundlegenden Gedanken Darwins auch bei Herder
aufweist : die Bedeutung des Kampfes ums Dasein. Wir lesen nämlich
manche Sätze in den „Ideen", die einen darwinistischen Klang haben.
„Verließe Sie 50) ein Geschöpf, wer sollte sich sein annehmen? da die
ganze Schöpfung in einem Kriege ist und die entgegengesetztesten
Kräfte einander so naheliegen. Der gottgleiche Mensch wird hier von
Schlangen, dort von Ungeziefer verfolgt; hier vom Tiger, dort vom
Haifisch verschlungen. Alles ist im Streit gegeneinander, weil alles
selbst bedrängt ist; es muß sich seiner Haut wehren, für sein Leben
sorgen. Warum tat die Natur dies? Warum drängte sie so die Ge-
schöpfe aufeinander? Weil sie im kleinsten Kaum die größestc und
vielfachste Anzahl dw Lebenden schaffen wollte, wo also auch eins
das andere überwältigt und mir durch das Gleichgewicht der Kräfte
Friede wird in der Schöpfung. Jede Gattung sorgt für sich, als ob
so
) sie = Nal ii r.
334 Richard Noll,
sie die Einige wäre; ihr zur Seite steht aber eine andere da, die sie
einschränkt und nur in diesem Verhältnis entgegengesetzter Arten
fand die Schöpfung das Mittel zur Erhaltung des Ganzen" 51). Solche
Worte (deren ähnliche sich genugsam zusammenstehen lassen) ver-
führen unseren Verfasser, Herder als Darwinisten zu begrüßen. Nichts
ist verfehlter als das; der Sinn ist bei beiden ein gänzlich verschiedener:
das Wesentliche bei Darwin ist die Tilgung des Schwachen und die
Erhaltung des Stärkeren und deren artbildende Bedeutung. Herder
ist aber der gegenseitige Kampf nichts mehr als Voraussetzung zur
Harmonie der Natur durch das „Maximum" des Kräfteausgieichs.
— Es würde zu weit führen, das an Irrtümern nicht arme Schriftchen
im einzelnen zu besprechen: es genügt zu sagen, daß es Bärenbach
an der fachnaturwissenschaftlichen Schulung gebricht, und ferner,
daß ihn sein Eifer, für Darwin ein Zeugnis abzulegen, ihm für jede
Sachkritik die Augen trübt. So kommt es, daß er trotz „jahrelangen
redlichen Studiums" kaum einen scharftreffenden Satz über Herder
aussagt. Ihm bleibt nur das Verdienst, als erster auf ihn hingewiesen
zu haben. Philosophischerseits wurde die Bärenbachsche Schrift
von L. Weis beurteilt 52). Er weist vor allem auf den grundsätzlichen
Gegensatz von Herders und Darwins Weltbild hin, das er mit Recht
als idealistisch und realistisch gegenüberstellt; wahrend ferner Herder
die Natur Einheit und Kosmos ist, denkt sie Darwin als die Summe
der chemisch-physikalischen Kräfte, deren zufälliges Zusammentreffen
den Naturprozeß bestimmt. Weis trifft auch ganz das Rechte in
der Beurteilung des Herderschen „Kampfes ums Dasein": „Von
diesem eigentlichen Darwinismus war Herder kein Vorgänger. Er
spricht zwar oft, wie die idealistische Philosophie überhaupt, von einem
Streite aller einzelnen, weil jeder seiner Haut sich wehren, für sein
Dasein sorgen muß, aber dies ist nicht der Kampf ums Dasein . . .,
denn dort gilt der Streit nur der Selbsterhaltung, hier aber der fort-
schreitenden Verbesserung."
Die nächste Arbeit, nun einmal von einem Fachnaturwissen-
schaftler, liegt einige Jahrzehnte weiter. Der Rausch, der von Darwin
ausgegangen war, hatte sich verflogen, und die Gegenseite erhob
51) a. a. O. XIII, 60.
52) in: Philosoph. Monatshefte 1878, 14. Band: „Herder und die moderne
Naturphilosophie."
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. .'S.'l.j
laut ihre Stimme. Es waren die Jahre des überraschend allseitigen
Vordringens des Neo-Lamarckismus. Man erkannte die Schwächen
und ungelösten Fragwürdigkeiten Darwins; aus den Schwierigkeiten
wurden Unmöglichkeiten, aus der Ablehnung von Einzeltatsachen
die Verneinung der ganzen Lehre. Von diesen einer ist Götz, der
Verfasser eines Aufsatzes über Herder: „War Herder ein Vorgänger
Darwins?"53) Auch er geht von Bärenbach aus, dessen Widerlegung
ihm wenig Schwierigkeiten macht; im übrigen bespricht er sehr viele
Einzelheiten, die hier unerörtert bleiben können. Der Arbeit ist
unbedenklich zuzugeben, daß sie mit guter Kenntnis Herders ge-
schrieben ist; wo der Verfasser irrt, sind es teils Mißverständnisse,
die aus Herders schmiegsamer Ausdrucksart herzuleiten sind, teils
der nicht hinwegzuleugnende Einfluß seiner lamarekistischen Natur-
auffassung. Es ist nun ohne weiteres klar, daß Herder der Lehre
Lamarcks ungleich näher steht, als der Darwins; schon allein die An-
wendung teleologischer Beweisführungen stellt ihn zu den ersteren,
nicht weniger auch die Tatsache, daß er oft von Bedürfnissen spricht,
deren Befriedigung bestimmte Formen schafft, überhaupt seine Art,
Tieren, Pflanzen, ja dem Kristall Trieb und Wille beizulegen, schließlich
in allem ein Geistiges aufzuspüren, eine Seele, deren forschungs-
methodische Ausrottung gerade das Hauptverdienst Darwins bleiben
wird. Durch die klare Betonung von allem diesen kommt die Dar-
stellung Götzes der Eigenart Herders recht nahe, obwohl ihm die
Grundfrage noch nicht aufgegangen ist, ob denn der Philosoph Herder
ohne weiteres naturwissenschaftlich zu betrachten sei.
Auf gleicher Linie liegt noch eine Arbeit von dem Botaniker
Hansen54); er schrieb sie als Nebenleistung seines Goethewerks.
Man merkt, er kennt die damalige Philosophie und Wissenschaft —
er selbst sieht in einer Zeit, da der hitzige Kampf zwischen Darwin
und Lamarck zu einem vorläufigen Stillstand gekommen ist, so daß
er nicht wie jene von dem geheimen Wunsche geleitet ist, irgend einer
Lehre Vorspann zu leisten. So liegt der Fortschritt gegenüber den
früheren Untersuchungen vor allem darin, daß er Herders Stellung
zur Naturwissenschaft richtiger darstellt. Er ist der erste, der ihn
:,:|) in: Viertcljiiln-sscliril'l für Wissenseli. PJiilos. um\ Soziologie, 26. Jhrg.
L902, 4. Heft.
33G Richard Noll,
mehr von der außernaturwissenschaftlichen Seite her zu fassen sucht;
er ist sich des philosophischen Grundzuges der „Ideen" bewußt und
sieht von hier aus Herders eigenartige Stellung zur Naturwissenschaft ;
auch spürt er die mangelnde Methodik bei ihm. Wenn Hansen zwar
meint, die nachfolgende Wissenschaft habe Herder Kant gegenüber
Recht gegeben, der jenes „Reich unsichtbarer Kräfte" aus der Wissen-
schaft als unfruchtbar entfernt wissen wollte, so irrt er unseres Er-
achtens. Die Kräfte, mit denen wir arbeiten, sind sehr reale Größen
und haben mit denen Herders nur den Namen gemein. Dieser selbst
scheint den Vorwurf gefürchtet zu haben, denn nicht ohne Peinlichkeit
setzt er die Worte in die Vorrede; man möge die „Kräfte" nicht als
„qualitates occultas" ansehen. Aber sie sind es in der Tat: meta-
physische Postulate mit empirischer Schminke. Ferner trifft Hansen
nicht das Richtige, wenn er meint, Herder habe eine kontinuierliche
Entwicklung behauptet, er schließt das daraus, daß jener von einer
„Reihe der Entwicklungen spricht und aus dessen Ansicht, daß nach
der ersten Entstehung der Lebeformen keine neuen Gestalten mehr
sich bildeten, sondern alles nur Umwandlung war. Hansen ist
vielleicht zu dieser Ansicht verleitet worden, weil er weiß, daß bei
Herder nicht jede „Revolution" Katastrophe bedeutet, daß es auch
„ruhige" Revolutionen gibt. Wie sehr aber Herder im Grunde von
gewaltsamen Vernichtungen (als Auftakt der neuen Schöpfung) über-
zeugt war, haben wir oben des weiteren dargelegt.
Die zweifellos reifste Arbeit über Herder ist die von Grundmann :
„Die geographischen und völkerkundlichen Quellen und Anschau-
ungen in Herders Ideen." Berlin 1900. Er sieht Herder von vorn-
herein von der einzig möglichen Seite, der philosophischen. Er leitet
daraus kurz und klar die vorhandenen Unstimmigkeiten in dessen
Naturbetrachtung her; bündig spricht er ihm den Vorgedanken der
modernen Entwicklungslehre ab: „Für ihn war die Welt ein System
wirkender Kräfte, die eine Kontinuität bilden. Diese kontinuier-
lichen Formen sind aber nicht auseinander hervorgegangen, sondern
von Ewigkeit her so gewesen" 55). „Es ist nicht Herders letzte Ab-
sicht, Übergänge und Abstammungen verschiedener Organisationen
anzuzeigen, sondern er will darlegen, daß kein Geschöpf ohne Ver-
bindung mit dem Weltganzen stehe" 56). Auch für Grundmann sind
55) a. a. 0. S. 5. «•) a. a, 0. S. 6.
Herders Verhältnis zur Naturwissenschaft. .">.'17
die Herderschen Naturkräfte qualitates occultae: „Die Naturkräfte
sind für Herder wie für Leibniz Zweckkräfte, Entelechieen, daher auch
die mancherlei physiko-teleologischen Sätze" 57). Nur seine Bemerkung,
Herder habe keine rechte Befriedigung an seiner Katastrophenlehre
gefunden, möchten wir nicht so ohne weiteres hinnehmen. Gewiß
sagt er einmal bedauernd, es gäbe noch keine hinreichende Hypothese
hierüber. Aber daß er am Ende doch nicht ohne gewaltsame Schöpfungs-
akte auskommen könne, scheint uns aus seiner Weltanschauung zu
folgen. Um die Monade die Stufenleiter hinaufläutern zu können,
bedarf es der Haltepunkte, über die hinaus sie keine Entwicklung
führen kann; so harrt sie in diesem Zustand, bis sie die Gottheit um-
gestaltet. Diese Einschnitte, die den Werdegang unterbrechen, sind
zwar metaphysisch gedacht, aber bei Herders Analogieschlußver-
fahren auf die Natur angewandt, heißen sie zunächst, daß deren
Bildungsgang unterbrochen sei: Vernichtung aber muß es darum
sein, weil eine Schöpfung neben einer bestehenden voraussetze, daß
etwas aus dem Nichts sich formen lasse — ein Gedankenunding,
wie es Herder selbst sagt.
Was sonst noch von naturwissenschaftlicher Seite an Literatur
vorliegt, kommt hier nicht in Frage. Dacque 58) erwähnt Herder
einmal mit dem richtigen Bemerken: „Ebensowenig wie bei Kant,
hat etwa bei Lessing und Herder ... die scheinbar ausgeprägte Ideen-
kongruenz mit der Darwinschen Schule positiv bestanden." Im
übrigen stützt er sich auf Bärenbachs Arbeit. R. Burckhardt zollt
Herder neben Goethe das Lob, „die Umwandlung von der logischen
in die genealogische Betrachtung der Tiergruppen vorbereitet zu
haben" 59)1 An einer andern Stelle ist ihm Herder „der älteste und
anregendste der deutschen Genetiker und Kosmologen" 60). In Absicht
der Naturwissenschaft ist es nicht vonnöten, die literarhistorische und
philosophische Literatur zu besprechen. Neben dem groß angelegten
Werke von Haym 61), das jeder, der Zuverlässiges über Herder er-
fahren will, zur Hand nehmen wird, sind es vor allem die Arbeiten
57) s. 11.
58) E. Dacquo, Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte 1903.
VJ) in Verhandl. der Naturf. Gesellschaft, Basel 1903, S. 428.
6Ü) Zoolog. Annalen 1905, S. 372.
fll) A. Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt.
2 Bände.
338 R i c h a r d N o 1 1 ,
von Kühnemann, die durch ihre tiefgehende Psychoanalyse manch
Wertvolles zutage gefördert haben; diese beiden überragen das, was
sonst über Herder geschrieben ist 62).
Wir sind am Ende der Untersuchung. Was bleibt uns nun von
Herder? Wir haben ihm den Naturwissenschaftler versagt und an
dem Philosophen arg gepflückt; es scheint, als habe er der Welt nichts
mehr zu sagen, als sei er ein zu Grabe Getragener. Es wäre schänd-
liche Verleumdung, wäre dies das letzte Wort. Was Herder in der
Tat in seinen „Ideen" ans Licht gefördert hat, welch neue Wege
er den Einzelwissenschaften gewiesen, wie sehr er der Aufnahme
der nachfolgenden Philosophie vorgearbeitet, war hier nicht Aufgabe
zu erweisen. Überall spürt der historisch Erfahrene geheimen oder
offenen Einfluß Herderschen Denkens. Die Beziehungen, die er im
einzelnen geknüpft hat, wirken als stiller Besitz oder als laute Fragen
noch heute in der Welt weiter. Ja es scheint, daß unsere Zeit, die
die idealistische Philosophie jener Tage zu neuem Leben zu erwecken
sucht, freudiger als je auch zu Herder zurückgreifen wird; denn durch
ihn geht ein gut Teil der Entwicklungsfädeu hindurch und gerade
in seinen „Ideen" verknüpfte er sie zu einem zwar nicht makellosen,
aber wundervoll gefügten Ganzen. Wer zu ihm kommt, kehrt nicht
mit leeren Händen zurück: die Fülle seines Wissens und der Reich-
tum seiner Gedanken lassen jedem eine volle Ernte. Denn hinter
allem steht bei ihm ein leidenschaftliches Wollen, eine Glut des Er-
lebnisses, das seine Worte weit über das Alltägliche emporträgt. Und
willig lassen wir uns von diesem Strome in die Unendlichkeit hinaus-
fahren: denn uns führt ein großer und starker Mensch.
62) Durch eine seltsame Tücke des Geschicks entging mir das schöne
Buch von Siegel: Herder als Philosoph, das auch den Deszendenztheoretiker
Herder ablehnt.
XVIII.
Nietzsche und der Pragmatismus.
Von
Richard Müller-Freienfels (Berlin-Halensee).
I.
Man mag den Pragmatismus, wie er uns aus Amerika zugekommen
ist, annehmen oder ablehnen: eins wird man ihm auf jeden Fall zu-
geben müssen: nämlich, daß das Wort „Pragmatismus" eine vorzüg-
liche Bezeichnung einer Denkrichtung ist, die sich im Leben wie
in der Wissenschaft seit alter Zeit geltend gemacht hat 1). Auch in
der Philosophie in neuester Zeit hat sie allenthalben an Boden ge-
wonnen.2) Und wenn man auch gegen die Form, die der Pragmatismus
in Amerika angenommen hat, sehr kritisch sich stellen mag, das
wird nicht hindern, daß die Geschichte der Philosophie diesen brauch-
baren Begriff festhalten wird, wie er sich bereits auch in Europa
überall eingebürgert hat, obwohl sich z. B. William James, ursprüng-
lich sein feurigster Propagator, selber sehr kritisch geäußert hat
zu diesem Sirgeslauf. Indessen, es liegt sicherlich ein Verdienst im
Prägen dieses brauchbaren Begriffs. Und Nietzsche, über dessen
Pragmatismus ich hier zu sprechen denke, obwohl er den Terminus
noch nicht kannte, hat sich einmal ganz allgemein über den Wert
der Namcngcbung geäußert. Er beantwortet nämlich die Frage,
„was ist Originalität": „Etwas sehen, das noch keinen Namen trägt,
*) Das ist, bedeutend ausführlicher noch, als von den Pragmatisten
selber, besonders durch L. Stein nachgewiesen worden. Philos. Strömungen
der Gegenwart. 1908. S. 33 ff. Vgl. dazu: Archiv für System. Philos. XIV.
143 — 155. Auf Nietzsche selber verweist ein kleiner Aufsatz Steins, der
genau zur selben Zeit im Drucke erschien, als diese Abhandlung abge-
schlossen war. (Archiv für syst. Phil. 1912, Heft IV.)
'-) Vgl. besonders die Schriften von R. Avenarius, E. Mach, W. Ostwald,
W. Jerusalem usw.
340 Richard Müller-Freienfels,
noch nicht genannt werden kann, ob es gleich vor aller Augen liegt.
Wie die Menschen gewöhnlich sind, macht ihnen erst der Name ein
Ding überhaupt sichtbar. — Die Originalen sind zumeist auch die
Namengeber gewesen." 3)
Jedenfalls aber ist durch die amerikanische Pragmatismus-
bewegung ein Problem in den Mittelpunkt der Diskussion geschoben
worden, das bisher niemals so zentrales Interesse erregt hat: die Frage
nach dem Wesen der Wahrheit.
Nun hat man neuerdings von drei verschiedenen Seiten dieses
Problem angefaßt. Alle diese Forscher kommen darin überein, daß
die logischen Werte als biologische anzusehen sind. Ich will
die drei verschiedenen Auffassungen des Wahrheitsproblems als die
pragmatistische (im engeren Sinne), die humanistische
und die ,,d e s A 1 s - 0 b" bezeichnen.
Die pragmatistische Wahrheitstheorie (im engeren Sinne)
lehrt, daß das einzige Kriterium für den Wahrheitswert einer Theorie
ihre Brauchbarkeit ist 4). Damit ist nun nicht der grobe
Utilitarismus im Sinne des Geldverdienens gemeint, wie es Gegner
oft ausgelegt haben, nein gerade auf das, was Mach „die Anpassung
der Gedanken aneinander" nennt, legt James den größten Nach-
druck, und Brauchbarkeit ist ihm neben der Bedeutung für die biolo-
gische Erhaltung auch vor allem die innere Harmonie der Gedanken-
welt. Fügt in diese sich eine Theorie klärend und erweiternd ein,
so ist sie wahr; tut sie das nicht, so muß eine Revision vorgenommen
werden, eine Anpassung, als deren Endzweck die Stabilität eintritt,
die als „Wahrheit" bewertet wird. Wahrheit ist also nach dieser
Lehre ein biologischer Wert, der der Erhaltung
und inneren Harmonie des Subjektes dient.
Die humanistische Wahrheitstheorie, wie sie speziell
von dem Jamesschüler F. C. S. Schiller 5) ausgebaut wurde, betont
3) Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Aph. 261.
4) Vgl. besonders W. James: Pragmatism, 1907 (deutsch von
Jerusalem), The Meaning of Truth, 1909, und andere Schriften
desselben Verfassers. Dazu meinen Aufsatz: Will. James und der Prag-
matismus. (Phil. Wochenschr. 1908.)
5) F. C. S. S c h i 1 1 e r: Humanism, 1904, und New Studie«
in Humanism, 1907, deutsch in Auswahl als ,,H u m a n i s m u s".
L. 1911.
Nietzsche und der Pragmatismus. 341
nur eine andere Seite der pragmatistischen. Sie stimmt dieser voll-
kommen zu, hebt nur statt der objektiven, utilitarischen Seite mehr
die subjektive-teleologische Seite hervor. Sie betont
vor allem den „menschlichen", d. h. von Trieben und Gefühlen durch-
tränkten Charakter jeder Wahrheit und bekämpft leidenschaftlich
das Abstrakte in der reinen Logik.
Was ich oben als eine dritte Fassung des Wahrheitsproblems
angeführt habe, hängt historisch nur lose mit den beiden früheren
zusammen und ist doch aus derselben Wurzel, einer biologischen Auf-
fassung unseres Erkenntnisvermögens entsprungen. Die Philo-
sophie des A 1 s - 0 b 6) ist etwas durchaus Selbständiges und
betont die große Wichtigkeit, die für unser Leben bewußt-falsche
Theorien haben können. So berührt sie sich, obwohl sie in manchem
fast das Gegenteil aussagt, mit dem Pragmatismus, ohne indes den
Begriff „Wahrheit" auf die bewußten Fiktionen auszudehnen.
Das Ziel der vorliegenden Untersuchungen wird es nun sein,
zu zeigen, wie sich die drei verschiedenen Seiten des
Wahrheitsproblems in den Schriften Friedr. Nietzsches7)
völlig klar erfaßt und formuliert nebeneinander finden und wie sie
in den verschiedenen Stadien seiner Entwicklung sich gestalten.
Dabei ist zu bemerken, daß für das Problem des Als-Ob bereits
Vaihinger selber in gründlichster Weise den Parallelismus aufgedeckt
hat, in dem sich die Gedanken Nietzsches zu seinen eigenen bewegl
haben. Es bleiben also vor allem die pragmatistische und humanisti-
sche Seite und auf diese werde ich hier den Hauptnachdruck legen.
Es hat zwar schon ein französischer Gelehrter (ebenso wie ich selber
früherbereits wiederholt diese Übereinstimmung betont habe) den Prag-
matismus Nietzsches dargestellt. Indessen ist seine Wiedergabe der Ge-
danken Nietzsches zu wonig systematisch, auch sind die historischen
Wandlungen nicht gründlich behandelt, was allerdings auch nicht
in der Absicht des Verf. lag, dem es mehr darauf ankam, die Wurzeln
6) H. Vaihingen Die Philosophie des Als-Ob. Berlin 1911.
7) Ich zitiere in der Hauptsache so, daß man nach meinen Angaben
sich in der großen Ausgabe wie in der Taschenausgabe orientieren kann. Für
den Nachlaß zitiere ich ausschließlich Bd. IX — XIV der großen Ausgabe,
für den , AVillen zur Macht" indessen nicht Bd. XV der großen, sondern Bd. 1 X
und X der Taschenausgabe (TA.), da diese jetzt die Inste und reichhaltigste
Ausgabe für dieses Werk ist.
342 Richard Müller-Freienfels,
nachzuweisen, aus denen Nietzsches Anschauung erwachsen ist. Meine
Untersuchungen werden daher einen ganz andern Weg gehen. Was
übrigens die Resultate Berthelots anlangt, daß Nietzsches Pragmatis-
mus einmal der deutschen Romantik, anderseits dem modernen,
naturwissenschaftlich orientierten Utilitarismus entstammt,
so ist dem im großen und ganzen zuzustimmen, wenn auch die letzteren
Einflüsse weit weniger ins Gewicht fallen und mehr als willkom-
mene Bestätigung für bereits vorhandene Tendenzen denn
als wirkliche Anreger von Nietzsche aufgenommen wurden. Der Be-
griff Romantik anderseits, in dem weiten Sinne, wie ihn die Franzosen
im Gegensatz zum deutschen Gebrauch verwenden, ist so vage, daß eine
wirklich klare Erkenntnis daraus nicht zu gewinnen ist. Es werden
damit zu gleicher Zeit Emerson wie Hölderlin, Schopenhauer wie Wagner
umspannt. Ich ziehe es vor, im folgenden die ästhetische,
oder wie Nietzsche selber sagt, dionysische Gesamtstimmung
seines Wesens hervorzukehren, die ihn von früh an auf rauschartige
Lebenssteigerung, Zurückdrängung des logischen Denkens auf Kosten
einer Erhöhung des gesamten Lebensgefühls gerichtet sein ließ und
der ihn von jeher das rein Intellektuelle dem biologisch Wertvollen
unterordnen ließ.
Dieser letztere Grundzug des ganzen Menschen Nietzsche tritt
schon in seinen frühesten Schriften ganz deutlich hervor; er wird
dann etwas zurückgedrängt, obwohl er unter der positivistisch-
intellektualistischen Oberfläche deutlich erkennbar weiter besteht,
wie ich nachweisen werde; endlich in der dritten und entscheidenden
Periode ringt sich das echte pragmatistisch-voluntaristisch gerichtete
Temperament in aller Klarheit wieder durch, und es wird ein Pra-
gmatismus von höchster Konsequenz und detaillierter Durchbildung
verkündet bereits zu einer Zeit, als in Amerika erst die ersten leisen
Vorboten sich hervorwagten.
Dabei ist von vornherein festzustellen, daß irgend welche direkte
oder nachweisbare indirekte Beziehungen zwischen Nietzsche und
Amerika nicht bestehen. Die wichtigsten Arbeiten Nietzsches sind
erst in seinem Nachlaß ans Licht gekommen, während in den zu Leb-
zeiten veröffentlichten Schriften mehr gelegentlich und nirgends
8) R. Berthelot: Sur le Pragmatisme de Nietzsche. Rev. de Meta-
physique et de Morale. 1908, 403—447.
Nietzsche und der Pragmatismus. 343
systematisch das Wahrheitsproblem gestreift ist. Es ist im Interesse
der Kenntnis vom echten Wesen dieses reichen Philosophengeistes
überhaupt sehr zu bedauern, daß er selber nur die Schriften mehr
negativ-polemischen Charakters veröffentlicht hat, während er seine
positiv-systembildenden Schriften — wenigstens auf erkenntnis-
theoretischem Gebiete — nicht mehr hat veröffentlichen können,
obwohl der Nachlaß ein ziemlich geschlossenes Bild seines Denkens
auch nach dieser Seite hin gibt.
So konnte James in der Zeit, als er seinen Pragmatismus aus-
bildete, Nietzsches diesbezügliche Arbeiten noch nicht kennen. Wahr-
scheinlich hätte er dann in anderem Tone von Nietzsche gesprochen,
den er nur gelegentlich mitleidsvoll „poor Nietzsche" nennt. Denn
in diesem Nachlaß ist bereits im Jahre 1873 der ganze Pragmatismus
explicite enthalten, während die erste Arbeit von Peirce, der der
Richtung den Namen gab, im Jahre 1878 erschien, in einer amerikani-
schen Revue versteckt. Und während James seine noch recht un-
entschiedenen Essays über: „The Will to Believe" 9) ausarbeitete,
hatte Nietzsche bereits ein völlig ausgearbeitetes System dieser Ge-
danken, die in James 20 Jahre später erst ganz ausreiften. —
Es ist eine Pflicht der historischen Gerechtigkeit das festzustellen.
Zugleich aber läßt sich gerade an Nietzsches Stellung zum Wahrheits-
problem am deutlichsten dartun, wie merkwürdig konstant dieser
fälschlich für sprunghaft gehaltene Philosoph in seinem Denken
war. - Gewiß hat er später oft in heftigsten Ausdrücken frühere
eigne Ansichten bekämpft, Aber wir haben hier innerhalb des
Individuums denselben Fall, den das Leben so oft zwischen ver-
schiedenen Individuen zeigt: daß nämlich der Streit um kleine
Nuancen, bei sonstiger Gemeinschaft viel gehässiger und erbitterter
geführt zu werden pflegt, als der Kampf bei völliger Verschieden-
heit der Ausgangspunkte.
II.
Bereits in der „G e b u r 1 d e r T r a g ö d i e", dieser Schrift,
die ein seltsam frühes Programm für alle späteren Hauptgedanken
Nietzsches ist, finden sich auch die Keime des Nietzscliescheii Pra-
gmatismus. Tritt dies auch gemäß dem ästhetisch-dithyrambischen
9) Später gesammeil und übersetzt als: „Der Wille zu m Gl au ben."
.Stuttgart.
344 Richard Müller-Freienfels,
Gesamtcharal^ter der Schrift mehr in der Stimmung, der all-
gemeinen Tendenz als in klaren logischen Formulierungen heraus,
so springt doch klar bereits jetzt in die Augen, wie Nietzsche den
theoretischen Menschen, als dessen Typen Euripides und
Sokrates gelten, gering schätzt gegenüber dem künstlerischen,
der auf Steigerung des Lebens ausgeht, nicht auf „Verständnis" wie
jener. „Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit
immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch
jetzt nach der Enthüllung noch Hülle bleibt, genießt und befriedigt
sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat
sein höchstes Lustziel in dem Prozeß einer immer glücklichen, durch
eigene Kraft gelingenden Enthüllung". 10) Welchem von beiden
Typen die Sympathie des Verfassers gehört, kann nicht zweifel-
haft sein und schon könnte als Motto über dem ganzen das Leitwort
stehen, was er später so oft angewandt hat: Fiat vita, pereat veritas.
Dieselbe Wertung durchzieht alle Schriften dieser Epoche, be-
sonders z. B. das Nachlaßfragment: „Die Philosophie im tragischen
Zeitalter der Griechen.u (1873.) Auch hier gilt die ganze Sympathie
des Verfassers den Vorsokratikern, „die die Wahrheit in Intuitionen
erfaßten und nicht an der Strickleiter der Logik erkletterten" n).
Besonders die Planskizzen zu der nicht ausgeführten Fortsetzung
sind interessant, denn sie deuten an, wie der junge Nietzsche den
Kampf gegen Sokrates und den Intellektualismus zu führen dachte.
Da heißt es bündig: „An Sokrates alles Fabeln; die Begriffe sind
nicht fest, auch nicht wichtig". 12) Und weiter heißt es da: „Das
Erkennen hat für das Wohl des Menschen nicht soviel Bedeutung
wie das Glauben. Selbst bei dem Finden einer Wahrheit, z. B. einer
mathematischen, ist die Freude das Produkt seines unbedingten
Vertrauens, er kann darauf bauen. Wenn man den Glauben hat,
so kann man die Wahrheit entbehren 13). Man sieht, wie klar schon
der junge Nietzsche erkannte, daß keine „absolute Wahrheit" mög-
lich ist, eine Erkenntnis, die ihn niemals verlassen hat.
Ganz besonders interessant aber ist für die erkeimtnistheoretische
Entwicklung das kleine Fragment aus dem Sommer 1873: „Über
10) Geburt der Tragödie, Kap. XV,
") W. Bd. X S. 47.
12) Ebd. S. 103.
la) Ebd. Aph. 11.
Nietzsche und der Pragmatismus. 345
Wahrheit und Lüge im außermoralischen
Sinn e", das eine, wenn auch nicht abgeschlossene, so doch zu-
sammenhängende Darstellung bringt, zu der ferner noch eine ganze
Sammlung kleinerer Fragmente kommt, die teils voraufgehen, teils
die Fortsetzung skizzieren.
Der Intellekt wird als ein Hilfsmittel, und zwar ein recht
dürftiges, hingestellt, das dem Menschen zur Selbsterhaltung
dient. Die „Wahrheit" ist ein soziales Produkt, das erfunden
ist, um eine „gleichmäßig gültige und verbindliche Bezeichnung der
Dinge" zu hefern 14). Wahrheit ist jedoch nichts Absolutes, nichts,
was uns das Wesen der Dinge erkennen lehrt, sondern ist „ein be-
wegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen,
kurz, eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und
rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach
langem Gebrauch in einem Volke fest, kanonisch und verbindlich
dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen
hat, daß sie welche sind — " 15). Nur durch dieses Vergessen aber
gelangt der Mensch zum Gefühl der Wahrheit. „Es ist uns nichts
an sich bekannt, sondern nur in seinen Wirkungen, d. h. in seinen
Relationen zu andern Naturgesetzen, die uns wieder nur als Summen
von Relationen bekannt sind. Also verweisen alle diese Relationen
immer nur wieder aufeinander und sind uns ihrem Wesen nach un-
verständlich durch und durch; nur das, was wir hinzubringen, die
Zeit, der Raum, also Sukzessionsverhältnisse und Zahlen, sind uns
wirklich daran bekannt. — Alle Gesetzmäßigkeit, die uns am Sternen-
lauf und im chemischen Prozeß so imponiert, fällt im Grunde mit
jenen Eigenschaften zusammen, die wir selbst an die Dinge heran-
bringen, so daß wir damit uns selber imponieren". l6)
Deutlich also treten in dieser frühen Schrift bereits die p r a -
gmatistische wie die humanistische Seite des Wahr-
heitsproblems zutage. Allerdings sind die erkenntnistheoretischen
Probleme trotz der entgegengesetzten Behauptung des Titels noch
stark vermischt mit moralische n. Vielleicht hätte Nietzsche
das bei genauerer Durcharbeitung des Fragmentes selber noch erkannt.
11 ) W. X S. 192.
15) Ebd. 8. 196.
") Ebd. S. 201 f.
Archiv für Geschichte rler Philosophie. XXVI.
346 Richard M ü 1 1 e r - F r*e i e n f e 1 s ,
Denn es tritt deutlich zutage, daß sich ihm in die logische Gegenüber-
stellung: Wahrheit und Irrtum beständig jene andere
von ihm hier m o r a 1 i s c h gefaßte Wahrheit und Lüge
hineinmengt. Gewiß hat auch diese Antithese im Sinne des Als-Ob,
der bewußten Fiktion, ihre große erkenntnistheoretische Bedeutung.
Nietzsche jedoch, der z. B. den nächsten Nutzen des Erkenntnis-
vermögens in der Verstellung sieht, faßt also das Problem doch von
der moralischen Seite. Daneben allerdings ist dem Verfasser der
„Geburt der Tragödie" auch das Ästhetische klar bewußt und so stellt
er zuletzt dem „vernünftigen", d. h. durch Logik geleiteten
Menschen den „intuitiven" Menschen gegenüber, der nicht in
vertrockneten Metaphern und Abstraktionen denkt, sondern aus
seinen Intuitionen eine beständig „entströmende Erhellung, Auf-
heiterung, Erlösung erfährt, und er kommt damit auf einen Haupt-
gedanken der „Geburt der Tragödie" zurück.
Es ist besonders bedauerlich, daß diese wichtige Schrift nicht
zu Ende geführt ist. Der Wahrheitsbegriff hätte in den weiteren
Untersuchungen noch wichtige Beleuchtungen erfahren, wie die
Entwürfe zeigen. Vor allem wäre der bewußte Illusionismus stark
betont worden 17). Indessen auch die pragmatistische und humanisti-
sche Seite der Wahrheitstheorie wären noch weiter durchgedacht
worden. So wäre die Abhängigkeit der Logik von der S p r a ch e nach-
gewiesen worden. Der Gedanke, daß der Mensch das Maß aller Dinge
sei, wird erweitert dahin, daß es notwendig ist, ihn sich dann als hart
und festgeworden zu denken, weil sonst die Strenge der Naturgesetze
aufhörte. Denn diese sind lauter Relationen zueinander und zum
Menschen. Und ferner wäre da der Gedanke ausgeführt worden,
daß es keinen Trieb nach Erkenntnis und Wahrheit, sondern nur einen
Trieb nach Glauben an die Wahrheit gäbe. „Solange man Wahr-
heit in der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes:
der aber will Lust und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die
Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens." 18)
Indessen es sind damit die Anregungen Nietzsches zum Wahr-
heitsproblem längst nicht erschöpft. Nur eine Anzahl von Aphorismen
seien noch angeführt, die alle diese Probleme berühren. Zunächst
17) Dazu Vaihingen Philosophie des Als-Ob S. 773 f.
18) W. X 8k 125.
Nietzsche und der Pragmatismus. \ 34 i
sind eine ganze Reihe der pragmatistischen Seite des Wahrheits-
problems gewidmet. Da wird ausgeführt, daß die „Wahrheiten"
sich durch ihre Wirkungen beweisen, nicht durch logische Beweise,
und daß das Wahrheitsstreben durch den Kampf um eine heilige
Überzeugung in die Welt gekommen ist 19). Über Entstehung und
soziale Bedeutung der Wahrheit handelt eine weitere Stelle 20). Der
metaphorische Charakter und die Relativität unseres Erkennens
werden ebenfalls weiter ausgeführt 21), ferner die Frage nach dem
Zweck und der Entstehung der Erkenntnis 22).
Ebenso wird auch die humanistische Seite des Wahr-
heitsproblems noch weiter berührt, So läßt sich z. B. der anthropo-
morphische Charakter aller Weltkonstruktionen beweisen 23).
Das Erkennen wird als ein Messen an einem Maßstab dargestellt 21),
der Konsensus der Menschen rührt von der Gleichartigkeit ihres
Perzeptionsapparates her 25). Das Weltbild ist nur eine Wieder-
spiegelung und es gibt ein Streben, den Spiegel immer adäquater zu
machen. So läßt sich eine allmähliche Befreiung vom alten Anthro-
pomorphischen erkennen 26), so läßt sich das Streben des Philosophen
als eine Assimilation, als eine Metamorphose der Welt in den Menschen
beschreiben 27).
Alle diese Erkenntnisse standen bereits ausgearbeitet hinter
dem jungen Nietzsche, als er seine „Unzeitgemäßen Be-
trachtungen" schrieb. Naturgemäß gaben diese, auf ein breiteres
Publikum berechneten Essays weniger Gelegenheit zu logisch-fach-
männischen Betrachtungen, trotzdem ist es derselbe Geist, der be-
sonders aus der zweiten und dritten „Unzeitgemäßen" spricht. Es
ist dieselbe dionysische, auf höchste Lebenssteigerung gerichtete
Stimmung, die wir schon früher fanden und die alle Erkenntnis
nur als ein Mittel zur Lebenserhaltung, oder besser zur Lebens-
19) X S. 139.
20) X S. 171 ff.
21) X S. 161.
22) X 8. 146.
23) X S. 152.
24) X S. 153.
25) Ebd. S. 153.
28) X S. 172.
27) Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, besonders
Kap. I und II.
348 Richard Müller-Freienfels,
Steigerung ansehen lehrt. Darum wendet Nietzsche sich gegen den
historischen-überhistorischen Betrieb der Wissenschaften und fordert,
daß Historie zum Zwecke des Lebens getrieben werde. Nicht
anders tritt uns Nietzsche in „Schopenhauer als Erzieher" entgegen, wo
er eine theoretische Widerlegung einer Philosophie für etwas Un-
mögliches, ein bloßes Spiel mit Worten erklärt und behauptet, die
einzige Kritik einer Philosophie, die etwas bewiese, sei der Versuch
danach zu leben 28). Daß er natürlich nicht den Utilitarismus
im banalen Sinne als Beweis für die Wahrheit gelten läßt, wird oft
genug scharf ausgesprochen 29).
Alles in allem ist der Pragmatismus Nietzsches in seiner frühesten
Periode, so klar sich darin auch die fundamentalen Sätze aussprechen,
doch noch recht unklar und unkritisch. Das ästhetische, dionysische
Interesse überwiegt und umnebelt noch den klaren Blick. Darum
mischen sich mit jenen Erkenntnissen, die später wiederkehren,
auch solche, die später für alle Zeiten abgetan werden. So ist die
Lehre von der Intuition, ja der Inspiration, in dieser noch von Richard
Wagner stark abhängigen Zeit ein Element der vorwiegend ästheti-
schen Orientierung dem Leben gegenüber, die später zurücktritt.
Es bestehen in dieser Zeit zwei Elemente in Nietzsches Denken neben-
einander, das schwärmerisch-dionysische und kritisch-philosophische,
die noch nicht zur Harmonie gekommen sind. Eine Krise war un-
ausbleiblich. Sie kam und in ihr versuchte Nietzsche eine gewalt-
same Ausrottung jenes dionysischen Dranges. Es gelang nicht: er
war zu stark und vielleicht auch die kritisch-intellektualistische
Tendenz zu schwach. Der Versuch einer Verdrängung mißlang und
so kam es zuletzt zu einer Versöhnung der beiden Tendenzen in der
dritten Periode, die die Gedanken des ersten in kritisch-geläuterter
Form weiter führt.
III.
Nietzsches Entwicklung mit ihren drei Perioden, die sich ziem-
lich klar absondern, sieht aus wie ein Musterbeispiel der bekannten
Theorie Hegels über die Entwicklung. Ist die erste Periode die Stufe
der Position, so ist die zweite die der Negation. Hier wird die Erkennt-
nis, die in der ersten Zeit dem Willen zum Leben ganz nachgesetzt
28) Schopenhauer als Erzieher: Kap. VIII.
29) Ebd. Kap. VIII.
Nietzsche und der Pragmatismus. 349
»
worden war, viel stärker in den Vordergrund gedrängt. Die dritte
Periode endlich würde die Stufe der Synthese darstellen, genau nach
dem Hegeischen Schema.
Indessen ist die Verneinung der ersten in der zweiten Periode
doch nicht so stark, wie man es zuweilen hingestellt hat. Man pflegt
die zweite Periode die positivistische oder die intellek-
tualistische zu nennen ; indessen wäre es vielleicht exakter,
mit einem abschwächenden Komparativ als von der intellek-
tualistischeren zu reden. Denn wie ich nachher an Bei-
spielen dartun werde, Hegt die Sache durchaus nicht etwa so, daß
nun ein ganz anderes philosophierendes Ich erschiene, nein, es bleibt
das alte leidenschaftliche, dionysische, ästhetische Ich, das sich nur
gewaltsam in intellektualistische Bahnen zwingen will, das aber oft
schmerzlich seufzt unter dem harten Joch. In der Tat ist es nur der
bewußte Wille, der sich gewendet hat, nicht die innerlichsten Triebe
und Leidenschaften, deren Bedeutung für die Philosophie Nietzsche
auch in dieser Zeit niemals verkennt. Und wenn er auch oft in heftigsten
Ausdrücken die Vorherrschaft des Intellektes proklamiert, der Unter-
ton ist doch geblieben, und der Intellektualismus dieser Epoche ist
etwas recht Äußerliches, ein Joch, das der Philosoph später end-
gültig wieder abstreift. —
Im Grunde bleibt die Wahrheitstheorie ganz die gleiche wie
in der ersten Periode, nur ist Nietzsche skeptischer und kritischer
in der Wertung der einzelnen Wahrheiten. Aber vom Glauben an
eine absolute Wahrheit ist er weit entfernt. Deutlich spricht er es
im Anfang von „Menschliches-Allzumenschliches" aus, daß es keine
absoluten Wahrheiten gibt,30) Und ebenso findet sich die pragmatisti-
sche Wahrheitsdefinition klar und deutlich 31). „Die gewohnten
Gedanken sind deshalb so hoch geachtet, ja zur Pflicht gemacht,
weil sie eine Art Bewährung haben ; mit ihnen ist der Mensch
nicht zugrunde gegangen. Das „Nicht-zugrunde-gehen" gilt als
der Beweis für die Wahrheit eines Gedankens. Wahr heißt: „f ü r
die Existenz des Menschen zweckmäßi g". Da
wir aber die Existenzbedingungen des Menschen sehr ungenau
kennen, so ist, streng genommen, auch die Entscheidung über w ahr
30) Men.schliches-Allzumenschliche.s: Aph. 2.
«) W. X S. 186.
350 Richard Müller-Freienfels,
und u n w a h r nur auf den Erfolg zu gründen. Woran i c h zugrunde
gehe, das ist für mich nicht wahr, d. h. es ist eine falsche Relation
meines Wesens zu andern Dingen. Denn es gibt nur individuelle
Wahrheiten — eine absolute Relation ist Unsinn 32).
Indessen unterscheidet sich doch diese Periode von der ersten
sehr wesentlich, wenn auch nicht in der Grundanschauung, so doch
in der Tendenz. Und diese geht auf das Finden dauerhafterer,
festerer, soliderer Wahrheiten. Es wird ein W e r t -
unterschied zwischen den verschiedenen Überzeugungen gemacht,
nicht etwa bloß nach ihrer ästhetischen, lebensteigernden Qualität,
sondern nach ihrer Aussicht ' auf Stabilität, darum hat der
Intellekt hier seine Vordergrundstellung, weil er kritisch die dauer-
haften Wahrheiten von den Augenblickserkenntnissen sondern kann.32*)
So wird das Wort „Wahrheit" hier in einem prägnanteren Sinne
gebraucht, d. h. eine Erkenntnis, die unabhängig von der Augen-
blickswirkung ist, ja die sogar Schmerzen und Leiden bereiten kann
und nur insofern ein Wert ist, als sie für späterhin und für eine größere
Allgemeinheit Nutzen und Sicherheit verspricht. Auch diese all-
gemeine Wahrheit ist subjektiv, auch hier ist der Mensch das Maß,
aber nicht mehr der Einzelmensch mit seinen Momentangefühlen,
sondern der Typus Mensch, der allerdings auch nichts Ewiges ist,
aber dennoch gewisse konstante Eigenschaften, Bedürfnisse und
Beziehungen hat.
So wird es z. B. als Merkmal einer höheren Kultur gepriesen,
„die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode
gefunden werden, höher zu schätzen als die beglückenden und
blendenden Irrtümer, welche metaphysischen und künstlerischen
Zeitaltern und Menschen entstammen. — Aber das Mühsam-Errungene,
Gewisse, Dauernde und deshalb für jede weitere Erkenntnis noch
Folgenreiche ist doch das Höhere 33). Indessen, wenn man den Typus
des Menschen als Subjekt der Erkenntnis annimmt, so darf doch nie
vergessen werden, daß auch er keine ,aeterna veritas' ist 34), sondern
ein höchst wandelbares, der Entwicklung unterworfenes Wesen."
82) W. III Aph. 3.
3-a) Daß hier ein überaus wichtiger Punkt vorliegt, der vom ameri-
kanischen Pragmatismus nicht scharf genug herausgearbeitet worden ist,
habe ich ausführlich dargelegt in meinen „Studien zum Pragma-
tismus." (Annalen der Naturphilosophie Bd. VIII.)
8S) Ebd. Aph. 2. 34) W. X S. 165.
Nietzsche und der Pragmatismus. 351
Ein wichtiger Schritt zum Intellektualismus hin von der ästheti-
sierenden ersten Periode weg ist auch die Verwerfung der Intuition,
die dort über den 'wissenschaftlichen Methoden gestanden hatte.
„Die .Erkenntnisse mit einem Schlage', die , Intuitionen' sind keine
Erkenntnisse, sondern Vorstellungen von hoher Lebhaftigkeit: so
wenig eine Halluzination Wahrheit ist". 35) — „Jenes heiße brennende
Gefühl der Verzückten: ,dies ist die Wahrheit', dies mit den Händen
greifen und mit Augen sehen bei denen, über welche die Phantasie
Herr geworden ist, das Tasten an der neuen andern Welt — ist eine
Krankheit des Intellekts, kein Weg der Erkenntnis." 36)
So sehen wir Nietzsche in dieser Periode der Absicht nach durch-
aus als Intellektualisten. So kann er sich von der Wissenschaft notieren :
Alle Kräfte in ihren Dienst ! 37 ) — Aber dem innersten Gefühl nach
ist er nicht intellektualistisch. Nirgends ist ihm die Erkenntnis ein
Wert an sich. Überall, an hundert Stellen in dieser Zeit bricht es
heraus, wie er selber unter der strengen intellektualistischen Methode,
die er sich vorgesetzt hat, leidet und wie er immer und überall nach
einem tieferen Sinn und Wert der Erkenntnis sucht, die ihn allein
nicht befriedigt, „Wir sind gegen uns fast grausam," ruft er den
Künstlern als wissenschaftlicher Mensch zu, „aber um der Früchte
willen, die ihr und aUe haben sollt !" 38) Er ist stolz zuweilen auf diese
Grausamkeit, er preist sie als Männlichkeit. „Allmählich wird nicht
nur der Einzelne, sondern die gesamte Menschheit zu dieser Männ-
lichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die höhere
Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und
allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mitteilungen von
Wahrheiten verloren hat." 39) In dieser „Grausamkeit gegen sich
selber" tut Nietzsche denn zuweilen gar stolz: „Wenn die Wissen-
schaft Nutzen und Fordernis bringt, so tut sie das wie die Natur,
ohne es gewollt zu haben." Und er fährt fort: „Wem es aber bei dem
Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zumute
wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich : er möge sich indes
umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisum-
35) Ebd. S. 164.
36) S. 167.
■iT) S. 168.
38) III Aph. 3.
39) Ebd. Aph. 38.
352 Richard Müller-Freienfels,
schlage nottun, und Menschen, welche so aus Glut und Geist, zusammen-
geknetet' sind, daß sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend
genug für sich finden." 40) Ist es nicht fast belustigend, daß er in dem-
selben Atem, mit dem er eben die Zwecklosigkeit des Erkennens ge-
predigt hat, gerade in dieser Zwecklosigkeit, dieser Kälte einen neuen
Zweck erkennt?
Das aber ist es, was aus fast allen den Stellen, wo er in dieser
Zeit von der „Wahrheit" redet, herausklingt: ein unterdrücktes
Klagen über die Kälte des reinen Denkens, ein sich Mut machen und
ein beständiges Suchen nach neuen Lebenswerten in diesem Denken,
das eben seine alten Lebenswerte zerstört. So wird ihm die Philosophie,
wie allen Philosophen vor ihm, zur „Apologie der Erkenntnis" 41).
Ein neuer Wert wird für die Philosophie nicht nur im Befriedigen
vonBedürfnissen, auch im Beseitigen falscher Bedürfnisse erkannt 42).
So wird die Erkenntnis, die wahnzerstörende, zu süßester Lockung 43).
Wieviel verschiedene Lust aus dem Erkennen sprießt, zählt ein langes
Verzeichnis auf 44). Und wieviel schöne Worte braucht er, um sich
selbst vom Reize der Erkenntnis zu überzeugen ! 45) Oder mit wieviel
Sophistik muß er sich vor sich selber verteidigen, daß er noch nicht
ganz Erkenntnis geworden ist, daß sein „Ich" sich noch meldet!46)
Freilich ist „der Trieb zur Erkenntnis noch jung und roh und folglich,
gegen die älteren und reicher entwickelten Triebe gehalten, häßlich
und beleidigend: alle sind es einmal gewesen! Aber ich will ihn als
Passion behandeln und als etwas, womit die einzelne Seele beiseite
gehen kann, um hilfreich und versöhnlich auf die Welt zurück-
zublicken: einstweilen tut Weltentsagung wieder not, aber keine
asketische !" 47) Überall schöpft er Gründe zur Berechtigung und
Verteidigung dieses Erkenntnistriebes48). Und er tröstet sich: „Ich
meinte, das Wissen töte die Kraft, den Instinkt, es lasse kein Handeln
aus sich wachsen. Wahr ist nur, daß einem neuen Wissen zunächst
40) Bd. III Aph. 6. Dazu auch Aph. 7.
41) Aph. 27 auch Aph. 251.
42) W. V Aph. 450.
43) W. III Aph. 252.
44) W. III Aph. 292.
45) W. IV Aph. 98.
46) W. XI 169.
47) Ebd. 169 und 170.
48) Ebd. S. 171.
Nietzsche und der Pragmatismus. 353
kein eingeübter Mechanismus zu Gebote steht, noch weniger eine
angenehme, leidenschaftliche Gewöhnung! Aber alles das kann
wachsen! Ob es gleich heißt auf Bäume warten, die eine spätere
Generation abpflücken wird — nicht wir ! Das ist die Resigna-
tion des Wissenden! Er ist ärmer und kraftloser geworden, unge-
schickter zum Handeln, gleichsam seiner Glieder beraubt — er ist
ein Seher und blind und taub geworden ! 49) Heroismus ist es, der
Heroismus der Entsagung gegenüber den schönen Trugbildern der
Metaphysik und Religion, den die Erkenntnis fordert." 50) —
Liest man alle diese Stellen (und noch viele andere Passagen
sind in ähnlicher Tonart geschrieben), so wird man nicht darüber
im Zweifel sein, daß hier nicht ein wirklicher Intellektualist redet,
sondern einer, der Intellektualist sein möchte, der im tiefsten Grunde
jedoch etwas ganz anderes ist, nämlich ein Pragmatist, dem es nicht so
sehr auf die Erkenntnis selber, sondern auf ihre Folgen ankommt.
Mag er auch noch sehr dagegen wettern, daß man in den Folgen einer
Theorie einen Beweis für die Wahrheit sieht 51), in Wirklichkeit ist
doch für sein Gefühl auch eine Erkenntnis nur gerechtfertigt, wenn
sie wertvolle Folgen zeitigt. Er ist nur kritischer diesen Folgen gegen-
über, aber er stellt doch die Forderung auf: das Wohl der Menschheit
muß der Grenzgesichtspunkt im Bereich der Forschung nach Wahr-
heit sein (nicht der leitende Gedanke, aber der, welcher gewisse
Grenzen zieht) 52).
Wir könnten also diese Periode vielleicht die des kritischen
Pragmatismus nennen, indem dem Intellekte die
Oberaufsicht zuerteilt wird, darüber zu ent-
scheiden, ob etwas als Wahrheit anerkannt werden
soll oder nicht. Aber ganz falsch wäre es, nur darum, weil
uns Nietzsche selber fortwährend den Erkenntnistrieb empfiehlt,
ihm zu glauben, er wäre jetzt wirklich ein Intellektualist und
Positivist geworden! Im tiefsten Grunde ist er durchaus
Pragmatist auch in dieser Zeit, wo er gegen diese
seine tiefste Natur ankämpft.
49) Ebd. S. 170 und 172.
50) W. V Aph. 87.
«) Ebd. Aph. 73.
52j XI S. 16.
354 Richard Müller -Freienfels,
IV.
Schon im Jahre 1869 hatte Nietzsche an Freund Deussen ge-
schrieben: „Eine Philosophie, die wir aus reinem Erkenntnistrieb
annehmen, wird uns nie ganz zu eigen, weil sie nie unser eigen war.
Die rechte Philosophie jedes einzelnen ist ävdfivrjöig" — . Er hat's
erlebt. In der dritten Periode seines Denkens macht er sich frei von
den positivistischen Einflüssen, d. h. das dionysisch-pragmatistische
Temperament ringt sich wieder durch, und nur als dienende Mächte
behält er positivistische Erkenntnisse bei. Sie treten ganz in den
Dienst seiner ethischen Ideen, sie sind ihm nur Mittel, um die
Autonomie seines schöpferischen Willens zu rechtfertigen. Der
Pragmatismus wie der Humanismus sind ihm nie-
mals Zwecke in sich, sie sind nur die erkenntnis-
theoretischen Fundamente für sein schöpferisches
Denken, das nach neuen Werten sucht und das darum vor allem
die Bedingtheit und Vergänglichkeit der alten Werte nachweisen
muß. Aus diesem Grunde wird die Wahrheit als „pragmatistisch" und
„humanistisch" erwiesen und der Wert der Fiktionen ins hellste
Licht geschoben.
Zunächst das pragmatistische Problem : Mit aller Klar-
heit und Schroffheit wird jetzt ausgesprochen, daß es keinen
reinen Erkenntnistrieb gibt, daß „Wahrheit" solche Theorien
heißen, die sich nützlich erweisen, und daß infolgedessen alle Wahrheit
relativ ist, kurz, daß es keine „W a h r h e i t", sondern nur
Wahrheiten gibt. Ich kann natürlich aus dem überreichen
Material nur einzelne typische Sätze geben: vollständig sein, würde
hier fast bedeuten, den halben Nachlaß kopieren. „Sinn der , Erkennt-
nis' hier ist, wie bei ,gut' oder ,schön', der Begriff streng und
eng anthropozentrisch und biologisch zu nehmen. Damit eine be-
stimmte Art sich erhält und wächst in ihrer Macht, muß sie in ihrer
Konzeption der Realität so viel Berechenbares und Gleichbleibendes
erfassen, daß daraufhin ein Schema ihres Verhaltens konstruiert
werden kann. Die Nützlichkeit der Erhaltung —
nicht irgend ein abstrakt-theoretisches Bedürfnis, nicht betrogen
zu werden — steht als Motiv hinter der Entwicklung der Erkenntnis-
organe." 53) „Die bestgeglaubten apriorischen , Wahrheiten' sind
53
) TA. IX Aph. 480.
Nietzsche und der Pragmatismus. 355
für mich — Annahmen bis auf weiteres". 54) „Das Vertrauen zur
Vernunft und ihren Kategorien, zur Dialektik, also die Wert-
schätzung der Logik, beweist nur die durch Erfahrung bewiesene
Nützlichkeit derselben für das Leben: nicht deren , Wahr-
heit'." 55) „Es gibt vielerlei Augen. Auch die Sphinx hat Augen — :
und folglich gibt es vielerlei , Wahrheiten', und folglich gibt es keine
Wahrheit." 56) — Alles das sind Sätze, die wortwörtlich in den Schriften
von James stehen könnten, teils sogar wirklich stehen und die mit
aller Bestimmtheit bereits den „Pragmatismus" formulieren.
Freilich geht Nietzsche in seinem Skeptizismus noch bedeutend
über James hinaus. Er macht keinen grundsätzlichen Unterschied
zwischen Wahrheit und Irrtum, ja er betont wiederholt, daß auch
die Täuschung ihren Wert haben kann, ein Satz, der besonders die-
jenigen Pragmatisten, die für die Religion die Jamesschen Thesen
in allzuweiter Weise ausschlachten wollen, nachdenklich stimmen
muß. „Die Falschheit eines Urteils ist uns noch kein Einwand gegen
ein Urteil57). , Wahrheit': das bezeichnet innerhalb meiner Denk-
weise nicht notwendig einen Gegensatz zum Irrtum, sondern in den
grundsätzlichen Fällen nur eine Stellung verschiedener Irrtümer
zu einander: etwa, daß der eine älter, tiefer als der andere ist, viel-
leicht sogar unausrottbar, insofern ein organisches Wesen unserer
Art nicht ohne ihn leben könnte; während andere Irrtümer uns nicht
dergestalt als Lebensbedingungen tyrannisieren, vielmehr, gemessen
an solchen ,Tyrannen' beseitigt und , widerlegt' werden können." 58) —
Von dieser Erkenntnis aus, daß auch der Irrtum, die Fiktion
lebenserhaltend sein kann, kommt Nietzsche dann zu seiner An-
erkennung solcher lebensfördernder Fiktionen, des nützlichen Scheines,
was durch Vaihinger bereits ausführlich dargestellt worden ist — .
Um freilich dahin zu gelangen, stützt er sich auch ausführlich
auf jene andere Form der Wahrheitstheorie, die den Namen „Humanis-
mus" neuerdings erhalten hat. Er wird nicht müde zu wiederholen,
daß nicht ein abstrakter Erkenntnisdrang, sondern Instinkte,
54) Ebd. Aph. 497.
55) Ebd. Aph. 507.
56) Ebd. Aph. 540.
M) Bd. VIII Aph. 4.
58) TA. IX Aph. 535.
356 Richard Müller-Freienfels,
Triebe, Bequemlichkeit, vor allem aber der „Wille zur
Macht" zu Erkenntnissen und "Wahrheiten geführt haben.
Auch hier ist die Auswahl der diesbezüglichen Stellen übergroß.
„Hinter dem Bewußtsein arbeiten die Triebe". 59) „ Auch
hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der
Bewegung stehen Wertschätzungen, deutlicher gesprochen, physiolo-
gische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben".60)
„Es gibt keine unmittelbaren Tatsachen! Es steht mit Gefühlen und
Gedanken ebenso: indem ich mir ihrer bewußt werde, mache ich
einen Auszug, eine Vereinfachung, einen Versuch der Gestaltung:
das eben ist bewußt werden: ein ganz aktives Zurecht-
machen." 61)
Alles das sind Sätze, die der Humanist F. C. S. Schiller unter-
schreiben wird und die Kernsätze für seine Philosophie ausmachen. —
Nietzsche geht dann noch weiter in seiner Theorie vom gestal-
tenden, formenden Intellekt. Er läßt auch die Kategorien aus dem
Bedürfnis entstanden sein. „Es handelt sich nicht um metaphysische
Wahrheiten bei .Substanz', »Subjekt', ,Objekt', ,Sein\ , Werden'."62) —
„Es ist das Bedürfnis, nicht zu ,erkennen', sondern zu subsummieren,
zu schematisieren, zum Zwecke der Verständigung, der Berechnung." 6:i)
Die Art nun, wie das Denken mit seinem Rohstoff verfährt, wird mit
Vorliebe als ein Schematisieren, ein Gleichsetzen,
ein Simplifizieren beschrieben. Die Theorie, die unter dem
Namen der „Denkökonomie", wie sie Mach und R. Avenarius be-
fürwortet haben, neuerdings soviel von sich reden gemacht hat, ist
an vielen Stellen bereits deutlich ausgesprochen 64). Vor allem das
Gleichsetzen vom Ungleichen im Begriff ist überaus wichtig.
„Wie ein Feldherr von vielen Dingen nichts erfahren will und erfahren
darf, um nicht die Gesamtüberschau zu verlieren: so muß es auch
in unserem bewußten Geiste vor allem einen ausschlie-
ßenden, wegscheuchenden Trieb geben, einen auslesenden Trieb,
welcher nur gewisse Fakta sich vorführen läßt. Das Bewußtsein
59) W. XIII S. 25.
fi0) W. Bd. VIII Aph. 3.
61) W. XIV S. 72.
62) TA. IX Aph. 513.
63) Ebd. 515.
64) TA. Aph. 537 und 538, W. XIV S. 44.
Nietzsche und der Pragmatismus. 357
ist die Hand, mit der der Organismus am weitesten um sich greift:
es muß eine feste Hand sein. Unsere Logik, unser Zeitsinn, Raum-
sinn sind ungeheure Abbreviaturfähigkeiten, zum Zwecke des Be-
fehlens. Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht,
aber vieles ein wenig: ein solcher Satz, zwei Dinge, einem dritten
gleich, sind sich selber gleich' setzt erstens Dinge, zweitens Gleich-
heiten voraus: Beides gibt es nicht. Aber mit dieser erfundenen
starren Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel,
sich ungeheurer Mengen von Tatsachen wie mit Zeichen zu bemäch-
tigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben. Die Reduktion der
Erfahrungen auf Zeichen, und die immer größere Menge von
Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine höchste
Kraft."65) —
Man sieht, worauf alles hinaus will: auf denselben Punkt, wohin
auch die ethischen und kulturphilosophischen Betrachtungen Nietzsches
kulminieren, den Willen zur Macht. Und hierin hegt denn
auch der wesentlichste Punkt, wenn er hinausgeht über die Pragma-
tisten und Humanisten: nicht bloß auf Erhaltung des Lebens
geht die Erkenntnis, sondern auf Steiger u n g und Aus-
breitung, wofür Nietzsche den nicht unbedingt glücklichen
Terminus Macht geprägt hat. Und ohne Zweifel ist soviel richtig :
Die bloße Lebenserhaltung würde niemals den Fortschritt, den
Drang zu immer neuen Wahrheiten erklären, wenn wir nichts als
tiefstes biologisches Prinzip die Steigerung und Ausbreitung
des Typus setzen. Indessen sind das Betrachtungen, die uns ab-
führen von unserem Thema.
Was ich hier feststellen wollte, ist der eine Punkt vor allem,
an dem die Geschichte der Philosophie nicht vorüber gehen kann:
daß nämlich sich bei Nietzsche bereits in aller Deutlichkeit aus-
gesprochen jene Gedanken finden, die sich in Amerika als Pragma-
tismus, in England als Humanismus zum System ausgewachsen haben,
und die auch in Deutschland vor allem in der biologischen Erkenntnis-
theorie von Mach, Avenarius, Jerusalem, Simmel, Vaihinger und
andern viel Verwandte haben. Was ich zu zeigen versucht habe,
ist, daß es sich jedoch bei Nietzsche nicht etwa um vorübergehende
85) W. XIV S. 46, vgl. ebd. S. 3-4 und 35. TA. IX Aph. 511, 512,
513 u. a. m.
358 Richard Müller-Freienfels,
Apercus handelt ; vielmehr hängt seine Wahrheitstheorie
tief mit jenen ethischen, ästhetischen und
psychologischen Anschauungen zusammen. Alles
aber ist nicht etwa ein glänzendes Irrlichtern hierhin und dorthin,
wie man lange gemeint hat, sondern es sind Bausteine zu einem durch-
aus einheitlichen Gebäude, an dessen Vollendung der Autor nur durch
ein jähes und tragisches Schicksal gehindert worden ist.
Von seinen erkenntnistheoretischen Anschauungen hat das-
selbe zu gelten, was von seinen ethischen gilt. Wie diese nicht etwa
eine willkürliche subjektive Theorie sind, sondern (wenn auch oft
übertrieben) nur die Formulierung einer aristokratischen Moral, die
tatsächlich zu allen Zeiten, nur nicht formuliert, gegolten hat, so
ist's auch mit seiner Erkenntnistheorie: sie ist die F o r m u 1 i e r u n g
einer Anschauung, die tatsächlich im Leben
wie in der Wissenschaft fast immer gegolten
hat: derjenigen, daß die Wahrheit sich „bewähren", d. h.
wirken und nützliche Werte schaffen müsse. — Ob
man vom philosophischen Standpunkte diese Theorie annimmt oder
ablehnt, hängt von der philosophischen Stellungnahme des einzelnen
ab. Dem Umstände, daß wir es mit der Formulierung eines unge-
heuer wichtigen, tatsächlichen Denkmodus zu tun haben, tut das
keinen Eintrag.
XIX.
Kants Ästhetik und die neuere Biologie.
Von
Dr. Roland Schacht.
Was Kants Ästhetik, wie sie uns in seiner Kritik als Urteils-
kraft entgegentritt, von der modernen Ästhetik scheidet, ist sicher
in erster Linie der Umstand, daß seine Gedankengänge von psycho-
logischen Erwägungen so gut wie gänzlich unabhängig sind. Er sucht,
wie einer seiner neuesten Erklärer, J. C. Meredith, hervorhebt, die
Prinzipien des reinen, d. h. uninteressierten Geschmacksurteils auf,
ohne zu fragen, ob denn auch dieses Geschmacksurteil, wenn zwar
möglich, doch überhaupt in Wirklichkeit anzutreffen sei. Von diesem
idealistischen Standpunkt ausgehend sucht er das Problem vorzugs-
weise durch Definitionen und logische Schlüsse zu lösen, während
die neuere Ästhetik von beobachteten psychologischen Tatsachen
ausgeht. Dieser Unterschied ist die Ursache davon gewesen, daß
Kants Ästhetik bei den Neueren, namentlich den Künstlern, stark
in Mißkredit geraten ist. Doch der Übereifer der Heißsporne erweckt
berechtigtes Mißtrauen: denn mag uns auch heute der Gedanken-
gang des Philosophen schwer zugänglich sein, mögen wir auch die
Methode nicht mehr billigen, es ist nicht grade wahrscheinlich, daß
eine so mächtige Persönlichkeit wie Kant in einem seiner wichtigsten
Werke zu völlig falschen Resultaten gelangt sei. Um so bemerkens-
werter ist darum ein kürzlich von Seiten der Biologie unternommener
Versuch, Kants Resultate durch eigene Gedankengänge wiederzu-
gewinnen und in biologischen Tatsachen sozusagen zu verankern.
Ästhetik, die neuere jedenfalls, ist ein Janus, nach zwei Seiten
hingewandt. Einerseits sucht sie sich über die Tätigkeit des Künstlers,
das Wesen des Kunstschaffens klar zu werden, anderseits den Genuß
zu analysieren, den der Aufnehmende (Beschauer, Zuschauer, Hörer)
360 Roland Schacht,
von Werken der Kunst erfährt. Gehen wir aus von der Tätigkeit des
Künstlers und nehmen wir den einfachsten Fall, den der bildenden
Kunst. Sie beginnt mit Zierkunst, Ornamentik. Was den Töpfer
zum Künstler macht, ist neben der Ebenmäßigkeit und Schönheit der
Form die Hinzufügung des Ornamentes. Van de Velde will aller-
dings in seinem neuesten Essayband schon die vollkommene Zweck-
mäßigkeit eines Gegenstandes als etwas Künstlerisches angesehen
wissen, doch kaum mit Recht. Denn eine Brücke mit dem geringsten
Aufwand von Material und Arbeit möglichst haltbar und zweckmäßig
zu bauen, ein Haus den Bedürfnissen des Bewohners entsprechend
aufzurichten, einen Kahn leicht und doch möglichst tragfähig zu
gestalten, das alles ist Sache des Handwerkers, eine im Grunde ganz
selbstverständliche Sache, und daß Bedingungen der Brauchbarkeit
und Verwendbarkeit erst durch Heranziehung von außerordentlichen
Kräften, den sog. Künstlern erfüllt werden können, beweist nur,
daß das Handwerk tief gesunken ist. Wollte man aber diese
Leistungen schon mit Kunst bezeichnen, so müßte man diese
Benennung auf jede Art vollkommener Arbeit, welche klare
Vorstellung des Ziels und Zwecks und ökonomische Beherrschung
der zur Vollendung nötigen Mittel erfordert, Kunst nennen, also
jedwede in Vollkommenheit ausgeübte Tätigkeit, wie Kriegführen
und Lokomotivenbau, Schneidern und Kochen, Lehrbücher schreiben
und Straßen pflastern, Staatsregierung und Krankenheilung, all
dies und noch viel mehr hieße Kunst, eine Ausdehnung des Begriffs,
der die Auslöschung seiner engeren, von uns allen sub intendierten, wenn
auch nicht klar begrenzten Bedeutung zur Folge haben würde. In
dem Begriff der Zweckmäßigkeit, das Wort im weitesten Sinne ge-
nommen, kann das eigentliche Künstlerische nicht liegen.
Künstlerisch wird die menschliche Tätigkeit erst, wenn sie einen
Schritt über das rein Zweckmäßige hinaus tut, ein Satz, den bereits
Ruskin ausgesprochen hat. Das Ornament auf einer Tonschale hat
unmittelbar nichts zu tun mit dem Zwecke des Gefäßes: Flüssig-
keit aufzunehmen, das Ornament ist „überflüssig" und bei dem
Überflüssigen beginnt eigentlich die Kunsttätigkeit.
Dies Überflüssige braucht darum noch nicht schön zu sein. Es
kann z. B. bei plastischen Ornamenten den Gebrauch des Gefäßes
erschweren oder gar hindern (vgl. Lessings Fabel vom schöngeschnitzten
Bogen). Die Tätigkeit der Ornamentierenden kann immerhin künst-
Kants Ästhetik und die neuere Biologie. 361
e>*
lerisch sein, aber das Resultat dieser Tätigkeit ergibt etwas Zweck-
widriges, Unsinniges und alles Unsinnige, Widersinnige, (wohl
zu unterscheiden vom Sinn losen im Sinne von zwecklos, wie etwa
das Spiel), wirkt unangenehm, häßlich.
Nun gibt es aber auch Zwischenfälle. Es ist gewiß aus Gründen
der Haltbarkeit zweckmäßig, eine Tür nicht einfach als ein Loch
in der Wand zu bauen, sondern zwei Pfosten zu errichten und den
Sturzbalken darüber zu legen. Es ist aber überflüssig, die Pfosten in
der Breite stärker zu machen als die Wand, so daß sie um ein Geringes
vorspringen. Der Rahmen der Tür tritt dadurch hervor oder wird,
wie wir sagen, markiert, was natürlich auch durch gemalte oder ge-
schnitzte Ornamente geschehen kann. Bei weitläufigen Fassaden kann
diese Markierung allerdings noch den Zweck haben, dem Fremden
den Eingang leicht auffindbar zu machen, bei kleinen Häusern hat
ein derartiges Raisonnement keinen Sinn. Hier also ist die Hervor-
hebung der Tür etwas Überflüssiges, somit Künstlerisches. Der
einzige Zweck, den diese Hervorhebung haben kann, ist vielmehr der,
das Zweckmäßige der Tür zur Anschauung zu bringen, ein Zweck,
der mit der Bestimmung des Gebäudes, wie man leicht einsieht,
nichts mehr zu tun hat.
Diese Veranschaulichung der Zweckmäßigkeit ist also
Kunst. Zur Veranschaulichung bedarf ich des Vergleichs oder klarer
Bezeichnung. Im Grunde ist aber auch die klare Bezeichnung schon
Vergleich. Denn alle Sprache und Sprachschöpfimg ist, soweit Neu-
schöpfimg, nicht Ableitung in Betracht kommt, Bereicherung der
Anschauung oder des Gefühls. Ich kann den Vogel nach seinem Ge-
schrei benennen (Rabe, Kuckuck), ich kann einen Gegenstand nach
dem Gefühl nennen, das er mir einflößt (denn viele Wörter sind ur-
sprünglich sicher artikulierte Interjektionen, die dann nach Analogie
vorhandener Wörter ausgebildet worden sind, wie man anderseits
auch Wörter nachweisen kann, deren Bedeutung oder Aussprache
nach den Gefühlen, die sich mit dem Objekt assoziieren, modifiziert
weiden). In jedem Falle bringe ich zwei Dinge (Angeschautes und
Wahrgenommenes, oder Angeschautes und Gefühlsäußerung) zu-
sammen. Die Fähigkeit, dies zu tun, nennen wir Phantasie. Die
Grundlage der Veranschaulichung und damit der Kunst überhaupt
ist also Phantasie, die denn auch vielfach als die Grundlage künst-
lerischer Tätigkeit angesehen worden ist.
Arohiv für Geschichte der Philosophie. XXVI, 3. 94
362 Roland Schacht,
Bezeichne ich nun, zunächst nur sprachlich, den Pfosten als
Träger des Sturzbalken«, so habe ich eine klare Bezeichnung ge-
wählt. Durch Phantasietätigkeit habe ich den Pfosten und eine
gewisse menschliche Tätigkeit, das Tragen, zusammengebracht und
die Bezeichnung der letzteren auf den Pfosten angewandt. Mit
dieser „Bezeichnung" habe ich aber auch gleichzeitig sein Dasein,
wenigstens soweit es sich in einer gewissen Funktion ausspricht,
anschaulich gemacht. Also schon der Bezeichnung hegt Anschauung
zugrunde, und insofern ist schon sie, wie alle Sprach Schöpfung, künst-
lerisch. Nun handelt es sich aber auch darum, diese Funktion des
Pfostens selber, die auch ohne vorhergehende sprachliche Bezeichnung
allein durch Einfühlung (worüber weiter unten) erfaßt werden kann,
auch für das Auge, oder wenn man will, für den tektonischen Sinn
anschaulich zu machen. Ich statte ihn also mit einem Kapital aus,
verleihe ihm durch Verjüngung etwas Emporsteigendes, Stemmendes
und mache das Tragen noch deutlicher, indem ich dem Sturzbalken
durch Ornamente den Eindruck des Entgegendrückenden, Lastenden
verleihe und nun erst ist die Funktion, der Sinn des Pfostens als
Träger deutlich zur Anschauung gebracht, All dies hat, ich wieder-
hole es, nur den Zweck, etwas anschaulich zu machen, mit dem
Zweck des Gebäudes hat es nichts zu tun.
Zur größeren Deutlichkeit reihe ich andere Beispiele an. Bei
einer Tonschale kann ich Ausguß und Henkel, die wichtigsten Punkte
durch Ornamente hervorheben, auch hier ist die Wichtigkeit der
betreffenden Punkte zur Anschauung gebracht. Oder, um auf die
Dichtkunst überzugehen, man kann als Resume des „Faust" die
Worte des Engelchors bezeichnen: „Wer immer strebend sich be-
müht, den können wir erlösen." Man kann also sagen, im „Faust"
wird ein Satz zur Anschauung gebracht. Dies ist jedoch, um Miß-
deutungen vorzubeugen, sei es gesagt, nicht so zu verstehen, als sei
der Faust die Probe aufs Exempel, vielmehr ist die bunte Handlung-
unter dem Gesichtspunkte dargestellt, daß sie eine Idee zur Anschauung
bringt; erst durch die Anschauung aber wird der Inhalt der Idee
eindrucksvoll, faßlich und wirksam, denn ohne Anschauung bleibt
jede Sentenz nur eine Reihe von Wörtern.
Natürlich wäre es falsch, behaupten zu wollen, daß die Veran-
schaulichung der Idee das Ganze, immerhin nicht kleine, künstlerische
Verdienst wäre. Die Gretchenepisode z. B., rein für sich genommen,
Kants Ästhetik und die neuere Biologie. 363
hat schon künstlerische Reize, offenbart künstlerische Tätigkeit.
Dies führt uns zu der sog. reinen Kunst.
Irgend eine Eigenschaft eines Objektes reizt den Künstler zur
Darstellung, sei es durch Dichtung, durch Malerei oder Plastik. Der
Psychologe, der Anthropologe, der Photograph, allgemein: der be-
schreibende Wissenschaftler bezeichnet alle Eigenschaften, um uns
ein möglichst getreues Abbild des Objektes zu geben, der Künstler hebt
eine Eigenschaft, die ihm, gleichviel zunächst einmal aus welchem
Grunde, der Hervorhebung würdig erscheint, heraus und stellt sie
am Objekt dar, und zwar der Deutlichkeit halber, auf Kosten der
übrigen. Man nennt diese Tätigkeit charakterisieren. Je stärker diese
Eigenschaften hervorgehoben werden, je deutlicher sie zur Anschauung
kommen, desto größer der Künstler, darum sind die größten Künstler
in dem einzelnen Kunstwerk, auch die einseitigsten und deshalb
haben genaue Nachbildungen nichts mit Kunst zu tun. Die Ursache,
warum dem so ist, wird sich später ergeben.
Der Grund, weshalb eine Eigenschaft dargestellt wird, ist nun,
unzweifelhaft der, daß sie auf den Künstler besonderen Eindruck ge-
macht hat, einen Eindruck, den er, sei es mehr objektiv (Ausdruck
der Anschauung), sei es mehr subjektiv (Ausdruck des die An-
schauung begleitenden oder durch sie hervorgerufenen Gefühls)
wiederzugeben sucht, Woher nun aber dies Bestreben? Und wie ist
es möglich, daß derselbe Eindruck auch im Genießenden wirklich ent-
steht? Das sind sicher wie schon angedeutet, die Kernfragen der
Ästhetik.
Bevor wir an die Beantwortung dieser Fragen gehen, schreiten
wir den Kreis der Künste vollends ab, denn noch haben wir weder
Lyrik noch Musik erwähnt. Diese haben ihren Ursprung weder in
einer Idee, denn auch das Zweckmäßige ist ja eine Idee, noch in
einer Eigenschaft des Objektes, sondern, allgemein gesagt, im Gefühl.
Sie drücken — für gewöhnlich wenigstens Gefühl aus und
suchen sie andern mitzuteilen, und da Gefühle nur durch Nach-
erleben erfaßt werden können, suchen sie dies Gefühl nach- oder
miterlebbar zu machen.
Bei all diesen verschiedenen Arten der Künste nun sehen wir,
daß die künstlerische Tätigkeit unabhängig vom Zweck dem Boden
des Gefühlslebens entspringt und zur Äußerung drängt, die wiederum
zwecklos ist, vielmehr ihren Zweck in sich selbst hat. Indessen ist
24*
364 Roland Schacht,
mit dieser Feststellung nicht viel gewonnen, denn sollen wir uns
nur mit der Tatsache, daß dieser Drang sich künstlerisch mitzuteilen,
diese Fähigkeit, die künstlerische Mitteilung aufzunehmen, existieren,
begnügen, so ist für die Lösung unserer Fragen nichts getan, und
der Spekulation nach wie vor Spielraum gelassen, sich in Abstraktionen
mannigfacher Art zu ergehen.
Nun aber hat ein Arzt und forschender Biologe, Oskar Kohn-
stamm, vor einigen Jahren ein Prinzip gefunden, das wohl im engeren
Kreise der Fachgenossen, z. B. bei R. H. France, aber leider nicht bei
den Vertretern der Ästhetik die Beachtung gefunden hat, die es ver-
dient haben dürfte. Mit Hilfe dieses Prinzips aber gelingt es, die Er-
klärungen ästhetischer Phänomene, die sich früher in philosophischen,
jetzt in psychologischen Abstraktionen zu verlieren drohen, auf dem
Boden der Empirie einzuwurzeln und dem Unerklärlichen dieser
Tatsachen durch Analoga aus der menschlichen Biologie beizukommen.
Es ist dies kurz gesagt das Prinzip der Ausdrucks-
tätigkeit.
Kohnstamm unterscheidet, wie er in seinem Schriftchen „Kunst
als Ausdruckstätigkeit. Biologische Voraussetzungen der Ästhetik"
(München 1907) darlegt, zweierlei Arten menschlicher Tätigkeit:
Zwecktätigkeit und Ausdruckstätigkeit. Wenn ich ein vor mir stehen-
des Glas Wasser zum Munde führen will, und zu diesem Zwecke die
Hand ausstrecke, so hat diese Tätigkeit des Ausstreckens einen Zweck,
ist zweckhabend, zweckhaft. Sperre ich aber beim Anblick eines
wunderlichen Objektes oder beim Hören einer überraschenden Neuig-
keit vor Erstaunen den Mund (und wie wir übertreibend hinzusetzen
auch die Nase) auf, so hat dies Mundaufsperren nicht den geringsten
Zweck, die Tätigkeit ist zwecklos, ist lediglich ein Ausdruck des Er-
staunens, Ausdruckstätigkeit. Ziehe ich jetzt das oben erwähnte Bei-
spiel vom Türpfosten heran, so werde ich sagen: das Einstellen, die
Anwendung des Pfostens ist zweckhaft, also eine Zwecktätigkeit;
daß ich jedoch des Pfostens Anwendung als Träger durch Kapital
usw. anschaulich mache, zum Ausdruck bringe, ist Ausdruckstätigkeit.
Indessen sind hiermit nur zwei neue Worte gefunden, die Hauptfrage
nach dem Ursprung und Wesen dieser Ausdruckstätigkeit bleibt nach
wie vor zu bestimmen
Nun läßt sich aus Vergleich ung vieler Beispiele der Satz aufstellen,
daß alle Ausdruckstätigkeit ganz allgemein ursprünglicher Zweck-
Kants Ästhetik und die neuere Biologie. 365
tätigkeit entstammt. Wenn ich jemandem schlagen will, so balle ich
die Hand zur Faust und erhebe sie, um den Schlag von oben herab
mit größerer Wucht niederfallen lassen zu können: Zwecktätigkeit.
Stoße ich jedoch gegen eine a 1) w e s e n d e Person Drohungen aus
und dies bei starker Erregung „mit drohenden Fäusten", so hat diese
Tätigkeit gar keinen unmittelbaren Zweck, da die betreffende Person
ja gar nicht da ist, die Tätigkeit des Fäusteerhebens ist nur ein Aus-
druck meiner Gefühle. Ähnlich ist das Aufsperren des Mundes etwas,
das bei lauten Geräuschen als Zweckbewegung herbeigeführt wird,
um den Ausgleich des Luftdruckes in der Paukenhöhle des Ohres
zu erleichtern. Eine andere Ausdruckstätigkeit, die Zornesröte, ent-
stammt dem wütenden Dreinsch lagen, bei dem sich, wie bei allen Körper-
anstrengungeu, die Hautgefäße zweckhaft erweitern. Der Ausdruck
des Ekels wehrt Gerüche ab und stellt die Zunge bereit, den Inhalt
des Mundes wieder nach außen zu befördern. Die expressiven Magen-
darmerscheinungen der Angst leiten sich von Zweckreaktionen ab,
die entstehen, wenn schädliche Substanzen in den Magendarmkanal
eingebracht werden. In all diesen Beispielen, die sich noch beträcht-
lich vermehren ließen, ruft ursprünglich ein physischer Reiz, ein
Gefühl und eine zweckmäßige physische Reaktion hervor. Durch
jahrtausendelange Gewöhnung, aber auch durch einmaliges äußerst
intensives Erlebens, sind nun Gefühl und Reaktion assoziativ so
fest miteinander verbunden, daß auch ohne Auftreten des physischen
Reizes, nur durch etwas Psychisches — sei es Empfindung (ein Anblick
z. B.), sei es Vorstellung — welches Gefühl hervorruft, auch zu-
gleich die dazugehörige Ausdruckstätigkeit hervorruft. Und da die
verschiedenen Reizreaktionen der Stärke nach zwar sehr nuanciert
sein können, der Zahl nach jedoch immerhin beschränkt sind, so
lenken auch ähnliche oder verwandte Gefühle in die am häufigsten
durchlaufene Bahn ein, so daß wir allgemein den Satz aussprechen
können: Ein Gefühl sucht sich als Ausdrucksbewegung unter dem vor-
handenen Material der Zweckbewegungen diejenige aus, die mit einem
ihm möglichst ähnlichen Gefühlston verbunden ist. Ein Physisches
dient also zum Ausdruck eines Psychischen und wie wir die Be-
zeichnung eines Ideellen durch ein Anschauliches, ein Symbol nennen,
so können wir sagen, daß die Ausdruckstätigkeiten nicht nur Wir-
kungen, sondern auch Symbole der Gefühle sein können. Daher
kommt es, daß wenn mir jemand etwas Ekelhaftes erzählt, ich den-
366 Roland Schacht,
selben Ausdruck zeige, wie wenn ich etwas Ekelhaftes röche oder
kostete, obwohl im ersten Fall meine Tätigkeit ganz zwecklos ist,
da es ja nicht nicht gilt, einen physischen Reiz abzuwehren. Ich
habe also reine Ausdruckstätigkeit.
Um Einwänden zu begegnen, sei darauf hingewiesen, daß mit
dieser Konstatierung natürlich nicht gesagt ist, daß Ausdrucks-
tätigkeit absolut zwecklos ist. Eine Art der Zweckbestimmung
leuchtet vielmehr sofort ein, wenn wir beispielsweise an die e r -
leich ternde Wirkung eines Tränenausbruches denken, in welchem
überschüssige Menge Nervenenergie zur Entladung, übermäßige
Spannungen zur Lösung kommen. Die Ausdruckstätigkeit ist also
gewissermaßen ein Sicherheitsventil des mensch liehen Organismus
und als solche zweck mäßig, nicht aber zweck h a f t. Der Unter-
schied wird sofort einleuchten, wenn ich ein anderes Beispiel heran-
ziehe. Mir kommt aus Versehen ein Schluck Säure in den Mund. In-
dem ich ihn sofort von mir gebe, übe ich eine Tätigkeit, die den Zweck
hat, mich des unangenehmen Reizes zu entledigen, also eine Zweck-
tätigkeit. Wenn wir aber gleichzeitig dabei Tränen in die Augen
treten und den Körper eine Gänsehaut bedeckt, so liegt eine Aus-
druckstätigkeit vor, die ohne ersichtlichen Schaden auch fortbleiben
könnte.
Diese Gefühlsentladung oder -erleichterung führt nun zur Er-
klärung der Künste, die Gefühle darstellen und ausdrücken. Lyrik
und Musik. Der Ausdruck dieser Gefühle erstrebt nichts, hat keinen
Zweck, e r i s t Zweck, Selbstzweck.
Nun erst, auf dieser psychologisch-biologischen Grundlage wird die
Notwendigkeit der oben vorgenommenen Trennung von Zweckmäßigkeit
und Überflüssigkeit, von Handwerk und Kunst einleuchtend, wird auch
den sog. Zweckkünsten wie Architektur, Ornamentik, Dekoration usw.
die richtige Stellung angewiesen. Soweit das Gebäude Behausung ist,
gehört es zur Tätigkeit des Handwerkers, soweit es diesen Zweck
über das objektiv Konstatierbare, im Sinne des Erbauers oder Be-
wohners zum Ausdruck bringt, gehört es zur Tätigkeit des Künstlers.
Bevor wir aber die Tätigkeit des Künstlers genauer umschreiben,
müssen wir noch die oben gestellte zweite Hauptfrage der Ästhetik,
wie der Aufnehmende Kunst genießt, beantworten.
Außer der Entladung überstarker Gefühle läßt sich nämlich der
Ausdruckstätigkeit noch eine andere Art von Zweck m ä ß i g k e i t
Kants Ästhetik und die neuere Biologie. 367
beilegen: sie dient zur Verständlich mach ung, zur Mitteilung der Ge-
fühle. Ich vermag jemandem sofort anzusehen, ob er gedrückter
oder freudiger Stimmung ist, noch bevor er sich durch die Sprache
über seine Gefühle äußert. Möglich ist dies durch die bekannte Tätig-
keit, die wir „Einfühlung" nennen. Ich nehme, in Gedanken
oder tatsächlich, den gleichen Ausdruck an wie der Beobachter
oder ahme seine Bewegungen nach, um sogleich, mehr oder
weniger genau, das Gefühl, das diese Ausdruckstätigkeit hervorruft, in
mir wiederzufinden. Daher die Gemeinverständlichkeit der Gefühls-
symbole. Ist also Kunst Ausdruckstätigkeit, so komme ich zum
Genuß des Kunstwerkes durch „Einfühlung", vermöge der Ein-
fühlung bin ich imstande, das Kunstwerk zu „erleben" und aller
Kunstgenuß dürfte letzten Endes auf diese Bereicherung unseres
Gefühlslebens zurückzuführen sein.
Nun können wir aber, wie Kohnstamm richtig betont hat, zweierlei
Arten der Einfühlung unterscheiden. Jene, des Beschauers Art,
sich einzufühlen nennt er die rezeptive, die des Künstlers die pro-
jektive. Erstere kommt überall zur Anwendung, wo ein Gefühlsaus-
druck bereits vorhanden ist, sei es beim Mitmenschen oder im Kunst-
werk, also überall da, wro es gilt, einen Ausdruck verstehend
zu erfassen. Projektive Einfühlung dagegen findet statt, wro
es gilt, die unbelebte Natur zu beseelen. Wenn ich
von dem trotzigen Charakter eines Felsens spreche, so beseele ich
den Felsen mit dem Gefühl, das seine Kontur, seine Oberfläche, Härte
usw. in mir anregen, ich projiziere dies Gefühl in den unbelebten Fels
hinein und fasse nun sein Aussehen als Ausdruck dieses Gefühls auf.
Male ich ihn nun, so werde ich den Eindruck hervorzurufen suchen,
als sei er lebendig und äußere sich in einer bestimmten Weise. Das
heißt die Natur beseelen. Aber im Grunde drückt der Künstler doch
sein eigenes Gefühl aus, die äußere Form des Felsens, oder der Land-
schaft überhaupt, gebraucht er nur, um dies Gefühl auszudrücken
oder anders gesagt, das Gefühl ist der Inhalt, das dargestellte Objekt
die Form. Und wie Inhalt und Form nicht begrifflich zu trennen
sind, vielmehr aufs lebendigste miteinander in Verbindung stehen,
wird aufs neue durch diesen Gedankengang dargetan: Das Gefühl
des Künstlers wählt sich in Technik, Farbe, Linie, Form usw. den
ihm verbundenen Ausdruck, welcher wiederum durch die Gemein-
verständlichkeit der Ausdruckssymbole, die — ihrerseits durch die
368 Roland Schacht,
Gemeinsamkeit der Assoziationen von Gefühl und Ausdruck bedingt
— vermittelst der rezeptiven Einfühlung, als ein solcher verständlich
und erfaßt wird.
Daß wir nun einen Naturgegen stand schön nennen, dazu gehört
zunächst, daß seine Wahrnehmung in uns ein angenehmes Gefühl
hervorruft, anderseits aber, daß wir ihn vermittelst der projektiven
Einfühlung, die jedem Menschen in allerdings der Stärke und der
Art des Gegenstandes nach ungeheuer verschiedenem Maße möglich
ist, für fähig halten, der Träger dieses unseres in ihn projizierten
Gefühls zu sein, und dies leicht und restlos, d. h. es darf an ihm keine
Eigenschaft bemerkbar sein, welche die Projizierung resp. den Aus-
druck dieses Gefühls hindert oder abschwächt, und die ausdrücken-
den Qualitäten müssen stark genug sein, das Gefühl restlos aufzu-
nehmen, ohne daß etwas in uns übrig bleibt. Einen Gegenstand so
anschauen, heißt ihn ästhetisch anschauen, und ist der erste Akt
des künstlerischen Schaffensprozesses. Der zweite ist, das Geschaute
auch andern schaubar zu machen. Dies gelingt, wenn das aus der An-
schauung entstandene Gefühl so stark wird, daß es nach Ausdruck
verlangt x). Vermöge der projektiven Einfühlung wird dann das
Objekt zum Träger dieses Gefühls gemacht und damit es dieser
Träger sein kann, werden gewisse Eigenschaften, die den Ausdruck
hindern, weggelassen, (Auswahl, Stilisierung) andre soweit gesteigert,
daß sie das Gefühl stark wiedergeben (Steigerung). Je naiver diese
Auswahl und Steigerung sich vollziehen, desto größer der Künstler,
denn sowie sich zwischen das Gefühl und die Äußerung des Gefühls
ein Willensakt einschleicht, erscheint uns das Kunstwerk „gewollt,
gedacht, gekünstelt." Werden aber Eigenschaften bei der Stilisierung
oder Steigerung gar zu sehr von der objektiven Wahrheit entfernt
so daß sie unorganisch wirken und die rezeptive Einfühlung durch
die Ungewöhnlich keit uns nur noch schwer oder gar nicht mehr mög-
lich ist, so sprechen wir von Manier. Wir nennen also ein
Kunstwerk schön wenn wir es als den restlosen und spon-
x) Es sei übrigens kurz darauf hingewiesen, daß es auch eine Art
von Malerei gibt, (die man die lyrische nennen könnte), welche nicht von
Anschauungen, sondern von Gefühlen ausgehend, sich zu diesen Gefühlen
die zur Darstellung fähigen Objekte sucht. Hierher dürften, um nur ein
Beispiel zu nennen, gewisse Darstellungen Gustav Klimts gehören, der oft
schwierig zu analysierenden Grenzfälle aber gibt es unzählig viele.
Kants Ästhetik und die neuere Biologie. 369
tanen, also nicht gewollten, also auch nicht zweckhaften Ausdruck
eines starken Gefühls empfinden.
Erst mit Hilfe dieses neuen Prinzipes der Ausdruckstätigkeit ge-
langen demnach wir zu sicheren Kriterien. Und indem wir an Stelle des
transzendentalen das biologische Subjekt treten lassen, das Gefühle
ausdrückt, erscheint uns Kants objektiv ganz richtige Beobachtung,
daß ein ästhetisches Urteil ,,auf jedermanns Beistimmung recht-
mäßigen Anspruch machen" kann, nicht nur eine logische Möglich-
keit, sondern eine greifbare Tatsache, die ihren Grund in dem ein-
deutigen und zwingenden Zusammenhang hat, den man zwischen
Gefühlszuständen und ihren Äußerungen, und zwar als etwas den nor-
malen Menschen Gemeinsames nachweisen kann. Aber auch der
Trieb des Menschen zur Kunst und zu ihrem wissenschaftlichen Ver-
ständnis erscheint nicht mehr als eine unerklärliche und aus vagen
Spekulationen als „höher" erklärte Luxustätigkeit, sondern als
organisch mit dem tiefsten Wesen des Menschen verbunden und not-
wendig aus ihm hervorgehend.
XX.
Zu Heraklit.
Von
Dr. Ernst Arndt, Oberlehrer in Essen.
Die Frage nach Heraklits erkenntnistheoretischem Standpunkt,
wenn davon überhaupt die Rede sein kann, schien mir befriedigend
beantwortet zu sein, und der Streit würde nun ruhen, dachte ich.
Daß die Meinungen noch immer auseinandergehen, beweist mir die
Rezension meiner Abhandlung über die Erkenntnistheorie bei den
Vorsokratikern l) durch Lortzing 2). Nun hat aber gar E. Loew eine
Ansicht vorgetragen und weiter zu verteidigen gesucht 3), die, falls
sie Beachtung fände, geeignet wäre, große Verwirrung anzurichten.
Ich betrachte es deshalb als meine Aufgabe, erstens meine Ansicht
noch einmal kurz darzulegen und zweitens die von Loew vorgetragene
Ansicht a limine abzuweisen.
x) E. Arndt, Das Verhältnis der Verstandeserkenntnis zur sinnlichen
in der vorsokratischen Philosophie. Abhandlungen zur Philosophie und ihrer
Geschichte, herausgegeben von B. Erdmann, Halle a. S. 1908, Niemeyer.
2) Berliner Phil. Wochenschrift 1911, S. 505 ff. Lortzing vermißt in
meiner Arbeit die Behandlung der Sophisten. Diese habe ich mit gutem Grunde
ausgeschlossen, weil ich sie nicht behandeln zu können glaubte, ohne auf die
Erkenntnistheorie Piatos einzugehen. Ich gestehe gern, daß ich trotz ein-
dringender Studien mir ein eigenes Urteil hierüber noch nicht erarbeitet habe.
Eine Fortsetzung der Arbeit würde dies zu bringen haben. Einstweilen wollte
ich, was ich gewonnen zu haben glaubte, nicht unbenutzt liegen lassen. Bei
der Anordnung war für mich maßgebend, daß ich die Eleaten nicht voneinander
trennen wollte; die Pythagoreer nahm ich voraus, damit sie nicht nachher
die fortlaufende Kette störten.
3) I. Dr. Emanuel Loew, Heraklit im Kampfe gegen den Logos, Jahres-
bericht des Sophiengymnasiums in Wien, 1908. IL Derselbe, Parmenides
und Heraklit im Wechselkampfe, Archiv für Geschichte der Philosophie,
Bd. 24, Heft 3, 343 ff. Der Einfachheit wegen zitiere ich I und IL
Zu Heraklit. 371
Daß ich „dem innersten Wesen der Heraklitisehen Philosophie
nicht gerecht geworden" sei (Lortzing S. 507), ist ein harter Vorwurf.
Ich glaube ihn zwar nicht ganz verdient zu haben, kann mir aber wohl
denken, wie Lortzing zu seinem Urteil gekommen ist. Da ich einer-
seits die Philosophie der Vorsokratiker nur von einem bestimmten
Gesichtspunkt aus betrachtete und anderseits für das Wichtigste
hielt, verkehrte Anschauungen zu bekämpfen, haben meine Aus-
führungen von selbst etwas Einseitiges und Negatives bekommen.
So kam es mir bei Heraklit darauf an, die Meinung zu widerlegen, daß
Heraklit reiner Rationalist sei, eine Meinung, die seit Sextus Em-
piricus sich nicht mehr hat ausrotten lassen. Ich habe den Philosophen
dabei nicht zum reinen Sensualisten machen, sondern zeigen wollen,
daß beide Bezeichnungen nicht passen, Heraklit vielmehr theoretisch
gar keine Stellung zu der Frage genommen hat, praktisch einen ver-
mittelnden Standpunkt einnimmt.
Ich habe nicht behauptet, daß Heraklit das Zeugnis der Sinne
für völlig ausreichend halte: der ordnende Verstand kann nicht
fehlen.
Ich weiß nicht recht, ob Lortzing selbst noch an der Behauptung
Zellers festhalten will, daß für Heraklit das Zeugnis der Sinne trüge-
risch sei. Wenn das der Fall ist, möchte ich die Worte sehen, auf die
er den Beweis dafür stützt und die ich, wie er sagt, beiseite lasse.
Meine Beweisführung, sagt Lortzing, werde schon dadurch hin-
fällig, daß sie auf einer falschen Prämisse beruhe. Es sei nicht wahr,
daß uns unsere Sinne das xdvra (>tl lehrten; sie zeigten uns viel-
mehr in der Natur neben rastloser Bewegung auch scheinbaren Still-
stand. Als Beispiel hierfür nimmt Lotzing die doppelte Bewegung
der Erde, die wir nicht mit unseren Augen, sondern nur mit dem Ver-
stände erkennen könnten. Daß wir die Bewegung der Erde nicht
mit den Augen sehen, sondern nur erschließen und berechnen können,
stimmt; aber das Beispiel ist sehr schlecht gewählt für das, was Lortzing
beweisen will. Es kommt ja doch gar nicht darauf an, ob unsere Sinne
uns in Wirklichkeit Stillstand vortäuschen, wo Bewegung vorhanden
ist. Es kommt vielmehr darauf an, ob für Heraklit Fälle vorlagen, in
denen er erklären mußte: hier konstatieren die Sinne Stillstand, der
Verstand erkennt Bewegung. Mit andern Worten, Lortzing mußte
ein Beispiel aus dem Gesichtskreis des Heraklit wählen, nicht die
Bewegung der Erde, die auch Heraklit bei aller Verstandesschärfe
372 Ernst Arndt,
nicht erkannt hat. Warum bleibt Lortzing nicht bei dem Beispiel,
das Heraklit selbst so hebt, bei dem Strom? An dem läßt sich so gut
im Sinne Heraklits, wie wir meinen, der Unterschied zwischen dem
richtigen und dem verkehrten Gebrauch der Sinne klarlegen. Wer
seine Sinne unvollkommen gebraucht, weil er zu ungebildet ist (das
ist doch ßaQßccQog in Fragment 107), der sagt: „Das ist derselbe
Fluß"; wer aber seine Sinne richtig gebraucht, unter Zuhilfenahme
des Verstandes natürlich, der erkennt, daß das Wasser beständig
weiterfließt.
Es ist mir gar nicht eingefallen, Heraklit zum exakten Natur-
forscher stempeln zu wollen. Im Gegenteil, ich weiß mich voll-
kommen einig mit Lortzing, wenn er sagt, daß Heraklit einer der
tiefsten Denker des Altertums gewesen sei. Es ist mir so selbst-
verständlich, daß die ewig gültigen Sätze der Heraklitischen Philo-
sophie nicht auf sinnlicher Beobachtung, sondern auf Gedanken-
arbeit beruhen, daß ich es gar nicht für nötig gehalten habe, das
besonders hervorzuheben. „Sein Gesetz eines ewigen Flusses", sagt
Lortzing, „konnte er nur durch eine geniale Intuition und einen kühnen
Analogieschluß gewinnen." Mit dem Wort „Intuition" wird, scheint
mir, gemeinhin etwas Mißbrauch getrieben. Daß Lortzing aber selbst
von einem Analogieschluß spricht, freut mich sehr. Wenn Heraklit
einen Analogieschluß machte, muß doch wohl etwas vorhanden ge-
wesen sein, wonach er schloß. Was kann das anderes sein, als Beob-
achtungen, die der Philosoph mit Hilfe der Sinne in der Natur ge-
macht hat! Denkt man sich nun den Philosophen zurückschließend
von dem ewig waltenden Weltgesetz, das er erkannt hat, auf die
Vorgänge in der Natur, so kann man sich, scheint mir, recht gut vor-
stellen, daß Heraklit der Menge zuruft: Macht nur die Augen und
die Ohren auf ; dann könnt ihr das waltende Gesetz auch in der Natur
erkennen. Mehr habe ich nicht behaupten wollen. Es liegt mir sehr
fern, dem Heraklit die Behauptung zuzuschreiben, durch Augen und
Ohren allein könne man inne werden, daß die verborgene Harmonie
besser sei als die sichtbare usw. (Lortzing S. 509).
Ich wiederhole also, daß es mir einzig und allein darauf ankam,
zu zeigen, daß Heraklit kein bewußter Verfechter der Verstandes-
erkenntnis im Gegensatze zu sinnlicher Erkenntnis ist. Daß Heraklit
das Zeugnis der Sinne für durchaus trügerisch erklärt, läßt sich meiner
Meinung nach nicht beweisen. Ebenso wenig läßt sich umgekehrt be-
Zu Heraklit. 373
haupten, daß er sinnlicher Beobachtimg irgend welchen Vorzug vor
begrifflichem Denken eingeräumt habe. Mit dieser Erklärung, meine
ich, müßte auch Lortzing zufrieden sein, und er würde vielleicht bei
einer zweiten Lektüre meiner Abhandlung erkennen, daß ich nicht
mehr behauptet habe. Heraklits Standpunkt geben immer noch
am besten die nun schon so oft zitierten Verse von Goethe an:
Den Sinnen hast du dann zu trauen,
Kein Falsches lassen sie dich schauen.
Wenn dein Verstand dich wach erhält.
Ich möchte also Herrn Professor Lortzing, dessen Urteil ich sehr
hoch schätze und dessen gewissenhafte Art der Rezension ich ver-
schiedentlich bewundert habe, allen Ernstes bitten, den Abschnitt
meiner Abhandlung, der über Heraklit handelt, noch einmal zu lesen;
dann wird er hoffentlich sehen, daß er zu scharf geurteilt hat.
Daß meine Auffassung von der Lehre des Pannenides (meine
,, absonderliehe Vermutung über das Verhältnis der 'Alrjd-sia zur
Ao^cc", Lortzing S. 507) auf Widerspruch stoßen würde, mußte
ich mir vorher sagen. Trotzdem werde ich mich auch durch erneute
Hinweise auf Stellen, die das Gegenteil zeigen sollen, nicht von der
Überzeugung abbringen lassen, daß Parmenides in der "Ah'ftua
nicht von Einzeldingen, sondern nur von der Gesamtheit des welt-
erfüllenden Stoffes spricht. Auch für meine Ausführungen über
Demokrit habe ich nicht auf ungeteilten Beifall gerechnet. AVer den
Stoff kennt, weiß, wie schwierig die Probleme hier sind, und solange
keine aUgemein befriedigende Lösung gefunden ist, wird sich jeder
damit begnügen müssen, so viel davon zu verstehen, wie er für möglich
hält.
Einen großen Schmerz aber hat mir Lortzing dadurch bereitet,
daß er mich in einem Atemzuge genannt hat mit E. Loew. Dessen
Ausführungen über das Verhältnis des Heraklit zu Parmenides
haben mich bei der ersten flüchtigen Durchsicht frappiert, frappiert
deswegen, weil es mir erstaunlich schien, daß man aus dem Heraklit
etwas so ganz anderes herauslesen könne. Beim näheren Zusehen
mußte aber an die Stelle des Staunens sofort die Erkenntnis treten,
daß man den Heraklit s o n i c h t verstehen könne. Eine Widerlegung
dieser neuen Interpretation scheint mir aus einem doppelten Grunde
geboten. Erstens hat der Verfasser, der eine Ansicht ernst halt vor-
trägt, ein Recht ernst genommen zu werden und den berechtigten
374 Ernst Arndt,
Wunsch, entweder Anerkennung zu finden oder widerlegt zu werden.
Zweitens muß verhütet werden, daß eine so unmögliche Auffassung
in den Köpfen derjenigen, die sich in die Probleme einarbeiten wollen,
Verwirrung anrichtet. Die Widerlegung, scheint mir, müßte recht
kurz sein können. Denn es ist nicht nötig, alle Einzelheiten der Beweis-
führung Loews zu widerlegen: zieht man die Fundamente weg, so
fällt das ganze überkünstliche Gebäude von selbst zusammen.
Loews Ansicht ist, nicht nur Parmenides hätte in bewußtem Gegen-
satz zu Heraklit geschrieben, sondern umgekehrt auch Heraklit den
Parmenides bekämpft. Der Logos also, von dem Heraklit spricht,
sei nicht ein Terminus des Heraklit, woran wohl bis jetzt niemand
gezweifelt hat, sondern überall, wo Heraklit den Ausdruck gebrauche,
habe er den von Parmenides geprägten Begriff im Auge und verwerfe
und bekämpfe ihn, wie er alles vernunftmäßige Denken gegenüber
der Naturbeobachtung verwerfe. Loew sucht zuerst die zeitliche
Möglichkeit eines solchen Wechselkampfes zu beweisen und dann
seine Ansicht durch Erklärung einer Anzahl von Stellen bei beiden
Philosophen zu stützen.
Die Frage der Chronologie zunächst kann ganz beiseite gelassen
werden. Man darf ruhig zugeben, daß Heraklit von der Philosophie
des Parmenides Kenntnis gehabt haben kann, als er seine Aphorismen
niederschrieb, ebenso wie Parmenides die Lehre des Heraklit gekannt
hat, was man jetzt wohl allgemein zugibt. Diese theoretische
Möglichkeit hilft aber gar nicht, solange die Tatsache nicht erwiesen
ist, daß sich Heraklit wirklich gegen Parmenides wendet. Die einzige
Frage, um die sich die ganze Sache dreht, ist einfach: Ist der Xoyoc,
von dem Heraklit spricht, sein eigener oder der des Parmenides?
Ferner beweist das Schweigen der Gewährsmänner (Plato, Aristoteles
usw.) über den loyog bei Heraklit gar nichts. Die Voraussetzung
dafür wäre, daß löyog für Heraklit ein sehr bedeutsames Wort
gewesen wäre. Das ist aber gar nicht der Fall; in Wirklichkeit ist
das Wort Xoyog, das in der späteren Philosophie allerdings eine große
Rolle gespielt hat, bei Heraklit ganz harmlos: es ist weiter nichts als
eine von den vielen Bezeichnungen für das große Weltgesetz, das
Heraklit entdeckt hat. Da es eine feste philosophische Terminologie
noch nicht gab, gebraucht Heraklit eine ganze Anzahl von Worten
ungefähr in dem gleichen Sinn: xoöfiog, vÖjwq 9-slog, noksfioq,
aQ/<orb], ttf/aQf/trr/, dväyxrj, sv to öorpor. (Vergl. meine
Zu Heraklit, 375
Abhandlung S. 13.) Man braucht sich also nicht darüber zu ent-
setzen, daß Plato und Aristoteles vom Xoyog des Heraklit nicht reden,
und von einer Logos lehre Heraklits zu sprechen wäre ganz ver-
kehrt. Logos ist gar kein Hauptbegriff für Heraklit, darin hat Loew
recht (1 7, vgl. II 347), und von einer Logos lehre kann man überhaupt
erst seit den Stoikern reden. Erst für die, die den Heraklit als einen
der Ihrigen in Anspruch nehmen, wird der Xoyog Heraklits wichtig.
Loews Ansicht steht nicht, aber fällt mit der richtigen Erklärung
des ersten Heraklitfragmentes. Daß seine Erklärung nicht richtig
sein kann, lehrt eigentlich ein Blick auf seine verschrobene Über-
setzung, neben die er selbst zum Vergleich die einfache und klare
Übersetzung von Diels setzt (1 16, II 355). Aber es ist auch nicht schwer,
seine Irrtümer einzeln aufzuzeigen. Unhaltbar eigentlich ist schon
seine Beurteilung des Textes. Auf Sextus Empiricus allerdings kann
man sich nicht verlassen; wo sein Text in Zitaten sich durch gewissen-
haftere Schriftsteller verbessern läßt, wird man es ohne Bedenken
tun. Ebenso berechtigt übrigens ist es, an den Berichten des Sextus
über die philosophischen Lehren der Vorzeit die schärfste Kritik
zu üben; in der Beziehung traut man ihm immer noch zu viel. Aber
eine unbefangene Beurteilung der Überlieferung bei Aristoteles lehrt,
daß das tov(V in den Text gehört. Das beweist für eine verständige
Rezension gerade die Verderbnis der Lesart in Ac (tov diovroc).
Dies ist ohne Verständnis oder Aufmerksamkeit abgeschrieben: in
den andern Handschriften, deren Überzahl gar kein Gewicht hat,
ist das d weggelassen, weil es nicht verstanden wurde. Wird das 6
gelesen, so ist die ganze Kombination von Loew unmöglich. Sie ist
aber noch aus einem andern schwerer wiegenden Grunde unmöglich.
Loew wollte (in seinem ersten Aufsatz) 6 loyog tov eövrog über-
setzen: der (abstrakte) Begriff des Seienden, das soll heißen: der
Begriff: das Seiende. Ich bestreite, daß dieser Gebrauch des Genetivs
im Griechischen möglich ist, und solange Loew nicht beweist, daß
man griechisch so sagen kann, muß ich seine Deutung für unmöglich
erklären. An diesem einen Irrtum aber scheitert Loews ganze Auf-
stellung. Es ist ihm nun offenbar bei diesem Griechisch selbst nicht
ganz wohl gewesen. Deshalb wählt er in der zweiten Abhandlung
eine andere Übertragung: Berechnung des Seienden. Jetzt
könnte es mit dem Genetiv seine Richtigkeit haben, wenn nun nur
die Übersetzung von Xoyog stimmte. Loew behauptet zwar, daß
376 Ernst Arndt,
„Berechnung" die Grundbedeutung von Xöyoc, sei; aber den Beweis
ist er schuldig geblieben, und die Behauptung wird nicht wahrer da-
durch, daß sie mehrmals wiederholt wird.
An andern Stellen tut Loew der griechischen Sprache noch mehr
Gewalt an, z. B. toZ Xöyov rov Iovtoq t-vvov in Fr. 2 (schon der
Text ist selbstgemacht!) läßt er abhängen von löla tpQovrjöiq, und
das Ganze soll dann heißen: „eine eigene Auffassung (ein eigenes
Denken) von dem Begriffe, das Seiende sei ein Gemeinsames" (I 25.).
Xoyog rov Iovtoq gvvov soll also heißen: der Begriff, das Seiende
sei ein Gemeinsames. Abgesehen davon, daß das kein Deutsch ist,
daß das deutsche Wort „Begriff" hier schon falsch gebraucht wird:
wann und wo wäre ein .solches Griechisch erhört gewesen? „Eine
paradox klingende Verbindung," sagt Loew, aber er traue sie dem
Heraklit wohl zu ! Wer das einem griechischen Schriftsteller zutraut,
dem sind auch alle die andern unmöglichen und unglaublichen Inter-
pretationen zuzutrauen, die Loew vorbringt. Daß sie alle einzeln
widerlegt werden, kann er nicht verlangen; herausgekommen ist
bei seinen Erklärungsversuchen ein Gemisch von einzelnen richtigen
Beobachtungen und eine Fülle von falschen Beobachtungen und
verkehrten Schlüssen. Richtig ist die Beobachtung, daß Parmenides
scharf unterscheidet zwischen XoyoQ und övofia (I 19 ff.). Xoyog ist,
wie er mit Recht sagt, ein bedeutungsvoller Begriff, ovo/ta ein wesen-
loser Name, wie wir es gar nicht anders erwarten nach dem allgemeinen
griechischen Sprachgebrauch. Nun sollen aber bei Heraklit diese
beiden Worte ungefähr den umgekehrten Sinn haben; das verlangt
Loews Theorie, der sich alles fügen soll, mag es wollen oder nicht. Zum
Beweis nimmt er ein Beispiel wie den Spruch des Heraklit: tcö
ovv to$co ovofta ßiog, toyov 6h {rdvazog. Das soll heißen
(I 22): „Des Bogens Name u n d W e s e n ist Leben, sein Wirken ist
Tod." Es braucht nicht gesagt zu werden, daß ovofia natürlich hier
genau wie bei Parmenides „Name" bedeutet, „wesenlose Bezeichnung",
während der Begriff „Wesen" in toyor hegt. Das will doch gerade
Heraklit sagen, daß ein Ding wie der Bogen ßiog heißt, während
sein Wirken „und W e s e n" d-dvarog ist. So schlägt sich hier
und sonst Loew mit der selbstgeschmiedeten Waffe. Ein Meisterstück
verkehrter Interpretation ist die Verbindung der beiden Heraklit-
fragmente 19 und 73 (II 358). Loew hat richtig gefunden, daß Parme-
nides einen Unterschied macht im Gebrauch von XoyoQ und Ijtoq
Zu Heraklit. 377
{XöyoQ zuverlässige Rede, exsa unzuverlässige Worte), und treffend
ist auch seine Bemerkung über den Umschlag im Metrum: „Die. zahl-
reichen Spondeen im ersten Teile malen den erhabenen Ernst des
loyog, die reinen Daktylen im zweiten Teile das geschwätzig Schnelle
der 8Jteau (II 357). Geradezu tragikomisch ist es nun aber zu
sehen, welchen Gebrauch Loew den Heraklit in seinem „Kampfe gegen
Parmenides" von denselben Worten machen läßt. Für ihn muß
Xsyetv bedeuten: „rationalistisch zum Ausdruck bringen", sbtslv:
,,Das Wahrgenommene zum konkreten Ausdruck bringen." Und
dann unternimmt es Loew, die beiden Bruchstücke, die gar nichts
miteinander zu tun haben, im Sinne Heraklits miteinander zu ver-
binden zu dem Ausspruch: ol jioiovvreg xai Xeyovreg ovx
axovdai IjiloravraL ovo' äjrttr. Wer gerne erfahren möchte,
was das heißen soll, möge die Sache bei Loew (II 358) nachlesen.
Für den einsichtigen Leser, denke ich, kann nach diesen Proben kein
Zweifel mehr bestehen, daß Loew auf einem Irrwege ist, und der Ver-
fasser selbst sollte sich dabei beruhigen, daß seine Theorie vom Kampfe
des Heraklit gegen den Logos klanglos zu Grabe getragen ist: der
Logos muß dem Heraklit einstweilen gelassen werden.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI, 3. .>-
Rezensionen.
P. Rocques: Hegel, Sa vie et ses oeuvres. (Collection historique des
grands philosopb.es.) Paris 1912, Alcan.
Ich betrachte es als einen großen Fortschritt und als ein Zeichen der Ver-
jüngung und des Wachstums des philosophischen Denkens in Deutschland,
daß man allmählich von der altüberkommenen Art der philosophiegeschicht-
lichen Darstellung abzugehen beginnt. Es hat ja eine Zeit gegeben, wo Philo-
sophie und Geschichte der Philosophie beinahe identische Begriffe waren.
Zahllose und überflüssige Monographien, Bücher und Kommentare und Kom-
mentare zu Kommentaren überschwemmten den philosophischen Bücher-
markt. Und man gewann fast den Eindruck, daß das philosophische Denken
sich erschöpft hätte, steril geworden sei, daß nichts neues, originelles mehr
entstehen könnte, daß alles über alles bereits gesagt worden sei.
Es ist nun glücklicherweise anders geworden. Die Philosophie ist erwacht
und die Geschichte ist zurückgedrängt worden. Man hängt sich nicht mehr
an die Rockschöße der Vorangegangenen. Und mit der Erneuerung der Probleme
ist auch die Stellungnahme zu den früheren Denkern eine andere, eine —
philosophischere geworden. Der Denker interessiert heute vor allem als
Problemsteller, nicht aber als Auflöser und Vollender. Die Methode der philo-
sophischen Geschichtsschreibung ist somit eine problemkritische. In der Ein-
leitung zur französischen Ausgabe des Leibnitz-Buches von Russell hat
Levy-Bruhl die beiden Arten der Systemdarstellung analysiert. Man kann
einen Denker als Kulturerscheinung hinnehmen, ihn allseitig beleuchten, die
Zusammenhänge und den geistigen Entwicklungsgang darstellen. Oder auch bloß
das Zentralproblem dieses Denkers herauslösen und ihm an den Leib rücken.
Wie Leibnitz gelebt und gehandelt hat, kann dem Philosophen eigentlich
ganz gleichgültig sein. Ja noch mehr, es ist gleichfalls so ziemlich belanglos,
was der eine oder der andere Philosoph über verschiedene Fragen gedacht hat.
Ob nun z- B. Locke oder Hume über das Geldwesen so oder anders gedacht
haben, das kümmert den reinen Problemforscher ganz und gar nicht. Für
ihn sind vor allem die Fragen wichtig und die Methoden der Beantwortung.
Ein derartiges Buch der reinen Kritik ist z. B. das obengenannte Werk von
Bertran Russell über Leibnitz. Und ich glaube, diese Form der Darstellung
ist die einzig berechtigte und wertvolle. Nur die Philosophie kann den Philo-
sophen interessieren. Alles andere gehört zur Kulturgeschichte . . .
Von diesem Standpunkte betrachtet erscheint mir das neue Hegel-Buch
des französischen Gelehrten P. Rocques in seiner Anlage und Methode
Rezensionen. 379
antiquiert, unmodern zu sein. Es ist gewiß ein sehr löbliches Unterfangen,
das französische Publikum in die Gedankenwelt Hegels einzuführen. Aber
dann müßte es eine Arbeit über die P h i 1 o s o p h i e , d. h. über die Grund-
probleme Hegels und keine systematische, mit biographischen Daten durch-
wirkte Darstellung sein. Mangelt es denn an Hegel-Biographien ? Hat denn
H a y m nicht bereits das beste auf diesem Gebiete geleistet ? Und wäre es
nicht vernünftiger gewesen, Kuno Fischer's Hegelband ins Französische zu
übertragen? Da hätten die französischen Leser wenigstens ein tiefsinniges,
herrlich geschriebenes Buch zu lesen bekommen. Wozu hat also Herr Rocques
sich die Mühe gegeben, ein dickes Buch zu schreiben, um nur die Biographie
Hegels, dessen Werdegang zu erzählen ? Und ist es wirklich dem modernen
Leser, der von so vielen Problemen geplagt ist, der so wenig Zeit hat, so wichtig,
die Geschichte der Berner Hauslehrerzeit Hegels oder dessen Bamberger
Journalistentätigkeit kennen zu lernen ? Ich meine nicht bloß den philosophischen
Fachmann. Für diesen ist das Buch von Rocques kaum bestimmt. Aber
gerade der Laie will in einem philosophischen Buch vor allem Philosophie
finden, d. h. Probleme, und zwar solche, die heute aktuell sind. Wenn er
an Hegel herantritt, so möchte er von diesem Denker erfahren, wie er sich
zum Problem des Wertes, der Intuition usw. verhält. Was aber Hegel in
Frankfurt über theologische und politische Fragen gedacht hat, das interessiert
ihn herzlich wenig. Und gerade das Wichtigste — die Herausschälung der
Grundprobleme Hegels fehlt bei Rocques. Die Frage, die jeder Hegelforscher
sich stellen muß, ist die von Benedetto C r o c e formulierte: „Was ist lebendig
und was ist tot in der Hegeischen Philosophie?" Gewiß, Hegel bildet keine
Ausnahme. Diese Frage sollte man eigentlich beim Studium jedes beliebigen
Philosophen vor Augen haben, denn nur dann hat die geschichtliche Forschung
auf dem Gebiete der Philosophie einen Erkenntniswert. Aber in gewisser Hin-
sicht nimmt Hegel doch eine aparte Stellung ein. Hegel ist unter allen Philo-
sophen derjenige, der am meisten Achtung vor dem Gewordenen hatte. Oder,
richtiger, am wenigsten Achtung vor dem Möglichen. Das Mögliche, Sein-
sollende, Seinkönnende war gewissermaßen immer ein Lieblingsgebiet der
Philosophie. Die Wirklichkeit umgestalten, korrigieren, umdeuten, das war
der Begriff des alten Idealismus. Und zum Teil auch des neuen. Aber nur —
zum Teil. Denn der moderne Idealismus ist bei allen Kritizismus und Phäno-
menalismus — wirklichkeitsgläubig. Für den älteren Idealisten bestand eine
Kluft zwischen dem „mundus sensibilis" und dem „intelligibilis". Er glaubte
an die Realität des Unsinnlicher, an die Existenz des Ideellen, Transzenden-
talen. Dem modernen Idealisten aber ist das Transzendente bloß eine Kon-
struktions-, eine (passez moi le mot) Verlegenheitsformel. Und diese Neu-
formulierung, Umstimmung des Idealismus haben wir Hegel zu verdanken.
Der französische Hegelforscher G. Noel hat einmal mit Recht erklärt, daß
derjenige, der Hegel widerlegen und überwinden will, ein echter Hegelianer sein
müsse. In der Tat, man kann mit Hegel kaum fertig werden, man kann ihn
nicht einmal richtig verstehen, wenn man nicht im gewissen Sinne selbst von
demselben Denkerstamme ist. Weder der reine Kritizist noch der Realist
können Hegel voll und ganz verstehen. Denn sie gehen von einem ganz vcr-
25
380 Rezensionen.
schieden gearteten Wirklichkeitsbegriff aus. Die Hegeische Wirklichkeit
ist nicht die „mögliche Erfahrung" (Kant), aber auch nicht das Ansichseiende
des Realisten. Sie ist beides und mehr als das. Sie ist das An- und das Für-
sich-Seiende, sie ist verschieden in verschiedenen Momenten, sie ist nie
Sein, nie statisch, sondern immer Potenz. Die Welt ist das Schwanken zwischen
Sein und Nicht-Sein, das Übergehen ineinander, das Hervorgehen auseinander.
Die Phänomenologie des Geistes ist die Entwicklung dieser Lehre. Wie das
menschliche Gesetz aus dem Göttlichen, das auf Erden geltende aus dem Unter-
irdischen, das bewußte aus dem Bewußtlosen hervorgeht und dann wieder den-
selben Weg durchmacht, aber in entgegengesetzter Richtung, dieses fort-
währende Auf- und Loslösen der Momente des Wirklichen, das Schaffen des
Neuen, die Berechtigung jedweden Geschehens — die Philosophie des uvco
xou xdru), das ist das Eigenartige Hegels, das uns ihm nähert und verwandt
macht. Und wohlgemerkt — Hegel sagt nicht: „öS 6g uvio xuC xdno fi,iaee
Dieses Wörtchen ,,fjia", diese Gleichsetzung bildet den Scheidepunkt
zwischen dem antiken und dem neuen Denken .... Daß Hegels Philosophie
eigentlich bloß Philosophie der Geschichte war, ist schon oft, und wenn ich
nicht irre, zuerst von Trendelenburg („Log. Unters.") bemerkt worden. Hegel
war ein „«/ftt/^fTo^ro'c" im platonischen Sinne. Er dachte unmathematisch
und das rein-abstrakte, an sich inhaltslose Denken war ihm fremd. Seine
abstraktesten Formeln sind bloß verschleierte geschichtliche Tatsachen, oder
sogar mystische, dichterische Reminiszenzen. So z. B. die Theorie von ,, Bruder
und Schwester", von „Schuld und Schicksal" (Antigone und Oedipus) usw.
Und auch in dieser Hinsicht, in der Akzentsetzung auf das geistig-geschicht-
liche Moment im Gegensatz zum mathematisch-naturwissenschaftlichen ist
Hegel gerade uns modernen Denkern verwandt . . .
Es kann hier nicht meine Aufgabe sein, all die angedeuteten Gedanken
des näheren zu verfolgen. Es sei nur darauf hingewiesen, daß wir noch immer
kein Hegel-Buch, das den Forderungen der Zeit entsprechen würde, besitzen.
Rocques' Arbeit ist von diesem Gesichtspunkte aus gänzlich unzulänglich.
Eine Auseinandersetzung mit Hegel aber könnte für uns von derselben Bedeutung
werden, wie die Auseinandersetzung mit Kant für die vorangegangene Ge-
neration. Dr. A. Coralnik (Rom).
H. B i e b e r: Johann Adolf Schlegels poetische Theorie in ihrem historischen
Zusammenhange untersucht. (Palästra CXIV.) Berlin 1912. M 5,50.
Unter diesem anspruchslosen Titel werden tief eindringende Unter-
suchungen zur Geschichte der Ästhetik geliefert, die die bisherige Auffassung
der Nachahmungstheorie in wesentlichen Punkten berichtigen. Wenn der
Verfasser meint, daß im Verlaufe der Untersuchung die Gestalt des „Helden"
stark überschattet werde, so werden wir ihm das ohne Bedauern einräumen.
Es hat sich eben herausgestellt, daß in der Geschichte der Ästhetik eine Helden-
verehrung notwendig unfruchtbar ist, und wir haben uns vielmehr dessen
zu freuen, daß B. statt dessen mit dem „historischen Zusammenhange" Ernst
gemacht hat. Da in den ästhetischen Theorien künstlerische Erlebnisse und
Individualpsychologie hinter den bildungsgeschichtlichen und schulmäßigen
Rezensionen. 381
Voraussetzungen der einzelnen Generationen fast völlig zurückzutreten pflegen,
so war vor allem eine Vorgeschichte der Begriffe und Probleme zu geben,
um sozusagen eine ästhetische Vulgata des Schlegelschen Kreises zu fixieren.
Das landesübliche rohe Referat hätte hier um so weniger ausgereicht, als die
Fragestellung des Verf. durchaus erst der modernen Forschung angehört und
also aus einer bloßen „Musterung" der Quellen sich nicht ergeben hätte.
Eine umfassende, in dieser Ausdehnung einem jungen Gelehrten wohl selten
erreichbare Belesenheit in den Quellen, wie in der internationalen gelehrten
Literatur, hat den Verf. doch nirgends dazu verführt, von seiner Problem-
stellung abzuirren. An dem Begriff der Nachahmung zeigt sich, gerade weil
er noch von den Heutigen gebraucht wird, wie sinnlos es ist, von der modernen
Bedeutung eines Terminus auszugehen und wie fruchtbar dagegen, nach seiner
Funktion zu fragen. Der auch formal geschlossene Nachweis, daß die Nach-
ahmungslehre nicht Naturwahrheit zu fordern braucht, sondern gelegentlich
eine Entwicklung in ihr Gegenteil nehmen kann (S. 84), konnte nur einer wahr-
haft hermeneutischen Forschung gelingen, die es sich nicht an den einzelnen
literarischen Formulierungen genug sein läßt, sondern darüber hinaus ein
sachliches Verhältnis zu den Problemen hat, die sich in diesen Formulierungen
oft mehr verstecken als offenbaren. Meyerotto.
Rezensionen über schöne Literatur von Schelling und Caroline in der
Neuen Jenaischen Literatur-Zeitung von Erich Frank in Heidelberg.
— Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Philosophisch-historische Klasse. Jahrg. 1912, 1. Abhandlung. —
Heidelberg 1912, Carl Winters Universitätsbuchhandlung.
Eine Reihe von Rezensionen, die in den Jahren 1805—1809 in der Jenaischen
Literatur-Zeitung erschienen sind, weist Erich Frank als Arbeiten Schellings,
Carolinens und beider nach. Leitzmann hat den Verfasser auf die alten Meß-
kataloge der Jenaischen Universitätsbibliothek aufmerksam gemacht, ,,nach
denen von der Redaktion die Verteilung der eben erschienenen Bücher an
die verschiedenen Rezensenten vorgenommen wurde. Jedem Buche ist
da die Nummer des Rezensenten mit um so größerer Gewissen-
haftigkeit beigeschrieben, als nach diesen Aufzeichnungen offenbar die Ver-
rechnungen erfolgten. Ein Rezensentenverzeichnis löst die Bedeutung dieser
Nummern auf: so ist ... . Schelling (aber) mit 409 gemeint." Diese Entdeckung
dürfte demnach dem Verfasser nicht allzu viel Mühe gekostet haben. (S. 7.)
,,Zu diesen Quellen . . . kommen noch die ungedruckten Briefe Eichstädts an
Schelling, in Schellings Nachlaß, deren Benützung mir in dankenswerter Weise
gestattet wurde. Das Studium aller dieser Akten an Ort und Stelle ist mir
durch eine Unterstützung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften
ermöglicht worden." Und was ist nun schließlich bei all der Hilfe, Unter-
stützung herausgekommen? Parturiunt montes . . . . ! Wir fragen: was hat
der Verfasser dafür geboten, daß Leitzmann die Tatsache seiner Ent-
deckung, die Akademie die Belege dafür ihm an die Hand gegeben? Er hat
die Rezensionen gesondert, einen Teil Schelling, einen Carolinen und einen
ihrer gemeinsamen Zusammenarbeit zugeschrieben. Eichstädts ungedruckte
382 Rezensionen.
Briefe an Goethe geben hierzu zumeist den äußeren Beweis her und es ist
anzunehmen, daß die Verteilungen Franks zutreffen. Die innere Beweisführung,
seine Stilkritik dagegen ist von äußerst allgemeiner, leichter Art, obschon hierher
der natürliche Schwerpunkt seiner kommentatorischen Arbeit hätte verlegt
werden müssen. „Daß die Rezension über den Musenalmanach
von Caroline und nicht von Schelling verfaßt ist, verrät sich durch das wenig
korrekte Gefüge schon der ersten Sätze, wie in dem ganzen, die Gedanken
reizvoll und ungezwungen wie Blumen zu einem Kranze windenden Stil."
(S. 50.) Das unkorrekte Gefüge der Sätze in Caroline ns Rezension stimmt aller-
dings vielfach, aber was Frank mit der „gewundenen" Bezeichnung von Caro-
linens blumenhaften Stil meint, ist schwer abzusehen, angesichts eines ein-
leitenden Satzes wie dieser (S. 24): „Wenn es möglich ist, irgend etwas an
sich Gutes und Vortreffliches auf eine Zeitlang zugrunde zu richten: so ge-
schieht es nicht durch die Schreier und Tadler, welche, wenn ihnen nicht die
Inquisition unter die Arme greift, noch niemals nur so viel vermocht haben,
sondern denjenigen gelingt es, welche von der bloßen Außenseite des Guten
und Vortefflichen ergriffen, sich der Worte, der Form, eigentlich der Larve
einiger Töne, die mit wirklichen Ideen zusammenhangen, und einer Melodie
die einen innerlichen Zusammenhang nachahmt, bemächtigen, und ein ganz
geringes Talent, ein unbedeutendes Streben, das sie auf dem gemeinsten Wege
geltend machen könnten, auf einem ungemeinen ins Publikum zu bringen
suchen." Du meine Güte — welch ein Blumenkranz! Auch was die wirklich
schöne und geistvolle Rezension Nr. 35 anbelangt, hat Frank (S. 56) die Teilung
recht obenhin vorgenommen. Die abstraktere Redeweise der Einleitung und des
ersten Teiles deutet natürlich auf Schelling, „während dafür das folgende deut-
lich Carolinens Stil zeigt". Ja und nein, jedenfalls heißt das den Problemen
aus dem Wege gehen, statt sie zu lösen. Das überrascht umsomehr, da sich in
dieser Rezension die Notwendigkeit einer tieferen stilpsychologischen Unter-
suchung geradezu aufdrängt, da sowohl im Schellingschen Teil wie in dem
Carolinens der Allerweltstil in recht bezeichnender Verschiedenheit beschrieben
wird:
S. 38. Schelling: „Der erste schreibt fließend, wie man es nennt, mit
einer Art von Klarheit und Fülle des gemeinen Ausdrucks."
Dagegen S. 41. Caroline: „Der Vortrag ist gerade so belebt und korrekt,
als man ihn jetzt bei der allgemeinen Verbreitung der schönen Wissenschaften
auch von jedem halbweg gewandten Handelsdiener erwarten könnte."
Ich will darüber nicht rechten, ob hier abstrakte und sinnliche Redeweise
sich gegenüberstehen oder Wucht und Gewicht erlebten Sprachgehalts und
ohnmächtige Rezensentenart, aber der Gegenüberstellung als solcher sollte
mai sich doch gewärtigen. Es ist hier nicht der Ort, zu unternehmen, was der
Verfasser versäumt hat. Auch der selbstverständliche Assimilationsprozeß des
Stils bei Eheleuten, bei allen, auch bei Nichtschreibenden, ließ den Verfasser
kalt. Man vermißt die Umgrenzung des Zwischengebietes, auf welchem die
gegenseitige Einwirkung zweifelsohne vor sich ging.
Und man vermißt schließlich die synthetische Anschauung des Gesamt-
ergebnisses. Wo und wie fügt sich das neue Material dem bisherigen ein?
Rezensionen. 383
Was fangen wir nun an mit den Ziegelsteinen? Welche Lücke kann damit
ausgefüllt werden?
Kann die Erwähnung dessen, daß Frank die Angaben betreffs der ver-
schollenen Gegenstände der Schelling-Caroline-Rezensionen mit großem Fleiß
sauber herausgearbeitet hat, zur Ausgleichung der \ielen unbefriedigten
Forderungen beitragen, so sei sie nicht unterlassen.
Dr. Richard Meszleny (Genf).
Hegel-Archiv, herausgeg. von Georg Lasso n, Bd. I, Heft 1,
Hegels Entwürfe zur Enzyklopädie und Propädeutik nach den Hand-
schriften der Harvard-Universität, mit einer Handschriften-Probe.
Herausgegeben von Dr. J. L ö w e n b e r g. Leipzig. Verlag von
Felix Meiner. 1912.
Anläßlich seiner Rezension der Hegel-Monographie von Kuno Fischer
in der Deutschen Literatur-Zeitung 1900, Nr. 1 hat Dilthey auf den Schatz der
Hegeischen Handschriften in der Berliner Kgl. Bibliothek, die von jenem
Historiker unberücksichtigt geblieben sind, wieder hingewiesen und deren Be-
deutung für die ontogenetische Erklärung des „Geheimnisses" des Hegeischen
Denkens angedeutet. Dadurch ist eine Fülle von Problemen, zunächst aber
praktischer Aufgaben eröffnet worden. Im Jahre 1907 veröffentlichte H. Nohl die
ingeniös von ihm zusammengestellten „Hegels theologischen Jugendschriften".
Der Hinweis Diltheys regte überdies die Suche nach anderweitig verbliebenen
Handschriften Hegels an. Als eine schöne Frucht sind von Georg Lasson
2 Hefte unter dem Titel: „Beiträge zur Hegel-Forschung" herausgegeben
worden. Das Material wuchs überraschend. Nun ist analog den „Kant-Studien"
das „Hegel-Archiv" ins Leben gerufen worden, um einen Sammelpunkt der
auf Hegel bezüglichen Veröffentlichungen zu bilden. Es sind zunächst all-
jährlich 2 Hefte geplant. Das erschienene erste Heft bringt uns den Abdruck
einiger Handschriften — aus der Harvard-Universität. Habent sua fata — auch
Handschriften! Im Jahre 1895 gab Dr. A. Genthe im Goethe-Jahrbuch S. 77
die freudige Kunde, daß in dem neu aufgefundenen Nachlaß von Rosenkranz
eine Anzahl von Hegel-Handschriften enthalten ist. Über deren Schicksale
erzählt uns kurz H. Nohl im erwähnten Buch (Vorr. S. VI) folgendes. Sie sind
später in den Besitz jenes Herrn übergegangen, der sie 1905 nach St. Francisco
wo er ständig wohnte, übergeführt hat. Im nächsten Jahre suchte die Stadt
ein furchtbares Erdbeben heim. Ein Telegramm meldete, daß er alles verloren
hatte. Briefe, die an ihn von verschiedenen Seiten gerichtet worden sind, blieben
lange Zeit ohne Antwort. Nun erfahren wir plötzlich von Dr. J. Löwenberg
ans Cambridge in Massachusets, daß jene Handschriften Ende 1911 in den
Besitz der Harvard-Universität gekommen sind. Es sollen wissenschaftliche
Gutachten, Briefentwürfe, Aphorismen, Universitätsakten, Vorlesungs-
vorbereitungen und Exzepte sein. Es wäre höchst wünschenswert zu erfahren,
oh die Harvard-Universität auch alle Handschriften von Dr. Genthe erworben
hat und eventuell wo der Rest verblieben ist, denn seinerzeit hörte ich von
großen Kisten s| rechen, die er von der ihm verwandten Enkelin Hegels er-
halten haben soll, und es scheint, daß die bekannt gewordene Sammlung lange
384 Rezensionen.
nicht so umfangreich ist. Die Geheimtuerei, welche diese Vorgänge immer
noch umspielt, ist eine Versündigung an der Geschichte der Philosophie. Als
ihr einziger berechtigter Grund ist nur die allzumenschliche Eitelkeit an-
zuerkennen, doch kann ihr in der Zeit der Presse leicht Genüge geschehen.
Es darf bei den zivilisierten Völkern das Schicksal der Aristotelischen Hand-
schriften sich nicht wiederholen. Es genügt nicht, daß wenige Personen von
so wichtigen Papieren, die im Privatbesitz verbleiben, Kenntnis behalten.
Das Hegel-Archiv ist nun dazu berufen und legt selbstverständlich die Pflicht
auf, allerlei Kunde über Hegel-Dokumente zur Veröffentlichung zu bringen.
Aus der Sammlung der Harvard-Universität bringt nun Dr. J. Löwenberg
tue erste Portion, und zwar den Entwurf zur Enzyklopädie vom Jahre 1811
und den undatierten Entwurf zur philosophischen Propädeutik. In beiden
Stücken sind von ihm „Fragmente und Notizen" abgetrennt worden, und wie
sie im Original aussehen zeigt uns das beigegebene Faksimile einer Seite.
Der Herausgeber bemerkt: „Obwohl manches mit unserem Text in engem
Zusammenhang steht, wollten wir es doch nicht aufnehmen, um Hegels Ge-
dankengang nicht zu unterbrechen" (S. 45 Anm.). Seine Tendenz war, einen
hübsch glatten Text darzubieten. Das wäre gut, wenn es sich um ein neues
Fundamentalwerk handeln würde, aber auch dann nur einigermaßen gut.
Da es aber Materialien sind, so müßte der Herausgeber im Auge behalten,
daß der Abdruck dem Forscher, wenn nicht die Autopsie ersetzen, so doch
nicht bloß in bezug auf Leserlichkeit entgegenzuarbeiten hat. Es wären also
verschiedene Druckarten und Druckanordnungen mit allerlei Anmerkungen
vonnöten. Mit letzteren ist der Herausgeber überaus sparsam. Seine sonstigen
Angaben sind nicht übersichtlich genug durch Druck herausgehoben, denn er
gebraucht hierfür Zeichen, die inmitten von andern Zeichen nicht leicht zu
behalten und mit letzteren verwechselt werden können; so z. B. auf S. 51
unten kann ,,a)" leicht als Anmerkung des Herausgebers genommen werden,
während es zum Text gehört.
Die Einleitung des Herausgebers (Dr. Löwenberg), die eigentlich keine
Beziehung zu den veröffentlichten Schriften hat, enthält eine originelle Ansicht
über Hegels Entwicklungsgang. Die rasch aufeinander folgenden Phasen des
jungen Hegel: die aufklärerisch-kantische, die mystisch-pantheistische und die
synthetisch-reflexive reizen den Kenner der leider immer noch nicht vollständig
herausgegebenen Handschriften der Berliner Sammlung zur Erklärung. In
seiner Studie ,,Die Jugendgeschichte Hegels" hat Dilthey die kühne Hypothese
aufgestellt, daß bei allen schwerwiegenden Einflüssen ein mysteriöses ..meta-
physisches Erlebnis" Hegels angenommen werden muß, welches ihm die
Struktur und die Funktion des Universums offenbarte. Diese Vermutung weist
Dr. Löwenberg ab, indem er meint, daß Hegels Denkart einem persönlichen
(jiemütserlebnis mystischer Art allezeit unzugänglich bleiben mußte. Und er
bietet eine neue Hypothese: „Hegel ist der Experimentaldenker par excellence;
die Grundtendenz seiner Methode, die darin besteht, ein jedes Ding — sei es
ein religiöser Prozeß, eine geschichtliche Begebenheit, oder ein logischer Begriff
— seinen eigenen Kern enthüllen, gleichsam ihn selbst herausschälen zu lassen,
liegt den Jugendschriften, der Phänomenologie, der Logik und allen seinen
Rezensionen.
385
Werken zugrunde. Wie der Physiker oder Chemiker an seinen Gegenstand
sachlich herantritt und sich ihm gegenüber rein beobachtend verhält, so ver-
fährt Hegel mit seinen Gegenständen: von Anfang an sucht er ihnen selbst ihre
Struktur und Funktion auf experimentalem Wege abzugewinnen . . . Jedenfalls
hat es Hegel sich nicht entgehen lassen, mit verschiedenen Denkungsweisen
Versuche anzustellen, bis er sich zu seinem eigenen Schlußexperiment durch-
gerungen hatte" (XIX). „Aber hier wie dort ist es derselbe rationalistische
Hegel, der sein Experiment scharf beobachtet, sich für den Vorgang inter-
essiert und dem Resultat vorurteilsfrei entgegensieht." (XVIII). „Den ersten
Systementwurf muß Hegel wohl als ein gelungenstes Experiment betrachtet
haben...." (XIX). Diese allerdings geistreiche Hypothese, welche offenbar
Hegel zum Träger des geistreichen Ichs der Romantik macht, wäre begründet,
wenn die verschiedenen Denkungsweisen immer auf denselben Gegenstand
sich beziehen würden, tatsächlich aber betreffen sie ganz verschiedene Gebiete.
Wenn Dr. Löwenberg behauptet, daß es sich Hegel stets um „die Bewegtheit
des Lebens und die Fülle der Erfahrung" handelt, so ist diese Idee eine nach-
trägliche Abstraktion, die zur Charakteristik Hegels im ganzen gut sein mag,
für die Erklärung der Einzelgestaltungen seines Denkens aber und deren Ent-
wicklung ebensowenig fruchtbar sein kann, wie Hegels Absolutes für die Er-
scheinungen. Diese Unfruchtbarkeit würde sich herausstellen, wollte man
diese Hypothese durchführen und auf Grund dieser Idee den Entwicklungsgang
Hegels pragmatisch darstellen. Selbst der genialste Erfinder des geistreich
spielenden oder „experimentierenden" Ichs Friedrich Schlegel war kein „geist-
reiches Ich", sondern war an ein Gesetz seiner folgerichtigen Entwicklung
gebunden. Ein solches bietet uns die Theorie von Dr. Löwenberg nicht. Immer-
hin scheint der Irrtum seiner Theorie von der Art jener zu sein, die sich eben
fruchtbar erweisen. J. H a 1 p e r n.
Hermann Lotze, Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen
und vom Erkennen. Mit Übersetzung des Aufsatzes : Philosophy in the
last forty years, einem Namen- und Sachregister. Herausgegeben und
eingeleitet von Georg Misch. Philos. Bibl. Bd. 141. Leipzig,
Verlag von Felix Meiner 1912. CXXVIu. 632 S.
Zur Bestimmung irgendeiner geschichtlichen Erscheinung ist das Wort
„Übergang" schlechterdings unbrauchbar, weil es eben für jede gelten muß.
Und doch ist es nicht leicht, darauf zu verzichten, Lotze als einen Übergangs-
philosophen zu 'bezeichnen. Mit einem Fuß steckt er in der Blütezeit der
deutschen spekulativen Philosophie, die zur Neige ging, mit dem andern in der
neuen Epoche der aufblühenden empirischen Naturwissenschaft und der
Rückwendung zu Kant. So ragt seine Gestalt in der Zeit des angeblichen
schroffen Frontwechsels der Philosophie oder gar ihres Verfalls, wie man die
mittleren Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts immer noch darzustellen pflegt,
als eines großen Versöhners hervor. Er hat keine klassisch einheitliche Stellung
auszubilden vermocht und er hat sich dagegen gesträubt, weil er ein System-
gegner war, und da er ein ganz klarer Kopf war, so ist er ein Synkretist ge-
worden. Der Systembildungstriob befand sich zu seiner Zeit in einer schiefen
386 Rezensionen.
Lage: der Tradition entsprossen, welche in der Geisteswissenschaft ihre natür-
liche Grundlage hatte, sah er sich vor der aufblühenden Naturwissenschaft,
welcher gegenüber die Geisteswissenschaft noch lange den Schritt nicht ge-
halten hat. In dieser Situation lebten noch andere Lotze geistesverwandte
Denker, wie Fechner, Liebmann, Lange, Zeller, und wir können diese Kette
bis zur Gegenwart verfolgen, die Kette der an die Spekulation Glaubenden und
zugleich empirischer Forscher, der Systematiker ohne System, der Doginatiker
ohne Dogma, der Bekenner des absolut Relativen oder des relativ Absoluten,
der philosophischen Gralsritter. Ans Ende dieser Kette — nicht der Zeit nach,
denn es kommen immer noch viele, die ihm nachstehen — gehört Dilthey,
welcher ganz auf dem Boden der ausgedehntsten empirischen Forschung stehend
den Glauben an jene Spekulation gänzlich verloren hat, und nur ein warmes
Interesse für sie behielt, welchem sie sich als Material der Forschung klar ge-
boten hat, um viel gegenständlicher und unbefangener von ihm verstanden
und bearbeitet zu werden, als es von Julian Schmidt und Haym geschehen ist
und von den neueren Neuromantikern noch geschieht.
Nun tritt uns ein Schüler Diltheys mit der Studie über Lotze entgegen.
Auf etwa 80 Seiten erhalten wir eine gedrängte, tief eindringende Analyse des
Lotzeschen Schaffens ganz in der Art Diltheys. Mit feinem Spürsinn taucht
Misch unter die Oberfläche des Gegebenen und Fertigen, um die Willens-
tendenzen Lotzes aufzudecken. Er führt uns gleichsam in dessen innerste
Werkstätte hinein, indem er die Lebensarbeit des Meisters in lebendiger Re-
produktion uns vorführt, um sie nacherleben zu lassen. Das geistige Weben
des Synkretisten wird uns vollkommen durchsichtig; wir ersehen, daß er
sozusagen der roheste Synkretist von allen Zeitgenossen war, denn ihm blieben
noch der neue Wein und die alten vollen Schläuche noch ziemlich auseinander.
Mit Recht nimmt Misch seinen Ausgang von der Ontologie Lotzes, um die
tiefsten Stützpunkte darzulegen, und so kann er fortgehend überall zwei
Ansätze, zwei Wege, und deren äußerliche Vermengung und Verpflechtung
im Philosophieren Lotzes klarstellen. In dieser Analyse übt er immanente
Kritik, welche erweist, woran das Bauen des Philosophen scheiterte, woran
es scheitern mußte, wie wir es heute durchaus feststellen können und als
Historiker feststellen müssen, nachdem uns Dilthey diese Methode vorgeübt
und zum Bestand der historischen Wissenschaft gemacht hat. Es ist nur zu
bemerken, daß die Lektüre der Studie von Misch trotz ihrer Klarheit durchaus
nicht leicht ist. Dies liegt daran, daß er, auch darin Dilthey nachbildend,
durchweg mit den Ausdrücken der spekulativen Philosophie 'operiert. Nicht
als ob er dadurch rückfällig geworden wäre, denn er verhält sich entschieden
skeptisch gegenüber der Spekulation und weiß vom empirisch wissenschaftlichen
Standpunkt aus die historische Distanz von seinem Objekt zu behalten. Aber
er geht in die Versuchung und macht es dem Leser schwer.
Lotze behält immer noch seine Bedeutung, und zwar nicht bloß deshalb,
weil wir in der „Übergangszeit" leben, — ist doch die Tradition der nach-
kantischen Systeme durchaus nicht erloschen, im Gegenteil, sie scheint mit
erneuter Kraft gegenwärtig aufzulodern — sondern weil unsere empirische
Wissenschaft durch Arbeitsteilung sich zersplittert, und ihr kann Lotze mit
Rezensionen.
387
seinem von der spekulativen Philosophie geerbten, weit ausschauenden, die
Horizonte der Philosophie umfassenden Blick zum Wegweiser sein. An seiner
Problemstellung kann man sich heutzutage sehr wohl orientieren und in ihr
positive Anregung finden. In voller Größe finden wir bei ihm eine Ausbildung
der modernsten Ideen der Werttheorie, den Wertbegriff der Wahrheit, die
beinahe pragmatistischeAuffassung der Teleologie, den Relations- und Geltungs-
gedanken, die Unterscheidung von Akt und Inhalt und vieles andere, und
darauf weist der Herausgeber ausdrücklich hin. So steht seine Logik, die ein
Teil des Systems ist und nur im Zusammenhang dieses Systems völlig begreiflich
ist. neben den großen Werken von Sigwart, Erdmann und Stanley Jevons
monumental da. Es ist daher ein Verdienst seitens des Herausgebers wie des
Verlegers, das Werk zugänglicher in jeder Bedeutung des Wortes gemacht
zu haben. Der Neudruck der Metaphysik, die den zweiten Teil des Systems
bildet, wird angekündigt. Der Abdruck der Logik ist nach der zweiten Original-
ausgabe geschehen und hat deren Seitenzahlen beibehalten. Die beigegebene
historische Skizze ist sehr interessant.
J. Halpern.
Dr. phil. Hans Baer: Beobachtungen über das Verhältnis von Herders
Kalligone zu Kants Kritik der Urteilskraft. Heidelberg 1907. Kar]
Rößler.
Das Verhältnis Herders zu Kant gehört zu den interessantesten Kapiteln
in der Geschichte der neueren Philosophie. Herders dichterischer Pantheismus
konnte sich niemals mit Kants kalt zergliedernder und tief grabender Manier
verständigen. Die Kritik, die Kant an Herders Geschichtsphilosophie übte,
wurde von diesem als Arbeit eines Schulmeisters angesehen. Ebensowenig
konnte sich Herder, der überall den Einen Geist suchte, mit Kants begrifflicher
Sonderung der einzelnen Gebiete des Geistes versöhnen und kritisierte in
diesem Sinne in seiner Kalligone Kants Ästhetik. — Die vorliegende Schrift
behandelt in erschöpfender Weise das Verhältnis von Herders Ästhetik zu
Kants Kritik der Urteilskraft. Der Verfasser zeigt in interessanter Gegenüber-
stellung der Meinungen beider in treffender Weise, wie sehr Herder Kants
Bestreben nach einer transzendentalen Rechtfertigung des Geschmacksurteils
mißverstanden hat, wie berechtigt aber oft seine auf empirischer Grundlage
beruhende Kritik der Kantschen Ästhetik ist. Zum Schlüsse gibt der Verf.
in einer Skizze eine kurze Darstellung seiner eigenen Auffassung in bezug auf
die Einteilung der Künste. Dr. H. Asehkenasy.
Dr. Paul P e n t z i g: Die Ethik Gassendis und ihre Quellen. Bonn, Verlag
von Peter Hanstein. (Renaissance und Philosophie. Beiträge zur be-
schichte der Philosophie. Hsg. von Paul Dyroff. Zweites Heft.) 191(1.
Nach einer ausführlichen Darstellung der Ethik Gassendis, die sich an
den Wortlaut der Schriften < lassendis selbsl hält, verteidigt der Verf. ( lassend]
gegen den Vorwurf, daß er aus äußeren •■runden Zugeständnisse an die Kirche
gemachl habe. In einer gründlichen Quellenuntersuchung wird dann der Ein-
fluß dargelegt, den neben Bpikur auch Aristoteles und die Scholastiker auf
Gassendi geübt haben. Dr. H. Asehkenasy.
388 Rezensionen.
WalterPötschel: Jacob Sigismund Beck und Kant. Doctordissertation
Breslau 1910.
Die Schwierigkeiten, die die Kantsche Lehre vom Ding an sich, seine
Trennung von Sinnlichkeit und Verstand und sein Festhalten an der formalen
Logik boten, bildeten den Ausgangspunkt für die Philosophie Reinholds und
Becks. Beide suchten die Erkenntnis aus einem einheitlichen Prinzip zu ver-
stehen. Die vorliegende Dissertation behandelt in gründlicher Weise die Lehre
Becks und seine Bedeutung in der nachkantischen Philosophie. Auch das
Verhältnis der neuen Marburger Schule zu den damaligen Versuchen, die
Mathematik zum Grundstein einer Erkenntnistheorie zu nehmen, wird ein-
gehend gewürdigt. Dr. H. Aschkenas y.
More, Paul Elma: Nietzsche.
Zwischen Bewunderung und Feindschaft die Mitte haltend, will dieses
kleine Büchlein eine würdigende Charakteristik des Mannes und seines Werkes
geben. In vielleicht zu knappen Umrissen schildert es Leben, Entwicklung
und Lehre, dringt selten tiefer unter die Oberfläche und ist im allgemeinen
gefällig und ansprechend geschrieben. Hie und da überrascht es durch feine
Beobachtungen und geistreiche Wendungen. Eigenartig berührt der Ver-
such, Nietzsches egozentrische Lehre aus der wachsenden Vertiefung des
Problems des Egoismus usw. besonders durch die englischen und französischen
Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts abzuleiten. Ich halte diesen Ver-
such auch in Einzelheiten für mißglückt. Nietzsches Lehre ist nicht so sehr
eine Reaktionserscheinung eines kräftigen Naturalismus gegenüber der
wachsenden Einwirkung der Humanitätsideen sympathisierender und senti-
mentalisierender Art, sondern erklärt sich weit eher durch die Vorherrschaft
voluntaristischer Ideengänge. Der Verfasser selber erkennt, daß „der Natu-
ralismus sich im Kampfe mit sich selbst befindet" und sich abmüht, dem
selbst statuierten Verhängnis zu entgehen. Auf jeden Fall ist auch diese
Charakteristik ein Beweis, daß Nietzsche „historisch" zu werden beginnt.
Dr. Bruno Jordan, Hannover.
Set h, James: English Philosophers and schools of Philosophy.
Der bekannte gelehrte Verfasser will in diesem Buche, das unter die
von Oliphant Smeaton herausgegebenen „Channels of English Litterature"
aufgenommen ist, einen Überblick geben über die hauptsächlichen Momente
der Entwicklung der englischen Philosophie, und zwar in einer Darstellung
der führenden Denker in ihrer gegenseitigen Beziehung und in ihrem Ver-
hältnis zur allgemeinen Bewegung der philosophischen Gedankenarbeit.
Ihm liegt also erschöpfende Vollständigkeit ebenso fern als eine gelehrte Be-
handlung; umgekehrt rückt er die lebendige Gedankenarbeit der einzelnen
Denker in den Vordergrund und stellt die logische Abfolge der Ideen inner-
halb der Gesamtentwicklung mehr zurück und behandelt überdies die Philo-
sophie stets im engen Zusammenhange mit der Literatur. Nach einer charakte-
risierenden Einleitung, die den erfahrungsmäßigen, erkenntnistheoretischen
und praktischen Zug der englischen Philosophie hervorhebt und ihre An-
Rezensionen. 389
fange bei Roger Bacon und William Ockham ( !) schildert, werden aus dem
17. Jahrhundert Bacon, Hobbes, die idealistische Reaktion des Cambridger
Piatonismus und des Rationalismus und Locke behandelt, aus dem 18. Jahr-
hundert Berkeley, Hume, die Moralisten, die in drei Gruppen geschieden
Averden: die Vertreter der Lehre vom Moral Sense (Shaftesbury, Hutcheson,
Butler), die Deutungen des Moral Sense als Assoziation und Sympathie
(Hartley, Smith) und die frühen Utilitaristen (Tucker, Paley), und schließlich
in einem besonderen Kapitel die Erneuerer des Rationalismus, Price und
Reid. Im neunzehnten Jahrhundert wird zunächst die englische Entwick-
lung von Hume, also der Utilitarismus und die Assoziationsphilosophie
(Bentham, J. und J. St. Mill, Bain), sodann der Evolutionismus Spencers
dargestellt, danach die Weiterentwicklung der Common senserLehre; der
naturalistische Realismus und die Philosophie des Bedingten, Hamilton und
Mansel, der Agnostizismus Spencers und Huxleys und die Rückkehr zur
schottischen Schule (Calderwood, Martineau, Fräser); endlich die idealistische
Antwort auf Humes Lehre: der Spiritualismus von Coleridge und Stewman.
der absolute Idealismus von Ferrier und Grote und der spätere von Sterling,
Caird, Green und Bradley. Der Verfasser schließt mit einer Darlegung der
gegenwärtigen Strömungen in der englischen Philoso2)hie. Gegen Auswahl
und Anordnung ließen sich manche Bedenken geltend machen. So fehlt z. B,
mit Unrecht eine Darstellung des einflußreichen Deismus und seiner Haupt-
vertreter. Gar nicht erwähnt werden so bedeutend gewordene Philosophen
Avie Burke, Home u. a. Manches wie der Cambridger Piatonismus ist zu kurz
behandelt. Die streng chronologische Anordnung hätte durchbrochen werden
müssen; erst auf eine Darstellung der Entwicklung der mathematischen
Naturwissenschaften (Newton, Huygens), die ganz fehlt, durfte Hobbes folgen,
der ohne sie nicht zu begreifen ist. Auch würde es sich empfehlen, den Cam-
bridger Piatonismus im Zusammenhange mit der Erneuerung des Rationalis-
mus durch Price und Reid hundert Jahre später zu behandeln und ander-
seits auf die Darstellung der Moralisten sogleich Utilitarismus, Assoziations-
theorie des 19. Jahrhunderts folgen zu lassen. Da es sich ja nicht um eine
streng Avissenschaftliche Darstellung handelt, ist eine Darlegung, die die
zusammenhängenden Bewegungen in einer Entwicklungslinie vorführt ,
durchsichtiger als dieses Zerreißen Aron Bewegungen aus chronologischen
Gründen. Auf einen Einblick in die gegenseitigen Einwirkungen kann es
ja in dieser Darstellung naturgemäß wenig oder gar nicht ankommen.
Im allgemeinen ist das Buch flüssig und klar geschrieben. Es wird
in England und vielleicht auch Deutschland Ariele Leser finden, die es mit
Freude und Gewinn lesen werden. Dr. Bruno Jordan, Hannover.
Friedrich Nietzsches Werke.
Die große monumentale Nietzsche-Ausgabe nähert sich ihrem Abschluß.
Der mir vorliegende XV. Band enthält Ecce homo und „Der Wille zur Macht"
1, 2. Buch; der XVIII. Philologica Band IL Das „nachgelassene" Werk
Ecce homo war außer in einzelnen Stücken, die Elisabeth Förster-Nietzsche
der Biographie ihres Bruders einverleiht, hatte, als (ianzes durch eine Aus-
390 Rezensionen.
gäbe im Inselverlag, die R. Richter besorgt hatte, bekannt. Otto Weiß bietet
jetzt eine abschließende kritische Ausgabe und bringt damit die Gesamt-
ausgabe der Werke zum Abschluß. Das zweite nachgelassene Werk „Wille
zur Macht", dessen beide ersten Bücher hier veröffentlicht werden, reicht
in seinen ersten Skizzen und Entwürfen bis in die Zeit der Konzeption des
Zarathustra zurück. Es war das Hauptwerk, das auf vier Bände berechnet
war, das lange Zeit die Gedanken Nietzsches beherrschte und aus dem oder
vielmehr aus dessen Materialsammlung sich die Schriften „Jenseits von Gut
und Böse" und die „Genealogie der Moral" ablösten; es fand nach einer um-
fangreichen Stoffsammlung seinen ersten Plan im Jahre 1886, ihm folgte ein
zweiter, kurzer und prägnanter im Frühling 1887. Diesen Entwurf von 1887
hat der Herausgeber der vorliegenden Ausgabe zugrunde gelegt, weil er „seiner
Stellung und seiner Form nach wie eine Achse im Mittelpunkt der ganzen
Entwicklung steht". Es löst sich von dem Hauptwerk selbständiger werdend
die „Umwertung aller Werte" ab. Nach vielen Plänen und Entwürfen ar-
beitet Nietzsche immer intensiver an dem Hauptwerk; der letzte Plan der
„Umwertung" liegt dem veröffentlichten „Antichrist" zugrunde. Im Laufe
des letzten Jahres 1888 lösten sich dann auch noch der „Fall Wagner",
„Götzendämmerung" und „Nietzsche contra Wagner" von dem Hauptwerk ab.
Im Mittelpunkt des Hauptwerkes stand wie im Zarathustra die Idee
der ewigen Wiederkehr. Nur sollte die Verwirklichung dieser Idee und „ihr
stärkender und züchtender Einfluß auf unser psychisches Leben" in der Zu-
kunft liegen (vgl. den Entwurf des Buches „Zucht und Züchtung"). Weiß
hat wohl recht, wenn er als die Hauptidee des Werkes die Vereinigung der Idee
der ewigen Wiederkunft mit der Konzeption des Übermenschen bezeichnet.
Das metaphysische und psychologische Prinzip des „Willens zur Macht"
stellt die Basis dieser Versöhnung dar. In der Tat steht in den ersten Plänen
die Idee einer Höherbildung des menschlichen Typus durch den Gedanken
der ewigen Wiederkehr im Mittelpunkt. Dann kommt als fruchtbares Prinzip
die Idee „des Willens zur Macht" hinzu. Es erwächst dann in Nietzsche der
Gedanke, durch eine zersetzende Kritik der Gegenwart und ihrer Werte erst
den Boden für seine großen Forderungen an die Menschheit zu bereiten. So
gelangt er schließlich bei der „Umwertung aller Werte" an.
Der Herausgeber hat die Entstehungsgeschichte klar und eingehend
behandelt. Die Ausgabe selbst ist mustergültig.
Der zweite mir vorliegende Band enthält Philologica II, Unveröffent-
lichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik. Der Herausgeber
Otto Crusius hat das Erbe der Herausgabe dieser Arbeiten Nietzsches als
Nachlaß von dem verstorbenen Herausgeber des ersten Bandes der Philo-
logica, Ernst Holzer, überkommen. Die Herausgabe erfolgt in dessen Sinne
und ist vortrefflich. Sie enthält eine Geschichte der griechischen Literatur I
und II nach einem Kolleg in den Jahren 1874/75 und 1875, sodann den III. Teil
1875/76, ferner eine „Geschichte der griechischen Beredsamkeit" 1872/73,
eine Darstellung der griechischen Rhetorik 1874, griechische Rhythmik
1870/71, zur Theorie der quantitierenden Rhythmik, endlich rhythmische
Untersuchungen. Der Wert dieser Philologica beruht zunächst darin, daß
Rezensionen. 391
der Leser „eine Urkundensammlung gewinnt, die ihm ermöglicht, sich ein
Urteil zu bilden über das Verhältnis zwischen Nietzsches Lebenswerk und
seinen Fachstudien", das bislang fast völlig verkannt worden ist. Geringer
ist der Wert an wirklichen Erkenntnissen wissenschaftlicher Art. Obschon
ihrer manche vorhanden sind, steht Nietzsches Leistung selbstverständlich
heute gewiß nicht auf der Höhe der Forschung und hat auch zur Zeit ihrer
Abfassung nur hie und da Anspruch auf bedeutsame Selbständigkeit erheben
dürfen. Trotzdem hat Crusius recht mit der Behauptung, daß „genug bleibt,
was diesen Blättern ihren dauernden Reiz und Wert auch für den Gelehrten
verleiht. In erster Linie die Fragestellungen, die Gesichtspunkte, unter denen
der Stoff geordnet und betrachtet wird."
Möge darum diese Sammlung viele Leser finden: sie lehrt den Philo-
sophen, daß alle Entwicklung ihre festgegründeten Wurzeln habe, den mo-
dernen Menschen, daß er ohne Antike nichts ist und nichts vermag. Die
Ironie des Schicksals will es, daß für die Unersetzlichkeit und ewige Uner-
schöpflichkeit der Antike diesmal kein anderer beredtes und lebendiges
Zeugnis ablegt als der „modernste" aller modernen Menschen, als Friedrich
Nietzsche. Dr. Bruno Jordan, Hannover.
Kiefer, Arthur: Der Mensch. A. Allgemeine Gesichtspunkte. B. Spe-
zielleres. Breslau 1911. Verlag der Koebnerschen Buchhandl.
Der Verfasser gibt sich als einen der ganz Originellen, die mit keinem
Meister buhlen. Er geht mit mehr Leidenschaft als zwingender Logik und
historischem Verständnis gegen das Christentum vor, bekämpft jede auf
Gleichheit gerichtete Ethik und gibt, nachdem er das „sogenannte Berufs-
leben" und die Unnatur des „Nackten" gekennzeichnet hat, noch ein Kapitel:
„Tröstliches" zu, das freilich ebenso wenig Klarheit bringt, wie die früheren.
Es ist viel pathetische Rethorik in dem Buche, hier und da auch ein gewisser
Geist, aber in der Gesamtheit doch wenig, was kritischen, auf systematische
Gedankenarbeit gerichteten Köpfen etwas zu sagen hat.
Richard Müller-Freienfels, Haiensee.
Zinkernagel, Franz: Goethe und Hebbel. Eine Antithese. Tübingen,
1911.
Der Verfasser beginnt diese Ausführungen, die ursprünglich ein Festvortrag
waren, mit prinzipiellen Bemerkungen über die Normgebung der Literatur-
wissenschaft, die allzu einseitig sich bisher an Goethe orientiert habe. Darauf
werden in geistreicher Antithese Goethe und Hebbel, besonders nach ihrer
Theorie des Tragischen, einander gegenübergestellt. Vor allem das, was Zinker-
nagel über Hebbel zu sagen hat, beruht auf grürdlichen eigenen Studien,
welche die neuerdings oft sehr übertriebene Abhängigkeit Hebbels von Hegel
auf das gebührende Maß zurückführen. Freilich verfällt der Verfasser auch
der Gefahr, die in solchen Antithesen immer liegt, die ( iegensiitze übe geistreich
zuzuspitzen. Gewiß ist es interessant, \\;is er über den tiefen Pessimismus
als innersten Kern der Hebbelschei 'I ragfdie zu sagen hat, aber es grenzt
ans Paradoxe, wenn er schließlich formuliert: Goethes Kunst offenbart uns
392 Rezensionen.
den Reichtum des Menschenlebens, Hebbels Kunst letzten Endes nur seine
Armut. — Es hat immer sein Bedenkliches, reiche Menschennaturen auf
eine Formel zu bringen, es kommen dabei meist nur Halbwahrheiten heraus.
Aber gerade solche können oft sehr anregend sein, wenn sie auch, oder gerade
weil sie zum Widerspruch herausfordern. So wirkt dies ganze Büchlein, das
auch im einzelnen vieles Interessante und Gute enthält.
Richard Müller- Freienfels, Haiensee.
Lütcke, Heinrich: Studien zur Philosophie der Meistersänger. Ge-
dankengang und Terminologie. Berlin 1911.
Aus der Zahl der Meistersänger, deren „spruchmäßige" Poesie oft philo-
sophische Inhalte behandelt, wählt Heinrich Lütcke drei Repräsentanten
aus, Frauenlob aus dem älteren Meistersang, Heinrich v. Mügeln, der ein
halbes Jahrhundert später lebte, und zuletzt Hans Folz, der um gegen Ende
des 15. Jahrhunderts blühte. Sie alle gehen ziemlich bewußt auf philosophische
Probleme los. Und zwar sind die metaphysischen Grundbegriffe idealistisch
im Sinne Piatos, neben dem natürlich auch besonders aristotelische Ein-
flüsse wirkten. Unter den idealen Prinzipien der Meister-
sänger spielt das „Wort" eine besondere Rolle, das im Mittelalter gleich
,, Gedanke, Idee, Begriff" war. Daneben wird durch Frauenlob die „ere"
zum idealen Prinzip proklamiert. Auch die „minne" wird zu einem solchen
idealen Prinzip erhoben. Neben der idealistischen Metaphysik steht eine von
Aristoteles kommende dualistische Physik, die die irdisch reale Welt aus
einer Verbindung von Form und Materie erklärt. Danach gestalten sich die
Vorstellungen von der Natur, dem Weltganzen, dem Leben und dem Tode.
— Natürlich werden auch die theologischen Probleme, wie sie mittelalter-
liche Dogmatik stellte, in den Kreis der Betrachtung gezogen, und besonders
der Marienkult spielt eine große Rolle. Die Ethik der Meistersänger ist im
wesentlichen eine Tugendlehre, die bei Frauenlob noch dem mittelalterlichen
ritterlich-weltlichen Ideale nachstrebt, bei Mügeln jedoch der antikisierenden
Ethik der Scholastik sich anschließt und im innersten Kern sich auf den Ge-
danken von der Einheit des Seinsprinzips mit dem Prinzip des Guten aufbaut.
Richard Müller-Freienfels, Haiensee.
Correspondance de Renouvier et de Secretan. Paris,
Armand-Colin. 1910. 168 p.
Renouvier et Secretan avaient Tun et l'autre cinquante-deux ans, lorsque,
en 1863, commen^a entre eux un echange de lettres qui, tres actif jusqu'en
1877, devait durer jusqu'en 1891. Leurs travaux essentiels etaient dejä pu-
blies, et leurs conclusions arretees. C'est dire que ce volume ne peut fournir
beaucoup de documents revelateurs et importants sur l'histoire du neo-criti-
cisme et Celle de la philosophie de la liberte. II n'en a pas moins un extreme
interet, puisqu'il nous fait mieux connaitre la personnalite des deux philo-
sophes et met en valeur par contraste, les elements essentiels des deux doc-
trines. Mais surtout, peut-on dire, de la doctrine de Secretan. Renouvier,
peu combatif, peu porte ä la polemique et surtout ä la polemique epistolaire,
Rezensionen. 393
n'a guere d'autre souci que de defendre la purete du neo-criticisme contre
les incursions metaphysiques de son correspondant ; „nous avons, lui ecrit-il
(26 avril 1872) memes instincts, memes sentiments, nienies principes nioraux
en tout ce qui est sublunaire, meine methode aussi pour tenter de franchir
l'atmosphere. Seulement vous croyez un peu l'avoir franchi et vous planez
comme en reve, tandis que je nie sens du plonib dans l'aile." Aussi les prin-
cipes du criticisme, surtout en ce qui concerne la critique de la connaissance,
ne sont pas mis en discussion; ce n'est que dans une lettre du 6 fevrier 1876
que Secretan parle du phenomenisnie et de la substance. Le penseur de Lau-
sanne, pour qui toute philosophie, n'est que la „mise ä l'indicatif de tout ce
qu'implique la souverainete de l'inrperatif*', n'attache, senible-t-il, qu'une
faible importance aux essais de Renouvier sur la representation (cf. p. 111).
En dehors de la tres importante lettre (p. 8 sq.) oü Renouvier expose les re-
sultats metaphysiques de ses principes (et la reponse de Secretan manque),
ce sont les questions theologiques et morales qui sont au premier plan. L'amour
etait, pour Secretan, le principe essentiel qui revelait le but et le plan de la
creation, l'unite primitive de l'humanite, et son unite finale dans l'avenir;
les autres principes moraux, tels que la justice devaient en dependre. Au
contraire il apparaissait ä Renouvier comme un sentiment sans regle ni frein
par lui-meme et dont l'importance qu'on lui attribue manifeste seulement
l'incapacite d'obeir ä Ja loi rationnelle de justice. Sans que la discussion affecte
une allure systematique, c'est sur cette Opposition entre l'amour et la justice
qu'elle retombe sans cesse, et c'est eile, semble-t-il, qui fait le noeud vital
de toutes les questions qui sont touchees. „L'amour n'est pas une regle et
ne peut pas etre un precepte" (Renouvier, p. 15). „II n'y a pas de justice
sans amour, il n'y a pas non plus d'amour vrai sans justice," replique Secretan
(p. 19). Dans ce cas, l'amour ne serait plus l'amour passion, mais une volonte
identique ä la justice, et le litige ne serait que verbal, et les deux philosophes
paraissent d'accord (p. 22 et 29; p. 33). Cet accord ne pouvait durer (cf. p. 35,
36; p. 38); Secretan ne peut en effet admettre la justice que comme expression
de l'amour qui garde ainsi la premiere place, et c'est ainsi la predominance
de la charite qui est mise en question (p. 75, 76), et, sans d'ailleurs obtenir
de reponse, il insiste ä plusieurs reprises sur rette idee (p. 81; 83, 86, 89, 101).
On ne peut se debarrasser, en lisant ces discussions, du sentiment que les
deux philosophes pensent Tun a cöh'- de Pautre, et que l'influence de Tun
sur l'autre n'a pas ete tres grande. Ce qui, pour Renouvier, est un probleme
pratique et un corollaire de sa methode est, pour Secretan, la revelation du
fond meme de l'etre. Que de malentendus il devait y avoir ä surmonter entre
un metaphysicien comme Secretan, haliitue ä la maniere de Schelling et de
Baader (p. 6), tout impregne du sentiment de la continuite du devenir et
de l'unite fonciere de l'etre, imlju de l'espiit chretien du protestantisme liberal,
et un criticiste comme Renouvier hostile ä tout le developpement postkantien,
et partisan tres drcide de la discontinuitr et des commencements absolus.
E in i 1 e P> c ('• li L 6 r , Bordeaux.
Archiv für Geschichte der Philosophie. KXVI. 3. >J6
394 Rezensionen.
Price, W. R.: "The Symbolism of Voltaire's Novels", Pp. VI, 269. New-
York: Columbia University Press, 1911.
Dr. Price has given us an extremely interesting work, the result of much
reading and careful thought and study of his sources at first hand. After a
brief but clar analysis of the historical criticisms and the psychological criti-
cism involved, Dr. Price traces, in succinct and illuminating manner, first
the subjective, and then the objective, reasons for Voltaire's use of symbo-
lism, the great apostle of enlightenment though he was. The author devotes
successive chapters to each of the following: — Zadig, Moabdar, Astarte,
Arimaze, Arbogad and Jesrad. This was very necessary, because too little
is known or understood generally of Voltaire's work, beyond the Zadig,
which has a certain philosophical character, and the C a n d i d e , with its
abundance of persiflage and its lack of depth and reverence. Voltaire,
of course, made no serious contribution to philosophy, but his works were
permeated with the philosophical spirit, as he understood it. It is his extra-
ordinary versatility rather in the literary sphere which holds our attention,
and those interested therein will find a good deal to help them in Dr. Price's
book. There is a Bibliography at close of the work, but no Index.
Irvine, Scotland. James Lindsay.
Mackinnon, Flora Isabel: "The Philosophy of John Norris of
Bemerton", Pp. III, 104. Baltimore, Review Publishing Co. 1910.
The very slight and occasional references to Norris and his work in his-
torical philosophy make this monograph welcome. In the philosophy of
Norris, as here treated, the following subjects are dealt with; — the Ideal
world; the natural or material world; the objects of knowledge; and these
are followed by critical summaries, conclusions, a bibliography, and an Index.
The work is interesting, careful, and suggestively carried out. The relations
of Norris to Malebranche, and to Collier and Berkeley, are clearly worked
out. Nor is Locke forgotten, in his critical attitudes. It is impossible to follow
here all the points dealt with, and it must suffice to say that the work was
well worth doing, and is, in whole, very well done. It is highly creditable
ta American philosophical scholarship and interest that so many good mono-
graphs of this sort have appeared within recent years. Long may this con-
tinue, and some of us will not be so hide-bound and stereotyped as not to
offer them cordial welcome.
Irvine, Scotland. James Lindsay.
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Agrippa von Nettesheim, Die Eitelkeit und Unsicherheit der Wissenschaften.
Herausg. von F. Mautner. München, Müller.
Altkirch, E., Spinoza im Porträt. Jena, Diederichs.
Aristoteles: Politik. Herausg. von Rolfes. Leipzig, Meiner.
Falckenberg, R., Geschichte der neueren Philosophie. Leipzig, Veit.
Frangian, E., N. Michailowsky als Soziologe und Philosoph. Berlin, Mayer
& Müller.
Geraskoff, M., Die sittliche Erziehung nach Spencer. Zürich, Speidel.
Guyau's, J. M., philosophische Werke. Leipzig, Klinkhardt.
Krebs, E., Theologie und Wissenschaft nach der Lehre der Hochscholastik.
Münster, Aschendorff.
Monzel, A., Die Lehre vorn inneren Sinn bei Kant. Bonn, Georgi.
Ruskin, J., Menschen untereinander. Düsseldorf, Langewiesche.
Sganzini, C, Die Fortschritte der Völkerpsychologie von Lazarus bis Wundt.
Bern, Francke.
Siegel, C., Geschichte der deutschen Naturphilosophie. Leipzig, Akademische
Verlagsgesellschaft.
Simmel, G., Kant. 3. Auflage. München, Duncker & Humblot.
Schmidt-Wendel, K., Kants Einfluß auf die englische Ethik. Berlin, Reuther.
Sydow, E., Kritischer Kant-Kommentar. Aus den Kritiken Fichtes, Schellings,
Hegels. Halle, Niemeyer.
B. Englische Literatur.
Babbitt, The Masters of modern French Criticism. London, Constable.
Brett, G., A History of Psychology. London, Allen.
Füller, B., The Problem of Evil in Plotinus. Cambridge, University Press.
Perry, R., Present philosophical Tendencies. London, Longmans.
Ross, G. and Haidane, E., The philosophical Works of Descartes. Cambridge,
University Press.
Stewart, H., Questions of thc Day in Philosoph? and Psychology. London,
Arnold.
C. Französische und belgische Literatur.
Didier, J., Hume. Paris, Blond.
Carlyle et Emerson Correspondance. Paris, Colin.
Cellerier et Dugas, L'annce pedagogique. Paris, Alcan.
Gilson, La liberte chez Descartes et la theologie. Ebd.
396 Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Hubert, Aug. Comte. Paris, Michaud.
Pegues, Th., Commentaire litteral de la Somme Theologique de Thomas
dlAquin. Toulouse, Private.
D. Italienische und spanische Literatur.
Caviglione, C, II Rosmini vero. Voghera.
Munoz, El Apostolado moderno. Grenada, Barcelona.
Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 148, H. 2. Ferber,
Piatos Polemik gegen die Lustlehre.
— Bd. 149, H. 1. Nohl, Eine historische Quelle zu Nietzsches Perspek-
tivismus: Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt. Sänge,
Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages.
— H. 2. Müller, Martin Deutinger.
Philosophisches Jahrbuch. Bd. XXVI. H. 1. Endres, Studien zur Geschichte
der Frühscholastik.
Revue de Metaphisique et de Morale. An. 21, Nu. 1. Boutroux, Les etapes
de la philosophie mathematique.
Reime de philosophie. An. 13, Nu. 1. Bulliot, Faut-il changer l'orientation
de la Neo-Scolastique ? Baron, A propos de l'idealisme anglais con-
temporaine.
— Nu. 3. Charles, La metaphysique du Kantisme. Rohellec, La theorie
des passions chez saint Thomas.
Revue Neo-Scolastique. XX An., Nu. 77. De Wulff, Vingtieme annee. Mun-
nynck, La demonstration metaphysique du libre arbitre. Lantsheere,
Les caracteres de la philosophie moderne. Mandonnet, R. Bacon et
la composition des trois „Opus". Legrand, „L'experience religieuse"
et la philosophie de W. James.
Mind. 1913, Nu. 85. Langley, The metaphysical Method of Herbart. Cooke,
Ethics an the New Intuitionists.
The Hibbert Journal. Vol. XI, Nu. 2. Thorpe, Joseph Priestley. Montefiore,
Modern Judaism and the messianic hope.
The Monist. Vol. XXIII, Nu. 1. Talbot, Fichte's conception of God. Chandler,
Tragic effect in Sophocles Analyzed according to the Freudian Method.
Pratelle, Atomistic dynamism.
Rivista di Filosofia. An. IV, Fase. V. Donati, II valore della guerra e la filo-
sofia di Eraclito.
Rivista di Filosofia Neo-Scolastica. An. IV, Nu. 6. Nardi, La teoria dell'anima
e la generazione delle forme secondo Pietro d'Abano. Huit, II Plato-
nismo in Francia nel secolo XIX. Dyroff, Una lettera inedita di Vin-
cenzo Gioberti. Audin, A proposito della dimostrazione tomistica
dell'esistenza di Dio.
Zur Besprechung eingegangene Werke.
A. Deutsche Literatur.
Ach, N., Eine Serienmethode für Reaktionsversuche. Leipzig, Quelle & Meyer.
Bergmann, E., Die Philosophie Guyaus. Leipzig, Klinkhardt.
Falckenberg, R., Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues
bis zur Gegenwart. 7. Auflage. Leipzig, Veit.
v. Gerdteil, L., Die urchristlichen Wunder vor dem Forum der modernen
Weltanschauung. 3. Auflage. Eilenburg, Becker.
Gläßner, G., Über Willenshemmung und Willensbahnung. Leipzig, Quelle
& Meyer.
Guyau, J. M., Die ästhetischen Probleme der Gegenwart. Deutsch von E. Berg-
mann. Leipzig, Klinkhardt.
Hamilton, E. J., Erkennen und Schließen. Leipzig, Klinkhardt.
Hensel, P., Hauptprobleme der Ethik. Leipzig, Teubner.
Hillgruber, A., Fortlaufende Arbeit und Willensbetätigung. Leipzig, Quelle
& Meyer.
Jahrbücher der Philosophie. Herausgegeben von Max Frischeisen-Köhler.
Jahrg. I. Berlin, S. Mittler & Sohn.
Kluge, A., Die Sabbatruhe Gottes. Breslau, Aderholz.
Kohlbrugge, J. H. F., Historisch-kritische Studien über Goethe als Natur-
forscher. Würzburg, Kabitzsch.
Picard, E., Das Wissen der Gegenwart in Mathematik und Naturwissenschaft.
Deutsch von Lindemann. Leipzig, Teubner.
Picht, C., Hypnose, Suggestion und Erziehung. Leipzig, Klinkhardt.
Kaschke, R., De Alberico Mythologo. Breslau, Marcus.
Rehmke, J., Anmerkungen zur Grundwissenschaft. Leipzig, Barth.
Kuesch, A., Freiheit, Unsterblichkeit und Gott. Leipzig. Thomas.
Spindler, •)., Nietzsches Persönlichkeit und Lehre im Lichte seines ,,Ecce
homn". Stuttgart, Cotta.
Vecchio, G. del, Über einige Grundgedanken der Politik Rousseaus. Beilin,
Rothschild.
Verweyen, J. M, Philosophie des Möglichen. Leipzig, Hirzel.
Walzel, 0., Friedrich Hebbel und seine Dramen. Leipzig, Teubner.
Wilhelmi, A., Die Versöhnung der Gegensätze ohne ihre Aufhebung. Frank-
furt a. M., Baer.
Wimdl, \V., Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Leipzig, Kröner.
398 Zur Besprechung eingegangene Werke.
B. Französische Literatur.
Lamarque, G., Th. Ribot. Paris, Louis Michaud.
Renouvier, Ch., Les principes de la nature. Paris, Colin.
C. Englische Literatur.
Bergson, H., A contribution to a bibliography of Henri Bergson. New York,
Columbia University Press.
Philip, A., The dynamic foundation of knowledge. London, Kegan Paul.
Stokes, E. H., The conception of a kingdom of ends in Augustine, Aqninas,
and Leibniz. (Diss.) Chicago.
D. Italienische Literatur.
Gemelli, A., L'origine subcosciente dei fatti mistici. 3a. ed. Florenz, Libr.
Fiorentina.
— Psicologia e biologia. 3a. ed. Ebd.
Lanna, D., La teoria della conoscenza in S. Tomaso d'Aquino. Ebd.
*H
Erklärung.
Die unterzeichneten Dozenten der Philosophie an den Hochschulen
Deutschlands, Österreichs und der Schweiz sehen sich zu einer Erklärung
veranlaßt, die sich gegen die Besetzung philosophischer Lehrstühle mit Ver-
tretern der experimentellen Psychologie wendet.
Das Arbeitsgebiet der experimentellen Psychologie hat sich mit dem
höchst erfreulichen Aufschwung dieser Wissenschaft so erweitert, daß sie
längst als eine selbständige Disziplin anerkannt wird, deren Betrieb die volle
Kraft eines Gelehrten erfordert. Trotzdem sind nicht eigene Lehrstühle für
sie geschaffen, sondern man hat wiederholt Professuren der Philosophie mit
Männern besetzt, deren Tätigkeit zum größten Teil oder ausschließlich der
experimentellen Erforschung des Seelenlebens gewidmet ist. Das wird zwar
verständlich, wenn man auf die Anfänge dieser Wissenschaft zurückblickt,
und es war früher wohl auch nicht zu vermeiden, daß beide Disziplinen von
einem Gelehrten zugleich vertreten wurden. Mit der fortschreitenden Ent-
wicklung der experimentellen Psychologie ergeben sich jedoch daraus Übel-
stände für alle Beteiligten. Vor allem wird der Philosophie, für welche die
Teilnahme der akademischen Jugend beständig wächst, durch Entziehung
von ihr allein gewidmeten Lehrstühlen eine empfindliche Schädigung zu-
gefügt. Das ist um so bedenklicher, als das philosophische Arbeitsgebiet
sich andauernd vergrößert, und als man gerade in unseren philosophisch
bewegten Zeiten den Studenten keine Gelegenheit nehmen darf, sich bei ihren
akademischen Lehrern auch über die allgemeinen Fragen der Weltanschauung
und Lebensauffassung wissenschaftlich zu orientieren.
Nach diesem Allen halten es die Unterzeichneten für ihre Pflicht, die
philosophischen Fakultäten sowie die Unterrichtsverwaltungen auf die hieraus
erwachsenden Nachteile für das Studium der Philosophie und Psychologie
hinzuweisen. Es muß im gemeinsamen Interesse der beiden Wissenschaften
sorgfältig darauf Bedacht genommen werden, daß der Philosophie ihre Stellung
im Leben der Hochschulen gewahrt bleibt. Daher sollte die experimentelle
Psychologie in Zukunft nur durch die Errichtung eigener Lehrstühle gepflegt
werden, und überall, wo die alten philosophischen Professuren durch Ver-
treter der experimentellen Psychologie besetzt sind, ist für die Schaffung von
neuen philosophischen Lehrstühlen zu sorgen.
Prof. v. Aster (München) — Dr. Baensch (Straßburg i. E.) — Prof.
Bart h (Leipzig) — Prof. Bauch (Jena) — Dr. Bergmann (Leipzig)
— Dr. Braun (Münster) — Prof. v. B r o c k d o r f f (Kiel) — Dr. B r u a -
s t ä d (Erlangen) — Dr. Brunswig (München) — Dr. v. B u b n o 1 t
(Heidelberg) — Dr. Cassirer (Berlin) — Prof. Cohen (Marburg) —
400 Erklärung.
Prof. J. Colin (Freiburg i. B.) — Prof. Cornelius (Frankfurt a. M.)
— Prof. D e u s s e n (Kiel) — Prof. Dinger (Jena) — Prof. Drews (Karls-
ruhe) — Prof. Driesch (Heidelberg) — Dr. Eleutheropulos (Zürich)
— Prof. Erhardt (Rostock) — Dr. Ehrenberg (Heidelberg) — Prof.
Eucken (Jena) — Dr. Ewald (Wien) — Prof. Falckenberg (Er-
langen) — Dr. A. Fischer (München) — Dr. F o c k e (Posen) — Prof.
Frey tag (Zürich) — Dr. Frischeisen-Köhler (Berlin) — Dr.
Geiger (München) — Prof. G e y s e r (Münster) — Prof. Goedecke-
meyer (Königsberg) — Prof. Goldstein (Darmstadt) — Dr. G o m -
p e r z (Wien) — Dr. G ö r 1 a n d (Hamburg) — Dr. Groethuysen
(Berlin) — Prof. Güttier (München) — Dr. Guttmann (Breslau) —
Dr. H ä b e r 1 i n (Basel) — Dr. Hammach er (Bonn) — Dr. Hart-
m a n n (Marburg) — Prof. H e m a n (Basel) — Dr. Henning (Braun-
schweig) — Prof. H e n s e 1 (Erlangen) — Dr. Heyfelder (Tübingen)
— Prof. Hönigswald (Breslau) — Prof. Husserl (Göttingen) —
Dr. J a c o b y (Greifswald) — Prof. Jerusalem (Wien) — Prof. J o d 1
(Wien) — Prof. Joel (Basel) — Dr. K a b i t z (Breslau) - - Prof. Kinkel
(Gießen) — Dr. Klemm (Leipzig) — Dr. K ö s t e r (München) — Dr. Kro-
ner (Freiburg i. B.) — Dr. Kuntze (Berlin) — Prof. L a s k (Heidelberg)
— Prof. L a s s o n (Berlin) — Prof. L e h m.a n n (Posen) — Prof. Leser
(Erlangen) — Dr. L es sing (Hannover) — Dr. Linke (Jena) — Prof.
G. F. Lipps (Zürich) — Prof. Medicus (Zürich) — Dr. Melius (Freiburg
i. B.) — Dr. M e n z e 1 (Kiel) — Prof. M e n z e r (Halle) — Prof. Messer
(Gießen) — Dr. Metzger (Leipzig) — Dr. Meyer (München) — Prof.
Misch (Marburg) — Prof. Natorp (Marburg) — Dr. Nelson (Göttingen)
— Dr. N o h 1 (Jena) — Prof. Pfänder (München) — Prof. v. d. P f o r d t e n
(Straßburg i. E.) — Prof. Rehmke (Greifswald) — Dr. R e i n a c h (Göt-
tingen) — Dr. Reininger (Wien) — Prof. Ricke rt (Freiburg i. B.)
— Prof. R i e h 1 (Berlin) — Prof. Ritter (Tübingen) — Dr. R u g e (Heidel-
berg) — Dr. Schlick (Rostock) — Prof. Schmekel (Greifswald) —
Prof. F. A. S c h m i d (Heidelberg) — Prof. H. Schneider (Leipzig)
— Dr. S c h r e m p f (Stuttgart) — Prof. Schwarz (Greifswald) — Dr.
Seidel (Zürich) — Dr. Siegel (Wien) — Prof. S i m m e 1 (Berlin) —
Prof. S p i 1 1 a (Tübingen) — Prof. Spitzer (Graz) — Prof. Spranger
(Leipzig) — Prof. Tönnies (Kiel) — Prof. U p h u e s (Halle) — Dr. U t i t z
(Rostock) — Prof. Vai hinger (Halle) — Dr. Verweyen (Bonn) —
Prof. Wähle (Czernowitz) — Prof. Wallaschek (Wien) — Dr. Weiden-
bach (Gießen) — Prof. Wentscher (Bonn) — Prof. Wernicke
(Braunschweig) — Prof. W i 1 1 m a n n (Prag) — Prof. Windelband
(Heidelberg).
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie.
Neue Folge. XIX. Band, 4. Heft.
XXI.
Friedrich Rosens Darstellung der persischen Mystik
in dem Vorwort zu der Neuausgabe von Georg RosensMesnevi
des Scheich Mevlana Dschelal ed din Rumi.
Von
Ludwig Stein.
Die Mystik ist die Alchimie der Religion. Wie die Alchimie
nach der Formel suchte, um Gold zu bereiten, so suchte zu gleicher
Zeit die Menschheit des Mittelalters nach einer einfachen Formel,
einer sicheren Methode zur Erlangung des Seelenheils. Bei beiden
handelte es sich darum, hinter den Schleier des Geheimnisses zu
kommen, der das ersehnte Ziel verbarg. Die Alchimisten haben
kein Gold bereitet, aber ihr Suchen ist doch nicht vergeblich ge-
wesen. Es hat zu einer exakten Beobachtung der Naturkräfte und
damit zu den wichtigsten Entdeckungen und Erfindungen und
schließlich zur Begründung derjenigen Wissenschaft geführt, welche
vielleicht von allen noch am ehesten dazu berufen ist, einen tiefen
Blick in das Wesen der Dinge außer uns, ja vielleicht in die Frage
nach dem Ursprung und dem Wesen des Lebens selbst zu tun.
Anders die Mystik: Ihre Ziele waren nicht greifbare. Ob sie er-
reicht waren oder nicht, das entschied nicht ein objektiver Befund,
sondern lediglich der subjektive Seelenzustand des Suchenden. Wer
in religiöse Verzückung gerät, der hat die Vereinigung mit Gott
erlangt. Sein Glaube hat ihm geholfen. Der Weg war sein Ziel.
Subjektiv Erlebtes ist für das Subjekt Wahrheit. Einen Beweis
dafür ist man niemandem schuldig. Nur wenn man andere an dem
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI, 4. 27
402 Ludwig Stein,
selbst Erlebten teilnehmen lassen will, dann muß man eine Methode,
einen Weg haben, auf dem die anderen zu demselben Ziele gelangen
können. Das Bedürfnis einzelner Erleuchteter, die selbstempfundenen
Heilswohltaten den Mitmenschen zugänglich zu machen, hat im
Christentum zur Entstehung der Sekten, im Muhammedanismus zur
Begründung zahlloser „Richtungen" und schließlich zur Stiftung
der verschiedenen Derwischorden geführt. Und diese haben
sich wieder, je nach der Auffassung der einzelnen Plre oder geist-
lichen Führer, die ihrer Methode (tariqät) Geltung zu verschaffen
wußten, weiter verzweigt und verästelt. In Persien haben aber alle
diese Richtungen, die unter dem Namen Sufisraus zusammengefaßt
werden, dabei doch etwas Gemeinsames. Sie haben die Form der
Dichtung angenommen und erfüllten vom zehnten Jahrhundert an
immer mehr die ganze poetische Literatur, so sehr, daß man wohl
ohne Übertreibung sagen kann, daß nunmehr jeder Dichter Mystiker
war und fast jedes Dichterwerk mehr oder minder mystisch gefärbt
erscheint oder gedeutet werden kann.
In dieser Literatur nun hat der Sufismus der Welt einen kost-
baren und unerschöpflichen Schatz von Kunstwerken ersten Ranges
beschert. Auf dem Boden keines anderen Landes hat die Mystik
so schöne und reiche Blüten gezeitigt, wie auf dem Persiens. Aus
ihm hat seit Goethe die deutsche Literatur in reichem Maße ge-
schöpft und sich um neue Gedanken und Kunstformen bereichert,
so mangelhaft und oft irreleitend zuerst die Übersetzungen von
persischen Dichterwerken, so unvollkommen anfangs unsere Kenntnisse
der orientalischen Philosophie auch waren. Selten hat, _ wie dies
bei Rückert der Fall war, einem Dichter auch eine gründliche,
wissenschaftlich-orientalische Sprach- und Sachkenntnis zur Verfügung
gestanden. Vielfach hat dichterische Begabung sich über die Tiefe
der Gedankenwelt hinweggesetzt und uns mit geschickter Benutzung
orientalischer Formen und Ausdrucksweisen nur die Schale gegeben,
nicht den Kern erschlossen. Und andererseits ist es auch unter
den wirklichen Gelehrten nur wenigen gegeben — und wenige haben
auch das Bedürfnis dazu empfunden — , das Schöne in den ihnen
zugänglichen Literaturen in gemeinverständlicher und künstlerischer
Form wiederzugeben.
In dem hier angezeigten Werke hatte sich Georg Rosen diese
Aufgabe gestellt. Er wollte „das größte und bedeutendste
Friedrich Rosens Darstellung der persischen Mystik. 403
Erzeugnis der persischen Mystik, ein Werk, das fast dem
Koran gleich geachtet, noch heute, nach siebenhundert Jahren, die
Gedankenwelt des Islam vom Adriatischen Meer bis zum Bengalischen
Meerbusen, von Turkistan bis Jemen mehr oder minder beherrscht,
bei möglichster Wiedergabe der dichterischen Form der gebildeten
deutschen Leserwelt zugänglich und verständlich machen."
Georg Rosens Mesnevi-Übersetzung, die aus dem Jahre
1849 stammt, erscheint nun in neuer Auflage in Georg Müllers
Verlag als erster Band der Sammlung orientalisch-klassischer Über-
setzungen. Sein Sohn, Friedrich Rosen, der schon als Verdeutscher
der „Sinnsprüche Omars des Zeltmachers" bekannt ist, hat nun
zu diesem Buche eine bemerkenswerte Einführung geschrieben, der
auch die obigen Worte entnommen sind. Was er in dieser Ein-
leitung sagt, ist zumeist ein Niederschlag dessen, was er in frühen
Wanderjahren im Orient durch Vertiefung in die Werke Dscheläl
ed dins und anderer ähnlicher Dichter und nicht minder durch
langjährigen Verkehr mit vielen dem großen Mystiker verwandten
Seelen gewonnen hatte. Insbesondere verdankt er, wie er mitteilt,
dem Derwischorden, der Sefi All Schähl in Teheran, und vielen
Personen in hervorragender Stellung die weitgehendste Förderung
und Belehrung. In den Kreisen der Gebildeten herrschte vor
15 Jahren in Persien der Sufismus vor, und mit Stolz nahmen
gerade die Höchstgestellten das Derwischtum für sich in Anspruch.
„Das Sufitum liegt nicht im wollnen Rocke; kleide
Dich wie du willst, es gibt auch Derwische in Seide."1)
„Dank den vielfachen Anregungen und Aufschlüssen", so führt
Friedrich Rosen fort, „die ich bei meinem langjährigen Aufenthalte
in Persien im Kreise dieser Männer gewonnen hatte, konnten
mir die an sich oft abstrusen Ideen der Philosophie des Orients
zur lebendigen Wirklichkeit werden, und so darf ich hoffen,
daß der Leser aus dieser Skizze doch einen gewissen Einblick
in die eigenartige Ideenwelt unseres Mystikers gewinnen wird, wie
er ihn vielleicht aus der bloßen Bücherweisheit allein nicht hätte
schöpfen können."
1) Dieser Vers Dscheläl ed dins spielt darauf an, daß die Sufi ihren
Namen von den. arabischen Wort suf. Wolle, herleiteten, weil das Wollkleid,
das „härene Gewand", das eigentliche Kleid der Derwische ist.
27*
404 Ludwig Stei n.
„Des Schreibrohis schwarzer Spur folgt der Gelehrte,
Der Sufi folgt allein des Meisters Fährte."
Friedrieh Rosen führt den Leser „auf des Meisters Fährte"
zu seinem Verständnis, und gibt, soweit wie möglich, in seinen
eigenen Worten ein Bild von der Weltanschauung, die seiner
Philosophie als Grundlage dient.
Die Einleitung Friedrich Rosens in das Übersetzungswerk seines
Vaters ist für die philosophisch interessierten Kreise von um so
größerem Belang, als die Grundlinien der neuplatonischen, neu-
pythagoreischen und alexandrinischen Philosophie sich liier in sufisch-
islamischem Gewände präsentieren. Auf dieses große, für die Ge-
schichte der Philosophie bedeutsame Werk hinzuweisen, ist der
Zweck dieser einführenden Zeilen.
Das Werk erscheint als erster Band der von Georg
Müller 's Verlag veranstalteten Sammlung der Meisterwerke
Orientalischer Literatur in deutschen Originalüber-
setzungen, herausgegeben von Dr. Hermann von Staden.
XXII.
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen.
Von
Dr. Jegel, Studienlehrer.
Vor einigen Jahren veröffentlichte nach langen Vorstudien der
Münchner Hochschulprofessor Geheimrat Dr. Roh. v. P ö h 1 m a n n
seine Geschichte des antiken Kommunismus und Sozialismus. Das
feinempfundcne Buch, das als ein bahnbrechendes mannigfache Auf-
nahme fand, behandelt Ideen und Vorschläge, welche im Altertum
zur Lösung der sozialen Frage entstanden, und gibt u. a. auch eine
eingehende, scharfsinnige Analyse von Piatos Republik und Gesetzen.
Indem mein hochverehrter Lehrer, dem ich in dankbarer Verehrung
zu seinem 60. Geburtstage diesen Essay widme, logisch den Auf-
bau der platonischen Systeme entwickelt, bespricht er auch Piatos
Stellung zur Jugenderziehung. Da manche Gedanken des großen
Griechen im Hinblick auf Gegenwartsströmungen und Zukunfts-
pläne interessant erscheinen, möchte ich die einzelnen Gedankenreihen,
die Pöhlmann seinem Endziel entsprechend mitunter nur andeutet,
weiter ausführen und Piatos Worte in freier Übertragung mit ver-
bindendem Text vorlegen. Ich habe mit teilweiser Benützung vor-
handener Übersetzungen, die allerdings nicht immer moderner Text-
kritik standhalten, hauptsächlich nach der Didotausgabc etwas
Neues zu geben versucht.
Der Standpunkt Piatos ist in seinen, beiden einschlägigen Haupt-
werken, 'Staat' und 'Gesetze', ein wesentlich anderer; infolge-
dessen müssen die in ihnen enthaltenen Anschauungen gesondert
betrachtet werden. (Stellen aus andern Schriften Piatos habe ich
um der Einheitlichkeit der Komposition willen mit Absicht nur als
gelegentliche Parallelen beigezogen.)
406 Jegel,
Der Vernunftstaat Piatos wird gegründet, 'nicht in der
Absicht, daß eine Klasse vor allen glücklich sei, sondern möglichst
die Gesamtheit, der ganze Staat'.
'Da der Mensch, nur wenn er von Kindheit an richtig erzogen
wird, zu einem wohlanständigen wird' (Plato, Staat 401 d und 558 a/b),
widmet Plato den Erziehungsfragen große Aufmerksamkeit. Der
Guterzogene hat auch einen Blick 'für das mangelhaft Gebliebene
und unschön Ausgeführte oder von der Natur unschön Gebildete'
(1. 1.401 e); 'denn gute Erziehung und Ausbildung schafft, wenn sie
bewahrt wird, tüchtige Geister (1. 1. 424 a) und ist Erhalter der Tugend
während des ganzen Lebens' (1. 1. 549 b).
Über die Tätigkeit des Jugendbildners urteilt
Plato ähnlich wie moderne Psychologen: 'Sie erscheint ihm die
Fähigkeit eine Schwenkung herbeizuführen, auf welche Weise jemand
möglichst leicht und wirksam herumgedreht wird [von dem Dunkeln —
d. h. von der minderwertigen Erkenntnis der Wahrheit — zum
Licht — d. h. zur vollen Erkenntnis der Wahrheit]; nicht aber
die Kunst dem Menschen das Sehen [d. h. das Erkennen] selbst ein-
zupflanzen' (1. 1. 518 d).
Plato stellt also den zweifellos richtigen Satz auf, daß der Lehrer
keine Kräfte in den Schüler hineinzaubern, sondern nur mit Benützung
der natürlichen Anlagen bei Ausbildung des Geistes 'behilflich'
sein kann.
Neben der bewußten aktiven und direkten Erziehung dm eh die
vom Staat zum Amt berufenen Personen tritt die durch das Beispiel
der U m w e 1 1 , z. B. in negativer Richtung Einflüsterungen ge-
wissenloser Dienstboten (1. 1.519 e). 'Durch mangelhafte Erziehung,
wie durch schlechten Umgang muß das Bessere der Übermacht des
Schlechteren erliegen' (1.1.431a). Infolgedessen muß man 'wie der
Landmann das wilde Unkraut nicht aufkommen lassen, sondern das
Nutzbare pflegen und veredeln' (1. 1. 589 b).
Nachdem wir die allgemeinen Grundgedanken der Pädagogik
im Vernunftstaat kennen gelernt haben, wollen wir uns den Einzel-
fragen zuwenden.
Auch Plato erkennt die Wichtigkeit der vorgeburtlichen
Erziehung; denn er sagt: 'tüchtige Geister sind, wenn sie eine
derartige [gute] Erziehung erlangt haben, noch besser [d.h. tauglicher]
als früher sowohl zu anderm als inbesondere zum Zeugen, wie man
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen, 407
auch bei andern Lebewesen beobachten kann' (1.1.424 a). Deshalb
sucht der Staat auf das Werden neuer Menschen Einfluß auszuüben,
und zwar auf zweierlei W e i s e : Er setzt für die Zeugung ein
gewisses Alter fest, bei den Frauen 20 — 40, bei den Männern 30—55
Jahre; 'denn diese Jahre sind der Höhepunkt der körperlichen und
geistigen Entwicklung' (1. 1. 460 e). Vor allem aber führt Plato eine —
allerdings eingeschränkte — Frauengemeinschaft ein. 'Denjenigen,
welche unter den jungen Männern im Krieg oder in anderer Hin-
sicht sich auszeichnen, muß als Vorzug und Belohnung eine reich-
lichere Möglichkeit mit Frauen zu verkehren gegeben werden, damit
zugleich eine Gelegenheit, aus der die meisten Söhne von jenen ent-
stehen, vorhanden ist' (1. 1. 460 a u. b., cf. auch 1. 1. 459e, 460a, 389b).
'Wenn daher ein älterer oder jüngerer für den Staat zeugt, so be-
trachten wir seine Tat für ein sündhaftes und ungerechtes Verbrechen,
weil er in dem Staat ein Kind pflanzt, das — wenn es verborgen bleibt —
nicht unter Opfern und Gelübden entsteht, welche bei den einzelnen
Vermählungen Priester und Priesterinnen und die gesamten Bürger
tun, indem sie bitten, daß aus den tüchtigen Eltern noch bessere
Kinder . . . erwachsen, sondern jenes Kind ist eine Frucht der
Finsternis und unheilvollen Willkür' (1. 1. 461 a, cf. auch 1. 1. 407 e).
Schroff und in vollem Bewußtsein der Konsequenzen wird also das
Gesetz der Zucht w a h 1 und wie bei Malthus, die Verant-
wortlichkeit der Eltern für die Nachkommenschaft
betont. Auch das persönlichste aller Menschenrechte wird dem einen
großen Ziel, körperlich und geistig tüchtige Bürger zu gewinnen,
untergeordnet. Durch die Einschränkungen will Plato einen un-
verhältnismäßigen Geburtenüberschuß beseitigen — 'man soll nicht
über das gebührende Maß zeugen aus Furcht vor Armut oder Krieg'
(1. 1. 372 b) — ; denn eine besitzlose Masse bedeutet eine Gefahr für
den Bestand des Staates oder veranlaßt kriegerische Vorstöße um
Land für die Enterbten zu gewinnen. (Wieweit ist von der Erkenntnis,
daß Bestimmungen gegen uneingeschränkte, planlose Zeugung für die
Zukunft des Vaterlandes sehr wünschenswert sind, der moderne
Staat entfernt! Er kümmert sich allenfalls um die Existenzmittel
der Ehegatten, aber nicht um die seelischen und körperlichen Eigen-
schaften der künftigen Eltern.)
Das neugeborene Kind will Plato in öffentlichen P 1 1 ege -
ans t alten untergebracht wissen. „Diejenigen Behörden, welche
408 Jegel
für diese Aufgabe bestimmt sind, Männer oder Frauen oder beide,
müssen die neugeborenen Kinder aufnehmen [zum Zeichen, daß sie
dieselben als daseinsberechtigte Glieder des Staates anerkennen] ; . . .
nachdem die Beamten also die Kinder von tüchtigen [Eltern] in
Empfang genommen haben, werden sie dieselben in das Haus zu
den [bestimmten] Ammen, welche in einem bestimmten Stadtteil
gesondert wohnen, tragen. Die Kinder von schlechteren [geringeren]
Eltern aber oder wenn von andern eines verkrüppelt [gebrechlich]
geboren wird, lassen sie insgeheim und verborgen, wie sich geziemt,
verschwinden. So wird es ein reines [tüchtiges] Geschlecht von Wächtern
geben. . . .Außerdem lassen die Beamten die Mütter, wenn sie Milch-
überfluß haben, zum Säuglingshaus führen und verhüten auf alle
Weise, daß eine Mutter ihr eigenes Kind erkennt und sind sehr be-
dacht, daß jene, wenn sie selbst weniger zum Stillen geeignet sind,
den andern Milchreichen dienen. Auch werden die Beamten dafür
sorgen, daß diese selbst eine bestimmte Zeit Milch geben können'
(1. 1. 460 b ff.). Diese „Aufzucht" aller Säuglinge in Krippen soll also
einerseits jedem Neugeborenen die ihm von der Natur zugedachte
Mutterbrust gewährleisten, anderseits verhüten, daß Eltern
und Kinder, sich gegenseitig kennend, Familienrücksichten dem
Staatsinteresse, d. h. dem Glücke aller voranstellen. Um dem Nepotis-
mus zu entgehen, setzt Plato anstelle der häuslichen die öffentliche,
gemeinsame Erziehung auch für das spätere Kindes- und Jünglings-
alter mit all den Gefahren der Schabionisierung und Verflachung
(1.1.543 a, cf. auch Staatsmann 308 c). Ihn mag auch der Gedanke
geleitet haben, daß das Eltemsein nicht von vornherein die nötigen
Fähigkeiten zum Erziehen bedingt (Rep. 541 a). Aber nicht nur der
Säuglinge nimmt sich Plato liebevoll an, sondern auch die Zeit
des erwachenden Lebens sucht er gegen Unvernunft der
Umgebung zu schützen. 'Nicht sollen die Mütter [d. h. wohl — nach
dem oben Entwickelten — die Pflegemütter], jenen [Dichtern] Glauben
schenkend, die Knaben schrecken, indem sie ungebührlich erzählen,
daß gewisse Gottheiten bei Nacht in vielfach verschiedener und
fremdartiger Gestalt herumirren, damit sie [die Mütter] nicht zugleich
gegen die Götter Übles reden und die Kinder furchtsam machen'
(1. 1. 881 e).
U m den Charakter der Kinder zu erkennen, unter-
wirft sie Plato mannigfachen Proben: 'Man muß ... einen Wett-
Platos Stellung zu Erzaehungsfragen. 409
kämpf für sie veranstalten und darauf achten . . ., ob sie furchtsam
sind, ob . . einer ein guter Wächter seiner selbst ist und . . sich in
allen Lagen tauglich und harmonisch zeigt, als ein solcher, wie er sich
und dem Staate am meisten nützt' (1. 1. 413 c— e, cf. auch Staats-
mann 308 c). Diesen Prüfungen werden alle ohne Rücksicht auf Ab-
stammung unterworfen. 'Die Beamten heißt nun die Gottheit1 [die
Plato hereinzieht, um seinen Vorschriften größeres Gewicht und un-
bedingten Gehorsam zu sichern], 'zuvörderst und am meisten auf
nichts mehr treue Sorge und Aufsicht verwenden als auf ihre Kinder,
was vor allem ihrem Geiste beigemischt ist. Und wenn einer von
ihnen als ein kupferner oder eiserner [d. h. minderwertiger] geboren
wird, so sollen sie sich seiner unter keinen Umständen erbarmen,
sonden: ihm die seiner Natur entsprechende Stellung zuteilen und zu
den Handwerkern oder Bauern hinabstoßen (!), wie anderseits wenn
einer von jenen [den Bauern oder Handwerkern] als ein goldener oder
silberner [d. h. vollwertiger] erzeugt wird, so sollen sie ihn in eine
höhere Stellung, zum Wächter oder Krieger, emporheben' (Staat
415 b/c, cf. 495 d). Dem künftigen Wächter [Beamten] muß 'Gedächt-
nis, leichte Auffassungsgabe, Edelmut, Neigung und Verwandtschaft
zur Wahrheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Enthaltsamkeit (= Mäßig-
keit?) angeboren sein (1. 1. 481 a).
Plato will nur Begab u n g u n d Neig u n g, nicht Ab-
stammung und Elterneitelkeit für die Lebensstellung
entscheiden d sein lassen, auch aus dem Grunde, damit 'die
Talente aus dem Volke nicht in Haß und Neid gefährliche Wühler
und Umstürzler werden, sondern die höheren Klassen verstärken'
(Pöhlmann, 1. 1. I, 438). 'Jeder soll der einen Beschäftigung, zu der
er von der Natur tauglich ist, zugeführt werden, damit jeder seinen
bestimmten Beruf ausübt und nicht eine Vielheit, sondern eine Ein-
heit wird, und der ganze Staat auf diese Weise eine Einheit, nicht eine
Vielheit wird' (Staat 423 d; 470 a/b). — Dem Ziel der Erziehung
.einheitliche M e n s c h e n zu schaffen, solbn auch die jugend-
lichen Spiele dienen. 'Müssen nicht sofort von den ersten
Jahren ab unsere Knaben mehr an gesetzmäßiges Spiel gewöhnt
werden, weil sie, wenn sie nichtgesetzmäßiges Spiel betreib?n und
selbst so [d. h. zügellos] beschaffen sind, niemals brave und tüchtige
Männer werden können' (1.1. 424 e). Nach Platos Anschauung also
geht die Gesetzmäßigkeit den kleinen Kindern so in Fleisch und Blut
410 Jegel,
über, daß sie schließlich ganz von selbst, auch wenn sie erwachsen
sind, gesetzmäßig handeln und es keiner Bestimmung für Äußerlich-
keiten bedarf (cf. auch 1. 1. 559 a !). Manches, was Gegenwarts-
disziplinarsatzungen ängstlich festhalten, erklärt Plato aus diesem
Ideenkreis heraus für 'einfältig', z. B. Haarschneiden, Gewandung,
Beschuhung, das ganze Äußere des Körpers und was sonst noch von
der Art ist' (1. 1. 425 b). Die innerliche Unterwerfung
unter das Gesetz verlangt Plato auch von der Jugend ; denn
'das, was nur durch Wort und Schrift befohlen wird, wird weder ge-
schehen noch Bestand haben' (1. 1. 425 b).
Da Gesetzmäßigkeit und Harmonie für Plato nahe verwandt
sind, so erstrebt er auch eine harmonische Durchbildung
von Seele und L e i b (1. 1. 410 b ff. und 591 b); 'denn nur die,
welche nicht innerlich zerrissen und richtig gemischt sind, können
sich selbst und andern Menschen brauchbare Führer und Leiter sein'
(1. 1. 412 a, 413 e). Plato will 'dem Knaben nicht eher die Selbst-
bestimmung zulassen, bis wir ihn in eine [gute] Verfassung [seiner
selbst] eingeführt haben und in jedem einzelnen nach Ausbildung des
Edelsten in ihm — entsprechend dem Vorbild des Edelsten in uns
selbst — einen Wächter und Gebieter an Stelle unserer Aufsicht
geschaffen haben; dann erst werden wir den Knaben als frei [d. h.
selbständig] entlassen' (1. 1. 590 e bis 591 a). —
Als ein feiner Seelenkenner erkennt Plato, daß eine harmonische
Ausbildung des Geistes, welcher er die Erziehung des
Willens gegenüberstellt (1. 1. 423 e), nur möglich ist, wenn die Mittel,
durch welche sie erfolgt, selbst ein Kosmos, d. h. Einheit, sind. Infolge-
dessen antwortet Plato auf die Frage: 'Was ist also Bildung?'
'Ist schwerlich eine bessere aufzufinden als jene, welche seit langem
erfunden wurde. Diese aber ist die Gymnastik für den Körper und
die Musik für die Seele' (1. 1. 376 e). 'Die Turnkunst soll vor Ver-
weichlichung, die Musik vor allzu großer Heftigkeit und Hoheit
schützen ; . . auch erzeugt sie eine wohlanständige Gesinnung' (1. 1. 410d).
'Ist nicht deshalb die Erziehung durch die Musik die wirksamste,
weil der Takt und die Harmonie am meisten in das Innere der Seele
eindringen und sie am stärksten ergreifen, indem sie Sittlichkeit
[= Zucht?] beibringen und ihn [den Menschen] wohlanständig machen,
wenn er recht erzogen ist?' (1. 1. 401 d). —
Zu der 'von Jugend auf das ganze Leben lang sorgfältig zu pflegen-
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 411
den' Turnkunst, 'der Lehrmeisterin in Zu- und Abnahme' des
Körpers (1. 1. 521 e), und zu der sog. Musenkunde, welche
in eine sprachliche und musikalische zerfällt (1. 1. 376/8), treten die
mathematischen Disziplinen (1. 1. 522 c u. d). Ihren Wert
charakterisiert Plato folgendermaßen: 'Die Rechenmeister von Natur
werden sozusagen für alle Wissenschaften geschickt, und wenn die-
jenigen, welche von langsamer Auffassung sind, auf diese Weise
unterrichtet und geschult werden, so machen sie, im Falle sie keinen
andern Segen erlangen, wenigstens den Fortschritt, daß sie scharf-
sinniger als zuvor werden' (1. 1. 526 b).
Die große Masse schätzte wohl auch im Altertum die Lehrfächer
nach ihrem unmittelbaren Nutzen für das praktische Leben ein;
denn Plato betont einerseits immer wieder, 'daß ihm alle Einzel-
kenntnisse nur Übungsmittel für den Verstand seien' (1. 1. 530 c u. d),
'nur Vorbereitungswissenschaften und Wege zu dem einen Ziel, die
Menschen für die Kenntnis der höchsten Dinge geeignet zu machen'
(1. 1. 525, 527, 529). Anderseits läßt er einmal den Sokrates dem
Glaukon erwidern, als dieser von der 'Verwendbarkeit der Stern-
kunde für Ackerbau, Schiffahrt, Kriegskunst' spricht: 'du scheinst
Angst vor dem Volke zu haben, es möchte glauben, du schlügest nutz-
lose Wissenschaften vor' (1. 1.527 d).
Dieselbe Ausbildung wie dem männlichen Geschlecht soll auch
dem w e i b 1 i c h e n zu teil werden, da es zu denselben Aufgaben
wie das männliche — nach Maßgabe seiner Kräfte — herangezogen
werden soll (1. 1. 451 e, 453 a/b, 540 c).
Hinsichtlich der Methode des Unterrichtes gibt
Plato eine ebenso kurze als selbstverständliche und richtige An-
weisung. 'Die Jünglinge und Knaben müssen eine dem jugendlichen
Alter angemessene Unterweisung und geistige Ausbildung bekommen,
und auch dem Körper, während sie heranwachsen und mannbar
werden, sorgfältige Aufmerksamkeit schenken' (1. 1. 498 a u. b).
Den Gedanken des 'allmählichen, zunächst planlosen' Unter-
richtes (1. 1. 537a), 'der liebevoll auf die Eigenart des Schülers ein-
geht', führt Plato an anderer Stelle weiter aus und berührt sich dabei
mit Ideen, wie sie z. B. in der Gegenwart Oskar Jäger (Lehrkunst und
Lehrhandwerk), der Münchner Stadtschulrat Kerschensteiner, Willi.
Mönch (Geist des Lehramts, Gedanken über Fürstenerziehung),
Herrn. Weimer (Der Weg zum Herzen des Schülers) laut werden
412 Jegel,
lassen. 'Man muß bei dem Lernen jene Methode anwenden, wodurch
die Knaben zum Lernen am wenigsten gezwungen zu werden
scheinen (!), ... weil es sich nicht ziemt, daß ein freier Mensch etwas
in Skia vendien sten [== mit Zwang] lernt; denn die widerwillig über-
nommenen körperlichen Anstrengungen machen den Leib zwar um
nichts schlechter, in dem Geist aber bleibt nichts, was man gezwungen
lernt, dauernd haften Deshalb erziehe die Knaben beim Lernen
nicht mit Gewaltmaßregehi, sondern spielend, damit du besser er-
kennen kannst, wofür ein jeder natürliche Begabung besitzt'. —
"Wer allerdings die Absage an den Stock und andere Zwangs-
mittel so auffaßte, als spräche Plato gegen die unbedingte Unter-
werfung unter die Lehrerautorität, der irrt; denn ganz abgesehen von
der stets wiederkehrenden Betonung des Gesetz(es)gehorsames tadelt
Plato auch einmal zeitgenössische Freiheitserscheinungen im Ver-
hältnis von Lehrer und Schüler. 'Der Lehrer fürchtet die Schüler und
schmeichelt ihnen und die Schüler verachten die Lehrer und Hof-
meister' (1. 1. 563a).
Den systematischen Unterricht will Plato erst nach
der turnerischen Ausbildung zu Beginn der 20er Jahre anfangen
lassen; denn der griechische Philosoph geht von der Anschauung
aus, 'daß bei starker körperlicher Inanspruchnahme der Geist müde
sei und daß nur das Lernen Wurzel fasse, bei dem ein Überblick über
die gegenseitige Verwandtschaft der wissenschaftlichen Unterrichts-
fächer und von der Natur des Seins gegeben werde' (1. 1. 537 b u. c).
Plato weist also die methodische Beschäftigung mit den Wissen-
schaften, die einen gereifteren Geist verlangen, ungefähr denselben
Jahren zu, in denen unsere Studenten in höheren Semestern zu stehen
pflegen, und würde eine Verbindung des Einjährigendienstes und
Studiums als unmöglich verwerfen.
Mit einer uns rücksichtslos und freihoitsfciiidlich anmutender;
Konsequenz werden die B i 1 d u n g s m i 1 1 e 1 für ihren erzieherischen
Beruf zurechtgestutzt und gezwungen sich eine ganz be-
stimmte Entwicklung — wenn man dieses Wort überhaupt gebrauchen
darf — gefallen zu lassen. Soweit sie 'der Verweichlichung, Unsittlich-
keit, Unwahrhaftigkeit, Gottlosigkeit' dienen, werden sie verworfen
und unter die Präventivzensur des Staates gestellt (cf. auch Gesetze
801/2). Welche eigenartigen Berührungspunkte Piatos mit modernen
Sittlichkeitsvereinler und mit — Goethe, Willi. Meisters Wander-
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 413
jähre II, 8 (Pädagog. Prov.), und doch welcher Kontrast besteht in den
Voraussetzungen, in den Beweggründen und noch mehr in dem Maß-
stab für das Unrechte und Unsittliche zwischen den Titanen und den
Epigonen! 'Entweder müssen die Dichter in ihren Werken uns das
Abbild der guten Sitten vorstellen und nahebringen oder sie dürfen
überhaupt nicht dichten, ... und auch den übrigen Künstlern muß
man Zügel anlegen und sie verhindern, daß sie jenes Schlechtbeschaffene,
Ungenügsame, Unedle, Unziemliche in ihren Abbildern der Lebe-
wesen, in den Gebäuden oder in einem andern Werk darstellen oder
wenn sie dieses [die Wiedergabe des sittlich Tadellosen] nicht leisten
können, so darf ihnen nicht erlaubt werden, bei uns tätig zu sein,
damit nicht die Wächter [== Beamten], welche durch den Anblick
schlechter Vorbilder erzogen werden, gleichsam wie durch ein schlechtes
Gras, indem sie große Mengen täglich allmählich abpflücken . . .,
ein großes Übel unbewußt (!) in ihren Geist aufnehmen, sondern man
muß solche Künstler aufsuchen, welche nach ihrer Anlage die Natur
des Schönen und Geziemenden aufspüren können' (Staat 401 b). Ein
Zwiespalt, der unsere Welt durchzieht, ist also im 'besten Staat'
unmöglich: Für Jugend und Erwachsene gibt es keine doppelte Moral.
Das, was die Jugend nicht sehen und hören darf, ist auch für die
Erwachsenen unschicklich. Um ein reines Geschlecht zu erziehen,
wünscht Plato, 'daß die Jünglinge, gleichsam an einem gesunden Ort
wohnend, aus der ganzen Umwelt, von welcher Seite auch immer ein
Lichtstrahl von den, schönen Werken her in ihr Auge oder Ohr fällt,
Nutzen ziehen und ein Luftzug, der aus heilsamen Gegenden Gesundheit
bringt, sie schon von Kindheit an unbemerkt (!) zur Freundschaft
und Übereinstimmung mit dem Schönen veranlaßt' (1. 1. 401 c).
Da Plato erkennt, daß jenes große Maß von Selbstverleugnung,
das er von den Bürgern seines Idealstaates fordert, nicht ohne starke
sittliche Religiosität möglich ist, legt er auch besonderen
Nachdruck darauf, 'daß die Kinder von Jugend auf in Meinungen
über das Rechte und Ehrenhafte von den Eltern erzogen werden',
während er 'die entgegengesetzten, mit Vergnügungen verbundenen
Lebensprinzipien ausgeschaltet wissen will' (1. 1. 538 e).
Aus diesem Gedankenkreis heraus will er auch verhüten, 'daß
die Kinder die ersten besten M ä r c h e n von den ersten besten
Dichtern hören und in. ihren Seelen Vorstellungen aufnehmen, die
großenteils denen entgegengesetzt sind, von dvm-n wir glauben, daß
414 Jegel,
sie [die Kinder] dieselben im späteren Leben festhalten müssen' (1. 1.
377 b). 'Um kein schlechtes Vorbild zu geben, darf man vor den zu-
hörenden Jünglingen auch nicht sagen, daß jemand, wenn er das
größte Unrecht begeht, oder seinen unrechthandelnden Vater auf alle
Weise züchtigt, nichts Auffälliges, sondern nur das tut, was die ersten
und höchsten Götter getan haben' (1. 1. 378 b). In Konsequenz dieser
Anschauungen spricht sich Plato gegen die 'unwahren Märchen' aus,
wie sie Homer und Hesiod von den Göttern erdichtet haben, und will
die Jenseitsvorstellungen — göttliches Strafgericht für die Unge-
rechten, paradiesische Seligkeit für die Gerechten — , schon im Kinde
erwecken (1.1.614 c, 615 c, 618 e): Plato vertritt also gleich dem
( 'hristentum den eudä monistischen Standpunkt, den
Kant mit unerbittlich-grausamer Logik verwirft. —
Entsprechend der wesentlich verschiedenen Grundlage, welche
der Gesetzesstaat gegenüber dem Idealstaat hat, finden sich
auch über die Pädagogik andere Vorschriften, die noch mehr ins
Detail gehen; denn Plato konstruiert den Idealstaat, ohne die Ver-
wirklichungsmöglichkeit immer im Auge zu behalten, während er
sich im Gesetzesstaat mehr auf dem Boden des Realisier barsn
bewegt.
Auch in den Gesetzen definiert Plato die Worte 'Bildung'
und 'E r z i e h u n g\ — Die kürzeste Begriffsbestimmung lautet :
'Erziehung beruht offenbar darin, die Knaben zu der Einsicht, welche
das Gesetz wie die ältesten und erfahrensten Männer übereinstimmend
als das wahrhaft Richtige erklärt und gebilligt haben, hinzuführen
und zu leiten. . . . Der Knabe soll nicht gewöhnt werden im Wider-
spruch zu dem Gesetz und denen, welche dem Gesetze -gehorsam sind,
sich zu freuen oder Schmerz zu empfinden, sondern [er soll] über die-
selben Gegenstände wie der Greis sich freuen und Schmerz empfinden'
(Gesetze 659 d ; 788 c). — Die letztere Forderung scheint die Jugend
zu verkennen; doch zeigt sich Plato an anderer Stelle als sehr sorg-
fältiger Beobachter der kindlichen Natur, 'welche das Bedürfnis hat
sich fortwährend zu bewegen und Laute auszustoßen' (1. 1. 653 e)
und 'welche nicht mit demselben Verstand, den sie später hat, geboren
wird' (1. 1. 672 a). Auch betont Plato die Notwendigkeit, die Eigen-
art jedes Kindes zu beachten, wenn er, die lazedämonische Erziehungs-
weise tadelnd, erklärt: 'Und nicht nimmt jemand [bei den Laze-
dämoniern] sein eigenes Füllen, das sehr wild und unzufrieden ist,
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 415
von der Herde weg und übergibt es gesondert dem Bereiter zur Be-
handlung oder erzieht es selbst, indem er es streichelt, zähmt und alles
zur Erziehung Nötige anwendet' (1. 1. 666 e).
Im Hinblick auf diese Sachlage dürfen wir die obige auffällige
Bemerkung (1. 1. 659 d, 788 c) nicht wörtlich, sondern nur als allgemeine
Zielangabe für die Erziehung auffassen. Dieses Ziel aber erblickt
Plato in der Unterwerfung der natürlichen Neigungen unter die
bessere Einsicht. 'Jeder wähnt schon als Knabe fähig zu sein alles
zu erkennen, auch glaubt er seine Seele durch Billigen [ihrer "Wünsche]
hochzuhalten und gestattet ihr [deshalb] bereitwillig alles, was sie
will, zu tun ; man muß aber sagen, daß er ihr durch solches Verhalten
schadet und nicht Gutes erweist, obwohl er ihr nach unserer Meinung
den ersten Platz gleich hinter den Göttern einräumen müßte1 (1. 1. 727 b).
Die zweite Definition des Begriffes 'Erziehung' zeigt die Ent-
stehung der platonischen Meinung. 'Ich behaupte
nämlich, daß das erste recht kindliche Empfinden Freude und Schmerz
ist, und daß dieses Gefühl zuerst gut und böse in der Seele wird. . . .
Erziehung nenne ich also die den Kindern zuerst zuteil gewordene
Tugend, wenn eben Freude und Schmerz, Freundschaft und Haß
auf die richtige Weise in der Seele entsteht, bevor sie [die Kinder]
vernünftig geworden sind; wenn sie aber zu Verstand gekommen
sind, so werden sie mit der Vernunft übereinstimmen, daß sie an die
geziemende Sitte [das Haßens werte von Anfang an bis zum Ende zu
hassen und das Liebenswerte zu lieben] mit Recht gewöhnt wurden,
und diese allgemeine Übereinstimmung ist die Tugend' (1. 1. 653 a und
659). — Am schärfsten zeigt die 3. Stelle Pia tos Ansicht von wahrer
Erziehung und richtiger Bildung: 'Indem wir die Erziehung einzelner
Menschen tadeln und loben, nennen wir den einen unter uns gebildet,
den andern ungebildet, obwohl er bisweilen im Kleinhandel, Schiffs-
reederei oder in andern ähnlichen Dingen ein wohlgebildeter Mann ist.
Diejenigen, welche diese Ansicht haben, erklären augenscheinlich
jene Bildung für keine Bildung, sondern nur die schon im jugendlichen
Alter beginnende Anleitung zur Rechtschaffenheit, weil nur sie [die
Anleitung] bewirkt, daß man ein vollkommener Bürger zu werden
begehrt und wünscht, und weil sie im Gehorchen und Befehlen mit
Recht erfahren macht. Jener Ausdruck [vom Gebildet- und Un-
gebildetsein] wil' m. E. die letztere Erziehung allein für wahre Bildung,
dagegen die, welche auf Gelderwerb, Körperkräfte oder andere Fertig-
416 Jegol,
keiten abzielt, für schmutzig, unfrei und überhaupt des Namens
Bildung unwürdig erklären. Wir wollen nun nicht mit jenen [Banausen]
über den Namen streiten, sondern nach allgemeiner Übereinstimmung
das Gesagte festhalten, daß der richtige Erzogene meist [an andern
Stellen (cf. Schluß des Aufsatzes!) 'immer'] tüchtig wird; deshalb
wollen wir die Erziehung niemals gering schätzen, sondern sie uuter
die herrlichsten Güter, welche Männern zuteil werden (können),
rechnen, und jedermann muß, wenn sie etwa verloren geht, aber wieder
hergestellt werden kann, dies [letztere] nach Kräften während des
[ganzen] Lebens betreiben' (1. 1. 643 a/644 b). Nicht leicht kann
das Streben nach einseitigem Fachwissen ent-
schiedener verworfen und das Verlangen nach allgemeiner Bil-
dung als das allein richtige bezeichnet werden, als mit diesen Worten.
(Diese Mahnung tut gerade in unserer Zeit doppelt not, wo weite
Kreise in dem Bemühen 'modern' zu sein, 'die Jugend für das prak-
tische Leben vorzubilden', im Schulwesen ein Banausentum, das sich
früher oder später rächen muß, befürworten; denn die Herzens- und
Willensbildung kommt bei dieser Jagd nach sofort in Geld um-
zusetzenden Kenntnissen zu kurz.) Die Überschätzung des
Materiellen bekämpft Plato auch wegen seines prinzipiellen
Standpunktes, daß glückliche Zustände des Einzelnen wie des Ganzen
in möglichst bescheidenen Verhältnissen mehr gewährleistet sind als
im Reichtum. 'Die ins Ungemessene vermehrten Glücksgüter ver-
ursachen dem Staate wie dem Einzelnen Feindschaft und Aufruhr. . , ,
Deshalb strebe niemand nach Geld um der Kinder willen, damit er
sie bei seinem Tode möglichst reich hinterlasse ; ... denn für den
Jüngling ist ein Vermögen, frei von Schmeichlern und das Notwendige
nicht entbehrend, das allergeeignetste für die Pflege der schönen
Künste; denn es paßt zu uns und verschafft uns in der Überein-
stimmung [mit uns] ein beschwerdeloses Leben. Wir müssen aber
den Kindern viel sittliche Scheu, nicht große Reichtümer vermachen'
(1. 1. 729 a/b). —
Nachdem wir den allgemeinen Geist, von dem die Erziehung im
Gesetzesstaat getragen wird, kennen gelernt haben, wenden wir uns
wieder den einzelnen Vorschriften zu.
Überzeugt, daß es für den einzelnen und für den Staat nicht
gleichgültig ist, wer in der Ehe zusammenlebt, will Plato, daß der
Staat die Bekanntschaft der Ledigen beider Geschlechter vermittelt.
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 417
'Im Hinblick auf die eheliche Gemeinschaft muß man die Unkenntnis
aufheben, aus welchem Hause und wen jemand freit und an wen man
[die Eltern ihre Tochter] verheiratet, und es ist vor allem das an-
zustreben, daß man in diesen Fragen möglichst auf keine Weise ge-
täuscht wird' (1. 1. 771 e). (Wieviel wird in der Gegenwart vor der
Eheschließung von beiden Teilen — zusammenphantasiert!). Ähnlich
wie heutzutage die Angehörigen der 'Gesellschaft' sich im Tanzsaal
oder beim Sport kennenzulernen pflegen, so wünscht Plato öffentliche
Spiele, bei denen Jünglinge und Mädchen Reigen aufführen und 'sich
gegenseitig entblößt [dekolletiert], soweit vernünftige Scham es zu-
läßt, sehen können' (L 1. 771 e u. 772 a). 'Wenn jemand, während er
schaut und geschaut wird, im Alter von 25 Jahren glaubl, ein Mädchen,
das nach seinem Sinne ist und sich zu gemeinsamer Kindererzeugung
eignet, gefunden zu haben, so soll er heiraten, und zwar spätestens
bei Beginn des 35. Jahres ; auf welche Weise aber er zusammenkommen
und die Passende suchen muß, soll er zuvor erfahren' (1. 1. 772 d/e).
'Verständige Leute sollen den Jungen raten weder die Ehe mit einem
armen Mädchen zu fliehen noch vor allem nach der Ehe mit einer
reichen zu trachten, sondern wenn alles übrige gleich ist, immer
lieber die Verbindung mit einer ärmeren einzugehen; denn dieses
wird für den Staat und die künftig verschwägerten Häuser zuträg-
licher sein; das Gleichmäßige nämlich und Angemessene führt un-
vergleichlich besser zur Rechtschaffenheit als das Unmäßige. Ferner
muß derjenige, welcher sich bewußt ist, allzu wagemutig zu sein
und schneller als billig zu Taten fortgerissen zu werden, danach
streben der Schwiegersohn sanftmütiger Eltern zu werden; während
der mit der entgegengesetzten Natur Begabte gegenteilige Ver-
schwägerungen suchen muß. (!!) Und überhaupt muß man hin-
sichtlich der Vermählungen den einen Grundsatz aufstellen, jeder
müsse diejenige Ehe, welche für den Staat die nützlichste ist, eingehen,
aber nicht die, welche für ihn die angenehmste ist' (1. 1. 773a und b).
Plato leimt zwar ein förmliches Gesetz ab, daß möglichst ungleichartige
Charaktere und auch ungleichartige Vermögensverhältnisse in der Ehe
zusammenkommen sollen, will aber das Ziel durch Ermahnung und
Überredung erreichen, 'damit nicht durch Verheiratung eines Reichen
mit der Tochter eines Reichen oder Mächligen unverhältnismäßige
Ungleichheit des Besitzes für den Staat entsteht; auch könne
niemand übersehen, daß der Charakter der Kinder aus denen der
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 4. 28
418 Jegel,
Eltern gemischt sei' (1. 1. 773d). — Ohne falsche Prüderie gibt der
Gesetzgeber ehrlich zu, daß sich der Staat um die Ehe nur kümmert,
damit er in der Zukunft tüchtige Bürger und Bürgerinnen habe.
Niemand tappt blindlings in die Ehe, sondern jeder weiß, was er
von dem andern Teil zu erwarten hat. (Wie steht es in der Gegen-
wart? Die Frage stellen heißt den heutigen Gebrauch als äußerlich
scheinbar delikater, in Wirklichkeit aber viel peinlicher besonders
für das Mädchen zu erkennen. Wieviel Ehen werden unglücklich,
weil man sich vorher nicht genügend gekannt, besonders auch das
körperliche Moment zu wenig berücksichtigt hat! Wie häufig wird
die von Plato verpönte (1. 1. 773e) Geldheirat eingegangen !)
Nachdem schon bei der Eheschließung der Z w e c k der Hei-
rat, der Nachwuchs, entschieden betont wird, kann es nicht wunder-
nehmen, wenn der Gesetzgeber in derselben Frage sich auch a n die
Ehegatten wendet. ■ — Da der Staat nie mehr oder weniger als
5040 Landlose enthalten soll, muß die Bevölkerung möglichst gleich
bleiben. 'Deshalb müssen mittels öffentlicher lobender oder tadelnder
Erwähnungen, mittels Ermahnungen der Jüngeren durch die Greise
Zeugungen verhütet oder erhöht werden' (1. 1. 740d).
Auch der vorgeburtlichen Erziehung i m enge-
ren Sinne schenkt Plato seine Aufmerksamkeit, indem er von
dem Gedanken ausgeht, 'daß ein großer Kraftzufluß ohne viele und
entsprechende Anstrengungen dem Körper tausend Übel veran-
lasse' (1. 1. 739a); er will auch, 'daß sie [die werdenden Mütter] weder
viel Vergnügungen noch zügellosen Schmerz empfinden, sondern
während jener Zeit [der Schwangerschaft] ein ruhiges, stilles und
mildes Leben haben' (1. 1. 792e); ferner verordnet er den schwangeren
Frauen regelmäßige Spaziergänge (1. 1. 789e).
Mit andern Vorschriften Piatos, besonders hinsichtlich der Be-
handlung von Neugeborenen werden unsere Kinder-
ärzte kaum immer einverstanden sein. 'Die Kinder sollen, weil die
zarten Körper zu bilden sind, 2 Jahre (!) lang in Windeln gewickelt
und durch Wärterinnen, bis die Kleinen stehen können, täglich und
auch diejenigen, welche stehen können, bis zum Ende des 3. Jahres
möglichst viel spazieren getragen (!) werden, damit sie, noch jung,
nicht die Glieder verdrehen, wenn sie sich gegen etwas stemmen ;
denn die Körper werden am schönsten, wenn sie gleich in der Jugend
richtig aufwachser1'. Die kleinen Schreihälse, 'welche schwer schlafen
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 419
wollen, sollen möglichst den ganzen Tag und die ganze Nacht (!)
unter Gesang geschaukelt werden' (1. 1. 790c/d u. 788d). — Seine
eigenartigen Anordnungen erklärt Plato auf noch sonderbarere Weise.
'Die Schlaflosigkeit der Kinder ist eine Art Furcht Wenn nun
jemand von außer, her bei einem derartigen Gebrechen [dem von
ihm Befallenen] eine Erschütterung zufügt, so überwindet die Be-
wegung von außen die innere und macht sie [die Kinder] des
Schlafes teilhaftig1 (1. 1. 791a). —
Sehen wir also Plato hinsichtlich der körperlichen Behandlung
der Säuglinge in manchen Schlußfolgerungen aus meist richtigen
Voraussetzungen auf Abwegen, so werden wir ihm anderseits freudig
zustimmen, wenn er sich gegen Verzärtelung und für eine
zielbewußte Erziehung der Säuglinge ausspricht. Durch diese Aus-
führungen setzt er sich m. E. in einen gewissen Widerspruch zu den
oben entwickelten Gedanken vom vielen Warten der Kinder; denn
der Text scheint die andere mögliche Auffassung, daß Plato seine
Ausführungen ironisch meine, zu verbieten. 'Verweichlichung be-
wirkt, daß sie [die Kinder] mißmutig, jähzornig und aufbrausend
selbst bei Kleinigkeiten werden, das Gegenteil [Härte] macht sie
niedrig denkend, unfrei und menschenscheu' (1. 1. 791d). Die Ver-
wöhnung geschieht durch Wärterinnen, 'welche dem weinenden
und schreienden Kind alles Mögliche bringen, bis es ruhig ist' (1. 1.
792a). Die Kinder sollen aber 'möglichst auf einem mittleren Gemüts-
zustand' gehalten werden ; d. h. weder nur Freude noch nur Schmerz
haben; 'denn am festesten wurzelt bei allen der Charakter durch
Gewöhnung' (1. 1. 792d/e). — Derselbe Gedanke [G e w ö h n u n g
im jugendlichen Alter] beeinflußt auch die Wahl der
kindlichen Spiele, denen Plato sehr große Bedeutung beimißt; denn
er behauptet, 'daß Knaben, welche in ihren Spielen gegen früher
Änderungen machen, auch notwendig andere Männer werden. Die
Neuerungssüchtigen werden aber auch als Männer mit den bestehenden
Verhältnissen im Staate unzufrieden sein und ebenso Neuerungen einzu-
führen versuchen' (1.1. 798c, cf. auch oben !). Durch die herkömmlichen
Spiele sollen die Knaben nicht nur 0 r d n u n g und Unterwerfung
unter das Herkommen lernen, sondern auch für den künftigen
Beruf vorbereitet werden. Plato will nämlich, 'daß derjenige, der
in einer Beschäftigung künftig ein hervorragender Mann sein soll,
diese Tätigkeit schon von Kindheit an betreibe und sich mit Ernst
28*
420 Jegel,
in die einzelne Verrichtung versenke. Wenn nun z. B. jemand ein
guter Landmann oder tüchtiger Architekt sein will, so muß der eine,
der Häuserbauer, im Spiel Kinderhäuser errichten, der andere das
Land bestellen. Und jeder Erzieher der beiden muß jedem kleine
Geräte, Abbilder der wirklichen, anfertigen. Dann müssen die Kinder
auch das im voraus lernen, was sie vorher lernen müssen, z. B. der
Baumeister messen und das Richtscheit gebrauchen, wie der künftige
Soldat im Spielen Reiten lernen oder anderes derartiges tun muß;
auch muß man versuchen, schon im Spiel die Vorliebe und die Be-
geisterung der Knaben darauf zu lenken, was sie notwendig erlangt
haben müssen, nachdem sie das Ziel erreicht haben. Die Haupt-
sache also bei der Ausbildung nenne ich die rechte Anleitung, welche
den spielenden Knaben zur möglichst innigen Hinneigung für die
Tätigkeit hinführt, in der er, Mann geworden, vollendet sein muß'
(1. 1. 643b/d). Es scheint, als ob Piatos Worte Fröbelsche
Kindergärten forderten, allerdings mit dem großen Unter-
schied, daß Fröbel das. Nützlichkeitsmoment, den künftigen Beruf,
nicht in den Vordergrund rückt. — Das kindliche Spiel, welches
unter der Aufsicht auch Züchtigungsrecht besitzenden Wärterinnen,
wohl den Almfrauen unserer Kindergärtnerinnen, geschieht, soll
die beiden Geschlechter bis zum 6. Jahre vereinigt sehen (1. 1. 794a— c).
Nach der Trennung sollen 'die Knaben zu (Fecht)meistern im Bogen-
schießen, Schleudern und Speerwerfen, sowie zu Reitlehrern gehen,
die Mädchen aber, wenn sie sich eignen, wenigstens theoretische
Kenntnisse in dem Gebrauch der Waffen erlangen' (1. 1. 794d).
Wie die Mädchen Tanzlehrerinnen haben (1. 1. 813b),
so sollen sie auch durch öffentliche, allen gemeinsame, vom Staat
besoldete Lehrer (1.1. 813 e, 764 c/d) während der Mädchenzeit alle
Waffenspielc und -tanze lernen, als Frauen aber sich Kenntnisse
aneignen, 'wie man stürmt, Reih und Glied beobachtet, die Waffen
niederlegt und aufnimmt, . . .damit sie ihre Kinder und sonst den
Staat schützen können, wenn die Mannschaft im Felde steht' (1. 1. 813e
—814a). Die militärische Ausbildung des weib-
lichen Geschlechtes begründet Plato auch durch den
Hinweis, 'daß sogar Vögel selbst gegen die stärksten Tiere für ihre
Jungen kämpfen' (1. 1. 814b) und 'daß bei andern Völkern, z. B. bei
den Sarmaten am Pontus, die Frauen derartige Ausbildung genießen'
(1. 1. 8ü4e).
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 421
Wie Plato nicht will, daß von den zwei Geschlechtern das eine,
beinahe die Hälfte der im Staat vorhandenen Kräfte, für die Ver-
teidigimg des Vaterlandes vollkommen bedeutungslos ist (1. 1. 805a), so
empfindet er es auch als Übelstand, daß die beiden Hände
nicht wie die beiden Füße gleichmäßig ausgebildet werden,
und wünscht Abänderung der herrschenden Sitte (1. 1. 793d). 'An
den Händen aber sind wir durch den Unverstand der Wärterinnen
und Mütter gleichsam hinkend geworden; denn, während die natür-
liche Beschaffenheit eines jeden Gliedes ungefähr gleich ist, haben
wir sie wegen des Herkommens verschieden gemacht, üidem wir m
nicht richtig gebrauchten1 (1. 1. 793d).
Die Zeit des spielenden Unterrichts vermittelt auch einige Z a h 1-
und M a ß b e g r i f f e (1. 1. 819b/c), z. B. indem die Kinder sich
gegenseitig paarweise abzählen, Kränze und Trinkschalen auf ver-
schiedene Art verteilen. 'Diejenigen, welche den Gebrauch der not-
wendigen Zahlen dem Spiele anpassen, nützen den Lernenden für
die Aufstellung, Führung und Leitung des Heeres, sowie für die Ver-
waltung des Hauswesens und machen überhaupt die Menschen sich
selbst nützlicher und aufgeweckter' (1. 1. 819c, cf. 747b). Eine der-
artige Übung im Anwenden von Maßen und Zahlen erklärt Plato für
sehr notwendig; denn die Unwissenheit der Griechen in dieser Hin-
sicht, 'sei nicht Menschen, sondern mehr Schweine würdig1 (1.1. 819e).
Vom 10. Jahre an beginnt der systematische Unter-
richt mit allgemeiner Schulpflicht für alle Freien.
'Hinsichtlich der Gymnasien und öffentlichen Schulen erklärten
wir bereits, daß sie in der Mitte der Stadt, ebenso die Reitschulen
und ausgedehnten Plätze für Bogenschießen und andere Plänke-
leien als Lern- und Übungsplätze der Jugend um die Stadt herum
[je] dreifach angelegt werden müßten (1. 1. 804c). Bei allen diesen
Orten sollen fremde Lehrer, welche gegen Bezahlung für jedes Fach
angestellt wurden, wohnen und alle Kenntnisse, welche auf Krieg
und Musik Bezug haben, den die Schule Besuchenden lehren, und zwar
nicht nur demjenigen, welchen der Vater die Schule besuchen lassen
will, während er bei andern die Ausbildung unterläßt, sonderu jeder
Mann und jedes Kind muß — wie man gewöhnlich sagt nach
Möglichkeit (!) erzogen werden, da die Kinder mehr dem Staate
als den Eltern geh öreti1 (1.1.804c). Um die Kinder an das Früh-
aufstehen zu gewöhnen, weil sie, herangewachsen, als Haus-
422 Jegel,
herren auch zuerst aufstehen sollen, beginnt die Schule, 'wenn der
Morgen graut1 (1. 1. 808 a/c). Zu ihr begeben sich die Knaben in B e -
gleitung dci Pädagogen, welche das Benehmen der
Jungen überwachen sollen (1. 1. 808d), 'denn ein Knabe ist von allen
Lebewesen am schwersten (!) zu behandeln, wie er nämlich [einer-
seits] für das vernünftige Denken eine Quelle, die aber noch nicht
fest gefaßt ist, besitzt, so ist er [anderseits] das hinterlistigste (!!),
leidenschaftlichste und übermütigste aller Geschöpfe' (1. 1. 808d).
'Der richtige Zeitpunkt für den Anfang des Ele-
mentarunterrichtes [Lesen und Schreiben] ist das 10. Jahr
bei einer Dauer von etwa 3 Jahren, hinsichtlich des Leierspieles das
vollendete 13. Jahr, und zwar sollen die Knaben auch bei diesem
Lehrgegenstand [nur] 3 Jahre verweilen. Gegenüber dieser gesetz-
lichen Frist soll weder ein längerer noch ein kürzerer Zeitraum dem
Vater oder Knaben, dem lernbegierigen oder trägen, erlaubt sein;
der Ungehorsame aber hat nicht teil an den Knabenehren1 (1. 1. 809e
— 810a). 'Im Elementarunterricht muß man sich so lange Mühe
geben, bis jeder Schreiben und Lesen kann ; daß er aber in bezug auf
Schönheit und Schnelligkeit vollkommen ist, danach soll man keines-
wegs bei denen, welchen die natürlichen Anlagen in den festgesetzten
Jahren nicht zu Hilfe kämen, trachten.1 In der Erkenntnis von der
verschiedenen Begabung der Kinder will also Plato die Minder-
befähigten, ihnen zur Qual, über ein geringes Mindestmaß
hinaus nicht mit dem Studium plagen und verwirft — die Sehn-
sucht so mancher Gegen warts jungen — mit den abgeteilten Jahres-
kursen auch den ev. Wiederholungszwang. Diese Maßregel verstopft
auch eine Hauptquelle der Schülerselbstmorde, welche fast immer
zurückbleibende, von Schule und vor allem Elternhaus vorwärts-
getriebene Knaben begehen.
Wie in der Gegenwart bildet den Unterrichtsstoff
die Lektüre von Schriftstellern,. Manche nennt Plato
für die Jugend 'gefährlich1 und zeigt auch, die widerspruchsvolle
Stellung seiner Zeit gegenüber den Autoren. 'Tausende behaupten,
daß der richtig gebildete Jüngling mit ihnen [den ernsten und heiteren
Schriften] zu nähren, ja zu sättigen sei, und zwar dergestalt, daß
man dieselben in Vorlesungen oftmals hören und viel lernen bisse,
sodaß sie [die Knaben] ganze Dichter auswendig kennen. Andere
wieder, welche aus den ganzen Werken Hauptstückc ausgewählt
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 428
und [sie, sowie] gewisse ungekürzte Erzählungen in ein Ganzes ge-
bracht haben, erklären, daß jemand wenigstens diese Stellen aus-
wendig kennen und dem Gedächtnis anvertrauen müsse, wenn er
unter uns ein guter und weiser Mann von großer Erfahrung und vielem
Wissen sein wolle' (1. 1. 810e/Slla). Auch diese C h r e s t o m a t h i e n
und Dauphineausgabcn von früheren Schriftstellern befriedigen
Pluto nicht, 'weil sie vieles enthalten, dessen Kenntnis der Jugend
gefährlich ist' (1. 1. 811b). Deshalb sollen seine eigenen Reden in
den Schulen gelesen werden. Doch wünscht er auch, daß der Unter-
richtsminister 'ähnliche Stellen, welche er bei der Dichter- oder
Prosaikerlektüre oder in einer ungeschriebenen, nur mündlich vor-
getragenen Rede findet, nicht unbeachtet, sondern aufzeichnen läßt,
und zwar soll er sogar die Lehrer zwingen, diese schriftstellerisch« n
Erzeugnisse zu lehren und vorzutragen; welchem Lehrer aber diese
Werke nicht behagen, dessen Dienste soll er nicht in Anspruch nehmen,
doch demjenigen, welcher seiner Empfehlung beistimmt, soll er die
Jünglinge zum Lehren und Erziehen übergeben' (1. 1. 811e).
Zu dem sprach lieh- wissenschaftlichen Unterricht tritt der in
der M u s i k. Auch ihn wünscht Plato für den Anfänger möglichst
vereinfacht; 'denn das Entgegengesetzte, welches sich gegenseitig
widerspricht, bewirkt schweres Lernen, während der Schüler mög-
lichst leicht lernen müsse; denn die ihm vorgeschriebenen Unter-
richtsfächer sind weder klein noch wenig1 (1. 1. 812e). Der reinen
Instrumentalmusik wirft Plato 'Mangel an Kunstsinn und Gaukelei'
vor (1. 1. 670a).
Im Zusammenhang mit der musikalischen Ausbildung steht
die im [R e i g e n] t a n z u n d T u r n e n , 'da zu den einzelnen
Übungen auch gesungen wird und Instrumente ertönen' (1. 1. 812e/813).
Entsprechend dem griechischen Bildungsideal wird der Tanz-
unterricht in einer uns fremden Weise betont und gewürdigt: 'Ein
gut erzogener Mensch muß schön singen und tanzen' (L 1. 654b).
Diese Äußerung, welche Anschauungen der Rokokozeit ähnelt, wird
uns verständlicher, wenn wir uns v< »-gegenwärtigen, daß unter -Tanz'
der 'Chorreigen' verslanden wird und daß "auf schöne Haltung' [des
Tanzenden] (1. L 654e), welche 'rhythmisch und harmonisch' ist
(1. 1.655a), geachtet, werden soll: d. h. die von Plato gewünschte
Tanzkiinsi deck! sich mit der sogen, rhythmischen Gym-
nastik unserer Taue.
424 Jegel,
An die rein gymnastischen Ü b u r g e n reihen sich die spe-
zifisch militärischen, 'Bogenschießen und das Schleudern
anderer Geschosse, jede Kunst des Leicht- und Schwerbewaffneten,
Manövrieren, jede Beschäftigung des marschierenden und lagernden
Heeres und was zur Reitkunst gehört1 (1. 1. 813d/e). Plato will also
in der Jünglingszeit starke Beachtung des späteren militärischen
Berufes, wie die Jugendwehr, Pfadfinder usw. der Gegenwart.
Nachdem Plato die Ausbildung des Knabenalters dargelegt
hat, wendet er sich der des J ü n g 1 i n g s zu.
'Der Freigeborene muß noch drei Unterrichtsfächer
lernen, das eine [von ihnen] ist Rechnen und Zahlenkunde, das andere
Messen von Länge, Fläche und Tiefe, das dritte die Sternenkunde,
wie sie [die Sterne] im Verhältnis zueinander ihre Bahn ziehen. Doch
muß dieses alles in seiner vollen Genauigkeit nicht von der großen
Menge, sondern nur von einigen wenigen behandelt werden' (1. 1.
81?e/818a). 'Was aber von diesen Gegenständen dem großen Haufen
notwendig ist, und wie es am richtigsten dargelegt wird, das nicht
zu wissen ist einerseits für die Menge schimpflich, anderseits alles
genau zu durchforschen weder leicht noch allen möglich. Das Un-
erläßliche aber — was zur Verwaltung von Haus und Staat, sowie
zum Krieg gehört, [nämlich] die Kenntnis des Umlaufs von Sonne,
Mond und Sterne, die Ordnung der Tage in Monate, der Monate in ein
Jahr — kann nicht beiseite geworfen werden' (1. 1. 809c, 822a). 'Was
aber von diesen [mathematischen] Fragen im einzelnen, wieviel,
wann und wie, was in Verbindung und was getrennt von dem andern,
sowie der ganze Zusammenhang der Dinge gelernt werden muß,
das muß der zu den andern Gegenständen Vorschreitende zuerst
erfassen und lernen, wobei diese [mathematischen] Wissenschaften
• — Algebra, Geometrie, Stereometrie und Astronomie — Führer
sind' (1. 1. 81 8d). — Plato will also in klarer Erkenntnis der Durch-
schnittsbegabung das tiefere Eindringen einem kleinen
Kreis Auserlesener vorbehalten seilen (cf. auch 1. 1. 965a/b),
'da er vor den Leuten Furcht hat, welche sich mit diesen Wissen-
schaften zwar beschäftigten, es aber schlecht taten; denn eine gänz-
liche Unerfahrenheit in allen [diesen] Fragen ist weder schrecklich noch
das größte Unglück, sondern die Gelehrsamkeit und Vielwissenheit
infolge schlechter Anleitung ist ein viel größerer Schaden' (1. 1. 819a).
So sehr auch Plato die Vcrstandesbildung in den Vordergrund rückt
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 425
und die Tugend selbst lernbar nennt, so gibt er doch auch gelegentlich
Winke, daß er eine besondere Schulung des Willens im
Jünglingsalter für nötig erachte. Doch haben die Ausführungen ein
Doppelgesicht, sodaß nur bei richtiger Auffassung das erstrebte
Ziel, Stählen des Willens in der Richtung auf das Gute hin, erreicht
wird. 'Wenn unsere Bürger von Kindheit an in den größten [sinn-
lichen] Freuden unerfahren sind und nicht geübt werden, daß sie
in ihnen genügsam ausharren [= enthaltsam sind?] und infolge
sorgloser Hingabe an sinnliche Reizungen nichts Schimpfliches zu
tun gezwangen werden, so werden sie dasselbe erleiden wie diejenigen,
welche der Furcht unterliegen' (1. 1. 635c/d). — Diesen für sich miß-
verständlichen Satz beleuchtet ein anderer. 'Wenn wir jemand auf
rechte Weise furchtsam machen wollen, müssen wir nicht dafür
sorgen, daß er mit Unverschämtheit (= Tollkühnheit) streitet und
sich im Siegen übt, mit den Genüssen glücklich kämpfend' (1. 1. 647c)?
Die Forderung selbst ist durch eine beim Turnen gemachte Beob-
achtung veranlaßt. 'Diejenigen nämlich, welche sich körper-
lichen Übungen und Anstrengungen unterziehen, werden momentan
[bis sie die Anstrengungen gewöhnt sind] schwach' (1. 1. 646c). Aus
dieser Stellenvergleichung ergibt sich also, daß wir die erste Äuße-
rung nicht in dem Sinne des Sichauslebens verstehen dürfen. Das
beweisen auch die von hohem sittlichen Ernst getragenen Cxedanken
über den 'vertraulichen Umgang zwischen M ä d -
c h e n u n d J ü n g 1 i n g e n'. 'Es überkäme mich billig Furcht,
was man in einem Staat tun muß, in dem kräftige Jünglinge
und Mädchen, frei von aller knechtischen Arbeit, welche am meisten
den Übermut auslöscht [= Sinnlichkeit dämpft?], sind und welche
sich während ihres ganzen Lebens nur um Opfer, Feiern und Fest-
züge zu kümmern brauchen. Auf welche Weise werden sie sich nun
in diesem Staate enthalten von den Leidenschaften, welche schon
viele vielfach in das äußerste Verderben gestürzt haben, von denen
[aber] sich fernzuhalten die Vernunft, welche [bei uns] Gesetz werden
soll, befiehlt; denn es wäre verwunderlich, wenn unser [oben an-
gegebenes] Gesetz nicht über die meisten Leidenschaften Herr werden
könnte; der Umstand nämlich, daß übermäßiger Reichtum ver-
boten ist, bietet wohl keinen kleinen Vorteil für Verständigsem.
Also auch die ganze Erziehung hat ein angemessenes Gesetz für eben
dieses Ziel empfangen [= ist durch ein angemessenes Gesetz auf eben
426 Jegel,
dieses Ziel eingestellt], und dazu braucht die Behörde [= Unter-
richtsminister ?] ihr Augenmerk auf nichts anderes zu richten, son-
dern immer nur die Jünglinge zu beobachten. Dieser Umstand ent-
hält hinsichtlich der andern Begierden, soweit menschliche Kraft
vermag, ein Maß; was aber die Liebe der [nicht mannbaren] Knaben
und Mädchen, der Männerfrauen und der Frauenmänner [d. h. wohl
— wegen der folgenden Ausführungen — der Homosexuelle n
beider Geschlechter] anlangt, woraus [ = aus welcher Verirrung]
dem einzelnen Individuum wie dem ganzen Staate unzählige Übel
erwachsen, — ■ auf welche Weise kann man sie vermeiden und durch
welche bereitete Heilmittel finden die Einzelnen den Ausweg aus
jener Gefahr? — Sicherlich nicht leicht, mein lieber Klimas. — Denn
hinsichtlich der andern Punkte zwar, in denen wir von der herkömm-
lichen Gewöhnung abweichende Gesetze treffen, gewährt uns ganz
Kreta und Lazedämon passend keine unbedeutende Unterstützung,
hinsichtlich der Liebesverhältnisse aber — wir sind ja allein [unter
uns] — sind sie uns ganz entgegengesetzt; denn wenn man, der Natur
folgend, das vor Laios [der thebanische König, Vater des Ödipus,
wurde der Knabenliebe beschuldigt] geltende Gesetz einbringt, daß
man mit Recht Männer und Knaben von der geschlechtlichen Ver-
einigung nach Frauenart abhält, — wobei wir die Natur der Tiere
zu Zeugen anrufen, bei denen man kein einziges Männchen findet,
welches den Geschlechtsgenossen um derartiger Dinge willen [= Ge-
schlechtsgenuß] berührt, weil es naturwidrig ist — , so werden wir
wohl verständig reden und mit eurem Staat [Kreta und Lazedämon]
keineswegs übereinstimmen. . . . Wohlan, laßt uns untersuchen,
welchen Vorteil hinsichtlich der Tüchtigkeit es uns bringt, wenn
wir zugeben, daß man jenes [die Homosexualität] für ehrenhaft oder
keineswegs schimpflich erklärt? Wird in der Seele des [zur Homo-
sexualität] Überredeten, wenn es geschieht, der Charakter der Mann-
haftigkeit oder in der des Überredenden die Art verständiger Eigen-
schaften eingepflanzt? Wer wird nicht die Weichlichkeit desjenigen,
der solchen Lüsten Untertan ist und ihrer nicht mächtig zu sein ver-
mag, tadeln?' (1. 1. 835e— 836d). — Als Unterstützung 'im Kampf
gegen den Geschlechtstrieb' empfiehlt Plato die auch
heutzutage vorgeschlagenen Mittel. 'Wer wird sich leichter der Liebe
enthalten und das in dieser Frage Vorgeschriebene enthaltsam beob-
achten, derjenige, welcher seine Körperkräfte in guter Verfassung
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 427
hat und nicht vernachlässigt, oder der Faule'? (1. 1. 839e). 'Man soll
die Kraft der Begierde möglichst ungeübt machen und durch körper-
liche Anstrengungen den Zufluß und die Nahrung derselben [der
Begierde] wo andershin [= in andere Körperteile] lenken' (1. 1. 841a).
Der Bildung des Willens dient auch 'die gemeinsame Unter-
haltung beim Wein, wenn sie richtig geschieht' (1. 1. 641c, cf. auch
673e ! ). 'Bei ihr [der Unterhaltung] kann man prüfen, wie die Natur
jedes Einzelnen von uns beschaffen ist' [1. 1. 652a]. 'Auch die bei
öffentlichen Festen gesungenen Lieder sollen wie Zaubergesänge
der Jugend all die edlen Grundsätze, welche wir durchgegangen
haben und noch durchgehen werden, überzeugend darlegen und
die Hörer zur Tugend führen' (1. 1. 659e, 664b, 665c, 671a).
Zu der bewußten absichtlichen Erziehung der Jugend durch
die berufenen Lehrer tritt die von allen B ü r gern d u r c h
das Beispiel auszuübende. 'Wir glauben sie [die sitt-
liche Scheu] den Jünglingen zu hinterlassen, wenn wir jene [Jüng-
linge], welche sich, nicht schämen, tadeln. Doch kann diese Absicht
durch die jetzt geübte Ermahnung nicht erreicht werden, indem
wir sie [die Jünglinge] heißen vor allem Scheu zu haben, sondern
der verständige Gesetzgeber wird die Älteren auffordern, sich vor den
Jünglingen in acht zu nehmen und vor allem das zu vermeiden, daß
nicht ein Jüngling einen von jenen [Greisen] bei einer schimpflichen
Tat oder Rede wahrnimmt, weil notwendigerweise die Jünglinge
dort, wo die Greise sich schamlos betragen, sich ganz schamlos be-
nehmen. Die beste Art, die Jugend und zugleich sich selbst zu er-
zielten, besteht nämlich nicht in der Erinnerung [— Ermahnung),
sondern wenn der andere, welcher etwas um der Ermahnung willen
sagt, dieses selbst in seinem Leben augenscheinlich auch tut' (1. 1.
729b).
Ähnlich wie im Idealstaat schenkt Plato auch im Gesetzesstaat
der religiösen Erziehung seine volle Aufmerksamkeit
und will nicht auf dem Wege der Gewalt, sondern der Überredung
die Bürger und insbesondere die Jugend zu dem Glauben an die
Existenz der Götter, 'welche einzelne [Leute] künstliche Schöpfungen
na cli gewissen Gesetzen' nennen (1. 1. 889e), bekehren (1. 1. 888a/c,
890c). Pöhlmann hat die berühmte Stelle des 'sanftmütigen, leiden-
schaftslosen Gebotes1 meisterhaft übersetzt. 'Mein Sohn, du bist
noch jung und der Fortschritt der Zeit [= deine weitere Lebenszeit]
428 Jegel,
wird dich lehren, über viele Dinge ganz anders, ja geradezu entgegen-
gesetzt zu denken, wie im Augenblick. Warte also zu, bevor du über
das Allerwichtigste aburteilst ! Denn das Wichtigste unter allem ist,
wie der Mensch in seinem Leben zu den Göttern steht. Eines aber
verhehle dir nicht, worin du mich nicht als Lügner (er)finden wirst.
Du bist nicht der Erste und Einzige, der am Dasein der Götter zweifelt,
sondern es sind ihrer stets mehr oder weniger, die von dieser Krank-
heit ( !) befallen sind. Aber keiner noch ist jung gewesen und alt ge-
worden, der bei dieser Leugnung beharrt wäre (!). Wenn du also
mir folgen willst, so wartest du ab, bis du dir ein zuverlässiges Urteil
über diese Fragen gebildet hast und denke zu diesem Zweck erst genau
darüber nach, wie sich die Sache verhält, und ziehst auch andere
und vor allem den Gesetzgeber zu Rate. Inzwischen aber erfreche
dich nicht, wider die Götter zu freveln !' (Pöhlmann, 1. 1. I, 539/40.) —
Wenn auch diese Ansprache in einem überlegenen, von Drohungen
nicht freien Ton gehalten ist, so erscheint sie doch der Vertreter einer
väterlichen Art und kontrastiert zu manchen Bannstrahlen der Ver-
gangenheit und Gegenwart. — Auf den 'Glauben an ein göttliches
Walten' legt Plato deshalb großen Wert, weil er überzeugt ist, 'daß
niemand, der gemäß dem Gesetze (!) an das Dasein der Götter glaubt,
weder mit Willen ein verruchtes Werk ausführt noch ein gottloses
Wort aus seinem Munde läßt' (1. 1. 885b). 'Muß man nicht', sagt
Plato an anderer Stelle in gleichem Geiste, 'über jene ungehalten
sein und sie hassen ( !), welche uns die Veranlassung zu diesen Aus-
einandersetzungen [über die Existenz der Götter] gaben und jetzt
geben, weil sie den Fabeln nicht glauben, welche sie von frühester
Kindheit an, als sie mit Muttermilch aufgezogen wurden, durch
Mütter und Ammen hörten, die sie — wie Zaubergesänge — in Scherz
und Ernst nacherzählten, die sie während der Opfer vernahmen in
den Gebeten und in den angepaßten Schauspielen, welehe der Jüng-
ling am liebslen aufgeführt betrachtet und hört? Und [sie erblicken]
ihre Eltern, wie sie in der größten Begeisterung der Opfernden für
sich und jene Mühe geben, indem sie sich im Gebet und Fürbitte
an die Götter, welche in Wirklichkeit sind, wenden; auch [nehmen
sie wahr], daß alle (!) Griechen und Barbaren bei Auf- und Unter-
gang von Sonne und Mond, in mannigfachen glücklichen und un-
glücklichen Lebenslagen die Götter anrufen, (und) sich vor ihnen
niederwerfen und keinen Argwohn hegen, daß sie (nicht) vorhanden
sind' (1. 1. 887c/d).
Piatos Stellung zu Erziehungsfragen. 429
Zu der Verehr u n g der Gottheit, die Plato 'das Maß aller
Dinge1 nennt (L 1. 716c), tritt die d e r E 1 1 e r n. 'Es ist Pflicht, daß
man die erste und größte Schuld den Eltern abträgt und glaubt,
daß der ganze Besitz und die ganze Habe denjenigen gehöre, welche
uns geboren und aufgezogen haben, — indem man den Eltern, welche
im Alter sehr bedürftig sind, die früher auf die Kinder verwendete
Mühe vergilt' (1. 1. 717b).
Die Forderung der uneingeschränkten Elternliebe wird zu einer
andern, die auch der spartanischen Verfassung eigen ist, erweitert.
'Jeder soll bei uns den ihm gegenüber Bejahrteren durch Wort und
Tat Ehrerbietung zeigen und jede 20 Jahre ältere Person männlichen
oder weiblichen Geschlechtes, als Vater oder Mutter ehren' (1. 1. 379c).
Dieselben Anschauungen kehren — nebenbei gesagt — bei den Hotten-
totten wieder (H. Meyer, Kolonialreich. II, 209).
Am Ende der Darstellung angelangt, sei noch ein kurzer R ü c k-
b 1 i c k u n d Schluß gestattet.
Im Ideal- und Gesetzesstaat widmet Plato der Jugenderziehung
seine volle Aufmerksamkeit, von dem Gedanken ausgehend, daß 'die
Bürger zu Anstrengungen geboren sind' (1. 1. 779a), daß 'wohlerzogene
Knaben tüchtige Männer werden (1. 1. 641b ; cf. 853e, 354e, 920a)
und daß 'die Kinder mehr dem Staate als den Eltern gehören' (1. 1.
804d). Piatos Lobpreis der Erziehung gipfelt in dem Satze, 'daß
nur, wenn jemand einer [ordentlichen] Erziehung teilhaftig wurde,
das Dasein lebenswert, im gegensätzlichen Fall aber unglücklich
ist' (1. 1. 874d; cf. 920a), 'daß der Mensch erst durch Erziehung Mensch
wird; denn der Mensch, den wir unter die zahmen Lebewesen rechnen,
pflegt das gottähnüchste oder sanftmütigste Lebewesen [nur] zu
werden, wenn ihm rechte Erziehung und eine glückliche Natur zuteil
geworden ist, dergestalt, daß er das wildeste aller Lebewesen, welches
die Erde hervorbringt, ist, wenn er nicht genügend oder nicht gut
erzogen wurde' (1. 1. 766a). Weil der neuzugründende Staat nur bei
tüchtiger Erziehung der Jugend auch für die weitere Zukunft Be-
stand haben kann (1 1. 752c; cf. 872d), warnt Plato einerseits vor
der Gefahr einer 'verweichlichenden Weibererzichung', wie sie das
Schicksal entarteter orientalischer Prinzen zeigt (1. 1. 694d ff. u.
696a), und will anderseits die Erziehung nicht der Willkür der Eltern
überlassen, sondern in berufene Hände legen. — Für die einzelnen
Unterrichtsfächer, auch Gymnastik und Tanz, werden staatlich
430 Jegel,
angestellte Lehrer vorgeschlagen (1. 1. 764c, 813e). Sie überwacht ein
mit weitgehenden Rechten und Pflichten ausgestatteter Unter-
richt s mi n i s te r (1. 1. 765d ff., 801d, 813b/e, 829d, 835a, 936a,
951e), 'ein scharfblickender Mann' (1. 1. 809a). — Er hat insbesondere
auch, mit andern Behörden des Staates, darauf zu achten, daß weder
Dichter noch Komponisten Neuerungen einführen (1. 1. 801c — 802d).
Er ist der Pfleger ( = Gönner) der offiziellen Dichtung und der 'maß-
vollen und wohlgeregelten [klassischen] Musik', welche 'dem großen
Haufen gleichgültig und unangenehm ist', da er sich mit 'süßem
[d. h. einschmeichelndem] [Operetten]ton nährt' (1. 1. 802d). Der
Unterrichtsminister händigt auch den Knaben die zur Schnllektüre
bestimmten Schriftsteller in gebundener und ungebundener Rede ein
(1. 1. 809b). 'Er darf auch "nach Gutdünken" jeden Bürger und jede
Bürgerin als Helfer beiziehen und wird bei der Auswahl dieser Persön-
lichkeiten keinen Mißgriff machen, da er sich klug in acht nimmt
und die Größe seines Amtes erkennt sowie erwägt, daß — wenn die
Jugend gut erzogen ist und wird — alles für uns gut steht' (l. 1. 813c).
Da der Bestand des Staates und mit ihm eng verbunden das Glück
des Einzelnen von der völligen Unterwerfung aller unter das Gesetz
abhängig ist, so sucht Plato die Jugend auch in scheinbar unbedeuten-
den Fragen, z. B. ob 'ein Ton schön oder unschön' ist, an die be-
dingungslose Anerkennung des Urteils der berufenen Richter, zu
denen auch der Unterrichtsminister gehört, zu gewöhnen (1. 1. 700 ff.);
'denn es erscheint mir nötig bei jeder Gelegenheit die Rede, wie das
Pferd, im Zaume zu halten' (1. 1. 701c). —
Auch empfiehlt Plato diejenige Jagd, 'welche die Jünglinge
besser macht' (1. 1. 823d), nämlich nur die 'auf vierfüßige Tiere, welche
mit Pferden, Hunden und Einsetzung der eigenen Person möglich
ist' (1.1.824a); denn alles im täglichen Leben soll dem einen
großen Z i e 1 , t ü c h t i g e Bürger zu erziehen, dienst-
bar gemacht werden.
Diese Absicht bietet immer wieder den Schlüssel
des Verständnisses für manche Bestimmung, die uns zu-
nächst befremdet oder überrascht. Dieses Streben gibt auch den
einzelnen Anordnungen einen zentralen Mittelpunkt.
(Besitzt ihn auch diejenige Gegenwartsschulpolitik, die im Gegen-
satz zu den Verhältnissen unter Niethammer, Thiersch und andern
Einzelerkenntnisse für das 'praktische' Leben in den Vordergrund
zu rücken scheint?)
XXIII.
Bemerkungen zur Abfassungszeit und zur Methode
der Amphibolie der Reflexionsbegriffe.
Von
Edgar Zilsel in Wien.
Dieses Kapitel des Kantischen Hauptwerkes, fällt, wie Kant
schon durch den Druck hat hervorheben lassen, in vier Abschnitte
auseinander.
Der letzte Abschnitt behandelt die vier Arten des Nichts und
hat mit der Amphibolie gar nichts zu tun ; darum werde ich ihn über-
haupt nicht besprechen. Die ersten drei Abschnitte, wovon der mittlere
„Anmerkung zur Amphibolie der Reflexionsbegriffe" überschrieben
ist, behandeln dreimal dasselbe Thema, stellen sich aber ein jeder
anders zum Noumenon. Für diese kompositionstechnische Aus-
nahmestellung des ganzen Kapitels sowie für seine Überschrift als
„Anhang", die andeutet, daß es keinen notwendigen, keinen tragenden
Bestandteil der systematischen Kritik bildet, gebe ich folgenden Er-
klärungsversuch, den ich zu begründen haben werde:
Der erste Abschnitt ist 1771, 10 Jahre vor Veröffentlichung
der ersten Ausgabe geschrieben, der zweite und dritte Abschnitt
sind ergänzende Überarbeitungen aus späteren Jahren.
Abgesehen von einem gewissen historischen Interesse, das dieser
Feststellung an sich zukommt, soll sie zeigen, welche Schriften Kants
zum Verständnis der Amphibolie heranzuziehen sind, anderseits
aber, selbst ein Licht auf die Entstehungsgeschichte der Kategorien
werfen.
Übrigens nennt schon Vaihinger in seinem Kommentar an einer
Stelle (II, S. 529) das vorliegende Kapitel „eines der frühesten der
ganzen Kritik". Freilich ganz en passant, ohne jede nähere Begründung
und Abgrenzung.
432 Edgar Zilsel,
Ich gehe an die Besprechung des ersten, ältesten Abschnitts.
Die ersten zwei Absätze geben eine Definition des Ausdrucks
Reflexionsbegriff, 1. dem Inhalt, 2. dem Umfange nach.
Die Überlegung oder Reflexion ist nach Kant nicht auf die Er-
kenntnis der Dinge gerichtet, sondern auf die „Subjektiven
Bedingungen, unter denen wir zu Begriffen gelangen können" auf
das „Erkenntnisvermögen, in das die gegebenen Vorstellungen ge-
hören", d. h. auf die Frage: Verstand oder Sinnlichkeit? Kant er-
wähnt, daß Neigung und Gewohnheit unsere Urteile fälschen. Das
spricht für meine Datierung, denn derartige Untersuchungen sind
schon in der Einleitung zur transzendentalen Logik (Kr. d. r. V.,
S. 78 2) als zur angewandten Logik gehörig aus der Kritik vollkommen
ausgeschieden worden.
Dieser Passus über Neigung und Gewohnheit muß also zu einer
Zeit geschrieben sein, da Kant sich über die Abgrenzung des Inhalts
der Kritik noch nicht klar war.
Kant fährt fort, daß nicht alle Urteile einer Untersuchung nach
den Gründen ihrer Wahrheit bedürfen und führt als Beispiel die
geometrischen an. Auch das entspricht nur einem sehr jugendlichen
Stadium des Kritizismus. Der reife Kritizismus fordert für alle Urteile
eine Untersuchung und besonders für die a priorischen. Ich erinnere
nur an die ganze Problemstellung der Einleitung: „Wie sind synthe-
tische Urteile a priori überhaupt möglich?" ferner an die Deduktion
der Kategorien und die dort (Kr. d. r. V., S. 106) erwähnte Forderung
nach einer transzendentalen Deduktion des Raums, die auch durch
einen Zusatz der zweiten Ausgabe (Kr. d. r. V., S. 53) zur Ästhetik
erfüllt worden ist.
Doch zurück zur Amphibolie. Kant meint also:
Nicht alle Urteile bedürfen einer Untersuchung, wohl aber bedarf
„jedes Urteil, ja jede Vergleichung" — die also Kant vom Urteil ab-
trennt und geringer wertet — einer Reflexion nach der Provenienz
(d. h. Sinnlichkeit oder reiner Verstand) der verglichenen Begriffe.
Diese Überlegung nennt er eine transzendentale.
Es folgt die Aufzählung des Umfangs der Reflexionsbegriffe,
nämlich :
l) Zitate aus der Kritik der reinen Vernunft nach der Ausgabe von
Kehrbach (Reclani).
Abfassungszeit und Methode der Ainphibolie der Reflexionsbegriffe. 433
1. Einerleiheit und Verschiedenheit, 2. Einstimmung und Wider-
streit, 3. Inneres und Äußeres, 4. Materie und Form.
Merkwürdigerweise fehlt ganz im Gegensatz zur Kategorientafel
jede Begründung für die Vollständigkeit dieser Tafel der Reflexions-
begriffe, ein Mangel, den sie mit der Aufstellung der Anschauungs-
formen in der Dissertation von 1770 und der Ästhetik gemeinsam
hat. Noch auffallender fehlt auch jede Gruppierung nach Kate-
gorien 2). Aber für jeden, der weiß, wie die Kategorien tafel m der
kritischen Periode die Disposition für alles abgeben muß, folgt daraus,
daß Kant die Amphibolie nicht nach der Kategorientafel konzipiert
haben kann.
Nun wissen wir aber aus einem Brief Kants an Markus Herz
vom 21. Februar 1772, daß er um diese Zeit die Kategorientafel schon
kennt; anderseits nennt der vorliegende Abschnitt schon Raum
und Zeit Anschauungsformen, muß also nach der Dissertation,
d. h. nach 1770 geschrieben sein. Somit ist seine Abfassungszeit
zwischen die Grenzen 1770 und Februar 1772 eingeschlossen. Dazu
stimmt wunderschön, daß Kant am 7. Juni 1771 an denselben Herz
schreibt, er sei mit der Ausarbeitung eines Werks beschäftigt, mit
dem Titel: „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft", ein
Titel, der diesem Abschnitt wie angegossen paßt. Übrigens ist die
Trennung des mundus sensibilis und intelligibilis schon Hauptinhalt
der Dissertation und das Problem, das Kant in dieser Zeit (wohl
aus ethischen Gründen) am meisten beschäftigte. Ich glaube meine
Datierung (1771) schon jetzt sehr wahrscheinlich gemacht zu haben.
Im nächsten Absatz erläutert Kant das Gesagte an dem Beispiele
der ersten Paare der Reflexionsbegriffe. Er sagt:
Aus dem Verhältnis der Einerleiheit resultiert ein allgemeines
Urteil. Ebenso erzeugt das Verhältnis der Verschiedenheit besondere
Urteile. Hier drängt sich ein Vergleich mit der Urteilstafel im Leit-
faden der Entdeckung der reinen Verstandesbegriffe auf. Dort zählt
Kaut aber in der Rubrik Quantität neben den allgemeinen und be-
sondern auch die einzelnen Urteile auf. Hier in der Amphibolie fehlen
2) Dagegen sagt Schopenhauer im Anhang seines Hauptwerkes, in der
Kritik der Kantischen Philosophie von den Reflexionsbegriffen: „Ihre Vierzahl
entspricht den Kategorientiteln, daher weiden sie unter die Leibnizschen
Hauptichren verteilt, so gut es gehen will." Das geht sehr gut; mit der Be-
ziehung auf die Kategorien will es nicht gehen.
\rohiv für (ieschichte der Philosophie. XXVI, 4. 29
434 Edgar Zilsel,
diese. Aus dem Verhältnis der Einstimmung und des Widerstreites
resultieren in der Amphibolie die bejahenden resp. die verneinenden
Urteile. Die unendlichen fehlen wieder. Hätte Kant, als er dies schrieb,
die Urteilstafel schon gekannt, dann hätte er diese beiden Auslassungen
begründen müssen, umsomehr, da er bei der Aufstellung der Urteils-
tafel die dem Logiker ungewohnte Einführung der einzelnen und der
unendlichen Urteile besonders motiviert.
Eine weitere Stütze meiner Datierung ist die Methode der Amphi-
bolie, die die Tafel der Reflexionsbegriffe der Einteilung der Urteile
vorausgehen läßt, während der reife Kritizismus umgekehrt die
Urteilstafel zum Leitfaden dei Entdeckung der reinen Verstandes-
begriffe macht.
Stilistisch interessant und wieder eine Stütze meiner Datierung
ist die Bemerkung, daß Kant im ersten Abschnitt der Amphibolie
den Ausdruck „Tafel" der Reflexionsbegriffe noch nicht gebraucht.
In der Amphibolie fährt Kant fort:
Wenn es uns aber nicht auf das Verhältnis von Begriffen
zueinander, sondern auf das ihrer Inhalte, der „Dinge selbst" an-
kommt, dann müssen wir erst wissen, ob die verglichenen Begriffe
zur Sinnlichkeit oder zum Verstände gehören. Um das zu ermitteln,
bedarf es einer transzendentalen Reflexion. Sinnlichkeit und Ver-
stand werden hier (S. 240) genau wie in der Dissertation als ver-
schiedene „Erkenntnisarten" völlig voneinander getrennt, während
im reifen Kritizismus doch erst ihre Vereinigung Erkenntnis er-
geben soll.
Bedeutsam war im besprochenen Absatz auch die Bezeichnung
der „Dinge selbst" als Inhalt der Begriffe. Umfang läge näher.
Dieser Passus erklärt sich durch die weite Bedeutung des Terminus
Begriff bei Kant, aber auch durch eine gewisse Unklarheit. Man
merkt, Kant kennt hier die synthetische Einheit der Apperzeption
noch nicht. Denn im reifen Kritizismus ist ja bekanntlich der „Gegen-
stand", der offenbar mit dem Ausdruck das „Ding selbst" gemeint
ist, nichts andres als die nach einer Regel notwendige, synthetische
Einheit des Mannigfaltigen, könnte also nicht der Inhalt eines Begriffs
genannt werden. Noch weniger würde dieser Ausdruck aufs Ding
an sich passen, von dem übrigens hier nicht die Rede ist. Vielmehr
ist diese Trennung der Verhältnisse zwischen Begriffen gegen die Ver-
hältnisse zwischen den Dingen selbst identisch mit der Unterseh eidimg
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 435
des usus intellectus logicus (BegriffsVerhältnisse) von dem usus iu-
tellectus realis (Dingverhältnisse) in der Dissertation (§ 5).
Aus dem besprochene Absatz (Kr. d. r. V., S. 240/241) will
ich nun Folgerungen auf die psychologische Entstehung eines der
wichtigsten Gedanken der kantischen Erkenntnistheorie ziehen.
"Wieso kam Kant darauf, eine Urteüseinteilung als Leitfaden zur
Aufstellung der Kategorien zu benützen und dann aus diesen das
Objekt-sein, die Gegenständlichkeit abzuleiten? Der Versuch, diese
Frage aus dem besprochenen Absatz der Amphibolie zu beantworten,
erfordert, daß ich die entscheidenden Stellen nochmals hervorhebe:
„Vor allen objektiven Urteilen vergleichen wir die Begriffe" nach
den angeführten vier Gegensatzpaaren (den Keflexionsbegriffen i.
Nachdem dann noch durch transzendentale Reflexion festgestellt
worden ist, welcher Erkenntnisart (Sinnlichkeit oder Verstand) die
verglichenen Begriffe angehören, können objektive Urteile
gefällt werden. Objektive Urteile resultieren also sowohl aus
der Sinnlichkeit als aus dem reinen Verstand. An der Möglichkeit
eben dieser Beziehung des reinen Verstandes auf Gegenstände aber
begann Kant um diese Zeit zu zweifeln, wohl getrieben vom „skepti-
schen Geist" (Kant an Herz vom 7. Juni 1771) der Selbstkritik. In
dem Brief an Herz vom 21. Februar 1772, in dem Kant dieses neue
(flu die Abkehr vom Rationalismus entscheidende) Problem zum
erstenmal ausspricht, behauptet er auch, es schon gelöst zu haben.
Schwerlich ist diese Lösung schon vollkommen die des reifen Kriti-
zismus, d. h. schwerlich läßt sie den „Gegenstand" aus der Einwirkung
der Kategorie auf die Sinnlichkeit hervorgehen 3). Aus den Andeutun-
gen des Briefes geht nur hervor, daß Kant auf der Suche nach den
„Quellen der intellektualen Erkenntnis" „alle Begriffe der gänzlich
leinen Vernunft in eine gewisse Zahl von Kategorien" gebracht hatte
und zwar „nicht aufs bloße Ungefähr" wie Aristoteles, „sondern wie
sie sich selbst durch einige wenige Grundgesetze des Verstandes von
selbst in Klassen einteilen". Rein logisch läßt sich dieser außer-
ordentliche, folgenschwere Einfall, die Konzeption der Kategorien
und ihres Leitfadens, aus der Suche nach den Quellen der
8) Z. 15. ist für den Brief die Beziehung der s i n n 1 i c li e n Vorstellung
auf ihren Gegenstand „leicht einzusehen'*. J)ie Kmptindung ist ..vom Objekt
gewirkt", muß also „als eine Wirkung ihrer Ursache gemäß" sein. Offenbai
rinnen die Begriffe ,, Gegenstand*' und „Ding an sieh" noch ineinander.
436 Edgar Zilsel,
intellektuellen Erkenntnis nicht ableiten 4). Der besprochene Absatz
der Amphibolie vermag ihn aber, wie ich glaube, psychologisch, be-
greiflich zu machen. Hier haben wir erstens: die Gegenüberstellung
von subjektiven Begriffsvergleichungen gegen objektive Urteile,
also intellektuale Erkenntnisse, zweitens: ein System von „Verglei-
chungsbegriffen" in innigster Beziehung mit Budimenten einer Urteils-
tafel. Ein Gedankenblitz und diese Elemente konnten sich zusammen-
schließen. Die Reflexionsbegriffe wären also unkritische Vorläufer
der Kategorien.
In Kürze wiederholt stellt sich also mein Rekonstruktionsver-
such folgendermaßen dar: Um die Leibnizsche Phüosophie zu wider-
legen, stellt Kant eine Klasse von Begriffen auf, die zu subjektiven Be-
griffsvergleichungen dienen, die aber nebenbei zum Teü in Beziehung
zu einer Urteilseinteilung stehen. Ungefähr gleichzeitig gelangt Kant
von einer ganz andern Seite her, durch den Zweifel an der Verstandes-
erkenntnis zum Bedürfnis einer Untersuchung der (objektiven) Urteile.
Die Urteilseinteilung bildet das Bindeglied zwischen beiden Ge-
dankenkreisen und den Leitfaden: aus den Reflexionsbegriffen ent-
stehen die Kategorien, von denen sie im reifen Kritizismus nur des-
halb nicht teüs aufgesogen teils verdrängt worden sind, weil Kant
die Amphibolie in ihrer alten Gestalt gegen Leibniz brauchte.
In den beiden besprochenen Absätzen hat also Kant den Aus-
druck Reflexionsbegriff erklärt und diese aufgezählt. Er wendet
sich nunmehr an die Darlegung ihrer Amphibolie, d. h. ihrer ver-
schiedenen Bedeutuno; in dem Gebiet der Sinnlichkeit und im Gebiet
■•&
des reinen Verstandes.
4) Daß das Problem von der Möglichkeit intellektualer Erkenntnis
— einmal aufgeworfen — zu einer Untersuchung der objektiven Urteile führt,
ist logisch notwendig; daß diese Untersuchung mit einer Urteils e i n t e i 1 u n g
beginnt, ist aus der Eigenart des Kantischen Denkens und aus dem Stand
der zeitgenössischen Logik (z. B. : Alex. Gottl. Baum garten, Acroasis
Logica, 1761, §§ 124 — 160; Lambert, Neues Organon, 1764, Dianoiologie,
III. Hptst., §§ 121 — 137) erklärlich; daß aber aus den einzelnen Urteilsarten
die Erkenntnis konstituierenden Stamm b egriffe resultieren, diese Eigenart
der Kantischen Lösung des Problems, will ich durch die Reflexionsbegriffe
genetisch erklären.
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 437
1. Einerleiheit und Verschiedenheit.
Kant sagt: Mehrere Gegenstände mit vollkommen gleichen
inneren Bestimmungen, d. h. von gleicher Qualität und gleicher
Quantität, sind für den reinen Verstand ein einziger Gegenstand, ein
Individuum. Das ist ja klar; es heißt: diese gleichen Gegenstände
fallen unter einen Begriff. Das war also der Gegenstand des reinen
Verstandes. Wörtlich fährt Kant fort: „Ist er aber Erscheinung"
usw. Zuerst das „Aber". Dieses Aber beweist, daß Kant hier annimmt,
ein Gegenstand des reinen Verstandes und zwar wohlgemerkt ein
erkennbarer, mit inneren Bestimmungen, mit Qualität und
Quantität sei nicht Erscheinung, sondern Ding an sich. Das ist voll-
kommen der Standpunkt der Dissertation : der reine Verstand erkennt
die Dinge an sich, Metaphysik ist möglich. Nebenbei: Qualität und
Quantität sind natürlich nicht die Kategorien, die kennt Kant ja
hier noch nicht; das beweist schon die umgekehrte Keihenfolge.
Die Zugehörigkeit zur gleichen Qualitäts ka t e g o r ie ist viel
weniger als die hier geforderte Gleichheit der inneren Bestimmungen
und auch die Quantitätskategorie kann nicht gemeint sein, da über
Einheit oder Vielheit der Gegenstände mit gleicher Quantität ja erst
entschieden werden soll.
Der Gedankengang Kants ist also folgender: Im Bereich des
reinen Verstandes, unter den Dingen an sich kann es nicht zwei genau
gleiche geben, wohl aber ist dies im Bereich der Sinnlichkeit, unter
den Erscheinungen möglich. Ich brauche nur zwei völlig gleiche
Wassertropfen gleichzeitig an verschiedenen Örtern anzuschauen.
Das Leibnizsche Prinzip von der Gleichheit des Ununterscheidbaren
gilt also nur für die Dinge an sich und wurde von Leibniz auch auf
Erscheinungen angewandt nur dadurch, daß er fälschlich die Sinnlich-
keit lediglich für einen verworrenen Verstand, also Erscheinungen
für Dinge an sich hielt. Die Bedingung der Sinnlichkeit aber, der
Raum besteht aus einander völlig gleichen und dennoch individualiter
verschiedenen Teilen.
Gegen das principium identitatis indiscernibilium hatte Kant
schon 1755 in der „Nova dilucidatio" (sect. II, prop. XI) polemisiert.
Dort sagt er: Wenn zwei Dinge in bezug auf die internae determina-
tiones identisch sind, so können sie noch immer durch externae deter-
minationes, d. h. räumlich verschieden sein. Die Amphibolie ersetzt
diesen verwaschenen Gegensatz von internae und externae deter-
438 Edgar Zilsel,
minationes durch den Gegensatz: Verstand (internae), Sinnlichkeit
(externae determinationes), ohne ilin eigentlich zu klären, da sie
ja kein entscheidendes Kriterium zwischen Verstand und Sinnlich-
keit angibt.
Übrigens findet sich auch in der ersten Amphibolie der
Ausdruck „innere Bestimmungen" und kehrt dann in der dritten
Amphibolie wieder.
2. Einstimmung und Widerstreit.
Kants Gedankengang ist folgender: Im Gebiet der Sinnlichkeit
können zwei entgegengesetzte Realitäten einander aufheben, und
wenn sie in einem Subjekt verbunden sind, eine dritte Realität her-
vorbringen. So ergeben z. B. zwei gleich große, entgegengesetzt ge-
richtete Kräfte mit einem Angriffspunkt Ruhe. Im Gebiet des
reinen Verstandes dagegen können Realitäten überhaupt in keinem
Widerstreit stehen.
Diese Amphibolie behandelt den Hauptgedanken der vorkriti-
schen Schrift von 1763: „Versuch, die negativen Größen in die Welt-
weisheit einzuführen". Auch die Beispiele für den Widerstreit im
Gebiet der Sinnlichkeit : +3 — 3 = 0, Kräftepaar, Lust und Unlust
sind dieselben. Sonst findet sich kein gemeinsamer Gedanke in beiden
Schriften. Wichtig ist dagegen der Punkt, worin sie voneinander
abweichen. Der Versuch über die negativen Größen unterscheidet
zwischen logischer und realer Opposition, die Amphibolie zwischen
Widerstreit im reinen Verstand und in der Sinnlichkeit, zeigt also
deutlich die Wendung Kants von einer Ontologie zu einer Erkenntnis-
theorie. Hervorzuheben ist noch die Bemerkung der Amphibolie,
die Realitäten des reinen Verstandes könnten in keinem Widerstreit
stehen. Zu ergänzen ist offenbar, daß den Verstandesrealitäten nur
Negationen, die ja keine Realitäten sind, widerstreiten können. Hier
zeigt sich eine Übereinstimmung mit dem Rationalismus, offenbar
Wolffischer Einfluß, nämlich die Gleichsetzung von Realität mit
Affirmation. Das merkwürdige ist nämlich, daß es im reinen Ver-
stand ohne Sinnlichkeit überhaupt Realitäten geben soll. Hier, in
rationalistischen Einflüssen, dürfte auch die historische Quelle liegen,
für die z. B. von Schopenhauer beanstandete Ableitung der Kategorie
Realität aus den bejahenden Urteilen.
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 439
3. Das Innere und Äußer e.
Der Begriff der Amphibolie: das Innere eines Noumenon ist
eine Verschärfung des Substanzbegriffs, wie ihn die Rationalisten
faßten. Die Rationalisten schließen für ihre Substanz jede kausale
Abhängigkeit von anderem Existierenden aus.5) Kant geht weiter:
Das Innere eines Gegenstandes des reinen Verstandes darf überhaupt
„gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm
Verschiedenes" haben, und impliziert damit den rationalistischen
Substanzbegriff, denn wenn etwas gar keine Beziehungen hat, dann
ist es auch nicht kausal abhängig.
Der nächste Satz spricht auch richtig von emer substantia, freilich
nicht von der substantia noumenon, von der bis jetzt die Rede war,
ohne daß bei Kant das W ort Substanz gefallen wäre. Er behandelt
die substantia phaenomenon, die im Raum erscheint, d. h. die Materie
und konstatiert, daß diese „ganz und gar ein Inbegriff von lauter
Relationen" sei. Den Schluß, daß ihr also eigentlich überhaupt nichts
schlechthin Innerliches zukomme, sondern, daß „das, was wir innere
Bestimmungen derselben nennen, nur komparativ innerlich" sei,
zieht Kant erst in der dritten Bearbeitung der dritten Amphibolie
(Kr. d. r. V., S. 255). Hier in der ersten Bearbeitung (S. 242) heißt
es: „die inneren Bestimmungen einer substantia phaenomenon im
Raum sind nichts als Verhältnisse". Freilich wissen wir jetzt nicht,
wie bei Erscheinungen Inneres und Äußeres gegeneinander abzu-
grenzen sind.
Da nun Leibniz auch die Materie fälschlich für ein Noumenon
gehalten habe, so hätte er sich auch für diese nach einem Innern,
das mehr als Verhältnisse enthält, umsehen müssen, und da seien
ihm nur die Data des innern Sinnes, das Denken, geblieben. Das
Ergebnis der bei Erscheinungen unberechtigten Forderung nach
einem einfachen Innern seien die Leibnizschen Substanzen: die nicht
zusammengesetzten, mit Vorstellung begabten Monaden.
Ich glaube aber, daß Kant hier eine quaternio terminorum begeht,
indem er das Innere in der Bedeutung des rationalistischen Substanz-
"') Z. B. Cartes: princ. I. 51: „res quae ita existit, ut nulla alia re indigeat
ad existendum". »Spinoza, Eth. I., def. 3: „quod in se est et per se concipitur".
Das „in" zeigt wieder die Beziehung zum Inneren. Übrigens wäre Arnold
Geulincx, der schon einen durchaus kritizistischen Substanzbegriff bat, hier
von den Rationalisten auszunehmen.
440 Edgar Zilsel,
begriffs vermengt mit dem innern Sinn. Besonders deutlich wird
diese quaternio, wenn man die merkwürdigerweise hier übergangene
Zeit hereinzieht und erwägt, daß durch sie der sogenannte innere
Sinn auch nur Zusammengesetztes, Verhältnisse, d. h. Äußeres, bietet.
Um diesen logischen Fehler aufzuheben, müssen wir also annehmen,
daß Kant hier, noch abhängig von der rationalen Psychologie Wolffs,
an einen außerzeitlichen Träger des inneren Sinns, an eine
substantielle Seele gedacht hat, die wirklich innerlich ist, d. h. aus
mehr als bloßen Verhältnissen besteht. Kant hielt eben damals noch
Metaphysik für möglich und dachte noch nicht an die „Paralogismen",
die er ca. 10 Jahre später schreiben sollte.
Ich habe den rationalistischen Substanzbegriff nur hereingezogen,
um klarzustellen, wieso Kant überhaupt von seinem Begriff das
Innere zu den Leibnizsehen Monaden kommt. Das Bindeglied ist
eben die Substanz. Interessant ist auch, wie sehr der Substanzbegriff
der Amphibolie von der Substanzkategorie abweicht. Die Amphibolie
spricht weder von „Etwras, das nur Subjekt, nie Prädikat" sein kann,
noch auch vom Schema der Substanzkategorie, dem im Wechsel Be-
harrlichen.
4. Materie und F o r m.
Zunächst hebt Kant die grundlegende Bedeutung dieser beiden
Begriffe hervor. Bekanntlich spielen sie ja auch in seinem ganzen
System, besonders in der Ethik, die allergrößte Rolle. Hat doch
Kant in den Prolegomena (§ 49) und in der 2. Auflage der Kr. d. r. V.
(S. 401) seine Lehre einen formalen Idealismus genannt und damit
die Wichtigkeit der Form betont.
In der Amphibolie folgt die Aufzählung einer Reihe von Speziali-
sierungen des Begriffspaars: Materie— Form, von denen nur eine von
größerem Interesse ist. Kant sagt nämlich (S. 243): „In jedem Urteil
kann man die gegebenen Begriffe logische Materie (zum Urteile), das
Verhältnis derselben (vermittels der C o p u 1 a) die Form des
Urteils nennen." Das stimmt nicht recht zur Urteilstafel im Leit-
faden, die ja die „Formen" der Urteile (vgl. z. B. Kr. d. r. V., S. 89
und Prolegomena, § 21 a) aufzählen soll. Die Modalität der
Urteile geht „auf den Wert der Copula in Beziehung auf das Denken
überhaupt" (Kr. d. r. V., S. 92) zurück; wie aber die Quantität sich
auf die Copula stützen soll, ist nicht recht einzusehen; mit Qualität
Abfassungszeit und Methode der Aniphibolie der Reflexionsbegriffe. 441
und Kelation ginge es noch eher. Jedenfalls aber hat Kant im „Leit-
faden" den Gedanken, die Urteilsformen aus der Copula abzuleiten
aufgegeben.
Nach dieser Aufzählung kommt Kant zur eigentlichen Aniphibolie.
Der Verstand verlange zuerst etwas Bestimmbares und könne erst
dann bestimmen; also im Reich der Noumena gehe die Materie der
Form vorher. Bei eleu Phänomenen sei die Reihenfolge umgekehrt;
da gehe die Form, nämlich Raum und Zeit, der Materie, cl. h. den
Empfindungen voraus. Da nun Leibniz, der „Intellektualphilosoph",
die Sinnlichkeit nur für einen verworrenen Verstand gehalten hätte,
so habe er kerne a p r i o r i s c h e n Anschauungsformen gekannt.
Vielmehr habe er zuerst Materie, d. h. seine Monaden angenommen
und aus deren Gemeinschaft den Raum, aus der kausalen Verknüpfung
ihrer Zustände die Zeit abgeleitet.
Es muß aber hervorgehoben werden, daß der springende Punkt
dieser vierten Aniphibolie, nämlich der Gedanke von der verschie-
denen Reihenfolge von Materie und Form beim Verstand und bei
der Sinnlichkeit, dem reifen Kritizismus widerspricht und darum
auch aus der zweiten und dritten Bearbeitung der Aniphibolie aus-
geschaltet ist. Erstens ist in dem besprochenen Abschnitt ganz deut-
lich von einer zeitlichen Reihenfolge von Materie und Form die Rede 6).
Der reife und konsequente Kritizismus aber lehnt ein zeitliches Vor-
hergehen auch der A n s c h a u u n g s f o r m e n vor den Empfin-
dungen entschieden ab und betont nur, daß die Anschauungsformen
sinnliche Erfahrung erst ermöglichen (z. B. Kr. d. r. V., B. Einleitung I,
Kchrb., S. 647/48).
Zweitens herrscht aber auch genau dieselbe, nicht die umge-
kehrte Rangordnung zwischen Verstandeserkenntnis und ihrer Form
(Kategorien und transzendentaler Apperzeption). Diese Verstandes-
formen kennt aber der 1. Abschnitt der Aniphibolie wie die Dissertation
„De Mundi" noch nicht, Für die Dissertation sind die Materie des
mundus intelligibilis Substanzen, Form kommt erst durch das com-
6) Es heißt hier (S. 243) nämlich: „Leibniz nahm um deswillen zuers 1
Dinge an . . um danach das äußere Verhältnis derselben . . . d a r a u
zu gründen". Es ist also das ,, Danach" vom „Darauf" unterschieden, woraus
folgt, daß das „zuerst" zeitlich zu fassen ist. Durch das „um deswillen" wird
dieser Sinn unzweideutig auf den vorhergegangenen Satz: „Daher geht im
Begriff des reinen Verstandes die Materie der Form vor" übertragen.
442 Edgar Zilseh
mercium, die Connexio der Substanzen hinein 7), genau wie hier in
der Amphibolie. Der Gedanke, daß die Suhstantialität selbst eine
Form und zwar eine a priorische des Verstandes ist, war noch nicht
gedacht. Damit ist die Besprechung des 1. Abschnittes beendigt.
Anmerkung zur Amphibolie der Reflexions-
begriffe
ist der zweite Abschnitt überschrieben. Er behandelt dasselbe wie
der erste, so daß ich nur seine Abweichungen zu besprechen brauche.
Da er die Kategorien schon kennt, die Metaphysik ausschließt, viel-
mehr stark positivistisch gefärbt ist, muß er mehrere Jahre nach dem
ersten Abschnitt abgefaßt worden sein.
Nach einer aristotelisierenden Einleitung, die nur neue Termini,
nicht neue Gedanken einführt, stellt Kant das Verhältnis der Re-
flexionsbegriffe zu den Kategorien fest. Die Kategorien stellen den
Gegenstand dar. Die Reflexionsbegriffe vergleichen nur Vorstellungen,
ohne auf den Gegenstand Rücksicht zu nehmen. Gerade deshalb
müsse man wissen, aus welcher Erkenntniskraft, die verglichenen
Vorstellungen kämen, wenn man sich mit der Vorstellungsvergleichung
nicht begnüge, sondern von den Gegenständen urteilen wolle.
Eine logische Begründung für die Vollständigkeit der Tafel der
Reflexionsbegriffe fehlt auch hier. Dagegen verrät uns Kant sein
psychologisches Motiv in den Worten (S. 245): „Unsere Tafel der
Reflexionsbegriffe schafft uns den unerwarteten" (sie!) „Vorteil,
das Unterscheidende seines" (nämlich Leibnizens) „Lehrbegriffs in
allen seinen Teilen und zugleich den leitenden Grund dieser eigentüm-
lichen Denkungsart vor Augen zu legen ..."
Bei Besprechung der 1. Amphibolie (Einerleiheit und Verschieden-
heit) wiederholt Kant seine Polemik gegen das prineipium identitatis
indiscernibilium ohne etwas Neues hinzuzufügen, bei der zweiten
(Einstimmung und Widerstreit) gibt er eine Polemik gegen die Leibni-
zianer, die bei der ersten Bearbeitung gefehlt hat. In die erste Be-
arbeitung ist offenbar die zweite Amphibolie nur dem Versuch über
7) De mundi § 2, I: „Materia. . . h. e. partes quae hie sumuntur esse
substantiae" ; § 2, II: „Forma, quae consistit substantiarum coordinatione".
§ 16: „Munduni autem hie non contemplamur quoad materiam i. e. . . .
substantiarum naturas . . ., sed quoad formam h. e. . . . nexus . . . totalitas".
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 443
die negativen Größen zuliebe aufgenommen worden. Hier, in der
zweiten Bearbeitung wendet sich Kant gegen die Auffassung der
Übel „als Folgen von den Schranken der Geschöpfe" und gegen die
Möglichkeit, „alle Kealität ... in einem Wesen zu vereinigen". Diese
beiden Behauptungen des L/ 1! nizwolfianischen Lehrgebäudes hätten
nur für Xoumena Berechtigung.
Die 3. Amphibolie (Inneres und Äußeres) bringt wieder die Ab-
leitung der Monaden aus dem Innern. Hinzugefügt ist eine Polemik
gegen die prästabilierte Harmonie.
Die vierte Amphibolie (Materie und Form) läßt, wie schon er-
wähnt, die eigentliche Amphibolie der ersten Fassung, den Gedanken
von der verschiedenen Keihenfolge von Form und Materie im Ver-
stand und m der Sinnlichkeit fallen. Dennoch bringt sie die Polemik
gegen die Leibnizsche Lehre von Raum und Zeit, muß sich also nach
einer andern Fehlerquelle für Leibniz umsehen. Als Fehlerquelle
gibt hier (S. 249) die vierte Amphibolie ,,eben-dieselbe Täuschung"
an. Dieses „ebendieselbe" kann sich nur auf den Satz der dritten
Amphibolie beziehen, der konstatiert, die Monadologie sei aus dem
Irrtum Leibnizens entsprungen, „daß er Inneres und Äußeres bloß
im Verhältnis auf den Verstand" vorgestellt habe (S. 248). Also als
Fehlerquelle tritt ein Irrtum Leibnizens in bezug auf Inneres und
Äußeres auf. Wir stehen aber bei Materie und Form. Damit ist das
vierte Paar der Reflexionsbegriffe eigentlich überflüssig geworden.
LTnd in der Tat decken sich die beiden Begriffspaare Äußeres —
Inneres und Form — Materie, wenn man sie scharf fassen will und
bezeichnen nichts anderes als Relationen und üir Substrat.
Das ist leicht nachzuweisen. Alles, was aus Verhältnissen besteht,
gehört zum Äußern, so daß für das Innere nichts übrig bleibt, als
das „Substratum aller Verhältnisse", wie es übrigens in der dritten
Bearbeitung (S. 254) der Amphibolie definiert ist. Daß die Form
genau so wie das Äußere nichts ist als ein Inbegriff von Verhältnissen,
acht aus zahlreichen Stellen der Dissertation und der Kritik hervor 8).
8) De nmndi § 4: „forma testalur quendam sensorum respectum aut
relationem". Kr. d. r. V., S. 49: „Dasjenige, welches macht, daß das Mannig-
faltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann,
nenne ich die Form der Erscheinung". S. 72: „Form der Ansohauung . . .
enthält nichts als Verhältnisse".
444 Edgar Zilsel,
Da wir also keinen logischen Grund für die Zerspaltung des einen
Begriffspaares: Relation — Relationssubstrat, in die zwei Paare:
Äußeres — Inneres und Form — Materie angeben können, müssen
wir uns nach dem psychologischen Motiv Kants umsehen. Das ist
bald gefunden.
Das „Innere" brauchte Kant, um mit Hilfe der Assoziation
„innerer Sinn" auf die vorstellenden Monaden zu kommen. Über-
haupt gebraucht, wie gezeigt worden ist, die erste Fassung der Amphi-
bolie diesen Begriff „das Innere" in recht verschwommener Be-
deutung. Das Paar: Materie — Form tritt in der ersten Fassung
der Amphibolie in der unscharfen Gestalt: Bestimmbares — Be-
stimmung auf (S. 243), da Kant für seine Methode der Leibnizwider-
legung ein Gegenstück im Verstand zu den Formen der Anschauung
brauchte und die wirklichen Verstandesformen (die Kategorien und
die transzendentale Apperzeption), die R e 1 a t i o n s begriffe sind,
noch nicht kannte. Da die „Bestimmung" aber durchaus nicht immer
eine Relation sein muß, konnte Kant die Identität von „Form" und
„Äußeres" entgehen.
Der Irrtum der Leibnizschen Raum- und Zeitlehre ist also in
der zweiten Bearbeitung der Amphibolie folgendermaßen erklärt
(S. 249): „wenn ich mir durch den bloßen Verstand äußere Verhält-
nisse der Dinge vorstellen will", so bleibt nur die „Gemeinschaft
der Substanzen" (Kategorie der Wechselwirkung) und die „dynami-
sche Folge ihrer Zustände" (Kausalitätskategorie) übrig. Für Leibniz
waren also „Raum und Zeit die intelligble Form der Verknüpfung
der Dinge (Substanzen und ihrer Zustände) an sich selbst".
Kant fährt aber fort (S. 250): „Was die Dinge an sich sein mögen,
weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weü mir doch niemals
ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann." Daß
das Intelligible für die normative Ethik bedeutsam sei, ist hier völlig
übergangen. Ebenso positivistisch wird das „schlechthin Inner-
liche" der Materie als eine „bloße Grille" abgelehnt, was unter Be-
rücksichtigung, daß das schlechthin Innerliche das Einfache ist,'
wieder zur Thesis der zweiten Antinomie nicht recht paßt.
Kant geht so weit zu behaupten (S. 252): „daß die Vorstellung
eines Gegenstandes als Ding überhaupt nicht etwa bloß unzureichend,
sondern ohne sinnliche Bestimmung derselben und unabhängig von
empirischer Bedingung in sich selbst widerstreitend sei". So nahe
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 445
wie hier ist Kant dem Empirismus nirgends in der Kr. d. r. V. ge-
kommen. So wird gleich
die dritte Bearbeitung der Amphibolie
dem Noumenon doch wieder eine Bedeutung zuschreiben. Zunächst
führt sie aber das dictum de omni et nullo ein. Dieser logische Grund-
satz besagt: Was von einem Begriffe gilt, gilt auch von jedem Be-
sonderen, das unter diesen Begriff fällt. Man könne aber nicht sagen
(S. 253): „"Was in einem allgemeinen Begriff nicht enthalten ist, das
ist auch' in den besonderen nicht enthalten, die unter demselben
stehen."
Mit Hilfe dieser Erkenntnis wird Leibniz elegant widerlegt,
indem gezeigt wird, daß der Satz vom Nichtzuunterscheidenden,
der von der Unmöglichkeit des Widerstreits der Realitäten, sowie
die Leibnizsche Raum- und Zeitlehre, die alle für allgemeine Begriffe
zu Recht bestehen, dadurch, daß eben von charakteristischen Merk-
male]! der besonderen Dinge der Sinnenwelt abstrahiert wurde, für
diese keine Geltung haben. Die Monadenlehre läßt sich nicht nach
dieser Methode abtun. Der Symmetrie zuliebe hat aber Kant auch
hier ganz äußerlich dieselbe Schablone angewendet. Wichtiger ist
die hier auftauchende Erkenntnis, daß der „innere Sinn" mit dem
„Innern" eigentlich wenig zu tun hat. Kant sagt nämlich, das Innere
der Monaden sei „einfach und (nach Analogie9) mit unserem
inneren Sinn) durch Vorstellungen bestimmt." Die transzendentale
Reflexion tritt in der ganzen dritten Bearbeitung völlig zurück.
Es folgt noch eine Einführung des Noumenon „in einer bloß
negativen Bedeutung" (S. 256) als „unvermeidliche mit der Ein-
schränkung unserer Sinnlichkeit zusammenhängende Aufgabe" (S. 257).
Das Noumenon ist zwar unerkennbar, aber nicht mehr unnötig;
es dient dazu, „die Grenzen unserer sinnlichen Erkenntnis zu be-
zeichnen" (Kr. d. r. V., S. 258).
Es ist also wirklich gezeigt worden, daß die drei Abschnitte
der Amphibolie dreimal dasselbe behandeln, daß sie aber aus
verschiedenen Zeiten stammen müssen, da der erste ein erkenn-
bares Noumenon annimmt, der zweite das Noumenon rundweg
ablehnt, der dritte aber das Noumenon zur Abgrenzung des
Von mir gesperrt. E. /.
446 Edgar Zilsel,
Erkennbaren wieder heranzieht. Auffallend ist nur, wie die Dis-
position ja die ganze Methode, die historisch aus dem Gedanken-
kreis der ersten Bearbeitung erwachsen ist, geradezu als Fossil in
die zweite und dritte Bearbeitung hineinragt, wiewohl sie den in-
zwischen geklärten Begriffen nicht mehr standhalten sollte. Das
glaube ich durch meine Erörterung des „Innern" und des Begriff spaars
Form — Materie gezeigt zu haben. So gibt ferner die ganze Amphi-
bolie keine vollkommen scharfe und dabei immanente, auf das Ding
an sich verzichtende, d. h. metaphysikfreie Abgrenzung der Sinn-
lichkeit gegen den Verstand 10), und wiederholt so im Kiemen einen
methodischen Mangel der Kr. d. r. V. im Großen. Dies läßt auf ein
starkes „architektonisches Interesse" (vgl. Kr. d. r. V., S. 390) Kants
schließen, auf einen Widerwillen gegen alles Verschwommene, der
Abgrenzung und Starrheit einmal gewonnen, unter kernen Umständen
wieder aufgab. Dennoch sollte aber eine kritische Philosophie ihren
Inhalt immer auf ihre Methode anwenden und so dem Gang eines
gleichen, der bei jedem Schritt sich selbst auf den Fuß tritt, um zu
spüren, ob er stehe.
* *
*
Erst unmittelbar vor dem Druck dieser Arbeit ist mir die Disser-
tation von Oskar Döring: Der Anhang zum analytischen Teile der
Kr. d. r. V. über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe, Leipzig 1904,
bekannt geworden. Wenn auch Döring sein Thema nur „exegetisch
und kritisch beleuchten" will, ich aber von vornherein die Abfassungs-
zeiten in den Vordergrund gestellt habe, so erfordert es doch die
Gründlichkeit, daß ich Einiges über Dörings Resultate sage.
Zunächst hätte ich meine Bemerkung, daß die Amphibolie die
Angabe unterläßt, wie es denn zu erkennen ist, ob eine Vorstellung
zur Sinnlichkeit oder zum Verstand gehört, schon aus Dörings Schrift
10) Diese Bemerkung richtet sich nicht gegen die Annahme des Dings
an sich — die Kritik Jakobis, Änesidemus-Schulzes und Fichtes hat hier ein-
gesetzt — sondern gegen seine Verwendung als Einteilungsgrund. Die Aus-
drücke Spontaneität und Rezeptivität lassen sich nur als Tun und Leiden
des intelligiblen Ichs gegen das Ding an sich verstehen (vgl. die Erklärung
Kants gegen Beck und Eichte vom 17. August 1799). Ein Faktum aber, das
— wie erst der reife Kritizismus erkannt hat — sich notwendig außerhalb des
Bewußtseins abspielt, ist als unterscheidendes Merkmal für Bewußtseins-
inhalte ungeeignet.
Abfassungszeit und Methode der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. 447
(S. 35) schöpfen können. Auch die nahe Verwandtschaft der beiden
Begriffspaare Inneres— Äußeres und Materie— Form untereinander
und mit dem dritten Paar Substanz — Akzidenz hat Döring erkannt
(S. 44) ; dagegen übersieht er, daß hier nicht die Substanz kategorie,
sondern der rationalistische Substanzbegriff in Betracht kommt,
da er eben die verschiedenen Abfassungszeiten der drei Teile der
Amphibolie gar nicht bemerkt.
Diese Vernachlässigung der Entwicklung des Kantischen Denkens
beeinträchtigt, wie mir scheint, auch die Richtigkeit seiner sonstigen
Resultate, so seiner Untersuchung der Reflexion. Durch Konfrontation
sämtlicher Stellen über die Reflexion aus allen drei Bearbeitungen
der Amphibolie und einiger Stellen aus Kants Logik (Jäsche 1800),
Anthropologie und der Abhandlung über „Philosophie überhaupt"
(1794) gelangt er zu einer Vierteilung der Reflexion in eine ästhetische,
eine Reflexion im besonderen, eine logische und eine transzendentale
(die reine Anschauungen miteinander vergleichen soll) (S. 29). Da-
gegen möchte ich hier die Konsequenzen meiner Datierung für
die Auffassung der Reflexion andeuten und so eine Ergänzung meiner
Arbeit versuchen. Zunächst beschränke ich mich auf die Amphibolie
in der ersten Fassung. Diese kennt erstens eine logische Reflexion,
die „bloße Comparation" (S. 240), d. h. Vergleichung von Begriffen
ist und „von der Erkenntniskraft, wozu die gegebenen Vorstellungen
gehören, gänzlich abstrahiert" (S. 240). Diese logische Reflexion ist
identisch mit dem usus intellectus logicus und findet sich auch in der
Dissertation De mundi (§5 „per reflexionen secundum usum intellectus
logicum"). Zweitens spricht die erste Fassung der Amphibolie von der
transzendentalen Reflexion ; sie ist auf die Erkenntnisquelle
der verglichenen Vorstellungen gerichtet. Reflexionsbegriffe sind also
— man hüte sich vor der Analogie „Verstandesbegriff u oder „Vernunft-
idee" — I. Begriffe, die zur logischen Reflexion dienen; IL Begriffe,
bei denen transzendentale Reflexion vonnöten ist, damit keine
Amphibolie entstehe. Die logische Reflexion kommt nur in der ersten
Fassung der Amphibolie vor, die transzendentale in der ersten und
zweiten Fassung, in der dritten Fassung sind beide durch das dictum
de omni et nullo entbehrlich geworden. Es scheint mir nun aber
nicht zulässig zu sein, alle Stellen in Kants Schriften, in denen von
Reflexion oder -eflektieren die Rede ist, unter einen Hut zu bringen
und zur Interpretation der Amphibolie heranziehen, wenn auch die
44S Edgar Zilael,
Reflexionsdefinition in der Schrift „Über Philosophie überhaupt"
logische und transzendentale Reflexion der Amphibolie umfaßt.
Die übrigen Stellen aber (z. B. Kr. d. r. V. S. 272, Kr. d. Urt.-Kr.
Einleitg. IV, Logik §§ 1, 5, 6, 19, 82, Anthropologie § 4 letzte An-
merkung, §§ 6, 7, 9, 17, Vorlesungen über Psychologie, herausgegeben
von Du Prel nach Poelitz 1889, S. 16, 18, 25, 26, 27) rechnen zwar
alle die Reflexion zu den oberen Seelen vermögen (Spontaneitäl)
bringen mich aber zur Überzeugung, daß hier einer der am meisten
schwankenden Ausdrücke der ganzen Kantischen Terminologie vor-
liegt.
Auch bei seiner Unterscheidung zwischen Vergleichen und Urteilen
scheint mir Döring (S. 41) die richtige Auffassung (Vergleichen —
subjektiv; Urteilen — objektiv) zu verfehlen. Dagegen danke ich
Döring den Hinweis auf die §§ 23—30 von De mundi und damit eine
neue Stütze für meine Datierung. Es zeigt sich nämlich wieder, wie
nahe die Amphibolie der Dissertation von 1770 steht. So bespricht
der § 23 das „sensitivae cognitionis cum intellectuali contagium",
§ 24 die „permutatio intellectualium et sensitivorum" und die daraus
entstehenden „principia fallendi intellectus per omnem metaphysicam
pessime grassata". Die folgenden §§ 27 — 30 geben Beispiele solcher
falscher Sätze nur nicht aus der Leibnizschen Philosophie, wie die
Anphibolie es tut.
Die zweite Hälfte der Döringschen Dissertation bringt aus Kants
Schriften eine reichhaltige Zusammenstellung und Vergleichung von
Stellen, die auf Leibniz Bezug haben.
XXIV.
Kleitophon wider Sokrates.
Ein Beitrag zur Erklärung des nach ersterem benannten Dialoges der
platonischen Sammlung.
Von
Dr. Heinrich Brünnecke, Göttingen.
"Wieweit die über den rätselhaften Kleitophondialog seitens der
Forscher bisher geäußerten Anschauungen auch im einzelnen von-
einander abweichen, so berühren sich doch in den meisten Fällen
ihre Ansichten aufs engste darin, daß sie die Rede des Sokrates
und damit die Abfassung des ganzen Gespräches eher einem ausge-
sprochenen Gegner, als einem Freunde des Meisters zutrauen. Wir
können uns infolgedessen darauf beschränken, in der Einleitung
die hauptsächlichsten diesbezüglichen Urteile ganz kurz zu erwähnen
und dadurch den gegenwärtigen Stand der Kleitophonforschung zu
beleuchten. Der gelehrte Leser wird sich so im voraus seine eigene
Meinung über die von der modernen Wissenschaft an die Behand-
lung unserer Kleitophonfrage zu stellenden Anforderungen zu bilden
vermögen.
Das Urteil Schleiermachers1) lautet: „Es ist wahr- ^«Problem
/ im Lichte der
schcinlich, daß das Gespräch aus einer der besten Rednerschulen ( !) mod^"^/or"
herstammend im allgemeinen gegen Sokrates und die Sokratiker,
den Plato nicht ausgenommen, gerichtet ist. Es ist auf keinen Fall
zu denken, daß Plato den Sokrates so sollte abführen lassen." Einige
Jahre später schrieb Boeckh2), der Kleitophon sei ein Torso und
(a. a. 0. S. 33) im übrigen mit dem unechten Theages, Alcibiades,
Axiochos, Eryxias, Sisyphos auf eine Stufe zu stellen. Demgegen-
x) Platoübers. II 3, Einl.
2) In seinem Kommentare zum Minus (S. 11). Er ließ sich durch die
Worte des Proklos (in Tim. I S. 7) in diesem Sinne beeinflussen.
Archiv für (ieschiehte der Philosophie. XXVI. 4. gQ
450 Heinrich Brün necke,
über erklärte er später 3) : ,dialogus, qui Cht. inscribitur, sive is snb-
diticius est, sive, quod magis probamus, ex imperfectis Piatonis schedis,
in quas auctor argumentum dialogi posthac elaborandi coniecerit,
post huius obitum in lucem protractus'. Trotzdem entschieden sieh
in der folgenden Zeit die bedeutendsten Kenner des Altertums, wie
Ast4), Socher5), Hermann6), S u s e m i e h 1 7), Cunert8),
aufs neue für die Uneehtheit des Schriftchens. Ebenso bald darauf
C. Ritter9) „aus Gründen des Inhalts", H i r z e 1 10), Hart-
lieh11) und Wendland, wenn er im Anaxim. v. Lamps. urteilt :
„Der Kleitophon des pseudoplat. Dialoges ist unfähig, Wesen und
Ziel der sokratischen Methode zu begreifen." Nach den Piatos Autor-
schaft leugnenden Stimmen derart hervorragender Gelehrten erscheint
es allerdings als berechtigt, wenn an der Neige des vergangenen Jahr-
hunderts W. Lutoslawsky12) unseren Kleitophon als ,a dialogue
of dubious authenticity' völlig außer Betracht läßt und um fast die-
selbe Zeit sich Wegehaupt13) zum Vorkämpfer für Cunerts Auf-
fassung des Problems aufwirft. Von Vertretern der gegenteiligen
Anschauung nenne ich Y x e m 14), G r o t e (Plato vol. III. S. 23),
Dümmler15) und J o e 1 (Der echte und der xenoph. Sokrates, 1893
bis 1901); doch stellte dann jüngst Ernst Bickel (Archiv für
Geschichte der Philosophie, 1904, S. 461) wiederum den Kleitophon
3) Im ,Index lectionum' der Universität Berlin von 1840 (S. 7).
4) Piatons Leben und Schriften, S. 500.
£) Über Piatons Leben und Schriften, S. 154 — 159.
6) Geschichte und System der piaton. Philosophie, S. 426.
7) Übersetzung von Piatons Werken V, S. 507 ff.
8) Quae inter Cht. dialogum et Piatonis Rem p. intercedat necessitudo,
Greif swalder Dissertation von 1881.
9) Piaton. Untersuchungen, Stuttgart 1888, S. 93.
10) Hermes X, S. 77.
") Leipziger Studien XI, S. 231.
12) In seiner Untersuchung über ,The origin and the growth of Piatos
logic', S. 75.
13) Vgl. die Worte in seiner Dissertation : ,De Dione Chrysostomo Xeno-
phontis seetatore (Göttingen 1896): ,Sed quaerat aliquis, quemnam Socraticum
secutus Clitophontis scriptor contenderet tarn acerbe paene C}'nicum in
modum S. Athenienses ad virtutem adhortatum esse: hausit aut e Pia tone
ipso aut e Socratis vitae ratione, qualis apud omnes nota erat.'
14) Über Piatos Cht., Berlin 1846 (war mir nicht zugänglich).
16) Kleine Schriften I, S. 232.
Kleitophon wider Sokrates. 451
mit dem Theages und ähnlichen unechten Dialogen zusammen. Der
neueste Bearbeiter unseres Gegenstandes, Herr Prof. Dr. Josef Paulu
in Znaim (1909), nimmt endlich als mutmaßlichen Verfasser gar ein
Mitglied der späteren peripatetischen Schule an.
Wir wenden uns nunmehr der Betrachtung des Dialoges
selbst zu.
Zweierlei behauptet der Verfasser in der Einleitung durch den (i7;ee"strä",,,ls,,es
Mund ,Kleitophons' gegenüber dem sich durch angeblich ungerechte
Beurteilung seiner philosophischen Wirksamkeit verletzt fühlenden
Sokrates: er habe den Meister bei Lysias 1. in gewisser Beziehung
gelobt, ihn aber zugleich 2. mit eben demselben Rechte in anderer
Hinsicht getadelt, Die ganze Auseinandersetzung gliedert sich ^JSS?"«
infolgedessen notwendigerweise in zwei Teile, nämlich 1. in den Gedanken.
Nachweis, daß er den Sokrates als geeigneten Erster Ten a, r
° ° Rechtfertigung
Tugendredner willig anerkannt habe, wenn er Kuitophc»,*:
ihn zu seiner Freude mit Eifer weit nachdrücklicher als die übrigen
Sittenlehrer die große Menge der Schlaffen und Unentschlossenen
antreiben und die Notwendigkeit der sittlichen Besserung betonen
gesehen habe. Es ist direkter Beweis; die Äußerungen des Gegners Des Sokrates
werden unmittelbar angeführt: „Ihr pflichtvergessenen Menschen !" "•jjjJJL2gd ZTU
hören wir ihn schreien, „eure Sorge um äußeren Besitz, um körper-
liche und elementare Bildung ist töricht ohne den Erwerb der inneren
Güter, d. h. der auf Wissen beruhenden wahren Seelentugenden,
denn ohne sie herrscht Zwietracht im Staate nach innen wie nach
außen. Also bessert euch, ehe es zu spät ist ! Ist doch eure gewöhn-
liche Einwendung, nicht schimpfliche Unwissenheit, sondern eigener
freier Wille sei der Grund aller Schlechtigkeit, so haltlos wie töricht,
denn freiwillig wählt man statt der höchsten Güter solche Übel nicht,
freiwillig unterliegt man nicht den Trieben und Lüsten, begeht in-
folgedessen auch nicht freiwillig, sondern in schmählicher Unwissen-
heit die ungerechten Handlungen. Also eins ist not: Wissen von der
Tugend, von der Gerechtigkeit!''
„Ihr Narren", ruft er sodann, „seht ihr denn nicht, wie ihr durch zweite
jene törichte Bevorzugung der äußeren Dinge die zur Herrschaft be- z«r Tugend,
stimmten edlen Teile der Seele grausam unter das Sklavenjoch des
Körpers zwängt?"
30*
452 Heinrich Brün necke,
Dritter Schließlich 16) erklärt er wirkungsvoll: „Wie jemand, der seine
Körperkräfte, seine Handwerkskünste nicht zweckdienlich zu benutzen
weiß, am besten überhaupt keinen Gebrauch von ihnen macht, so
enthaltet auch ihr vor Ausbildung jener Seelenkräfte euch am klügsten
jeder unbedachten Handlung und laßt euch lieber in selbstgewählter
Knechtschaft zu eurem Heile von einem Tugendhaften leiten wie
von einem guten Steuermanne in den Stürmen des privaten wie des
öffentlichen Lebens."
Zweiter Ttäder Nunmehr kann Kleitophon dazu übergehen, dem beleidigten
liechtferttguni/ r °
Kipdophons. ^okrates' einwandfrei zu beweisen, daß er ihn trotz dieser lobens-
werten Tugendreden leider mit vollem Recht habe tadeln müssen.-
denn er habe seine, wie von einem Gotte auf der tragischen Bühne"
mit so großem Pathos vorgetragenen Gedanken wieder und wieder
angehört, ohne daß doch Sokrates die so geflissentlich in seinen Hörern
erweckte Erwartung zu befriedigen vermocht habe. Endlich habe
er sich zunächst an seine Schüler (408 c — 410 a) und darauf an den
Meister selbst gewendet (410 a, b), aber weder jene noch dieser hätten
ihm irgendwelche tiefere Einsicht in das Wesen der Gerechtigkeit
vermitteln können. Jetzt sei er (d. h. der Kleitophon Verfasser)
sich voll bewußt geworden, daß der Pseudophilosoph ,Sokrates'
unberechtigterweise die Tugend gepredigt habe, denn er habe sie
niemandem zu verleihen vermocht. Aus Ignoranz? Aus Bosheit?
(410 c: 7} ovx eldivcu os ■>} ovx efrsksiv aiTfjc hfiol xoivcdvelv.)17)
Was wählst du? Die Rede ist jetzt direkt an den angegriffenen und
dadurch beleidigten Sokrates gerichtet: „Vertausche deine schöne
aber nutzlose Tugendpredigt mit wahrer Philosophie, mit der Dialektik !
Ohne diese werde ich dich als guten Propädeutiker betrachten, dir
aber auch weiterhin deine unrechtmäßig angemaßte Maske eines
wahren, die Glückseligkeit verleihenden Philosophen schonungslos
vom Haupte reißen."
im uterar. Wir sehen bereits : es handelt sich vornehmlich um einen Rechts-
Diaio5e7.es Standpunkt. Wie beginnt die Schrift? Mit den Worten des
16) Daß an mehrere, getrennte ,l6yoi ttootostttixoC zudenken ist, zeigt
p. 408 b, c. Daß diese Reden bzw. Schriften ein fortlaufendes Ganze, also ein
geschlossenes Werk bildeten, lehrt der systematische Fortschritt der Gedanken.
Den 2. schließt Kleitophon mit ,xai öttötuv uv cptjg . . .', den 3. mit dem
ähnlichen Übergange ,xai otuv Uyjig1 an das Vorhergehende an.
1T) Vgl. Xen. Mem. IV 2, 27: firj ildtög, ollü dt£i{>ev6[A,ivog rrjg
oeuvrov övrdfJiiwg.
Kleitophon wider Sokrates. 453
Klägers 18), des „verleumdeten" „Sokrates" in 3. Person (sie !) 10):
,K).fiT(Kfiövra tov 3Aqlötovv(IOV ti^ /}///> ÖL^ysiro Ivayxog, ort
Avola 6iaXey6y,evog rag iiir (teva HoxQarovg öiatQtßag ipeyoi,
Tf)r ßQaövfi(idxov 6h tivvovoiav vxsqexccivoZ1, also gerade
so förmlich wie sich das bei einer wirklichen gerichtlichen Anklage
und Verteidigung erwarten lassen würde und gerade so meisterhaft
kurz und vielsagend, wie wir sonst bei literarisch fingierten Gerichts-
verhandlungen über den Sachverhalt durch eine kurze Hypothesis in-
formiert zu werden wünschen: gewiß schon ein rein äußerlicher Beweis
für diese aus inneren Gründen, wie wir oben sahen, zu fordernde Auf-
fassung des Kleitophonproblems. Wie schließt die Schrift?
M i t den W orten des der hinterlistigen Verleumdung ver-
dächtigten Kleitophons, also des Angeklagt en: wiederum wie
in der Gerichtspraxis. Wir sehen: schon aus diesem äußeren
Grunde des Motivs durfte die von den bisherigen Forschern so
schmerzlich vermißte Schlußrede des Sokrates nicht erfolgen,
denn es handelt sich eigentlich um die Ehre Kleitophons! Ist der
Verfasser dieser Rechtfertigung wirklich ein Verleumder, der den
Meister (also vom platonischen Standpunkt aus , Konkurrenten')
durch einseitige, übertriebene Ausmalung seiner Fehler in den Augen
des Publikums herabzusetzen, in seiner sozialen Stellung zu schädigen
sucht?
Also zunächst eine kurze Bemerkung über das Rechtsverhält-
nis. Zwei Fälle sind möglich: 1. eine wissentliche, den Tatsachen
nicht entsprechende Herabwürdigung des Sokrates, 2. eine unbeab-
sichtigte Verleumdung, sofern etwa Kleitophon ohne sorgfältige, ge-
wissenhafte Prüfung des Tatbestandes, also durch ein weniger schweres
Verschulden dem Sokrates etwas Ehrenrühriges nachsagte. Ehren
rührig ist aber hier für den Moralphilosophen der Vorwurf der Un-
fähigkeit oder Weigerung, das Versprechen zu erfüllen und das Wesen
der Tugend klarzulegen. In beiden Fällen würde den Kleitophon
die gerechte Verachtung jedes anständigen Beurteilers treffen müssen.
Es muß also von dem zur Rede gestellten Verfasser der Rechtfertigungs-
18) Wie in der att. Gerichtspraxis !
19) Bereits Schleiermacher in seiner Einleitung zur Übersetzung u. a.
bemerkten das mit Staunen und schlössen aus ihrer richtigen Überzeugung:.
daß ein wirklicher Dialog nicht gut so beginnen könne, dieser , Dialog' sei
unecht.
454 Heinrich Brünnecke,
schrift der Beweis erbracht werden, daß er mit Recht nach ge-
wissenhafter Prüfung des Tatbestandes den
Sokrates hinter dessen Rücken tadeln durfte. Dieses geschieht eben
durch den Nachweis, daß er erst lobte, dann aber doch nicht
befriedigt war und endlich die für ,Sokrates' höchst blamable Tat-
sache konstatierte, daß auch die Genossen des Meisters fortgesetzte
Paränesen nicht recht verstanden hatten. Uns will dies vom Ver-
fasser so geflissentlich in den Vordergrund gestellte Argument ge-
ringfügig erscheinen. Wie schwer es aber gerade bei dem großen
antiken Denker, dem unsere Schrift durch die Überlieferung bei-
gelegt wird, bei Plato wiegt, wird jeder Platokenner wissen. So gilt
ihm bzw. seinem Sokr. z. B. im Protag. als stärkster Beweis
dafür, daß jemand trotz erfolgreicher staatsmännischer Wirk-
samkeit kein wahres Wissen besitzt, der Umstand, daß er
selbst seinen Söhnen dieses Wissen nicht mitzuteilen ver-
steht. Im Kleitophon erscheint nun dieser Zustand umso be-
jammernswerter, als es hier gerade die Gefährten des , Sokrates' selbst
sind, die den Grad ihrer Unwissenheit gar nicht gewahr wurden20)
und erst durch den sich bald in Gegensatz zu , Sokrates' stellenden
Kleitophon über den wahren Wert des bei diesem Tugendschwärmer
erlangten Wissens besser unterrichtet werden. Endlich wird, wie
wir oben sahen, , Sokrates' selbst von dem stets in die Tiefe dringenden
Geiste ,Kleitophons' in die Enge getrieben und weiß nicht aus noch
ein (410 a/b). Es erscheinen am Schlüsse der Rede des Kleitophon
vollends noch die Worte xai öov ösofisvog usw., gerade als ob wir
uns in einer Gerichtssitzung in Athen befänden. Richter ist hier
nicht sosehr Sokrates wie die Öffentlichkeit, nämlich das damals
philosophisch und literarisch interessierte Publikum So schließt
diese Rechtfertigungsschrift mit der äußerlich milden, aber sachlich
nicht wenig energischen Aufforderung: erfülle bitte deine Pflicht
als wahrer Philosoph, oder ich ziehe den Redner und Sophisten Thra-
symmachus und jeden andern, der mir ehrlich helfen will, deiner
hohlen Protreptik vor 21)'
20) Die schimpflichste Lage fürwahr! Jetzt gewinnt auch der Vorwurf
des ,lfjnrööiov sCrou' in den Schlußworten Kleitophons die rechte Bedeutung.
21) Daß er seine Drohung ausgeführt und beim Gegner Thrasymmachos
durch seinen Bericht über des alten Narren , Sokrates' unverstandene und
widerspruchsvolle Protreptik (vS-Xoig) Empörung und Abscheu erregt hat,
Klei tophon wider Sokrates. 455
Gerade diese Umkehrung des ursprünglichen Anklage Verhält-
nisses erscheint als die geniale Tat des sich vom Verdachte der bös-
willigen Verleumdung reinigenden Verfassers. Dieser war im An-
fange, der große Philosoph , Sokrates' ist am Schlüsse der Ange-
klagte, der gewissenlos die leichtgläubigen Hörer durch seine großen
Aufschneidereien ködert, sie durch die vielen Prunkreden an der
Käse herumführt und sie schließlich ohne die ersehnte evöaifiovla
entläßt. Geschädigt sind sie insofern, als sie sich inzwischen- anderswo
eventuell besser hätten ausbilden lassen können. Jetzt ist es dazu
möglicherweise schon zu spät geworden. Auf diese geniale Weise
wird aus der unverhüllten Invektive eine die Sympathie des Lesers
in höherem Maße erregende Rechtfertigung zur Wahrung der eigenen
Ehre des wahren Philosophen Kleitophon, aus der Rechtfertigungs-
schrift aber gleichsam ohne seine Absicht eine schwere
Anklage des Pseudophilosophen.
Wir bemerkten oben bereits steten Gedankenfortschritt, wir
bemerken aber auch äußerlich bis ins einzelne solch stete Gliederung,
wie sie so in allen Teilen durchgeführt schwerlich im Dialoge, d. h.
in der literarischen Kachbildung eines wirklichen Gespräches er-
scheinen dürfte. Ich bitte die mit ,ravral nach Art der Gerichts-
rede beginnenden Hauptabschnitte 407 e, 408 b 410 a zu beachten 22)
und dazu die Bemerkungen des Herrn Professor Schwartz im Rostocker
Index von 1892 über des Gorgias Palamedes zu vergleichen, des
weiteren aber auch die vielen kleinen genau abgemessenen Sätzchen
(z. B. 409 b, c). Selbst die Worte entsprechen sich teilweise 23).
Wir sehen ferner, es ist durchaus ungerechtfertigt, den Verfasser
wegen des , unmotivierten' Erwärmens der fol xagovreq1 (410 a)
zeigt deutlich Platons erstes Buch der Republik (bes. p. 336 b- — d), wo direkt
auf den Kleitophon Bezug genommen und der vom erbitterten Kleitophon
gegen Sokrates aufgehetzte Rhetor von den Anwesenden nur mit Mühe zurück-
gehalten wird. Darüber unten.
—) Dieselbe Wirkung durch dasselbe Mittel wird in dem (nach den
überzeugenden Ausführungen meines akademischen Lehrers, Herrn Prof.
Dr. M. Pohlenz, bereits nach dem Antalkidasfrieden von Plato verfaßten)
rhetorisch-satirischen Epitaphios ,Menexenos' erzielt. Vgl. z. B. das zwei-
malige tuvtu S. 248 d mit dem zweimaligen im Kleitophon S. 410 a, b (eben-
falls kurz vor dem Schlüsse. Auch im Menexenos fehlt nicht das dto/tut a. a. 0.
lit. e.
23
) S. darüber unten den 2. Teil unserer Untersuchung
456 Heinrich Brunn ecke,
zu tadeln. Zeugen durfte jeder Redner vor Gericht anführen, ja e r
mußte es, und für die Wahrheit der Behauptungen Kleitophons
bürgen eben auch die Aussagen der übrigen Ohrenzeugen mit, welche
hier durchaus als faßbare Personen vorgestellt werden, die jeden
Augenblick gerufen werden können, falls etwa der abgeführte bzw.
überführte ,Sokrates' die Richtigkeit der gegen ihn im Laufe der
Rede erhobenen Beschuldigungen in Abrede stellen sollte. Mit Fug
und Recht wendet sich daher (410 b) die Rede auf die Person des Sokrates
selbst zurück, mit Recht wird ihm jetzt direkt und persönlich die-
jenige Behauptung als bewiesen entgegengeschleudert, die sich wie
ein roter Faden durch die ganze Darlegung Kleitophons zog: ver-
dientermaßen habe ich dir unter abfälligen Äußerungen den Rücken
gekehrt, denn wenn du mir aus dem Stegreif über deine schönen
Vorträge ein Gespräch dialektischer Art führen sollst, widersprichst
du dir selber und schweigst. Besudele also durch solch hohle Rhetorik
nicht den Namen des Philosophen ! Damit ist dem Afterphilosophen
der Mund gestopft. Er durfte, er konnte nicht wider-
sprechen, ohne zu begründen. Seiner Eigenart ent-
sprechend in einer der von Kleitophon so schön gebrandmarkten
Volksreden? 'Etwas anderes verstand ja der hier gezeichnete , Sokrates -
nicht! Die Nichtigkeit dieser Kunst ist jedoch sattsam erwiesen;
eine Verteidigung in dieser Weise wird man schwerlich akzeptieren,
denn Kleitophon hat ja klugerweise von vornherein zugegeben, daß
.Sokrates' die Überzeugungskunst der schönen Worte ausgezeichnet
handhabe. Die durch Kleitophon aufgeklärten Hörer (bzw. Leser!)
werden lärmen. ,, Schluß"! , Dialektik'! „Wahre Philosophie1!
wird man ihm entgegenrufen. Die zu geben ist er u n f a h i g.
Er muß, wie ölten gezeigt, schweigen, denn eine proteptische und
damit philosophisch höchst unfruchtbare Verteidigungsrede wird
notwendig zur neuen Anklage, beweist somit die Richtigkeit der
bereits gegen ihn erhobenen Vorwürfe eklatant aufs neue. Der un-
echte Phrasensokrates ist durch diese geniale Zuspitzung der Kon-
troverse bereits völlig zerschmettert: es ist also eine völlige
Verkennu n g der g e s a m t e n S a c h 1 a g e , wenn die
Forscher 24) nach diesen objektiv begründeten Ausführungen ,Kleito-
-4) Wie Tennemann (System der platonischen Philosophie I, 112), Grote
(Plato and the other companions of Socr. (London 1865) III, S. 13 ff.),
Th. Gomperz (Sitzungsbericht der Akademie, philol. -historische Klasse (Wien
1887), S. 763) u. a.
Kleitophon wider Sokrates. 457
phons' noch lange Disputationen mit dem Gegner vermissen: cum
tacet, clamat! Der Kleitophon ist also ein anonymes, ganz
besonders fein durchdachtes Flugblatt zur wirkungsvollen Be-
kämpfung" eines absichtlich nicht offen genannten Gegners
und als solches kein Torso! Wer dieser Gegner, wer der geist-
volle Invektivenverf asser ist, werden wir im folgenden zu untersuchen
haben.
Die befriedigende Lösung unseres Problems hängt wesentlich c> Der K,,ei^-
o O o jilion unil die
von der richtigen Beantwortung der Frage ab: Für welchen sokratik.
der uns bekannten Sokratiker ist die im Klei-
tophon so schön gezeichnete Rolle eines Buß-
predigers charakteristisch gewesen? Wir ent-
sinnen uns nun, daß die in ganz ähnlicher Weise vorgetragene ober-
flächliche Popularethik der kyn.-stoischen Diatribe sich mit genügender
Sicherheit bis auf den Sokratiker Antisthenes verfolgen läßt. Wir
erinnern uns ferner daran, daß zweifellos kein anderer als eben dieser
freche Sathonschreiber 25) auch von dem ganz besonders im Anfange
seiner Schriftstellerei auf den Namen eines Philosophen Anspruch
erhebenden Isokrates in der Sophistenrede (§§ 1 — 8) 26) ebenso als
gemeiner Lügner angeklagt wird, wie wir das oben seitens des Kleito-
phonverfassers in unserer unter Piatons Namen gehenden Kontroverse
geschehen sahen, in welcher der angegriffene Tugendredner ,Sokrates'
aufs Haar den Verkündern jener späteren, weitläufigen Auseinander-
setzungen über die Tugend glich, welche sich, wie wir ebenfalls bereits
bemerkten, auf Antisthenes zurückführen lassen. Bei Isokrates
spiegelt dieser Gegner vor, er vermöge die Schüler
in Kürze zur Glückseligkeit (evdaipovia) zu führen:
ganz dasselbe wurde unter Verwendung des-
selben Wortes auch im Kleitophon als t t log
vorgespiegelt. Zum Halten seines Versprechens ist er nach
der Versicherung beider Zeitgenossen unfähig.
Als Isokrates seine Sophistenrede schrieb, hatte Plato wohl
eben erst begonnen, sich zu seiner wirklich tiefen, ja einzigartigen
Lebensanschauung durchzuringen. Seine Erstlingsschriften erscheinen
vielfach ohne greifbares Resultat. Mit denen des Aeschines und der
2i) Der unbedenklich seinem toten Meister Sokrates die eigenen ( be-
danken in den Mund legte.
-6) Vgl. auch Antid. § 84 (261).
458 Heinrich Brünnecke,
übrigen Sokratiker dürfte es auch nicht besser bestellt gewesen sein.
Es mußten also die erwähnten, sicher nicht zuerst von Isokrates er-
hobenen Vorwürfe auch die übrigen Sokratiker und besonders die
durch die Schriftstellern dieser Schüler immer berühmter werdende
Person des Sokrates selbst treffen. Als Sokratiker mußte sich auch
Xenophon getroffen fühlen und in diesem Sinne fasse ich die viel
spätere Stelle in den Mein. I, 4. Und Plato? Schwieg dieser geist-
vollste aller jener den toten Meister in Wort und Schrift verteidigenden
Jünger beschämt und entmutigt? Wir vermissen also unter
den zweifellos echten platonischen Schriften
eigentlich ein Gespräch, in dem sein Sokrates
jenen Vorwurf, er sei ein bloßer protreptischer
Tugendschwätzer, als unberechtigt mit Ent-
rüstung zurückweist und auf genialere Art
als Xenophon die meisterhafte Handhabung
der Dialektik als des spezifisch sokratischen
Erkenntnismittels durch die Tat beweist. Wir
erwarten in einem solchen Dialoge entsprechend der Eigenart des
platonischen Sokrates eine besonders feine, aber auch scharfe
ironische Zurechtweisung desjenigen Mannes, der absichtlich oder un-
absichtlich, direkt oder indirekt jene einseitige Auffassung der sokrati-
schen Philosophie und damit die schweren Vorwürfe hervorgerufen hatte.
Nun sahen wir bereits oben, daß die im angeblich platonischen
Kleitophon gebrandmarkte oberflächliche Protreptik für die aus-
gedehnte ,sokra tische' Schriftstellerei des Antisthenes charakteristisch
war. Die diesbezüglichen Vorwürfe mußten also durch das Unge-
schick des Antisthenes neue Nahrung erhalten, da seine Sokratik
ja wegen der Popularität gerade dieses Sokratikers wenigstens in
den Augen der ebenso oberflächlichen Masse mehr und mehr als
Charakteristikum somatischer Weisheit überhaupt erschien. Wider-
legte daher Plato, so mußte er 1. die unwissenschaftliche, also un-
sokratische Wirksamkeit dieses Mannes schlagend dartun: wie dies
geradezu unübertrefflich im angezweifelten Kleitophon geschieht und
2. zeigen, daß sein wahrer Sokrates besseres verstand. Wo erfolgt das
aber? Wenn überhaupt, dann zweifellos in einer längeren Debatte, die
im direkten Gegensatze zur Methode des Antisthenes nicht in
einem Tone heruntergeschmettert werden konnte, sondern als dialek-
tisches Meisterstück allen Einsichtigen offenbarte, ,a Xtyojy ovrtj-
Kleitophon wider Sokrates. 459
fiaQsvs toK övvöiaTQlßovot' , wie Xenophon a. a. 0. (I, 4, 1) es ver-
langt. Das geschieht von Plato nur einmal: im Staat 27). Bei dieser
Gelegenheit können wir so recht beobachten, wie ein Genie und wie ein
philosophischer Schwachkopf verteidigt. Der gute Xenophon glaubt
für seinen toten Freund und Meister die schönste Lanze zu brechen,
wenn er recht eindringlich erklärt: „Es haben da einige meinem
Sokrates den Besitz der Fähigkeit abgesprochen, die Menschen durch
Verleihung der Tugenderkenntnis zu bessern. Na, das ist natürlich
nicht wahr!" Anders das Genie. Das sucht (hier in der Rolle
eines wahrheitssuchenden Schülers) zunächst den für die Dis-
qualifizierimg der sokratischen Philosophie (s. o.) Hauptschuldigen
heraus und kondensiert dann die Anklagepunkte unter Zugrundelegung
einer bekannten, für des Gegners Methode bezeichnenden Haupt-
schrift, wie sie der dreibändige 28) (sie ! !) Protrepticus des Antisthenes
war. Es formuliert also trotz schonender Einkleidung die betreffenden
Gedanken recht scharf, aber gerecht und versieht diese zusammen-
fassende Darstellung derselben zugleich mit solch individuellen Zügen
dieses Schuldigen, daß auch der fernerstehende Beobachter klar er-
kennt: die Verurteilung der sokratischen Methode war doch in jener
allgemeinen Weise ungerecht, denn der einzige Schuldige ist doch
eigentlich nur jener Sokratiker, welcher in der »vorzüglichen' Prunk-
rede fast als der leibhaftige Epideiktiker Gorgias im Sokrateskostüm
erscheint 29). Dieser wurde aber als ein die Person des Sokrates ledig-
27 ) Die späten, lange nach des A. Tode verfaßten »Gesetze' bleiben hier
außer Betracht.
*8) Vgl. den Katalog bei D. L. VI, 16: Auch unsere Analyse
des Protrepticus im Kleitophon führte auf eine
dreifache Gliederung. Es war ausdrücklich die Rede von mehreren
Xuyoi 7TO0TQ.
-9) Vgl. den zweiten Teil unserer Untersuchung! Interessant ist auch
die von Plato schon im Gorgias 464 abgelehnte Identifizierung der Recht-
sprechung mit der Gerechtigkeit (Kleitophon, S. 408 b), denn sie erinnert
uns an die sophistisch-rhetorische Anschauung, daß das von der Staatsgewalt
(= dem Stärkeren) als ,, gerecht" durch Richterspruch Anerkannte nun auch
gleichfalls das Gerechte wirklich sei. So was kann also nur ein auf dem Boden
der Sophistik stehender Sokratiker behaupten. Durch derartige Erwägungen
erledigt sich der Einwand des Herrn Professor Pavlu (a. a. O. S. 7): ,Jst es
nun denkbar, daß Plato das beide Männer Trennende in der Form zum Aus-
druck gebracht hätte, daß er in dem zweiten, tadelnden Teile seine eigene
Lehre (?) in einer solchen Weise sollte angegriffen haben? Dieser Teil mußte
460 Heinrich Brunn ecke,
lieh darstellender Schauspieler, der die Rolle des wahren Philosophen
als unfähiger Dialektiker überhaupt nicht zur Geltung zu bringen
vermag, dem echten platonischen Sokrates geradezu entgegengesetzt:
ein bissiger Hieb, der den groben Sathonschreiber und arroganten
Sokrateskopierer gewiß in seiner ganzen Schärfe getroffen hat. Es tritt
dem Leser durch die meisterhafte Darstellung des Verfassers unmittel-
bar der fundamentale Unterschied zwischen jener wahren
sokratischen Dialektik und der hohlen Rhetorik entgegen, mit welcher
der gedankenarme ,Sokrates' in Ermangelung tieferer Erkenntnis
(vgl. den Sophistes) des Volkes Augen und Ohren äußerlich zu be-
zaubern versuchte 30). Und doch beanspruchte er offenbar das Ver-
dienst, die höchste Weisheit des Sokrates mit der höchsten Kunst
des protreptischen Prunkredners vereinigt zu haben. Erstere ist,
wie ,Kleitophon' treffend gezeigt hat, nicht weit her. ?Eav öh ///}
ixavcäg fpiXoooff?'jö)j, ovös txavog jrore Xeysiv sörai jcsqI ovösvoq
hatte ebenfalls der platonische Sokrates bereits (im Phaedrus, S. 261/2)
erwiesen. Weiß also der , Sokrates' im Kleitophon nicht einmal selber,
was eigentlich Gerechtigkeit ist, so ist auch seine Rede darüber nichtiges
Geschwätz eines eitlen Dilettanten, der sich zu seinem Unglück als
Erlöser der sittlich verkommenen Menschheit fühlt 31). Denn
zwischen Philosophen und Rhetoren gleich-
sam in der Mitte stehend muß er (nach den geist-
vollen Ausführungen Piatons im Euthyd. S. 306) wie Isokrates not-
wendig schlechter als beide sein. Vgl. auch im Staate
S. 489 c, d. Der , Kleitophon' im ,pseudo 'platonischen Dialoge
(nach Ansicht des Herrn Professors natürlich !) dann doch entweder
eine Verteidigung der eigenen Lehre Piatons (als
ob die nicht schon genügend durch die ganze bisherige piaton. Schriftstellerei
verteidigt wäre !!) oder eine Zurückweisung des gegneri-
schen Standpunktes enthalten.'' Dann hätte sich ja ein Mann
wie Plato dazu herablassen müssen, sich mit so einem Gegner in regelrechten
Schulstreitschriften herumzuzanken. In welch feiner und doch beißender Satire
tatsächlich das Genie sich verteidigt, zeigt uns eben unser Kleitophon.
30) Wieder nach der Anweisung des Gorgias. Vgl. Plato, Gorgias,
S. 452 e— 453 a.
31) Wozu ihm aber die (pvGig fehlt. Daher läßt bei seinen ijrids^sig über
moralphilosophische Themata seine evQSGic (inventio) so sehr zu wünschen
übrig, daß stets dieselben sokratischen Gedanken nur schematisch in anderer
Form wiederholt und durch neue Beispiele erläutert und bekräftigt zu werden
pflegen.
Kleitophon wider .Sokrates. 461
schließt also ganz im platonischen Geiste mit logischer Konsequenz,
daß es für ihn als Jünger der Philosophie immer noch besser ist, sich
statt zu solch einem zwitterhaften Stümper zu einem leibhaftigen
Sophisten32) zu begeben: zu Thrasymmachos, dessen unsittliche
Grundsätze sogar der Feind dieses ,Sokrates\ Isokrates als Gipfel
der avoia bekämpfte (z. B. in 7jcsqi sIqiJvtjq' § 31 ff.). Welch
Schlag für den Widersacher im Sokratesgewande, sich so als alatjcov
und ärgerer Schelm als Thrasymmachos hingestellt zu sehen 33) !
Welch beschämende Wendung der Kontroverse durch die meister-
hafte, verdeckte Invektive ,Kleitophons'. Platonischen Geistes
Hauch spüren wir hier zweifellos in seiner ganzen Größe, wenn anders
jene Euthydemosstelle 34) dem Schreibstifte dieses Meisters entsprang.
32) Denen sein protrept ischer Lehrer ja früher schon Schüler zuführte
(Xen. Symp. 4, 62).
33) Insofern mit Recht, als Thrasymmachos die Torheiten dieses Sokrates
sofort, dieser seine eigenen Eselsohren aber nicht mal spät erkennt. Also
das plus an Torheit ist auf Seiten des A. Vermutlich schlägt auch hier Plato
seinen Gegner mit eigenen Waffen, indem er alles das Schlechte, was dieser
im (pvCioyriofxixdg ttsqI twv GocpiGnor den bösen Sophisten vorgeworfen
hatte, nun Kleitophon auf denA. zurückschleudern läßt. (Über den Physiogn.
d. Antisth. vgl. Henrichowsky: „Ein kurzer Beitrag zur Literatur der Physiogn.
veteres" im Programm des Gießener Gymnasiums von 1870). Alles das muß
man sich vergegenwärtigen, um den Eindruck voll zu verstehen, den der
Kleitophon auf die gebildeten Zeitgenossen machte; durch den Kleitophon
und die den rechten Hintergrund dazu bildende imponierende Schriftstellerei
Piatons erscheint mit einem Male der hochgeachtete Schauspielersokrates als
der Sophisten ärgster!
34) Hier hatte er bereits (S. 278 d/e) erklärt, daß nicht Protreptik, sondern
ernsthafte Dialektik als Grundlage aller Wissenschaft, das Wesen seiner Philo-
sophie ausmache. In dem dann folgenden ,sokrat.' Protrepticus (bis S. 283
und 306 e, 307) kommen alle wesentlichen Gedanken des sophistischen Sokrates
vor: ,Die Menge hält töricht äußere Güter für das köstlichste Besitztum,
der Weise die Tugend. Sie ermöglicht erst den richtigen Gebrauch jener.
Ohne diesen ist für den Toren das dovlevitv am besten' usw. Doch an Stelle
der fortlaufenden Rede des falschen Sokrates tritt die Dialektik des wahren
platonischen Dialoges. Übrigens hatten die beiden eristischen Klopffechter
gleichen Bildungsgang wie Antisthenes, nämlich von der Rhetorik zur Philoso-
phie. Bei ihnen ist daher derselbe Mangel, dieselbe Halbheit zu beklagen.
Bei allem diesen mit Recht als Unfug zu bezeichnenden Treiben fiel Plato als
dem Verteidiger der Ehre des wahren Sokrates gleicherweise die Pflicht zu,
den Mitbürgern schlagend darzutun, daß der Pfad zur wahren Glückseligkeit
nicht durch den Kreis solcher Narren führe.
462 Heinrich Brün necke,
Wer hätte damals außer Piaton wohl so etwas vermocht? Dieser
hat so mit dem unflätigen Gegner völlig abgerechnet, wie er es in
ähnlicher Weise (wenn auch minder scharf) mit seinem ehemaligen
Freunde Isokrates gemacht hatte. Wie gegenüber diesem, so hatte
er auch gegenüber dem ,Sokrates' des Kleitophon lange Jahre mit
seiner Polemik geduldig gewartet (S. 410 c), aber als er ,3roXvv vjrotiei-
rag /QÖvov' in allen Reden (bzw. Schriften) immer wieder denselben
Schwulst hören mußte, wie sich sogar die übrigen Schüler unwissend
zeigten und eigene Versuche fehlschlugen (vgl. die Art, wie Plato
im Euthydemos aus dieser Protreptik den Weg zur wahren Philo-
sophie zu bahnen versucht), wie schließlich die Gefahr naherückte,
unter der Leitung dieses sich selbst widersprechenden, also offenbar
so unwissenden wie kecken Protreptikers geistig zu verkümmern, da
war jeder Ausweg recht, wenn er nur weit wegführte von diesem groß-
sprecherischen Phrasenhelden. Wir dürfen also die Ab-
fassungszeit des Kleitophon schon aus diesen
inneren Gründen nicht in eine frühe Zeit hin-
aufrücken, in der von diesem Sokratiker noch
etwas zu erhoffen war! Den noch in der Entwicklung-
begriffenen und ehrlich auf der Suche nach Wahrheit sich abmühenden
Forscher stößt ein Mann wie , Kleitophon' nicht so hart vor den Kopf
und blamiert ihn öffentlich wie hier im ,Dialoge' 35). (Vgl. Kratylos,
S. 440 d: ,6xojteTa{hcu ovv ygr/ ävÖQtkog te xal sv, xal //>} (tadirog
ä.irodt%€6&ai <wie die Schüler des Gegners!)», tri yag rtog ti xal
i)hxiar tyug1, <wie Isokrates am Schlüsse des Phaedrus>, wo-
gegen dieser Gegner im Sophist, S. 251 b als ,y£Q<ov (hpifiad-rjc' ge-
schildert wird 36), von dem nichts mehr zu erhoffen ist !) Kleitophon
kommt also nun zum direkten Gegner der somatischen Philosophie,
zum Redner und Sophisten Thrasymmachos. Da er jedoch auch bei
diesem nicht ,T£Xsicog rt» jigay^ari tJtt^sld-eTr övrarai', wie das
am Ende des Kleitophon aufgestellte Postulat lautete, da gelangte
er endlich zu dem wahren Sokrates, der sich mit dem Thrasymmachos
35) Darin liegt zugleich wieder ein Grund, weshalb dieser Sokrates im
Kleitophon nicht antwortet. Ihm war ja bereits lange genug Gelegenheit
geboten, sich zu rechtfertigen.
36) Der (nach Diog. L. VI 70, 8) ,iqwTr}&t(c, il noiüiv xalog xuya&ig
iGouo, £<f>r}' tl tu xuxd, ä t'xet,c, oti (pevxiä tan, fia&oig naqä rüv
ilööxwv'. Danach ist A. aber gerade der «i'ff^tffroc .' Vgl. Theaet. 202 c, d;
Isokr. Hei. 1; 2.
Kleitophon wider Sokrates. 463
in eine Disputation einläßt, bei der sich einerseits wirklich zeigt
(Kep. 336 d), wieviel besser dieser echte Sophist ist als jener auf-
schneidende Sokrates, wenn er gleich dessen philosophische Erziehungs-
resultate (Kleitophon S. 409) als leere Worte (vd-Xovg) entrüstet für
ungenügend erklärt 37), bei der aber auch anderseits der durch seinen
Nebenbuhler so in Mißkredit gebrachte wahre Philosoph anfangs
bescheiden bekennt: ^eotlayrjv xcd ütQoößXhccov avvov tcfctjovio/r
. . . xcd sijtov vJtOTQSficov' OgaöVfifiaxE, [tf] yalejioQ r/ittr Zöd-i'
d yag st-aiKXQTavopev ... 1 1 l öfri, ori axovreq ä // a q t ä v o ii t r
. . . ov Övväftsd-cc' D.ttiofrca ovv t^iäc, rtoXv (läXXov slxoq lori
jiov vjio v/icov (sie!) xeov ösivdöv i] ycüejraivHj&ai'. Klingt das
nicht wie eine direkte Antwort auf des Kleitophon unwilligen Vorwurf
(Kleit. 410c): ,?} ovx aldtvai 6s r\ ovx ed-iXeiv ccvrf/g sf/ol xoivcovsiv'?
Das ist nicht des Großprahlers falsche, sondern des absichtlich klein-
tuenden Meisters wahre Weisheit, die den Thrasymmachos doch bald
so aussticht, daß er wie ein Schuljunge errötend ein Tor zu sein scheint
(350 d). Nun hat Kleitophon endlich den wahren Sokrates erkannt 38),
der ihm in einer Unterredung, wie sie im Staate vom 2. Buche an
vorliegt, die verlangte Ergänzung zum Protrepticos jenes faden
,Sokrates' und mit ihr das feste Wissen von der Gerechtigkeit und
durch diese die Glückseligkeit zu geben weiß (vgl. den Kleitophon-
schluß) im Leben wie im Tode (vgl. das schön ausklingende Schluß-
motiv des Staates).
Mit dem oben erörterten Nachweise der Unfähigkeit des Gegners,
die Glückseligkeit der vollen Tugend herbeizuführen, war aber nicht
etwa nur die Berechtigung der Angriffe des Kleitophonverfassers
dargetan, sondern zugleich in genügender Weise motiviert, wes-
halb der platonische Sokrates im Staate ein
so schwieriges Problem, dessen Behandlung als Ver-
messenheit erscheinen könnte, zu unternehmen wagt:
sein Euf war durch das pietät- und taktlose Gebaren seines ehe-
maligen Jüngers in größere Gefahr geraten als durch die haßerfüllten
37) Das konnte er nicht gut mit diesen Worten, wenn sich des , Sokrates'
Unwert nicht bereits in einer Schrift wie dem Kleitophon erwiesen hatte.
38) Vgl. die Verheißung am Schlüsse des Kleitophon: ,tioüq 0QaGi\ufJuxo)'
TTOQSi'ooiJut, xal uXXoGs onov Svvafiat'. Liegt nicht in dem ,xai' usw.
schon der Nebengedanke „Thrasymmachos ist möglicherweise unfähig"?
Erscheint nicht damit der Ausblick auf etwas Höheres, auf die Akademie?
464 Heinrich Brünnecke,
Entstellungen seiner Feinde, bei denen man eher den verleumderi-
schen Charakter der Anklagen erkennen konnte, als bei dem eifrigen
Sokratiker, der mit Unrecht die Sokratesmaske trug, das eminent
Unsokratische seiner Marktschreierei. Da hierdurch ein größeres
Publikum an Sokrates irre ward, so stemmte sich notwendig Piaton
diesem Sinken des somatischen Ansehens wie ein rocher de bronze
entgegen. Er verspricht nicht, was er nicht zu halten vermag; in der
Art des Pseudosokrates Wissen zu erheucheln, ist nicht seine Sache:
ov !o)v to 7s hfiov ovtok lyu (et Aristot. Met. V 29, 1024 b. 34).
Nachdem alle andern Wege versperrt sind, ist er also durch
die Not gezwungen, sich bescheiden selbst 39) einen gang-
baren Weg zum Ziele zu suchen und nachdem der falsche Sokrates
und der die Sophistik verkörpernde Thrasymmaehos der wissen-
schaftlichen Erkenntnis nicht mehr ^turödtoi1 sind 40), — ihn zu
finden !
Ist nun aber trotz aller bisher vorgetragenen, das Gegenteil be-
weisenden sachlichen Indizien die Meinung derjenigen Forscher
gerechtfertigt, welche den Kleitophon als verworfene Einleitung
39) Aus dem Stegreif! Er wird ja bei seiner Rückkehr vom Piraeus
fast mit Gewalt festgehalten. Dann nötigen ihn die dringenden Bitten der
Freunde und besonders Glaukons ( !) zum Weitersuchen auf dem Pfade der
Wahrheit,
40) Jetzt lächelt man auch über das Geschrei der Gegner wegen angeb-
lichen Plagiates seitens des platonischen Sokrates (vgl. Athen XI 508 c:
dlloToiovg de rovg irltlovg [sc. sokratische Dialoge Piatons] ovtag Ix iwr
IdQiGTinirov dwTQißiüv, Ivtovg dh xäx twv IdrTio&tvovg usw.). Die
ganze Kontroverse ist offensichtlich so angelegt, daß den inneren Zusammen-
hang zwischen Kleitophon, dem Prooemium und dem eigentlichen Staat
der zeitgenössische Leser selbst finden soll. Plato hatte seine Gründe dazu !
Wären die Übergänge allzusehr in die Augen fallend, so würde das Ganze, wie
wir oben S. 255 bereits sahen, als ordinäres Selbstlob, die Kontroverse als Schul-
gezänk erschienen sein. So was überließ der Meister dem Gegner. Jetzt er-
innerte man sich unwillkürlich an den Gegensatz dieser beiden Schulhäupter
und lächelte über die köstliche Ironie. Anders würde die Wirkung nur halb
gewesen sein. Also nochmals: gerade in dieser scheinbar so losen Verknüpfung
liegt dennoch die feinste und meisterhafteste Berechnung. — Es ist meines
Erachtens auch nicht ausgeschlossen, daß Plato bei seiner Umarbeitung des
ersten Buches nachträglich noch an der Verfeinerung auch dieser versteckten
Beziehungen weiter gearbeitet hat, so daß das Ganze schließlich so auf die
Mitwelt wirkte, wie heute: als helleuchtendes Siegesmal der wahren, in gött-
licher Begeisterung zum Höchsten strebenden Sokratik gegenüber der Ignoranz
sokratisierender Dunkelmänner.
Kleitophon wider .Sokrates. 465
zum Staate betrachteten? Mit rächten! Im ersten Buche des Staates
geschieht ja gerade das am Schlüsse des Kleitophon Angedeutete :
die Prüfung, ob Thrasymmachos das Wesen der Gerechtigkeit kennt.
Ohne dieses erste Buch mit seiner Erörterung über dasselbe Thema:
Thrasymmachos stößt mit seinem neuen Schüler Kleitophon zu dem
wahren, die ersehnte Dialektik bietenden Sokrates — würde daher
der Dialog Kleitophon mit seiner bestimmten Schlußverheißung
unverständlich erscheinen. Somit muß der
Verfasser des Kleitophon bereits damals die
Absicht verfolgt haben, den Thrasymmachos
in einer besonderen Schrift als unfähigen
Dialektiker über das Wesen der Gerechtigkeit
zu erweisen. Das geschieht nun im ersten Buche des Staates.
Also hatte Plato bei Abfassung seines Kleito-
phon bereits das erste Buch vor seinem geisti-
g e n A u g e oder der Kleitophon ist von ihm nach-
träglich auf das bereits existierende erste Buch zu-
gespitzt. Denn auch der umgekehrte Fall der später be-
absichtigten Substituierung des Kleitophon an Stelle des jetzigen
ersten Buches ist nicht möglich, da (nach unserer obigen
Untersuchung) die Auseinandersetzung mit Thrasymmachos infolge
der Schlußworte Kleitophons nicht entbehrt werden kann. Es
hat sich damit als Tatsache erwiesen, daß Plato die jetzt das erste
Buch bildende Thrasymmachosdebatte schrieb 41), dann einzelne der
folgenden Bücher — inzwischen verschärfte sich der Gegensatz zu
dem protreptischen Sokratiker 42) — und schließlich, nachdem er
41 ) Vgl. die sprachstatistischen Resultate im zweiten Teile unserer
Untersuchung !
4-) Wahrscheinlich infolge der Herausgabe des Schmähbüchleins, Sathon'.
Sind da Herrn Professor Paulus Worte berechtigt: „In welcher Weise
sollte in dem nur niederreißenden Abschnitte (d. h. dem zweiten Teile des
Kleitophon) Piaton dem beleidigten Antisthenes die
versöhnende Hand bieten?" Ich meine, einem Sathonschreiber
bot man schon im Altertume keine ,versöhnende Hand' ! Solch ein ekelhafter
Ehrabschneider konnte doch nur auf die niedrige Gesinnung des untersten
Volkes spekulieren, wenn er durch solche Ideenassoziationen zwischen Plato
und dem männlichen Geschlechtsgliede seinen aristokratischen Gegner lächer-
lich machen zu können vermeinte. — Man wird uns auch jetzt nicht mehr
einwenden, im 1. Puche des Staates sei ja aber ganz dasselbe Thema behandelt.
Also müsse doch eine dieser beiden Fassungen entweder unecht oder von Plato
Archiv tür Geschichte der Philosophie. XXVI, 4. gj
466 Heinrich Brünnecke,
das Wesen der Gerechtigkeit nach seiner dialektischen Methode be-
stimmt hatte, dem Ganzen die polemische Spitze gegen die Schreib-
und Lehrweise des frechen Pseudosokrates gab. Jetzt erst, als
er wirklich glauben durfte, die Fehler des Protreptikers vermieden
zu haben und nicht mehr von dem im Kleitophon enthaltenen Tadel
mitgetroffen zu werden, reinigte der Vorwurf gegen den gegne-
rischen Sokrates den wahren platonischen Meister. Hätte er das
Schriftchen dagegen vor dem Schlußstücke der Trilogie, d. h. vor der
verworfen sein. Wir haben oben gezeigt, daß nach dein ganzen Motive der Volks-
redner , Sokrates' mit seiner Tugendparänese bei dem in die Tiefe gerichteten
Geiste Kleitophons glänzend Fiasko machte, infolgedessen Kleitophon sich
nicht länger düpieren ließ und geradewegs zum Thrasymmachos lief. Das
Gespräch mit Thrasymmachos in Gegenwart des Kleitophon über dasselbe
Thema nach dem Kleitophondialoge war daher gerade das zu Erwartende !
Auch die Ausführungen Cunerts (a. a. 0.), der den Kleitophon ca. 390 v. Chr.
nach Abfassung von Rep. I von einem Gegner der Sokratik gegen Plato und
die übrigen Sokratiker geschrieben sein läßt, werden nun nicht mehr in Be-
tracht kommen. Besonders muß gegen das Verfahren Verwahrung eingelegt
werden, mit dem Herr Cunert zur Erweisung seiner Ansichten alle möglichen
Widersprüche künstlich in den Dialog hineininterpretiert. Z. B. würde Plato
nach Cunert nie eine solche Begriffsverwirrung, wie wir sie in Rep. I fänden,
begangen haben, wenn ihm der Kleitophon bereits bekannt gewesen wäre.
Selbst wenn wir eine solche ,notionum confusio' zugeben würden, so wäre
es doch nur ganz im Geiste des genialen Verfassers, wenn er nicht sofort in
streng logischer Weise die Begriffe sonderte, sondern sich zunächst einmal
an den alten Kephalos, dann den Polemarchos, dann den Thrasymmachos
wendete, um, nachdem sich diese der Reihe nach als unfähig erwiesen haben,
das zu geben, was der Pseudosokrates dem Kleitophon -Verfasser nicht zu
bieten vermochte. Doch betrachten wir zunächst Cunerts Argumentation:
,,Idem enuntiatum, quod antea (351 d) l'oyov uöixiuq continet: fxiGoc i/a-
noiiiv, otvov uv iPtj, hie nequaquam opus iustitiae indicare, sed qua de causa
iniusti fiant homines expedire elucet (in den Worten: ,ddvvuTOV uvtov tvqut-
niv iroir\Gu (rj ö.öixiu) GtuGiuX,ovtu xui ov% ö/jovoovvtu uvtov uvtoJ'). Über-
legen wir nun im Sinne Piatons: Sokrates geht von vieler ungerechter Menschen
gegenseitigem Zwiste (der ja tatsächlich ädixiuq loyor ist) auf den zweier
unter sich und von dem zweier auf den eines einzelnen Menschen mit sich
über (vgl. Jamblich, Protr. 18: bruv txsTvo, w L,wfisv, TrXrj/jfisXojQ tyrt xui
GTUGiÜL.t] TCQÖg uvto, ovx tGTiv uo&wQ diußmvcu). Indem nun die Ungerechtig-
keit die Seele mit sich selbst in Uneinigkeit und Zwist bringt und bewirkt,
daß sie sich selbst haßt, ist sie zugleich der Grund, weshalb dieser inner-
lich zerfallene Mensch nicht äußerlich zu handeln vermag. Beim Zusammen-
wirken mehrerer Ungerechter wird dieselbe Ungerechtigkeit, die ihn mit sich
selbst zerfallen ließ, sich in analoger Weise zugleich gegenseitig äußern u n d
am ersprießlichen Handeln hindern.
Kleitophon wider Sokrates. 467
von , Sokrates' vergeblich versuchten dialektischen Zergliederung
des Gerechtigkeitsbegriffes ediert, so hätte er sich selbst geschlagen,
denn dann konnte jeder sagen: „Du hast es ja selber nirgends besser
gemacht ! Weshalb widerlegst du nicht den Gegner durch ein selbst-
geschaffenes Gegenstück als höchsten, sichersten Trumpf?" In
diesem Kleitophon durfte aber die von den modernen Forschern so
schmerzlich vermißte Fortsetzung ebenso wenig geboten werden,
wie im ersten Buche des Staates. Hier war in gleicher Weise Haupt-
zweck, die Unfähigkeit aller andern kompetenten Denker einem
größeren Publikum zu illustrieren: ,rdyovsv U rov öialoyov [iqdev
ddtrar. Die populäre Sokratik und die Sophistik mußten
erst unter persönlicher Beteiligung- ihrer berufensten Ver-
treter rettungslos bankerott geworden sein, bevor die
platonische Sokratik in den Augen der damaligen Welt ihr
Werk mit höherem Rechte beginnen konnte. Hätte daher
Piaton im Kleitophon oder im Proömium des Staates mehr gelehrt,
so wäre er aus seiner eigenen so meisterhaft erdachten, in seinen
Wirkungen so scharf vorausberechneten Rolle gefallen!
Wenden wir uns nunmehr im Interesse einer sicheren Kontrolle ,,'-.l,er,slil
Kleitophous.
unseres bisherigen Resultates der genauen Beobachtung der Sprach-
gepflogenheiten des Verfassers zu.
Wir untersuchen zunächst im Anschluß an das von Janell (Jahrb. V D«v?!*ll8er
f. Kl. Piniol, Supplem. Bd. 26, 1901) für die meisten Dialoge <aber ^letz,li:isesHj;,1t;
leider nicht für den Kleitophon) durchgeführte Schema die Häufigkeit k,i,,es-
des Hiates. Die leichteren Fälle nach xai, /}, 6//, äv, sl, co, ti.
dem Artikel, der Negation (u'h der Präposition jtqo, jieqi, den Wort-
ausgängen auf ai, dem Infinitiv &ai, sowie die durch Elision und
Krasis zu vermeidenden Fälle schließen auch wir von unserer Be-
trachtung aus. Es bleiben nur folgende schwerere Hiate: 1. S. 406:
kjtcuvoi. Ogti^ 2. ibid.: s/ih tysir 3. S. 407a: (tot söoxsig
4. S. 407 e: tyco otccv 5. IxiöTarai d(pd-aX(ioZc, 6. S. 408 a:
'; (error, orcT 7. aoi, €og 8. ibid.: öovlco äfisiyov 9. S. 408 d:
ßiXviöroi, iffjv 10. ibid.: vovvov, hjzegeXd-eiv 11. ibid.: av
ertQOig 12. S. 408 e: avro «vftQcojrc» 13. S. 409 a: elvat nvjcso
14. S. 409b: ravrä oixia 15. ibid.: ebts ovtoq 16. S. 409c:
riii-H, Iqü 17. ibid.: ri'yr/j, olov 18. S. 409 d: av iQcorojfnvoq :
19. ibid.: %<pri elvai 20. S. 409 e: ofioöogiai ävd-Qcbjicoi) 21 ibid.:
eivat ofidvoiav 22. ibid.: Xoyov djeoQOvvzeg 23. S. 410a: Ixavol
31*
468 Heinrich Brunn ecke,
jjaav 24. ibid.: haoix/) ofiovoia 25. ibid.: .Tfo/ orov sidiv
26. ibid.: ah avror 27. lit. c: iönvva[j,ai, äjioocov 28. lit. d: Xöy<o
tXeyeg 29. ibid.: (pvost ov 30. lit. e: drfrocojrfp, co . . .
Oben im ersten Teile unserer Untersuchung erschlossen wir aus
Gründen des Inhalts die spätere Abfassungszeit des Dialoges. Hier
konstatieren wir bewußte Hiatverm ei dungganz
nach Art des älteren Plato ! 43) Wichtig für unser Problem ist so-
dann die Erkenntnis, daß die Hiate durchaus nicht gleichmäßig
gemieden werden, sondern daß sie vielmehr im vorderen Teile des
Gespräches in der angeführten Prunkrede des
Sokrates fast völlig fehlen, dann aber nach den hoch-
tönenden Phrasen z. B. auf S. 409 e und 410 a im Vergleich zur sonstigen
relativen Seltenheit wie absichtlich gehäuft erscheinen, nämlich
auf S. 409 e: 1. 6tuodo$iai Jr&Q., 2. slvat oftovoiar, 3. Xoyov
ajzoQovvTSQ und gleich darauf S. 410 a : 1. Ixavol yoav,
2. larQix/} ofiovoia, 3. jceqI orov elölv. Es ist dies mehr als
der vierte Teil aller im Dialog erscheinenden Fälle. Wir er-
klären uns diese seltsame Erscheinung durch das Bestreben des
Verfassers, zunächst im Anfange des Gespräches auch äußerlich
die Sprechweise des alten 44) sachlich angegriffenen , Sokrates' in
ihrem hohlen rhetorischen Schwulste zu kennzeichnen und dann
durch die große Diskrepanz zwischen dessen glatten, hochtönenden
Worten und der unvermittelt hineinplatzenden, in ein holperiges,
rauhes Gewand gekleideten Rezension jener Prunkrede wieder ebenso
äußerlich auch dem Ohre fühlbar zu machen, daß die schönen wie
43) Janeil zählt im Tim. auf jeder Seite 1,17, im Krit. 0,80, im Soph. 0,61,
im Polit. 0,44, im Piniol. 3,7, in den Gesetzen 4,79—6,71 Hiate. In den Schriften
der früheren Periode finden sich z. B.: im Menex. 28,19, im Kratyl. 31,18,
im Theaet. 32,70, in der Republ. 35,27 Hiate durchschnittlich auf jeder Seite
der Didotschen Ausgabe. Der 3,6 Seiten lange Kleitop hon
rangiert also mit 8,33 bezeichnenderweise hinter der Re-
publik!
41) Man muß unterscheiden zwischen den Schriften des jüngeren, gorgiani-
schen Rhetors und denen des späteren sokratischen Moralphilosophen. Sein
früherer Lehrer Gorgias vermied bekanntlich den Hiat noch nicht. Also
auch nicht sonderlich sein Schüler in der sophistisch-rhetorischen Deklama-
tion (z. B. dem Aias). Unter dem Einflüsse des Isokrates wurde dann später
das Vermeiden des Hiates allgemein üblich. Hier handelt es sich aber, wie
oben gezeigt, gerade um Polemik gegen diesen alten, sich wesentlich als sokra-
tischen Philosophen fühlenden Mann !
Kleitophon wider Sokrates. 469
ein Hymnus auf die Tugend dahinfließenden Phrasen mit dem Inhalte
desselben kläglich disharmonieren. Zwischen den Zeilen hindurch
klingt zu uns der Gedanke: „Zu reden verstehst du herrlich schön,
Sokrates, aber deine Geistesarmut, deine Unwissenschaitlichkeit,
deine dialektische Unfähigkeit dadurch verdecken zu wollen ist ver-
gebliche Mühe, denn die vermag leicht jeder zufällig anwesende Hörer
zu erkennen, auch wenn er nicht so schön die Worte zu setzen ver-
steht, wie du als ehemaliger Redner oder — freiwillig solche Mätz-
chen 45) verschmäht ! Der Gang der Untersuchung hat uns also selbst
dazu genötigt, die in der Vermeidung des Hiates voneinander ver-
schiedenen Abschnitte des Kleitophon einzeln für sich genauer nach ^^gjS^J*
etwa vorhandenem rhetorischen Kolorit zu durchforschen und dies JJ^Jg*^.
dann mit denjenigen Kunstmitteln zu vergleichen, welche wir beigs*««™ jj£
den Epideiktikern und Sophisten des 5. und 4. Jahrhunderts zu finden gJJJJ,Jf
gewohnt sind. Die hauptsächlichsten Gorgianismen in der Rede
des Sokrates sind diese:
1. Antithesen (z. T. in Verbindung mit G 1 e i c h k 1 ä n g e n 46)
und Reimen):
S. 407 b: T(ör (ihv ftigi t>)v öüiovörjV ^«re, röJr 61 «{ibltits,
c: y.aTaq QorÜTt ^tjteIts, d: öqcöoi xal jräöyovöi ,
dxovöiov — sxovöiov, lit. e: agSfivta: ägt-ofievov,
S. 408 a: ///} C//r — /'/ C//>', öovXca — elevd-SQm, usw.
2. Ungewöhnl, wirkungsvolle Stellung eines Wortes
z. T. mit P a r o n o m a s i e 46) wie S. 407 b : . . . xal ovt& öidaöxa-
Xovc, avroig evQtöxeve rrjg öixaioövvijg (für: t/'jq 6. evg.), . . .
ib) Wegen der offenbar tendenziösen Färbung des Stiles darf man bei
dieser Schrift die Chronologie nicht allein auf die statistisch festgestellte Zahl
der Hiate im Vergleich mit andern platonischen Schriften gründen. Wir
ziehen daher alle übrigen Indizien bei der Zeitbestimmung zur Kontrolle heran.
Die hier und im Folgenden untersuchten Spracheigentümlichkeiten
haben wohl Schleiermacher zu seinem sonderbaren, oben S. 3 angeführten
Urteile über unseren Dialog veranlaßt.
46) Ich setze noch einige andere Paronomasien her: S. 407b: o$dsv\xwv
<Üeör\TU>v TVQUTTOVTeg (vgl. Isokr. 13, 8), 407c: qadvyiuv — äfitTqtav,
(h)ü(/6g ddil(po) xal iroltig jrüitoii' dfitTotog xui uruQftoffrtog irooGyeoo-
utvat . ■ TToXffJovvjfg . . dotüoi xai nüayouai, 407 e ff. vgl. die durch
XQrJG&ai, XQi]Cig, XQtCa gebildeten Gleichklänge, ferner: dij .. tu', - fiqdi
- fir]d( . . fvqxs . . flljze . . yrfrt . . n-i]d(fj.(ar . . öi] fltf. Darauf: oudt . .
ovd' . . ovo' . ovöi . . oö<V . . odSi — ovSsvC, S. 408b: (au&övti — tvuqu-
Öüvti, 408c: löyoig — ).syotuu'oig usw.
470 Heinrich Brünnecke,
oltlvsq t $aox?] öov oiv xal kx/is lax // tfo voiv ixavöjg.
(Ix. Ig. xal exfi., wie etwas weiter unten folgt). Sodann treffen wir
von S. 407 c an mehrmals Stellungen wie : jtöjq ov xar a <p q o r bIt's
t /j q vvv jtaiöevöemg ovös Cr/Tsire, oizivsg v(iäg jvavöovöt
t(cvt?jq rrjg d (i o v o l a g , oder407d: sxovraq zovg ddixorg
(für r. ad. ix.) äöixovg sivcu . . . cog cdoyQor xal {rtoiaosg
/) döixia (für: wg t) ad. alo'/Q- usw.) und ebenda: yrrmv oq
av fi, (pari, tcjv y Öov cor (für: oc av rwr yöovcav i'jttov ij7
<f (ITt).
An vorletzter Stelle (S. 407 d: ... wc ahr/oov t) döixia.) wird
zur Steigerung der Eindringlichkeit das Verbum ausgelassen,
an wieder andern Chiasmus oder rhetorische Bilder
angewendet.
Wir sehen bereits : die Kunstmittel der gorgiani-
sier enden Rhetorik finden die ausgiebigste
Verwendung in der Rede dieses protreptischen
,Sokrates' und dementsprechend an allen den Stellen, wo "Worte
dieses Prunkredners angeführt werden; Klitopho aber selbst bzw.
sein Verfasser tritt somit wieder in einen direkten Gegensatz zu dem
angegriffenen Sokrates: man merkt, beide müssen zwei verschiedenen
Stilrichtungen angehören 47). Wie läßt sich damit aber die Tatsache
vereinbaren, daß an einer Stelle (S. 408 c) sofort nach den hochtönenden
Worten des ,Sokrates' unser Kleitophon selbst des Gegners Phrasen-
getön einen Augenblick nachahmt? Untersuchen wir zunächst, wie
sich die Sokratiker in ähnlichen Fällen verhalten. Finden wir dabei
genau diese Art der Polemik gegen den Stil eines Gegners dem Geiste
keines der uns bekannten Sokratiker kongenial, so gewinnt die bislang
ganz aussichtslose Hypothese derjenigen Forscher an Wahrschein-
lichkeit, welche die Schrift in direktem Gegensatze zu unseren über-
einstimmenden früheren Ergebnissen als eine von außen gegen den
Kreis der Sokratiker gerichtete Polemik betrachten. Entdecken
wir dagegen mit der Art und Weise, wie der Verfasser des Kleitophon
47) Der äußere Gegensatz wird durch den inneren erklärt! Bei Plato
Denken und Verstehen, beim Gegner mechanisches Behalten des Vorgetragenen.
Hier Mnemotechnik. Vorhanden ist auch bei ihm die weniger anstößige,
wirkungsvolle Art der Wortstellung, wie wir sie oben S. 469 unter Nr. 2 auf-
führten, aber ohne die affektierten Paronomasien usw. Ersteres dürfen wir
aber von Plato auch erwarten.
Kleitophon wider Sokrates. 471
die unsokratischcn Sprachgepflogenheiten dieses Rhetors tadelt, bei
einem Sokratiker Ähnlichkeit, so ist es mindestens sehr wahrschein-
lich, daß auch dieser Tadel aus dem Geiste desjenigen Sokratikers
stammt, bei dem wir in ähnlichen Fällen ganz ähnliche Ideenverbin-
dungen auftreten sehen. Wir finden nun eine (mutatis mutandis)
von durchaus gleichem Geiste getragene, aus durchaus denselben
Erwägungen heraus entstandene Stelle in Piatons Gastmahl. Hier
werden nämlich ebenso nach der hochtönenden Rede des Pausanias
(vgl. das f/tyaÄojrQiji(ög mit dem jicr/xcucog des Kleitophon) in zweifel-
los ähnlich ironischem Sinne zum Beweise, wie sehr diese schwülstigen
Phrasen dem Hörer in den Ohren nachtönen 47) und wie leicht das
jeder nachmachen kann, die sich unmittelbar anschließenden "Worte
selbst klangvoll fortgereimt. Daß tatsächlich genau dieselbe psycho-
logisch-individuell begründete Gedankenverbindung dem , Kleitophon''
nach der ebenso bombastischen Rede des Pseudosokrates vorschwebte,
wird durch das Fehlen der charakteristischen Klangfiguren in den
übrigen Worten des Tadlers erwiesen 48). In beiden Fällen handelt
es sich darum, die übermäßige Anwendung solcher Äußerlichkeiten
durch die übertriebene Anwendung dieser im Anfange der eigenen
Rede zu verspotten. Ein anderer als Plato hätte wohl mit dürren
Worten des Gegners Fehler aufgezählt, ein Künstler zeichnet eben
feiner als die Durchschnittsmenschen ! Schon oben bei unserer Unter-
i&\
8) Wie es nach Diog. L. VI 1 : ,ovioc xax' dg/äc fiev ijxovGe rooyfov
tov otJTOOog ' Ö&sv id gtjrogixöv ildog iv töiq ötulöyotg iititpign xui [idXtGza
iv xji lAhr\Sit<i (die zeichnet ihn nach K. nicht gerade aus!) xui roig
TtooTOSTtTixotc1' nur Antisth. tat. Wie Plato infolgedessen über ihn
dachte, zeigen uns seine Worte im Theaetet S. 172c: Kivdvnvovciv oi iv
dixao~it]oioig xui roTg roioihoig ix viwv xvXivdovftsvot jtoog rovg iv cpcAo-
ao(j)Cu xui tT] loiüde diuTQtßTj Te&QUjjjjivovg tog oixiiui nqög iXsv&igovg
Tffroäy&ai. Trotzdem nun dieser Gegner die später von Sokrates erborgte Weis-
heit gerade durch die Kunstmittel seines früheren Lehrers dem Volke schmack-
haft zu machen suchte, verging er sich gegen diesen alten Lehrer in gehässiger
Weise in einer Schrift, in der er (ähnlich wie Euthyd. bei Xenophons Mem. IV 2)
besonders nachzuweisen suchte, daß er von Corgias nichts gelernt habe. Solche
Gesinnung verdiente allerdings die Verachtung, welche Piaton ihm dadurch
bewies, daß er ihn (durch die Not gezwungen) anonym als eifrigen Gorgianer
angriff, denn ihm eine vollständige Schrift zu widmen wäre zuviel Ehre ge-
wesen. Jedermann sah nun, daß solch ein undankbarer Schüler wie jener
.Sokrates' kein Recht hatte, sich darüber zu beklagen, daß seine Schüler
sich spavhog' noög tuurov1 verhielten. Er selbst war ja der (puvXÖTUTog!
472 Heinrich Brünnecke,
suchung über die Häufigkeit des Hiates beobachteten wir die aus
demselben Beweggründe erfolgte ironische Beleuchtung der pein-
lichen Hiatvermeidung des Gegners durch das Verfallen ,Kleitophons'
in das entgegengesetzte Extrem. Die Wege des Genies sind ja mannig-
fach, aber wie hier stets für die bestimmte Individualität desselben
bezeichnend. — Richtet sich also unser Dialog gegen einen schrift-
stellerisch tätigen Sokratiker, der sich mit Leib und Seele den Stil-
forderungen des Isokrates und Gorgias hingab 48), ohne dabei das
Wesen sokratischer Dialektik im geringsten begriffen zu haben, so
dürfen wir dabei an Aeschines niemals denken, denn dessen Sokrates
erhob weder so örjfirjyoQixmg seine Stimme, noch ließ er dialektisch
zu wünschen übrig, noch soll er überhaupt in der Art des angegriffenen
,Sokrates' irgendwelche Schüler gehabt haben. Auch Eukleides werden
wir nicht in Betracht ziehen, denn einem so mangelhaften Dialektiker
wie diesem , Sokrates' wäre nie von Plato im Theaetet ein so ehrendes
Denkmal gesetzt worden. Oder handelt es sich um Aristippos? Diese
Möglichkeit wird allein durch den sachlichen Charakter der Angriffe
'©
ausgeschlossen. Auch die Rhetorik der Schriften Xenophons ist
mit dem Phrasenschwulst dieses Worthelden nicht vergleichbar. Am
allerwenigsten passen aber die Vorwürfe Kleitophons gegen die meister-
hafte Dialektik des Pia ton, der in der Republik (!) VII, S. 534 b
wie direkt an den Gegner des ,Kleitophon' die Fragen stellte: *H xai
öiaXsxrixov xateig xov Xoyov sxdörov la(ißavovra t>~jq ovölaq;
xai tov (i /) iyorra, xad-' ooov ///} tytj Xoyov avrS re xai
aXlro öiöovai, xaza t oöov tov rovr jieqi tovto v o l
prfdetq tyeiv™); ~'Aq ovr doxei aoi Söjcbq d-Qiyxbq
rolq [lafr/jtiaoiv rj dialexrixt) ?jtuir tJidvoj xslöd-ai . . . xai lyuv
tj(h/ Ttlog (vgl. Kleitophon S. 410 e) rd tcov (lad-rjfidvoav1. Nach-
dem hierdurch alle nennenswerten Sokratiker sich bisher als außer
Betracht bleibend erwiesen haben, bleibt auch auf Grund des sprach-
lichen Befundes wiederum nur einer übrig: Antisthenes! Wenn daher
unsere Resultate sich nicht durch ein Wunder stets so bestätigten,
dann muß nicht nur dieser letzte Sokratiker der gesuchte sein, sondern
auch der Kleitophon in einer Zeit geschrieben worden sein, in der
dieser parodierte Sokrates noch lebte. Daß er bereits in höherem
49) Der Satz trifft ganz einzigartig schön den greisen Tugendschwätzer,
der, ohne selbst Dialektik zu besitzen, in die Welt hinausposaunte: Jür-
i'ovv XTÜGfrat, i]ßoöxov!
Kleitoplion wider Sokrates. 473
Alter steht, verrät sowohl das Selbstbewußtsein, mit dem er seine
erborgte Weisheit vorträgt, wie die oben erwähnten Seufzer des ge-
langweilten Kleitophon über die so lange nutzlos bei diesem ver-
trödelte Zeit. Nach Diodor XV, 76 lebte Antisthenes noch Ol C III,
3 = 366 v. Chr. Wir würden also durchaus bis auf 365 als Abfassungs-
jahr heruntergehen dürfen. Wo polemisiert Plato aber sonst gegen
diesen unliebsamen Konkurrenten? Im Euthydemos (!) und Kratylos
einerseits, im Theaetet, der Republik ") und dem Sophistes ander-
seits. Dies ist aber genau dieselbe Zeit, in die uns im ersten Teile
unserer Untersuchung die sachlichen und jetzt in Übereinstimmung
mit jenen die sprachlichen Indizien den Kleitophon zu setzen nötigten51).
Wie polemisiert aber Plato? In den ersteren Schriften ziemlich sach-
lich, in der letzten dagegen im Vorübergehen als gegen einen
Mann, bei dem doch alle gutgemeinte Zurechtweisung nichts hilft.
(Vgl. unsere Ausführungen oben auf S. 462). Wir sehen:
zwischen dem Theaetet und dem Sophisten hat Plato
endgültig" den Versuch aufgegeben, diesen Sokratiker
irgendwie zu belehren. Wo geschieht das? Unsere Unter-
suchung nötigt uns zu der Antwort: im Kleitophon. Ist sie
richtig, so müssen auch die Ergebnisse der übrigen Sprachstatistik,
also die durch Beobachtung der für Piatos schriftstellerische Ent- fe™£l ?**;
wicklung charakteristischen Satzschlüsse und Partikeln gewonnenen ^VrTerf.
chronologischen Erkenntnisse, mit der diesbezüglichen Spradibe- «•■ JJ^JJ*
schaffenheit unseres Dialoges in den wesentlichen Punkten über-
einstimmen. Wir betrachten zuerst nach der von Kaluscha in den
»Wiener Studien' 1904 zur chronologischen Fixierung der ,echten'
platonischen Dialoge <aber nicht des nach seiner Ansicht zweifellos
untergeschobenen Kleitophon) angewandten Methode die Satz-
schlüsse und beachten dabei wie jener a. a, 0. folgende Grundsätze:
1. Langer Vokal vor folgendem Vokal wurde herausgeschrieben
und die betreffende Klausel aus der Untersuchung ausge-
schieden.
50) Auch wenn wir die Zeichnung des Naturstaates S. 372 nicht not-
wendig als Anspielung an den antisthenischen , Schweinestaat' betrachten.
51) Die bisherigen Forscher glaubten größtenteils wegen dieser die Un-
echtheit als erwiesen betrachten zu müssen: wir können in direktem Gegen-
satze dazu nunmehr bereits feststellen: wäre der Befund nicht so, so
müßten wir wir Athetese schreiten !
474 Heinrich Brün necke,
2. Ebenso werden Fälle von Muta c. Liquida 52) aus der Unter-
suchung ausgeschieden.
3. Schlußsilbe wird nicht als anceps betrachtet.
4. Zwei Kürzen werden nicht als Länge gerechnet.
Danach kommen folgende Klauseln häufiger als zweimal im
Kleitophon vor:
I. 1. w-~_v, 5 mal53), sie ist bei Plato besonders häufig im
Kritias.
IL 2. ^o\,__ 3 mal, sie ist bei Plato besonders häufig im Sophist,
Tim. u. d. Leges.
3. ^ w _ v. _ 3 mal, sie ist bei Plato besonders häufig im Euthy-
demos.
4. w^__- 5 mal, sie ist bei Plato besonders häufig im Theaet.,
Phileb., Polit, Soph., Tim.
5. ~_w~_ 3 mal, sie ist bei Plato besonders häufig im Staat
B 1-5.
III. 6. wv, 3 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Theaetet.
7. v _ _ « _ 4 mal 54), sie wird bei Plato besonders bevorzugt,
8. o u 4 mal, sie erscheint bei Plato besonders selten.
9...v>.u4 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Kratylos.
IV. 10. » 5 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Kratylos.
11. __„__ 3 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Tim., Soph., Krit.
12. w_ 3 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Theaet., weniger im Euthyd.
13. - w 4 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Menexenos, Leg. IV.
V. 14. 5 mal, sie erscheint bei Plato besonders häufig im
Politikos, Republ., Theaet. u. Leges.
62) Also wohl Muta mit eigentlicher Liquida (X und q). Muta mit folgendem
Nasal habe ich mitgerechnet. Als Satzschlüsse wurden die letzten Silben
vor einem Punkte, einem (Semi)kolon und einem Fragezeichen angesehen.
53) Betrachten wir die letzte Silbe als anceps, so erhalten wir (mit Nr. 2
zusammen) sogar 8 Fälle !
64) Nehmen wir dazu die nur zweimal erscheinende Klausel ^ « -,
so erhalten wir damit 6 Beispiele.
Kleitophon wider Sokrates. 475
Der Kleitophon erscheint also auch in
dieser Beziehung als Werk des gereift er en
Meisters. Hervorzuheben ist, daß solche Schlußklauseln, die
von Piaton im allgemeinen vermieden werden, jedoch im Kritias
und Timaeus häufiger vorkommen (wie z. B. die 11.), hier auch nicht
zu den gemiedenen Satzschlüssen gehören. Nach der sonstigen Sprach-
statistik werden beide Dialoge chronologisch gewöhnlich vor den
Sophist und hinter den Theaetet gesetzt. Für unseren Kleitophon
ergibt das also wiederum eine erfreuliche Bestätigung unserer früheren,
stets unabhängig voneinander gewonnenen Resultate ! (Vgl. oben S. 473).
Nr. 7, d. h. die gewöhnlichste Form des tragischen Dochmius,
erscheint zuerst S. 406 in den aus dem Sinne des gekränkten
.Sokrates' (und daher auch mit Paronomasie) gesprochenen Worten
Kleitophons: . . . Iva rjzzov (is rjyy .tqoc oh <pavlcoq tytiv.
Wir hören so den Alten gleichsam auf der tragischen Bühne rufen:
„0 schmerzvolles Leid, <du Abtrünniger, der du mir ehedem nahe-
standest, rcr 3TQÖq>5b) (ie (pavkfog r/eic! Daß wir die Tendenz
des Verfassers verstanden und damit die Stelle richtig interpretiert
haben, zeigt gleich der zweite derartige Fall S. 407 a : v'jöjn q
sxl ^///«jv/c TQayixij g #toe vfiveig "kkycav. Hier greifen wir die
Absicht mit Händen. Die dritte Stelle enthält (407 d) ebenfalls tief-
traurige Klagen dieses tragischen Gottes über das entsetzliche Leid
55) Dieser Sokr. singt ja nach Kleit. Vgl. den rhythmischen Anfang:
— o ttoT (fioscd~' wvd-oionot,
-w xdyrosix' ovöev xwv
^ c dtdrTiov TToÜTTorrsg
- « - o'irweg
- ^ - %orj(AÜTiov usw. Vgl. ferner die dichterische Krasis, die
gleichfalls dichter. Umstellung der Präpos. in ,/isv niot xrji>' sowie die
völlige Diaerese nach jedem Metrum und den Schluß des ersten Satzes:
_ ± v ^ i (vqCgxits rrjg
w _ v> s, i dixaiocvvrjc. Vortrefflich stimmt dazu sowohl die bis auf
eine Silbe ausgerechnete Symmetrie im Anfange des Aias des Antisthenes
wie auch das rhythm. Geklingel derselben Schrift. Vgl. z. B. die Worte:
'Ey(x> jjtv ovv w-^-
vfiXv leyiü ^ ^ -
TÖlc otdiv ei- o - v, -
doGiv xonulc ^-^- usw. Dergleichen Kunstmittel galten Plato
mit Recht als ,7tqu trjg Ti%vr\g druyxula ftuS-r^uTu' , die ihm nicht ge-
nügten, ,tüoie äycuviCirjv (!) riXeov yivicftai'. (Phaedros p. 267 c ff.)
476 Heinrich Brünnecke,
und Unglück (zoöovtov xaxov) der in ihrem törichten Frevel-
mute sich gegenseitig das Ärgste antuenden Menschen (ra Icyaxa
6qc5giv xal jrdöxovöiv). Er fragt: wie kann jemand nur so sündigen?
fizrcov . . ., (pare, rüv Jjöoväv1.56) Auch die vierte Stelle (410 c)
ist ähnlicher Art. Kleitophon bekennt: xalcog51) avzt)r kpca>(iux^eig.
Flehend (410 e), ja fast klagend ruft der trotzdem so schnöde an der
Erlangung der Evöaipovia gehinderte Hörer aus: oi< ///}r ro yt
IffOV OVTCOQ E%81 !
Interessant ist auch das häufige Auftreten des von Plato ge-
miedenen 8. Schlusses (- -). Er erscheint 407 d, e zweimal
in der Rede des Gegners, 409 e mit ausdrücklichem fiyrjösv', 410 d
wiederum in Worten des G e g n e rs . Auf weitere Einzelbesprechung
der verschiedenen durch ebenso verschiedene Beweggründe zu erklären-
den Fälle müssen wir hier im Interesse der Kürze verzichten und uns
nunmehr dazu wenden, den Gebrauch der für Piatons schriftstellerische
Entwicklung charakteristischsten Partikeln unter Benutzung der
sprach statistischen Untersuchungen C. Ritters zu registrieren und
die sich aus diesem ergebenden chronologischen Folgerungen mit
unseren bisherigen Ergebnissen zu vergleichen. Für den alten Plato
ist nun bekanntlich eine der bezeichnendsten Partikeln xafrdjrtQ,
denn in den früheren Dialogen überwog bei weitem cÖöjtbq. So
stehen in der Republik 58) zwölfmahgem ojöjuq nur sechs Fälle von
xafrdjiEQ gegenüber; im Soph. ist das Verhältnis schon 9 ojöjtsq:
14 xa&ajzsQ, im Polit, 16 : 34, im Phileb. 9 : 27, im Tim. 10 : 18.
im Krit. 2 : 5, in den Leges 24 : 148 !
Vergleichen wir damit die drei Fälle von coojtsq und vier xafrajreQ
des Kleitophon, so stellt sich zu unserer Überraschung mit Sicher-
heit heraus, daß unser Dialog nach der Republik, aber
vor dem Sophist abgefaßt ist, wozu auch alle früheren
sachlichen wie sprachlichen Indizien aufs beste stimmen! Ritter
glaubte noch allein aus diesem Grunde unseren Dialog für unplatonisch
erklären zu müssen! Weiter beobachtete Schanz (Entwicklung des
platonischen Stils, Hermes 21), daß ovrcog <für xm oW/> sich erst
von Republik V an finde. Wir konstatieren somit — wenn wir den
56) Im Drama Worte des Chors oder eines Volksvertreters.
57) Am Schlüsse! Im Anfange hieß es: ,fioi IdoxHC xciXliGra Xtyeiv,
üTtüTe wgtvsq ini fii]xavrjg TQuyixrjc (s. o.) &eög vfjvsic.f
58) Im allgemeinen von Plato in der Blüte des Mannesalters entworfen
Kleitopbon wider Sokrates. 477
Staat als Ganzes betrachten — auf den beinahe 300 Seiten der Ste-
phanusausgabe neunmaliges ovtcoc, dagegen auf den kaum 5 Seiten
des Kleitophon einmaliges, d. h. es findet sich bereits fast siebenmal
so oft im Kleitophon wie in der Republik ! Dazu kommt ergänzend die
Verwendung von dlrfd-ojg unter andern Partikeln. Wieder konstatieren
wir schlagende Übereinstimmung mit unseren übrigen Resultaten
und erhalten damit unter Berücksichtigung des ersten Teiles unserer
Untersuchung im direkten Gegensatz zu den oben genannten Forschern
von neuem ein entscheidendes Moment für die Echtheit des viel-
geschmähten Kleitophon.
Damit hat sich aber auch die außerordentliche Bedeutung unseres ßik;k^![£.k"I,d
bisher mit dem 1. und 2. Alcibiades sowie mit dem Theages 59) auf
eine Stufe gestellten ,Dialoges' nicht nur für die Beurteilung der
antisthenischen Schriftstellerei, sondern auch für die Aufhellung
der menschlichen Geistesentwicklung überhaupt unzweifelhaft her-
ausgestellt.
Wir verdanken ihm z. B. die Erkenntnis des wahren Ursprungs
der Diatribe. Wäre diese tatsächlich ein entarteter Dialog, wie es
auf den ersten Blick scheinen könnte, so müßte dieser in der Tat
recht früh entartet sein 60). Wir sahen demgegenüber, wie sie bei
dem im Kleitophon angegriffenen Heiligen der späteren Kyniker und
Stoiker, unserem alten Pseudosokrates, auf durchaus sophistiseh-
rhetorischer Grundlage beruht, denn jener leibhaftige Sophist und
RhetOP, der — und das ist gewiß nicht zufällig — zuerst in seinen
Reden 61) derartige Einwürfe gemacht und selbst beantwortet haben
soll, wird dem Philosophen, der ursprünglich ebenfalls Sophist und
Redner war, und der diese Manier später beibehielt und sie für den
ethischen Populärvortrag üblich machte, als vollwertiger gegen-
übergestellt. Wären diese Zwischenfragen der Rest eines ursprüng-
lich sokratischen Dialoges, so müßten wir wenigstens einen Rest
59) Für die wir nach der gewöhnlichen Anschauung herzlich gern etwas
Besseres hätten, die sich jedoch durch meinen Untersuchungen über den 2. Alcib.
(De Alcib. II, qui fertur Piatonis, Dissert. Gotting. 1912) als sehr wichtig
für die Erkenntnis der alten Akad. nach Piatons Tode erwiesen haben.
6") Denn die Schrift erwies sich nicht, wie Paulu wähnte, als in nach-
aristotelischer Zeit von einem unbekannten Peripatetikcr, sondern als
(um 375 — 365 etwa) aus der Feder des akademischen Meisters selbst stammend.
61) Und zwar gerichtlichen ! Hier ist jede Möglichkeit eines »Dialoges'
ausgeschlossen !
478 Heinrich Brünnecke,
von Dialektik bzw. eine , entartete' sokratische Dialektik im Pro-
trepticus dieses alten somatischen Narren entdecken. Diese wird
ihm aber gerade schon von seinem eigenen genialen Zeitgenossen
völlig abgesprochen und die ganze Tätigkeit dieses ,Sokrates' als
auf bloße rhetorische Effekthascherei berechnet unter Beibringung
unantastbaren Beweismaterials dargetan. Also bereits im Altertum
mußte eine Erklärung der für die spätere Diatribe charakteristischen
Besonderheiten nicht eine ursprünglich dialogische, sondern rhetorische
Natur derselben erweisen 62).
62) Damit sind zugleich die auf einer Studienreise beim Anhören der
Reden im Hydepark zu London gewonnenen ähnlichen Ansichten meines
hochverehrten akademischen Lehrers, Herrn Prof. Dr. M. Pohlenz, voll be-
stätigt.
XXV.
The Logic of Antisthenes,
By
C. M. Gillespie, Professor. University of Leeds.
1. Our primary authorities for the peculiar views of Antisthenes
on predication are the following passages in Aristotle, to which I
will refer as A B and C:
A. Topics 104 b 21. d-sOig de tonv vjioXrjtptg naoado^og röiv
yvwQificov Tivog xaxd (ftXoooqiav, oiov ön ovx eoxiv dvTiXiyEiv,
xa.d-a.3iEQ l<f)i 'Avtiö&evtjq, tj ort Jiävra xivelzai kati-' 'HgdxXsi-
rov, x. r. X.
B. Metaphysics 1024 b 27—34. Xoyog dt ip£v6/)g 6 vmv fit
ovrcov ii fsvö/jg. öio Jtäg Xoyog ipsvörjg trtoov // ov tOtiv
dXrjdrfg, oiov 6 rov xvxXov ipEvöqg roiyojvov. sxdözov de Xoyog
ton fisv tog big, 6 rov vi ))v strai, eözc 6' cag jioXXoi, IjieI
zavzo Jicog avzo xal avzo Tcejcov&og, oiov 2o3xgdz?jg xai
JJcoxodzrjg fiovöixog. 6 de ipEvdrjg Xoyog ovösvog loziv ccjiXcoq
Xoyog. öio Uvziöd-evTjg msxo Evrjd-cog iitjÖEV d^icov XsyEÖ&ai jiXt)v
rot olxelcp loyca Iv i<f Evog ' Ig rov övvsßaive. kUTj Eivai dvzi-
Xiysiv, Oytdov Öt (irjös iptvÖEOiha.
The Oxford translators render thus: "A false coneeption is
the coneeption of non-existent objeets, so far as it is false. Hence
every coneeption is false when applied to something other than that
of which it is true, e. g. the coneeption of a circle is false when appüed
to a triangle. In a sense there is one coneeption of each thing, i. e.
the coneeption of its essence, but in a sense there are many, since
the thing itself and the thing itself modified in a certain way are
somehow the same, e. g. Socrates and nmsical Socrates. The false
coneeption is not the coneeption of anything, except in a qualified
sense. Hence Antisthenes foolishly claimed that nothing could be
480 C. M. Gillespie,
described except by its own conception, — one predicate to one sub-
ject; from which it followed that there could be no contradiction,
and almost that there could be no error." "Conception" is too psycho-
logical a word for Xoyog here; loyog means a form of words or
"formula", as it is rendered by the Oxford translators in book VII and
elsewhere: as we shall see, Antisthenes did not distinguish between
a conception and the language in which it is expressed and always
thought of it in terms of the language.
C. Metaphysics 1043 b 24. coöxs t) äjiooia, rjv oi 'Avti-
öd-trtioi xai oi ovxmg äjialdavxoi ?>jji6qovv, l^u rivd xcuqov, oxi
ovx loti xb xl löxiv öoiöacjfrai ' xbr yaQ oqov löyov tivai
[<axo6v ' äMa jtolov fitv xl iortv Ivöiieöd-cu xal öiöat-ai, Scjjtiq
doyvQov, rl [dv iöziv, ov, oxi de olov xarriceQog.
In the Oxford version: "Therefore the difficulty which was
raised by the school of Antisthenes and other such uneducated people
has a certain appropriateness. They stated that the "what" cannot
be defined (for the definition so called is a "long formula"); but of
what s o r t a thing, e. g. silver, is, they thought it possible to explain,
not saying what it is but that it is like tin." x)
These passages establish:
(1) That the paradox ovx lönv dvxiltyuv was specially
associated with the name of Antisthenes.
(2) An intimate connexion between this paradox and two others,
viz: (a) that only its oixeiog Xoyog may be predicated of any
object, a principle that can be described as the one-to-one relation
of thing and loyog (sign): (b) that ipsvdeö&cu is impossible in some
sense or another.
(3) Passage (B) seems to point to a triple distinction of formulae
in respect of their truth and falsehood: (a) true as applied to the
right object, (b) false as applied to the wrong object, (c) unmeaning
as containing an inner contradiction.
(4) (C) shows that Antisthenes interested himself in the logic
of definition, and held distinctive views on the subject.
x) The examples of tin and silver, homogeneous substances, seem to
show, if we compare T h e a e t e t u s 202 A, that Antisthenes held all definition
to be incomplete as ultimately employing indefinable terms.
The Logic of Antisthenes. 481
2. Similar doctrines are alluded to in various passages in the
writings of Isocrates and Plato, which, following the majority of
scholars, I believe to refer to Antisthenes, though he is not mentioned
by name 2). The füll justification of this view falls outside the scope
of this paper, as it would involve a complete statement of my reasons
for dissenting from the principles reeently laid down by Professors
Burnet and Taylor for the Interpretation of the Piatonic dialogues.
I will content myself, therefore, with pointing out the close inter-
correspondence of the passages with each other and with the Aristo-
telian authorities. Even if the reference to Antisthenes himself cannot
be proved in every case, the intimate connexion of the doctrines
may serve to explain the position of Antisthenes as described by
Aristotle.
Isocrates, Helena (10. 1) contains the following sentence:
xaTcc/ty/jOir/uioi)' oi fikv ov rfcioxoi'Tag oiov t' elvai ip8iÖ?j XsyEiv
ovo' ävTiZeysiv ovds övco löyco jttQi rmv avrcöv jcgayfidrojv
dvreucslv /.. r. /.: here we have the three paradoxes of (B) con-
joined, viz: the denial of contradiction and of falsehood, and the
one-to-one relation of Aoyoc and thing. The context shows that
Isocrates is alluding to a contemporary ; the Helena was an early
work (Blass, Attische Beredsamkeit, IL 244); hence there is every
reason to suppose that the reference is. to Antisthenes.
In four dialogues of Plato, C r a t y 1 u s (429 A ff.), E u t h y -
d e m u s (283 E, 285 E), T h e a e t e t u s (201 D ff.),' So p h i s t e s
(251 A B), doctrines similar to those attributed by Aristotle to Anti-
sthenes make their appearance in close connexion with the main
themes of the dialogues. In Theaetetus they are reported by
Socrates as the actual views of others; so also by the Eleatic stranger
in Sophistes. In the other passages they are advanced by
characters in the dialogues, Euthydemus, Dionysodorus and Cra-
tylus 3).
2) Xatorp's article on Antisthenes in Pauly-Wissowa's Real-Encyclo-
paedie contains a list of the Piatonic passages which have been thought to
refer to Antisthenes, with the names of the scholars who have written for
and against the supposed references.
3) The qviestion whether characters in the Piatonic dialogues are "masks"
for contemporaries of Plato must be determined in connexion with the literary
Conventions of the time. If the dialogues are largely polemical, and if we
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 4. 32
4S2 G. M. G i 1 1 e s p i e ,
a) Sophistes 251 A B refers to the "old men late-learned"
who will not allow many names to be applied to one and the
same thing: you may call good good and man man, bnt yon must
not call man good.
(1) This is the principle of "one thing, one name'* with an obvious
hkeness to the principle of "one thing, one loyog" of (B). A connexion
between the two is found in C r a t y 1 n s 433 DE, where Socrates
appeals to Cratylus to allow the applieation to things both of names
and of /.oyot which do not strictly belong to them (//>} jcooGqxovra).
The gronnd of the connexion appears in (C) and in T h e a e t e t n s
202 B; in(C) the defmition is a (laxgdg /.o/o-, i. e. a Compound name;
in Theaetetns 1. c. simple things can be named by their own
names, Compound things by their own Xoyoi, which are merely
Compound names (ovofidvcov ydg övfiJijLoxrjv slvcu Xoyov ovciav)-
(2) There seem to be verbal reminiscences of Isocrates,
Helena, certainly earlier than Sophistes: the word ysQovöi
suggests the xarayEyrjQaxaoiv of the Isocratean passage, and the
dipifidd-EöL, the tlq Igtiv ovrmq dipifiadyg as not to know that such
paradoxes are no new thing.
(3) The Eleatic stranger points out in 252 C that the supporters
of the paradox have to describe the separate things as separate by
many words applicable to other things also, viz: slvai /wo): rför
dXXmv 7cad? avro; these words are patently quo t ed. A connexion
is thus established with (I) the paradox ovx toxi ireid&oß-ai of
Euthydemus 283 E, where the same words occur (Xiysi avro. . . .
tr io)v xäxeivo 7' torir vmv ovtmv, xmQiq zan> c./.'/.cjy): and (II) the
theoiT of knowledse discussed in Theaetetus 201 E ff., which
f orbids the inclusion of words like this and that in the scientific
proposition, on the ground that they are common to all things.
(4) The passage occurs at the very end of a historical survey
of the problem of Being in Greek thought; the views of the tpvöcxoi
can suppose a Convention not to introduce living opponents by name, the
principle of the "masku seems to follow at once. But its applieation to any
given clialogue must depend on the form and purpose of the dialogne itself.
If the work is obviously polemical, and directed against contemporary views,
asEuthydemus and Cratylus seem to be, it is reasonable to suppose
that prominent contemporaries are concealed under the "masku of less im-
portant persons.
The Logic of Antisthenes. 483
are first discussed under the question whether Being (ro ov) is one
or many: then follows the metaphysical debate of a later time aa
to the nature of Being (ovöia), described as the battle of the
giants; and finally the logical problem of predication, which
certainly eame to a head eomparatively late. Hence we must suppose
that Plato is ref erring to a eontemporary.
b) The well-known passage Theaetetus 201 C ff. dealing
with the suggested definition of knowledge as oQ&yj tfo'ga (isrä Xoyov
has usually been taken as referring to Antisthenes. The evidence
may be thus put:
( 1 ) The account eomes at the encl of a survey of the problem
of knowledge treated in a fundamentally historieal order. The first
section, on the proposed identification of knowledge with Sensation,
deals with the treatment of the subject froni the psycho-physieal
Standpoint of the qpvdixoi; some of the details may be late, but the
attitude of thought examined is as a whole earlv. The seeond section
in which knowledge is provisionally defined in terms of dod-rj doga
moves in the circle of dialectical ideas, and the modified definition
as oothj 66§a fisra Xoyov discussed in the last section seems to
contain a Socratic Version of the distinction between kxu$rs/ifi
and 66^a, so that some member of a Socratic school may well be
intended.
(2) The detailed account of the theory is füll of verbal corre-
spondences with the other passages of Plato and Aristotle. Thus
c.vti) y.e.tV cito ty.aOTor ovofidüai (tovov tii, (201 El, and the
exclusion of avro, exsivo, exaörov, fiovov, tolto. and aXla jcoXXd
zocavra because ''they run about and attach themselves to other
things" (202 A), together with the difficulties about hmv and ovx
tOTu: bring the passage into dose relation with Sophistes
251 A ff. The mention of the oixeioq Xoyoq tallies with (B) and
with Cratylu s; the doctrine that simples can only be named and
not defined, because ovour.Tor avfHcXoxrjv drei Xoyov ovöiav is
not only in agreement with (C), but implies a special view of the
relation between ovopa and Xoyoq.
(3) These cross-correspondences suggest that Plato is here
examining the view of some prominent eontemporary, established
as Antisthenes by the Aristotelian evidence. The internal evidence
of the passage seems to preclude Prof. Taylor's view that Plato is
A2*
484 C. M. Gilles pi-e,
only criticising a general tendency. The account is too detailed. It
is throughout in oratio obliqua. The statement of Socrates that he
is recounting a dieam seems to be a de vice to smooth away a glaring
anachronism .
c) In Eutliydemus 283 E Euthydemus propoünds the
paradox that falsehood is impossible; after a short interval, occupied
by puzzles out of the eristic stock in trade, Dionysodorus takes up
the principle to //;} ov ovöslg Xiyel reached by Euthydemus, and
advances the paradox that contradiction (ävriliyslv) is impossible,
based on the one-to-one relation of /070c and ngayfia. Thus we
have the triple collocation already found in Aristotle and Isocrates.
We have already seen a special verbal connexion between 284 A and
S 0 p h i s t e s 252 C.
Both from internal evidence and from its relation to the
Sophistici E 1 e n c h i of Aristotle the E u t h y d e 111 u s
appears to be a parody of the methods of contemporary eristics;
we must suppose that it collects together examples from the practice
of the small fry among them and of the great; as Antisthenes was
one of the great, we need not hesitate to find references to him in
cases where there is good independent evidence.
d) In C r a t y 1 u s 429 B ff. the triple division of formulae into
true false and unmeaning appears, applied to names. Every name,
if it is a name, has its object (6q&(Üq xtirai): this is the one-to-one
relation of thing and name (Sophistes 251 A) in another form :
it may be wrongly applied: and, thirdly, a Compound name is unmeaning
if it has no real object (429 E). But Cratylus will not say that a name
can be f a 1 s e 1 y applied; it may be applied to a wrong object, but
it cannot be false, because to firj r« ovtcl Hyeiv is impossible: this
is the argument of Euthydemus 283 E. And the reference to
the oixeioc Xoyoa doctrine underlying the various positions of
Cratylus is made explicit in 432 E, where Socrates appeals to Cratylus
to recognize that letters and names and formulae //>} xqoöijxovta
Toig jiQccyfiaotv are legitimately used.
That Cratylus Stands for Antisthenes in this dialogue was first
suggested by Schleiermacher. Dümmler supposed that the work as
a whole was directed against Antisthenes, and made great use of
it, especially of the intermediate section on etymologies, in recon-
structing the general System of the Cynic leader. This view I regard
The Logic of Antisthenes. 485
as imtenable, but see strong reasons for ascribing to Antisthenes
the positions defended by Cratylus in the last section of the dialogue
(428 B-end). For
(1) Cratylus never niakes concessions; he does not eome to an
agreement with Socrates after the discussion. He appears to assent
to the criticisms of Socrates, but immediately puts forward a new
Statement which cancels the admissions previously made. His different
Statements all hang together as a complete scheme. The natural
inference is that Plato is here examining a complete theory of the
meaning of names held by some real person.
(2) This real person must be a contemporary. A note of personal
appeal is Struck by Socrates throughout his conversation with Cratylus,
and is specially marked in the passage 432 E already referred to.
The impression on the reader is that Socrates here Stands for the
living writer and Cratylus for a living Opponent.
(3) The correspondences in the matter of Cratylus' doctrines
with our other passages provides the last link in the chain, showing
that the contemporary is Antisthenes.
The final result of our investigation is that all the passages cited
from Plato may be used as material for the reconstruction of the
logic of Antisthenes.
3. It might appear at first sight that the paradoxes of Antisthenes,
with their doubts on the possibility of contradiction and falsehood,
are to be connected with the Heraclitean relativism and especially
with the Protagorean subjectivism so often alluded to in the Piatonic
dialogues as prevailing modes of thought. Many modern critics have
adopted this view, treating the paradoxes as developments from the
subjectivism of Protagoras, which both Plato and Aristotle regard
as denying the possibility of falsehood. Thus Natorp (Forschungen
zur Geschichte des Erkenntnisproblems, p. 18) explains the position
of Antisthenes in the words "denn eines jeden Aussage beziehe sich
auf seine Vorstellung, jede Vorstellung aber sei als solche wahr und
gültig für den, wer sie hat". Maier (Die Syllogistik des Aristoteles,
IL 14) follows closely. Apelt (Beiträge zur Geschichte der griechischen
Philosophie, p. 204 ff.) holds that Antisthenes Starts from the W Iötlv
of Socrätie inquiry, and rightly denies that the essence of a thing
can be determined by anything outside it. But as concepts cannot
486 C. M. Gilles pie,
be strictly defined, in arguing each man starts from his own idea of
an object; hence there is no contradiction, and we come round to
the subjectivity of all knowledge (p. 206 n). In other words, Antisthenes
finds the Socratic method a failure and falls back on the subjectivism
of Protagoras.
This view I believe to be fundamentally erroneous. In faet,
the Cynic theory of knowledge seems to be in thoroughgoing Opposition
to the subjectivism of the h o m o mensura and to extreme
Heracliteanism.
a) The Theaetetus clearly separates them. The Protagorean
and Heraclitean principles are discussed in one part of the dialogue,
the Cynic doctrines in another. In treating the former under the
suggested definition of knowledge as sense-perception, Plato evidently
regards them as touching only the outer conditions of knowledge;
but the Cynic theory approaches the question more from the inside,
as it attempts to analyze the judgement (dot-a). Moreover, the
theory expounded in 201 E ff. obviously implies a sharp contrast
between populär and scientific knowledge. The section is introduced
by Socrates remarking that persuasion is not the same as scientific
proof (201 A), a remark that must govern all that follows. In fact
the new definition of knowledge adds to doga the requirements
that it shall be correct and accompanied by jLoyog. This surely implies
an objective Standard of truth far removed from the h o m o mensura
as Plato represents it. The Socratic xi icxiv is clearly the basis.
Aristotle in Metaphysics IV. 1005 b 35—1011 b 22 defends the principle
of contradiction against those who have impugned its validity. These
turn out to be just the Protagoreans and Heracliteans of the
Theaetetus. Aristotle makes no reference to the characteristic
doctrines of Antisthenes, and with good reason, as Antisthenes, far
from attacking the principle of contradiction, interpreted it in an
excessively stringent fashion.
b) The last section of the C r a t y 1 u s is devoted to an examination
of the Cynic theory of knowledge; the only allusion to Protagoras
in the dialogue (385 E ff.) dissociates his attitude in the sharpest
manner from that adopted by Cratylus. For Protagoras is mentioned
in connexion with the thesis of Hermogenes that names are by Con-
vention, whereas the Cynic paradoxes advanced by Cratylus form
part of his thesis that names are by nature.
The Logic of Antisthenes. 487
c) E u t h y d e m us 286 A ff. seems at first sight to bring
Antisthenes and Protagoras into elose relation. Diogenes (IX. 53)
eites the passage as establishing the fact that Protagoras was the
first to ennnciate the principle that contradiction is impossible, and
many modern critics f ollow suit. In EuthydemusLc. Dionyso-
dorus has just proved that one person cannot eontradict another,
by an argument which (B) shows to be Antisthenean. Socrates remarks
that he has heard the same kind of argument before, especially from
the Protagoreans ; for it amounts to this, that falsehood is impossible.
But on examination we find that the connexion is not really stated
to be very close. It is Socrates, not Dionysodorus, who affinns the
ultimate equivalence of the two X&yof, i. e. Plato does not imply that
the real author of the paradox of Dionysodorus asserted its connexion
with the paradox of Protagoras, but rather that a critic can see its
substantial sameness. The sameness is in the conclusion, not in the
premisses; this seems implied in the words of Socrates 286 C aXXo vi
ipevöy Xsysiv ovx eötiv ; tovto ydo övvaxai 6 Xoyog. Plato is saying
"This new paradox of which you are so proucl is only an old and
exploded one in a new form". Cf. Isocrates, Helena 1. c. There
is not a word in the statement of the paradox itself to support Katorp's
subjectivist Interpretation of it as meaning that each man's percepcion
is true for him.
d) The position "one name, one thing" is prima facie in direct
contradiction with the well-known saying of Protagoras that there
are two Xoyoi about every thing. Diog. Laert. IX. 51 jcgSroq nprj
ovo Xoyovg sivai jrt(>l jicivtoq JtQciy^uaTOQ dvrixtif/trovc äXXijXoig '
olg xal OWEQwra, jrQcörog tovto Modt-ac. Allusions to the same
saying are found in Clem. Strom. VI. 65, Seneca, Ep. 88. 43 (FVS 532),
Dissoi Logoi 1 (FVS2 635), Eurip. Antiope, fr. 189. Xow the words
already cited from Isocrates1 Helena suggest that Antisthenes'
denial that one man can eontradict another was based on a direct
and intentional denial of this saying of Protagoras. Protagoras argues
from the relativ ity of being and knowledge that a case may be made
out for each of a pair of contradictories ; Antisthenes retorts that in
that case one only or neither of the disputants apprehends the real
thing, so that they cannot be talking about the same thing; if they
apprehended the objeet, they must give the same aecount of it; in
neither case can there be contradiction in the proper sense (see
488 C. M. Gillespie,
Euthydemus 286 A). 4) Antisthenes characteristically refutes
subjectivism in knowledge by asserting an extreme objectivist doctrine.
We must, therefore, look in another direction for the.explanation
of the paradoxes. They are primarily 1 o g i c a 1 , connected with
the problem of predication, which came into prominence at a later
date than thehomo mensura and the scepticism of the Heracli-
tizers.
4. Our next step must be to determine the standpoint from
which Antisthenes regarded the logical proposition. In doing so
we must at once dismiss from our minds the proposition as analyzed
by Aristotle in his account of the syllogism. Here the subject and
predicate are terms, the logical correlatives of concepts. But this
abstract treatment of the proposition as concerning the mutual
relations of terms is an artificial one, presupposing a stage of logical
development at which formal symbols are in regulär use. Moreover
we must beware of any Interpretation which gives a conceptual basis
to the proposition. The naive understanding does not analyze the
proposition in this way, and we must look for a much more primitive
conception of predication. The logical subject means what you are
talking about; what you talk about is, prima facie, not names or
terms or concepts, but things. And so one primitive conception takes
the simplest type of proposition to be the denominative proposition
(the expression of the judgement of recognition, see Theaetetus
192 D ff.), which gives a name to a real object, e. g., "this is Socrates"
(Theaetetus 1. c); regarding the more complex forms as giving
two or more names to the same subject.5) We shallseethat
4) I agree with H. Gomperz, Sophistik und Rhetorik, pp. 130 ff.,
that this saying of Protagoras expresses the working hypothesis of rhetoric,
viz: that a good case may be made out for thesis and antithesis on any
topic. Antisthenes replies that such rhetorical Xöyoi may produce con-
viction, but cannot establish truth. In the language of the Theaetetus,
they belong to dCia, whereas scientific arguments must be based on
another kind of löyoc, the analytic definition, and no object may be
correctly defined except in one way.
5) In the psychology of the Graz school, the judgements of recognizing
and naming (Benennungsurteile) occupy a prominent position: see Witasek,
Grundlinien der Psychologie, p. 292. This psychology is more realist in its
attitude than most modern Systems, in this respect resembling ancient thought.
The Logic of Antisthenes. 489
all t h e p a s s a g e s w h i c h w e have recognize d a s
referring t o Antisthenes i m p 1 y t h a t p r e d i -
c a t i o n i s assigning names t o t h i n g s.
This appears from the terminology employed. In the Aristo-
telian theory predication is treated from three points of view.
Psyehologically, the judgement is övv&eöig vo7\y,axmv Söjisq sv ovtcov
(de Anima, 430 a 27): the proposition which expresses the judgement
is analyzed grammatically into a subject (ovofia) and a predieate
(gijlia : see Aristotle, de Interpret. 16 a 19 ff. ; and cf. Plato, S o p h i s t e s
261 E): logically, the ucgoraöiq is a Zoyog in which one term (oqoq) is
affirmed or denied of another (An. Pr. 24 a 10 ff.). In our passages
the terminology is altogether different. Four terms are used, two
referring to the things spoken of, agäyfia and ovöla, two, ovotm
and Zoyog, to the language expressing the thought about them.
Predication means applying a name (övofta) or a form of words
(Xoyog) to a thing (jcgäyfia). The logieal subject is on this view a
real thing and ovofia is not subject but predieate. There are two
types of proposition. The first is the simple denominative proposition
"this is Socrates", as in T h e a e t e t u s 188 B. In the second type
the complex "Socrates-white", i. e. the subject and predieate of the
proposition as analyzed by Aristotle, is applied as a predieate to the
real objeet (B. 1024 b 31). This complex is a Xöyog 6), treated as the
same in kind with the ovofia, almost as a many-worded name. The
term (,r/tua is not used, because the predicative relation is regarded
as existing between the koyog as a whole and the real objeet. Qua
real, the thing must have a determinate nature or ovöla, and the
formula which signifies this is t h e formula par excellence, or definition.
a)The most cursory examination of Aristotle's chapter on falsehood
in Metaphysics V, 1024 b 17 ff. (B), shows that he is not treating
the question from his own technical standpoint. He distinguishes
The whole section of Witasek's book suggests the treatrnent of thought in
the waxen-tablet illustration of Theaetetus 191 C ff.
6) This meaning of Xöyog is II (1) in Bonitz' Classification, Ind. Arist. 433
b. 21. The sense of the verb Xiyuv with which it is most closely connected
is that of "speaking of, mentioning" a thing: you may either name (dvofid&uv)
the thing, or mention it by a formula (loyal Ityeir). If the verb oecurs in
passages containing the TtQay^u-ovofJta-Hyoq terminology, it generally has
this force: see, e. g. E u t h y d e m u s 283 E.
490 C. M. Gillespie,
between the falsehood of a jrQäyfia and of a Xöyoc. We are surprised
to find that the class of false objects contains, besides dreams and
sketches, falsehoods such as "the diagonal of a Square is commensurable
with the side", "you are sitting". Here jtQäyfta seems to cover the
Objektiv of Meinong.7) For Aristotle the judgement is ovvd-soig
vorjfidzcov, but in the passage before us such a synthesis appears only
in connexion with the false jtQayfia, (övyxtiofrat, GWTs&jjvai
1024 b 18), whereas in the account of false X.oyoi there is no question
of any synthesis at all. A true Xoyog is false if applied to the wrong
object; an intrinsically false Xoyoa has no object. We find also that
there is one Xoyog par excellence of each thing, which determines
what a thing is, 6 tov rl >jv slvac, while there are other Xoyoi
which include the jidß-y of the thing. Both definition and categorical
proposition are regarded as verbal formulae. Then follows the statement
of Antisthenes' paradox. It is elear that the writer is adopting the
same general standpoint as Antisthenes himself. Observe that predi-
cation, apart from the simple denominative proposition, is treated
as an extension of the process of definition.
b) In S o p h i s t e s 251 B the supporters of the so-called
"identical judgement" allow m a n to be predicated of m a n , and
goodofgood, but deny that g o o d can be predicated of m a n.
When we examine Plato's language we see that they are said to reject
the application of more than onename to one thing (XsyofiEv ärft-Qcojtov
üioll' otto. EJtovo/.tdyovTeg 251 A, jioXXoig ovofiaöi Uyo[itv B). In
other words the "identical judgement" is not the A i s A of later
logic, in which subject and predicate are both concepts, but the simple
denominative judgement "this is a man"; the subject is the jryäyfia
or real object, the predicate is the orofia, and its primary function
is to distinguish the object from other objects.
c) The same language reappears in Theaetetus 201 E ff.
The simple object can have a name {ovofia) applied to it; the Com-
pound object may also have a Xoyog or Compound name (ovo-
[Laxcov /«(> övfjjiXoxi/v slvcu Xoyov ovölav 202 B).
d) The argument disproving the possibility of falsehood in
Euthydemus 283 E ff., which I will fully analyze later, implies
two factors in predication, the subject-thing (ro jcgäyfia xeqI ov dv
7) Meinong, Annahmen 2, p. 44 ff.
The Logic of Antisthenes. 491
-
(c X/yog >/) and the Xoyog by which it is determined. In like manner
the proof that one man cannot contradict another in 286 A turns on
the relation of Xoyog to jigäy^a.
e) The denial of falsehoocl in C r a t y 1 u s 429 D appears in
connexion with the application of names to things, and throughout
the discussion between Socrates and Cratylus ovo^ia and Xoyog seem
to be treated as the same in kind (see especially 432 A).
As this terminology, with its implied point of view, is always used
in the references to Antisthenes, we may suppose that it represents
his usage. Bnt we may ask whether it was peculiar to him? The
answer wonkl appear to be that the terminology i s that
o f the e a r 1 y d i a 1 e e t i c , and that Plato himself only gradually
advanced from the crude conception of predication nnderlying it
to a deeper view. Throughout the Cratylus, and not merely
in the passages where Antisthenes seems to be criticised, this termino-
logy is found. The presupposition of the use of names is the existence
of jiQayiiata, the ovaia of which is distinguished or signified by the
names (386 E, 388 B). The statement of Socrates in 385 B C, which
has so troubled the commentators, that if a Xoyog can be false, then
an ovofia, its part, can also be false, implies that Xoyog and ovokua
are the same in kind.
a) The dialectical procedure of the time, as frequently illustrated
in the Piatonic dialogues, makes regulär use of the denominative
proposition. The opening question may be stated in one of two forms,
either (e. g.) xaXslg xi dixacov or laxi xt dixaior. The answer to the
first form is stated in what may be called the existential form of the
denominative judgement: "I admit the existence of sömething called
öixawv". (See M e n o 75 E, 88 A; Euthyderaus 276 A;
Protagoras 332 A, 358 D; Gorgias 454 C, 464 A, 495 C.)
The ovo/ta and jcgäyfia being thus determined, the next step is to
settle directly or indirectly the Xoyog of the ovaia or real nature of
the thing called ölxaiov. A common indirect method is the inquiry
whether it is the same as or different from another thing, e. g. oöiov
(Gorgias 454 D). This is stereotyped in the Aristotelian xöjtog
concerning sameness and difference. Thus, to use the terminology
of Aristotle, the questions which dialectic makes primary are si löxir
and xl IdTtv, not ort körlv and ötoti loxir (An. Post. IL 1,
89 a 23).
492 C. M. Gillespie,
b) There are frequent examples in the Topics of this earlier
dialectical terminology. The word ngäyfia is regularly used for the
subject of discussion, which is macle the subject of discussion by
l)eing named. Definition, a most important featnre of dialectic,
means stating the ovota of the thing. The word Xoyog in the Topics
nsually signifies, not a notion or coneept, but a word-formnla, sub-
stituted by the Speaker for the simple name. This idea of Substitution
appears frequently, e. g. 101 b 37 ajrodidoTcu 6h y Xoyog avx1 ovo-
(larog // Xoyog dvtl Xoyov: 143 a 25 äw' ovofiatog Xoyco elo7]X(og
äv ety xo xmoxaxco ytrog. Of course the Xoyog of definition is a
particular kind of formula, one which gives the essence (101 b 37 et
pass.), but the word may be used in a wider sense to denote any
many-worded term; thus gqJov tjrtör/jftr/g Ösxzixov is a Xöyog of
är&Qomog which may be analyzed into genus and property (132 b 2).
In 101 b 37, cited above, the second kind of definable things seems
to be those denoted by a many-worded term. There is an interesting
passage in 109 a 10 ff. where the predicate is regarded as a na m e
of the subject: ton Öe yaXhJtoirarov to dvTiöTQEysiv t/)v «.to tov
üvfißeßqxozoQ oixslav ovoitaüiav. 3Avtiötqe<pslv is not here used in
the common meaning of the convertibility of subject and predicate in
extension. It means that for B vjtaQyu rcfj A you may legitimately
Substitute A lor\ B. Aristotle states that in the case of definition and
genus you may do so ; if animality belongs to man, you may say that
man is an animal; animal is a name belonging to man himself; but
you cannot always do so in the case of white or just; a man is not
white, if whiteness belongs to him only in respect of his teeth (Alex.
ad loc, p. 132. 31), and a man may do just actions without being just.
The important point for us is not the doctrine, but its expression:
oixsiav ovo/iaöiav shows that the predicate is regarded as the name
of the thing: Aristotle has, in mind, no doubt, the eristic fallacy of
Accident, but whatever be his purpose, the phraseology is instructive.
5. Assuming, then, that in the early Greek logic of dialectics
predication meant primarily the application of names to things, let
us ask what must have been the general standpoint from which it
approached logical questions. Our inquiry will be greatly helped by
an examination of the logical theory of Hobbcs, who, as is well known,
held this view of predication.
The Logic of Antisthenes. 493
According to Hobbes, names are marks, i. e., "sensible things
taken at pleasure that by the sense of them, such thoughts may be
recalled to our minds as are like those thoughts for which we took
them"' (Logic, I. 2. 1, p. 14 Molesworth). In respect of their use in
the communication of thought, they are signs; hence the definition
of a name as "a word taken at pleasure to serve as a mark, which
may raise in our mind a thought like to some thought we had before,
and which being pronounced to others, may be to them a sign of what
thought the Speaker had, or had not before his mind" (I. 2. 4, p. 16 M.).
For Hobbes nothing exists except individual bodies with their powers
and sensations with their copies, ideas or thoughts, which are thus
resolved into Visual and other sense-images. Names are, psychically,
sounds perceived or imagined; physically they are the effects of
powers in the body of the Speaker or thinker. Predication is giving
two names to one thing: "a proposition is a speech consisting of two
names copulated, by which he that speaketh signifies he conceives
the latter name to be the name of the same thing whereof the former
is the name.*" (I. 3. 2, p. 30 M.). Language has various conventional
ways of signifying this connexion; sometimes it uses the explicit
copula "is", sometimes the verb-inflexion, and is sometimes content
with the order of the words (ibid.). Thus all propositions are ultimately
denominative judgements, and the Standard categorical form, S i s P,
is a double denominative judgement, with two names denoting or
applying to the same object. From this point of view little distinction
can be drawn between grammatical subject and predicate; both become
predicates of the real thing, and this real thing is the logical subject.
Hobbes characteristically bases the grammatico-logical distinction
on a metaphysical one; in the common categorical proposition the
subject-term is usually the name of a thing as a thing and the predicate
term the name of the thing as having an accident, i. e., some power
of action by which it works on our senses (I. 3. 3, p. 32 — 33 M.).
The logic of Hobbes is the syllogistic of Aristotle with its meta-
physical basis reversed, and matcrialism, sensationalism and nomina-
lism carrying out in various ways the principle that conceptual
thought has no independent validity, or evcn existence. Now 1 do
not assert that the early Greek logic started from so extreme meta-
physical priaciples or that as a whole it had any explicit metaphysical
basis at all. But observe how dose Hobbes1 aecount of predication
494 C. M. Gillespie,
is to a certain commonsense attitude, that of a man A, who analyses,
from the standpoint of an external observer, a cönversation between
two others, B and C, upon the nature of an object which all three can
see. The s u b j e c t of discussion is the real object, which A hears
named; he then hears B and C apply other, probably different, names
to the thing; these A supposes to represent different ideas "in the
minds" of B and C. In other words, the attitude is substantially that
of dialectical discussion. Thought and things are as widely separated
as possible. For Hobbes the supposition of all thinking is the existence
of a physical world which affects men by producing in them sensations
and ideas, which they express by means of names. The primary
attitude of Greek dialectic is analogous: the first condition for any
discussion between A and B is that they agree as to the existence of
a jtQäyfia, which both can name. At the outset, this jroäyua is assumed
to exist in the common course of nature, a thing, a virtue, a relation, etc.
It Stands over against the disputants as having an independent
existence, not asaconcept but as a particular thing or things which
may be named, thought of, dealt with in all sorts of ways, for example,
eaten, if it is an apple. In the Piatonic dialectical procedure the first
question b&ci xi ; or xaXsiq n ; establishes the e m p i r i c a 1
basis of discussion; the empirical meaning of ütgäyfia as the primary
subject of discussion is illustrated by the fact that Plato sometimes
uses jTQäyfta xaXov for the object of empirical knowledge as opposed
to to xalöv. For Aristotle dialectic comes to mean the discussion
of a topic from an indefinite standpoint, i. e. any standpoint that
might be adopted by commonsense, in distinction from the scientific
proof from scientific first principles, and in his own practice dia-
lectical discussion takes the place of induction, in the case of the
ethical and political sciences.
The terminology which I have pointed out shows that the early
Greek logic was in a special sense a logic of terms and names, not
of propositions. Here the dialectical origin is clearly displayed. The
Aristotehan syllogistic scheme has in view a succession of inferences
in which proposition after proposition is shown to be necessarily
derived from the original assumptions : its immediate antecedents seem
to be the Piatonic Classification, itself a development from dialectic,
and geometrical methods. The dialectical question, on the other
hand, "Is virtue teachable?" tcnds to a discussion in which virtue
The Logic of Antisthenes. 495
s
Stands as the common snbject of the various Statements and the nmtual
relations of the terms predicable of it are investigated. Thns the
treatise in which Aristotle himself treats of the dialectical syllogism,
the Topics, is mainly taken up with the Predicables, classifying terms
in relation to a common subject.
I have suggested that the similarity of the Hobbesian and the
Greek dialectical logic is largely eine to their common standpoint
of commonsense naturalism. Bnt I would further point ont that
the three fundamental principles of Hobbes are merely exaggerated
Statements of points of view implied in commonsense everywhere,
and which must have been specially important in the Greek thought,
becanse the Piatonic "theory of Ideas" was the first determined
attempt to get beyond them. Materialism is the dominant note of
the early science, sensationalism of the early psychology; thns in
the simile of the waxen tablet in T h e a e t e t u s 191 D the idea
is regarded primarily as the revival of a Sensation, and Plato himself
in his statement of his doctrine of reminiscence tends to the nse of
language more applicable to visual images than to "abstract ideas".
The nominalist position that all existence is particnlar is after all
the position of naive commonsense, and in Greece the coneeption of
another kind of reality, envisaged first by the Pythagoreans, took
a form which conld affect logical principles only in the Platonic idea.
The conceptual logic of Aristotle is the off spring of the "theory of
Ideas'" as applied to logical questions in S o p h i s t e s.
The difficnlties of Antisthenes arose from the fact that, starting
from the crude view of predication as the application of names to
things, he made explicit the nominahsm, sensationalism, and perhaps
materialism lipon which the view rested.
6. Hobbes1 views on definition present many features which
throw light on the problem before us.
a) R e 1 a t i o n o f the definition t o the p r o p o -
s i t i o n. Aristotle, while allowing that the proposition and the
definition resembleone another in form, distinguishes them in theory,
primarily for existential reasons, no donbt; for the nominal defi-
nition cxplains the meaning of a term, while the real definition
has for its subject (e. g.) t<> Xsvxm elvai (de Interpret. 16 b 26,
17 a 9; Poet. 1457 a 24 cited by Prantl, Geschichte der Logik, 1. 141 n).
496 C. M. Gilles pie,
But f or Hobbes there can be no such distinction : a definition is indeed
"the explication of the meaning of a word", but on further examination
it turns out to be a kind of proposition. "Propositions are distin-
guished iuto p rimary and not primary. P r i m a r y is that
wherein the subject is explicated by a predicate of raany names, as
man i s a b o d y , animated, rational; for that which is
eomprehended in the name man, is more largely expressed in the
names b o d y , animated, rational, joined together; and it
is called primary, because it is first in ratiocination ; for nothing
can be proved, without understanding first the name of the thing in
question. Now primary propositions are nothing but definitions
or parts of definitions." (I. 3. 9, p. 36—37 M.) Hobbes' theory of
predication may almost be said to turn propositions into imperfect
definitions, since the definition "a triangle is a three-sided figure"
satisfies most adequately the condition that subject and predicate
are both names of the same thing. His treatment of definitions as
propositions is of course a logical consequence from his general theory
of predication. Now the view of the proposition as a sort of subsidiary
form of definition is really implied in the jtQayiia-övofia-Xoyog
terminology of the Greek dialectic; there are unmistakeable traces
of this view in the Topics, and in (B) the common categorical proposition,
with its complex Socrates-musical appears as a subsidiary
aojoq to the fundamental type, the definition.
b)The primary differentia of the definition.
"What distinguishes the definition from other kinds of propositions is,
for Hobbes, mainly the fact that its predicate is Compound. So,
according to (C), Antisthenes denied that simple objects can be defined,
because the defining term is (laxgoq loyog; and Theaetetus
202 B contrasts the simple object which can only be named with
the complex object of which a Compound name or löyoa can be
predicated.
c) Definition i s real, not nominal. Hobbes,
indeed, regards all universal knowledge as knowledge of names, be-
cause based on definitions, which are explications of the meaning of
names. And yet his account of definition itself as a kind of proposition
makes the defining formula a predicate of the thing defined, not of
the term defined. Definition means for him the Substitution of a
complex name for a simple one. Now in the Greek dialectic not only
The Loeic of Antisthenes. 497
'£>
is definition always real definition, but its terminology discloses a
point of view remarkably like that of Hobbes. The treatment of
definition as the determination of the meaning of terms as a preiiminary
to deduetive proof is peculiarly appropriate to mathematical method,
bnt quite opposed to the spirit of dialectic. There definition is as
nnich an end as a means; the question "what is justice?", "what is
knowledge?" cannot coneern merely the meaning of names; the
dialectical formnlae si söti, ri loriv contemplate real definition;
and real definition is obviously implied in the Piatonic view, regarded
by Aristotle as the chief motive of the "theory of ideas", that the
snbject of definition cannot be the changing thing of experience.
(Metaph. 987 b 1 ff.) As for the terminology, I need only say
that in all the passages cited the relation of koyog to ütgäyfia is
conceived as identical with the relation of ovofia to jr^äyiia, as
in Hobbes.
d) The snbject o f definition i s not d i s t i n -
g u i s h e d f r o m the e m p i r i c a 1 o b j e c t. For if the
definition is a proposition; if the proposition means that subject and
predicate are names of the same thing; if the defining formula is
merely a Compound predicate, i. e. name ; and if all things are particular ;
it follows that the formula of definition is, hke any other name, the
name of particular things. The Statement of Aristotle, recently cited,
that Plato distinguished the subject of the definition from that of
the empirical proposition, gains point if we suppose that the contem-
porary logic implied the opposite view. Now the ucgäy(ia-ovofia-
Xoyog terminology to which I have so often alluded as embodying
the early analysis of predication implies an attitude sinülar to that
of Hobbes. Real things stand on one side, simple and Compound
names on the other, and predication is immediately establishing a
relation between them. The relation of Xoyoq to jcgayfia is conceived
to be the same as that between 6ro{ua and otgayfia. The "old man
late-learned" of Sophistes 251 argues that only one name may
be applied to one thing, Antisthenes in (B) that only one löyog can
be so applied. The theory reported in Theaetetus 201 D ff.
evidently makes the subject of definition explieitly empirical; for
knowledge is true judgement supplemented by ;.o/oc, and this is
explained as the further analysis of the empirical object into simple
Clements apprehended by sense.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI. 4. 03
498 C. M. Gilles pie,
e) Inteilsion i s r e s o 1 v e d i n t o e x t e n s i o n.
Hobbes virtually reduces the logical meaning of a term into its
extension, the particular things of which it is the name. The name,
indeed, (to use Meinong's convenient distinction, Über Annahmen2,
pp. 24 ff.) expresses (ausdrückt) an idea in the mind of the Speaker,
but it means (bedeutet) only the particular thing or things of which
it is the name. Thus what we call the intension of the term forms
part of the psychological, but not of the logical meaning of the name.
For when the ideas come to be "more largely" expressed in the words
of the definition, these words are regarded merely as a Compound
name denoting the same thing from another point of view. Otherwise
expressed, if predication means distinguishing by names, then the
ideas expressed by the name cannot be said to be predicated of the
object; they appear as the psychical antecedents or causes of the
utterance, and not as an essential part of the objective meaning.
Thus Hobbes, while following the scholastic doctrine that the definition
gives the essence, regards this as a group of accidents, i. e. powers
in the thing to produce ideas in us, so that the definition is the names
of (i. e. denotes) powers in the thing. ("Definition . . is a speech
signifying what we conceive of the essence of any thing." I. 5. 7,
p. 60 M. "These causes of names are the same with the causes of our
conceptions, namely, some power of action, or affection of the thing
conceived, which some call the manner by which any thing works
upon our senses, but by most men they are called accidents." I. 3. 3,
p. 32 M.) As Hobbes expresses it, the name, though the name of a
thing, is not a sign of it, except in the sense "that he that hears it
collects that he that pronounces it thinks of a stone" (I. 2. 5, p. 17 M.):
for the hearer it is a sign of an idea in the speaker's mind, for the Speaker
it is a mark to recal ideas to the mind (I. 2. 1, p. 14 M.). In Hobbes,
therefore, we find a peculiar realist Interpretation of the meaning (as
opposed to the "expression") of the name as expanded in the definition;
it is attached to the thing as its powers or accidents rather than to
the name itself. The usual Greek standpoint is very similar. Where
we speak of the meaning of a term, they spoke of the essence of the
thing. Thing and essence on the objective side correspond respectively
to name and definition. Thus in C r a t y 1 u s 388 B the name is
AiaxQirixov ri/g orolac; it is only in respect of its intension
that a name can be said to determine what a thing is (// ?%£(), but
The Logic of Antisthenes. 4? 9
the intension only appears in the objective aspect of the essence of
the thing. So in C r a t y 1 u s 429 B C (an Antisthenean passage)
the name Hermogenes, a significant Compound containing within
itself a definition, is applied to a jcgäyfia, which has an ovo in or
ffivoig, viz: descent from Hermes, the real nature of the things denoted
by the term; thus what we should call the meaning or intension of
the term is not attached to the sign but only to the thing signified.
Plato dissociated the essence or conceptual meaning of the term from
the empirical jcQayfua and gave it a special relation to the term.
Thus Hobbes1 analysis shows clearly that if the conceptual meaning
of the universal is not recognized, ideas can be related to names simply
as their causes, so that no logieal relation is left to the name except
that of denotation, since nothing is predicated of the thing except the
name. It is clear that before Plato the function of the universal concept
was not adequately grasped, and as the terminology of predication
was very like that of Hobbes, his doctrines help to explain some of
the difficulties of Antisthenes ; for if no relation is allowed to the name
except that it is the name of something, the step to.the doctrine of
one thing, one name is a short one.
f ) The o b j e c t s o f definition a r e aggregates.
For Aristotle the organic unity of the concept is guaranteed by its
analysis into genus and differentia, the.mutual relations of which
he conceives as analogous to those between matter and form. Nominalism
recognizes no such organic unity. Locke regards genus and species
as "sorts" and resolves complex ideas into simple ones, subjectively
distinct from each other and with little objective connexion except
coexistence. Hobbes holds genus and species to be merely names
of names: "genus and universale are names of names, and
not of things". I. 5. 5, p. 59 M. He insists that all conceptual processes
can be resolved into sequences of sense-images (I. 1. 3, p. 3 M.): the
constituent Clements of the definition are names of particular distinct
ideas which follow each other in our sense-experience. Thought is a
process of computation dealing with ideas as such: "to compute is
either to collect the sum of many things that are added together,
or to know what remains when one thing is taken out of another"'
(I. 1. 2, p. 3 M.). In other words it consists in adding and subtracting
unitary ideas or the names which are their marks. Addition means
forming Compound ideas or names: for example, man is first "con-
::::■
500 C. M. Gillespie,
ceived to be something that has extension, which is marked by the
word b o d y. Body, therefore, is a simple n a m e , being put
for that first single conception; afterwards, upon the sight of such
and such motion another conception arises, for which he is called an
animated body; and this I here call acompounded name,
as I do also the name animal, which is equivalent toananimated
body. And, in the same manner, an animated rational
b o d y , as also a m a n , which is equivalent to it, is a more compounded
name. And by this we see how the composition of conceptions in
the mind is answerable to the composition of names; for as in the mind
one idea or phantasm to another, and to this a third; so to one name
is added another and another successively, and of them all is made
one compounded name." (I. 2. 14, p. 24 M.) The process of
subtraction is illustrated by the loss of the elements of the idea of
man as a man who has been standing near us moves further and
further away (1. 1. 3, p. 5 M.). Hobbes' account is a striking commentary
on the theory of knowledge reported in Theaetetus 201 D ff.
There is the same resolution of thought into simple unrelated sense-
elements, each marked by a name; the same treatment of the Com-
pound idea and its expanded name as an aggregate, exemplified in
the enumeration of the parts of Hesiod's cart (207 A). From so close
a resemblance we may legitimately infer similarity of premisses.
So the distinctness and unrelatedness of the objects named is the
basis of the denial of all judgements except the identical judgement in
Sophistes 251.
8) Burnet, Early Greek Philosophy 2, p. 367.
(Fortsetzung folgt im nächsten Heft.)
Rezensionen.
Dr. Robert Redslob, Die Staatstheorien der französischen National-
versammlung von 1789. Leipzig, Veit & Comp. 1912.
„C'est la faute ä Rousseau", dieser alte Refrain aus dem bekannten Lied
ist das Lieblingsmotiv aller Kritiker der französischen Revolution und der
von ihr geschaffenen Ordnung. Die katholischen Denker Frankreichs und
die deutschen Doktrinare der Staatswissenschaft haben das Thema bis zum
Überdruß variiert. Rousseau — das ist der Gottseibeiuns für die frommen
Seelen, der Erzvater des Individualismus, des Atomismus in der modernen
Gesellschaft, des Abfalls von den „gottgewollten Abhängigkeiten." Es gehört
heutzutage gewissermaßen zum guten Ton, auf Rousseau zu schimpfen —
wenigstens bei den französischen Intellektuellen, die sich an Taine bildeten.
Taine war allerdings alles eher als traditionsgläubig und kirchenfromm, aber
seine Gegnerschaft, seine erbitterte und oft so übertriebene, ungerechte Kritik
der Männer und der Taten von 1789, wurzelte in seiner ganzen Methode, in
seiner geistigen Veranlagung. Er war ein Psychologe. Und das sagt alles.
Man könnte die Tainesche Art mit den Worten chakterisieren, die A m i e 1
(Journal intime I) von sich sagte: „Die energische Subjektivität, die selbst-
vertrauend sich behauptet, die sich nicht scheut, etwas eigenartiges, abge-
schlossenes zu sein, die ihrer subjektiven Täuschung weder bewußt ist, noch
sich deren schämen werde, ist mir fremd" ... Es ist eben die Eigenschaft
des Analytikers, des Psychologen, die Handlungen geringer zu werten als
die Motive, die Wirkung niedriger zu schätzen als die Ursachen. Taine ver-
achtete die Schöpfer der Revolution von 1789, weil sie zu wenig intellektuell
waren. Wie urteilt er denn über die Jakobiner? „Es sind abstrakte Menschen,
die keinem Jahrhundert und keinem Land angehören, Abstraktionen, auf-
gesprossen unter dem metaphysischen Zauberstab . . ., ungemein dürftige
Residuen, unendlich vereinigte Auszüge der menschlichen Natur". Man
könnte eigentlich glauben — und Taine befand sich selbst in diesem Glauben
— es werde hier den „Jakobinern" das Übermaß der Intellektualität, das
Überwuchern des Gedanklichen über das Praktische zum Vorwurf gemacht.
Bei näherem Zuschauen bietet sich uns ein anderer Aspekt. Taine und seine
Jünger verurteilen die Männer des 18. Jahrhunderts nur, weil diese zu wenig
intellektuell, gar so objektiv, tatkräftig waren, weil sie gar so mathematisch,
geradlinig handelten, noch mehr, weil sie ihr Temperament, ihre Leidenschaf ton.
ihren Haß und Glauben hypostasierten, kurz, daß sie — menschlich, allzu
menschlich waren . . . Dieser Widerspruch in Taines Beurteilung der Re-
volution blieb übrigens durch die vehemente Form seiner Darstellung vei-
502 Rezensionen.
deckt. Und naive Gemüter, wie z. B. Bourget und Barres, die Neuromantiker
und ,,Antiintellektualisten" sprachen wortgläubig dem Meister nach. Sie,
die eleganten und stilgewandten Schriftsteller, haben am meisten dazu bei-
getragen, die Revolution und vor allem den armen Jean Jacques bei den
„Intellektuellen" zu diskreditieren. Tief ist die Sozialphilosophie eines Barres
allerdings nicht. Sie läßt sich mit dem alten Aphorismus des Erasmus de-
finieren. „Spartam nactus est, hanc adorna." Der Mensch wird in ein Milieu
hineingeboren, es stehe ihm somit nicht zu, aus eigener Kraft ein neues zu
schaffen, die Fesseln des Determinismus, und sei es auch bloß des sozialen, zu
brechen, oder gar sich zu isolieren . . .
Ich habe besonders Barres hervorgehoben, weil er in der letzten Zeit
als der beredteste Gegner Rousseaus aufgetreten ist. Seine Rede im Palais-
Bourbon anläßlich der Rousseaufeier zeigte, daß in gewissen Kreisen alle
Übel und Mängel der modernen Gesellschaft noch immer auf das Schuld-
konto J. J. Rousseaus gesetzt werden.
Wie steht es nun in der Wirklichkeit mit der ,,faute ä Rousseau" ? Welchen
Einfluß hat die Lehre des „Contrat social" auf die französische Revolution
und der von ihr geschaffenen Verfassung ausgeübt? Der Verfasser des ein-
gangs erwähnten Werkes hat sich nun der Aufgabe unterzogen, die Verfassung
von 1791, die von der „Assemblee nationale" ausgearbeitet wurde, unter
diesem Gesichtspunkte zu untersuchen. Auf Grund einer eingehenden
Analyse der Hauptpunkte der Verfassung, vor allem aber an der Hand der
Parlamentsdebatten, in denen die Anschauungen der einzelnen Abgeordneten
am klarsten zum Ausdruck kamen, gelangt der Verfasser zur Ansicht, daß die
Arbeit der Nationalversammlung gar nicht so einfach, so eindimensional,
rein abstrakt und bloß ein Abklatsch der Theorien Rousseaus war. Wie jede
andere menschliche Tat, war auch die Verfassung von 1791 ein Kompromiß,
eine Resultante. Zwei Gedankenrichtungen kämpften gegeneinander — die
naturrechtliche, rationale und die empirische. In Namen ausgedrückt ■ —
Rousseau und Montesquieu. ,,Die Nationalversammlung entlehnt ihre de-
duktive Denkweise vornehmlich Rousseau und gründet ihre geschichtlich-
politischen Betrachtungen in der Hauptsache auf Montesquieu, — so daß
wir sagen können, daß die Arbeit der Nationalversammlung den hin und her
wogenden Kampf zwischen den Prinzipien von Rousseau und Montesquieu
darstellt. Eigentümlich ist aber immer das Eine: daß die Nationalversamm-
lung, wo sie entschlossen den Lehren von Montesquieu folgt, trotzdem, wenn
irgend möglich, ihre Sätze mit den Lehren von Rousseau zu vereinbaren sucht,
mag eine noch so große Divergenz bestehen, mag eine noch so künstliche
Argumentation notwendig sein. So gewaltig ist die Herrschaft des Genfer
Philosophen, so eingewurzelt die Scheu, seine Dogmen zu verleugnen. Seine
Lehre vom Gemeinwillen ist wie ein goldner Faden, der sich durch das ganze
Gedankengewebe hindurchzieht und sich oft mit einem festen und einfachen,
oft aber mit einem unsicheren und sehr verschlungenen Knoten in das Gewebe
zu verstricken sucht." (1. c. 3GÜ.)
Was hatte nun die Verfassung von 1791 Rousseau zu verdanken? Doch
nicht das parlamentarische System, nicht das ganze schwere Gerüst der
Rezensionen. 503
zentralisierten Staatsordnung! Faßt man die Lehre Rousseaus von ihrer
praktischen Seite ins Auge, so steht sie im vollen Widerspruch zur Tat der
französischen Revolution. Was Rousseau eigentlich wollte, das war, den
Menschen seinen Willen wiederzugeben. Die ganze deistische, überall Harmonien
findende, naturgläubige Denkart Rousseaus führte ihn zu dieser Anschauung.
Ebenso wie im Leibnitzschen System die Monaden trotz aller Abgesondertheit
und Freiheit doch in ein bestimmtes Gefühl eingeordnet wurden, so setzte
sich nach Rousseau der Mensch von selbst in die Gesellschaft ein, auch wenn
er frei und autonom ist. „L'homme vraiment libre ne veut ce qu'il peut et
fait ce qu'il plait", sagte Rousseau im „Emile". Wären nun alle Menschen
frei, so würde die Summe ihrer Handlungen ebenso gut und „gefällig" (ce
qu'il plait") sein, wie jede einzelne. Der metaphysische Wille sozusagen ist an
sich gut, ob er nun individuell oder allgemein, ob er nun „volonte gene-
rale" ist. Diese ,, Gemein willenstheorie" war seit jeher die Achillesferse der
Rousseauschen Sozialphilosophie, wie der naturrechtlichen überhaupt. Und
Dr. R e d s 1 o b sagt seinerseits entschieden wenig neues zur Bekämpfung
der Theorie der „Volonte generale". Er nimmt allerdings Rousseau in Schutz
gegen manche Mißverständnisse, wie z. B. gegen Duguit, der gegen Rousseau
den Vorwurf des zersplitternden Atomismus erhebt. Er lehnt aber wiederum
die Grundtheorien Rousseaus und des rationalen Staatsrechts, also den Satz
von der natürlichen Freiheit, vom Gemein willen und von der Volkssouveränität
prinzipiell ab. Und gerade hier wäre es interessant, den Faden wieder auf-
zunehmen.
„Der Satz von der natürlichen Freiheit des Menschen, der die Philosophie
der Aufklärung und die Verhandlungen der Nationalversammlungen durchzieht,
hat an sich selber betrachtet, nur einen geringen Erkenntniswert", sagt der
Verf. (1. c. 17). Und das gleiche behauptet er von den übrigen Naturrechts-Prin-
zipien. Es ist also die Empirie, die Historik gegen die reine deduktive Theorie.
Es ist gewiß nicht meine Aufgabe, hier das Naturrecht in Schutz zu nehmen.
Historisch betrachtet läßt sich kein einziges Prinzip des Naturrechts auf-
rechterhalten. Wenn aber Hobbes erklärt: „Jus gentium et jus naturae idem
sunt", so hat dieser Satz erkenntnistheoretisch einen gewissen Wahrheits-
gehalt. Das Naturrecht ist deshalb in Mißkredit geraten, weil es für sich eine
naturgesetzliche Kausalität und Notwendigkeit in Anspruch nahm. Faßt
man das „jus naturae" in diesem Sinne auf, so ist es veraltete Metaphysik.
Aber „jus naturae" kann auch einen andern Sinn haben, es kann als Sub-
sumierung der Rechtsprinzipien unter eine gewisse psychologisch stringente
Motivenreihe aufgefaßt werden. Die historische oder empirische Rechts-
lehre, besonders aber die Staatsrechtslehre, arbeitet mit dem Begriffe des
„Werdens", die rationale aber mit dem des „Seins". Nun ist aber Werden
nur auch bloß eine Modalität des Seins, das Nochnichtsein. Nehmen wir eben
das Beispiel des Satzes der „natürlichen Freiheit". Für die empirische Be-
trachtung, für historische, kritische, positive oder man nenne sie, wie man
will, ist die Behauptung Rousseaus: „L'homme est ne libre" faktisch eine
Unrichtigkeit. Frei ist nämlich bloß derjenige, der sich keiner Schranken
bewußt ist, für den keine Hemmungen bestehen. Der Mensch ist aber von
504 Rezensionen.
der Wiege an unfrei. Aber diese Freiheit ist ein Desiderat, ein zu erstrebendes*
Ideal. Für den Naturrechtler besteht sie ja auch nur in der Idee. Es ist der
alte Streit zwischen Nominalismus und Realismus. Aber wir wissen jetzt,
daß gerade der Nominalismus einen großen methodologischen und erkenntnis-
theoretischen Wert hatte. Rousseau wußte ja ebenso gut, wie seine Gegner,
daß der Mensch de facto nicht frei sei. Aber er meinte, daß die logischen Wahr-
heiten auch reellen Wert haben, daß was vernünftig sei auch existieren müsse.
Zu solchen logischen Wahrheiten gehören eben die Rousseauschen
Theorien. Für den Empiriker sind sie einfach Zukunftsprojektionen, aber
ihr Wert wird dadurch nicht geringer. Es gibt keinen einzigen Grundsatz
des ,,Contrat Social", der erkenntnistheoretisch widerlegt oder
methodologisch untauglich wäre. Volkssouveränität ist gewiß eine strittige
Theorie. In der Wirklichkeit ist das „Volk" nicht souverän. Aber um so
schlimmer für die Wirklichkeit. Sie muß deshalb einer andern weichen. Und
überhaupt die Wirklichkeit. Es ist ein verschwommenes, im ewigen Fluß
begriffenes, sich immer mauserndes Etwas. Die Wirklichkeit muß durch die
Ideen reguliert und in eine Form gebracht werden. Und ich meine, daß gerade
dies das große Verdienst der französischen Revolution war, daß sie der Idee
so lange als möglich folgten, daß sie mit den lieben, bequemen Wirklichkeiten
nicht paktieren wollte. Gewiß, einem Malouet, einem der gemäßigtesten
Mitglieder der Nationalversammlung, dem Freund Neckers, dem Vermittler
zwischen diesem und Mirabeau, konnte die Idee der Volkssouveränität usw.
nicht recht in den Kram passen (,,L'abus de ces deux mots Souverainete du
peuple et Volonte generale, a dejä exalte tant des tetes, qu'il serait bien cruel
que la Constitution rendit durable un tel delire", Vgl. Redslob a. a. O. 44).
Aber Malouet hat historisch Unrecht behalten. Die Verfassung von 1791
hat „diesen Wahnsinn" sanktioniert und die Welt hat dabei ganz gut ab-
geschnitten. Die Wahrheiten der Revolution und also auch Rousseaus sind
bis heute nicht erschüttert und nicht widerlegt worden. Und zwar nicht
Montesquieus, sondern eben Rousseaus. Montesquieu hat die Dinge historisch-
empirisch gefaßt. Und zwar ohne Kriterien, die einen perennierenden Wert
hätten. Rousseaus Ideen aber sind allgemein und logisch zwingend, weil
sie eben nicht individuelle, sondern generische sind. Und von diesem Ge-
sichtspunkte aus erscheint mir die Polemik des Autors der sonst so treff-
lichen Untersuchung nicht ganz gerechtfertigt und in ihrer philosophischen
Begründung unrichtig. Wohlgemerkt, ich stelle nicht Rousseau als einen
Großen im Reiche des Denkens hin. Die Fehler des Genfer Philosophen
sind zu groß, um übersehen werden zu können. Rousseaus Schwäche ist
seine Philosophie, die beinahe in Pietismus verfällt (Beweis sein: „Savoyischer
Vikar"), sein Optimismus und Mangel an kritischem Blick. Aber eines
kann man ihm nicht abstreiten, und das ist — Logik. Der „Contrat social"
ist logisch einwandsfrei konstruiert. Er hat uralte, richtige Prinzipien mit
bewundernswerter Schärfe entwickelt. Nur die Form ist es, die den neueren
Denker von ihm trennt. Nur die Wege zu diesen Problemen sind andere
geworden. Im Grunde aber haben wir Rousseau nicht überwunden und
werden ihn auch schwerlich je überwinden. ... Dr. A. Coralnik.
Rezensionen. 505
E. A. Bobroff, Professor der Philosophie an der Universität Warschau,
Historische Einführung in die Psychologie. 170 S. In russischer
Sprache. Verlag „Oros", Petersburg und Warschau, 1913.
Der Verfasser gibt in der ersten Hälfte des Buches auf Grund der Quellen
eine klare, präzise und knappe aber doch genügend vollständige Darstellung
der von den alten griechischen Philosophen gelehrten psychologischen Theorien,
in der zweiten bespricht er die neue Psychologie, vorzüglich die des 17. Jahr-
hunderts, die besonders wichtig für die Entwicklung der Psychologie ist, in
der fast alle die Probleme aufgestellt werden, die die heutigen Psychologen
bewegen und in der die historischen Wurzeln der Streite und Uneinigkeiten
in der heutigen Psychologie zu finden sind. Besprochen werden nur philoso-
phische Seelenlehren, mystisch-religiöse Doktrinen bleiben unberücksichtigt.
Der Verfasser geht von den psychologischen Anschauungen der primitiven
Menschen aus und verfolgt die Jahrtausende lange angestrengte wissenschaft-
liche und philosophische Arbeit, die dem Dualismus des Deskartes voraus-
geht. Der moderne Mensch muß von den sehr komplizierten Begriffen, in
denen er zu denken gewohnt ist, absehen, um sich die Anschauungen der
ältesten Menschheit in ihrer ganzen ursprünglichen Unbestimmtheit und
Xebelhaftigkeit vorzustellen. Denn dem primitiven Denken fällt es sehr
schwer, Seele und Leib auseinander zu halten, und nur im Keime ist in ihm
der Dualismus von Leib und Seele enthalten. Diese dunkle Vorahnung
des Dualismus ist nach Ansicht des Verfassers der eine der
Hauptzüge der primitiven psychologischen An-
schauungen. Für diese sind die hervorstechendsten Merkmale der Seele
und des Lebens: 1. die Bewegungsfähigkeit, 2. das Atmen, 3. die Körper-
wärme. Die ersten Psychologien bis Aristoteles einschließlich sind vitalistisch,
sie sind Biologie. Sie berücksichtigen entweder eine dieser physiologischen
Funktionen, so Anaximenes das Atmen, Heraklit die Wärme, oder alle drei,
wie Demokrit und Aristoteles. Der zweite Charakterzug der
primitiven psychologischen Anschauungen ist die
naive Materialisation der Seele. Der primitive Denker,
der die Lostrennung der Seele vom Leibe vollzogen hat, fällt sogleich wieder
in die alten Bahnen zurück und verwechselt Leib und Seele. Die rein psychi-
schen Erscheinungen sind ihm fremd. Was er Seele nennt, ist die Gesamtheit
der physiologischen Erscheinungen. Die ,,rein psychische" Seele haben die
griechischen Philosophen, selbst Aristoteles, nicht entdeckt. Die Vor-
sokratiker und dann P 1 a t o bereiten das psychologische System des
Aristoteles vor, der als erster die Seele zum Gegenstand der speziellen
Wissenschaft der Psychologie macht. Aristoteles' Psychologie zeichnet sich
durch merkwürdige Lebensfähigkeit aus, sie lebt in verschiedenen Umge-
staltungen 2000 .Jahre, bis die Deskartessche Reform der Philosophie die
Psychologie in gänzlich andere Bahnen lenkt.
Des carte s sieht das Wesen der Seele im Bewußtsein, gibt ihr die
ganz neue Definition als res cogitans und trennt sie endgültig vom Körper
als gänzlich raumlos und immateriell. Zwei Jahrtausende brauchte die europäi-
sche Philosophie zum Übergang von Aristoteles zu Deskartes. Aber auch
506 Rezensionen.
Deskartes rechnet noch mit Aristoteles. In der zweiten Meditation, wo er
die Funktionen der Seele der Reihe nach durchnimmt, hält er sich an das
Aristotelische Schema von Tqsmixdv, xivrjtixöv, uicd tfTixov, 6iu.voi\xixöv
und vovg. Trotzdem ist die Verschiedenheit zwischen beiden eminent.
Während bei Aristoteles der vovg göttlich ist und dem Menschen von der
Gottheit nur leihweise auf einige Zeit gegeben wird, ist bei Deskartes die
cogitatio Eigentum des Menschen und wesentliches Merkmal der individuellen
menschlichen Seele. Der Idealismus, die Philosophie des Allgemeinen als
Grundlage der Psychologie wird seit Deskartes durch den kritischen Indivi-
dualismus ersetzt. Ferner ist cogitatio nicht nur Denken, sondern auch Be-
wußtsein. Während Aristoteles die Seele als eine organische Kraft in der
Natur betrachtete, lehrt uns Deskartes in der eigenen individuellen Seele
das lebendige, über allen Zweifel erhabene Ich zu sehen, das auf dem Wege
der unmittelbaren Beobachtung erschlossen wird. Bewußtsein und
individuelle Substanz sind die Grundlagen der
neuen Psychologie. Dank diesen Gesichtspunkten konnte Deskartes
die Einheit der Seele, die bei den Griechen verloren gegangen war, wieder-
herstellen. Er braucht die Teile und Schichten der Seele nicht mehr. Alle
Funktionen der Seele sind Bewußtseinsakte, die das substanzielle Ich aus
sich schafft und denen es dadurch die Einheit aufdrückt. Am besten können
wir die Kluft zwischen Aristoteles und Deskartes darin beobachten, daß
Aristoteles seine Psychologie auf der Metaphysik aufbaut, Deskartes um-
gekehrt die Metaphysik auf seine Psychologie gründet. Mit dem Fortschritt,
den die Psychologie bei Deskartes macht, hängt eine Schwäche der Deskartes-
schen Psychologie eng zusammen: Leib und Seele sind bei Deskartes aus-
einander gerissen, und die Wechselbeziehungen zwischen ihnen werden nicht
genügend erklärt. Dadurch erhält dieses Problem eine ganz neue Zuspitzung.
Locke setzt Deskartes' Arbeit fort, erhebt aber folgenden starken Ein-
wand gegen ihn: was ist denn unser Ich für eine Substanz, wenn es Momente
gibt, wie z. B. im Schlaf, wann es aufhört zu existieren ? Dieses Problem'
löst L e i b n i z. Bei Deskartes hatte das Bewußtsein einen qualitativen
Charakter: es ist res cogitans zum Unterschied von der res extensa. Leibniz
fügt den quantitativen Charakter hinzu, indem er nachweist, daß das Bewußt-
sein seiner Energie nach zu verschiedenen Zeiten nicht eine und dieselbe Größe
vorstellt, da es bald stärker, bald schwächer wird. Im Wachen ist es intensiver,
während des Schlafs erreicht es sein minimum, ist aber nicht = 0, wie Locke,
gemeint hatte. Nach den Gesetzen der Logik und Mathematik kann kein
Sein sich in 0 verwandeln. Auch der Tod bedeutet keinen absoluten Unter-
gang des Bewußtseins. Also ist das Bewußtsein eine variable und unendliche
Größe. Der Begriff der Seele erfährt durch Leibniz eine Umgestaltung, indem
in die Seele auch die Sphäre des Unbewußten oder richtiger schwach bewußten
eingeschlossen wird. Leibniz zieht die Schlüsse aus der Entdeckung Deskartes'
und begründet die metaphysische Psychologie.
Kant unterwirft die metaphysische Psychologie einer unerbittlichen
Kritik und weist ihre Hilfe bei der Lösung erkenntnistheoretischer Fragen
von der Hand. Darum weicht er von dem von Deskartes vorgezeichneten
kritischen Wege ab und errichtet ein unhaltbares Gebäude.
Rezensionen. 507
Locke kannte Leibniz' Entdeckung noch nicht. Die metaphysische
Seite der Psychologie interessierte ihn nicht. Ihn interessierte nur, was wir
beim vollen Lichte des Bewußtseins in der Seele haben, in die Tiefe, in die
Sphäre des Unbewußten steigt er nicht hinab. Er will erforschen, wie sich
das Bewußtsein entwickelt. Indem er dabei gegen Deskartes' angeborene
Ideen polemisiert, stellt er sich auch in Gegensatz zur modernen Anschauung
von der Vererbung. Bei der Aufnahme der Ideen verhält sich der Verstand
passiv. Dieses Prinzip wurde entscheidend für die englische Psychologie.
Die Aktivität des Verstandes beschränkt sich auf das Kombinieren der ein-
fachen Ideen zu zusammengesetzten, wobei wir nach Locke immer eine klare
Vorstellung von dem haben, was wir denken. Locke begründet die empi-
rische Richtung der Psychologie. Dabei will er aber Psycholog
ohne Philosophie sein, wie auch heute zahllose Psychologen, und ganz wie
diese findet er sich nicht im empirischen Material zurecht.
Den Zyklus der großen Psychologen beschließt H u m e. Er ist von
Deskartes, Leibniz und Locke abhängig. Von Locke ist er abhängig in der
Unterscheidung einfacher und zusammengesetzter Bewußtseinselemente.
Auf Deskartes und Leibniz ist die Unterscheidung von Impressionen und
Ideen vom Standpunkte der Intensität und Klarheit dieser Erscheinungen
des Bewußtseins zurückzuführen. Die Frage nach dem Ursprung der Im-
pressionen, ob sie, wie Locke wollte, Resultate äußerer Einwirkung oder wie
Leibniz lehrte, Erzeugnisse unserer Monade sind, wagt Hume nicht zu ent-
scheiden. Die Impressionen entstehen aus unbestimmten Ursachen, sind
zweifellos die primären Elemente des Bewußtseins und erzeugen aus sich
die Ideen, die nichts als schwache Abdrücke der Impressionen sind. In seiner
Theorie des Ich ist Hume originell, aber sie ist nicht gelungen. Seine Definition
des Ich als eines Bündels von Perzeptionen und sein Vergleich des Ich mit
einer Bühne zeugen davon, daß er das Ich nicht von der Gesamtheit der
Elemente des gegebenen Bewußtseinsmoments unterscheidet. Er vergißt,
daß es eines lebenden Ich bedarf, um das auf der Bühne vor sich Gehende
zu beobachten. Diese Theorie wiederholen die Positivisten, die die reale
Existenz des Ich leugnen. Das Ich ist für sie nichts als eine mechanisch ver-
knüpfte Serie von Bewußtseinserscheinungen. Trotzdem existiert die Idee
des Ich. Doch wo kommt sie her? Diesem Widerspruch entgeht man nur,
wenn man ein einheitliches und identisches Selbstbewußtsein anerkennt,
welches gleichmäßig in jedes Moment des Bewußtseins eingeht. Durch die
Anwesenheit des Ich ist die Existenz und der Verlauf des psychischen Lebens
in allen Erscheinungen des Bewußtseins bedingt. Daher ist das Ich
Substanz. Das ist die metaphysische Definition des
I c h. Die psychologische Definition des Ich lautet : das
Ich ist ein einheitliches Element des Bewußtseins,
welches notwendig mit ausnahmslos jedem andern
Bewußt seinselement in Beziehung steht.
Es ist sehr zu bedauern, daß dieses Buch dem deutschen Leser nicht
zugänglich ist. Besonders Studierenden könnte es von großem Nutzen sein,
P. B o k o w n e w.
508 Rezensionen.
Parodi, D.: Le probleme nioral et la pensee contemporaine. Paris 1910,
Alcan. 1 vol. in-12°. 210 p. 2,50 Fr.
Etüde historique et critique sur les principaux oourants de la morale
contemporaine en France, la morale biologique de Metchnikoff, la morale
sociologique de Levy-Bruhl, Durkheim et Belot, la morale des idees-forces
de Fouillee. L'etude historique est fine, exacte et profonde. L'etude critique
est dominee par certaines idees dont l'ensemble est expose dans un dernier
chapitre (164 — 200), sur lequel nous allons insister. C'est la doctrine d'un
rationaliste tres informe et quelque peu desabuse. La morale doit bien etre
rationnelle puisque l'honnete liorame s'effor9ant de choisir entre plusieurs
fins, cherche ä les juger impartialement, ce qui veut dire d'une fagon imper-
sonnelle et rationelle. Mais on sait, depuis Kant, les difficultes qui s'attachent
ä une morale simplement rationelle; eile reste formelle, ne fournit ä la volonte
aucune fin concrete; parce qu'elle est formelle, eile est inefficace; et parce
qu'elle est absolue, eile n'est susceptible, ni de progres, ni d'invention. Teiles
sont les difficultes et voici les reponses: il ne peut pas y avoir d'autre morale
qu'une morale formelle; nous ne pouvons suivre l'auteur dans sa penetrante
critique des principes materiels, le plaisir, l'utilite, le bonheur, le bien, l'obe-
issance ä la volonte divine. Contentons-nous de dire que pour lui ces pre-
tendus fins ou biens indiquent des conditions generales, auxquelles doit etre
conQue la fin de l'action, ou bien sont identiques ä la raison elle-meme. Mais
la raison dont il s'agit ici n'est pas une faculte capable de nous faire connaitre
a priori 1' ideal du bien; c'est seulement la faculte organisatrice et synthe-
tique, capable de decouvrir et de mettre de la coherence et de la legalite dans
les faits, capable de saisir la valeur universelle et par consequent obligatoire
de certains actes comme, dans la science, eile comprend l'universalite de
certaines relations. Mais comment donner couleur et vie ä la päle forme
rationnelle? II ne peut etre question de deduire, suivant la formule kantienne,
la matiere de la forme; c'est dans la vie elle-meme, dans les fins que propcse
la vie individuelle ou sociale que la raison choisit celle qui merite d'etre uni-
versalisee; on conQoit alors que cette fin, toute raisonnable qu'elle soit, varie
avec les moeurs et la civilisation ; cependant l'auteur admet une certaine
convergence et interpeneration entre les diverses fins choisies par la raison.
Mais ce choix n'est-il pas fatal ä l'acte qui en est l'objet? Dans la mesure
oü je le fais dependre de cemotif, qu'il est raisonnable, je l'isole de la vie, de
la motivation concrete et vraiment efficace; et en effet l'auteur n'a pas une
teile confiance dans la force du motif purement raisonnable, qu'il ne pense
devoir l'assister de tous les motifs extra moraux qui peuvent pousser dans
le meine sens. Si claire que paraisse d'abord sa pensee sur ce point, il reste
assez difficile de la degager; en effet, il semble indiquer deux voies au moins
pour renforcer le role de la raison dans la vie pratique: d'abord une sorte
de transformation de la raison en instinct, transformation qui implique une
certaine harmonie fonciere entre le fait et la nature d'une part, l'idee et la
raison de l'autre (et ceci est un postulat spiritualiste, p. 204, 205); et ensuite
une sorte d'appui sur des motifs qui sont par eux-memes entierement etran-
gers ä la raison. Peut-etre conviendrait-il de choisir entre ces deux voies:
Rezensionen. 509
affirme-t-on ou nie-t-on que la raison soit en elle-meme une force? Mais si
l'on accepte la seconde voie, oü peut-on prendre le droit de juger les mobiles
extra rnoraux par la force qu'ils mettent au Service de la raison? Or, lorsque
l'auteur (p. 198 sq.) prefere une morale laique ä une morale religieuse, les
motifs de solidarite sociale et de pitie aux motifs religieux, il senible bien
qu'il considere moins la force que le contenu des motifs. Cet ouvrage a du
moins le merite de ne pas cacher toutes les difficultes d'unir une raison par
elle-meme peu efficace ä une force qui ne contient encore que peu de raison.
Emile Brehier, Bordeaux.
Flournoy, Th.: La philosophie de William James; Saint Blaise. Foyer
solidariste, 1911. 1 vol. in-12°. 217 p. 2,50 Fr.
Conference faite ä l'association chretienne suisse d'etudiants, ä Sainte
Croix, dont certains points ont ete longuement developpes pour la redaction,
et ä laquelle fait suite un compte rendu des Varietes de l'Experience reli-
gieuse. C'est un expose extremement vivant, sympathique et clair des ten-
dances philosophiques de James. Tandis que 1' expose de M. Boutroux faisait
ressortir la methode philosophique du penseur americain et aboutissait a
y voir un rationalisme de grand style, M. Flournoy cherche surtout ä de-
crire la vision qu'il avait de l'univers. Nature d'artiste, remarquablement
apte ä saisir ce qu'il y a en chaque chose d'unique et d'irreductible, James
fut encourage dans cette tendance par son maitre Agassiz dont on connait le
mepris pour les idees generales. D'autre part de son pere, le reverend H. James,
ami de Carlyle et d'Emerson, il herita le sentiment profond et religieux du
serieux de la vie humaine. II serait difficile de savoir laquelle de ces deux
tendances etait predominante chez James, si son antirationalisme et son
empirisme radical peuvent etre consideres comme une introduction ä l'apo-
logetique religieuse qui le couronne, ou si ses croyances religieuses ä un Dieu
partie de l'univers et en rapport direct avec l'äme humaine ne sont pas l'abou-
tissement de son empirisme radical. L'horreur qu'il avait des systemes philo-
sophiques fermes, et aussi son dedain de la coherence des idees, discret einen t
indique par le Conferencier, expliquent l'indecision dans laquelle nous laisse
ä ce sujet la lecture des oeuvres de James. Au surplus, M. F., en montrant
comment la pensee de James va du pragmatisme ä l'empirisme radical, de
l'empirisme au pluralisme, du pluralisme au tychisme et au meliorisme, et
enfin du meliorisme au theisme semble indiquer que la possibilite d'une con-
viction religieuse raisonnable est la veritable cause finale du developpement
de la pensee de James. Mais a un autre point de vue la decouverte des verites
religieuses apparait comme une application de la methode empirique. Nous
ne voulons pas au reste analyser cette belle analyse, et nous nous conten-
terons d'indiquer d'interessants extraits de la correspondance de James
qui nous sont communiques dans les notes (p. 175, note 1; opinion de James
en 1892 sur Secretan et Renouvier; p. 179, n. 1, sur Fechner), et un parallele
interessant avec les doctrines de Bergson (p. 181 — 187).
Emile Brehier, Bordeaux.
510 Rezensionen.
Pierre Mandonnet: Des ecrits authentiques de S. Thomas d'Aquin.
2e edit. Fribourg. 1910. 158 p. in-8°.
Cet opuscule est indispensable, corome introduction ä l'etude du tho-
misme. La question d'authenticite est resolue par l'etude critique de quinze
catalogues des oeuvres de Saint Thomas, dont les plus importants datent
des vingt premieres annees du quatorzieme siecle. Ils sont ramenes pour
l'essentiel ä trois catalogues types, independants les uns des autres. Le plus
important est un catalogue „ofiiciel" qui a ete insere dans le proces de cano-
nisation du saint en 1319. II est divise en trois sections dont la premiere ren-
ferme les opuscules, la seconde les grandes publications, et la troisieme les
ouvrages rediges d'apres d'apres les notes des lecteurs. Un tableau com-
paratif (p. 104 sq.) resume en quelques pages les resultats de l'etude des cata-
logues. Emile Brehier, Bordeaux.
-"o"-
Davy, Georges: Durkheim. 1 vol. in-12° (de la collection: les Grands
philosophes francais et etrangers). Paris. Louis Michaud. 220 p.
Archambault, Paul: Hegel. 1 vol. de la meme collection. 222 p.
Petits volumes de vulgarisation, dont chacun contient une etude sur
l'auteur et sa doctrine, un choix de textes, une bibliographie sommaire et
quelques gravures. L'etude de M. Davy renseignera d'une facon precise et
assez complete sur la sociologie de Durkheim; l'auteur a, du Systeme qu'il
etudie, une connaissance tres approfondie. Mais pourquoi M. Archambault
a-t-il emprunte presque tous les textes de Hegel ä la mauvaise traduction
de Vera, dont l'obscurite est encore augmentee par des fautes d'impressions ?
Pourquoi n' a-t-il pas fait entrer dans son choix quelques pages de la si im-
portante Phenomenologie de l'Esprit, ouvrage non encore traduit?
Emile Brehier, Bordeaux.
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Bergmann, E-, Die Philosophie Guyaus. Leipzig, Klinkhardt.
Caffi, E-, Nietzsches Stellung zu Machiavellis Lehre. Wien, Virano.
Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Übers, von
Buchenau. Leipzig, Meiner.
Feigel, F., Der französische Neokritizismus und seine religiösen Folgerungen.
Tübingen, Mohr.
Kriegbaum, S., Der Ursprung der von Kallikles in Piatons Gorgias vertretenen
Anschauungen. Paderborn, Schöningh.
Köhler, P., Der Begriff der Repräsentation bei Leibniz. Bern, Franc ke.
Xef, W., Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. Berlin,
Simion.
Paulsen, F., System der Ethik. 9. und 10. Aufl. Stuttgart, Cotta.
Raab, F., Die Philosophie von R. Avenarius. Leipzig, Meiner.
Riehl, A., Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart. 4. Aufl. Leipzig,
Teubner.
Rohner, A, Das Schöpfungsproblem bei Maimonides, Albertus Magnus und
Thomas Aquino. Münster, Aschendorff.
Scharrenbroich, H., Nietzsches Stellung zum Eudamönismus. Bonn, Georgi.
Sieber, J., Carneri als Philosoph. Breslau, Marcus.
Spitzer, H., Untersuchungen zur Theorie und Geschichte der Ästhetik. Graz,
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Chatterton-Hill, Gr., The philosophy of Nietzsche. London, Ouseley.
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Charles, P., La metaphysique du kantisme. Paris, Riviere.
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rescence en medicine. Paris, Leclerc.
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Picavet, Essai sur 1' histoire generale et comparee des theologies et des philo -
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Poincare, H., Legons sur les hypotheses cosmogoniques. Paris, Herman.
Probst, J. H., Caractere et origine des idees du Bienheureux Raymond Lulle.
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Suali, Introduzione allo studio della filosofia indiana. Pavia, Mattei.
Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Bd. 149, H. 2. Müller,
Gedenkblatt zu Deutingers 100. Geburtstag, 24. März 1915.
Zeitschrift für positivistische Philosophie. Bd. 1, H. 1. Kern, Zur Er-
kenntnislehre der Marburger Schule. Der Inhalt der vier Haupt -
Schriften von R. Avenarius, von ihrem Verfasser selbst dargestellt.
Philosophisches Jahrbuch. Bd. XXVI, H. 2. Schmitfranz, Die Gestalt der
platonischen Ideenlehre in den Dialogen „Parmenides" und „Sophistes".
Rolfes, Zu dem Gottesbeweise des hl. Thomas aus den Stufen der
Vollkommenheit. Endres, Studien zur Geschichte der Frühscholastik.
Kopp, Die erste katholische Kritik an Kants Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten.
Kant-Studien. Bd. XVIII, H. 1—2. Messer, Zum 70. Geburtstag H. Siebecks.
Kuntze, Kritischer Versuch über den Erkenntniswert des Analogie-
begriffes. Buchenau, Bericht über den V. Kongreß für experimentelle
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Imag, Bd. II, H. 2. Hitschmann, Schopenhauer. Winterstein, Psychoana-
lytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie. Ferenczi,
Aus der „Psychologie" von H. Lotze.
Zeitschrift für Geschichte der Erziehung und des Unterrichts. Bd. IL, H. 1.
Schermann, Das Studium der Philosophie in der Deutschordensstadt
Mergentheim von 1754 bis 1804.
— H. 2. Herrmann, Friedrich Ast als Neuhumanist.
— H. 3. Kabitz, Die Bildungsgeschichte des jungen Leibhiz. Beiheft 3.
Eitle, Der Unterricht in den einstigen württembergischen Kloster-
schulen von 155G — 1806.
Die neuesten Erscheinungen a. d. Gebiete der Geschichte d. Philosophie. 513
The Monist. Vol. XXTTI, Nr. 2. Mark Twains Philosophy. Carus, H. Poin-
care on the relativity of space.
TIn Hibbert Journal. Vol. XT. Xr. 3. Royce, The Christian doctrine of life.
Carpenter, The buddhist doctrine of salvation. Galsworthy, The new
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Part et l'art paleolitique. Barat, La psychiatrie de Kraepelin, son
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Demimuid, Les premieres Dames de Charite au XVIT siede. Pacheu,
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position des trois „Opus". Ghellinck, Un catalogue des oeuvres de
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Zur Besprechung eingegangene Werke.
A. Deutsche Literatur.
Barthel, E-, Elemente der Transzendentalen Logik. Straßburg, DuMont
Schauberg.
Bühler, K., Die Gestaltwahrnehmungen. 1. Band. Stuttgart, Spemann.
Burckhard, G. E., Individuum und Allgemeinheit in Piatos Politeia. Halle.
Xiemeyer.
Driesch, H., Die Logik als Aufgabe. Tübingen, Mohr.
Eisler, R., Handwörterbuch der Philosophie. Berlin, Mittler.
Gabius, P., Denkökonomie und Energieprinzip. Berlin, Curtius.
Hasse, P., Das Wesen der Persönlichkeit. Meerane i. S., Herzog.
Heinemann, F., Der Aufbau von Kants Kritik der reinen Vernunft und das
Problem der Zeit. Gießen, Töpehnann.
Klüger, R., Die pädagogischen Ansichten des Philosophen Tschirnhaus.
Leipzig, Noske.
Kohler, J., Moderne Rechtsprobleme. Leipzig, Teubner.
Kraus, O., Piatons Hippias Minor. Prag, Taußig.
Kriegbaum, S., Der Ursprung der von Kalliklcs in Piatons Gorgias vertretenen
Anschauungen. Paderborn, Schöningh.
514 Zur Besprechung eingegangene Werke.
Kultur der Gegenwart, Die. Herausgegeben von P. Hinneberg. Teil T.
Abteilung V. Allgemeine Geschichte der Philosophie von Wilhelm
Wundt u. a. Zweite Aufl. Leipzig, Teubner.
Lipps, Th., Psychologische Untersuchungen. Leipzig, Engelmann.
Menzer, P., Einleitung in die Philosophie. Leipzig, Quelle Sc Meyer.
Meyer, G., Der Weltknoten. Straßburg, Heitz.
Michelitsch, A., Thomas-Schriften I. Wien, Styria.
Neumark, D., Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters. Berlin,
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Riehl, A., Philosophie der Gegenwart. 4. Aufl. Leipzig, Teubner.
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Liljekrantz, B., Höijers identitetsfilosofi. Lund, Gleerup (Leipzig, Harrasso-
witz).
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Bibliothek für Philosophie
Herausgegeben von Ludwig Stein
6. Band
Beilage zu Heft 2 des Archivs für Geschichte der Philosophie, Band XXVI
e1
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1
Wilhelm Wundts Stellung
zur Erkenntnistheori
Von
Dr. Willi Nef
(St. Gallen)
Preis .Hk. 1,80
B-
h.
BERLIN
SW48, Wilhelnistraße 121
Druck und Verlag von Leonliard S i m i o n N f .
1913
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ä
Dieses Heft wird den Abonnenten des Archivs tttr Geschichte der Philosophie
Wilhelm Wundts Stellung
zur Erkenntnistheorie Kants
Von
Dr. Willi Nef
(St. GaUen)
Preis Mk. 1,80
■H-
BERLIN
SW48, Wilhelmstraße 121
Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf.
1913
1
Inhalt.
Seite
Vorbemerkung 5
1. Kurze Übersicht über Wundts allgemeinen erkenntnistheoretischen
Standpunkt <
2. Wundts Ansicht über Kants historische Stellung 8
3. Der Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie. Subjekt und Objekt . . 11
4. Die Anschauungsformen Raum und Zeit 16
a) Die Analyse des Wahrnehmungsinhaltes 16
b) Die Apriorität der Anschauungsformen 21
c) Die objektive Bedeutung von Raum und Zeit 23
5. Die Stammbegriffe des Verstandes 25
a) Allgemeines 25
b) Die Substanz 28
c) Die Kausalität 33
d) Der Zweck 38
6. Erscheinung, Wirklichkeit und Ding an sich 41
<
Vorbemerkung.
Wundts Erkennntistheorie, wie sie in seinem „System der Philoso-
phie", seiner „Logik" und einzelnen kleineren Aufsätzen niedergelegt
ist, hat in der neueren philosophischen Literatur wenig Beachtung
gefunden. Der Grund hierfür mag darin Hegen, daß Wundt nicht,
wie dies heute meist üblich ist, seinen Ausgangspunkt von Kant ge-
nommen hat, um dann zu zeigen, in welcher Beziehung die Kantische
Erkenntnislehre teils der Berichtigung, teils der Fortbildung bedürfe.
Es mag deshalb einmal am Platze sein, Wundts Stellung zur Erkenntnis-
theorie Kants möglichst vollständig zusammenzustellen, um so allen,
die Wundt nach dieser Seite hin nicht beachtet oder mißverstanden
haben, den Weg in seine oft schwierigen Gedankengänge zu bahnen.
Denjenigen, die in der Erkenntnistheorie nicht wie Wundt von der
Erfahrung und den einzelnen Wissenschaften, sondern von Kant
ausgehen, werden auf diese Weise die Beziehungen klar werden, welche
dieser „Realismus" zu Kant besitzt. Wenn die folgenden Erörte-
rungen zwar zeigen werden, daß Wundt in wichtigen Grundfragen
der Erkenntnislehre von Kant abweicht, so wird der idealistische
Erkenntnistheoretiker doch auch wieder sehen, daß sich die realistische
Richtung Wundts in mancher Beziehung mit der Lehre Kants be-
rührt. Die folgenden Auseinandersetzungen begnügen sich mit
einer rein betrachtenden Darstellung von Wundts erkenntnis-
theoretischer Stellung zu Kant; kritische Erörterungen über diesen
Gegenstand hoffe ich einmal in einer Gesamtdarstellung derErkenntnis-
lehre Wundts geben zu können.1)
') Wundts System der Philosophie (Leipzig 1907 3) wird im Folgen-
den mit S, seine Logik (Stuttgart 1906 3) mit L, und die Kleinen Schriften
(Leipzig 1910, I.) mit Kl. Sehr, abgekürzt.
1
1. Kurze Übersicht über Wundts allgemeinen
erkenntnistheoretischen Standpunkt.
Wundts allgemeiner erkenntnistheoretischer Standpunkt läßt sich
in Kürze folgendermaßen zusammenfassen:
Die Erkenntnistheorie hat von dem uns unmittelbar gegebenen
objektiven Wahrnehmungsinhalte auszugehen, der mit dem Charakter
der Objektivität, der Realität gegeben ist. Aufgabe der Erkenntnis-
theorie ist, die gegebenen Vorstellungsobjekte einer wissenschaftlichen
Prüfung zu unterziehen, die gegebene objektive Realität zu bewahren,
wo diese vorhanden ist, und über ihre Existenz zu entscheiden, wo sie
dem Zweifel ausgesetzt ist. Die wissenschaftliche Analyse des Wahr-
nehmungsinhaltes führt dazu, den ganzen qualitativen Wahrnehmungs-
inhalt in das Subjekt zurückzunehmen, während' keine logischen
Gründe vorliegen, an der objektiven Realität der übrigen Eigen-
schaften des Wahrnehmungsinhaltes, an den Formen von Raum und
Zeit, an der Bewegung und an der zum Behufe einer widerspruchslosen
Verknüpfung des gesamten Wahrnehmungsinhaltes hypothetisch not-
wendig anzunehmenden Materie zu zweifeln. Die Folge der Zurück-
nahme der Empfindungsqualitäten in das Subjekt ist zunächst die,
daß unsere Vorstellungen nur noch als Symbole einer begrifflich auf-
zufassenden Realität zu gelten haben. Demgemäß muß unsere Gesamt-
erfahrung von zwei Standpunkten aus betrachtet werden: von dem
unmittelbaren anschaulichen und dem mittelbaren begrifflichen
Standpunkte aus. Die erste Art der Betrachtung ist die Aufgabe der
Psychologie, die zweite Art vertritt die Naturwissenschaft,
Was zunächst die mittelbare oder objektive Erfahrung betrifft,
so bieten für die erkenntnistheoretische Betrachtung die formalen Be-
griffe des Raumes und der Zeit, und die Wirklichkeitsbegriffe der
Substanz, der Kausalität und des Zweckes das wesentliche Interesse.
Raum und Zeit sind nicht subjektive Anschauungsformen, sondern sie
8 Willi Nef,
sind objektive Begriffe, die Substanz und die Kausalität sind zur Er-
klärung des widerspruchlosen Zusammenhangs der ganzen Erfahrung-
notwendig zu bildende Begriffe, der Zweck ist als subjektives Be-
urteilungsprinzip die Umkehrung der Kausalität und als objektives
Prinzip kommt er in allen mit Willensäußerungen verbundenen Er-
scheinungen in Betracht. Für die unmittelbare oder psychologische
Erfahrung fällt der Begriff der Substanz als zur Erklärung des psychi-
schen Zusammenhangs unnötig weg. Hingegen kommen hier der
Kausalität, die unter besondern, von der Naturkausalität abweichenden
Prinzipien steht und dem Zweck, der im Geistesleben die ausschlag-
gebende Rolle spielt, große Bedeutung als Erkenntnisprinzipien zu.
Für die Ableitung aller Erkenntnisprinzipien ist von maßgebender
Bedeutung das Zusammenwirken von anschaulichen (empirischen)
und logischen Motiven. Nur durch das Aufeinanderbezogensein von
Erfahrung und Denken ist überhaupt Erkenntnis möglich.2)
2. W u n d t s Ansicht über Kants historische
Stellung.
Um Kants allgemeine Stellung zum Erkenntnisproblem zu ver-
stehen, muß man sich darüber klar sein, daß sich die Streitfragen der
neueren vorkantischen Erkenntnislehre auf zwei im Grunde ge-
nommen verschiedenen Hauptgebieten bewegt haben, die aber sehr
zum Schaden der Klarheit bis auf den heutigen Tag in erkenntnis-
theoretischen Erörterungen nicht immer scharf auseinander gehalten
werden.
1. Aus den scholastischen Streitigkeiten zwischen Realismus und
Nominalismus war der Erkenntnistheorie die Aufgabe übergeben
worden, festzustellen, ob die transzendenten Glaubensobjekte zu
Gegenständen des Wissens erhoben werden könnten oder nicht. Diese
Frage beschäftigte die neueren Erkenntnistheoretiker seit Hobbes
und Descartes ebenso wie ihre älteren scholastischen Geistesverwandten.
Die eine Richtung, die man gewöhnlich als die empiristische bezeichnet,
die aber vielleicht besser die skeptische genannt würde, leugnete alles
Wissen transzendenter Ideen; ihr steht die gewöhnlich sogenannte
2) Die Hauptpunkte der Wundtschen Erkenntnislehre wurden hier
nur ganz kurz zur allgemeinen Orientierung vorausgeschickt.
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 9
*&
rationalistische oder vielleicht besser dogmatisch-ontologische Ansicht
gegenüber, welche gerade diese transzendenten Ideen als Gegenstände
einer notwendigen, der zufälligen Erfahrung vorausgehenden Er-
kenntnis nachzuweisen suchte. L. I. 379.
Diese Frage nach der Beweisbarkeit der Glaubensobjekte war
auch in Kants Erkenntnislehre die dominierende. Ihm gelang es, wie
keinem vor ihm, die Begriffsdialektik des Ontologismus zu durch-
schauen und darin, in der Zerstörung des Ontologismus durch seine
„transzendentale Dialektik" sieht Wundt eine „unvergängliche
Leistung'* Kants. L. I. 384. Es ist zwar allerdings ein bemerkens-
wertes Zeugnis für die transzendenten Neigungen des menschlichen
Geistes, daß dieser gleiche Denker, der den Ontologismus vernichtet
hat, dem Verhängnis, das Unerkennbare doch wieder in einen Gegen-
stand der Erkenntnis zu verwandeln, nicht entging. Gegenüber der
schroffen Ansicht Humes, nach welcher die übersinnliche Welt nicht
einmal Gegenstand eines Glaubens sein kann, handelte es sich für
Kant darum, die Rettung der Glaubensobjekte auf neuen Wegen zu
versuchen. „Den einen bot die praktische Philosophie dar; aber noch
einen anderen hoffte Kant zu finden, indem er den Nachweis zu führen
suchte, daß von uns hinter den Erscheinungen, die allein Gegenstand
der Erfahrungserkenntnis seien, ein „Ding an sich" vorausgesetzt
werde, das, transzendent, wie die Glaubensobjekte, wenn nicht als
ein theoretischer Beweis, so doch als ein Hinweis auf dieselben be-
trachtet werden müsse. Auf diese Weise meinte Kant die Ideen der
Freiheit, der Unsterblichkeit und der Gottheit aus Gegenständen des
Glaubens abermals in solche des Wissens umwandeln zu können, zwar
nicht eines Wissens, das den Inhalt dieser Ideen näher zu bestimmen
vermöge, wie es die ältere rationalistische Metaphysik versucht hatte,
sondern das auf die Überzeugung von ihrer realen Existenz sich be-
schränke." L. I. 383.
2. Neben dieser metaphysisch - erkenntnistheoretisehen Frage
über die Realität der transzendenten Glaubensobjekte ging besonders
seit Locke und Leibniz die spezifisch-erkenntnistheoretische Frage
nach der Entstehung der Erkenntnis aus empirschen und apriorischen
Elementen einher. Hier zeigen sich die eigentlichen Gegensätze
zwischen Empirismus und Rationalismus (Apriorismus). Immer
schärfer und konsequenter wandte sich der englische Empirismus von
Locke und Hume gegen den Apriorismus. Nach der Ansicht des
10 Willi Nef.
letzteren Denkers haben alle unsere wissenschaftlichen Sätze, selbst
die mathematischen Größen- und Zahlbegriffe ihre Quelle schließlich
in Sinneseindrücken. Unsere Überzeugung von der Realität der Er-
fahrung hängt vom Glauben an die Sinneseindrücke ab, ist also über-
haupt nur Glaubenssache. Die Begriffe sind identisch mit den Einzel-
vorstellungen. Da die beiden Fundamentalbegriffe der Substanz und
Kausalität nicht auf Einzelvorstellungen zurückgeführt werden
können, so erscheinen sie Hume als Produkte von Assoziationen, die
Substanz als eine simultane, die Kausalität als eine sukzessive Ver-
bindung von Vorstellungen. L. I. 381 f.
In diesen Streit zwischen Apriorismus und Empirismus greift
Kant ebenfalls ein, indem er einen Mittelweg einschlägt. „Mit den
Empirikern erklärt Kant, unsere Erkenntnis reiche genau so weit wie
die Erfahrung; er unterscheidet sich von ihnen aber dadurch, daß
er nachzuweisen sucht, wie die Erfahrung selbst durch a priori ge-
gebene Bedingungen des Denkens, Anschauungsformen und Begriffe,
geformt werde. Hatte selbst Hume den Größe-Zahl- und bis zu einem
gewissen Grade auch den Raumbegriffen eine Gewißheit zugeschrieben,
die er aus der, wenn auch durch die Erfahrung angeregten, so doch
schließlich subjektiv vor sich gehenden Entstehung dieser Begriffe
ableitete, so betrachtete Kant schon die Voraussetzungen jener
mathematischen Begriffe, den Raum und die Zeit, als a priori in uns
liegende Anschauungsformen. Wie aber auf mathematischem Gebiete
die Evidenz, so schien ihm bei aller Erfahrung der an die Gesetze
des Geschehens sich knüpfende Begriff der Notwendigkeit auf Be-
dingungen a priori hinzuweisen, die in die Erfahrung eingehen. So
gewann Kant seine Stammbegriffe des Verstandes, bei deren Unter-
suchung auch ihm sichtlich der Begriff der Kausalität als Leitstern
gedient hat, an den sich zunächst derjenige der Substanz anschloß,
während die andern zum Teil erst durch die Ableitung aus den logischen
Urteilsformen hinzukamen, worauf endlich dieses ganze System der
Kategorien durch die mit vieler Mühe konstruierte Beziehung zu den
allgemeinen Formen der Zeitanschauung seine tiefere Begründung
fand. Der Streit zwischen Empirismus und Rationalismus war damit
für Kant in einer vermittelnden Weise entschieden, indem ihm alle
Erkenntnis gleichzeitig gebunden war an einen empirisch gegebenen
Inhalt, den Stoff der Empfindung, und an a priori gegebene Formen,
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 11
die Anschauungsformen und Kategorien, die ihrerseits wieder durch
jenen „Schematismus der Zeit" untrennbar verbunden waren."
L. I. 383 f.
3. Der Ausgangspunkt der Erkenntnistheorie.
Subjekt und Objekt.
Gegenüber dem einseitigen Empirismus Humes versuchte Kant
in seiner Erkenntnislehre die Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit
der Erkenntnisse, die er aus bloßer Erfahrung nicht für nachweisbar
hielt, dadurch zu retten, daß er dem Erfahrungsstoff der Empfindungen
die apriorischen Formen von Raum und Zeit und der Verstandes-
begriffe entgegenstellte. So stehen der Empfindungsinhalt, der auf
ein unbekanntes Ding an sich hinweist, von dem das Gemüt affiziert
wird und die apriorischen Erkenntnisformen als objektive und sub-
jektive Faktoren des Erkenntnisvorganges einander gegenüber.
Auf diese Weise erscheinen das erkennende Subjekt und das gegebene
Objekt, das vom Subjekt im Erkenntnisvorgange geformt wird, als
von Anfang an von einander getrennt, und der Erkenntnislehre kommt
die Aufgabe zu, zwischen Subjekt und Objekt eine Brücke zu schlagen.
Die ursprüngliche Trennung von Subjekt und Objekt ist nach der
Ansicht Wundts ein von vorneherein verfehlter Ausgangspunkt der
Kantschen wie auch anderer philosophischer Erkenntnistheorien.
Unser Denken ist von Anfang an Erkennen, d. h. es ist verbunden mit
der Überzeugung von der Wirklichkeit der Gedankeninhalte. Die ur-
sprüngliche Einheit von Denken und Erkennen ist daher zugleich eine
Einheit den Denkens und Seins. Unser Erkennen ist anfänglich un-
mittelbar eins mit seinem Gegenstande. „Unsere Vorstel-
lungen sind ursprünglich selbst die Objekte.'"
S. I. 79. Dabei ist in dem ursprünglichen Vorstellungsobjekt der Be-
griff eines dem Subjekt gegebenen Objektes noch nicht enthalten,
sondern jenes ist ein vollkommen einheitlicher realer Erkenntnisinhalt.
Als solcher ist es zunächst nur Objekt. „Darum ist es nun aber auch
nicht zulässig, jenes primäre Vorstellungsobjekt als ein Etwas zu
bezeichnen, welches Objekt und subjektive Vorstellung zugleich
sei und damit die Verbindung von Subjekt und Objekt als eine jeder
Erkenntnisentwicklung vorausgehende Koordination und diese als
eine Urtatsache des Bewußtseins zu betrachten." S. I. 80.
12 Willi Nef.
Von der Stufe des naiven Erkennens, in welcher die Vorstellung-
zugleich das Objekt ist, schreitet das Erkennen allerdings zur re-
flektierenden Form weiter, die das Objekt der Vorstellung als ein von
dieser selbst verschiedenes ihr gegenüberstellt. Eine Rückkehr zur
ursprünglichen Stufe ist freilich unmöglich. „Doch in der richtigen
Überzeugung von dieser Unmöglichkeit begeht die gewöhnliche philo-
sophische Weltansicht den Fehler, daß sie die Brücke ganz hinter sich
abbricht. Sie hält ihren Standpunkt reflektierenden Erkennens für
den ursprünglichen, aus dem möglicherweise eine niemals dagewesene
Einheit von Denken und Sein dereinst einmal gewonnen werden
könne: statt einzusehen, daß diese Einheit im Anfang gegeben war,
daß sie aber dem reflektierenden Erkennen unwiederbringlich verloren
gegangen ist." S. I. 82. Fallen Objekt und Vorstellung ursprünglich
auseinander, so bedarf es besonderer Merkmale an dem Objekt und
an der Vorstellung, die eine Bürgschaft dafür bieten, daß beide einander
wirklich entsprechen. Doch sind alle diese Versuche, solche Merkmale
aufzufinden, erfolglos. „Es ist, sobald einmal Objekt und Vorstellung
als ursprünglich verschiedene Tatsachen in der Welt des Wirklichen
angenommen sind, schlechterdings nicht mehr möglich, von der einen
zur andern hinüberzugelangen, obgleich doch unser fortwährendes
Beziehen der Vorstellungen auf die Objekte und der Objekte auf die
Vorstellungen dazu immer wieder auffordert. Das endgültige Ein-
geständnis dieses Unvermögens, zwischen jener völlig bekannten
Tatsache der Vorstellung und dieser völlig unbekannten eines Objektes
derselben eine Beziehung zu finden, besteht daher in der Fiktion eines
„Dinges an sich". Der objektslosen Vorstellung steht hier der Be-
griff eines Objektes, das niemals Vorstellung werden kann, als ihre
Ergänzung gegenüber. Doch die Unnatur beider Begriffe zeigt sich
auf das handgreiflichste darin, daß die objektslose Vorstellung und
das nicht vorstellbare Objekt gleichwohl aufeinander bezogen werden
sollen, indem die Vorstellung völlig von dem Ding verschieden sein
und dennoch auf dasselbe hinweisen soll. Die Annahme eines solchen
Hinweises stützt man aber auf nichts anderes als eben darauf, daß
das Merkmal Objekt zu sein der Vorstellung ursprünglich zukommt.
Unversehens fällt also hier die reflexionsmäßige Auffassung in den
naiven Standpunkt zurück. Behält sie dabei auch noch die von ihr
gewonnenen Unterscheidungen bei, so verwandelt sich das Ding an sich
in die Ursache unserer Vorstellungen. Eine seltsame Vermengung
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 13
unvereinbarer Gesichtspunkte! Handelt es sich doch bei Ursache
und Wirkung um das Verhältnis gleichartiger Glieder eines Ganzen
der Erfahrung, nicht um Beziehungen zwischen disparaten Begriffen,
von denen der eine jenseits aller Erfahrung hegt." S. I. 83 f.
Wenn man nun auch dem Denken, das die Stufe der Reflexion
erreicht hat, nicht zumuten kann, wieder zu der naiven Auffassung
zurückzukehren, so ist doch an das Denken immer die Forderung
zu stellen, daß jede Vermengung der Reflexionsbegriffe mit der ur-
sprünglichen Anschauung vermieden werde. Der Transzendentalismus
steht mit dieser Forderung nicht im Einklang. „Die transzendentale
Erkenntnislehre ist objektiver Realismus, insofern sie ein unabhängig
von der Vorstellung existierendes Ding annimmt; und sie ist subjektiver
Idealismus, da sie alles Erkennen nicht auf dieses Dhig, sondern auf
die Vorstellungen von Objekten als die Erscheinungswelt des Subjektes
bezieht. In ihren Begriffskonstruktionen nimmt sie daher auch ganz
den Weg des subjektiven Idealismus. Nur so viel hat sie von den
Voraussetzungen des objektiven Realismus beibehalten, um alles
Wissen, das auf diesem Wege subjektiver Begriffsbildung hervor-
gebracht wird, in ein fragwürdiges zu verwandeln, da es sich nie auf
die unbekannten wirklichen Dinge, sondern bloß auf die Erscheinungs-
welt des denkenden Subjektes beziehen könne." S. I. 86 f.
Von dem Vorstellungsobjekt, dem die Bedeutung des realen
Seins ursprünglich zukommt, hat also nach der Ansicht Wundts die
Erkenntnistheorie auszugehen. Wohl können sich durch die Be-
arbeitung des Vorstellungsobjektes logische Motive ergeben, die uns
nötigen, Eigenschaften des Vorstellungsobjektes ihrer Objektivität
zu entkleiden und in das Subjekt zurückzunehmen. Doch darf uns
dies nicht dazu verleiten, die ganze Wirklichkeit zu zerstören, um sie
dann mit Hilfe des bloßen Denkens wieder herzustellen. „Diese Ver-
suche sind von vornherein zur Ohnmacht verurteilt. Die zerstörte
Wirklichkeit läßt sich mit Hilfe des bloßen Denkens nicht wieder-
herstellen. Das einzige Ergebnis solchen Beginnens bleibt daher ein
fruchtloser Subjektivismus, gleichgültig, ob er offen Farbe bekennt,
oder ob er durch das Zugeständnis einer „Erscheinungswelt'", hinter
der sich ein unerkennbares Sein verbergen soll, eine Art relativer Wirk-
lichkeit zu retten sucht." S. I. 91.
So können wir denn sagen, daß der Weg, den die Erkenntnis-
theorie zu gehen hat, gerade der umgekehrte desjenigen ist, den Kant
14 Willi Nef.
und die spekulative Philosophie eingeschlagen haben. „Nicht objektive
Realität zu schaffen aus Elementen, die selbst solche noch nicht ent-
halten, sondern objektive Realität zu bewahren, wo sie vorhanden,
über ihre Existenz zu entscheiden, wo sie dem Zweifel ausgesetzt ist:
dies ist die wahre und die allein lösbare Aufgabe der Erkenntnis-
wissenschaft. Die alte Regel: aus nichts wird nichts, behält auch hier
ihre Geltung. Wo keine Wirklichkeit ist, läßt sich mit allen Künsten
logischen Scharfsinns keine zuwege bringen. In Wahrheit erfüllt
daher die Erkenntnislehre, wenn sie nach jenem Grundsatze handelt,
nur ein Postulat, das die Einzelwissenschaften auf ihren besonderen
Gebieten bereits stillschweigend befolgt haben." S. I. 91 f. vgl. auch
L. I. 407 ff.
Nach der ganzen Ausdrucksweise Kants in der ersten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft mußte man dazu verführt werden, die
Anschauungsformen und die Kategorien als subjektive Formen im
Sinne des gewöhnlich sogenannten, subjektiven Idealismus" zu halten.
Denn es finden sich zahlreiche Stellen, die auf eine solche Auffassung
Kants schließen ließen. ,,So werden Raum und Zeit als Bestimmungen
oder Verhältnisse der Dinge bezeichnet, „die nur an der Form der
Anschauung allein haften und mithin an der subjektiven
Beschaffenheit unseres Gemüts, ohne welche diese
Prädikate gar keinem Ding beigelegt werden können." So wird ferner
von den Kategorien hervorgehoben, daß sie sich auf einen „Gegen-
stand" beziehen, „der bloß in uns ist, weil eine bloße Modifikation
unserer Sinnlichkeit außer uns gar nicht angetroffen wird." Kl. Sehr.
I* 189. Diese Anschauungen, die noch durch den Umstand verstärkt
wurden, daß Kant auf das nachdrücklichste den Stoff der Empfindung
als einen „gegebenen" von den dem erkenneden Subjekt angehörenden
Formen der Ordnung und Auffassung der Dinge trennte, übten eine
starke Macht auf die spätere Fortbildung des Erkenntnisproblems aus.
„Je mehr nun diese Formen als fertig vorhandene, keiner weiteren Ab-
leitung zugängliche von ihm angesehen wurden, um so mehr mußte
hier die falsche Vorstellung sich unterschieben, die Unterscheidung
von Subjekt und Objekt gehe aller Erfahrung voraus, eine Vorstellung,
zu der überdies Kants Ansicht, daß das „Bewußtsein unserer eigenen
Existenz" früher sei als jede äußere Erfahrung, fast mit Notwendig-
keit hindrängte." Kl. Sehr. 1. 189 f.
An einer Stelle der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft,
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 15
in der der Widerlegung des Idealismus gewidmeten Partie, vertritt
nun Kant eine realistischere Ansicht, indem er der unmittelbaren Er-
fahrung objektive Realität beimißt. Dabei muß man allerdings zu-
gestehen, daß bei Kant dieser Gedanke von dem unmittelbaren Ge-
gebensein der äußeren Erfahrung möglicherweise erst durch das
Bestreben, den Unterschied seiner Lehre von derjenigen Berkeleys so
klar wie möglich hervorzuheben, in ihm angeregt worden ist. Mit
diesem in der Widerlegung des Idealismus ausgesprochenen Haupt-
gedanken von der unmittelbaren Realität der äußeren Erfahrung fühlt
sich Wundt völlig einig. „Alle Zeitbestimmung", sagt er (nämlich
Kant), „setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus. Dieses
Beharrliche kann aber nicht etwas in mir sein, weil eben mein Dasein
in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann.
Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding
außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dings
außer mir möglich." Und von diesem der „Widerlegung des Idealismus"
gewidmeten Beweise meint er, daß in ihm „das Spiel, welches der
Idealismus trieb, ihm mit mehreren Rechte umgekehrt vergolten wird."
„Dieser nahm an, die einzige unmittelbare Erfahrung sei die innere,
und daraus werde auf äußere Dinge nur geschlossen. Allein
hier wird bewiesen, daß äußerliche Erfahrung eigent-
lich unmittelbar sei, daß nur vermittels ihrer, zwar nicht
das Bewußtsein unserer eigenen Existenz, aber doch die Bestimmung
derselben in der Zeit, d. h. innere Erfahrung, möglich sei." (System.
Vorstellung aller synthetishcen Grundsätze, Postulate des empir.
Denkens. 2. Auflage. Widerlegung des Idealismus.) Kl. Sehr. I. 187.
Nach der Ansicht Wundts „kann es wahrlich nicht klarer und deutlicher
gesagt werden, als es von Kant in der obigen Stelle geschieht, daß
die Erfahrung objektiv gegebener Gegenstände eine unmittelbare
ist, nicht erst auf Schlüssen oder sonstigen das Objekt erst wieder
aus dem Subjekt hinausversetzenden Funktionen beruht. Das ist
aber genau dasselbe, was ich mit den Worten ausgedrückt habe: „Dem
ursprünglichen Vorstellungsobjekt kommt das Merkmal Objekt
zu sein unmittelbar zu, und die Trennung von Vorstellung und Objekt
ist erst ein späterer Akt des unterscheidenden Denkens." Kl. Sehr.
I. 188.
So sehr sich nun aber auch in der angeführten Stelle der zweiten
Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine realistischere Färbung
16 Willi Nef.
der Kantischen Erkenntnislehre zeigt, so ist der Grundgedanke, der
durch das Werk geht, doch der, daß sich unsere Erkenntnis aus dem
gegeben Stoff der Empfindung und den subjektiven Formen von
Raum und Zeit und den Verstandsbegriffen bilde. Den An-
schauungsformen und den Verstandsbegriffen schreibt Kant
apriorische Bedeutung zu, da er nur auf diese Weise die allgemein
gültige und notwendige Erkenntnis retten zu können glaubt. Sehen
wir nun zu, wie sich Wundt zu diesen fundamentalen Teilen der
Kantischen Erkenntnislehre, zur Lehre der Anschauungs- und Ver-
standesformen stellt.
4. Die A n s c h a u u n g s f o r m e n R a u m und Z e i t.
a) Die Analyse des Wahrnehmungsinhaltes.
Nach Kant sind Raum und Zeit Anschauungsformen a priori.
Sie müssen jeder einzelnen Wahrnehmung vorausgehen, da wir keinen
Gegenstand wahrnehmen können, ohne ihn räumlich und zeitlich zu
ordnen. Wenn Kant Raum und Zeit als transzendentale Formen
bezeichnete, so will aber dieser Ausdruck nicht etwa bedeuten, daß
sie als leere Formen in uns liegen, sondern daß sie Funktionen des
Bewußtseins sind, die erst in dem Augenblick in Wirksamkeit treten,
wo uns Empfindungen gegeben werden Daraus folgt, daß auch die
Empfindungen niemals ohne jene ordnenden Formen gegeben sind.
Die Begriffe der reinen Empfindung und der reinen Raum- und Zeit-
anschauung sind Abstraktionen. „Bei der reinen Empfindung ab-
strahieren wir ebenso von der Raum- und Zeitform, wie umgekehrt
bei dieser von dem Empfindungsinhalte, ohne den uns nie der Raum
und die Zeit in der Wirklichkeit gegeben sein können.'1 Kl. Schi-.
I. 158).
Hier sehen wir zunächst wieder deutlich, wie Kant zwischen
dem Empirismus und dem Rationalismus Mitten inne steht und wie er
in der Analyse des Wahrnehmungsinhaltes über beide hinausgeht.
Kant wies nach, wie Raum und Zeit weder mit zu der Materie der
Empfindung gehören, wie der Empiriker Locke vorausgesetzt hatte,
noch daß sie a priori in uns liegende, völlig ohne sinnliches Substrat
denkbare Begriffe sind, wie die ältere rationalistische Philosophie
annahm. „Im Gegensatz zu beiden stellte Kant fest, daß Raum und
Zeit durchaus anschaulich seien, da sie unmittelbar in jede
Wilhelm Wundta Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 17
sinnliche Wahrnehmung einsehen und ohne eine solche gar nicht von
uns vorgestellt werden können, daß sie aber zugleich eine von der
Empfindung wesentlich verschiedene Bedeutung besitzen, da sie
eben ordnende Formen der Empfindung, d. h. nicht selbst Emp-
findungen sind; und insofern sie zu jeder Wahrnehmung gefordert
werden, nannte sie eben Kant apriorische Formen. Freilich aber hatte
dieses a priori bei ihm einen ganz andern Sinn als in dem älteren
Apriorismus. Es konnte, da die Anschauungsformen immer nur in den
einzelnen sinnlichen Wahrnehmungen wirksam werden, nur bedeuten:
das allen einzelnen Wahrnehmungen Gemeinsame, für sie Allgemein-
gültige." Kl. Sehr. I. 158 f.
Gegenüber diesen verdienstlichen Leistungen Kants sucht Wundt
die kritische Analyse des Wahrnehmungsinhaltes mit Rücksicht auf
Raum und Zeit weiterzuführen. Ist jede sinnliche Wahrnehmung
ein räumlich-zeitlich geordneter Komplex von Empfindungen, so er-
hebt sich die Frage, welches die logischen Motive sind, die uns ver-
anlassen, die Anschauungsformen und die Materie der Empfindungen
und des weitern die beiden Anschauungsformen voneinander zu
sondern. Das ist eine Frage, auf die Kant nicht eingegangen ist.
Der Grund zur logischen Zerlegung aller Wahrnehmungen in
einen stofflichen und in einen formalen Bestandteil liegt in der un-
abhängigen Variation der materialen und formalen Bestandteile und
in der Konstanz der allgemeinen Eigenschaften der formalen Bestand-
teile. Die formalen Bestandteile Raum und Zeit können nicht geändert
gedacht werden, ohne daß zugleich eine Änderung in dem Stoff der
Empfindungen eintritt, während der letztere sich völlig verändern
kann bei konstant bleibender Raum- und Zeitform. ,,Ein beliebiger
Körper z. B. kann seine Farbe ändern, während seine geometrischen
Eigenschaften nicht im geringsten variiren: aber er kann nicht seine
Gestalt ändern, ohne daß entweder vorhandene Empfindungen ver-
schwinden oder neue entstehen. Wie der Raum zu den einzelnen
gegenständlichen Vorstellungen, so verhält sich nun die Zeit zu der
Vorstellung des Geschehens: wir können uns inhaltlich sehr ver-
schiedene Ereignisse in einem und demselben Zeitverlauf denken:
wir können uns aber nicht den Zeitverlauf geändert denken, ohne daß
sich damit die Eigenschaften des Geschehens selbst ändern, indem
auch dann, wenn dieses qualitativ konstant bleibt, jetzt die nämlichen
Zeitteile mit andern Wahrnehmungsinhalten zusammenfallen. " S. I.
Archiv für Geschichte der Philosophie (Beilageheft). 2
18 Willi Nef.
105. Da s entscheidende Motiv für die weitere logische Sonderung der
Raum- und Zeitform voneinander liegt in der Tatsache, daß beide
Formen wieder unabhängig voneinander veränderlich sind, indem
zeitliche Änderungen am Empfindungsinhalt ohne begleitende räum-
liche, nicht umgekehrt räumliche ohne zeitliche denkbar sind. „Jener
Ohne begleitende räumliche Veränderung geschehende Zeitverlauf
vollzieht sich dann, wenn in einem gegebenen Wahrnehmungsinhalt
bloß die Qualität der Empfindung wechselt." L. I. 474. Jede Ver-
änderung der räumlichen Ordnung eines Wahrnehmungsinhaltes wird
aber zugleich als ein zeitlicher Vorgang wahrgenommen. Dagegen läßt
sich umgekehrt der Raum in seinen bloß formalen Eigenschaften
ohne Rücksicht auf die Zeit, nicht aber die Zeit als ein bloß formaler
Vorgang ohne Herbeiziehung des Raumes betrachten. „Darum gibt
es zwar eine reine Raumlehre, die Geometrie, aber keine reine Zeit-
lehre, so daß die abstrakte Behandlung des Zeitbegriffs allein in der
Bewegungslehre, also in zeitlich-räumlicher Form möglich ist." Kl.
Sehr. 1.160. Vgl. zu dieser ganzen Betrachtung: System, I. 104 ff.,
113 ff., L. 1.473 f.3)
Diese logischen Unterscheidungen sind natürlich nicht etwa
passive Erlebnisse, sondern willkürliche, von logischen Erkenntnis-
motiven bestimmte Eingriffe des Beobachters in seinen Anschauungs-
inhalt, Dabei betätigen sich die im Hintergrund solcher Unterschei-
dungen und Beziehungen stehenden logischen Erkenntnisprinzipien
der Identität, des Widerspruchs und des Grundes in vollkommen an-
schaulichen Differenzierungen und Verknüpfungen. „Das ist weg-
weisend für die Erkenntnisfunktionen überhaupt. Sie sind in den For-
men, die sie auf Grund der logischen Analyse der Erkenntnismotive
3) „Jene intensive Seite der Zeitanschauung ist offenbar die Quelle der
Auffassung Kants, der in der Zeit die Anschauungsform des inneren
Sinnes sieht, einer Auffassung, die aus einem doppelten Grunde unzu-
länglich ist: einmal weil sie innere und äußere Erfahrung wie zwei verschiedene
Erfahrungsgebiete einander gegenüberstellt, während dieselben doch nur
Abstraktionen aus einer und derselben realen Erfahrung sind und sodann,
weil bei ihr das logische Motiv der Trennung der Zeit- von der Raum-
anschauung im Hintergrunde bleibt. Dagegen zeigt dieses, daß gegenüber den
veränderlichen Erscheinungen die Zeit die allgemeinere Anschauungsform
ist, da es rein zeitliche Veränderungen ohne begleitende räumliche gibt, während
die rein räumliche, d. h. bei konstanter Empfindungsqualität zustande
kommende Veränderung immer zugleich eine zeitliche ist." L. I. 474.
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 19
'e
gewinnen, stets nur logische Abstraktionen aus vollkommen anschau-
lich gegebenen Vorgängen, die in letzter Instanz auf ein willkürlich
von dem erkennenden Subjekt auszuführendes und dabei dennoch
durch die Bedingungen der Anschauung selbst gefordertes Gedanken-
experiment zurückgehen." Kl. Sehr. 1. 163.
Dabei nehmen nur die Begriffe von Raum und Zeit und die mit
ihnen zusammenhängenden Modifikationen des Bewegungsbegriffes eine
eigenartige Stellung ein, als die in ihnen latenten logischen Motive
schon im vorwissenschaftlichen Denken zu einer Sonderung der in der
Wahrnehmung gegebenen Inhalte in ihre begrifflichen und doch in
diesem Falle durchaus anschaulichen Substrate geführt haben. „Eben
dieser noch durch und durch anschauliche Charakter der Begriffs-
bildungen hat ihnen im Unterschied von den sogenannten „Stamm-
begriffen des Verstandes" bei Kant den Namen der Anschauung s-
formen verschafft." KL Sehr. I. 163.
Diese sogenannte reine Raum- und Zeitanschauung kann aber nur
in dem Sinne eine Anschauung genannt werden, als wir uns einen be-
liebigen, übrigens völlig homogenen Inhalt vorstellen. „Sie ist aber
ein Begriff, sobald sich mit dieser Vorstellung der Gedanke ver-
bindet, der zur Vergegenwärtigung der Form gewählte Inhalt sei ein
gleichgültiger, und statt seiner könne daher jeder andere gewählt
werden." S. I. 106. „Mag man aber auch wegen jener wichtigen Eigen-
schaft der beliebigen Variation des Empfindungsinhaltes bei konstant
erhaltener Form den Ausdruck Anschauungsformen beibe-
halten, so darf damit doch keineswegs die Voraussetzung verbunden
werden, diese Formen seien nicht zugleich Begriffe. Viel-
mehr liegt gerade in dem mit jeder konkreten Verwirklichung der
Raum- und Zeitanschauimg sich verbindenden Gedanken, daß der ge-
wählte Empfindungsinhalt an sich für das Denken der Form gleich-
gültig sei, das Kriterium einer wahren Begriffsbildung." S. I. 106 f.
Vgl. zur begrifflichen Natur von Zeil und Kaum: L. I. 474 f.; 484,
490 ff.
Im Anschluß an die logische Unterscheidung der Kaum- und Zeit-
form vom E Qpfindungsinhah ergibt sich als weitere Eigenschaft der
Anschauungsformen ihre Konstanz. Denn erst als die Unab-
hängigkeit von Raum und Zeit von dem Empfindungsinhalte klar
gelegt war, konnte die Vorstellung entstehen, der Inhalt sei über-
haupt für die Eigenschaften der Kaum- und Zeitform gleichgültig,
2*
20 Willi Ne f.
und es müsse daher für die Betrachtung dieser gestattet sein, sie von
einem überall gleichartigen Inhalt erfüllt zu denken. S. I. 106.
„Auf dieser beliebigen Wahl des Empfindungsinhaltes beruht nun
ganz und gar jenes für die selbständige Behandlung der Anschauungs-
formen wichtigste Merkmal der Konstanz ihrer Eigenschaften. Die
Eigenschaften von Kaum und Zeit werden konstant gedacht,
weil wir uns jeden beliebigen Raumteil aus dem ihn umgebenden
Räume, jeden beliebigen Zeitteil aus dem Zeitverlauf, zu dem er ge-
hört, herausgelöst und an einer andern Stelle des Raumes und der
Zeit ohne Veränderung eingefügt denken können. Raum und Zeit
sind also überall kongruent mit sich selber, und es läßt sich kein
Empfindungsinhalt denken, der nicht räumlich und zeitlich geordnet
wäre." S. 1. 107. Vgl. L. I. 470, 502.
Auf dieser Konstanz der Anschauungsformen beruht nun auch
die von Kant so stark betonte Notwendigkeit , die wir dem
Raum und der Zeit und den damit zusammenhängenden Sätzen der
Geometrie und reinen Phoronomie beilegen. Nach Kant ist diese
Notwendigkeit eine unmittelbare Folge der Apriorität der reinen Raum-
und Zeitanschauung, da uns der empirische Empfindungsinhalt immer
als zufällig, das Apriorische aber, das als formale Bedingung in jede
Erfahrung eingeht, als notwendig gegeben sei. Nun können aber diese
formalen Bedingungen nur mittels bestimmter Merkmale als reine
Formen erkannt werden. „Sie bilden, während der Stoff der Empfin-
dungen fortwährend wechseln kann, die in ihren allgemeinen Eigen-
schaften konstant bleibenden Faktoren der Wahrnehmung. Aus
dieser Konstanz folgt aber von selbst, daß sich keine Vorstellung ohne
sie denken läßt. Denn wir können selbstverständlich in unseren Vor-
stellungen immer nur von denjenigen Bestandteilen abstrahieren, die
möglicherweise auch in der wirklichen Erfahrung durch andere er-
setzt werden können. Nie aber können wir uns Bestandteile hin-
wegdenken, die tatsächlich niemals fehlen. Diese müssen wir daher
nunmehr als solche auffassen, die, wie Kant sich ausdrückt, „Erfah-
rung allererst möglich machen." Wollte man annehmen, die Not-
wendigkeit der Anschauungsformen sei anders denn als eine tatsäch-
liche und unaufhebbare Konstanz in der Anschauung zu denken,
so müßte man nachweisen, daß die Anschauungsformen aus irgend-
welchen der Anschauung selbst vorausgehenden Bedingungen ab-
geleitet werden könnten. Dies hat Kant nicht versucht, ja er hat aus-
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 21
drücklich abgelehnt, daß es möglich sei. Denn er sagt: „Raum und
Zeit werden uns als Formen a priori gegeben." Da sie uns nun
niemals als leere, ohne jeden Empfindungsinhalt vorstellbare Formen
gegeben werden, so können sie eben nur in der aus Empfindung und
räumlich-zeitlicher Form zusammengesetzten Anschauung gegeben
sein. Daraus folgt aber unweigerlich, daß die Notwendigkeit dieser
Formen aus ihrer Konstanz, nicht umgekehrt die Konstanz aus ihrer
Notwendigkeit abgeleitet werden kann." Kl. Sehr. 1. 165 f.
So leitet Wim dt die Notwendigkeit von Raum und Zeit
aus der Konstanz, d. h. also aus der Erfahrung ab. Kant glaubte, daß
Erfahrungsurteilen niemals der Charakter der Notwendigkeit zu-'
kommen könne. Diesem Satz fehlt jedoch die Begründung. „Wir
bemerken im Gegenteil, daß wir Erfahrungen für um so unumstöß-
licher halten, je häufiger sie eingetroffen sind. Wenn es daher aus-
nahmslose Erfahrungen gibt, so werden wir solche auch für notwendig
halten müssen. Nun können die Raumvorstellungen nur zu den aus-
nahmslosen Erfahrungen gehören. Sie müssen als die unabänderlichen
Bestandteile einer jeden äußeren Erfahrung betrachtet werden.4) Eigen-
schaften der Dinge oder unserer Vorstellungen, die wir niemals er-
fahren haben, können wir uns auch nicht vorstellen. In der ausnahms-
losen empirischen Gültigkeit der geometrischen Sätze liegt also ein
zureichender Grund ihrer Notwendigkeit." L. I. 495.
b) Die Apriorität der Anschauungsformen.
Aus den bisherigen Erörterungen ergibt sich, daß die iVpriorität
der Anschauungsformen aus zwei Bedingungen abgeleitet werden
kann: aus ihrer Konstanz beim Wechsel der sonstigen Bestandteile
des Wahrnehmungsinhaltes und aus den logischen Bedingungen, die
uns veranlassen, ihnen die Bedeutung von Anschauungsformen mit
konstanten Eigenschaften beizulegen.
Kant hat nur die erste Bedingung berücksichtigt, weshalb Wundt
findet, seine Apriorität sei „wie aus der Pistole geschossen". Kl. Sehr.
L 166. „Namentlich die tatsächlich vorhandene apodiktische Be-
schaffenheit der Sätze der reinen Mathematik ist ihm eine zureichende
Bürgschaft der Apriorität der diesen Sätzen zugrunde liegenden
reinen Raum- und Zeitform. Da aber, wie vorhin bemerkt, die Not-
l) Dasselbe gilt für die Zeit. L. I. 47U.
22 Willi Ne f.
wendigkeit von Raum und Zeit aus ihrer tatsächlichen Konstanz
nicht umgekehrt diese aus jener abgeleitet werden kann, so erscheint jene
Apriorität selbst als eine solche „ex eventu". Wir mögen ihr immer-
hin die Bedeutung beilegen, wir seien, noch bevor wir eine einzelne
neue Erfahrung machen, berechtigt mit voller Gewißheit anzunehmen,
daß auch diese den allgemeinen Eigenschaften von Raum und Zeit
unterworfen sei. Aber eine solche Voraussage gründet sich doch nur
auf die durch die Konstanz der formalen Eigenschaften unserer em-
pirischen Vorstellungen herbeigeführte Unmöglichkeit, uns einen
andern Wahrnehmungsinhalt vorzustellen, als eben einen räumlich
'und zeitlich geordneten. Eine derartige Apriorität wird man jedoch,
sofern man, wie es von Kant geschieht, auf eine Begründung über-
haupt nicht reflektiert, nur eine tatsächlich gegebene nennen können.
So gewiß es also ist, daß Kant hier über eine vorausgesetzte, aber nicht
bewiesene Apriorität nicht hinauskommt, so wünschenswert scheint
es eben darum, in diesem Punkte die Kantischen Aufstellungen zu er-
gänzen." Kl. Sehr. 1. 166.
Wir haben nun ja gerade von Kant gelernt, daß das Apriori,
wenn es überhaupt zulässig sein soll, nur in den die Erfahrung ord-
nenden Begriffen und Anschauungsformen und daher niemals iso-
liert von dem Wahrnehmungsinhalte gegeben sein kann. Es können
also nur logische Motive sein, die uns veranlassen, gewisse Bestandteile
der Anschauung als a priori notwendig, andere als bloß empirisch
gegeben anzusehen.
Und in der Tat sind es ja logische Motive, aus denen wir die
räumlich-zeitliche Form von dem Empfindungsinhalt und dann inner-
halb jener Form den Raum wieder von der Zeit trennen.
„Diese Unterscheidungen geschehen durchaus in anschaulichen
Formen, in Gedankenexperimenten, in denen der Inhalt der Wahr-
nehmung willkürlich variiert wird. Abstrakt betrachtet geschehen sie
aber nach den allgemeinen Gesetzen des logischen Denkens, indem
wir bei Veränderungen der Wahrnehmung das übereinstimmend
Bleibende als übereinstimmend, das sich Verändernde als verschieden
auffassen nach Maßgabe des Satzes der Identität und des Satzes
vom Widerspruch, und indem wir an jede formale Änderung eine
Änderung in der Materie der Empfindung als Folge gebunden er-
kennen nach dem Satz des Grundes. So sind bei der Auffindung jener
Eigenschaften von Raum und Zeit, denen diese ihre Wertunterschei-
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 23
dun«; von dem Empfindungsinhalte verdanken, und auf denen zugleich
die Feststellung ihrer Konstanz beruht, überall die allgemeinen Denk-
gesetze wirksam. Die Anwendung dieser letzteren wird angeregt durch
das in der Erfahrung Gegebene. Aber sie selbst sind in uns liegende
Funktionen, ohne die sich die Scheidung in Anschauungsformen und
Materie der Empfindung niemals vollziehen könnte." Kl. Sehr. 1. 167 f.
So ist denn die wahre Apriorität der Anschauungsformen eine
logische und die Empiristen, die behaupten, Raum und Zeit gehörten
mit zum Empfindungsinhalt und seien von andern Empfindungen
nur durch ihre größere Wichtigkeit für die Interpretation der wirk-
lichen Welt unterschieden, haben unrecht. Kl. Sehr. I. 167.
Bei dieser Ableitung des a priori sind nicht Raum und Zeit selbst,
sondern die Denkfunktionen, die zu ihrer Sonderung vom übrigen
Wahrnehmungsinhalt geführt haben, als das eigentliche Apriori an-
erkannt. Die obige Untersuchung hat gezeigt, daß die Begriffe von
Raum und Zeit den Erfahrungsinhalt voraussetzen, daß sie selbst
aber aus logischen Motiven entspringen, die zugleich auf bestimmte
Eigenschaften desWrahrnehmungsinhaltes selbst zurückweisen. „Damit
ist freilich das Apriori an eine andere Stelle gerückt, als wo man es
gesucht hatte. Nicht in der fertigen Raum- und Zeitform ist es ent-
halten, wie der alte Apriorismus und vermöge eines halben Rück-
falls in diesen noch Kant annahm, sondern in den logischen
Funktionen, die zur Abstraktion der reinen
Raum- und Zeitanschauung führen. Hiermit ist
das Apriori dahin verlegt, wo es immer bestehen bleiben wird, und
wo es allein seine rechtmäßige Stelle hat. Doch diese Zurückver-
legung bringt es zugleich mit sich, daß die logisch abgeleiteten An-
schau uniformen selbst nicht als reine Schöpfungen des Denkens
oder der Einbildungskraft oder auch nur einer subjektiven Anschauungs-
funktion anzusehen sind, wie Kant annahm, sondern als Erzeugnisse,
die aus der Bearbeitung der dem Denken gegebenen Objekte ent-
standen sind, und die gleichzeitig in diesen Objekten selbst und in
den sie in ihre Faktoren zerlegenden Funktionen des Denken s ihren
Ursprung haben." Kl. Sehr. I. 168 f.
c) Die objektive Bedeutung von Zeit und Bau m.
Nachdem die kritische Analyse des Wahrnehmungsinhaltes voll-
zogen ist, nachdem der Empfindungsinhalt von den Anschauungs-
24 Willi Nef.
formen getrennt ist, und diese letzteren selbst wieder durch logische
Motive in Zeit und Raum geschieden sind, läßt sich die Frage nach
der objektiven Bedeutung der Anschauungsformen beantworten.
Nach der Ansicht Kants sind Raum und Zeit subjektive Formen der
Anschauung, die zwar zugleich objektive Normen sind, nach denen
die Gegenstände unseres Erkennens sich richten müssen. L. I. 476, 479f .
Nun haben wir, wie wir oben gesehen haben, in der Erkenntnistheorie
von dem objektiv gegebenen Wahrnehmungsinhalte auszugehen, und
wir haben an einzelnen Elementen desselben ihre Realität erst dann
aufzuheben, wenn wir infolge von Widersprüchen, die unsere Erfah-
rung zeigt, dazu berechtigte Gründe finden. Das erkennende Subjekt
wird bei der Vergleichung und Verknüpfung der Erfahrungen durch
mannigfache Widersprüche, in die verschiedene Wahrnehmungen
miteinander treten, schließlich gezwungen, den ganzen qualitativen
Empfindungsinhalt in das Subjekt zurückzunehmen, da nur unter
dieser Voraussetzung eine widerspruchsfreie Verbindung der einzelnen
Erfahrungen möglich ist; eine solche Nötigung, die objektive Bedeutung
der konstant bleibenden formalen Bestandteile der Wahrnehmung auf-
zuheben, tritt aber niemals ein. S. I. 135. „Denn der Raum wie die
Zeit sind ursprünglich gegebene Tatsachen, die durch die wider-
spruchslose Konstanz, in der sie Bestandteile der Erfahrung bilden,
den Charakter objektiver Allgemeingültigkeit bewahren." L. I. 502
Mit dieser erkenntnistheoretischen Überlegung stimmt denn auch das
Verhalten der Wissenschaft überein, indem innerhalb der empirischen
Naturauffassung nie Stimmen laut geworden sind, die eine objektive
Realität von Raum, Zeit und Bewegung geleugnet hätten, während
die Zweifel an der Wirklichkeit der Empfindungen schon in die An-
fänge der Naturphilosophie zurückreichen. S. I. 136.
Bei aller Konstanz der objektiven Eigenschaften der Anschauungs-
formen fehlen nun Widersprüche innerhalb der einzelnen Wahr-
nehmungen nicht, so daß sich die Überzeugung entwickeln mußte,
daß subjektive Elemente in unsere Anschauungen eingehen. Diese
Überzeugung ist bei der Raumanschauung viel später entstanden,
als bei der Zeitanschauung, so daß denn die Annahme einer objektiven
Realität der Anschauungsform bei dem Raum fester wurzelt als bei
der Zeit. L. I. 503 f. Sucht man nun aber die zwischen den einzelnen
Wahrnehmungen vorhandenen Widersprüche zu lösen, so daß man
die Anschauungsformen von allen Elementen befreit, deren subjektiver
^YilheIm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 25
Ursprung nachgewiesen ist, „so bleibt als Rest die jener an-
schaulichen Form entsprechende begriffliche
Ordnung eines objektiv gegebenen Mannig-
faltigen." L. I. 505.
Da die objektive Feststellung der anschaulichen Ordnung der
Dinge überall die Elimination der rein subjektiven Faktoren der
Wahrnehmung erfordert, so sind die objektiven Anschauungsformen
nicht mit den Formen unserer Wahrnehmung identisch, sondern sie
sind aus ihnen gewonnene abstrakte Begriffe. „Nicht bloß für den
empirischen, sondern auch für den erkenntnistheoretischen Gebrauch
bedürfen wir durchaus der psychologisch in unserem Bewußtsein
entstandenen Anschauungsformen, denen wir demnach unter dem
Vorbehalt, daß sie subjektive Rekonstruktionen eines objektiv
Gegebenen sind, Realität zugestehen. Nur das eine wird von der
Erkenntnistheorie gefordert, daß sie die Elemente, die in unsere Auf-
fassung der Dinge eingehen, nach ihrem Ursprung unterscheide, und
daß sie demnach begrifflich feststelle, was unabhängig von
unseren Anschauungsformen als der objektive Begriff einer jeden
Betätigung der Anschaungsf Miktionen vorauszusetzen sei." L. I. 506.
Auf diese Weise werden also die sinnlichen Anschauungen des Raumes
und der Zeit zu Symbolen der im Begriff zu erfassenden Ordnung der
Objekte. S. I. 137.
o.
Die Stamm begriffe des Verstandes.
a) Allgemeines.
Kant hat gezeigt, „daß es Kategorien überhaupt geben
müsse, d. h. daß alle Ordnung des Mannigfaltigen der Erfahrung durch
allgemeine Begriffe zustande komme, die in dem denkenden Subjekt,
in der „Synthesis der reinen Apperzeption" ihre Quelle haben, und
daß, um eine solche Synthesis möglich zu machen, schon die formalen
Bedingungen der sinnlichen Anschauung die erforderlichen Eigen-
schaften besitzen müssen." Kl. Sehr. I. 169. Trotzdem finden wir
weder in seiner Ableitung der Kategorien aus den Urteilsformen,
noch in seiner „Deduktion der reinen Verstandesbegriffe", noch in seiner
Lehre von dem Schematismus der reinen Verstandesbegriffe eine eigent-
liche Deduktion der einzelnen Verstandesbegriffe. Die Kategorien
werden bei Kant überall als gegeben vorausgesetzt, sie können, wie
26 Willi Nef.
die Anschauungsformen aufgesucht, aber nicht im eigentlichen Sinne
deduziert werden. „Was Kant die „Deduktion der reinen Verstandes-
begriffe" nennt, ist daher keine eigentliche Deduktion, sondern ledig-
lich der allgemeine Nachweis, daß die Begriffe, nach denen wir das
Mannigfaltige der Erscheinungen einheitlich ordnen, uns nicht von
außen gegeben sind, sondern von unserem Verstände erzeugt werden,
und daß jene Ordnung nicht möglich wäre ohne die „transzendentale
Einheit der Apperzeption", d. h. ohne jene Einheit des Selbstbewußt-
seins, die eine Synthesis der Erscheinungen überhaupt erst möglich
macht. Mit dieser Zurückführung der ordnenden Verstandesbegriffe
auf da? denkende Subjekt ist jedoch die Aufgabe, die logischen Motive
im einzelnen nachzuweisen, die zur Bildung der Kategorien geführt
haben, weder gelöst noch auch überflüssig geworden. Wohl mag
das künstliche Gerüste der Architektonik der Urteilsformen und
Kategorien das täuschende Bild einer solchen Ableitung hervorrufen.
Eine symmetrische Klassifikation ist gleichwohl keine wirkliche
Ableitung, und wenn zwei Einteilungen sich wechselseitig stützen, so
ist damit nicht gesagt, daß sie beide keiner weiteren Stütze bedürfen.
Im vorliegenden Falle wird man nun um so mehr nach einer solchen
suchen müssen, als die Kantische Klassifikation der Urteilsformen,
wie schon Fichte richtig gesehen hat, ein Zurückgehen auf die Fun-
damentalgesetze des Denkens vermissen läßt. Hier ist also ein erster
Punkt geben, wo eine Fortbildung der Kantischen Lehre einzusetzen
hat.'1 kl. Sehr. I. 170 f.
Dazu kommt noch ein weiterer Punkt. Eine der wichtigsten
Erkenntnisse der transzendentalen Ästhetik war die, daß Raum und
Zeit nicht als leere Formen, sondern immer nur gebunden an eine
Materie der Empfindungen gegeben sein können; ebenso bezeichnet
der Satz: „Begriffe ohne Anschauungen sind blind, Anschauungen
ohne Begriffe sind leer" vielleicht den wichtigsten Fortschritt der
Kantischen Lehre von der Verstandeserkenntnis. Diese beiden Grund-
sätze bedeuten, daß alle Erfahrung begrifflich und anschaulich geformt
und an Empfindungen gebunden ist, daß also keiner dieser Bestand-
teile in Wirklichkeit jemals ohne den andern vorkommen kann. „Damit
ist aber auch die unerläßliche Aufgabe gestellt, hier in ähnlicher Weise,
wie wir es bei der Unterscheidung der Anschauungsformen von der
Materie der Empfindungen versuchten, die logischen Motive nach-
zuweisen, die zur Scheidung der begrifflichen Formen der Erkenntnis
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 27
von der realiter ursprünglich ungeteilten Erfahrung geführt haben.
Überflüssig würde ja ein solcher Nachweis nur dann sein, wenn man
annehmen wollte, daß die Begriffsformen getrennt von dem Stoff der
Erfahrung vorkommen und demgemäß getrennt von uns aufgefaßt
werden könnten." Kl. Sehr. I. 171. Die Trennung, die unser Denken
vollzieht, muß auf irgend welchen Bedingungen beruhen, die eine
logische Scheidung möglich machen.
„Nun wird man Kant zugeben, daß von vornherein eine nähere
Beziehung der allgemeinen Begriffsformen zu den Anschauunps-
formen als zu dem Stoff der Empfindung vorauszusetzen ist. Denn
nur die Anschauungsformen besitzen die Allgemeingültigkeit, die
wir auch für die allgemeinen Verstandesbegriffe fordern." Kl. Sehr. I.
171. Dabei aber wurde Kants Einsicht in die Entstehung der Ver-
standesbegriffe dadurch getrübt, daß er die Zeit als die Form des
inneren ,den Raum als die Form des äußeren Sinnes ansah, so daß er
die Lehre vom Schematismus des reinen Verstandes nur auf die formalen
Bedingungen der Zeit, nicht aber auf die des Raumes stützte. So
wird die Forderung, daß alle Erkenntnis anschaulich und begrifflich
zugleich sei, nicht erfüllt; es ist eben nicht richtig, daß es Vorstellungen
von bloß zeitlicher Beschaffenheit gibt, sondern alle Vorstellungen
haben eine räumlich-zeitliche Form. Somit kann das sinnliche Schema
der Kategorien nur dadurch gewonnen werden, daß man nachweist,
welchen zeitlichen und räumlichen Bedingungen die Anwendung
eines Begriffes auf die Anschauung unterworfen ist. Vgl. Kl. Sehr.
I. 172.
„Doch nicht bloß zu vervollständigen wird durch die Berück-
sichtigung der gesamten formalen Bedingungen der Anschauung
die Kantische Auffassung sein, auch der Weg, den er bei der Auf-
suchung der Schemata einschlug, wird nicht beibehalten werden
können, sofern man nur im Sinne seiner eigenen ursprünglichen Vor-
aussetzungen folgerichtig verfahren will. Kant setzt nämlich die
Kategorien als gegeben voraus und untersucht dann, welches Zeit-
schema einer jeden entsprechen möge. Da uns jedoch niemals reine
Begriffe getrennt von einem Anschauungsinhalte gegeben sind, so
werden wir vielmehr umgekehrt zu fragen haben, durch welche logi-
schen Motive der Vorstellungsinhalt die Bildung bestimmter Begriffe
herausfordert." Kl. Sehr. I. 172 f.
Nun behauptet man zwar und auch Kant isl zum Teil dieser An-
28 Willi Nef.
sieht, die Kategorien seien Begriffe, die bei jeder Erfahrung in Wirk-
samkeit treten. So denke man sich zu jedem Gegenstande sofort die
Begriffe der Einheit, Realität, des Daseins, der Substanz hinzu, zu
jeder Aufeinanderfolge von Ereignissen die Kausalität usw. Doch
steht diese Behauptung in schroffem Gegensatze zur Erfahrung.
Die Erfahrung bietet uns zwar die Gelegenheit, diese Begriffe an-
zuwenden, ohne daß wir sie aber sofort jeder Erfahrung gegenüber
anwenden müssen. „Gesetzt z. B., wir nehmen einen Gegenstand wahr,
und zugegeben, daß wir auf ihn die Kategorie der Einheit anwenden,
was geschieht, wenn wir infolge genauerer Beobachtung oder selb-
ständiger Bewegungen eines Teils des Gegenstandes auch diesen Teil
als ein Einzelnes, also als eine Einheit auffassen? Wir haben offenbar
infolge hinzutretender Anschauungsbedingungen die Kategorie der
Einheit jetzt auf ein Objekt angewandt, auf das wir sie zuvor nicht
anwandten. Gerade so müssen aber von Anfang an bestimmte Merk-
male uns veranlassen, überhaupt den Gegenstand als einen einzelnen
aufzufassen. Oder es sei uns ein Körper gegeben. Warum wenden wir
auf ihn den Begriff der Substanz an? Gewiß nicht, weil uns der Körper
a priori als Körper gegeben ist, denn das ist er überhaupt nicht, sondern
weil er sich durch gewisse Merkmale als relativ beharrend unterscheidet
von andern Vorstellungen. Nicht minder bedarf es bestimmter Kri-
terien, um zwei aufeinanderfolgende Ereignisse in das Verhältnis der
Kausalität zu bringen. Kurz, in allen Fällen sehen wir, daß die An-
wendung der Kategorien bestimmte Eigenschaften der Gegenstände
vorausetzt, die überall erst die logischen Kriterien für jene Anwendung
abgeben." Kl. Sehr. I. 174.
Es ist Aufgabe der speziellen Erkenntnistheorie, zu zeigen, wie
durch das Zusammenwirken der Anschauungen und der Denkfunktionen
die Kategorien entstehen. Wundt hat in seinem System der Philosophie
und in seiner Logik diese Aufgabe mit Rücksicht auf die drei wichtigsten
Stammbegriffe der Substanz, der Kausalität und des Zweckes zu lösen
versucht.
b) Die Substanz.
Die Kategorien können, wie gerade Kant gezeigt hat, nur ge-
bunden an die Anschauungen vorkommen. So müssen diese An-
wendungsbedingungen immer zugleich als ihre Entstehungs*
begingungen angesehen werden, d. h. sie sind die in der An-
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 29
schauung gelegenen Bedingungen, durch die unser Denken zur Bildung
des Begriffes veranlaßt wird. Es ist ein Gewinn für die Erkenntnis-
lehre, wenn es sich zeigt, daß nicht die fertigen Kategorien in uns
liegen, sondern nur die Denkfunktionen, aus denen unter bestimmten
Bedingungen der Anschauung die Kategorien entstehen. Kl. Sehr.
I. 174.
Nun hat Kant eine solche Ableitung des Begriffes der Substanz
aus den Anschauungsbedingungen und den Denkfunktionen nicht
vollführt, sondern er hat die Kategorie der Substanz als gegeben voraus-
gesetzt. „Der „Grundsatz der Beharrlichkeit" wird zunächst von Kant
aus der Anschauungsform der Zeit bewiesen. Das Mannigfaltige,
meint er, könne nicht n a c h e i n a nder vorgestellt werden, wenn
nicht etwas das jederzeit ist, d. h. etwas Bleibendes und
Beharrliches zugrunde liege. Das Beharrliche sei daher „das
Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem
alle Zeitbestimmung allein möglich ist." Der Wechsel treffe „die Zeit
selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit." „Wollte
man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müßte man
noch eine andere Zeit denken, in der diese Folge möglich wäre."
Durch das Beharrliche endlich bekomme allein „das Dasein
in verschiedenen Teilen der Zeitreihe nacheinander eine Größe,
die man Dauer nennt." „Nun kann" — so lautet der wichtige
Schluß dieses „Beweises" „die Zeit an sich selbst nicht wahr-
genommen werden; mithin ist dieses Beharrliche an den Erscheinungen
das Substratum aller Zeitbestimmung" oder, wie es in der zweiten
Auflage heißt: „folglich muß in den Gegenständen der Wahrnehmung,
d. h. den Erscheinungen, das Substrat anzutreffen sein, welches die Zeit
überhaupt vorstellt, und an dem aller Wechsel oder Zugleichsein durch
das Verhältnis der Erscheinungen zu demselben in der Apprehensimi
wahrgenommen werden kann." Kl. Sehr. I. 176.
Der Fehler dieser Kantschen Ableitung liegt nach der Ansicht
Wundts darin, daß Kant das relativ beharrliche Substrat der Er-
scheinungen in das absolut Beharrliche der Substanz umwandelt.
Wohl ist es richtig, daß alle Zeitanschauum>- „Dauer im Wechsel"
voraussetzt, und daß das Substrat dazu in dn\ Erscheinungen liegen
muß. Ohne die Verbindung von Beharrlichkeit und Veränderung
würde eine Zeitanschauuni;- nicht entstehen können. Auch kann man
zugestehen, daß ZU dieser Auffassung die ..transzendentalen" Be-
30 Willi Nef.
dingungen in uns liegen müssen. „Aber mit allem dem ist doch nur
bewiesen: 1. daß zur Zeitvorstellung wechselnde neben relativ be-
harrenden Erscheinungen gegeben sein müssen, wie uns denn solche
in der Tat stets in der Erfahrung gegeben sind, und 2. daß unsere
Erkenntnisfunktionen zur Auffassung dieses Beharrens im "Wechsel
geeignet sein müssen." Kl. Sehr. I. 177. Daß aber ein absolut
beharrendes Substratum aller Erscheinungen vorauszusetzen sei,
ist nicht im geringsten bewiesen. "Wenn wir den wirklichen logischen
wie anschaulichen Ursprung des Substanzbegriffes auffinden wollen,
so haben wir von den Bedingungen der Erscheinungswelt, und zwar
von den in den Anschauungsformen gegebenen Bedingungen auszugehen.
Dabei sind zwei Formen oder Entwicklungsstufen des Substanzbegriffs
von einander zu sondern: „der Substanzbegriff der Erfahrung im
gewöhnlichen Sinne des "Wortes, und der Substanzbegriff der Wissen-
schaft. Der erstere ist natürlich derjenige, von dem allein gesagt
werden kann, daß er ein unerläßlicher Bestandteil aller Erfahrung
sei. Der zweite dagegen ist zuerst auf rein spekulativem "Wege in der
Philosophie entstanden und dann von hier aus in die Naturwissenschaft
übertragen worden." Kl. Sehr. 1. 178. Kant hat diese beiden Substanz-
begriffe, die kurz als der empirische und der spekulative bezeichnet
werden mögen, nicht geschieden. „Der Anwendung nach deckt sich
zwar seine Kategorie der Substanz mit dem empirischen Substanz-
begriff. Denn sie soll ja der Begriff sein, durch den überhaupt erst
die empirische Auffassung einzelner Gegenstände möglich werde.
Auch werden die transzendenten Gestaltungen des spekulativen
Substanzbegriffs, wie sie in der vorangegangenen rationalistischen
Philosophie entstanden waren, ausdrücklich von Kant abgelehnt
und dem Begriff des unerkennbaren „Ding an sich" subsumiert. Daß
aber gleichwohl die Ausläufer dieses spekulativen Substanzbegriffs
in der Naturwissenschaft von ihm mit dem ursprünglichen empirischen
Substanzbegriff vermengt werden, geht klar aus seiner Formulierung
des Gesetzes des „Beharrens der Substanz" und aus seinen Erläute-
rungen hierzu hervor." Kl. Sehr. I. 178.
Den empirischen Substanzbegriff können wir nun nur dann in
seiner ursprünglichen Gestalt feststellen, wenn wir von allem abstra-
hieren was uns wissenschaftliche Erfahrung und Überlieferung zu
ihm hinzudenken lassen. Auf diesen ursprünglichen Inhalt zurück-
geführt ist aber der empirische Substanzbegriff identisch mit dem
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. ol
Begriff des empirischen Dings. Der Dingbegriff bildet dann die logische
Grundlage für die Ausbi düng des Substanzbegriffs der spekulativen
Philosophie und der Naturwissenschaft. Wir haben deshalb zu fragen,
was die Erfahrung unter einem Ding verstehe.
Die logischen Motive, die uns veranlassen, eine bestimmte Summe
von Wahrnehmungen ein Ding zu nennen, sind die der r ä u m -
liehen Selbständigkeit und der zeitlichen
Stetigkeit der Veränderungen. Es gehört zu einem
Ding, daß sich die räumliche Umgebung desselben verändert, während
es selbst unverändert bleibt, und daß aller Wechsel der Eigenschaften
so erfolgen muß, daß ein Zustand stetig in den andern überführt.
„Wenn ein Ding stetig vom Orte A nach einem andern Orte B über-
geht, so ist es für uns dasselbe Ding; wenn aber bei A ein Ding ver-
schwindet, bei B eins entsteht, so gelten uns beide für verschiedene
Dinge.1' Kl. Sehr. I. 180. L. I. 149 ff. S. I. 252 ff. „Diese Bedingungen
beziehen sich auf die b e i d e n formalen Eigenschaften unserer Vor-
stellungen, den Raum und die Zeit. Sie entsprechen also der oben
hervorgehobenen allgemeinen Forderung, daß die allgemein gültigen
formalen Merkmale, die zeitlich-räumlichen, die anschaulichen Grund-
lagen der Kategorien abgeben müssen, weil alle Vorstellungen räumlich
und zeitlich zugleich sind. Zugleich ersieht man aber, daß, gerade so
wie dies bei der Ableitung der Anschauungsformen geschehen war,
nun auch bei der Kategorie der Substanz die Apriorität des Begriffs
eine wesentlich andere Bedeutung gewinnt, und daß sie außerdem mit
der Voraussetzung, die Kategorie sei eine a priori wirksame Funktion,
kein in uns feststehender Begriff, in bessere Übereinstimmung gelangt.
Denn offenbar ist es auch hier nicht mehr der Begriff der Substanz
selbst, der als a priori in uns liegend anzunehmen ist, sondern das ver-
gleichende und beziehende Denken, das jenen Begriff eines bei dem
Wechsel seiner Eigenschaften beharrenden Dings unter dem Einfluß
der angegebenen Bedingungen der Anschauung mit logischer Not-
wendigkeit entwickelt." Kl. Sehr. I. 180.
Zu den objektiven Kriterien der räumlichen Selbständigkeit und
zeitlichen Stetigkeit tritt nun aber bei der Ausbildung dt^s Ding-
begriffs als wichtiges Merkmal das subjektive der einheitlichen
Apperzeption. Die Dinge könnten uns nicht dazu zwingen, ihnen
räumliche Selbständigkeit und zeitliche Stetigkeit beizulegen, wenn
nicht unser Denken befähigt wäre, die getrennten AVahrnehmungsakte
32 Willi Nef.
in einer einheitlichen Apperzeption zn verbinden. „Diese Fähigkeit
besitzt aber das Denken nur vermöge der einheitlichen Natur unseres
Selbstbewußtseins. Die Selbständigkeit unseres Ich und der stetige
Zusammenhang unserer psychischen Vorgänge werfen ihren Reflex
auf die Dinge außer uns. Da das unmittelbare Kriterium der Selb-
ständigkeit, das wir in unserem Bewußtsein tragen, die willkürliche
Beschaffenheit unseres Denkens und Handelns, auf die Dinge nicht
anwendbar ist, so tritt bei ihnen das mittelbare Kriterium der räum-
lichen Koexistenz, das in der Koexistenz unseres eigenen Körpers
mit unserem denkenden Ich sein Vorbild hat, ergänzend ein. So wird
das nächste objektive Ding, das wir unterscheiden, unser eigener
Körper, und die weiteren Gegenstände richten sich nach den Merk-
malen der Selbständigkeit und Stetigkeit, die wir an jenem nächsten
Objekt unserer Wahrnehmung auffanden. tl L. 1.455. So können wir die
Entwicklung des Dingbegriffs als eine apperzeptive Synthese be-
zeichnen, die auf simultanen und sukzessiven Assoziationen beruht.
An dieser Stelle betont Wundt das große Verdienst Kants, daß er
den Schwerpunkt der Entwicklung des Dingbegriffes in die Einheit
der Apperzeption verlegt hat, „worunter er eben nichts anderes als
die Selbständigkeit und Stetigkeit unseres denkenden Selbstbewußt-
seins versteht, vermöge deren, nachdem die erforderlichen objektiven
Kriterien gegeben sind, nun unser Denken jenen Machtspruch aus-
führe, der den Begriff verwirklicht." L. I. 455.
In dem relativ beharrlichen Dingbegriff haben wir die anschauliche
und logische Grundlage kennen gelernt, von der aus die Philosophie
und die Naturwissenschaft in der weiteren Ausbildung des Substanz-
begriffs ausgegangen sind. Sowohl in seinem System der Philosophie
als in seiner Logik und einzelnen Aufsätzen der philosophischen Studien
hat Wundt die weitere spekulative Entwicklung des Substanzbegriffs
ausführlich verfolgt. (S. I. 252 ff. L. I. 515 ff. Kl. Sehr. I. 181 ff.)
Da eine eingehende Betrachtung dieser Ableitungen uns zu weit von
Kant wegführen würde, so muß darauf verzichtet werden. Nur mit
einigen Worten möge der Gedankengang Wundts angedeutet werden.
Die philosophische Spekulation verwandelte die relativen Eigen-
schaften des Dingbegriffs in absolute. Sie ging vom abstrakten Begriff
des Seins aus, dem die drei Gegensätze des Nichtseienden, des Scheins
und des Werdens entgegengesetzt wurden. In der weitern Entwicklung
wandelten sich die Gegensätze in Bestimmungen des Seins um, wodurch
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 33
das Sein in die Substanz überging. Das Nichts konnte selbstverständlich
kein Akzidens der Substanz werden, wohl aber wandelte sich der
Schein in die Erscheinung, das Werden in die Kausalität der Substanz
um. Die Substanz wurde so die allein wirklich beharrende Grundlage
der Dinge und alle Veränderlichkeit der Erscheinungen wurde auf
die kausale Wirksamkeit der Substanz zurückgeführt.
Der Naturwissenschaft ist es um einen widerspruchslosen Zusam-
menhang aller äußern Erscheinungen zu tun. Auch sie ging vom Er-
fahrungsbegriff des Dinges mit veränderlichen Eigenschaften aus
und sie wurde genötigt, denselben so lange zu berichtigen, bis sie beim
Begriff der Substanz mit konstanten Eigenschaften angelangt war.
Dabei kam die Naturwissenschaft zu dem Ergebnis, dieselben Eigen-
schaften des Substanzbegriffes zu postulieren, zu denen auch die
spekulative Philosophie gelangt war: die Einfachheit, die Wirksam-
keit und die Beharrlichkeit der Materie.
Was endlich den Substanzbegriff der Psychologie betrifft, so ist
Wundt der Ansicht, daß hier keine berechtigten empirischen oder
logischen Gründe vorliegen, die zur Bildung eines Substanzbegriffes
führen müssen. Das Subjekt ist sich selbst unmittelbar gegeben, so
daß hier die Frage nach einem etwaigen Substrat desselben gar nicht
entstehen kann.
So verlockend es wäre, auf alle diese Fragen näher einzutreten,
so mögen diese wenigen Andeutungen genügen. Sollte doch in dieser
ganzen Betrachtung über den Substanzbegriff in erster Linie nur ge-
zeigt werden, daß die Substanz gleich allen Verstandesbegriffen, die
Synthesis der Anschauung und die Einheit der Apperzeption in bezug
auf diese Synthesis voraussetze. „Denn jeder Verstandesbegriff ist
eine Einheitsfunktion, die sich auf ein Mannigfaltiges in der An-
schauung bezieht. Er bedarf also einer schon in der Anschauung vor-
bereiteten Verbindung des Mannigfaltigen. Der Begriff selbst aber
besteht dann in einer logischen Ordnung der Teile des Mannigfaltigen
zur Einheit." Kl. Sehr. I. 175.
c) Die Kausalität.
Der Begriff der Kausalität hat sich ursprünglich im Anschluß
an denjenigen der Substanz entwickelt. Die Gegenstände galten
als Ursachen, von denen die Wirkungen, die Tätigkeiten der Dinge,
ausgingen. Im Laufe der wissenschaftlichen und philosophischen
Archiv für Geschichte der Philosophie (Boilageheft). 3
34 Willi Nef.
Entwicklung trat an die Stelle der substantiellen Kausalität die aktuelle,
nach welcher Ursache und Wirkung Ereignisse sind, die nur in dem
Verhältnisse, in das sie gebracht werden, jene Bedeutung annehmen,
während in anderem Zusammenhange auch die Ursache als Wirkung
und die Wirkung als Ursache gedacht werden kann. S. I. 282 ff.
In der Philosophie bedeutet Hume den großen Wendepunkt
mit Rücksicht auf die Einführung des aktuellen Kausalitätsbegriffes.
„Das Verdienst, das sich Hume um die philosophische Untersuchung
der Kausalität erworben, besteht aber vor allem darin, daß er die
Auffassung der Ursache als einer Sache beseitigte und dadurch
eigentlich zum ersten Male mit Bewußtsein und folgerichtig den
Begriff der Ursache im Sinn derjenigen Entwicklung vollendete,
die in den Erfahrungswissenschaften begonnen hatte." L. I. 579.
Diesen grundlegenden Gedanken, daß die Kausalität ein Prinzip
sei, das die empirische Aufeinanderfolge der Erscheinungen beherrsche,
hat sich Kant vollständig zu eigen gemacht. Dagegen entfernt er
sich um so weiter von ihm in seiner Ansicht über den Ursprung dieses
Prinzips. „Die Kausalität gehört ihm zu den Stammbegriffen des
Verstandes , welche Erfahrung erst möglich machen und darum der
Erfahrung vorangehen." L. I. 581. Den Beweis dafür leitet Kant
daraus ab, daß weder die Auffassung der zeitlichen Sukzession noch
die der zeitlichen Koexistenz möglich wäre ohne ein festes Gesetz,
durch das die Aufeinanderfolge wie das Zugleichsein der Erscheinungen
beherrscht werde.
Wundt hält diese Beweisführung für unrichtig; zunächst nimmt
er aber Kant gegenüber Vorwürfen, die ihm von Schopenhauer und
Laas gemacht worden sind, in Schutz. (Schopenhauer, Werke, Bd. 1,
S. 91; Laas, Kants Analogien der Erfahrung, S. 194). „Schopen-
hauer hat in dieser Beweisführung einen „offenbaren Zirkel" gefunden:
aus der Notwendigkeit der Folge von Ursache und Wirkung solle nach
Kant die Sukzession der Erscheinungen erkannt werden, und doch
sei erst aus der empirischen Sukzession zu entscheiden, was Ursache
und was Wirkung sei. Dieser Vorwurf ist jedoch ungerechtfertigt,
Die allgemeine Bedingung, unter der uns jede Sukzession von Er-
scheinungen gegeben sein muß, schließt die einzelne Aufeinander-
folge, die uns notwendig durch die Erfahrung gegeben wird, keines-
wegs ein." „Ebensowenig ist der Vorwurf zulässig, die Kantische
Anschauung setze mit Hume das bloße Folgen an die Stelle des Er-
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 35
folgens. (Laas.) Ist dieser Einwand schon Hume gegenüber nicht
berechtigt, so ist er es hier noch weniger, da Kants Gedankengang
durchaus getragen ist von der Idee eines notwendigen Zusammen-
hangs aller Kausalbeziehungen und Wechselwirkungen. Die durch-
gängige Kausalität der Natur muß den zwingenden Grund dafür
enthalten, daß eine Erscheinung A einer andern B vorangeht oder
mit ihr zugleich ist, auch wenn beide keineswegs in dem Verhältnis
unmittelbarer Kausalität oder Wechselwirkung stehen. Nur darum
können wir urteilen, daß Erscheinungen objektiv sich folgen
oder zugleich sind, weil alle Erfahrungen in bezug auf ihre Zeit-
bestimmung einer strengen Gesetzmäßigkeit gehorchen." L. I. 581 f.
Die Behauptungen, auf die sich der Kantsehe Beweis stützt,
sind aber angesichts der Tatsachen der Wahrnehmung im höchsten
Grade unwahrscheinlich. „Die Assoziation der Vorstellungen und
selbst die zufällige Folge der äußeren Sinneseindrücke . fassen wir
als eine Sukzession auf, in der jeder einzelnen Vorstellung ihre Stelle
in der Zeit auf das bestimmteste angewiesen ist, ohne daß doch das
Bewußtsein einer objektiven Gesetzmäßigkeit dieser Reihenfolge
dabei vorhanden wäre. Ebenso ist daran zu erinnern, daß jene An-
schauung einer unabänderlichen Regelmäßigkeit des Geschehens,
auf der Kants Deduktion fußt, ein spätes Produkt der intellektuellen
Entwicklung ist, an das wir eine so primitive Vorstellung wie die
der zeitlichen Aufeinanderfolge nicht binden können. In der Tat
ist das Verhältnis das umgekehrte: wir bedürfen zur Erklärung der
Zeitanschauung nirgends des Kausalbegriffs, wohl aber können wir
uns von diesem keine Rechenschaft geben ohne die Zeitanschauung.
Der Kantische Beweis ist darum noch kein Zirkel: denn wenn der
Kausalbegriff, wie er voraussetzt, in uns vor jeder Zeitanschauung
wirksam wäre, so würde die Regelmäßigkeit der zeitlichen Sukzession
notwendig aus diesem Begriffe folgen. Aber jener Beweis widerspricht
der wirklichen Entwicklung unserer Vorstellungen. Diese zeigt, daß
die Zeitanschauung die allgemeinere Form ist, die das unregelmäßige
ebenso wie das regelmäßige Geschehen umfaßt, und daß sie daher,
wie Kant in seiner Lehre vom Schematismus des reinen Verstandes
mit Recht annimmt, die Bedingung unserer Erkenntnis der Kausalität,
daß sie aber nicht, wie er in der Erörterung der Analogien voraus-
setzt, ihrerseits umgekehrt durch die Kausalität bedingt ist." L. I. 582.
Die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß sich die Allgemein-
3*
36 Willi Nef.
gültigkeit und Notwendigkeit des Kausalprinzips erst allmählich
durchgesetzt hat, so daß seine Apriorität nicht denkbar ist ; umgekehrt
kann das Prinzip nicht ausschließlich aus der Erfahrung stammen,
da wir an die Erfahrung mit der logischen Forderung der Allgemein-
gültigkeit der Kausalität treten. Dieses ganze Verhältnis ist uns
also nur unter der Voraussetzung begreiflich, daß hier von Anfang
an logische und empirische Motive zusammen-
wirken. L. I. 600.
Die logischen Motive des Kausalprinzips hängen mit dem Satz
vom Grunde zusammen. Dieser geht auf den Zusammenhang von
Denkakten, das Kausalprinzip auf den Zusammenhang von Er-
eignissen. „Wenn jener gestattet, ein bestimmtes Urteil zu folgern
vermöge anderer Urteile, die gegeben sind, so gestattet dieses unter
Umständen Ereignisse vorauszusagen aus andern Ereignissen, die
uns als deren Ursachen bekannt sind." L. I. 602. Nun kann die
Wirkung zwar im allgemeinen nur dann aus den gegebenen Ursachen
erschlossen werden, wenn die betreffende Kausalbeziehung aus der
Erfahrung bekannt ist. In diesem Fall ist eine Beziehung des Kausal-
prinzips auf den Satz vom Grunde ungenügend. Anders wird die
Sache, wenn die Wirkung selbst da vorausgesagt werden kann, wo
sie unmittelbar gar nicht beobachtet wurde. „Die Zurück-
führung der Kausalität auf den Erkenntnis-
grund würde dann, aber auch nur dann be-
rechtigt sein, wenn die Ursachen als Prä-
missen benützt werden könnten, aus denen
ohne Rücksicht auf bestätigende Beobach-
tungen die Wirkungen zu erschließen wären.
Dann wird ja der Schluß nichts anderes sein als eine denkende Nach-
erzeugung des kausalen Vorgangs; was in der Erfahrung als Ursache
sich darstellte, wird zum Grund, was als Wirkung zur Folge."
L. I. 602 f.
Wenn man nun auch von einer solchen Ableitung aller einzelnen
kausalen Zusammenhänge aus einer begrenzten Anzahl ursprünglicher
Tatsachen der Erfahrung noch sehr entfernt ist, so sind doch einzelne
Gebiete, wie die Mechanik und die Physik weit in diese Behandlung
der Kausalprobleme eingetreten. „Die meisten Gesetze, die für die
Bewegung schwerer Körper gelten, sind ursprünglich experimentell
ermittelt und dann aus allgemeineren Voraussetzungen abgeleitet
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 37
worden; andere wurden zuerst aus solchen Voraussetzungen oder
aus andern Gesetzen deduziert und dann nachträglich durch
die Beobachtung verifiziert. So hat man das Pendelgesetz
durch Beobachtung gefunden, hierauf aber als notwendige Folge
aus den allgemeinen Gesetzen der Schwere abgeleitet, während
dagegen Galilei das Parabelgesetz für die Wurfbewegungen zu-
erst aus dem Prinzip der Trägheit und dem des freien Falls
ableitete und dann durch die Beobachtung annähernd bestätigte.
Auf diese Weise ist es das unverkennbare, aber freilich in seinem
letzten Ziel unvollendbare Streben der neueren Physik, alle Natur-
ereignisse einem einzigen Zusammenhang von Gründen und Folgen
unterzuordnen." L. I. 603.
Geht so auf der einen Seite das Kausalprinzip aus dem Satz
vom Grunde hervor, so ist es trotzdem nicht mit ihm identisch, indem
nun die Erfahrung die Form seiner Anwendung bestimmt. „Diese
Form muß sich richten einerseits nach den allgemeinen Anschauungs-
formen der Zeit und des Raumes, anderseits nach den allgemeinen
Bedingungen, die der Inhalt der Erfahrung hinzubringt. Vermöge
der in den Anschauungsformen gegebenen Bedingungen kommt in
das Kausalprinzip die Bestimmung der Aufeinanderfolge der kausal
verbundenen Erscheinungen. Die Raumanschauung fügt hierzu
für die objektive Erfahrung noch die weitere Bestimmung,
daß Ursache und Wirkung irgendwie räumlich getrennt sind, da sonst
zu ihrer Unterscheidung kein Anlaß gegeben wäre." L. I. 605. Unter
den sämtlichen Bedingungen, die bei dem Eintritt einer Erscheinung
wirksam sind, ist jeweils durch die Erfahrung zu bestimmen, welche
im engeren Sinne als Ursache zu bezeichnen sei. Im Gebiete der
äußeren Erfahrung, wo die Erscheinungen einer Maßbeziehung unter-
worfen werden können, bietet die Äquivalenz der Ursachen und
Wirkungen das wesentliche Mittel dieser Unterscheidung. L. I. 604.
So trägt also das Kausalprinzip, wie der Begriff der Substanz,
wiederum den doppelten Charakter einer empirischen Regel und
eines logischen Postulates an sich. „Tatsächlich fügt sich ihm überall
die Erfahrung, sobald wir zu einer Erkenntnis der empirischen Zu-
sammenhänge durchgedrungen sind; und zugleich ist diese Tatsache
eine wesentlich? Bürgschaft dafür, daß zwischen unserem Denken
und den Objekten der Erfahrung eine Beziehung besteht, vermöge
deren die letzteren ebenso den Nonnen des Denkens adäquat sind,
38 Willi Ne f.
wie dieses sich von seinen Objekten bestimmen läßt, eine Wechsel-
wirkung, ohne welche überhaupt Erkenntnis unmöglich wäre. Deshalb
wird das Kausalprinzip als eine Regel angesehen, die für alle Erfahrung
gelten muß, und es ist eben damit eine Forderung, die wir jeder
einzelnen Erfahrung entgegenbringen, und gegen die uns ein Wider-
spruch als äquivalent der Bestreitung der Axiome des logischen
Denkens selbst gilt. Denn was sollte in der Tat die Gültigkeit dieser
noch bedeuten, wenn die Objekte mangelten, auf die sie anwendbar
wären?" L. I. 604.
d) Der Z w e c k.
Das Kausalprinzip ergab sich, wie wir gesehen haben, aus der
Anwendung des Satzes vom Grund auf die Erfahrung. Der Satz vom
Grund läßt noch eine andere empirische Beziehung zu, die zum Zweck-
prinzip führt, Das Zweckprinzip unterscheidet sich von dem Kausal-
prinzip nur dadurch, daß die Kausalität von dem Grund zur Folge
fortschreitet, während der Zweck von der Folge zum Grunde zurück-
geht. So sind diese Prinzipien die beiden einzigen möglichen empiri-
schen Gestaltungen des Satzes vom Grunde. „Das allgemeinere von
beiden ist aber das Kausalprinzip, als dessen unter speziellen Be-
dingungen eintretende Umformung das Zweckprinzip betrachtet
werden kann." L. I. 563.
Nach der Kantischen Auffassung ist das Zweckprinzip ein Hilfs-
prinzip neben dem der Kausalität; es hat überall da einzutreten,
wo die Kausalität nicht ausreicht. Dieses Verhältnis beider Begriffe
möchte Kant dadurch begründen, daß er den Zweck als ein Produkt
der reflektierenden Urteilskraft bezeichnet. Die Urteilskraft nimmt
eine eigentümliche Mittelstellung zwischen Verstand und Vernunft
ein. Dem Verstand entsprechen die Naturgesetze, welche die Objekte
unseres theoretischen Erkennens ausmachen, der Vernunft die prak-
tischen Gesetze, die aus dem Freiheitsbegriff entspringen. Die Kluft,
die zwischen diesen beiden Begriffen entsteht, soll die Urteilskraft
ausfüllen, indem sie den Zweckbegriff, der ursprünglich dem Gebiet
des freien Handelns entnommen ist, auf die Natur übertragen soll.
Nach Kant ist die Urteilskraft dasjenige Vermögen unseres Geistes,
durch das wir das Besondere dem Allgemeinen subsumieren. Da
nun die allgemeinen Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstände
haben, so muß unsere reflektierende Urteilskraft die Natur in sofern
Wilhelm Wundts Stellung zvir Erkenntnistheorie Kants. 39
-
zweckmäßig auffassen, als sich auf diese die Funktionen unseres
Verstandes anwenden lassen. „Aus dieser Übereinstimmung der
Objekte des Erkennens mit der Erkenntnisfunktion geht zunächst
eine subjektive oder formale Zweckmäßigkeit hervor." „Außerdem
können wir nun unser eigenes Erkenntnisvermögen gleichsam in die
Natur hinausversetzen. Wir können uns fragen, ob das Einzelne,
gleichwie es mit dem allgemeinen Begriff, dem wir es subjektiv unter-
ordnen, übereinstimmen muß, so auch mit dem Ganzen, zu dem es
gehört, als dem Allgemeinen, unter dem es objektiv enthalten ist,
übereinstimme. Hier ist es ein Prinzip der objektiven Zweckmäßigkeit,
das wir jedoch niemals anzuwenden vermöchten, wenn wir uns nicht
zuvor jenes Prinzips der subjektiven Zweckmäßigkeit bei allem unserem
Erkennen inne würden." L. I. 624.
Diese Theorie bringt nach der Ansicht Wundts in sehr gekünstelter
Weise den Naturzweck mit dem formalen Zweckbegriff und beide
wieder mit dem Schematismus der Seelenvermögen in Verbindung,
wodurch die wissenschaftliche Stellung des Zweckbegriffs eine un-
sichere und schwankende wird. Der durch die Übertragung aus dem
Gebiet des freien Handelns auf die Natur postulierte Zweckbegriff
kann nie zeigen, wie das einzelne entstehen muß, sondern nur, wie
es in Übereinstimmung mit dem Ganzen, zu dem es gehört, gedacht
werden kann, so daß bloß eine Methode subjektiver Reflexion zu-
stande kommt. „Diese kann daher in Wirklichkeit jene Kluft zwischen
Freiheit und Naturnotwendigkeit niemals ausfüllen, sondern sie
kann höchstens unserem Denken die allgemeine Möglichkeit nahe
bringen, daß sie an sich — obgleich niemals in unserer wirklichen
Erkenntnis — ausfüllbar sei. Hierdurch wird aber das Zweckprinzip
selbst zu einem nicht der Kausalität koordinierten Grundgesetze,
sondern zu einem bloßen Hilfsprinzip, wie sich auch schon darin
verrät, daß in Kants theoretischem Hauptwerk der Zweckbegriff
nicht einmal erwähnt wird." L. I. 625.
„ Eine noch größere Schwierigkeit erwächst der Kantischen Teleologie
auf ihrem eigenen Boden infolge des Übergangs von der subjektiven
zur objektiven Zweckmäßigkeit, den sie zu gewinnen sucht. Die
Unterordnung der Erfahrung unter allgemeine Begriffe und die Ver-
bindung der einzelnen Teile eines Objekts zu einem Ganzen sind zwei
Vorgänge, die höchstens in dem allgemeinen Begriff der Subsumtion
übereinstimmen. Aber selbst dieser Begriff wird in beiden Fällen
40 Willi Nef.
in sehr verschiedenem Sinne gebraucht. Nur bei der subjektiven
Zweckmäßigkeit handelt es sich um eine wirkliche Subsumtion unter
allgemeine Begriffe, und zwar um eine notwendige, weil ohne jene
allgemeinen Begriffe nach Kant überhaupt keine Erfahrung möglich
ist. Im zweiten Fall handelt es sich dagegen vielmehr um eine wechsel-
seitige Beziehung der Teile und des Ganzen, die auszuführen oder
nicht vollkommen in unserer Macht steht. So hebt denn auch Kant
ausdrücklich hervor, daß die Übertragung des Prinzips der subjektiven
Zweckmäßigkeit auf die Objekte der Natur keineswegs überall sich
vollziehe, sondern daß wir sie vorzugsweise auf einzelne Natur-
produkte anwenden, nämlich auf die o r g a n i s c h e n. In dieser
Beziehung ist daher der Zweck wiederum ein bloßes Hilfsprinzip,
das herbeigezogen werden soll, sobald man mit der Erklärung durch
mechanische Kausalität nicht ausreicht. Denn obgleich Kant die
allgemeine Denkbarkeit einer Erklärung der lebenden Natur nach
mechanischen Gesetzen zugestand, so leugnete er doch die praktische
Möglichkeit einer solchen Erklärung ganz und gar: auch nur die Er-
zeugung eines Strohhalms nach mechanischen Gesetzen darzutun,
werde allezeit unmöglich sein. Man kann zugeben, daß der Zustand
der biologischen Wissenschaften zu Kants und beinahe noch zu unseren
Zeiten diesen Verzicht begreiflich erscheinen läßt. Gleichwohl hätte
er nicht ausgesprochen werden können, wenn nicht von vornherein
die logische Bestimmung des Zweckprinzips eine unsichere gewesen
wäre." L. I. 625 — 626.
Wird nach dem Prinzip des Wissenschaftlich allein haltbaren
aktuellen Kausalitätsbegriffs die Ursache sowohl wie die Wirkung als
ein Vorgang, ein Ereignis aufgefaßt, so ist uns die Möglichkeit ge-
boten, die progressive Richtung der Kausalbetrachtung in eine re-
gressive umzuwandeln. Die regressive aber ist die nach dem Prinzip
des Zweckes. Auf diese Weise wird der Zweck zur Umkehrung des
Kausalprinzipes und zu einem, diesem koordinierten Erkenntnis-
prinzip. Was in der Kausalbetrachtung Ursache war, wird in der
teleologischen zum Mittel, was sich dort als Wirkung zeigte, wird
hier zum Zweck. Es gibt keinen Zusammenhang von Ereignissen,
der nicht gleichzeitig unter dem kausalen und unter dem teleolo-
gischen Gesichtspunkte betrachtet werden könnte. S. I. 309 ff. „Wenn
wir von den Pump wirkungen des Herzens zu der Bewegung des Blutes
in den Gefäßen übergehen, so sind jene die Ursachen der letzteren;
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 41
wenn wir umgekehrt von der Blutbewegung in den Gefäßen auf die
Herzaktion zurückgehen, so ist die erstere der Zweck, der durch die
letztere erreicht wird." L. I. 631.
Es gibt kein Erscheinungsgebiet, auf das nicht neben dem Kausal-
das Zweckprinzip anwendbar wäre. Niemals schließen beide Prinzipien
sich aus und insbesondere ist die Anwendung des Zweckprinzips
nur unter der Voraussetzung der gleichzeitigen Gültigkeit des Kausal-
prinzips möglich. „Denn stets ist diejenige Ordnung der Erscheinungen,
bei der wir von dem Bedingenden zu dem Bedingten fortschreiten,
eine Ordnung nach Kausalität, diejenige dagegen, bei der wir von dem
Bedingten zur Bedingung zurückgehen, eine Ordnung nach dem
Zweck. Auf diese Weise entspringen Kausalität und Zweck aus den
zwei einzig möglichen logischen Gesichtspunkten, unter denen wil-
den Satz des Grundes auf einen Zusammenhang des Ge-
schehens anwenden können.
Auch das Zweckprinzip ist daher diesem Satz unterzuordnen.
Es entspringt gleich dem Kausalprinzip aus dessen Anwendung auf
die Erfahrung. Bei der Kausalität wird der Grund zur Ursache, die
Folge zur Wirkung; bei der Zweckbetrachtung wird die Folge zum
Zweck, der Grund zum Mittel. Das Kausalprinzip ist die näher liegende
Anwendung, weil es die unserem logischen Denken unmittelbar inne-
wohnende Richtung vom Grund zur Folge einhält. Aber wie wir schon
in unserem Denken diese Richtung umkehren können, indem wir
uns fragen, welches der Grund zu einem gegebenen Urteil sei, d. h.
welche andern Urteile wir als Prämissen voraussetzen müssen, damit
daraus ein gegebenes als Schluß hervorgehe, so können wir auch in
der logischen Verbindung der Erfahrungen die Frage stellen: was
muß vorausgehen, wenn ein gegebener Erfolg eintreten soll? Sobald
dies geschieht, handeln wir nach dem Zweckprinzip." L. I. 632 f.
6. Erscheinung, Ding an sich und Wirk-
lichkeit.
Alle Erkenntnis entsteht nach der Ansicht Kants aus einem Stoff,
der gegeben ist und den die Materie ordnenden Anschauungs- und
Verstandesfonnen. Der Betrachtung dieser Formen schenkte Kant
eine große Aufmerksamkeit, dagegen vernachlässigte er sehr die
Beachtung des Stoffes der Erkenntnis. Fast könnte man glauben,
42 Willi Nef.
meint Wundt, die Beschäftigung mit dem sinnlichen Stoff sei unter
der Würde des Philosophen gelegen. Dieser Fehler der Vernachlässigung
des objektiv Gegebenen gereichte der Kantischen Erkennt nislehre
zu großem Schaden, er ist ein Grundfehler, der sich in allen einzelnen
Untersuchungen bemerkbar macht, und der „das Ergebnis dieser
Erkenntniskritik auch dann in Frage stellen würde, wenn man sich
entschließen wollte, die gezwungenen und willkürlichen Feststellungen
im einzelnen, die besonders in der Architektonik der Kategorientafel
mit ihrem über alle Teile des Systems sich erstreckenden Schematismus
ihren Ausdruck finden, um der Bedeutung des Ganzen willen mit in
den Kauf zu nehmen." Kl. Sehr. I. 193.
Kant tut das objektiv Gegebene mit dem einen Begriff der „Materie
der Empfindung" ab, ohne sich darum zu kümmern, ob diese Materie
nicht doch in den verschiedenen Fällen eine verschiedene ist, und
in wiefern solche Unterschiede mit den Anschauungsformen und
Verstandesbegriffen in einer Weise zusammenhängen, durch die
diese Funktionen selbst erst verständlich werden. „Für Kant ist
dieser Stoff der Empfindung in der Tat wenig verschieden von dem
platonischen ///} oV." Kl. Sehr. I. 193. Es war eine irrige Meinung
Kants, zu glauben, die in uns liegenden Funktionen des Erkennens
lassen sich ohne Rücksicht auf den Stoff herauslösen. Dieser Stand-
punkt, nach welchem die Materie der Empfindung überall als das
gleiche, an sich indifferente Substrat der Erkenntnisfunktionen er-
scheint, ist in Wahrheit von der alten Annahme angeborener Ideen,
die fertig in uns liegen sollen, nur wenig verschieden. „Schließt doch
dies die Voraussetzung ein, jede beliebige Empfindung könne alle
apriorischen Funktionen, Anschauungsformen und Begriffe, zumal
auslösen. Hier kann man in der Tat zweifeln, ob nicht auch ein Leibniz
oder selbst ein Descartes mit dieser Auffassung des Apriori sich hätten
einverstanden erklären können." Kl. Sehr. 1. 194.
Dem gegebenen Stoff der Empfindung standen bei Kant die
dem erkennenden Subjekt angehörenden Formen der Ordnung und
Auffassung der Dinge getrennt gegenüber. „Je mehr nun diese Formen
als fertig vorhandene, keiner weiteren Ableitung zugängliche von
ihm angesehen wurden, um so mehr mußte hier die falsche Vorstellung
sich unterschieben, die Unterscheidung von Subjekt und Objekt »ehe
aller Erfahrung voraus, eine Vorstellung, zu der überdies Kants An-
sicht, daß „das Bewußtsein unserer eigenen Existenz" früher sei
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 43
als jede äußere Erfahrung, fast mit Notwendigkeit hindrängte.'1
Kl. Sehr. I. 189 f.
Dies führte Kant zu dem verhängnisvollen Irrtum der Gegen-
überstellung von Erscheinung und Ding an sich, an Stelle des richtigen
Gegensatzes von Erscheinung und Wirklichkeit. Das Ding an sich
ist nach dieser einen erkenntnistheoretischen Bedeutung das unbe-
kannte Substrat, von dem wir in der Empfindung „affiziert" werden;
dieses unbekannte Substrat wandelt sich durch die ordnenden Formen
unseres Erkennens in die „Erscheinung" um. Diese Gegenüberstellung
wirkte denn auch verhängnisvoll auf die neuere Erkenntnistheorie
ein. Da die Objekte der Erfahrung als Erscheinungen angesehen
wurden, die nur im „Gemüt" des erkennenden Subjektes ihre Stelle
haben, so drehte sich die Erkenntnistheorie zum großen Teil um die
Frage, wie es kommen möge, daß die Objekte aus dem Gemüt wiederum
nach außen versetzt werden. Man sah nicht ein, daß diese Frage
über das sogenannte Problem der Außenwelt von vornherein falsch
gestellt war, da sie von einer falschen Voraussetzung, der ursprüng-
lichen Trennung von Subjekt und Objekt ausgeht, während das
Hauptproblem, das die Kantische Erkenntnislehre unerledigt ge-
lassen, das Verhältnis der Denkfunktionen zu dem Stoff der Er-
fahrung, unberücksichtigt geblieben ist. vgl. Kl. Sehr. I. 191 und 196.
In die Kantische Gegenüberstellung von Erscheinung und Ding
an sich mischten sich nun aber auch noch metaphysische und ethische
Motive, die dem Ding an sich neben dem oben angeführten Sinne
eine zweite Bedeutung gaben. Die Erscheinung würde in ihrer Be-
deutung mit dem Schein zusammenfallen, wenn nicht hinter der
Erscheinung als das eigentlich Wirkliche ein transzendenter Gegen-
stand vorauszusetzen wäre. Dieses übersinnliche Substrat, dessen
Kant für seine Ethik zu bedürfen glaubte, ist die absolute Substanz
der älteren spekulativen Philosophie. Diese Idee liegt vermöge der
ihr beigelegten Prädikate der absoluten Unendlichkeit oder Ein-
fachheit usw. von vornherein außerhalb der Erfahrungserkenntnis,
so daß auch Anschauungsformen und Verstandesbegriffe selbstver-
ständlich keine Anwendung auf sie finden können. Vgl. Kl. Sehr.
I. 189 f. und 196 f.
Sehen wir nun zu, welche Kritik Wundt an diesen Anschauungen
Kants übt. Gesteht man zu, daß sich alles Erkennen auf ein Ge-
g e b e n e s bezieht, so besteht die erste und notwendigste Aufgabe
44 Willi Ne f.
der Erkenntnistheorie darin, nachzuweisen, wie dieses Gegebene be-
schaffen sein müsse, wenn die Erkenntnisfunktionen sich an ihm
wirksam erweisen sollen, und welche Erkenntnisfunktionen hinwiederum
erforderlich seien, -wenn das Gegebene so in seine Teile sich gliedern
soll, und wenn zwischen diesen Teilen solche logische Beziehungen
sich herstellen, wie es in Wirklichkeit geschieht. „Mit andern Worten:
es müssen die Korrelationen ermittelt werden, die nach Maßgabe
der wirklichen Erkenntnisentwicklung zwischen Stoff und Form
der Erkenntnis bestehen. Aus dieser Fundamentalaufgabe der Er-
kenntnistheorie ergeben sich vor allen Dingen zwei Folgerungen:
eine negative und eine positive. Die erstere besteht darin, daß das
„Ding an sich" nicht bloß ein jenseits der Wirklichkeit hegender,
sondern ein unmöglicher Begriff ist, der bei Kant eben nur aus dem
Bedürfnis entspringt, dem objektiven Glied jener Korrelation des
Gegebenen zu unseren Erkenntnisfunktionen ein imaginäres Objekt
zu substituieren. Diese Substitution ist hinfällig, weil die ganze Wirk-
lichkeit in nichts anderem als in der Einheit der Erkenntnisfunktionen
und ihren im Gegebenen vorauszusetzenden Korrelationen zu ihnen
besteht, eine außerhalb dieser stehende Wirklichkeit aber eine völlig-
leere und willkürliche Fiktion ist. Die zweite, positive Folgerung
besteht darin, daß das Erkennen keine bloß subjektive Tätigkeit
unseres Denkens, sondern daß es im gleichen Maße an ein objektives
Geschehen gebunden ist, insofern eben unser Denken im Erkennen
genau die Wege einhalten muß, die ihm durch seine Korrelationen
zum Gegebenen selbst vorgezeichnet werden. In dieser Gebundenheit
des subjektiven Erkenntnisaktes an die Eigenschaften und Verhält-
nisse der gegebenen Wirklichkeit besteht die wahre Einheit
des Denkens und Seins, im Gegensatze zu jener falschen,
unter der man eine durch die alleinige Macht des Denkens erzeugte
Wirklichkeit des Seins verstand. Daß die uns gegebene Wirklichkeit
den Denkgesetzen, nach denen wir sie ordnen, konform sein müsse,
das ist ja in der Tat die Forderung, ohne die keine Erkenntnis und
darum auch keine Erkenntnistheorie bestehen kann. Da aber beide
Faktoren, das denkende Subjekt und das gedachte Objekt, unab-
änderlich zusammengehören, so sind beide in dieser Verbindung-
gleichzeitig das „Ding an sich", das sich erst in unserer Reflexion
in jene beiden Faktoren scheidet, und die „Erscheinung", die sich
eben nur dadurch von dem bloßen Schein unterscheidet, daß sie das
Wilhelm Wur.dts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 45
Ding selbst ist. Schein und Erscheinung würden dagegen unrettbar
in ihrer Bedeutung zusammenfließen, wenn hinter der Erscheinung
als das eigentlich Wirkliche ein transzendenter Gegenstand voraus-
zusetzen wäre." Kl. Sehr. I. 196—197.
Durch diese Kritik der Kantischen Lehre sind wir denn zugleich
bei einem der Fundamentalsätze der Wundtschen Erkenntnislehre
angelangt, Die Frage nach dem Verhältnis der subjektiven und ob-
jektiven Faktoren des Erkennens müssen wir dahin beantworten,
daß dieses Verhältnis dies der Einheit ist, die sich zwar in der
denkenden Betrachtung der Dinge in ihre Teile gliedert, bei deren
Betrachtung man aber immer wieder der Einheit eingedenk bleiben
muß, aus der sie entsprungen sind. Diese Einheit des erkennenden
Subjektes und der erkannten Objekte hat dann für die verschiedenen
Faktoren des Erkenntnisprozesses wieder verschiedene Bedeutung.
Die Qualität der Empfindungen hat die Wissenschaft auf Grund
einer Jahrhunderte dauernden Arbeit in das erkennende Subjekt
zurückverwiesen; dadurch sind Licht und Schall und die übrigen
Empfindungen nicht aus der Wirklichkeit selbst verschwunden;
,,aber sie sind zu den zurückbleibenden objektiven Inhalten in ein
Verhältnis der Ergänzung getreten, die sich überall mit jenen
wieder verbinden muß und von selbst verbindet, wo unsere eigene
volle Persönlichkeit mit dem gesamten Inhalt der Erscheinungswelt
in Beziehung tritt." Kl. Sehr. I. 198. Auch mit Rücksicht auf die
ordnenden Formen der Anschauungen und Verstandesbegriffe bilden
Subjekt und Objekt eine Einheit. „Bei jeder Begriffsbildung aber,
von der begrifflichen Sonderung der Anschauungsformen an bis herauf
zu den begrifflichen Formen der Ordnung der Erscheinungen, ist
unser Denken an Eigenschaften und Veränderungen der objektiven
Erscheinungswelt gebunden, die den Denkformen adäquat sein müssen,
wenn diese überhaupt entstehen sollen. Hier ist dann die Sonderung
der an sich ungeteilten räumlich-zeitlichen Anschauungsform in den
Raum und die Zeit, diese einfachste unter den subjektiv-objektiven
Denkfunktionen, vorbildlich für alle weiteren Gedankenbüdungen.
Die Ergänzung verwandelt sich also bei allen diesen formalen Inhalten
unserer Erkenntnis in eine notwendige Korrelatio n." Kl.
Sehr. I. 199.
Im Hinblick auf das Verhältnis von Subjekt und Objekt können
wir an ein Wort Fichtes anknüpfen: „das Licht außer mir ist das
46 Willi Ne f.
Licht in mir, und ich selbst bin das Licht" — um ihm nach den oben
gegebenen Erörterungen die zutreffendere Form zu geben: „Den
Gesetzen der Erscheinungen außer mir entsprechen die Gesetze des
Denkens in mir, denn es ist dieselbe Vernunft, die in der gegenständ-
lichen Welt, und die in mir selber wirksam ist." Kl. Sehr. I. 199.
Noch ist ein Wort über die Zeitfolge, in welcher Subjekt und
Objekt, diese beiden Faktoren alles Denkens und Erkennens selbst
zu unserer Erkenntnis gelangen, beizufügen. Das Gegebene und das
erkennende Subjekt stehen in einer an sich unlösbaren Korrelation
zueinander, sie können jedoch als zusammengehörige Glieder eines
Erkenntnisprozesses nur sukzessiv erkannt werden. Es ist unab-
weislich, daß die objektiven Bedingungen den subjektiven Motiven des
Denkens vorangehen, wie etwa auf physiologischem Gebiet der objektive
Reiz der subjektiven Empfindung vorausgeht. Für unser unterscheiden-
des Denken ist das Objekt früher als das Subjekt, Vgl. Kl. Sehr. 200 ff.
„Diese Priorität des objektivierten Denkens reflektiert sich denn
auch nicht bloß in der Psychologie der individuellen Bewußtseins-
entwicklung, in der diese Selbstunterscheidimg bekanntlich ein relativ
später Akt ist, sondern — was hier von entscheidendem Gewicht
ist — sie findet ihren deutlichen Ausdruck in der Entwicklung der
wissenschaftlichen Erkenntnis, die überall von einem
naiven Objektivismus ausgegangen ist, um, nach mannigfachen
Kämpfen zwischen dieser naiven und der allmählich sich dagegen
erhebenden kritischen Betrachtungsweise, der Erkenntnis zu weichen,
daß beide, Subjekt und Objekt, allezeit zusammengehören, daß aber
dieses Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit zugleich eine ent-
sprechende Scheidung der wissenschaftlichen Erkenntnisgebiete for-
dert, wie sie auf der einen Seite in der Naturwissenschaft, auf der
andern in der Psychologie und den sich auf ihr erhebenden Geisteswissen-
schaften verwirklicht ist, Damit weist dieses Verhältnis die Erkenntnis-
theorie selbst auf den Weg hin, der zwischen den einseitigen subjektivis-
tischen und objektivistischen Richtungen mitten hindurchgeht, um dem
allgemeinen Gang der wissenschaftlichen Erkenntnis das wesentliche
Material für die Analyse der Erkenntnisstufen zu entnehmen." Kl.
Sehr. I. 201 f.
Damit mögen diese Betrachtungen abgeschlossen werden. Zeigten
sie auch vorzugsweise, daß Wundt in vieler Beziehung einen Kant
Wilhelm Wundts Stellung zur Erkenntnistheorie Kants. 47
entgegengesetzten oder mindestens einen von ihm verschiedenen
Standpunkt vertritt, so kamen doch auch wieder an dem einen und
andern Orte Berührungspunkte zwischen den beiden Erkenntnis-
lehren zum Vorschein. Bei aller Kritik weiß Wundt aber die Schärfe
des Kantischen Denkens zu würdigen. So ist Wundt der Ansicht,
daß Kant an Tiefe des Denkens ebenso den seichten Eklektizismus
der Wolffianer und Popularphilosophen, die ihm vorausgingen, über-
rage, wie an Strenge und Behutsamkeit die spekulative Philosophie,
die nach ihm gekommen ist. „Das allein würde schon den Vorzug
erklären und rechtfertigen, der ihm heute zuteil wird." Kl. Sehr. I. 150.
Durch die sorgfältige Ausführung des Kategorienschemas, die De-
duktion der Kategorien und den mit wunderbarem Scharfsinn durch-
geführten Schematismus der Zeitformen, wird die „Kritik auch dann,
wenn man sie längst zu den verflossenen Systemen zählen wird, immer
noch den Wert eines für die Übung in philosophischem Denken un-
übertrefflichen Werkes bewahren." Kl. Sehr. I. 203. Auf der andern
Seite sollen wir uns aber davor hüten, Kant wie einen Lebenden
unter Lebenden zu betrachten. „Wir sollen nicht annehmen, daß die
Voraussetzungen, unter denen sein Denken und Fühlen stand, die
nämlichen gewesen sind, die für uns heute gelten. Wir sollen nicht,
auch nicht für die Spanne eines Jahrhunderts, in den Fehler der
mittelalterlichen Scholastik zurückfallen und uns einer Autorität
unterwerfen, die gewesen ist und nie mehr sein wird." Kl. Sehr. I. 151.
Wir sollen uns hüten, im Anschluß an Kant in jenen Fehler zurück-
zufallen, für den Kant selbst das bezeichnende Wort Dogmatis-
mus geschaffen hat.
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1913
1.
Dem Nestor unter den Philosophen der Gegenwart
Sr. Exzellenz dem Wirklichen Geheimen Rat
Professor Dr. Wundt in Leipzig
in dankbarer Verehrung gewidmet
vom
Verfasser-
•
b
V o r b e m e r k u n u
-•
„Die einen, die Franzosen und Italiener, bestrebt die Natur durch
die Philosophie zu vermenschlichen, der Deutsche dagegen eifrigst,
bemüht, allen Anthropomorphismus zu überwinden. Um es vorweg-
zunehmen: man schied nicht mit dem Bewußtsein einer erreichten
gegenseitigen Verständigung, sondern mit dem Gefühl, in völlig ge-
trennte Welten geblickt zu haben.'' In diese Worte faßt Dr. Falter
in den Kantstudien, Bd. XVI, Heft 2 und 3 S. 275 ff. seinen Bericht
über das Ergebnis des 4. internationalen Philosophenkongresses zu
Bologna zusammen. Nicht bloß in zwei verschiedene Welten aber,
so möchten wir hinzufügen, sondern auch in einen förmlichen Ab-
grund blickt man nach diesen Verhandlungen, einen Abgrund nämlich
der völligen R a 1 1 o s i g k e i t und s c h w a nkendste n
Unsicherheit, in dem sich leider Gottes immer noch und in
der Gegenwart vielleicht mehr als je die Philosophie befindet. Demi
nicht etwa bloß um Einzelfragen, und wären sie auch
die wichtigsten gewesen, auch nicht bloß um die fundamentale Frage
nach den Aufgaben und dem Gebiete der Philosophie, die einen früheren
Kongreß, allerdings ebenfalls ergebnislos, beschäftigt hat, handelte
es sich bei jenen Erörterungen, sondern es handelte sich bei ihnen um
die für die Philosophie fundamentalste aller Fragen
nämlich die Frage: was ist Philosophie überhaupt, ist sie Wissen-
schaft also in ihrem Auf- und Ausbau an die Grundsätze des gesetz-
mäßigen Erkennens gebunden, oder ist sie etwas mehr der Kunst
wesensverwandtes, worauf die Darlegungen Boutrouxs auf jenem
Kongresse hinauskamen, oder beruht sie ihrem ganzen Wesen und
Inhalt nach auf einer Art inneren Erlebens, für das man die sonst in
anderin Sinne gebrauchte Bezeichnung „Intuition" in Anspruch
6 H. G. Opitz,
nimmt, wie es der zur Zeit unter den französischen am meisten ge-
nannte Philosoph Bergson annehmen zu sollen glaubt, oder was ist
die Philosophie sonst? Nichts Geringeres also als die Frage, ob die
Philosophie im Reiche des Geistes überhaupt ein definierbarer Vor-
stellungskreis, mit andern Worten, ob sie in diesem Reiche überhaupt
existenzberechtigt ist, nichts Geringeres als diese Frage ist es, was
bei jenen Verhandlungen zur Erörterung stand. Man denke: im Reiche
des Geistes somit in dem Reiche, in dem sie die geborene Herrscherin
sein sollte, in dem Reiche, in dem ihr der Thronsessel gebührt, in
diesem ganzen großen Reiche sucht die Philosophie auch gegenwärtig,
also nach Jahrtausenden •unsäglicher Mühen, die auf sie verwendet
worden sind, noch nach einem Plätzchen, und wäre es auch
das allerbescheidenste nur, leider aber — vergeblich. Ist
aber unter solchen Verhältnissen nicht weniger als Alles
streitig, so muß die Philosophie gegenwärtig ganz offenbar,
um sich überhaupt die Existenzberechtigung zu ermöglichen,
wieder ganz von vorn also von den allerersten Anfangsgründen be-
ginnen, muß sie zurückgehen auf die Grundlagen alles menschlichen
Vorstellens, muß sie somit bei der Feststellung des Erkenntnis-
Verfahrens wieder anfangen und an der Hand seiner Lehren
nachzuweisen suchen, daß neben den sonstigen geistigen Vorstellungs-
kreisen: den Einzelwissenschaften, der Kunst und der Religion über-
haupt noch Raum, noch berechtigter Anlaß zur Etablierung eines
Vorstellungskreises ist, wie man ihn in Gestalt der Philosophie bisher
besessen zu haben glaubt. Tut sie das nicht, überläßt sie sich vielmehr
auch ferner ihrem bisherigen sorglosen und durchaus ungeregelten
Umherschweifen auf allen nur möglichen Geistesgebieten,
so ist alles ihr Mühen und Arbeiten von vornherein eitel
und vergeblich. Als unverantwortlich ja fast als gewissenlos
gegenüber der Philosophie selbst muß man es daher bezeichnen,
wenn man fortfährt, sich bei ihr mit andern Fragen zu befassen,
solange noch diese allererste und fundamentalste, diese eigentliche
Lebensfrage für sie bestritten und offen ist, Man gleicht ja ,
verfährt man anders, bei seinem Vorgehen geradezu einem Sinnlosen,
der nichts Geringeres unternimmt, als über das offene Meer den
Schienenstrang für eine Eisenbahn zu legen. Einsichtige Philosophen
der Gegenwart haben das auch richtig durchgefühlt und ihre Bestre-
bungen danach eingerichtet. Insbesondere hat Vaihinger unter solchen
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 7
Umständen gerade im richtigen Zeitpunkte sein schon so vielbesproche-
nes Werk über die „Philosophie des Als-Ob", das auch dem Kongresse"
zu Bologna überreicht worden, erscheinen lassen und dadurch die
Aufmerksamkeit auf die Frage gelenkt, die nach dem Obigen im
Grunde genommen zurzeit nicht bloß zuerst sondern allein die
Philosophie beschäftigen dürfte.
Zur Lösung dieser Frage sollen nun auch die nachstehenden
Darlegungen einen Beitrag liefern. Durch die gründliche Unter-
suchung unseres Erkenntnisverfahrens nach seinen metaphysischen
Unterlagen hin soll durch sie gegenüber namentlich der Verhand-
lungen auf dem Kongresse in Bologna ein Zweifaches festgestellt
werden: einmal, daß die deutsche Philosophie im Rechte ist, wenn
sie im Anschlüsse an Kant für die Philosophie unbedingt den Cha-
rakter der reinen Wissenschaftlichkeit in Anspruch nimmt, und dem-
nächst, daß das an sich richtig erkannte Moment, das gegenwärtig
für die französische und italienische Philosophie vorwiegend be-
stimmend ist: die unserem Erkenntnisverfahren durchgängig zu-
grundeliegende Symbolisierung und Anthropomorphosierung des
Erkenntnisstoffes nicht zu einer Neuorientierung der Philosophie
an s i c h . sondern nur zu einer solchen im Verhältnisse d e r
Philosophie zur Religion führen kann und wird. Zu
diesem Zweck gilt es also und ist es unvermeidlich, im Nachstenden
wenn auch nur in den allgemeinsten Umrissen, so doch die Frage
nach dem Wesen unseres Erkenntnisverfahrens nochmals von Grund
aus aufzurollen, und zwar selbst auf die Gefahr hin, bei diesem
Vorgehen stellenweise Allbekanntes wiederholen zu müssen.
A 1 1 g e m e i n e s ü b e r d a s E r k e n n t n i s v e r f a h r e n.
Das Erkenntnisverfahren als solches hat es lediglich mit den
f o r m a 1 e n Vorgängen zu tun, nach denen sich unser Erkennen
in seinen beiden llauptstadien: dem Sammeln und dem Bearbeiten
des Erkenntnisstoffes vollzieht. Die materielle Unterlage des
Erkenntnisverfahrens, der Erkenntnisstoff selbst, kommt hierbei
um; insoweit in Betracht, als es zur Feststellung jener rein formalen
Vorgänge unerläßlich ist. Die Lehre vom Erkenntnisverfahren,
die Erkenntnislehre, Erkenntnistheorie, gehörl daher ihrem ganzen
Umfang nach zur Psychologie. Die Lehre von den G r Li n d 1 a ge n
g EL G. Opitz,
unseres Erkenntnisverfahrens dagegen betrifft das Verhältnis in
dem das Erkenntnisverfahren zum Erkenntnisgegenstande steht,
also die Beziehungen zwischen der inneren Erscheinung unseres
Ich zur Welt der Dinge und gehört daher nicht zur Psychologie
sondern zur Metaphysik1). In dieser bewegt sie sich auf dem
Gebiet des Problems, das man als das „Erkenntiüsproblem" zu
bezeichnen pflegt. In der Natur aller Wissenschaften liegt es ohne
weiteres begründet, daß man bei ihnen Einzelfragen schlechterdings
nicht mit Erfolg behandeln kann, wenn man nicht zuvor Stellung
zu den Grundfra g e n , zu den Unterlagen und V o r -
aussetz ungen der betreffenden Wissenschaft genommen hat,
Bei den Naturwissenschaften geschieht dies in der Regel still-
schweigend, da man sich bei ihnen im vornherein darüber einig ist.
daß sie sämtlich auf empirischer Grundlage beruhen. Anders bei der
Metaphysik. Hier hat man sich bekanntlich trotz jahrtau sendlangen
heißesten Bemühens noch auf keinem der zahlreichen Gebiete auf
eine feste Grundanschauung zu einigen vermocht. Soviel Systeme
man bei der Metaphysik bisher aufgestellt hat, so viele sind deren
vielmehr auch beim weiteren Fortschreiten der Erörterungen wieder
verworfen worden. Nun kommt es ja leider nur zu häufig vor, daß
man, unbekümmert um diesen Umstand, auch auf metaphysischem
Gebiete ins Blaue hinein philosophiert, ohne sich auf eine bestimmte
Grundanschauung zu stützen, ja selbst ohne sich auch nur der
Notwendigkeit einer bestimmten Grundanschauung bewußt zu
werden. Freilich hat sich das aber an der Philosophie auch
bitter genug gerächt, Denn eben darin liegt ja der Haupt-
grund der bedauerlichen Zerfahrenheit, in der sich die Meta-
physik und überhaupt die ganze Philosophie auch gegenwärtig
noch befindet, liegt der Hauptgrund dafür, daß Niemand auf diesem
Gebiete, wie man so sagt, weiß, was gehauen und gestochen ist, und
daß die Ppilosophie auch heute noch alles weniger als das Verdienst
hat, die Daseinswidersprüche gelöst oder auch nur zu ihrer Lösung
wesentlich beigetragen zu haben. Beurteilt namentlich an dieser
Verfassung der Philosophie selbst, können jene Widersprüche der
Menschheit vielmehr nur um so heller und greller erscheinen. Nein,
l) Siehe des Verfassers Grundriß einer Seinswissenscliaft Ia. Erkenntnis-
ehre S. 8 fg.
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 9
will man das ganze Gebäude der philosophischen Argumentation
nicht geradezu in die Luft errichten, so muß es auch bei der Behand-
lung metaphysischer Fragen das Allererste sein, zu dem Grund-
problem, zu dem die betreffende Frage gehört, Stellung zu nehmen.
Wenn es einen Gerichtshof für diese Dinge gäbe, so dürfte ohne diese
Voraussetzung auf dem Gebiete der Philosophie überhaupt Niemand
zum Wort gelassen werden. Geschähe das, dann würde wenigstens
zunächst Ordnung und Übersicht in die philosophische Diskussion
kommen, nicht aber würden, wie es jetzt der Fall ist, und wie es Goethe
so treffend ironisiert: „alle zwar nacheinand e r aber nicht
miteinan der reden."
Auch beim Erkenntnisprobleme stehen sich bekanntlich unge-
zählte Grundanschauungen gegenüber. Es gilt daher auch bei unserem,
die metaphysischen Grundlagen der Erkenntnis betreffenden Gegen-
stand vor allem andern Stellung zu den Grundanschauungen dieses
letzteren Problems zu nehmen. Diese Stellungnahme aber kann fin-
den, der auch für metaphysische Probleme den positiven Stand-
punkt als den allein wissenschaftlichen und darum allein frucht-
bringenden und berechtigten ansieht, nicht zweifelhaft sein. Das
von diesem Standpunkt allein in Frage kommende System ist und kann
nicht das als Idealismus bezeichnete System sein, bei dem alles Er-
kennbare und Erkannte lediglich als Erzeugnis unseres Ich aufgefaßt
wird. Denn diese Auffassung führt letzten Endes durch ihre völlige
Verneinung der Existenz der Außenwelt zum Inimaterialismus und
Solipsismus, damit aber zur völligen Verrückung jedes natürlichen
Standpunkts, ja zur kompletten Sinnlosigkeit. Aber auch der Realismus
kann diese taugliche Unterlage nicht abgeben, denn er verfällt in den
entgegengesetzten Fehler, indem er das Erkannte mit der Wirklich-
keit ohne Weiteres gleichsetzt und damit die unveräußerlichen Ein-
sichten völlig ausschaltet, die man bei tieferem Eindringen in die
P^rkenntnisvorgängo erhält. Eine taugliche Unterlage für das Er-
kenntnisprobleirj kann vielmehr nur die hiernach allein noch ver-
bleibende und in Betracht kommende Grundanschauung abgeben,
die man als ,,1 d eal-Realis m u st- oder „P h ä n o m e n a I i s -
mus"2) bezeichnet. Nach diesem System wird die reale Existenz
2) Empiriokritizismus (Avenarius), idealistischer Positivismus und Rela-
tivismus.
10 H. G. Opitz,
einer unabhängig von unserem Ich bestehenden Außenwelt als Wesens-
welt, als Welt der Wirklichkeit anerkannt. Diese Wesenswelt, dessen
hat man sich zu bescheiden, entzieht sich als solche zwar völlig unserer
Erkennbarkeit, wohl aber, das sind wir durch eine den Charakter
des Naturgesetzes an sich tragende Denknotwendigkeit gezwungen,
anzunehmen, beeinflußt (affiziert) sie durch ihre „kosmischen An-
stöße'" unabhängig von unserem Willen die Wahrnehmungen unserer
äußeren Sinne dergestalt, daß sie für deren Inhalt allein maßgebend
wird und damit die Unterlagen für die Herstellung wenigstens des
E r s c li e i n u n g s b i 1 d s der Welt in uns bietet. Die erkenntnis-
theoretische Grundanschauung also keines Geringeren als des großen
Königsberger Weisen vom „Ding an sich" als dem Absolut-Realen,
die er selbst als „transzendentalen Idealismus" oder „Phänomenalis-
mus" bezeichnet hat, ist es, die man seiner Auffassung zugrunde legen
muß, wenn man vom metaphysischen Standpunkte aus zu einer
wissenschaftli c h e n Lösung der Frage nach den Grundlagen
unseres Erkenntnisverfahrens gelangen will. In der Tat hat Kant
durch die Aufstellung jener seiner Lehre vom transzendentalen
Idealismus oder Phänomenalismus der Philosophie unvergängliche
Dienste erwiesen. Und zwar beruhen diese Verdien stein einem Doppelten.
Zunächst hat er mit dieser Lehre für die Psychologie einerseits jede
weitere Erörterung über das hinter der Erscheinung stehende Wesen
ebenso des Erkennens wie der Seele selbst abgeschnitten und die
Psychologie damit aus dem alles verwirrenden Nebel befreit, in den
sie durch die unzulässige Hereinziehung anderer metaphysischer Ge-
sichtspunkte geraten war, anderseits sie ausschließlich auf die innere
Beobachtung also die Erfahrung verwiesen, hierdurch aber die Bahn
zur positive n und damit allein wissenschaftlichen
Behandlung der Psychologie freigemacht. Zum andern aber hat Kant
durch jene seine Lehre eben damit, daß er für die Psychologie den
positiven Boden bereitet, auch für die Metaphysik, die sich nur auf die
Psychologie aufbaut und aufbauen darf, erst eine feste Unterlage
geschaffen, auf der nunmehr auch sie ein wissenschaftliches Gebäude
zu errichten in die Lage versetzt worden ist, Nun hat Kant zwar
für seine Philosophie selbst den nurgedachten Nutzen aus seiner
Lehre vom Phänomenalismus nicht, wenigstens nicht voll gezogen.
Kant gleicht in dieser Hinsicht vielmehr jenem großen Gesetzgeber
des auserwählten Volks, der vom Berge Nebo herab das gelobte Land,
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 11
zu dem er sein Volk geführt, zwar erblicken aber nicht selbst betreten
sollte. Denn er selbst hat sich jene Möglichkeit abgeschnitten, und
zwar hinsichtlich der Psychologie dadurch, daß er diese durch ihre
Zuweisung zur bloßen Anthropologie überhaupt aus dem Kreise der
Philosophie heraus verwies und an ihre Stelle seine lediglich erkenntnis-
theoretische, aber auch die Sache nicht einmal treffende oder fördernde
Lehre von den ,, reinen Begriffen" setzte, hinsichtlich der Metaphysik
aber dadurch, daß er dieser bloß regulativen nicht aber konstitutiven
Wert zuerkannte und ihr damit überhaupt den Charakter einer Wissen-
schaft absprach. Trotzdem wird durch alles das der Wert jenes Grund-
satzes selbst und seine bahnbrechende Bedeutung für die Philosophie
in keiner Weise angetastet oder eingeschränkt. Diese bahnbrechende
Eigenschaft bleibt vielmehr dem unerachtet durchaus bestehen und
sie bekundet sich auch praktisch dadurch immer von Neuem aufs
Drastischste, daß man, so oft auch nach Aufstellung dieses Grund-
satzes Versuche gemacht worden sind, für die Philosophie eine andere
Basis zu gewinnen, — man denke nur an die gesamte Spekulation
nach Kant — sich doch stets gezwungen sah, nach mehr oder minder
verfehlten Versuchen beschämt von jenen Abwegen zurückzuschleichen
(Schopenhauer) und sich wieder dem von Kant gewiesenen Wege
zuzuwenden, der unter allen allein zum Ziele führen kann. In der
Tat nur. dieser Weg, daran muß unbedingt festgehalten werden,
vermag die Philosophie aus ihrer gegenwärtigen unseligen Lage,
bei der namentlich im Hinblick auf die immer glänzender sich ge-
staltenden Erfolge der Naturwissenschaften auch die treusten An-
hänger an ihr irre zu werden beginnen, zu befreien und sie zu einer
fruchtbaren Wissenschaft zu machen, ja selbst ihr die Wege zur
„königlichen" Wissenschaft zu bahnen, die sie ihrem ganzen Wesen
und ihrer Sendung nach unter den Wissenschaften sein soll.
Freilich setzt das voraus, daß man sich hierbei von den Irrwegen
freihält, durch deren Betreten Kant selbst bei der Ausgestaltung
jener Grundanschauung namentlich infolge seiner Lehre von der
aphoristischen Erkenntnis und der hieran geknüpften Theorie von (\v\\
reinen Begriffen, nicht weniger aber durch seine Lehre von den syn-
thetischen und analytischen Urteilen, sowie durch die Unterscheidung
der konstitutiven und regulativen Erkenntnisse und die an
die letztere geknüpfte Lehre von den „Ideen" seinerseits sich uui
den Erfolg gebracht hat, der von ihm hierbei äugest reld worden.
12 H. G. Opitz,
Und sicherlich würde die durch den Neukantianismus, der ja bekannt-
lich eine große Anzahl der bedeutendsten Köpfe unter den Philosophen
der Gegenwart zu seinen Anhängern zählt, sowie die durch Vaihinger
gegründete Kantgesellschaft mit der von ihr unterstützten Zeit-
schrift „Kantstu dien" in großem Stile angebahnte Rückkehr zu
Kant bereits jetzt noch viel namhaftere Ergebnisse für die Philosophie
gezeitigt haben, hätte sie noch einen stärkeren Ton auf die Klar-
und Richtigstellung gerade jener Abwege Kants gelegt, als es tat-
sächlich bisher geschehen ist. Auch von dem gegenwärtig berechtigtes
Aufsehen erregenden Werke Vaihingers über die „Philosophie des
Als-Ob" läßt sich nun zwar nicht schlechthin sagen, daß es die nur
gekennzeichnete präjudizielle Aufgabe bereits voll erfüllt hätte.
Trotzdem kann man von diesem Werke wohl behaupten, daß es wie
kein anderes vor ihm geeignet ist, die volle Erkenntnis und Durch-
führung der Grundanschauung vom Ideal-Realismus anzubahnen
und dadurch in der Tat eine neue Epoche für die Philosophie herauf-
zuführen. Denn Vaihinger leitet uns durch sein Werk wenn schon
nicht auf jenen von Kant angewiesenen Heerweg zur wahren Erkenntnis
selbst, wohl aber führt er uns überall unmittelbar neben ihm her,
und es bedarf nur noch weniger Schritte zur Seite, um auf jenen Heer-
weg selbst herüber zu treten und auf ihm zum erwünschten Ziele zu
gelangen. Das Letztere, nachdem es Vaihinger so wirksam vorbereitet,
gar herbeiführen zu helfen, dazu sollen die nachstehenden Darlegungen
über die metaphysischen Grundlagen unseres Erkenntnisverfahrens
dienen, und wir werden diese Darlegungen nunmehr damit einleiten,
daß wir zunächst aufzeigen, wie an der Hand der ideal-realistischen
Grundanschauimg die grundlegenden Vorstellungen von einem Nicht-
Ich und einer Außenwelt in uns erzeugt werden, um dann zur Dar-
stellung der Formen und Gesichtspunkte, nach denen sich unsere Er-
kenntnis dieser Außenwelt selbst vollzieht, überzugehen.
N i c h t - 1 c h. Außenwelt,
Auch bei den Wahrnehmungen, die wir mittelst des i n n e r e n
Sinnes machen, liegen die Verhältnisse nicht so, daß bei ihnen überall
und unbedingt unser Wille für Inhalt und Gegenstand dieser Wahr-
nehmungen bestimmend wäre. Wie unser inneres Ich vielmehr in
seiner Einrichtung und Betätigung, in der Charakteranlage und in-
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 13
tellektuellen Befähigung, in der Art seiner Vorstellungs- und Willens-
bildung an bestimmte, unserer Willkür entzogene Gesetze gebunden
ist, so können naturgemäß auch die Beobachtungen, die wir mittelst
des inneren Sinnes an unserem Ich vornehmen, den Inhalt der inneren
Wahrnehmungen nicht ihrerseits etwa frei und nach Willkür be-
stimmen. Sondern dieser Inhalt wird auch bei ihnen unserem Ich
diktiert und aufgenötigt, ist also auch bei ihnen ein von unserem Ich
unabhängiger. Immerhin nehmen wir aber doch bei diesem Teil
unserer Vorstellungen auch nichts auße r unserem Ich wahr, nehmen
wir zwar eine Gebundenheit aber doch immer nur eine solche unserer
selbst, durch uns selbst, nur eine solche unseres Ich durch dieses
Ich selbst wahr. Wesentlich anders bei den Wahrnehmungen der
äußere n Sinne. Hier bleibt zwar der Inhalt der Wahrnehmungen
durchaus ebenfalls nur das Erzeugnis unseres inneren Ich, bei dem
sich unmittelbar miterzeugend außer unserem Ich nichts beteiligt.
Dennoch wird der Inhalt dieser Wahrnehmungen nicht von unserem
Ich bestimmt, sondern von einem Etwas, das nicht von unserem Willen
abhängig ist, das nicht mit unserem Ich zusammenfällt, nicht an
unser Ich gebunden und nicht mit unserem Ich identisch sein kann.
Wenn wir die Augen aufschlagen, so steht es nicht bei uns, zu be-
stimmen, was wir dann sehen. Sondern unsere Sinne müssen aufnehmen
und können nur wiedergeben, was ihnen von außen entgegengebracht
wird. „Bei dem Akte des Wahrnehmens ist das denkende Empfinden
dv* betr. Gegenstandes mein. Dieser selbst aber als das bestimmte
Ziel meines denkenden Empfindens wird mir aufgezwungen."
(Schwarzkopff) 3). Der von unseren Sinnen wahrgenommene Gegen-
stand stellt sich sonach als etwas von unserem Willen völlig unab-
hängiges und selbständiges dar, unabhängig und selbständig sowohl
seinem Entstehen und Vergehen als seinen Eigenschaften und seiner
Betätigung, seiner Entwicklung und seinen sonstigen Geschicken nach,
mit einem Worte, er stellt sich unserem Ich gegenüber als Nich t -
Ich dar.
Die gekennzeichnete Abhängigkeit und Unselbständigkeit des
Inhalts unserer äußeren Wahrnehmungen bedingt aber doch zunächst
und solange nicht Weiteres dazu kommt, nur diese letztere Vorstellung,
!) Dessen geistvolle Schrift: „Das Wesen der Erkenntnis" in den Kant-
studien Bd. XVI, Heft 4 S. 464 f fg. sehr einseitig und mit wenig Verständnis
beurteilt wird.
14 H. <:. Opitz,
nur die Vorstellung von einem Nicht-Ich, nicht aber bedingt sie auch
die Vorstellung von etwas außer uns im Räume, also die
Vorstellung von einer Außenwel t. Denn das, was unser Auge
an Farben und Lichteindrücken wahrnimmt — und diese sind es allein,
die beim Sehen wahrgenommen werden — braucht noch nicht Gegen-
stand außer uns im Räume zu sein, ebenso wie die Farben eines Ge-
mäldes nur Farben nicht aber die Gegenstände selbst bilden, die sie
darstellen sollen. Um uns etwas als außer uns im Räume befindlich
vorzustellen, dazu gehört vielmehr auch noch, daß wir uns durch die
eigene Betätigung im Räume des Vorhandenseins des letzteren be-
wußt werden, gehört somit vor Allem die Möglichkeit der Änderung
unseres Standpunktes im Räume, mit andern Worten die Be-
wegungsfreiheit unseres Körpers, durch die namentlich auch
die Betätigung des Sinnes ermöglicht wird, durch den wir neben dem
Auge die Vorstellung von der plastischen Eigenschaft also von dem
räumlichen Vor- und Zurücktreten der Gegenstände, ihren Tiefen-
verhältnissen, erhalten: des Tastsinns. Nur wenn diese Bewegungs-
freiheit unseres Körpers und unseres Auges sowie die Betätigung
des Tastsinnes den sonstigen Sinneswahrnehmungen hinzutritt,
erkennen wir die Gegenstände als außer uns im Räume befindlich,
bildet sich in uns neben der Vorstellung von einem Nicht-Ich auch
noch die Vorstellung von der A u ß e n w e 1 1 4).
Was nun das Erkennen dieser Außenwelt anlangt, so geht daraus,
daß wir die Außenwelt nur mit Hilfe und auf Grund der Wahrneh-
mungen der äußeren Sinne erkennen können, hervor, daß das, was
wir in solcher Weise erkennen, niemals mit dem Wesen, niemals
mit der Wirklichkeit selbst zusammenfallen, niemals Wesen und
Wirklichkeit selbst sein kann, sondern immer nur W i e d e r g a b e ,
Abbild, „Vorstellung" der Wirklichkeit ist, Aber auch als
Wiedergabe und Abbild entsprechen die Wahrnehmungen von der
Außenwelt nicht ihrem Gegenstande, dem Wirklichen. Die Farben-
4) „Es ist zum Mindesten fraglich, ob das vollständig ruhende Doppel-
auge jemals einen stereometrischen Raum sich konstruieren könnte. Aber
unsere Augen bewegen sich, der Akkomodationsmuskel spielt, der Kopf wird
gedreht, der ganze Körper vorwärts bewegt, die Gesichtsempfindungen weiden
durch Betasten kontrolliert und so eine große Summe neuer assozierter Ee-
wegungs- und Tastvorstellungen erworben. Durch diese Assoziation eihält
unsere Gesichtswahrnehmung erst ihren stereometrischen Chaiakter" (Ziehen).
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. L5
und Lichtempfindungen des Auges geben keineswegs die Äther-
Schwingungen, die Tonempfindungen keineswegs die Luftschwingungen,
der Geruch keineswegs die Gegenstandsteile wieder, durch die die
gedachten Empfindungen hervorgerufen werden und deren Abbild
sie sein sollten. Trotz dieser unbestreibaren Inkongruenz unserer
Sinneswahrnehmungen mit der Wirklichkeit steht aber doch das Eine
ebenso unumstößlich fest, nämlich daß das mit Hilfe der Sinnes-
wahrnehmungen gewonnene, nach dem Gesagten nur als „E r -
scheinungsbil d" sich darstellende Weltbild, mag es auch
mit der Wirklichkeit nicht zusammenfallen, sondern nur ein Abbild
darstellen, doch das Einzige ist, was wir von der Wirklichkeit und
dessen Wesen zunächst erkennen können. Denn alle die Behauptungen
über ein unmittelbares Erfassen des Erkenntnisgegenstandes, die
man unter der Bezeichnung „unmittelbares, visionäres Schauen".
„Intuition'", „Divination", „substantielles Wissen" oder wie man
es sonst noch genannt hat, in die Philosophie einzuführen gesucht
hat, sie haben sich sämtlich als eitel Schaumschlägerei, als Blasen
erwiesen, die im gärenden Kessel der Spekulation nach oben getrieben
worden, lediglich um an der Hohles nicht duldenden Luft zu zerplatzen.
I );i nun aber eine Daseinsführung ohne Vorstellung von der Außen-
welt völlig unmöglich und anderseits als Erkenntnismittel für die
Außenwelt nur jenes Erscheinungsbild gegeben ist, so bleibt also
und solange, bis zu dem bisherigen nicht noch ein weiteres Erkennen
hinzu kommt, schlechterdings nichts übrig, als jenes bloße Erschei-
nungsbild vorläufig für die Wirklichkeit selbst zu nehmen,
es an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen und allem unseren weiteren
Erkennen als a 1 1 e i n i g e u n d a u s s ch 1 i e ß 1 i c h e Unterlage zu gründe
zu legen. „Wir vermögen zwar einen strikten Nachweis irgend welcher
Realität nicht zu erbringen. Da wir sie aber gebrauchen, so postulieren
wir Realität und setzen sie" (Külpe). Dabei bleibt das Wesen, die
Wirklichkeit als Ur- und Hintergrund des Erscheinungsbildes trotz-
dem noch durchaus bestehen und macht sich auch praktisch fort-
während noch in dieser seiner Eigenschaft, und zwar in doppelter
Beziehung geltend. Einmal insofern als die Gestaltung des Erschei-
nungsbildes nicht von unserem Willen abhängig ist, sondern maß-,
form- und gesetzgebend für dasselbe allein jenes außer uns ange-
nommene Absolut-Reale bleibt und sodann insofern, als uns die Er-
kenntnis von der bloßen Erscheinungsnatur des Weltbildes der An-
II) H. G. Opitz,
sporn wird, dieses Bild durch dessen unausgesetzte weitere Prüfung
auf seinen Wirklichkeitsgehalt immer eingehender zu untersuchen
und dadurch seinem Urbilde immer mehr anzunähern.
Was aber gegenüber dem sich in solcher Weise vollziehenden Erken-
nen unser „W i s s e n" von der Außenwelt anlangt, so ergibt sich für
dieses aus dem dargestellten Wesen unseres Erkennens folgendes. Mit
unserem Erkennen von der Außenwelt, das nach dem Gesagten einer
fortwährenden Vertiefung im Sinne der weiteren Annäherung an
das Wirkliche fähig und bedürftig ist, demnach aber in seinen Unter-
lagen der Ergänzung und Veränderung unterliegt, ruht nach alledem
auch unser gesamtes Wissen von der Außenwelt auf s c h w a n k e n -
der Grundlage, ist auch all unser Wissen dazu verurteilt, alle die
Schwankungen mitzumachen, die diese seine Grund- und Unterlage
erleidet, jenachdem sie durch tieferes Eindringen in die Wirklich-
keit sich ändert oder ergänzt wird. Daraus folgt, daß innerhalb des
Rahmens des so angetanen Erkenntnisverfahrens eine u nbe dingt
sichere Erkenntnis, ein unbedingt sicheres, d. h. der
Wirklichkeit gleichkommendes Wissen von vorn-
herein ausgeschlossen ist. Selbst das Wissen, das wir als
„exaktes" zu bezeichnen pflegen, ist sonach von diesem Standpunkte,
vom Standpunkte des Wesens und der Wirklichkeit aus, kein unbedingtes
Wissen, sondern ebenfalls nur ein Wissen mit Vorbehalt und unter
Bedingungen. Wie wir aber im Mangel aller und jeder weiteren
Erkenntnismöglichkeit das als Wirklichkeit ansehen müssen und
aliein unserem weiteren Erkennen zugrunde legen können, was uns
durch die Sinneswahrnehmungen vermittelt wird, also das Erschei-
nungsbild der Welt, so verwandelt sich auch der Begriff „Wissen",
der an sich die Übereinstimmung unserer Verstellungen mit der Wirk-
lichkeit bedeutet, nunmehr dahin, daß er die Übereinstimmung nicht
mehr mit der Wirklichkeit, sondern mit dem bloßen, auf gesetzmäßigem
Wege gewonnenen Erscheinungsbilde bedeutet und demgemäß auch
verschiedener Abstufungen, Grade, fähig ist, je nachdem die betreffen-
den Vorstellungen durch die vorhandene, die tatsächlich gegebene
Erkenntnisunterlage ihre Beglaubigung finden oder nicht.
Auch die Philosophie oder Seinswissenschaft, der das Verdienst
gebührt, das dargelegte Wesen unserer nur hypothetischen und proble-
matischen Erkenntnis von der Außenwelt aufgedeckt zu haben, so
unsägliche Anstrengungen sie gemacht hat, sich andere Erkenntnis-
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 17
mittel und einen andern Erkenntnisweg beizulegen, wofür für alle
Zeiten das bezeichnendste Beispiel das Bestreben der sogenannten
Identitäts-Philosophie, Subjekt und Objekt, Denken und Sein in
Eins zu setzen, bleiben wird, auch die Philosophie hat für ihr Vor-
gehen und Verfahren platterdings keine anderen Erkenntnismittel,
als sie die profane Erkenntnis hat und muß sich demnach trotz allen
Sträubens in den Gedanken finden, muß sich dabei bescheiden, daß.
wenn sie Wissenschaft sein will, auch sie nur das Erscheinungsbild
der Außenwelt, wie es mit Hilfe der äußeren Sinne gewonnen wird,
zugrundelegen und ihr Wissensgebäude auf ihm allein errichten kann.
Allein dann, wenn sie auf dieses Weltbild als das Positive, das „Ge-
gebene" ihre Erkenntnis*? gründet, vermag sie diesen Erkenntnissen
zwar nicht unbedingt festen aber doch den festesten Halt zu geben,
den menschliches Wissen überhaupt haben kann. Jede andere Unter-
lage, mag sie nun in dem sogenannten unmittelbaren Schauen oder
in bloß logischen Konstruktionen oder gar bloß auf Phantasie be-
ruhen, kann dieser Erkenntnis gegenüber überall nur eine will-
kürliche, nur eine gestalt- und haltlose, jedenfalls
aber niemals eine wissenschaftliche sein, die doch die
philosophische Erkenntnis unter allen Umständen sein soll. Man
bezeichnet die Richtung der Philosophie, die sich dementsprechend
ausschließlich auf das „Gegebene" stützt, als Positivismu s.
Sie ist nach dem Dargelegten die Richtung, die unter allen allein auf
Wissenschaftlichkeit Anspruch erheben kann. Auch die Philosophie
stützt sich somit im Positivismus zwar letzten Endes ebenfalls auf
die E r f a h r u n g. Trotzdem fällt sie deshalb in ihrer Methode
noch nicht mit den übrigen Wissenschaften zusammen, unterscheidet
sich vielmehr immer noch sehr wesentlich von ihnen. Denn sie bleibt
nicht wie diese bei der Erfahrung stehen, sondern sie greift über diese
hinaus in das Gebiet des Unendlichen und Unbedingten, hierbei
von der durchaus richtigen Annahme ausgehend, daß unsere Erkennt-
nis zwar nicht nach ihrem Ursprung wohl aber nach ihrem E n d -
und Ausgangspunkte hin über die Erfahrung hinaus ge-
langen und damit auch eine Unterlage für die Metaphysik gewinnen
kann. Wie der Mensch, der den festen Boden der Erde unter sich hat,
nicht vom Schwindel gepackt wird bei dem Gedanken daran, daß diese
unsere Erde frei und anscheinend haltlos im Äthermeer schwimmt,
wie er sich vielmehr auf jenem seinem festen Standpunkt sicher
Archiv für Geschichte der Philosophie (Beilageheft) 2
18 H. G. Opitz,
und von ihm allein aus in der Lage fühlt, zu sein und sich auszuwirken,
so darf sich auch der Philosoph bei dem Gedanken an das im Äther-
meere der Wesenswelt anscheinend haltlos schwebende Erscheinungs-
bild der Welt nicht vom Schwindel packen lassen, darf er nicht seine
sichere Erfahrungs-Grundlage aufgeben, sondern auch er muß von
ihr aus seine Aufgabe zu lösen suchen und kann sie nur von ihr aus
lösen.
Die Voraussetzungen des Erkennens der
Außenwelt.
Nun aber kommen wir zu der eigentlichen Frage unserer Dar-
stellung, zu der Frage: in welchem Verhältnisse steht das, was uns
unsere äußeren Sinne in der dargestellten Weise als Daten, als Unter-
lage, als Vorwurf für die Erzeugung des Wiltbildes liefern, zu unserem
sonstigen, den Stoff verarbeitenden Erkenntnisverfahren, mit andern
Worten, auf welchem Wege bringen wir jenen Erkenntnisgegenstand
unserem Verständnisse näher? Das, was allein die Sinne uns an solchen
Daten liefern, ist zunächst nichts als ein buntes Gemisch von Farben-
und Lichtempfindungen, von Tastempfindungen, Gehörs-, Geruchs-
und Geschmacksempfindungen, die wir bildlich und ganz in Über-
einstimmung mit der ideal-realistischen Grundauffassung als „Ein-
drücke" bezeichnen, unseren Verstand dabei gewissermaßen einer
Wachstafel oder der Walze in einem Phonographen mit ihrer Emp-
fänglichkeit zur Aufnahme aller möglichen Eindrucksspuren ver-
gleichend. Eine so beschaffene Wiedergabe der Außenwelt ist selbst-
verständlich an und für sich zunächst für unsere Daseinsführung.
und zwar sowohl in praktischer wie theoretischer, in leiblicher wie
geistiger Beziehung gleich wert- und bedeutungslos. Sie kann Wert
und Bedeutung für uns nur erst dann und insoweit erhalten, wenn
und insoweit wir jenes bunte Gewühl von Sinnesempfindungen ent-
wirren, ordnen, regeln also die betr. Ercheinungen unserem auf diese
Ordnung und Regelung angewiesenen Verständnis näher bringen.
Was heißt das aber: die Außenwelt in solcher Gestalt unserem Ver-
ständnis näher bringen und worin besteht dieses Näherbringen, wie
vollzieht es sich? Zweierlei steht hier von vornherein und unbedingt
fest, nämlich einmal ergibt sich auf formellem Gebiete als uner-
läßliche Voraussetzung für ein Verstehen der Außenwelt die, daß
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. H>
unser Erkenntnisverfahren im Verhältnis zur Außenwelt vor allen
Dingen seiner äußeren Anlage und Ei n r i c h t u n g nach
so angetan sein muß, daß uns durch sie ein Verständnis der Außen-
welt ermöglicht wird. Da der Erkenntnisstoff der Außenwelt uns
vollständig unabhängig von unserem inneren Ich entgegengebracht
wird, so wäre das Gegenteil, nämlich daß dieser Stoff sich durch seine
vollständige Inkongruenz mit der Einrichtung unseres Erkenntnis-
Verfahrens der Zugänglich keit des letzteren völlig entzöge, nicht
unmöglich, und in diesem Falle natürlich jedes Verständnis der
Außenwelt für uns von vornherein ausgeschlossen. Die zweite Voraus-
setzung liegt auf materielle m Gebiete und besteht darin, daß,
da wir zur Erkenntnis der Außenwelt in materieller Hinsicht schlechter-
dings nichts weiter mitbringen, als die Kenntnis von unserem inneren
Ich, die Außenwelt nur dann und insoweit unserem Verständnisse
zugängig ist, als die Kenntnis von unserem inneren Ich.es ermöglicht.
In beiden Beziehungen ergibt sich also als unumstößliche und funda-
mentale Tatsache die, daß das Eindringen in das Verständinis der
Außenwelt in nichts Anderem besteht und bestehen kann, als darin,
daß wir die Außenwelt in irgendwelcher Weise
unserem inneren Ich in Beziehung bringen
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und daß nur, insoweit uns dies gelingt, eine Erkenntnis der Außenwelt
möglich ist.
Untersuchen wir nun dieses In-Beziehung-Bringen der Außen-
welt zu unserem inneren Ich, das Verfahren hierbei und seine Vor-
aussetzungen näher und zwar zunächst:
1. in formeller Hinsicht,
in Hinsicht also auf die äußere Einrichtung und An-
1 ;i g e der Außenwelt einerseits und unseres Erkennt-
n i s v e r in ö g e n s anderseits, so ergibt sieh folgendes. Das Material,
das uns die Sinne namentlich aber ^U'v vollkommenste und univer-
sellste unter ihnen, das Auge, von (\vv Außenwell liefern, kennt nach
keiner Richtung hin ein Ende oder Grenzen, de mehr wir diesem Mate-
riale nachgehen, umsomehr von ihm drängt sieh uns auf. um so mehr
werden wir gewahr, dal.) es nach allen Richtungen hin unermeßlich
und unerschöpflich ist. Einem solchen Materiale würde unser Er-
kenntnisvermögen nur entsprechen, wenn es in seiner Aufnahme-
2*
20 H. G. Opitz,
fähigkeit ebenfalls unermeßlich und unerschöpflich, insbesondere
aber imstande wäre, das ihm als Ganzes und Gleichzeitiges Entgegen-
tretende auch seinerseits als Ganzes und gleichzeitig zu erfassen.
Nur dann, wenn es diese Eigenschaften aufwiese, würde unser Er-
kenntnisvermögen seinem Erkenntnisstoffe angepaßt und gewachsen
sein. Wie unendlich viel beschränkter und kleiner stellt sich demgegen-
über aber in Wirklichkeit unsere Erkenntnitifähigkeit? Alles weniger
als aufs Erkennen des Ganzen und dessen gleichzeitige Aufnahme
eingerichtet, vermag es von dem Ganzen gleichzeitig und mit einem
Male nur kleine und kleinste Ausschnitte aufzunehmen. Wie unserm
Auge die Außenwelt in Gestalt eines großen Meeres von Farben und
Lichteindrücken als ein Ganzes gegenübertritt, wie wir aber, wenn wir
von diesem Farben- und Lichtmeer etwas genauer erkennen wollen,
den betr. Teil des vor uns befindlichen Bildes in den sogenannten
„Blickpunkt" bringen müssen und dieser Blickpunkt immer mu-
rinen sehr kleinen Teil des ganzen Bildes umfaßt, in derselben Weise
vermag auch unser geistiges Auge das vor ihm liegende Weltbild
nur dann seinem Verständnisse näher zu bringen, wenn wir dieses
Bild in kleinste Teile, fast möchte man sagen, in Punkte zerlegen
und so in den geistigen „Blickpunkt" bringen, wenn wir es mit dem
geistigen Auge gewissermaßen wie mit der Hand „begreifen", also in
„Begriffe" bringen. Je größer diese Ausschnitte, diese Teile sind, um
so dunkler, allgemeiner, verschwommener sind die Begriffe von ihnen,
je kleiner, um so mehr sind sie der Deutung und Erfassung zugänglich,
also um so „deutlicher" und „faßlicher" sind sie.
Das Weltbild muß in dieser Weise also durch die „Enge" der Be-
griffe hindurchgehen, um von uns verstanden zu werden. Das ist
es, was wir damit sagen wollen, wenn wir unsere Erkenntnis als „Teil-
erkenntnis", als „Begriffs"-, als „Diskursiverkenntnis" bezeichnen.
In solcher Weise ist unser Erkenntnisvermögen seinem äußeren
Umfang nach, um es einmal so zu bezeichnen, eingerichtet. Nun
fragt sich aber, ob dieser Eigenschaft als Teil- oder Begriffserkenntnis
auch die Einrichtung der mittelst seiner zu erkennenden Außenwelt
entspricht, ob die Außenwelt, die uns an sich als Ganzes gegenüber-
tritt, also sich auch ihrerseits in solche Teile überhaupt zerlegen
läßt, wie es diese Begriffserkenntnis erfordert. Es ließe sich ganz wohl
denken, daß dem nicht so wäre, und tatsächlich ist dem auch nicht
bloß bei großen Teilen, sondern sogar bei dem weitaus größten Teile
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 21
der Außenwelt nicht so. Den allergrößten Teil der Außenwelt bildet
das den Weltraum ausfüllende Äthermeer. Dieses Äthermeer hat
tatsächlich die Eigenschaft, daß es weder für das Auge noch für den
Verstand nach den äußeren Eindrücken teilbar ist. Es stellt sich
uns äußerlich vielmehr als ein einheitliches großes Ganzes und daher
unserer Teil- oder Begriffserkenntnis als gänzlich unzugänglich dar.
Ebenso ist das bei dem uns umgebenden Luftmeer und dem den
größten Teile der Erdoberfläche bedeckenden Weltmeere der Fall.
Wäre die ganze Welt so eingerichtet wie diese ihre Teile, so würde
auch sie unserem Verständnisse beinahe völlig unzugänglich sein.
In Wirklichkeit ist sie aber nicht, wenigstens nicht überall in der
gedachten Weise, sondern so eingerichtet, daß es auch andere Teile
und dabei, was von besonderer Bedeutung ist, vorwiegend in der
rmgebung des Menschen gibt, die eine Zerlegung in weitere und solche
Teile, wie sie unserem Begriffsvermögen entsprechen, ihrerseits zulassen,
ein Umstand, der für uns so wichtig ist, daß uns durch um überhaupt
erst eine Daseinsführimg auf diesem Planeten ermöglicht wird. Und
zwar ist der Stoff, den diese Teile der Außenwelt liefern, nicht bloß
teilbar nach den Wahrnehmungen der einzelnen Sinne, sondern auch
die Wahrnehmungen jedes einzelnen Sinnes wiederum weisen Ver-
schiedenheiten in unzähligen Abstufungen auf, nach denen wir eine
Teilung dieses Erkenntnisstoffes angemessen unserem Begriffsver-
mögen vorzunehmen in die Lage kommen, und auf die wir nun das
ganze Gebäude unserer weiteren Erkenntnis errichten können.
Durch diese Teilung des Erkenntnisstoffs, und zwar nur erst
durch sie tritt nun für unser Erkenntnisverfahren, soll anders aus
den Sinneswahrnehmungen ein Weltbild werden, die Notwendigkeit
an uns heran, die in solcher Weise künstlich gebildeten, unter sich
zusammenhangslosen Teile des Erkenntnisbildes zu einander auch
wieder künstlich in Beziehung zu bringen, und zwar ist es das Erste
hierbei, sie in ihrer Folge neben einander zu ordnen. Diese Ordnung
der Teile in ihrer Folge n e b e n e i n a n d e r bezeichnen wir als die
Ordnung der Dinge im ..Kaum". Der Begriff „Raum" ist hiernach
eist infolge (\i>v geschilderten Teilung des F>kenntnisstoffs entstanden
und bedeutet somit das Verhältnis, in dem die bei dieser Teilung sich
ergebenden Gegenstände der Außenwelt in ihrer Folge nebeneinander
zu sich stehen 5). Es geht hieraus ohne weiteres hervor, daß der
6) ..Der Raum ist ein abstraktes Onlnui l'ssnsUiu" (Mach).
22 H. G. Opitz,
Raum nichts Gegenständliches, nichts unseren äußeren Sinnen Wahr-
nehmbares, sondern schlechterdings nur der für uns durch die Eigen-
schaft unserer Erkenntnis als Teilerkenntnis nötig gewordene Be-
griff (Reihen-, Beziehungs-, Verhältnisgriff) von der Folge der Gegen-
stände nebeneinander ist, eine zwar ohne weiteres einleuchtende und
unumstößliche Wahrheit, aber eine Wahrheit, deren Entdeckung
erst Kant vorbehalten gewesen ist, und die leider auch trotz Kant
immer noch dann und wann angezweifelt wird.
Da unsere Erkenntnis aber auch in dem weiteren Sinne nur eine
Teilerkenntnis ist, daß wir gleichzeitig nur einen Gedanken denken
können, und unser Weltbild sonach aus nicht gleichzeitig, sondern
nacheinander entstandenen Vorstellungen besteht, so macht
sich infolge der nurgedachten Eigenschaft unserer Erkenntnis außer
der Ordnung der Dinge nebeneinander, der Ordnung also im Räume,*
auch eine solche noch nacheinander erforderlich, und für diese
haben wir die Bezeichnung „Zeit", von der inbezug auf ihre Ent-
stehung und Gegenständlichkeit durchaus dasselbe gilt, was eben über
den Begriff „Raum" gesagt worden ist.
Auch dadurch, daß sich die Außenwelt der Eigenschaft unserer
Erkenntnis als Teil- oder Begriffserkenntnis entsprechend in Teile
zerlegen und so zu unserem Ich in Beziehung bringen läßt, würde
unserer Erkenntnis jedoch noch nicht viel geholfen sein, wenn die
Außenwelt nicht auch in andern ebenso wesentlichen Beziehungen
in ihrer Einrichtung der Anlage unseres Erkenntnisvermögens ent-
gegenkäme. Unser Begriffsvermögen nämlich ist in seiner Aufnahme-
fähigkeit nicht so verschwenderisch ausgestattet, daß es — natürlich
nur nacheinander, und mit dem Gedächtnis, da wir gleichzeitig eben
mehr als Einen Gedanken nicht denken können — so unzählig viele
Begriffe bilden und in sich aufbewahren könnte, wie es an sich der
ihm gegenüberstehende Erkenntnisstoff erheischte. Sondern wie die
Begriffe in uns meist nur mühsam und unter längerem Zeitauf wände
gebildet werden, so sind es auch verhältnismäßig, im Verhältnis
nämlich zu dem unbegrenzten Erkenntnisstoff, selbst bei der längsten
Lebensdauer doch nur wenige Begriffe, die wir uns bilden und dauernd
,in uns festhalten können. Wäre nun die Außenwelt so angetan, daß
sich die durch Begriffe ausscheidbaren Teile von ihr in fortwährendem
Wechsel befänden, kein Gegenstand also in den nächsten Augen-
blicken schon mehr unseren Sinnen als derselbe erschiene, sondern
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 23
jede Erscheinung im kürzesten Zeiträume die andere verdrängte und
ablöste, so würde mit dem Sehwinden des betr. Gegenstandes auch
der über diesen gebildete Begriff für uns wertlos werden, und da es
nur eine sehr beschränkte Anzahl Begriffe ist, die wir uns überhaupt
bilden können, so würde dann unser Erkenntnisvermögen der Welt
als seinem Erkenntnisgegenstande unter solchen Umständen natürlich
vollständig hilflos gegenüberstehen. Und in der Tat gibt es auch große
Teile der Außenwelt, bei denen das der Fall ist, so bei den Wolken-
Gebilden und sonstigen Erscheinungen, die im Lufträume über uns,
so bei den Wellen und sonstigen Veränderungen, die im Meere auf-
treten. Uns von den nurgedachten Erscheinungen, den einzelnen
Wolken am Himmel, den einzelnen Wellen im Meere, Begriffe zu bilden,
würde bei deren Flüchtigkeit nach Lage der Sache meist völlig wert-
und bedeutungslos sein, fehlt doch für ihre Verwendbarkeit jede
weitere Gelegenheit. Auch hier aber zeigt es sich, daß die Außenwelt
als Erkenntnisgegenstand wenigstens bei zahlreichen ihrer Teile
eine entgegenkommende ist, denn sie weist eine solche Einrichtung
auf, daß diese Teile längere Zeit keinem Wechsel, keiner Veränderung
unterworfen sind, mithin also längere Zeit hindurch unseren Sinnen
als dieselben erscheinen und wir sie so als festen Besitzstand
unseres Erkenntnisschatzes ansehen und verwerten können. Das
Gesagte gilt insbesondere von den festen Teilen der Außenwelt, der
Erdrinde, den Gesteinen, den Mineralien, aber nicht minder auch
von der Mehrzahl der Lebewesen, Menschen, Tiere, Pflanzen, die
sämtlich ihre äußere und innere Verfassung längere Zeit beibehalten,
sonach für unser Erkenntnisvermögen dieselben bleiben und daher
auch eine dauernde Verwendung der für sie gebildeten Begriffe
gestatten. Bei allen diesen Gegenständen verzinst sich sozusagen
das in die Begriffe gesteckte Kapital durch deren längere und häufigere
Verwendbarkeit mehr oder minder reichlich, während es im entgegen-
gesetzten Falle vergeblich aufgewendet ist.
Aber auch damit würde die Erkenntnisfähigkeit noch nicht eine
solche werden, dal.) sie uns eine unseren Bedürfnissen entsprechende
Daseinsführung auf diesem Planeten möglich machte. Die verhältnis-
mäßig kleine Anzahl von Begriffen, die wir uns auch bei der längsten
Lebensdauer zu bilden, und die noch viel kleinere Anzahl, die wir
dauernd im Gedächtnis festzuhalten vermögen, würde zu dem ge-
dachten Zwecke auch nicht entfernt ausreichen, träte nicht den bis-
24 H. G. Opitz,
her festgestellten Einrichtungen der Außenwelt noch die weitere
hinzu, die wir als Einrichtung der „Gruppenerscheinunge n"
bezeichnen können. Mit diesen Gruppenerscheinungen aber hat es
folgende Bewandtnis.
Auch hier müssen wir von der durch die Rücksicht auf die Unab-
hängigkeit der Außenwelt von unserem Ich nahegelegten Möglichkeit
ausgehen, daß die Außenwelt in dem nur berührten Punkte nicht nach
den Erfordernissen unseres Erkenntnisvermögens eingerichtet wäre.
Das letztere würde dann der Fall sein, wenn alle die einzelnen Er-
scheinungen der Außenwelt, die unserer Erfassung durch Begriffe
zugängig sind, so von einander verschieden wären, daß sich keiner
von ihnen unter einen gemeinsame n Begriff zusammenfassen
ließe. Wir stünden dann mit unserem Erkenntnisvermögen und seiner
bettelhaft geringen Anzahl von Begriffen einer Welt gegenüber,
die selbst mit dem Millionenfachen dieser Anzahl von Begriffen für
uns noch unzugänglich sein würde. „Wäre der Gang der Natur nicht
objektiv so geregelt, daß wir auf subjektiver Seite zur Konzeption
von Allgemeinbegriffen genötigt werden, ginge der Weltlauf chaotisch
oder launenhaft von statten, so wäre unser Verstand der Natur gegen-
über zur Ohnmacht verurteilt" (Liebmann). Auch hier aber tritt
die wunderbare Erscheinung ein, daß die Natur, „als wollte sie, ein
williges Lasttier, das Joch des in enge Schranken gebannten und
deshalb unebenbürtigen Menschengeistes dennoch auf ihren Nacken
nehmen", dem Menschen ihren Rücken bietet, ja ihm auch die Zügel
zu ihrer Beherrschung selbst in die Hand legt, indem sie durch ihre
Einrichtung hier der menschlichen Erkenntnis nicht bloß entgegen-
kommt, sondern ihr der sonst hilflosen und ohnmächtigen so recht
eigentlich sogar, wie man so sagt, erst auf die Beine hilft, Nicht bloß
unter den Lebewesen nämlich, sondern auch in der leblosen Natur
und nicht bloß unter den körperlichen Dingen, sondern auch unter
den körperlosen, räumlichen und zeitlichen Erscheinungen, gibt es
solche, die sich in Millionen, ja Milliarden Fällen in ihren wesent-
lichen äußeren und inneren Eigenschaften dermaßen gleichen, daß
wir sie sämtlich unter einen u n d denselbe n Begriff bringen
r>) ,,Alle unsere Bemühungen, die Welt in Gedanken abzuspiegeln, wären
fruchtlos, wenn es nicht gelänge, in dem bunten Wechsel Bleibendes zu finden"
(Mach).
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 25
können. Nehmen wir unter ungezählten Fällen nur das Beispiel
etwa einer Hammelherde an, so brauchen wir von dieser Herde
bloß e i n Tier nach seiner äußeren und inneren Körperbesehaffen-
heit, nach seiner geistigen Veranlagung, nach seinen körperlichen
und geistigen Eiitwicklungszuständen, nach seiner Lebensweise usw.
erforscht zu haben, um damit die nurgedachten Verhältnisse auch
bei den sämtlichen übrigen Tieren dieser Gattung bei der ganzen
Herde, ja bei allen dergleichen Tieren auf der ganzen Erde überhaupt
mit gleicher Genauigkeit zu kennen. Dasselbe ist der Fall, wenn wir
auch nur eine von den Tausenden Fichtenbäumen eines Waldes,
von den Millionen Getreidepflanzen eines Feldes oder Grashalmen
einer Wiese, auch nur ein Stück Schiefer oder Granit oder Sandstein
eines vor uns befindlichen Felsens kennen. In allen diesen Fällen
sind wir bei dem bloßen Anblick jenes Gegenstandes, auf Grund schon
der äußeren Eigenschaften (Leiteigenschaften), auch wenn er uns
vorher noch nie unter die Augen gekommen ist, wir also von dessen
Dasein noch nicht die mindeste Kenntnis hatten, doch ohne weiteres
in der Lage, alle die Eigenschaften (Begleiteigenschaften) zu kennen,
die wir von dem einzelnen, zu dieser Gruppe gehörigen Gegenstand
vorher festgestellt und kennen gelernt haben. Welcher ganz enorme
Vorteil für unsere Erkenntnis in diesem Bestehen von Gruppen-
erscheinungen, die uns die sogenannten „abgezogenen" Begriffe
ermöglichen, liegt, leuchtet ohne weiteres ein. Durch das Bestehen der
Gruppenerscheinungen und nur erst durch sie erhalten wir die Möglich-
keit zur Feststellung der Naturgesetze und damit auch die Möglich-
keit der Herrschaft über die Außenwelt. Die ganze Naturwissenschaft
und die ganze praktische Tätigkeit des Menschen zielt darauf ab,
Erscheinungen der gedachten Art aufzufinden und sich mit ihnen
zu umgeben. Em solche Gruppenerscheinungen zu ermitteln, zergrübelt
der Mensch sein Gehirn, „beschleicht der Weise den schaffenden
Geist, sucht er das vertrauteGesetzin des Zufalls grausenden
Wundern" (Schiller). Zu alledem also wird unsere Erkenntnis nur be-
fähigt durch das Bestehen jener Erscheinungen, die sich vom Stand-
punkte der Natur aus als Herden- als Gruppenerscheinungen, vom
Standpunkte unseres Erkennens aus aber als die Ermöglichung einer
wunderbaren, unsere Erkenntnisfähigkeit mit einem Schlage millionen-
fach potenzierenden Ö k o n o m i e u n s e r e s D e n k a p p a r a t s
darstellen. „Wo solche Gruppenerscheinungen vorhanden sind,
26 H. G. Opitz,
wächst die Macht und die Herrschaft des Menschen ins Ungemessene,
wo sie fehlen, steht der Mensch vor den Wundern der Schöpfung
dem Kinde gleich hilflos und verlassen da."
IL In materieller Hinsicht.
Die bisherigen Untersuchungen haben ergeben, daß die Außen-
welt in ihrer formellen Einrichtung und Verfassung in vielen
Stücken der formellen Einrichtung und Anlage unseres Erkenntnis-
vermögens und Erkenntnisverfahrens entspricht, Unser Erkenntnis-
verfahren hat die Natur einer Teil- oder Begriffserkenntnis: die Außen-
welt kommt dem entgegen, indem sie sich diesem Vermögen angemessen
in Teile zerlegen läßt, Unser Erkenntnisverfahren setzt zu seiner
wirksamen Betätigung eine gewisse Beständigkeit der in der Außen-
welt auftretenden Erscheinungen voraus: die Außenwelt entspricht
dem, indem sie tatsächlich Erscheinungen von solcher Beständigkeit
aufweist. Unser Erkenntnisvermögen bedarf, um uns eine entsprechende
Daseinsführung zu ermöglichen, der in der Bildung von Kollektiv-
begriffen (abgezogenen Begriffen) bestehenden Ökonomie des Denkens:
die Außenwelt bietet diese Möglichkeit durch das Auftreten von
Gruppenerscheinungen bei ihr.
Es würde nun eine weitere in das Gebiet der Metaphysik fallende
Aufgabe sein, eine Aufgabe, die ebenfalls den Vorzug hätte, sich auf
positivem Gebiete zu bewegen, näher zu untersuchen und festzustellen,
wie sich der nach der Einrichtung unseres Erkenntnisvermögens
nicht erkennbare Teil der Außenwelt quantitativ und qualitativ
zu den erkennbaren Teilen verhält, ferner ob das Auftreten von
Gruppenerscheinungen sowie die dadurch ermöglichten abgezogenen
Begriffe im letzten Grunde mit den Platonschen „Ideen" zusammen-
hängt, also in dem über der Welt ausgebreiteten Netz von gewissen
höheren, vorbildlichen Vorstellungen begründet ist, ebenso ob in allen
den obengedachten Beziehungen überhaupt die Welt auf unser Er-
kenntnisvermögen oder nicht vielmehr unser Erkenntnisvermögen
auf die Welt zugeschnitten ist. Alles dies näher zu erörtern aber
muß einer andern Gelegenheit vorbehalten werden. Jetzt gilt es
vielmehr, auch der andern Aufgabe noch gerecht zu werden, nämlich
die Voraussetzungen festzustellen, die in materieller Beziehung,
d. h. in Beziehung auf das räumliche und zeitliche Verhalten der
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 27
Außenwelt und dessen inneren Zusammenhänge an unser Erkenntnis-
verfahren gestellt werden.
Wenn die Außenwelt verstehen nach dem Obigen gleichbedeutend
ist mit : die Außenwelt mit unserem inneren Ich in Beziehung bringen,
und dieses wiederum zur Voraussetzung hat, daß die Außenwelt in
gewissem Sinne unserem inneren Ich angepaßt, homogen, gleich-
geartet ist, so geht daraus hervor, daß auch das Verstehen der inneren
Zusammenhänge der Außenwelt in räumlicher und zeitlicher Hin-
sicht von dem Umstände abhängig ist, daß wir Vorgänge in
unserem Ich auf die Vorgänge auf die Außen-
w e 1 1 b e z i e h e n , d. h. ü b e r t r a gen, entsprechend anwenden,
und daß wir nur insoweit, als dies möglich ist, in
das Verständnis der Außenwelt in materieller
Beziehung eindringen können. Zur Erkenntnis der
Außenwelt können wir also nicht u n m i 1 1 e 1 b a r gelangen, sondern
müssen wir, das liegt hierin, uns an die Innenwelt wenden, müssen
bei dieser eine Anleihe machen, können wir also schlechterdings nur
auf diesem TT m w e g e , auf dem Umwege über die Erkenntnis der
Innenwelt gelangen. Das Nachstehende wird dies bis zur Evidenz
dartun.
a) In räumlicher B e z i e h u n g.
Unsere Erkenntnis, das ist oben dargelegt worden und darauf
müssen wir als die Grundlage auch des Folgenden nochmals zurück-
kommen, ist Teil- oder Begriffserkenntnis. Der Erkenntnisstoff muß
bei ihr durch die Enge des Begrifs hindurchgehen, indem er zu diesem
Zwecke zu teilen, also in Ausschnitte kleiner und kleinster Art zu
zerlegen ist. Soll aber aus diesen Teilen ein Weltbild werden,
so können sie nicht gesondert nebeneinander bestehen bleiben, sondern
müssen geordnet, d. h. müssen zueinander räumlich und zeitlich
wieder in Beziehung gebracht werden. Erst dadurch können wir das
Teilprodukt dem Ganzen als der Wirklichkeit wieder nähern. Das
Erkenntnisverfahren in dieser Beziehung ist sonach ein fortwährendes
Teilen, um wieder zu vereinigen, ein Trennen, um wieder zu verbinden,
ein Auseinanderlegen, um wieder zusammenzulegen, jenem Geduld-
spiele unserer Kinderwelt nicht unähnlich, bei dem ein auf 1 1 » » 1 z,
geklebtes Bild in kleine und unregelmäßige Teile zerschnitten und
dem Kinde nun die Aufgabe gestellt wird, diese Teile nach Maßgabe
28 H. G. Opitz ,
und an der Hand des aufgeklebten Bildes zu dem ursprünglichen Ganzen
wieder zusammenzusetzen. „Das Wesen unseres begrifflichen Denkens
besteht in der Auflösung der Anschauungskomplexe, es besteht in
der inneren Organisierung der Anschauung; Analysis und Synthysis
sind die beiden Seiten des Prozesses" (Pauken). „Wie der Scheide-
künstler, so findet auch der Philosoph nur durch Auflösung die Ver-
bindung" (Schiller). Hier nun entstellt aber sofort die weitere Frage:
nach welchen Gesichtspunkten, Grundsätzen,
Richtlinien ist die geschilderte Trennung und Verbindung
der einzelnen Teile des Weltbildes vorzunehmen, worin besteht „die
innere Organisierung der Anschauung", die Paulsen bei seiner nur-
angezogenen Charakterisierung im Auge hat, welches ist, um beim
obigen Vergleiche zu bleiben, das Bild, nach dem wir uns bei dem
großen Erkenntnisspiele der Wiederverbindung und Wiedervereinigung
der begrifflich gesonderten Teile der Welt zu richten haben? Das
äußere, uns durch das Auge gelieferte, bloß die Oberfläche der Dinge
wiedergebende Bild von der Außenwelt kann es nicht sein, denn das
haben wir ja eben durch die Begriffsbildung in Teile zerlegt und da-
durch aufgelöst und zerstört. Wenn es aber nicht dieses bloß äußere
Bild sein kann, an das wir uns zu halten haben, dann sind wir mit
unseren Erkenntnismitteln für die Außenwelt zu Ende. Denn
weitere solche Erkenntnismittel außer den äußeren Sinnen, wir mögen
unser Erkenntnisvermögen nach welchen Richtungen hin immer durch-
forschen, stehen uns nicht zur Verfügung. Es bleibt somit schlechter-
dings nichts übrig, was uns bei unserem Werke als Unterlage, Anhalt,
Richtlinie dienen kann, als uns an unser Inneres zu halten und
hier kann einen Anhalt nur bieten: das Bildvondeminneren
Ich, das wir in uns tragen. „Mag unser Erkenntnisvermögen aus
der Außenwelt ununterbrochen Stoffe aufnehmen, prägen muß sie
ihn durch die formgebende Schöpferkraft, die von innen stammt"
(Liebmann). Schlechterdings nur die Vorstellungen von unserem
inneren Ich also sind es, die uns auch in materieller Beziehung die Mittel
zur Auslegung und Ausdeutung der Erscheinungen der Außenwelt
bieten können. Und zwar ist es hier, wo es gilt, diese Erscheinungen
gewissermaßen räumlich zu ordnen, die Vorstellung von der S u 1) -
Stanzeigenschaft unseres inneren Ich, die allein als „form-
gebende Schöpferkraft" helfend einspringen kann, der Substanz-
eigenschaft als der Ur- und Grundtatsache unseres gesamten Erkennens
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. "29
und Seins, die von demselben Liebmann mit Recht als die „Funda-
mentalbedingung aller Psychologie" bezeichnet wird. Diese Substanz-
eigenschaft unseres inneren Ich aber besteht darin, daß unser Ich
der einheitliche, bei allen Wandlungen es selbst bleibende, mit sich
selbst also stets identische Träger aller unserer Lebensäußerungen ist.
Der „Träger" aller unserer Lebensäußerungen, insofern diese ausnahms-
los auf dem Ich als der Quelle, dem Ausgangspunkte, dem Ursprung
und der Unterlage beruhen, von ihm ausgehen auf dasselbe zurück-
zuführen sind. Der „einheitliche" Träger, insofern sich unser inneres
Ich nicht aus den verschiedenen einzelnen Lebensäußerungen zusammen-
setzt, nicht ein bloßes Häufungsprodukt, bloßes Summationsphänomen,
sondern der um- und zusammenfassende höhere Kenner, das Einheit-
liche dem Mannigfaltigen, das Ganze den Teilen gegenüber ist. Der
„mit sich selbst stets identisch bleibende" Träger endlich, indem
unser Ich auch das zeitlich Aufeinanderfolgende und sich Wandelnde
zur Einheit zurückführt, das Frühere und Spätere, Gegenwart und
Zukunft in sich in Eins verschmilzt 7). Diese Ur- und Grundtatsache
unseres ganzen Seins und Erkennens sie wird nicht mittelbar von uns
vorgestellt, sondern unmittelbar geschaut und erlebt. „Sie ist die
reine Apperzeption, weil sie dasjenige Selbstbewußtsein ist, was,
indem es die Vorstellung Ich hervorbringt, alle andern begleitet und
in allem Bewußtsein ein und dieselbe ist, von keiner begleitet weiden
kann" (Kant). Ohne selbst irgendwelche Vorstellungen voraus-
zusetzen, ist sie die Voraussetzung aller Vorstellungen. Als unmittelbar
Geschautes ist sie die einzige Vorstellung, bei der Vorstellung und
Vorgestelltes, Denken und Sein zusammenfallen, ist sie die Vor-
stellung, die ausnahmslos allen Menschen, die jemals waren, sind,
oder noch sein werden, eigen ist und aus allen diesen Gründen weder
eines Beweises bedarf noch fähig ist. „Diese innere Einheit erleben wir
unmittelbarer als alles andere. Ja sie befähigt uns überhaupt erst,
des andern inne zu werden" (Schwarzkopff). Wie wir nun praktisch
mit Hilfe der Vorstellung von der Substanzeigenschaft unseres inneren
Ich auch den Weg zur Ordnung dv* uns durch die äußeren Wahr-
nehmungen gelieferten Erkenntnisstoffs im Sinne der Verschmelzung
7) „Er (der Mensch) erlebt dabei sich selbst als den inneren Einheitspunkt
aller dieser verschiedenen Seiten seiner Betätigung. Ja, gleichsam als die
durchhaltende, dauernde, innere Einheitslinie, in der sich alles das befindet,
was er nacheinander erfahren und getan hat" (»Schwarzkopff).
30 H. G. Opitz,
und Wiedervereinigung der begrifflich gesonderten Teile der Außen-
welt finden, das soll im Folgenden gezeigt werden.
Verfolgen wir die Vorgänge beim Erkennen der Außenwelt in
ihren Einzelheiten, so sehen wir, wenn wir die Augen aufschlagen,
vor uns ein großes Farben- und Lichtmeer, das zwar nach der Ver-
schiedenheit der Eindrücke auch unter sich verschiedene Gegenstände
anzudeuten scheint, uns aber an sich ohne allen und jeden Anhalt
dafür läßt, wie wir diese verschiedenen Gegenstände aussondern und
ausdeuten können. Hier nur ist's eben der einzige Weg, der sich uns
bietet, um zum Letzteren zu gelangen, daß wir von den unzähligen
verschiedenen Wahrnehmungen einzelne aussondern und nun nach
der Vorstellung von der Substanzeigenschaft unseres inneren Ich
zu diesen Wahrnehmungen den Träger, d. h. das aufsuchen, was
unserem inneren Ich gleich als der zusammenfassende, der verein-
heitlichende Untergrund und Ausgangspunkt alle jene verschiedene
Wahrnehmungen hervorbringt, Wir wollen dies an einem praktischen
Beispiel klarzumachen suchen. Wir sehen etwas vor uns, das wir
später als einen Baum erkennen. Wir bemerken durch eine ganze
Kette von Beobachtungen, bei denen wir alle Sinne zur Hilfe nehmen,
daß, wenn der Wind weht, sich die Blätter des Baums zwar bewegen,
aber schließlich immer wieder an ihre alte Stelle in der Umgebung
zurückkehren, wir bemerken, daß Blätter, Zweige und Äste mit dem
Stamm in Verbindung stehen, wir bemerken, daß sie sämtlich von
dem Stamm ausgehen, daß der Stamm sie alle hervorbringt, trägt
und zusammenhält. Wir bilden uns infolge alles dessen die Vorstellung
von dem Baume als dem Träger aller der verschiedenen Wahrneh-
mungen an den Zweigen, Ästen, dem Stamm usw., die bis dahin unver-
mittelt nebeneinander standen, erkennen also, daß der Baum ein
Gegenstand für sich ist und alle jene Sinneswahrnehmungen, die wir
an seinen Teilen gemacht haben: Farben, verschiedene Härte, ver-
schiedene Geschmacksempfindungen, verschiedene Gerüche usw.
nichts Selbständiges, nicht selbst Gegenstände, sondern nur Eigen-
schaft e n des Baumes sind, der als der einheitliche Träger durch
den Wandel und Wechsel dieser Eigenschaften nicht berührt wird,
sondern durch alle Wandlungen hindurch derselbe bleibt. Damit
haben wir nach dem Vorbilde von der Substanzeigenschaft unseres
inneren Ich in Gestalt des Baumes zunächst ebenfalls eine Substanz ge-
funden, die uns für die Erkennung des Baumes und seiner Eigen-
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 31
schaften alle die Dienste leistet, die uns die Vorstellung der Substanz-
eigenschaft für die Erkennung unseres Ich leistet. TsTun aber fällen
wir den Baum und überzeugen uns, indem wir das Holz verbrennen,
daß sieh ein Teil dieses Holzes hierbei in Asche, ein anderer Teil in
eine gasförmige Flüssigkeit verwandelt, und daß jene Asche, sowie
diese Gase gegenüber denen des Holzes völlig neue Eigenschaften auf-
weisen. Hieraus erkennen wir, daß unsere Auffassung des Baums
als einer Substanz nicht den Tatsachen entspricht, daß in Wirklich-
keit vielmehr auch der Baum nicht der Träger aller der Eigenschaften
war, die wir an ihm wahrgenommen hatten, sondern die nach dem
Verbrennen des Holzes bleibende Asche und Gase allein zugrunde
lagen und sich somit ihrerseits nunmehr als das Dauernde, als das
Bleibende, somit als Substanz erweisen. Nun aber bleiben wir auch
hierbei nicht stehen, sondern stellen durch Experiment fest, daß sich
auch an der vom Holze zurückgebliebenen Asche, sowie den gas-
förmigen Teilen die Teilungs- und Zerlegungsoperationen fortsetzen
lassen, und wie sich hierbei ergibt, daß auch diese sich in der Retorte
und dem Kolben des Chemikers in andere Körper zerlegen lassen,
nämlich die Gase in Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff, die Asche in
Schwefelsäure, Kieselsäure, Phosphorsäure usw. Aber auch diese
letzteren Bestandteile lassen eine weitere Zerlegung in Teile zu: die
Schwefelsäure in Wasserstoff, Schwefel und Sauerstoff, die Phosphor-
säure in Wasserstoff, Phosphor und Sauerstoff usw. Damit ist der
Beweis geführt, daß auch der Asche und den Gasen nicht Substanz-
eigenschaft zukommt, sondern diese Bolle nunmehr von deren Be-
standteilen oder Stoffen übernommen wird. Auch bei diesen letzteren
Stoffen versucht nun der Chemiker zwar eine weitere Zerfällung,
und die überraschenden Erfahrungen, die man seit dessen Entdeckung
mit den Umbildungen des Radiums gemacht hat, sprechen dafür,
daß die Möglichkeit der Auffindung weiterer Stoffe als Substanzen
auch hier noch nicht abgeschlossen ist. Bisher haben diese Bestre-
bungen aber noch zu keinem greifbaren Erfolg geführt, so daß man
gegenwärtig noch die etwa 80 Stoffe, bei denen sich alle Bemühungen
zu weiterer Zerlegung als vergeblich erwiesen, als Substanzen, somit
als Träger aller nur immer in der Welt vorkommenden und vorhan-
denen Eigenschaften, als die Materie gegenüber der bloßen Form,
als das Bleibende und Umwandelbare gegenüber dem Wandelbaren,
als die Substanz also gegenüber dem Akzidens auffaJßl und sie in
32 H. G. Opitz,
dieser Eigenschaft mit der Bezeichnung „Grundstoffe", „Elemente",
zu belegen pflegt.
Wir haben in diesem Beispiel das Vorbild, das Paradigma, nach
dem sich alle unsere Bestrebungen, die inneren Beziehungen zwischen
den räumlichen Teilen der Außenwelt aufzudecken, vollziehen, das
Beispiel, das sich ausnahmslos bei allen diesen Bestrebungen wieder-
holt und das durch diese Wiederholungen dem in Rede stehenden
Grundsatz auch seine unumstößliche praktische Beglaubigung gibt.
Damit aber haben wir dargetan, was wir oben als Grundsatz
aufgestellt: unser ganzes Erkenntnisverfahren stellt sich in diesem
Punkte dar als ein einziger großer Akt des Trennens und Verbindens
der begrifflichen Teile der Außenwelt nach dem Gesichtspunkte und
Vorbild, das uns die Vorstellung von der S u b s t a n z e i g e n s c h a f t
unseres inneren Ich und deren Verwertung für die Erkenntnis der
Innenwelt an die Hand gibt.
b) In zeitlicher Beziehung.
Mit ganz besonderer Deutlichkeit tritt aber der Umstand, daß
wir bei der Erkenntnis der Außenwelt auf unser inneres Ich und die
Vorgänge bei ihm zurückgreifen müssen und lediglich durch sie den
Zugang auch zum Verständnis der Außenwelt finden, bei dem inneren
Zusammenhang der zeitlichen Erscheinungen hervor. Ist der
Satz richtig, daß wir die Außenwelt nur auf dem Umwege über unser
inneres Ich und nur soweit erkennen können, als sie unserem inneren
Ich gleicht, und dieser Satz hat sich bis jetzt, wie wir gesehen haben,
voll bewährt, so müssen von den Dingen der Außenwelt, die wir
auf diesem Wege erkennen, diejenigen am Allerdeutlichsten für uns
erkennbar sein, auf die wir das Meiste von unserem inneren Ich über-
tragen können, die uns also am Ähnlichsten sind, und es muß dem-
gemäß auch die Erkennbarkeit in demselben Maße geringer werden,
in dem die Dinge der Außenwelt sich in ihrem geistigen Wesen und
ihren Eigenschaften von unserem inneren Ich entfernen. Und siehe
da, dieser Grundsatz er trifft auch überall, wohin wir blicken, in
deutlichst erkennbarer Weise zu. Am allerähnlichsten sind uns von
allen Dingen der Außenwelt unsere Mitmenschen. Unsere Mitmenschen
gehören als außer uns im Räume befindlich leiblich und geistig für
uns ebenfalls zur Außenwelt. Das zeigt sich schon darin, daß wir auch
von ihnen, und zwar auch in geistiger Beziehung, wie von allen andern
Das Ich als Dolmtsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 33
Teilen der Außenwelt schlechterdings nur auf dem Umwege und durch
das Mittel der äußeren Sinne etwas erkennen können. Ein unmittel-
barer Verkehr von Geist zu Geist, ein Verkehr, bei dem wir uns ohne
äußere Ausdrucksmitte] unseren Mitmenschen mitteilen könnten,
ist völlig ausgeschlossen und findet nicht statt. Für die Behauptung
des Gegenteils gebricht es bislang trotz aller Verwahrung, die hiergegen
die Anhänger dv^ Spiritismus und Okkultismus einlegen, doch noch
an aller und jeder Tatsachen-Beglaubigung. Sind uns aber von allen
Dingen außer uns unsere Mitmenschen geistig am allerähnlichsten,
so muß auch das an unseren Mitmenschen, bei dem diese Ähnlichkeit
am meisten platzgreift, also der Geist, die Seele, unserer Mitmenschen,
unserer Erkenntnis am Zugänglichsten sein. Und daß das tatsächlich
der Fall, darüber kann wohl nicht der geringste Zweifel obwalten.
Diese geistige Ähnlichkeit unserer Mitmenschen würden wir, auch
wenn dev Mensch nicht in Gestalt der artikulierten Sprache besondere
Mittel eingeführt hätte, um sein Inneres den Mitmenschen zu erkennen
zu geben, ohne weiteres schon aus seiner körperlichen Ähnlichkeit
im ganzen und allen seinen Teilen schließen. Man denke nur daran,
wie sich schon am bloßen Mienen- und Geberdenspiele im Gesichte des
Menschen bisweilen die geheimsten Gedanken, die sich in der Seele
abspielen, ablesen lassen, wie selbst unwillkürliche Geberden z. B.
beim Schreck, beim Erstaunen, bei der Überraschung, bei Schmerz-
empfindungen usw. die innere Stimmung dv^ Menschen nach außen
deutlich bekunden. Der Mensch, und er allein unter allen Geschöpfen,
hat aber von seiner Vernunftfreiheit Gebrauch machend, hierüber
auch noch das wunderbare Mittel der artikulierten Sprache erfunden,
um seine inneren Vorgänge den Mitmenschen mitzuteilen, dv\- artiku-
lierten Sprache, die in ihren einzelnen Teilen: Hauptwörtern, Eigen-
schaftswörtern, Bindewörtern, dein Satzbau usw. genau den einzelnen
Stadien nachgebildet ist, in denen sich unsere Erkenntnis bei der
Bildung der Begriffe, der Urteile, der Schlußfolgerungen vollzieht,
der artikulierten Sprache, die sich einem Gewände gleich den geheimsten
und feinsten Fallen unserer Seele anschmiegt und alle ihre Kegungen
von der stürmischsten Leidenschaft bis zu den zartesten Gefühlen,
alle ihre Vorstellungen über das Erhabenste wie das Niedrigste
den Mitmenschen zur Kenntnis zu bringen ermöglicht. Auch hier
aber stimmt es mir mit dem von uns aufgestellten Grundsätze iiber-
ein und ist und bleibt es für die Erkenntnis der inneren Vorgange
Archiv im- Geschichte der Phüosophie (liuilagehoft). 3
34 H. G. Opitz,
beim Mitmenschen überall die unbedingte Voraussetzung, daß wir
selbst derjenigen Gefühle und Vorstellungen fähig sind und sie in
uns betätigen, die wir bei Andern erkennen wollen. Wenn und soweit
diese Voraussetzung nicht zutrifft, dann und insoweit versagt auch
das Mittel der Sprache wie jedes sonstige äußere Ausdrucksmittel
zur gegenseitigen Verständigung. Kur was wir in unserem Ich erst
vorgedacht und vorgefühlt haben, oder doch nachzudenken und nach-
zufühlen imstande sind, nur das läßt sich dem Mitmenschen erkennbar
machen oder bei ihm erkennen. Bei einem Blinden und Tauben werden
wir uns stets vergeblich bemühen, durch die Sprache Vorstellungen
von Farben oder Tönen, bei dem für die Musik Unempfänglichen,
das Verständnis für symphonische Tonschöpfungen hervorzurufen.
Es geht aber aus alledem auch weiter hervor, daß wir bei der Aufnahme
von Vorstellungen durch das Mittel der Sprache uns nicht bloß emp-
fangend, sondern gleichzeitig auch schaffend und erzeugen d
beteiligen, und daß daher der Mitteilende und der Empfangende
sich stets geistig ebenbürtig sein müssen, wenn eine Verständigung
vor sich gehen soll. „Wer die Fausttragödie, dieses einzigartige Werk
tiefsinnigen dichterischen Schaffens, wer die vollendeten sympho-
nischen Harmonien eines Beethoven, wer den Geist der gewaltigen,
schöpferisch unerreichten Tondichtungen eines Wagner voll in sich
aufzunehmen vermag, der ist insoweit seelisch einem Goethe, einem
Beethoven, einem Wagner auch kongenial." Versteigt sich der Mensch
aber nicht sogar zum Allerkühnsten auf dem Gebiete der Mitteilung
durch das Mittel des inneren Ich an Andere, wenn er für seine Mit-
menschen in den Personen seiner Dramen, Epen, Romane in seinem
Innern selbst geistige Menschengestalten erzeugt und sie auf der
Bühne mit Fleisch und Bein bekleidet, um sie zu der Menschheit
reden zu lassen ! So sehen wir, daß der Mensch bei seiner Erkenntnis
der Außenwelt in der Erkenntnis insbesondere des Mitmenschen die
höchsten Triumphe feiert, gleichzeitig damit aber auch, daß hier
überall der Grundsatz, nach dem wir von der Außenwelt nur erkennen
können, was wir von unserem inneren Ich auf sie zu übertragen ver-
mögen und was durch diese erst hindurchgegangen ist, seine denk-
bar stärkste Bewährung findet.
Und nun das Erkennen des tierischen Geistes.
Sofern der Mensch drei verschiedene Leben in sich lebt:
das eigentlich menschliche, das Vernunft-Leben, ferner das
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 35
tierische (animalische), und das Pflanzen- (bloß vegetative) Leben,
und die beiden ersteren Arten des Lebens mit Bewußtsein verbunden
sind, umfaßt er an sich geistig auch das geistige Leben des Tieres
seinem vollen Umfang nach mit und muß daher nach unserem Grund-
satze ebenso volle Kenntnis des Geisteslebens des Tieres haben wie
vom Geistesleben des Menschen. Das trifft in Wirklichkeil auch in-
bezug auf die M ö gliehkeit zu, leidet aber starke Einschränkung
inbezug auf die Tatsächlichkeit dieses Erkennens. Hinsicht-
lich der Möglichkeit des Erkennens ist ohne weiteres anzunehmen,
daß diese überall da vorliegt, wo das Tier in unseren äußeren Sinnen
erkennbarer Weise innere Vorgänge bekundet. Hier werden uns die
Vorgänge in der Tierseele ebenso erkennbar wie die in der Seele unserer
Mitmenschen. Wenn ein Hund mit lautem Bellen schweifwedelnd
und sonst unter allen Zeichen innerer Freude an seinem Herrn, von
dem er abgekommen und den er lange vergeblich gesucht hat, in
die Höhe springt, ihn förmlich liebkost, wenn ein Fohlen, aus der
Stallhaft befreit, auf freiem Wiesenplane sich laut wiehernd in tollsten
Sprüngen ergeht, dann können wir mit voller Sicherheit annehmen,
daß sich in der Seele dieser Tiere ganz ähnliche Gefühle abspielen,
wie die, wenn wir in unserer Seele Freude empfinden. Freilich wird
die p r a k t i s c h e Möglichkeit, innere Vorgänge beim Tiere zu
erkennen, dadurch erheblich abgeschwächt, daß dem Tier das Mittel
versagt ist, das, wie wir gesehen haben, beim Menschen die Über-
mittlung der Vorstellungen und Gefühle an Andere in geradezu un-
übertrefflicher Weise ermöglichte: die artikulierte Sprache, und ferner
dadurch, daß die Hervorbringung von Ausdrucksbewegungen bei
den Tieren um so mehr zurücktritt und demzufolge die Möglichkeit
des Erkennens innerer Vorgänge bei ihm um so stärker gemindert
wird, je weiter die Tiere in ihrer geistigen Organisation herabsteigen,
um schließlich bei den niedrigst organisierten Tieren fast ganz auf-
zuhören.
Ebenso bewährl sich unser Grundsatz schließlich aber auch
bei den Pflanzen. Käme uns das rein vegetative Leben, das wir
mit den Pflanzen und den Tieren gemein haben, und das sich auch bei
uns in Gestalt von physiologischen Vorgängen vollzieht, ebenso zum
Bewußtsein wie unser Vernunftleben und unser animalisches Leben.
dann würden wir auch das vegetative Leben bei dvu Pflanzen seinen
inneren Zusammenhängen und seinem Wesen nach verstehen. Da
3*
$6 H. G. Opitz,
diese Voraussetzung aber nicht zutrifft und mithin jede Möglichkeit
der Übertragung innerer Vorgänge bei uns auf die Außenwelt aus-
geschlossen ist, ist uns auch die Erkenntnis der geistigen Vorgänge
bei den Pflanzen gänzlich versagt.
Bei der k ö r p e r I i c h e n Außenwelt hatten wir den Vorteil,
den Stoff, die Materie unmittelbar mit den äußeren Sinnen wahrzu-
nehmen und daher in demselben Maße deutlichere Vorstellungen
von ihr zu erhalten, als die Wahrnehmungen der äußeren Sinne in
uns überhaupt deutlichere Vorstellungen hervorrufen, als die des
inneren Sinns. Der Anblick einer Farbe, das Fühlen eines harten
Gegenstandes, das Hören eines Tones erzeugt deutlichere Vorstellungen
in uns als das Bewußtsein von der Bildung eines Gedankens oder eines
Gefühls. Dafür sind uns aber auch die Einblicke in die inneren Zu-
sammenhänge der zeitlichen Erscheinungen bei den Dingen der körper-
lichen Außenwelt um so spärlicher zugemessen. Wir haben oben
gesehen, daß wir uns bei der körperlichen Außenwelt vermöge der
Übertragung der Substanzeigenschaft unseres inneren Ich den inneren
Zusammenhang der räumlichen Erscheinungen bis zu einem gewissen
Grade zugängig machen konnten. Dagegen entfällt bei ihnen die
Möglichkeit der Übertragung unserer inneren Vorgänge auf die zeit-
lichen Erscheinungen, soweit erstere in Vorstellen und Wollen be-
stehen, vollständig. Bekanntlich geht die Theorie von der Allbeseelung,
dem Hylozoismus, Panpsyehismus hierin vom Gegenteile aus. Was
von den Anhängern dieser Theorie zur Begründung ihrer abweichenden
Anschauung vorgebracht zu werden pflegt, ist aber und bleibt doch
mehr oder minder bloßes Erzeugnis der Phantasie. Gleichwohl ist
auch bei den zeitlichen Erscheinungen der körperlichen Außenwelt
die Übertragung unserer inneren Vorgänge, wenn schon nur in sehr
beschränktem Maße aber doch noch gegeben und möglich. Wäre
dem nicht so, so würde der größte und wichtigste Teil der Natur-
wissenschaften namentlich aber die Physiologie, Physik und Chemie
gänzlich ausfallen. Wir müssen aber, um das Nähere in diesem Punkte
festzustellen, unterscheiden zwischen der organischen und der nicht
oiganischen Körperwelt.
Bei der organischen Körperwelt bezeichnen wir die zeit-
lichen Vorgänge als physiologische, Das Verständnis für sie winde für
uns ganz verschlossen bleiben, wenn wir nicht auch zu ihnen auf dem
Umwege über unser inneres Ich uns einen Zugang verschaffen könnten.
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 37
Einen solchen Zugang gibt es aber auch bei ihnen, und zwar insofern,
als wir von den inneren Vorgängen bei uns den auf sie übertragen
können, den wir als ,,Z w eckzusa m in enlia n g" bezeichnen.
Unter den mit dem Willen zusammenhängenden Vorgängen beim
Menschen spielt die Zweekvorstellung eine der bedeut-
samsten Rollen. Das geht schon daraus hervor, daß mit jeder von
unserem Willen hervorgebrachten Handlung ein Zweck verbunden
sinn m u ß , wobei die Handlung selbst als Mittel dient. Diese Vor-
stellung vom Zweck bietet uns nun auch das Mittel, und zwar das
einzige Mittel, durch ihre Übertragung auf den inneren Zusammen-
hang der zeitlichen Erscheinungen bei der Körperwelt diesen Zu-
sammenhang ebenfalls unserem Verständnisse zimänoiu' zu machen.
Diese Übertragungsmöglichkeit ergibt sich aber in allen den Fällen,
wo die spätere physiologische Erscheinung mit der früheren in solchem
Zusammenhange steht, daß, wären beide von Menschen herbeigeführt,
die ersteren sich als das Mittel, die letztere als der Zweck darstellen
würde. Wir müssen uns also hier in die Lage versetzen, als stünden
wir vor einem Menschenwerke. Nehmen wir an, wir fänden zufällig
eine Uhr, so würden wir, auch ohne daß wir von der Herstelluno; der
Uhr durch Menschenhand Kenntnis haben, doch mit unbedingter
Bestimmtheit wissen, daß die einzelnen Teile dieser Uhr zu dem Zwecke
her- und zusammengestellt sind, um den Zeiger auf dem Ziffer-
blatt in Bewegung zu setzen und dem Menschen dadurch die Tages-
stunden anzuzeigen. Das wissen wir mit unbedingter Bestimmtheit.
Genau in derselben Weise aber auch schließen wir daraus, daß in
einem körperlichen Organismus die eine physiologische Erscheinung
durch ihre ganze Einrichtung eine andere derartige Erscheinunu' erst
bedingl und ermöglicht, auf den weiteren Umstand, daß diese beiden
Erscheinungen nach dem Gesichtspunkte vom Zweckzusammenhang
unter einander in Verbindung stehen. Wir schließen es nicht bloß,
sondern wir m ü s s e n es schließen. Denn ohne dies würde uns die
ganze wunderbare Welt d^> Organischen in ihren inneren Zusammen-
hängen schlechterdings unverständlich und damit für uns wert- und
bedeutungslos bleiben, oder doch wenigstens den Einwirkungen
unserseits sich entziehen, deren Ausübung für uns im Interesse unserer
Daseinsführung von höchstem Werte i^t. wie dies beispielsweise
bei der medizinischen Wissenschaft der Fall ist. Ja wir sehen es hier
förmlich, wie die Zweekvorstellung uns an der Hand nimmt und uns
38 H. G. Opitz,
zum Verständnis jener Vorgänge hinleitet, nicht bloß das, sondern
auch wie sie uns geradezu hinnötigt. Und so ist denn tatsächlich auch
der in Rede stehende metaphysische Vorgang der Übertragung und
Anwendung des Zweckgedankens auf die physiologischen Erscheinungen
das Fundament, auf dem die ganze Wissenschaft über die zeitlichen
Vorgänge in den Körpern der Lebewesen: die Physiologie aufgebaut
ist, und die allen ihren Untersuchungen die Richtung gibt.
Kommen wir nun schließlich zu der n i c h t o r g a n i s c h e n
Körperwelt, so versagt auch hier die Möglichkeit der Übertragung
innerer Vorgänge auf die Außenwelt und damit die Erschließung
ihres Verständnisses wenigstens nicht vollständig. Allerdings aber
müssen wir hierbei auf der Skala dieser Übertragbarkeit bis auf die
unterste Stufe herabsteigen. Konnten wir bei unseren Mitmenschen
die übertragbarkeit der gesamten inneren Vorgänge bei uns, bei den
Tieren wenigstens die Übertragbarkeit dieser Vorgänge nach Hinweg-
denkung dessen, was wir als Vernunft bezeichnen, feststellen und
konnten wir bei den physiologischen Erscheinungen der organischen
Körperwelt wenigstens noch die inhaltreiche und unendlicher Mannig-
faltigkeit fähige Vorstellung vom Zweck als Schlüssel zum Verständnis
verwenden, so bleibt uns zur Erklärung und zum Verständnis der
zeitlichen Vorgänge bei der Außenwelt nur noch die Übertragung
einer Vorstellung übrig, und das ist die Vorstellung von der in
uns wirkenden K r a f t.
Wir gewahren die ununterbrochene Aufeinanderfolge unzähliger
zeitlicher Erscheinungen in der nichtorganischen Außenwelt. Unter
diesen Erscheinungen nehmen wir auch solche wahr, die einander
immer und überall in derselben Weise folgen. Diese letztere Wahr-
nehmung kann uns nun wohl zu dem Schlüsse führen, daß die beob-
achtete Aufeinanderfolge für alle Zeiten dieselbe bleiben werde.
Aber damit ist noch in keiner Weise für den i n n e r e n Zusammen-
hang dieser Erscheinungen etwas gefördert. Die gedachte Aufein-
anderfolge hat in dieser Gestalt vielmehr zunächst lediglich den Cha-
rakter der bloß äußere n und zufälligen Aneinanderreihung
der Erscheinungen. Dafür, warum und aus welchem Grund sich eine
solche Aufeinanderfolge vollzieht, welches innere Band zwischen den
betreffenden Erscheinungen besteht, und ob die Aufeinanderfolge eine
bloß zufällige oder eine notwendige ist, darüber sagt jene bloße Tat-
sachenkenntnis nicht das Mindeste aus. Da nun kommt uns wiederum
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Nicht-Ich. 39
eine Vorstellung von inneren Vorgängen bei uns selbst, und zwar
diesmal die Vorstellung von der in uns wirkenden Kraft zu Hilfe.
Der Wille unseres inneren Ich vermag auf unser körperliches Ich
in der Weise einzuwirken, daß, wenn er auf die Herbeiführung einer
körperliehen Tätigkeit gerichtet ist, diese Tätigkeit unter normalen
Verhältnissen auch in allen Fällen eintritt, und zwar tritt diese Tätig-
keit in allen Fällen so ein, daß sie auch in ihrem quantitativen sowohl
als qualitativen Auftreten den Richtungen unseres Willens entspricht.
Will jemand die Arme oder die Beine bewegen, so tritt nicht bloß
eine Bewegung gerade dieser Gliedmaßen überhaupt, sondern sie
tirtt auch in ihren Einzelheiten: in ihrer Richtung, ihrer Stärke,
ihrer Dauer genau in der Weise ein, wie sie mit dem Willen beab-
sichtigt worden. Oder man vergegenwärtige sich die Tätigkeit der
Hände und Finger beim Klavierspielen, wie da Hände und Finger
den minutiösesten Impulsen des Willens folgen, wie namentlich bei
den Bewegungen der Finger auf den Tasten neben der sonstigen unend-
lichen Mannigfaltigkeit der Hand- und Fingerstellungen die Ent-
fernungen häufig nach Millimetern abgemessen, wie der Anschlag,
um das herbeizuführen, was man bei der Musik mit „Phrasierung"
bezeichnet, überall in den feinsten Abstufungen ausgeführt werden
muß. In solch bis ins Kleinste reichender Weise folgen hier die äußeren
Tätigkeiten der Gliedmaßen dem Willen. Hierdurch allenthalben
aber bildet sich in uns die Vorstellung von den inneren Beziehungen
unseres Willens zu der von ihm herbeigeführten Tätigkeit, und wir
bringen diese Vorstellung auch sprachlich zum besonderen Ausdruck,
nämlich dadurch, daß wir unseren Willen mit der Bezeichnung
„Ursache", die von ihm erzeugte Tätigkeit mit der Bezeichnung
„Wirkung"' belegen, das betr. Verhältnis selbst also als das von
„U r s a c h e u n d W i r k u n g" bezeichnen. „Ursache und Wirkung
sind nur der abstrakte Ausdruck für Wille und Handlung" (Vaihingen.
Wo wir also in der körperlichen Außenwelt ein derartiges im voraus
genau zu bestimmendes Verhältnis zwischen der vorausgehenden und
der nachfolgenden Erscheinung antreffen, da übertragen wir die
Vorstellung von drv Kraft auf sie und bezeichnen dieses Verhältnis
im Gegensatz zu: „Bedingen und Bedingtsein" 8) ebenfalls als das
der Ursache und Wirkung.
8) „Ursächliche Folge unterscheidet sich von zeitlicher Folge auch,
wenn diese vollkommen regelmäßig ist. durch die Konstanz der Größe, die
das Vorangehende mit dem Folgenden einheitlich verbindet" (Riehl).
40 H. G. Opitz,
Der Vorteil dieser Erkenntnismanipulation ist ein zutageliegender.
Denn nunmehr bleiben jene Erscheinungen für uns bei aller äußeren
Regelmäßigkeit ihres Auftretens doch nicht mehr bloß zufällige
und zusammenhangslose, sondern wir erkennen in ihnen einer mit
Unfehlbarkeit wirkenden Kraft entsprungene, im Voraus geordnete,
unter sich n o t w e n d i g v e r b u n d e n e Erscheinungen. Mit
dieser Erkenntnis eröffnet sich für uns nunmehr auch erst die Möglich-
keit, jene Kräfte unter einander auch wissenschaftlich in Verbindung
zu setzen, sie zu analysieren und zu klassifizieren und dadurch in
vielen Fällen anscheinend ganz verschiedene Folgeerscheinungen
unter dieselben Gesetze zu bringen. Die Wissenschaft, die diesem
Zwecke dient, ist die P h y s i k. Wie die Physiologie bei den Lebe-
wesen die nach dem Gesichtspunkte des Zweckzusammenhangs,
so hat die Physik bei der toten Natur die nach dem Gesichtspunkte
der Kraft unter sich zusammenhängenden Erscheinungen zu unter-
suchen und festzustellen. Wo sie diesen Zusammenhang findet,
bereichert sie nicht bloß unsere Erkenntnis, sondern steigert auch
durch deren praktische Verwendbarkeit, und zwar bis zu einem
früher nie geahnten Grad die Möglichkeit der Beherrschung der Außen-
welt. Und wir wissen, bis zu welchem Grade namentlich dank der
Naturwissenschaften diese Beherrschung ihr schon gelungen ist.
Wo der Mensch jenen Zusammenhang noch nicht gefunden hat, be-
müht er sich wenigstens, ihn noch aufzufinden, und die Blätter der
Geschichte der Kultur sind voll beschrieben mit den Bestrebungen,
die die Menschheit seit ihrem Bestehen auf diesem Gebiete betätigt
hat. Jenachdem die Außenwelt sich diesen unseren Bestrebungen
zugängig erweist, steht sie uns - - ein sprechender Beweis noch dazu
dafür, wie das Bestehen dieser inneren Verwandtschaft sogar auf das
Gemüt zurückwirkt — als vertraut, verwandt, heimisch, wesens-
gleich, im andern Falle als kalt, unnahbar, seelenlos, abstoßend gegen-
über.
Schlußbemerkung.
Wir sind damit am Ende dieses Teils unserer Untersuchungen
angekommen. Überblicken wir das Vorgeführte noch einmal, so hat
sich aus diesen Darlegungen das Eine mit unumstößlicher Gewißheit
ergeben, nämlich, daß wir die inneren Zusammenhänge der Außen-
welt — die geistige und körperliche Welt eingeschlossen — nicht
Das Ich als Dolmetsch für die Erkenntnis des Xicht-Ich. 41
unmittelbar erkennen können, sondern daß dieses Erkennen
überall bloß möglich ist durch das Mittel der Übertragung
der inneren Erscheinung unseres Ich auf die
Außenwelt, daß somit dieser Teil unseres Erkenntnisverfahrens
durchweg in nichts anderem und weiteren besteht, als in der Zurück-
führimg der Außenwelt auf unser inneres Ich oder umgekehrt in der
Übertragung unseres inneren Ich auf die Außenwelt, mit andern
Worten in nichts anderem als in einer im Wege der Übertragung,
Analogisierung, Symbolisierung, herbeigeführten: Ver-Ichung,
Beseelung, V e r m e n s c h 1 i c h u n g , Anthropomor-
phosierung der Außenwelt nach dem Grundsatze Augustins :
„Gleiches kann nur mit Gleichem erkannt werden."9) Das ist das
große Schlußergebnis aller auf diesem Gebiete anzustellenden Unter-
suchungen. Mit Recht sagt Kirchner: „Der Mensch anthropomor-
phosiert, indem er begreift," wie man auch Wundt zustimmen muß,
wenn er in trefflicher Weise ausführt: „Der kosmische Organismus
ist nur die äußere Hülle, hinter der sich ein geistiges Schaffen, ein
Streben, Fühlen und Empfinden verbirgt, dem gleichend, das wir in
uns selbst erleben. Die Natur ist die Vorstufe des Geistes."
Mit alledem aber kommen wir zu dem gewiß manchem über-
raschenden Ergebnis, daß im Grunde und an sich nur die äußeren Sinne
für die Erkennung der Außenwelt eingerichtet, nur sie zur Vermittlung
der Erkenntnis von ihr geeignet sind, daß .dagegen, wenn wir über
die Wahrnehmungen der Sinne hinaus noch von den inneren Zusammen-
hängen der Außenwelt etwas zu erkennen glauben, wir in diesen
Zusammenhängen in Wirklichkeit nicht die Zusammenhänge der
Außenwelt, sondern nur die unseres inneren Ich wiedererkennen, die
wir in die Außenwelt hineintragen. In welchen Abgrund von selt-
samsten Möglichkeiten aber läßt und diese Erkenntnis blicken! Ist,
so fragen wir uns unter solchen Umständen, die Außenwelt nur das,
was wir auf diesem ihr wesensfremden Wege von uns auf sie über-
tragen? Oder spielen sich in der Außenwelt in Wirklichkeit ganz
andere Vorgänge ;il), als die, die wir auf Grund solch bloß mittelbarer
9) Nur was wir d urch Analogie mitunsselber zu verstehen
vermögen, nur das können wir überhaupt von der Veit verstehen" (v. Hait-
mann). „Je mehr dem Menschen gewiß wird, alle Dinge geistig ur.d wissen-
schaftlich durch seine eigene Organisation zu sehen, desto
mehr muß ihm alles Sinnliche von geistiger Kraft getragen erscheinen" (Eucki n).
42 H. G. Opitz,
Erkenntnis annehmen zu dürfen glauben? Vorgänge, die nur einem
ganz andern geistigen Auge als dem unseren erkennbar sind, dem
unsrigen aber in Ewigkeit verschlossen bleiben werden? Oder ist diese
Außenwelt ein Wesen wie wir selbst, ist sie ein großer beseelter Organis-
mus, der in das steinere Kleid seiner Weltkörper gekleidet, ein dem
unsrigen ähnliches Leben lebt, seine eigenen Gefühlsregungen hat,
seine eigene Sprache spricht, eine Sprache, deren Laute der Sturm
und der Donner, deren Gesang die Sphärenmusik ist, nur daß uns zum
Verständnis jener Sprache der Schlüssel der Grammatik, zum Ver-
ständnis dieser Musik der Schlüssel des Kontrapunkts fehlt? Tief-
erschauernd und im niederdrückenden Gefühl unserer völligen geistigen
Ohnmacht stehen wir vor diesen Möglichkeiten. Wir möchte sie
ergründen ?
Kehren wir aber zur Sache selbst zurück, so wird man aus dem
Obigen unschwer erkennen, daß in dem geschilderten Hergang und
Wesen des Erkennens der Außenwelt, den dargestellten metaphysischen
Grundlagen unseres Erkenntnis Verfahrens auch der Ursprung der von
Kant aufgestellten Lehre von den Illusionen und „heuristi-
schen F i k t i o n e n", also von dem „Als- 0 b" zu finden ist,
dem Vaihinger sein obengedachtes Werk gewidmet hat. Nur freilich
wird aus den obigen Untersuchungen Kant gegenüber gleichzeitig
auch klar geworden sein, wie recht Vaihinger hat, wenn er davon aus-
geht, daß das, was Kant als „Illusionen" oder „heuristische Fiktionen"
bezeichnet, nicht bloß den von Kant zu den „Ideen" gerechneten
Gottesvorstellungen, sondern auch unserem gesamten Natur-
erkennen und damit selbst den Naturwissenschaften
zugrunde liegt. Welch bedeutende Fernsicht sich aber durch diese
Erkenntnis auf die Beurteilung der Frage eröffnet, welcher Wirk-
lichkeitsgehalt jenen, den Gottesvorstellungen, im Gegensatze zu
diesen, den naturwissenschaftlichen Vorstellungen, zukommt, und
wie auf der mit dem Obigen gewonnenen Basis die gesamte Philosophie
erst ihr bestimmtes Gepräge und eine ebenso sichere als sonst taug-
liche Grundlage für den Aufbau inbesondere auch der Metaphysik
erhält, das dürfte ohne weiteres und schon hier einleuchten, soll aber
in seinen Einzelheiten für die Ausführungen in einer weiteren Abhand-
lung vorbehalten bleiben.
Druck von Leonhard Simion Nf. in Berlin SW. 48.
Archiv für Philosophie
Herausgegeben von Ludwig Stein
Beilage
zu Heft 4 des Archivs für Geschichte der Philosophie, Band XXVI
3
1 — D C£»5i D II
Die
w
Wissenschaft Demokrits
und ihr Einfluß auf die moderne Naturwissenschaft.
Von
Dr. Louis Lö
herausgegeben von
Leopold Löwenheim.
H-
BERLIN
SW48, Wilhelmstraße 121
Druck und Verlag von Leonhard Simion N f.
1913
Dieses Heft wird den Abonnenten des Archivs für Geschichte der Philnsnnhis
Einleitun g.
Die Grenzscheide zwischen Mittelalter und Neuzeit wird bezeichnet
nicht durch die Reformation, welche auf Länder, wie Italien und
Frankreich, die für die Entwicklung der neuen Ideen bahnbrechend
gewesen sind, gar keinen tiefer gehenden Einfluß gehabt hat, sondern
durch die Vernichtung der mittelalterliehen Weltanschauung, welche
in ihren beiden Formen, Scholastik und Mystik, als die Verknüpfung
des Christentums mit der Aristotelischen Philosophie charakterisiert
werden kann. Dieser Umschwung in den Anschauungen der Völker
hat sich zwar während des ganzen 16. Jahrhunderts vorbereitet,
aber die Stimmen, welche sich im 16. Jahrhundert gegen Aristoteles
erhoben, vermochten seine Autorität nur zu erschüttern, nicht zu
brechen. Vollbracht wurde der Umschwung durch einen einzigen
Mann, welcher das System des Aristoteles, nachdem es fast zwei Jahr-
tausende die Welt beherrscht hatte, mit starker Hand zertrümmert
und sii für immer beseitigt hat. Dieser Mann ist Galileo Galilei, denn
I ialilei ist nicht nur der Vater der Physik und der gesamten modernen
Na t n r Wissenschaft1), sondern auch der Vater der neueren Philosophie2 ),
deren erste Vertreter, Baco v. Verulam, der um die Verbreitung
1) Ebensowenig wie in Baco v. Verulam vermag ich in Leonardo da
Vinci, obwohl er nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Wissenschaft
ungleich bedeutender ist als Baco, den Vater der modernen Naturwissen-
schaft zu erblicken. Wenn er auch hinsichtlich verschiedener Einzelheiten
einen Fortschritt ^.bracht hat, so ließ er doch die allgemeinen Prinzipien
unberührt. Denn weder die Behauptung, da Li er das Beharrungsgesetz ver-
kündet, noch daß er das allgemeine ( Iravitationsgesetz ausgesprochen habe,
ist richtig.
-) Vgl. TÖnnies, Anmerkungen über die Philosophie des llohhes; Viertel-
jahresschrift für wissenschaftliche Philosophie III, Leipzig IST!», p. 4öö und
Natorp, Philosophische Monatshefte Will. Heidelberg L882, p. 224,
Archiv für -\ stematiscliu Philosophie (Beilageheit). 1
2 Louis Löwen heim,
naturwissenschaftlichen Denkens hochverdiente Schriftsteller Pierre
Gassendi und der scharfsinnige und konsequente Denker Thomas
Hobbcs durchaus von Galilei abhängig sind.
Was zunächst Baco anbetrifft, so findet sich in einem an ihn
gerichteten Brief folgende Stelle (der Brief ist abgedruckt bei Libri,
Histoire des Sciences mathematiques IV, Halle 1865, p. 466): „Es
wird Eurer Lordschaft lieb sein, daß dieser Tage ein gewisser Herr
Richard White mit mir zusammen war, welcher sich einige Zeit in
Florenz aufgehalten hat und jetzt nach England gegangen ist ... .
Dieser Herr White ist ein verschwiegener und verständiger Ehren-
mann, obgleich er ein wenig gutmütig, um nicht zu sagen dumm,
zu sein scheint; und er hat in seinen Händen alle Werke, wie ich
annehme, von Galilei, gedruckte und ungedruckte. Er hat seine Ab-
handlung über Ebbe und Flut, welche niemals gedruckt wurde, ebenso,
wie seine Abhandlung über die Legierung von Metallen. Die gedruckten
Werke, welche sich in seiner Hand befinden, sind folgende: Der
Nuncius sidereus, die Sonnenflecken und drittens die Abhandlung
über die schwimmenden Korper, entstanden bei Gelegenheit einer
Disputation unter den Gelehrten in Florenz über das, was Archimedes
über die schwimmenden Körper geschrieben hat. Ich habe mir ge-
dacht, daß es Eurer Lordschaft nicht unangenehm sein würde, diese
Abhandlungen des Mannes zu sehen." Dieser Brief ist datiert vom
April 1619, und im Jahre 1620 erschien Bacos Novum Organum.
Vor diesem Werke hat aber Baco keine philosophischen Schriften
veröffentlicht, mit einziger Ausnahme des wenig bedeutenden Essays
on the proficience and avancement of learning, den er nach dem Er-
scheinen des Novum Organum zu seiner Abhandlung De dignitate et
augmentis scientiarum umarbeitete.
Die Erneuerung der antiken Atomistik, welche den Haupt-
ruhmestitel Gassendis bildet, ist in Wahrheit das Werk Galileis,
wie aus folgender Stelle einer im Jahre 1612 erschienenen Abhandlung
Galileis hervorgehen dürfte: „Wenn wir uns zu einer andern Be-
trachtung der Natur des Wassers und der übrigen Flüssigkeiten
bequemen würden, so würden wir vielleicht bemerken, daß die Kon-
stitution ihrer Teile derart ist, daß sie nicht allein der Teilung nicht
widerstrebt, sondern daß gar nichts da ist, was zu teilen wäre, so
daß der Widerstand, den man bemerkt, wenn man sich im Wasser
bewegt, ähnlich demjenigen wäre, welchen wir empfinden, wenn wir
Die Wissenschaft Demokrits. 3
durch eine große Menge von Personen vorwärts gehen, wo wir uns
gehindert fühlen, nicht infolge der Schwierigkeit,
welche wir bei der Teilung haben, d a j a n i e m a n d
von denen geteilt wird, aus denen sich die
M enge z u s a m m e n s e t z t , s 0 n d e r n n u r dabei, d i e
Personen zur Seite zu schieben, welche s c h o n
geteilt und nicht verbunden s i n d. Und ebenso
empfinden wir Widerstand, wenn wir ein Holz in einen Sandberg
treibe», nicht weil irgend ein Teil des Sandes zu teilen wäre, sondern
nur wegzuschieben. Es gibt aber zwei Arten, die Korper zu durch-
dringen, eine bei denjenigen, deren Teile kontinuierlich wären — und
hier scheint die Teilung notwendig zu sein — , die andere bei einem
Aggregate von Teilen, welche nicht kontinuierlich, sondern nur be-
nachbart sind; und hier ist es nicht nötig zu teilen, sondern nur zu be-
wegen. Nun bin ich nicht schlüssig, ob das Wasser und die andern
Flüssigkeiten angesehen werden müssen als kontinuierliche oder nur
als benachbarte Teile. Ich bin aber geneigt, eher zu
glauben, daß es benachbarte Teile sind....,
und dazu führt mich der Umstand, daß ich einen großen Unterschied
wahrnehme zwischen dem Zusammenhang der Teile eines harten
Körpers und dem Zusammenhang derselben Teile, wenn eben derselbe
Körper flüssig und fließend gemacht ist. Denn wenn ich z. B. eine
Quantität Silber oder ein anderes hartes und kaltes Metall nehme,
so werde ich bei der Teilung desselben in zwei Teile nicht allein den
Widerstand fühlen, den man fühlen würde, wenn man sie nur bewegte,
sondern noch einen andern unvergleichlich größeren, welcher von der
wie immer gearteten Kraft abhängt, welche sie zusammenhält. Und
wenn wir so die besagten beiden Teile wieder in zwei neue teilen wollen,
und so immer weiter, so werden wir fortwährend ähnliche Widerstände
finden, die aber immer geringer werden, je kleiner die zu trennenden
Teile sind. Wenn wir aber schließlich bei der Anwendung der feinsten
und schärfsten Instrumente, wie der sehr zarten und feinen Teile
des Feuers, es vielleicht in seine Letzten und kleinsten
Teilchen auflösen, so wird in diesen nicht allein kein der
Teilung entgegengesetzter Widerstand mein- sein, sondern auch
n i.c h t das V e r m ö g e n , w e i t e r g e t e i 1 1 z u w o r d e n."
(Le Opere di Galileo Galilei, herausgegeben von Alberi, Florenz L842
bis 1865, K) Bde.; XII. p. 57—58.) Nicht nur der Gedanke, sondern
l*
4 L o u i s L ö w e n h e i m , .
selbst der Vergleich der Atome mit menschlichen Individuen, die sich
in einem Gedränge befinden, rührt von Demokrit her; vgl. p. 38.
Dieselbe Anschauung wie in der zitierten Stelle finden wir wieder in
einer 20 Jahre später erschienenen Schrift Galileis, worin es heißt:
„Ich habe mich nicht recht mit dieser substantiellen Veränderung
befreunden können, .... wodurch eine Materie dergestalt verändert
werden soll, daß man notwendig sagen muß, daß jene vollständig
zerstört sei, indem nichts von ihrem ursprünglichen Sein zurückbleibt,
und daß ein anderer von jener durchaus verschiedener Körper ent-
standen sei ; und wenn ich mir einen Körper in einer gewissen Erschei-
nung und kurze Zeit darauf in einer andern sehr verschiedenen Er-
scheinung vorstelle, so halte ich es nicht für unmöglich, daß dies aus
einer einfachen Umlagerung seiner Teile sich ergeben kann, ohne daß
etwas zerstört oder von neuem erzeugt wird." (Opere I p. 47.) Die
von Laßwitz in einem Aufsatz der Vierteljahrsschrift für wissen-
schaftliche Philosophie (Bd. XII und XIII), sowie in seinem größeren
Werke (Laßwitz, Geschichte der Atomistik vom Mittelalter Ins Newton,
Hamburg und Leipzig 1890, IL Bd. p. 40—55) vertretene Auffassung
von Galileis Ansichten über die Materie stützt sich lediglich auf eine
Analyse der Discorsi, jenes Werkes, welches Galilei am Abend seines
Lebens verfaßt hat, als er seine Ansicht über die Konstitution der
Materie geändert hatte, während sie das, was Galilei über die Kon-
stitution der Materie veröffentlichte, als er auf der Höhe seines Könnens
stand, teils ignoriert, wie den sehr charakteristischen Vergleich der
Atome mit den Individuen einer Menschenmenge, teils gewaltsam
so interpretiert, daß eine Übereinstimmung mit den Discorsi erzielt
wird. Aber die Wirkung, welche Galileis Ansichten über die Materie
auf die wissenschaftliche Entwicklung der Menschheit ausgeübt
haben, beruht nicht auf den Ansichten, welche er am Ende seines
Lebens vorgebracht hat, sondern vielmehr auf denen, welche er vertreten
hatte, als er in der Blüte seiner Jahre stand. Die Verkennung dieser
Bedeutung Galileis führte Laßnitz dazu, in Sennert, der mit seiner
Atomistik erst im Jahre 1619, also 7 Jahre nach Galilei und höchst
wahrscheinlich beeinflußt durch Galilei auftrat, den Erneuerer der
demokritischen Atomistik zu erblicken. (Laßwitz a. a. 0. I p. 440:
„Dagegen ist er [Sennert] sich wohl bewußt, daß seine Ansicht sich
an die Atomistik Demokrits eng anschließt." p. 441: „Tu diesen
Ausführungen [Sennerts] ist die Korpuskulartheorie so bewußt aus-
Die Wissenschaft Demokrits. 5
gesprochen, daß wir vom Jahre 1619 ab die Erneuerung der physika-
lischen Atomistik datieren müssen.'")
Was drittens Hobbes anbetrifft, so sagt Tönnies a. a. 0. p. 459:
„Gerade in jener neuen Wissenschaft, durch deren Begründung Galilei
die scholastische Physik überwand, hat auch das gesamte Denken
des Hobbes seine Wurzel." Daß Hobbes ein Schüler des Baco von
Yerulam sei, nennt er eine seltsame und gänzlich unwahre Fabel.
Bei Robertson (Hobbes, Edinburgh and London 1886) p. 41 — 42 steht :
„Die neue Doktrin nahm in der kürzesten Zeit den Namen Philo-
sophie an, weil sie entdeckt war nach dem Wiederaufleben der Literatur,
in welcher, wie es auch mit Aristoteles und Plato sein mag, jedenfalls
andere griechische Philosophen, frühere und spätere, wie Demokrit
und Epikur, ihre ganze Theorie der Welt und der Menschen auf eine
physikalische Betrachtung sich bewegender Atome gegründet hatten.
1 n d e m Geiste einer solchen mechanischen
Philosophie oder physikalischen Wissenschaft
begann Hobbes jetzt zu denke n. Wir können seinen
Gedanken mit dem des Cartesius vergleichen; aber der Impuls
kam i h in v o n d e n physikalischen Räso n n e m e n t s
Galileis/' p. 20 Anm. steht: „Niemals erwähnt er (Hobbes)
Baco, wie er Galilei, Keppler, Harvcy und andere unter den ihm vor-
angegangenen Gründern der neuen Naturphilosophie erwähnt.'1
p. 35 — 36: „Auf der dritten Reise war schließlich die Zeit gekommen .
wo er (Hobbes) die großen wissenschaftlichen Entdeckungen dieser
Generation schätzen und den Mann verstehen konnte, welcher sie
gemacht hatte. Vater Galilei hatte den ersten Anspruch auf seine
Huldigung als der Entdecker der Bewegungsgesetze .... Bevor
dieses letzte Unglück (Schwäche und Blindheit) ihn (Galilei) befiel,
muß ihn Hobbes zu Florenz im April 1636, wenn nicht im voran-
gegangenen Jahre, gesehen haben. Gewürdigt einer intimeren Ver-
traulichkeit mit dem bejahrten Entdecker, empfand und behielt er
immer die tiefste Achtung vor dem Manne, , welcher zuerst die Pforten
der universellen Naturphilosophie eröffnete". Um Galilei war eine
Menge aktiver Schüler gruppiert; und in andern Städten, besonders
in Pisa, seinem Geburtsort, gab es Leute, welche die neue physikalische
Wissenschaft, energisch förderten oder weitere philosophische An-
wendungen ihrer Prinzipien zu machen suchten, wie Hobbes selbst.
Mit einem der ausgezeichnetsten unter diesen letzteren, Berigardus
0 Louis L ü w e n h c i m ,
mit Namen, Professor der Philosophie zu Pisa, trat er, wie hachge-
wiesen werden kann, in spezielle Beziehungen." Bei Libri, Galileo
( ialilei ; I Sein Leben und seine Werke, aus dem Französischen mit
Anmerkungen von Carove, Siegen und Wiesbaden 1842, p. 83 Anm.
steht: „Im November 1634 wrar er (Galilei) von Bellosguardo auf eine
Villa auf Monte Ripaldi im Kirchspiel Arcetri gezogen, wo ihn bald
darauf Hobbes mit seinem Zögling, dem Grafen von Devonshirc,
besuchte. Galilei soll ihm die erste Idee gegeben haben, die Sittenlehre
mit geometrischer Art zu behandeln und sie so zu mathematischer
Gewißheit zu bringen." Nach Tönnies (Arch. f. Gesch. d. Phil. III,
Berlin 1890, p. 232) sagt Kästner: „Joh. Albert de Soria, ehemaliger
Lehrer der Universität Pisa, versichert, Galilei habe dein Hobbes
auf einem Spaziergang beim großherzoglichen Lustschloß Poggio
Imperiale die erste Idee gegeben, die Sittenlehre durch Behandlung
nach geometrischer Art zur mathematischen Gewißheit zu bringen."
Nach meiner Ansicht zeigt die Erkenntnistheorie von Hobbes eine
solche Übereinstimmung mit der demokritisch-galileischen Erkenntnis-
theorie, daß auch hier eine direkte Einwirkung nicht zu bezweifeln ist."
Diese von Galilei beeinflußten Philosophen hinterließen ihren
Nachfolgern die Aufgabe, die von ihnen ausgebildete Weltanschauung
der modernen Naturwissenschaft mit dem Christentum zu verknüpfen,
eine Aufgabe, deren verschiedene Lösungsversuche den eigentlichen
Inhalt der neueren Philosophie ausmachen, deren Koryphäen von
Gartesius bis Kant einschließlich sich unausgesetzt mit dieser Auf-
gabe beschäftigt haben. Von der modernen Philosophie ist aber die
moderne Literatur, die moderne Kunst und die moderne Pädagogik
abhängig. Und Galilei kann daher mit vollem Recht
als der Vater der Neuzeit bezeichnet werden.
Trotzdem ist mit einziger Ausnahme einer wertvollen Abhandlung
Wohlwills in der Zeitschrift für Völkerpsychologie bisher über Galilei
noch fast gar nichts geschrieben worden. Und doch ist, seitdem
Favaro durch seine im Jahre 1884 erschienene Schrift Alberis Ver-
öffentlichung der Jugendschriften Galileis wesentlich ergänzt hat,
ein so reiches auf unsern Gegenstand bezügliches Material vorhanden,
daß ich, ohne im Besitz von Handschriften zu sein, imstande zu sein
glaube, ein deutliches Bild vom Entwicklungsgange Galileis zu geben.
Jeder Mensch ist der Sohn seiner Zeit; und selbst die bedeutendsten
änner stehen auf den Schultern ihrer Vorgänger. Nur bei Galilei
Die Wissenschaft Demokiits. 7
scheint es anders zu sein. Denn nach der herrschenden Auffassung
hat Galilei die vom Altertum überlieferte und während des ganzen
Mittelalters herrschende Physik beseitigt und aus eigener Kraft
durch ein wohl durchdachtes System ersetzt. Aber wenn wir uns den
Entwicklungsgang Galileis näher ansehen, so finden wir, daß er selbst
gesteht, mehr Jahre auf das Studium der Philosophie als Monate
auf das der Mathematik verwendet zu haben (Opere VI p. 99), und
daß sein Schüler Viviani uns mitteilt, daß er sich 3 — 4 Jahre eifrig
mit Philosophie beschäftigte und fleißig die Werke von Aristoteles,
von Plato und anderer antiker Philosophen gelesen habe. (Viviani,
vita di Galileo Galilei, abgedruckt in den Opere di Galilei, heraus-
gegeben von Alberi XV, p. 331.) Wenn Viviani glaubte, daß Galilei
auch den Plato gelesen habe, so ist das freilich ein Irrtum, der sich
dadurch erklärt, daß Galilei sich wiederholt anerkennend über Plato
ausgesprochen hat. Aber gerade diese Anerkennung beruht auf Un-
kenntnis dessen, was Plato in Wirklichkeit gelehrt hat, und diese Un-
kenntnis beweist, daß Galilei ihn nicht gelesen hat, was umso
merkwürdiger ist, als man zu seiner Zeit in Italien allgemein für
Plato schwärmte. Daß er aber die physikalischen Schriften des
Aristoteles genau studiert hat, ist selbstverständlich, da er nicht nur
gegen Aristoteles im allgemeinen, sondern gegen ganz bestimmte
Stellen seiner Schriften polemisiert. Ich behaupte aber, daß er nicht
nur diese Schriften selbst, sondern auch den sehr umfangreichen
Kommentar des Simplicius zu denselben gelesen hat. Dies wird zu-
nächst dadurch wahrscheinlich, daß er sowTohl in seinem astronomi-
schen als auch in seinem mechanischen Hauptwerk (Dialogo dei
massimi sistemi Tolemaico e Copernicano und Dialoghi delle nuovc
scienze, gewöhnlich kurz zitiert als Discorsi) den Vertreter der
aristotelischen Ansichten Simplicius genannt hat. Denn dies hat
seinen Grund nicht, wie seine Feinde behaupteten, darin, daß er die
Anhänger des Aristoteles als Einfaltspinsel hinstellen wollte, sondern
vielmehr, wie er selbst in Opere I p. 12 sagt, darin, daß es ihm passend
erschien, dem Vertreter der aristotelischen Ansichten, bei dem er
eine übertriebene Neigung zu dem Kommentator Simplicius voraus-
setzte, den Namen des von ihm so verehrten Schriftstellers zu lassen.
Wichtiger aber ist, daß Galilei zu einer Zeit, wo er das Beharrungs-
gesetz noch nicht kannte, und überhaupt noch vielfach in aristotelischen
Anschauungen befangen war, uns erzählt, er sei unabhängig von
8 Louis L ö w e n h c i m ,
Hipparch auf dieselbe Erklärung der Tatsachen gekommen, welche
bei schweren, in die Höhe geworfenen Körpern beobachtet werden,
wie dieser, und habe erst 2 Monate, nachdem er diese Erklärung
gefunden, aus seiner Lektüre ersehen, daß Hipparch dieselbe Theorie
aufgestellt habe. Galilei sagt (Favaro, Alcuni scritti inediti di Galileo
Galilei, Roma 1884, p. 109—110): „Da der schwere Körper sich beim
Fall anfangs langsamer bewegt, so ist es notwendig, daß er im Anfange
seiner Bewegung weniger schwer sei als in der Mitte, und am Ende der-
selben, da .... die Schnelligkeit und Langsamkeit sich nach der
Schwere und Leichtigkeit richtet. Wenn also gefunden ist, wie und
warum der Körper im Anfang seiner Bewegung weniger schwer ist,
so wird eine sichere Ursache dafür gefunden sein, warum er lang-
samer fällt. Aber die natürliche und innere Schwere des Körpers ist
sicher nicht vermindert, da weder sein Volumen noch seine Dichtig-
keit vermindert ist. Es bleibt also nur übrig, daß jene Veränderung der
Schwere widernatürlich und akzessorisch ist Aber jene Schwere
vermindert sich nicht durch die Schwere des Mediums ; denn das Medium
ist im Anfang der Bewegung dasselbe wie in der Mitte derselben. Es
bleibt also nur übrig, daß die Schwere des Körpers durch irgendeine
äußerliche und von außen kommende Gewalt vermindert worden ist.
.... Aber die von dem Werfenden mitgeteilte Kraft vermindert
nicht nur zuweilen die Schwere des schweren Körpers, sondern macht
ihn auch öfter so leicht, daß er mit großer Geschwindigkeit nach oben
fliegt .... Sicher, behaupte ich, ist es jene von dem Werfenden
mitgeteilte Kraft, welche die natürliche Bewegung im Anfange lang-
samer macht .... Dazu, daß ein schwerer Körper sich gewaltsam
nach oben bewegen kann, ist eine Kraft notwendig, die größer ist,
als die widerstehende Schwere, sonst könnte die widerstehende Schwere
nicht überwunden werden und folglich der schwere Körper nicht nach
oben gehen Da aber diese Kraft, wie gezeigt ist, kontinuierlich
schwächer wird, so wird sie endlich so vermindert sein, daß sie die
Schwere des Körpers nicht mehr überwindet; und dann wird sie den
Körper nicht weiter treiben. Aber deswegen wird doch am Ende
der gewaltsamen Bewegung jene mitgeteilte Kraft nicht vernichtet
sein; sondern sie wird nur so vermindert sein, daß sie die Schwere
des Körpers nicht mehr überwindet; aber sie wird jener gleichkommen;
und, um es mit einem Worte zu sagen, es wird die nach oben treibende
Kraft, d. h. die Leichtigkeit in dem Körper nicht mehr überwiegen;
Die Wissenschaft Demokrits. 0
sondern dieselbe wird der Schwere des Körpers gleich geworden sein;
und dann wird in dem letzten Punkte der gewaltsamen Bewegung
der Körper weder schwer noch leicht sein. Aber wenn die mitgeteilte
Kraft weiter in ihrer AVeise abnimmt, so beginnt die Schwere des
Körpers das Übergewicht zu erlangen, weswegen auch der Körper
sich anschickt, zu fallen. Aber weil im Beginn dieses Fallens noch viel
von der nach oben treibenden Kraft, d. h. der Leichtigkeit vorhanden
ist, so kommt es, daß die eigene Schwere des Körpers durch diese
Leichtigkeit vermindert wird und folglich die Bewegung im Anfange
langsamer geschieht, Und weil wieder jene äußere Kraft weiter ab-
nimmt, so wird die Schwere des Körpers, welche einen geringeren Wider-
stand findet, vermehrt; und der Körper bewegt sich noch schneller,
und dies halte ich für die wahre Ursache. der Beschleunigung der
Bewegung. Als ich mir diese ausgedacht hatte und etwa 2 Monate
später las, was Alexander hierüber schreibt, habe ich daraus gesehen,
daß dies auch die Meinung jenes sehr gelehrten Philosophen gewesen
ist, der von einem sehr gelehrten Manne gelobt worden ist, nämlich
von Ptolemäus, von dem Hipparch hochgeschätzt und in seiner ganzen
eine große Konstruktion enthaltenden Schrift durch das höchste
Lob ausgezeichnet wird. Dies also hielt auch Hipparch nach dem
Bericht des Alexander für die Ursache der Beschleunigung der natür-
lichen Bewegung." Nun wissen wir aber (Wohlwill, Zeitschr. f.
Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft XV, Berlin 1884, p. 383
Ins 384), daß die Mitteilung dieser Theorie des Hipparch sich bei
Simplicius findet (Simplicii commentarius in IV libros Aristotelis de
caelo, herausgegeben von Karsten, Utrecht 1865, p. 119 b— 120 a).
Da nun Simplicius seine Mitteilungen aus dem Kommentar des
Alexander von Aphrodisias schöpft, der sie seinerseits wieder einer ver-
loren gegangenen Schrift des Hipparch entnimmt, und da auch der
Kommentar des Alexander verloren gegangen ist, so kann sie Galilei
nicht wohl wo anders als bei Simplicius gelesen haben. Entscheidend
endlich scheint mir zu sein, daß Galilei bei der Besprechung einer
Aristotelesstelle (de coelo IV 6, p. 313 a) wiederholt von Gold spricht3),
:!) Opere XII p. 83: „Er (Aristoteles) bringt dann eine andere Behauptung
vor, welche ebenso unrichtig zu sein scheint, nämlich daß einige l)inge wegen
ihrer Kleinheit in der Luft schwimmen, wie die ganz kleinen Teilchen von
Erdstaub und die feinen Blätter geschlagenen Goldes." p. 90: „Ich wende
mich zu dem Text des Aristoteles, worin er sich anschickt, die wahren Ursachen
10 Louis Löwenheim,
obgleich in der Stelle des Aristoteles gar nicht vom Gold die Kcde
ist, wohl aber in dem Kommentar des Simplicius zu dieser Stelle
(Simplicius zu de coelo, ed. Karsten, p. 322 1)). Galilei hat also nicht
nur die physikalischen Schriften des Aristoteles, sondern auch den
Kommentar des Simplicius zu denselben studiert.
Da nun Aristoteles bei Auseinandersetzung einer Ansicht be-
kanntlich gern die ihr widersprechenden Ansichten früherer
Philosophen zu widerlegen sucht, und da Simplicius in solchen
Fällen genauere Nachrichten über jene Ansichten der Früheren
zu geben pflegt, so mußte Galilei aus diesem seinem Studium
eine ziemlich genaue Kenntnis der älteren griechischen Philosophie
gewinnen, während ihm die nacharistotelische Philosophie un-
bekannt bleiben konnte. Was die Fallgesetze betrifft, deren richtige
Aufstellung bekanntlich das Hauptverdienst Galileis ist, so polemi-
sieren hier Aristoteles und Simplicius hauptsächlich gegen Demokrit,
Wenn nun die Fallgesetze des Aristoteles im Gegensatz stehen zu
denjenigen Demokrits, die Fallgesetze Galileis aber, wie jedermann
weiß, im Gegensatz zu denen Aristoteles, so liegt der Gedanke nahe,
ob nicht vielleicht die Fallgcsetze Galileis bis zu einem gewissen Grade
übereinstimmen werden mit denjenigen Demokrits. Soweit dies der
Fall ist, müssen wir nach dem Gesagten Galilei als abhängig von
Demokrit betrachten.
Die Ansicht, daß der Ursprung der modernen Naturwissenschaft
auf einen der sogenannten vorsokratischen Philosophen zurück-
gehen soll, wird vielen auffallend, wenn nicht gar abenteuerlich er-
scheinen, obgleich diese Ansicht unter den Zeitgenossen
Galileis allgemein verbreitet war. Selbst Natorp,
welcher die große Ähnlichkeit zwischen den Ansichten Demokrits
und Galileis richtig erkannt hat, glaubte doch jeden Einfluß Demokrits
auf Galilei entschieden in Abrede stellen zu sollen 4). Wer übrigens
anzugeben, woher es komme, daß die feinen Platten von Eisen oder Blei
auf dem Wasser schwimmen, und sogar das Gold selbst, wenn es zu ganz
feinen Blättern verfeinert ist, und die kleinen Staubteilchen nicht allein im
Wasser, sondern auch in der Luft sich schwimmend umhertreiben."
4) Natorp, Galilei als Philosoph. Philosophische Monatshefte XVIII,
Heidelberg 1882, p. 213 — 214 Die Widerlegung von Natorps Ausführungen
findet sich in: Löwenheim, Der Einfluß Demokrits auf Galilei. Arch. f. Gesch.
d. Philos. VII 2, p. 232—233.
.Dir Wissenschaft I >r krits. 11
mit der griechischen Philosophie einigermaßen vertraut ist, wird
auch über die Bedeutung der folgenden Stelle aus einer Jugendschrift
Galileis nicht im Zweifel sein (Favaro, alcuni scritti inediti di Galilelo
( ialilei, Roma 1884, p. 55): „Wenn also Aristoteles und die übrigen Phi-
losophen damit zufrieden wären, als leicht das anzunehmen, was wir
weniger schwer nennen, so würden auch wir keine Beschwerde dabei
finden, diese Benennung ,leicht' zuzulassen. Aber da sie wollten,
daß es auch einen gewissen leichten Körper geben soll, der dies schlecht-
hin wäre, und jeder Schwere entbehrte, so haben wir versucht, diese
Ansicht, die wir als geradezu scheußlich verabscheuen, auf jede Weise
und von Grund aus bis auf das tz auszurotten. Deswegen
w erden wir hinsichtlich dieser Mein u n g d e r
Alten, welche Aristoteles vergebens i m v i e r t e n
Buche seiner Schrift ü b e r das H i m m e 1 s g e b ä u d e
zu widerlegen sucht, das von Aristoteles Zu-
r ü c k gewiesene behaupten, das von ihm Behauptete
aber zurückweisen und in dieser Weise seine an diesem Orte
folgenden Zurückweisungen und Behauptungen einer Kritik unter-
werfen."
Gewiß wird es nicht an solchen fehlen, welche für die Bedeutung,
die ich hier den Gedanken Demokrits beimesse, nur ein mitleidiges
Lächeln haben werden. Helmholtz sagt in seinem Vortrag, „Das
Denken in der Medizin": „Oberflächliche Ähnlichkeiten finden ist
leicht .... Unter einer großen Zahl solcher Einfälle werden ja auch
wohl einige sein müssen, die sich schließlich als halb oder ganz richtig
erweisen : es wäre ja geradezu ein Kunststück, i m m e r falsch zu
raten. ... In den Lctterkästen eines Buchdruckers liegt alle Weis-
heit der Welt zusammen, die schon gefunden ist und noch gefunden
werden kann: man müßte nur wissen, wie man die Lettern zusammen-?
zuordnen hat. So sind auch in dvn Hunderten von Schriften und
Schriftchen, die alljährlich erscheinen, über Äther, Beschaffenheit
der Atome, Theorie der Wahrnehmung, ebenso wie über das Wesen
der asthenischen Fieber und der Karzinome gewiß sehen längst alle
zartesten Nüanzierungen der möglichen Hypothesen erschöpft;
und unter diesen müssen notwendig viele Bruchstücke der richtigen
Theorie sein. Wer sie nur zu linden wüßte! Ich heb" dies hervor,
um Ihnen klar zu machen, daß diese Literatur der ungeprüften und
unbestätigten Spekulationen gar keinen Wert für den Fortschritt der
12 -Louis Low e nhei m ,
Wissenschaft hat." Es gibt viele Personen, welche mit Dubois-Rey-
mond (vgl. seinen Vortrag: „Kulturgeschichte und Naturwissenschaft")
der Ansicht sind, daß diese Charakteristik auf alle griechischen Natur-
forscher oder wenigstens auf alle der voralexandrinischen Zeit sehr
gut paßt. Aber nach meiner Ansicht gibt es zwei Kriterien, um die
echten Forscher von jenen Pseudoforschern, welche Helmholtz schildert,
zu unterscheiden, ein inneres und ein äußeres. Das innere Kriterium
besteht darin, daß die echten Forscher ihre Ansichten nicht nur aus-
sprechen, sondern auch begründen, sei es durch logische Ableitung
aus allgemeinen Prinzipien, sei es durch Erfahrung und Experiment;
das äußere besteht darin, daß sie auf solche Männer, deren wissen-
schaftliche Bedeutung unbestritten ist, maßgebenden Einfluß zu
gewinnen pflegen, i Ich werde zu zeigen suchen, daß sowohl das innere
wie das äußere Kriterium dafür spricht, daß den auf Mechanik und
Astronomie bezüglichen Ansichten Demokrits wissenschaftliche Be-
deutung zukommt und daß daher die unter den Naturforschern all-
gemein verbreitete Anschauung, daß Aristoteles der erste bedeutende
Naturforscher gewesen sei, durchaus unrichtig ist, daß viel-
mehr naturwissenschaftliches Denken bei
Dcmokrit in einem unvergleichlich höherem
Grade zu finden ist a 1 s b e i A r i s t o t e 1 e s. Als Beweis
dafür, daß sich in der letzten Zeit doch ein Wandel der Anschauungen
zu vollziehen beginnt, führe ich an, daß Haeckel zwar in der 1870
erschienenen 2. Auflage seiner „Natürlichen Schöpfungsgeschichte"
p. 69 geschrieben hat: „Nur einen Mann müssen wir hier aus-
nahmsweise hervorheben, den größten und den einzigen wahrhaft
großen Naturforscher des Altertums und des Mittelalters, einen der
erhabensten Genien aller Zeiten: Aristoteles", daß er aber diese
Worte in der 1889 erschienenen 8. Auflage nicht wiederholt hat.
Da man bei dem Namen Galileis zunächst an seinen bekannten
Prozeß zu denken pflegt, so hat man sich daran gewöhnt, das Werk
Galileis als die Fortsetzung desjenigen des Kopernikus zu betrachten;
ja, es ist die Ansicht ausgesprochen worden, daß der einzige scharfe
Luftzug, der mit dem Wagnis des Kopernikus aus der Unendlichkeit
hereingedrungen sei, genügt habe, um das ganze Kartenhaus der
aristotelischen Weltanschauung umzublasen. Hier aber wird gezeigt
werden, daß Galileis Zertrümmerung der aristotelischen Physik im
Gegensatz zu Kopernikus geschah, der zu seinem Satze, daß nicht die
Die Wissenschaft Demokrits. 13
Erde, sondern der Himmel ruht, durch konsequente Weiterbildung
aristotelischer Anschauungen gelangt war und von dem Galilei weiter
nichts als das heliozentrische System angenommen hat. Wohl war
sich Galilei bei seiner Opposition gegen die Ansichten des Aristoteles
der Abhängigkeit von einem epochemachenden Denker bewußt.
Dieser war aber nicht Kopernikus, sondern Demokrit, der bereits
ein Jahrhundert vor Aristoteles wirkte, und zu dem zurückzukehren
Galilei mit genialem Blick als die erste Vorbedingung für jeden Fort-
schritt auf wissenschaftlichem Gebiete erkannte. Dessen Lehre von
der Unendlichkeit des Weltalls war dem Geiste eines Galilei sym-
pathischer als die Annahme des geschlossenen Rings, welchen das
Weltsystem sowohl nach Aristoteles wie nach Kopernikus bildet;
sein Gedanke, daß im Himmel wie auf Erden alles im ewigen Wechsel
kreist, schien Galilei richtiger als der von Kopernikus festgehaltene
Gedanke des Aristoteles, daß zwar auf der unvollkommenen Erde
alles vergänglich und im ewigen Wechsel begriffen, in den voll-
kommenen Himmelsräumen dagegen aHes unvergänglich und unab-
änderlich sei; seine Lehre von der Subjektivität der Sinnesqualitäten,
welche während des ganzen Mittelalters verschollen war, machte
Galilei zu der seinigen und damit zum Mittelpunkt der gesamten
modernen Philosophie; und seine Physik, die an wissenschaftlichem
Wert der des Aristoteles weit überlegen ist, gewann auf das ganze
Denken Galileis einen solchen Einfluß, daß dieser geradezu als der
Schüler Demokrits bezeichnet werden muß. Wenn wir in Langes
Geschichte des Materialismus die Bemerkung finden, daß bald nach
Baco die Atomistik, und zwar vorläufig in der Gestalt, welche Epikur
ihr gegeben, zur Grundlage der modernen Naturwissenschaft erhoben
worden sei, so wird hier dargetan werden, daß durch Galilei bereits
vor Baco die Atomistik, und zwar zunächst in der Gestalt, welche
Demokrit ihr gegeben, zur Grundlage der modernen Naturwissen-
schaft gemacht worden ist. Hingewiesen wurde Galilei auf Demokrit
durch Archimedes, der einerseits ebenfalls als der Schüler Demokrits,
anderseits aber als der Lehrer Galileis zu betrachten ist. Nachdem
Galilei die Schule des Archimedes durchgemacht hatte, wandte er
sich dem Lehrer seines Lehrers zu, um von diesem noch vieles zu
lernen, was ihn Archimedes nicht hatte lehren können. Und indem
nun Galileis scharfer Geist die Gedankenwelt Demokrits durch die
seit den /eilen Demokrits weit Fortgeschrittene Mathematik ver-
14 L o u i s L ö \v e n h e i m ,
tiefte, konnte er zu Anschauungen gelangen, welche seinem Zeitalter
völlig fremd waren und eine neue Zeit inaugurierten.
Der Beweis dieser Behauptungen bildet den Inhalt meines Werkes,
von dem sich aber zwei Dritteile ausschließlich mit Demokrit und
seinem Einfluß auf das Altertum beschäftigen. Daß alle bisherigen
Darstellungen der griechischen Philosophie Plato und Aristoteles
in einseitiger Weise hervorheben, liegt an der Beschaffenheit unserer
Quellen, welche bisher, wie mir scheint, von naturwissenschaftlicher
Seite ebensowenig wie von philologisch-philosophischer Seite mit der
nötigen Kritik betrachtet worden sind. Wenn der Engländer Grotc
zuerst erkannt hat, daß alle aus dem Altertum auf uns gekommenen
Darstellungen der politischen Geschichte Griechenlands von
einem einzigen Parteistandpunkt aus geschrieben sind, daß wir also,
wenn wir uns ein objektives Bild von der politischen Ent-
wicklung der Griechen machen wollen, nicht mit den Augen der
Thucydides und Xenophon sehen dürfen, so muß dieser wichtige
Fortschritt nach meiner Ansicht durch die weitere Erkenntnis er-
gänzt werden, daß auch die auf uns gekommenen antiken Dar-
stellungen der griechischen Philosophie fast alle von dem-
selben Parteistandpunkt aus geschrieben sind, daß wir also, wenn
wir uns ein objektives Bild von der Entwicklung des griechischen
Denkens machen wollen, nicht mit den Augen des Plato und
Aristoteles und ihrer Kommentatoren sehen dürfen. Tun wir dies
nicht, so werden wir der allgemein verbreiteten Meinung, daß Plato
und Aristoteles die bedeutendsten Denker des Altertums gewesen
seien und stets dafür gegolten haben, in keiner Weise zustimmen
können. Vielmehr wird hier gezeigt werden, daß Demokrit, der Haupt-
vertreter der im besten Sinne des Wortes fortschrittlichen Wissen-
schaft des 5. Jahrhunderts, nicht nur verdient, über Plato und
Aristoteles gestellt zu werden, wie bereits der geistreiche Verfasser
der Geschichte des Materialismus angedeutet hat, sondern auch fak-
tisch von den Griechen über jene beiden Vertreter der nach dem
unglücklichen Ausgang des peloponesischen Krieges eingetretenen
Reaktionszeit gestellt worden ist, und daß erst durch die Körner
die entgegengesetzte Anschauung aufkam, welche dann auf das Mittel-
alter übergegangen ist, so daß der oberflächliche Aristoteles, dem
für die großen Errungenschaften Demokrits alles Verständnis fehlte,
und der daher gar nicht imstande war, die vorangegangene Wissen-
Die Wissenschaft Demokrits. 15
schaft der Griechen auch nur zusammenzufassen, geschweige denn
weiterzuführen, im Mittelalter als „der Meister derer, die da wissen" ge-
feiert werden konnte, ein deutliches Zeichen, wie weit die mittelalter-
liche Wissenschaft im Vergleich zur griechischen zurückgegangen
war. Nachdem dann in den beiden ersten Bänden dargetan ist, daß
Demokrit der Hauptvertreter der antiken Wissenschaft ist, Plato und
Aristoteles dagegen auf die Entwicklung der Wissenschaft lediglich
einen hemmenden Einfluß gehabt haben, wird dann im dritten Baude
weiter gezeigt werden, wie die römisch-mittelalterliche Anschauung
von der Bedeutung des Aristoteles im 17. Jahrhundert durch Galilei
zerstört worden ist, der unter Beseitigung der Philosophie des Aristo-
teles, welche den Fortschritt der Menschheit solange aufgehalten
hatte, sowohl die moderne Naturwissenschaft wie die moderne Philo-
sophie auf der Grundlage aufbaute, welche einst Demokrit, der größte
Denker des Altertums, gelegt hatte; und vielleicht wird dieser Teil
meines Werkes auf unsere Schätzung der griechischen Philosophie
und auf unsere Ansichten über die Stellung, welche derselben in der
Gesamtentwicklung der menschlichen Kultur zukommt, nicht ohne
Einfluß bleiben. In den Schlußbetrachtungen endlich wird gezeigt
werden, wie, nachdem im Laufe des 18. Jahrhunderts die Kämpfe
des 17. allmählich in Vergessenheit geraten waren, im 19. Jahrhundert,
im Zeitalter der Romantik, im Anschluß an die römisch-mittelalter-
liche Anschauung die unhistorische Ansicht sich Geltung verschaffte,
daß Demokrit für die wissenschaftliche Entwicklung ohne alle Be-
deutung gewesen sei, Plato und Aristoteles aber für ihre Zeit von
epochemachender Bedeutung, welche nicht dadurch beeinträchtigt
werden könne daß ihre Anschauungen nicht mit denjenigen An-
schauungen übereinstimmen, welche die moderne Zeit aus eigener
Kraft geschaffen habe. Die Urheber dieser Anschauungsweise sind
Schleiermacher und Hegel, deren Ansichten, wenn sie auch auf allen
Übrigen Gebieten überwunden sind, doch in der allgemein ange-
nommenen Auffassung der Geschichte der Philosophie noch heut»1
nachwirken. Emanzipieren wir uns auch auf diesem Gebiete von
jener Richtung, welche man häufig euphemistisch als Idealismus,
richtiger aber als Romantik bezeichnet, so zeigt sich, daß das moderne
Denken, weil davon entfernt mit einer Negation der griechischen
Philosophie zu beginnen, vielmehr mit einer engen Anlehnung an
die griechische Philosophie begonnen hat. Denn die erste Tat der
\Q Louis Löwen heim,
modernen Philosophie besteht darin, von den beiden Richtungen
des antiken Denkens diejenige zu verwerfen, welche bei den Römern
und während des Mittelalters die herrschende war, um zu derjenigen
zurückzukehren, welche bei den Griechen die herrschende gewesen ist.
Somit erscheint der Beginn der modernen Philosophie, an deren
Spitze nicht Baco, sondern Galilei steht, als die Krönung des Gebäudes
der Renaissance. Denn die Renaissance, welche mit einer Vertiefung
in die Gedankenwelt der Alten begann, hat dazu geführt, von den
Römern, deren Kultur die germanischen und romanischen Völker
im Laufe des Mittelalters angenommen hatten, zurückzukehren zu
den Lehrmeistern der Römer, den Griechen. Und in diesem Sinne
kann die Renaissancezeit als die Grenzscheide zwischen Mittelalter
und Neuzeit angesehen werden, jener beiden auf das Altertum folgen-
den Perioden, welche man seit der Renaissancezeit immer unter-
schieden hat, deren Unterscheidung aber die heutigen Historiker
(im Anschluß an Rankes Weltgeschichte, welche dieselbe nicht kennt)
aufzugeben im Begriff sind, meiner Ansicht nach mit Unrecht. Denn
der wesentliche Unterschied zwischen diesen beiden wohl unter-
schiedenen Perioden besteht darin, daß alle Gedanken des Mittel-
alters auf den Anschauungen der römischen Welt aufgebaut sind,
während alle Errungenschaften der Neuzeit auf der von den Griechen
gelegten Grundlage beruhen. Auf geistigem Gebiete ist also der Be-
ginn der Neuzeit, wenn sie auch nicht mit einer solchen politischen
Umwälzung anhebt wie das Mittelalter, doch von einschneidender
Bedeutung gewesen als der Beginn des Mittelalters. Denn in geistiger
Beziehung bildet die Zeit der Römerherrschaft und das Mittelalter
eine zusammenhängende Periode, welche sich charakterisiert als
Unterbrechung der fortschreitenden Entwicklung, die im Beginn der
Neuzeit ungefähr in dem Punkte einsetzt, wo die griechische Ent-
wicklung aufgehört hatte, so daß also die griechische Kultur die
unmittelbare Voraussetzung unserer modernen Kultur bildet. Und
vielleicht kann mein Werk dazu beitragen, diese Erkenntnis in weitere
Kreise zu tragen und den von vielen ausgezeichneten Forschern ge-
teilten Wahn zu zerstören, als ob zwischen der griechischen Philoso-
phie und der modernen Naturwissenschaft ein Gegensatz bestehe,
während in Wirklichkeit die griechische Philosophie
die notwendige Grundlage bildet, mit welcher
d i e m o (lerne N a t u r w i s s e n S c h a f t steht und fällt.
Die Wissenschaft Dernokrits. 17
Die hier ausgesprochenen allgemeinen Ansichten stehen mir
unerschütterlich fest; hinsichtlich der Einzelheiten muß ich trotz
aller auf dieselben verwandten Mühe und Sorgfalt um diejenige Nach-
sicht bitten, deren ein so umfassendes Unternehmen wie das meinige
stets bedarf. Wenn im einzelnen meine etwaigen Irrtümer teils durch
diejenigen, welche in der Philologie bewanderter sind als ich, teils
durch diejenigen, welche in der Naturwissenschaft bewanderter
sind als ich, berichtigt sind, so werden meine allgemeinen Ansichten
dadurch nicht berührt sein, sondern, wie ich zuversichtlieh hoffe,
beim weiteren Fortgang der Forschung sich bewähren.
Die M e c h a n i k und Kosmogonie De m o k r i t s.
1. Die Lehre von der ursprünglichen Be w e g u n g
vom S t o ß.
Demokrit kennt drei Arten der Bewegung, nämlich die ursprüng-
liche Bewegung, die durch Stoß hervorgerufene Bewegung und die
Bewegung infolge der Schwere.
Um Dernokrits Ansichten über die ursprüngliche Bewegung
richtig würdigen zu können, müssen wir uns zunächst die Stellung
vergegenwärtigen, welche die atomistische Philosophie in der Gesamt-
entwicklung der griechischen Philosophie einnimmt. Sein Lehrer
Leucipp hatte den Hylozoisten zugegeben, daß den sinnlich wahr-
nehmbaren Dingen, die im fortwährenden Wechsel begriffen sind,
Kealität zukomme, den Eleaten dagegen, daß es auch etwas wahrhaft
Seiendes im Sinne der Eleaten gäbe, d. h. etwas, das ungeworden,
unzerstörbar und ewig unveränderlich ist, und daß dieses, da alles
Sichtbare Veränderungen zeigt, unsichtbar sein müsse. Das sinnlich
Wahrnehmbare war ihm durch die Erfahrung gegeben. Das ewig
Unveränderliche mußte er suchen. Da er aber nicht die Sinneswahr-
nehmungen als leeren Schein betrachtete, so konnte er nicht wie
die Eleaten bei der Konstruktion des Nichtwahrnehmbaren seiner
Phantasie die Zügel schießen lassen, sondern mußte es vielmehr
so bestimmen, daß es mit der Sinneswahrnehiniing im Einklang ist,
daß es also das darstellt, was in (\vn fortwährend sich verändernden
Dingen ewig unverändert bleibt. Leucipp ist demnach jener Weise,
welcher es zuerst als Aufgabe der Wissenschaft erkannte, daß sie
„sucht den ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht". Kr sagte
Archiv für systematische Philosophie (Beilageheft). -
18 Louis LÖwenhe im,
sich nun, daß, da die Sinneswahrnehmung eine Vielheit zeigt, auch
das unveränderlich Bleibende, wenn anders es mit der Sinneswahr-
nehmung im Einklang sein soll, nicht, wie die Eleaten glaubten, eine
Einheit bilden könne, sondern vielmehr aus vielen, ja sogar aus un-
endlich vielen Dingen bestehen müsse. Wenn nun diese Dinge un-
veränderlich sein sollen, so dürfen sie auch nicht teilbar sein; und
er nannte sie daher Atome (d. h. Unteilbares). Wenn aber lediglich
diese unsichtbaren Atome das wahrhaft Seiende darstellen, die sinn-
lich wahrnehmbaren Dinge aber doch existieren sollen, so müssen
diese aus den Atomen zusammengesetzt sein; die Atome müssen also
die letzten unzerlegbaren Bestandteile der sichtbaren Dinge bilden.
Und so kam Leucipp auf den Gedanken, daß die Atome nur wegen ihrer
Kleinheit für uns unsichtbar sind. Ist aber alles aus Atomen zusammen-
gesetzt, so müssen sich auch alle Vorgänge in der Natur aus den Eigen-
schaften der Atome erklären, und zwar nach dem Kausalgesetz,
das Leucipp zum erstenmal mit voller Klarheit aussprach. Die Atome
erscheinen daher als die Ursachen aller Vorgänge in der Natur. In-
dem also Leucipp den Wechsel der Erscheinungen auf die Eigen-
schaften der Atome zurückzuführen suchte, erkannte er es als seine
Aufgabe, die unveränderlich bleibenden Ursachen der Naturvorgänge
aufzusuchen. Und ich halte dies für eine der wichtigsten Errungen-
schaften der griechischen Philosophie. Wie schwer es der Menschheit
geworden ist, zu dieser uns heute so selbstverständlich erscheinenden
Erkenntnis durchzudringen, ersehen wir daraus, daß sie der gesamten
altorientalischen Weltweisheit sowie den griechischen Philosophen
vor Leucipp unbekannt war, ja, daß selbst Plato noch die Ansicht
aussprechen konnte, daß die Aufgabe der Wissenschaft lediglich in
der Betrachtung des ewig unveränderlich Bleibenden bestehe, während
die Zurückführung der Erscheinungen der sichtbaren Dinge auf jenes
unveränderlich Bleibende lediglich eine unwissenschaftliche Spielerei
sei5), und daß sogar in derjenigen philosophischen Entwicklungsreihe,
welche mit (artesius anhebt, jene Erkenntnis keineswegs immer so
klar hervortritt, wie einerseits bei den griechischen Atomisten und
anderseits bei Helmholtz. Leucipp aber erkannte weiter, dal.) die
B) In Timaeus 24, p. 59 C charakterisier* er die Betrachtung des Wechsels
in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen, also das, was wir heute als Physik
und Chemie bezeichnen, als , .artige Kürzweil".
b
Die Wissenschaft Dcmokrits. 10
Aufgabe, den Wechsel der Erscheinungen kausal durch das ewig un-
veränderlich Bleibende zu erklären, nur dann lösbar ist, wenn es
gelingt, alle Naturyorgänge auf Bewegung zurückzuführen6). Den
Eleaten gab er zu, dal.) die Zulassung der Bewegung die Annall ine
eines leeren Raumes notwendig mache. Ihrem Sophisma gegenüber.
daß ein leerer Kaum nicht existieren könne, weil es ein Widerspruch
in sich wäre, daß das Nichtseiende sei, wußte er sich nicht anders
zu hellen, als mit der Behauptung, daß das Nichtseiende ebensogut
existiere wie das Seiende. (Simplicius in Phys. 7 a. Dox. Gr. p. 4S.",. |
Mochte dies auch paradox klingen, so wollte er sich doch nicht durch
Spitzfindigkeiten von der Erkenntnis abbringen lassen, daß es die
Aufgabe der Wissenschaft sei, alle Naturvorgänge auf Bewegung zu-
rückzuführen "'). Bekanntlich ist auch diese zweite Forderung wie
die erste von der heutigen Physik akzeptiert worden.
Wir können uns aber nur schwer einen Begriff davon machen,
wie neu und fremdartig dieselben damals erschienen. Aristoteles war
noch mindestens ein Jahrhundert nach Leucipp völlig außerstande,
die Gedanken Leucipps auch nur zu verstehen. Er sagt (de coel. 111 4,
6) Aristoteles, welcher den Begriff der Bewegung im weiteren Sinne
nimmt, und daher drei Arten der Bewegung unterscheidet, nämlich 1. qualita-
tive Veränderung, 2. Zunahme und Abnähme, :S. räumliche Bewegung (Physik
V 2, p. 226a), sagt in der Physik VIII 9, p. 2(35 b: , .Diese (es sind die Atomisten
gemeint) sagen, daß die Natur in räumlicher Bewegung bewegt weide
Y<Mi den übrigen Bewegungen aber meinen sie, komme keine den ursprüng-
lichen Dingen, sondern erst den aus diesen bestehenden zu; sie sagen nämlich,
Zunahme und Abnahme und qualitative Änderung finde statt, indem die
unteilbaren Körpersich verbinden und trennen."
7) Demokril ersetzte seine Lehre durch die richtigere hehre, daß das
beere eine Negation sei ( Tl leiuist i i paraphrases Aristotelis Phys. IV 8, ed.
Spengel, Leipzig L866, I, |>. 292 -293). Wenn Plutarch sagt: „Er (Demokrit)
trifft die Bestimmung, daß das Jclifs um nichts mehr als das Nichts sei. indem
er bht-, den Körper, Nichts das beere nennt, da auch dieses eine gewisse
Natur und ein eigenes Wesen habe" (Plut. adv. Cot. 4, p. 1 I L9), so dürfte dies
auf einer Verwechslung Dcmokrits mit Leucipp beruhen. Denn Themistius
müßte, wenn -eine Behauptung falsch wäre, dieselbe ganz aus der Luft ge-
griffen haben, wahrend Plutarch nur die naheliegende Verwechslung von
Leucipp und Demokril begangen zu haben braucht. Wenn Themistius den
aristotelischen Ausdruck uriQrjfftg gebraucht, von dem wir übrigens gar nicht
mit Bestimmtheit wissen können, ob Demokril ihn noch nicht gehabt hat,
so würde daraus höchstens folgen, daß Themistius den Demokril nicht wörtlich
/it iert.
20 Louis to \v e n li e i m ,
p. 303 a): „Indem sie (Leucipp und Demokrit) von unteilbaren
Körpern sprechen, müssen sie notwendig mit der Mathematik in
Konflikt geraten und vieles von dem leugnen, was die gewöhnliche
Meinung annimmt und was in der Sinneswahrnehmung erscheint
.... Zugleich aber müssen sie auch sich selbst widersprechen ....
Denn es wäre nicht möglieh, daß sie (Luft, Erde und Wasser) aus-
einander entstünden .... Sie behaupten aber, daß Wasser, Luft
und Erde so auseinander entstehen." Aristoteles hat also erstens nicht
eingesehen, daß die mathematische Teilbarkeit der Körper, welche
ins Unendliche geht, nicht hindert, daß der physischen Teilbarkeit
derselben eine bestimmte Grenze gesetzt sein kann. Zweitens hat er
nicht verstanden, daß die Atomisten nicht von den sichtbaren Teilen
der Körper, deren Teilbarkeit uns die Sinneswahrnehmung zeigt,
sondern von den unsichtbaren Teilchen derselben, über welche die
Sinneswahrnehmung nichts aussagen kann, behaupteten, daß sie
unteilbar seien. Und drittens ist es ihm nicht zum Bewußtsein ge-
kommen, daß die Atomisten die Entstehung von Wasser, Luft und
Erde auseinander nicht erklären, sondern vielmehr in Abrede stellen
wollten. Wie wenig er den Gedanken unsichtbarer Atome zu fassen
vermochte, sieht man noch deutlicher aus folgender Stelle (de gen.
et corr. \ 9, p. 327 a): „Diese Ansicht hebt die qualitative Änderung
auf ; wir sehen aber, daß derselbe Körper, während er kon-
tinuierlich ist, bald flüssig, bald starr ist; und er hat nicht durch
Trennung und Zusammensetzung diese Zuständsänderung erfahren
und auch nicht durch Lage und Ordnung (der Atome), wie Demokrit
sagt; denn weder durch Veränderung der Lage noch durch Ver-
änderung der Ordnung ist er aus dem flüssigen Zustand in den starren
Zustand übergegangen." Die letzte Behauptung ist natürlich nur
verständlich, wenn Aristoteles glaubte, daß man die von Leucipp
und Demokrit bei der Veränderung des Aggregatzustandes voraus-
gesetzte Änderung in der Lage der Atome sehen könnte. Vielleicht
noch drastischer tritt das Mißverständnis des Aristoteles in folgender
Stelle hervor (de coel. III 8, p. 306 b): „Überhaupt aber ist der Ver-
such, den einfachen Körpern eine bestimmte Form zu geben, unver-
nünftig .... Es zeigt sich, daß alle einfachen Körper, zumeist aber
das Wasser und die Luft, durch den sie umfassenden Ort geformt
werden. Dal.) nun die Gestalt des Elements dieselbe bleibe, ist un-
möglich; denn dann würde nicht das Ganze allseitig dasjenige he-
Die Wissenschaft Demokrils. 21
rühren, von dem es umfaßt wird." Aristoteles denkt sieh also die
Wasseratome so groß, daß eine bestimmte Gestalt derselben hindern
würde, daß das Wasser die Form eines beliebig starken Gefäßes an-
nimmt. Am auffallendsten aber ist folgende Stelle (Met. I 4, p. 985 b):
„Sowie diejenigen, welche die zugrunde liegende Substanz als eine
Einheit annehmen, das Übrige durch die Zustände derselben ent-
stehen lassen, auf dieselbe Weise setzen auch diese (Leucipp und
Demokrit) das Dünne und das Dichte als Prinzipien der
Zustände behaupten dann, daß deren Unterschiede die Ursachen der
übrigen Dinge seien." Aristoteles hat also hier das Kontinuierliche
und das Leere mit dem Dichten und Dünnen verwechselt. Und wenn
wir nicht in der Lage wären, seinen Irrtum durch andere Stellen teils
des Aristoteles selbst, teils anderer Zeugen zu korrigieren, so würden
wir uns auf Grund dieser Stelle eine ganz falsche Ansicht von der
Philosophie der Atomisten bilden müssen. Wir lernen aber daraus,
daß die Autorität des Aristoteles auch auf dem einzigen Gebiete,
wo sie noch heute fast unbestritten gilt, nämlich auf dem Gebiete;
der Geschichte der griechischen Philosophie keineswegs eine so un-
bedingte ist, wie man gewöhnlich annimmt, was uns später für andere
Punkte von Wichtigkeit sein wird. Wie unzuverlässig Aristoteles
ist, sieht man auch daraus, daß er bald sagt, von seinen Vorgängern
hätten die einen Erde, die andern Feuer, die dritten Luft, die vierten
Wasser als Natur des Seienden angenommen (Phys. II 1, p. 193 a),
bald wieder, sie hätten wohl Feuer, Wasser und Luft, niemals
aber die Erde als Prinzip angenommen (Met. I 8, p. 988 b),
bald endlich, sie hätten das unbeschränkt Eine wohl als Wasser
oder Luft, niemals aber als Feuer oder Erde bezeichnet (Phys. III ö,
p. 205 a).
Man pflegt die Philosophie Leucipps an diejenige der Eleateu
anzuknüpfen. Mit Unrecht. Denn in einer von Diels auf Theophrast
zurückgeführten Stelle des Simplicius (in Phys. 7 a. Dox. Gr. p. 483)
heißt es sehr richtig, daß Leucipp (kn entgegengesetzten Weg be-
schritt wie die Eleaten. In der Tat ist die Philosophie der Eleaten
von derjenigen Leucipps mehr verschieden als seihst von derjenigen
der Hylozoisten. Denn trotz vieler Gegensätze sahen doch beide
Schulen das letzte der Welt zugrunde liegende Prinzip als etwas
Einheitliches an. Diesen echt orientalischen Gedanken hatten beide
vom Orient aufgenommen; Leucipp erst hat mit dem Gedanken, daß
22 L o u i s L 5 w enhei m ,
der Welt eine Vielheit zugrunde hege, die vollständige Emanzipation
des abendländischen Denkens vom orientalischen vollzogen.
Demokrit ging nun konsequent weiter. Wenn wirklieh, sagte er
sich, die Aufgabe der Wissenschaft darin bestellt, den Wechsel der
Erscheinungen auf ewig Unveränderliches zurückzuführen, so ist
dieselbe auch erfüllt, wenn diese Zurückführung gelungen ist. Die
Wissenschaft hat also nur die Änderungen der Zustände zu
erklären; und ein Zustand, der unveränderlich bleibt, bedarf keiner
Erklärung. Er muß diesen Gedanken mit ganz besonderem Nach-
druck hervorgehoben haben; denn in den vielfach verworrenen Be-
richten über seine Lehre treten nur wenige Punkte mit solcher Klar-
heit hervor wie gerade dieser. Von den zahlreichen Stellen, welche
darüber berichten, scheint mir am klarsten die folgende zu sein
(Scholia in Arist. collegit Brandis, edidit acad. regia Boruss. Berlin
1836, p. 428): ,,Er (Aristoteles) billigt es nicht, wenn Demokrit die
natürlichen Ursachen auf das Prinzip zurückführt, daß auch der
frühere Zustand so war, indem er (Demokrit) es nicht für richtig
hält, von dem, was immer in gleicher Weise ist, noch einen Anfang
und eine Ursache zu suchen." In der Stelle, auf welche sich dies
Zitat bezieht (Ar. Phys. VIII 1, p. 252 a— b) verwechselt Aristoteles,
der die Begriffe nicht so scharf zu unterscheiden vermochte, wie Demo-
krit, bei seiner Bekämpfung dieses Philosophen die beiden Begriffe
„Ursache" und ,, Grund" mit einander. Wir können dies damit ent-
schuldigen, daß die griechische Sprache für beide Begriffe denselben
Ausdruck hat. Aber Demokrit wußte sehr wohl, daß die Sprache
nur eine menschliche Festsetzung ist, welche notwendig die Unvoll-
kommenheiten der Zeit an sich tragen muß, in welcher sie entstanden,
und von der sich daher der Philosoph unter Umständen frei machen
muß, während Aristoteles in der Sprache eine tiefe Urweisheit erblickte.
Wie logisch Demokrit dachte, dafür gibt eine andere Stelle des
Aristoteles, welche sich auf dasselbe Prinzip bezieht, einen sehr inter-
essanten Beleg (Ar. Gen. an. II 6, p. 742 b): „Nicht schön aber ist
die Auseinandersetzung über die Notwendigkeit des Warum bei denen,
welche sagen, daß es immer so geschieht, und wie Demokrit aus
Abdera meinen, daß dies hierbei ein Prinzip sei, weil es von dem,
was (ewig und8)) grenzenlos ist, keinen Anfang gebe; das Warum
8) Die von mir eingeklammerten Worte, welche den logischen Zusammen-
hang etwas verdunkeln, halte ich für einen nicht von Demokrit herrührenden
Die Wissenschaft Demokrits. -'■>
aber sei ein Anfang und das Ewige grenzenlos; wenn man also nach
dem Warum bei einem I tinge dieser Art frage, so heiße das, meint er,
den Anfang von etwas suchen, was grenzenlos ist.'" In der Tat ist
es ein vollkommen richtiger Gedanke, daß das Frauen nach der Ur-
sache eines Zustandes voraussetzt, daß dieser Zustand einmal hervor-
gerufen ward, also nicht ewig ist.
Das Prinzip, das hier von Demokrit ausgesprochen ist, begegnet
uns wieder in der Vorrede von Helmholtz zur deutschen Übersetzung
des Handbuches der theoretischen Physik von Thompson und Tait,
in welcher er gegen Zöllner die Möglichkeit verteidigt, daß organische
Keime durch Meteorsteine andern Weltkörpern zugeführt werden
können. In dieser Auseinandersetzung liegt der Gedanke zugrunde,
daß, wenn organisches Leben von Ewigkeit her besteht, damit der
Begreiflichkeit der Natur nach dem Kausalitätsgesetze vollkommen
«renügt ist und wir daher keine. Ursachen mehr für das organische
Leben zu suchen haben, also genau dasselbe Prinzip, das Demokrit
zuerst ausgesprochen und Aristoteles bekämpft hat.
Dieses Prinzip hat nun Demokrit auf die ursprüngliche Be-
wegung der Atome angewendet. Er dachte sich, daß dieselben sich
von Ewigkeit her in Bewegung befinden9), und daß diese ewige Be-
wegung keiner Erklärung bedarf, weil wir nicht für das von Ewigkeit
her Bestehende, sondern nur für die Veränderung desselben eine Ur-
sache zu suchen haben. Dies zeigt folgende Stelle Ciceros (de fin.
bonorum et malorum I 6, 17): „(Demokrit meint .-.,.) und diese
Bewegung der Atome müsse aus keinem Prinzip, sondern daraus
verstanden werden, dal.) sie seit ewiger Zeit besteht."' Aristoteles,
welcher zwar im Gegensatz zu Plato anerkannte, daß es die Aufgabe
der Wissenschaft sei, den Wechsel der Erscheinungen auf ewig Un-
veränderliches zurückzuführen, dem aber die logische Konsequenz
eines Demokril fehlte, hat hiergegen folgendermaßen polemisiert
i Met. I 4, p. 985 bi: ..Die Untersuchung aber darüber, weher oder wie
dem Seienden Bewegung zukommt, haben auch diese (die Atomisten)
Zusatz, wobei ich es dahingestellt sein lasse, ob sie von Aristoteles oder von
einem späteren Abschreiber herrühren.
°) Ar. Phys. VIII 1, p. 250 h: ..Alle diejenigen, welche sagen, daß es
unendlich viele Welten gehe, und daß die einen derselben entstehen, die andern
aber vergehen (hiermit sind, wie wir später sehen werden, die Atomisten ge-
meint), behaupten, daß immer Bewegung sei.
24
Louis L ö w e n h e i in ,
gleich den andern leichtsinnig beiseite gelassen." Wenn Zeller des-
wegen sagt, daß Aristoteles den Atomisten den Vorwurf machen kann,
daß sie die Ursache der Bewegung nicht gehörig untersucht haben,
so gibt er leider hier dem Aristoteles recht, wo derselbe eine Theorie
Demokrits bekämpft, welche, wie wir sogleich sehen werden, für die
moderne Naturwissenschaft von grundlegender Bedeutung geworden ist.
Die angeführten Stellen müssen wir uns gegenwärtig halten,
wenn wir eine Stelle des Simplicius in ihrer ganzen Tragweite ver-
stehen wollen, die uns wichtige Aufschlüsse über die Mechanik
Demokrits geben wird. Die Aristotelesstelle (de coel. II 1, p. 284 a),
welche Simplicius erklären will, lautet: „Weder darf man annehmen,
daß sich die Sache so verhalte, wie der Mythus der Alten erzählt,
welche sagen, daß er (der Himmel) zu seiner Erhaltung eines gewissen
Atlas bedürfe — es scheinen nämlich auch diejenigen, welche diese
Sage ersannen, dieselbe Annahme wie die Späteren gehabt zu haben;
denn gerade so, als ob alle oberen Körper schwer und erdig wären,
stellten diese Späteren unter den Himmel in mythischer Weise eine
beseelte Notwendigkeit 10) — weder also darf man es dieser Weise
annehmen, noch, daß der Himmel durch den Wirbel eine schnellere
Bewegung erlange, als seine eigene Wucht sei, und dadurch noch
so lange Zeit sich halte, wie Empedokles sagt." Hierzu gibt nun Sim-
plicius einen Kommentar (zu de coelo p. 167 b — 168 a). Auf die
Wichtigkeit dieser Stelle hat zuerst A. v. Humboldt aufmerksam
gemacht (Kosmos III, Stuttgart und Tübingen 1850, p. 27 Anm. 12).
Neuerdings hat wieder Wohlwill darauf hingewiesen (Zeitschr. für
Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft XIV, Berlin 1883, p. 372.)
Da aber beide Forscher die Stelle nicht mit den vorher von mir be-
sprochenen Stellen in Zusammenhang gebracht haben, so ist, wie ich
glaube, beiden die volle Bedeutung derselben nicht klar geworden.
Der Kommentar heißt: „Die einen führen eine mythische Not-
wendigkeit dafür ein, daß der Himmel nicht fällt, sondern
oben bleibt, und seinen Umschwung macht, wie Homer, der
vom Atlas sagt: .... Die andern aber geben eine physische
Notwendigkeit als Grund dafür an, daß der Wirbel nicht hernieder-
fällt, indem er sein eigenes Gewicht, das geringer sei, überwinden
soll, wie Empedokles sagt und Anaxagoras. Aber was die Sage über
10) Hiermit sind Plato und seine Anhänger gemeint.
Die Wissenschaft Demokrits. 25
den Atlas betrifft. . . . Aber auch das ist nicht richtig, daß durch
den schnellen Wirbel des ätherischen Körpers, da (.Ue der eigenen
Schwere folgende Bewegung des Himmels selbst wie der Erde ge-
ringer sei, die Kreisbewegung des Himmels und der Stillstand der
Erde in der Mitte ewig beharre, wie Empedokles zu sagen schien und
Anaxagoras und Demokrit. Sie behaupten nämlich, wenn auch so-
wohl der ätherische Körper wie die Erde schwer sei, so werden doch,
da ihre Kreisbewegung schneller sei als ihre der eigenen Wucht nach
unten folgende Bewegung und daher jene diese überwinde, sowohl
die Erde, welche in der Mitte feststehe, als auch der Himmel, der sich
um dieselbe drehe, an ihrem Orte beharren, gerade so wie das Wasser
in der Trinkschale nicht ausfließe, wenn die Schale im Kreise herum-
geschwungen werde, wenn nur die Kreisbewegung schneller geschieht
als die Bewegung des Wassers nach unten." Die hier wenig nahe-
liegende Erwähnung der Sage vom Atlas scheint zufällig zu sein.
Aber es ist auffallend, daß Plato im Phadon p. 99 B— C, wo er von
diesen Theorien spricht, ebenfalls die Sage vom Atlas hineinzieht.
Hiernach scheint es fast, als ob Empedokles oder Demokrit gesagt
hätte, daß das Kausalgesetz der Atlas ist, der in Wahrheit
das Himmelsgebäude trägt.
Nun ist zunächst bemerkenswert, daß weder in der Aristoteles-
steile, wo nur von Empedokles die Rede ist, noch an derjenigen Stelle
des Simplicius, wo nur von Empedokles und Anaxagoras die Rede
ist, die Kreisbewegung des Himmels als ewig bezeichnet wird, sondern
daß dies nur an derjenigen Stelle des Simplicius geschieht, wo von
Demokrit die Rede ist. Allerdings wird hier Demokrit nicht allein
erwähnt, sondern in Verbindung mit Empedokles und Anaxagoras;
aber Simplicius bedient sich hier des Ausspruchs „scheinen". Wir
müssen demnach annehmen, daß Empedokles die Theorie aufstellte,
daß die Himmelskörper deswegen nicht herniederfallen, weil die Kraft,
welche sie antreibt, sich im Kreise zu bewegen, stärker ist als die
Schwere, welche sie nach unten zieht, Anaxagoras diese Theorie
unverändert annahm, Demokrit aber hinzufügte, daß diese Kreis-
bewegung ewig beharre, und Simplicius hierauf, wenn auch mit Un-
recht, den Schluß zog, daß Empedokles und Anaxagoras es ebenso
gemeint haben werden. Denn wenn Simplicius am Schlüsse Unserer
Stelle im Anschluß an Aristoteles dagegen polemisiert, daß' eine solche
Bewegung, welche dem Aristoteliker als widernatürlich erscheint,
26 Louis Löwenheim,
für immer bestehen bleiben könnte, so muß mindestens einer der Ge-
nannten behauptet haben, daß sie ewig dauert; und wenn es alle
drei getan hätten, so wäre der Ausdruck „scheinen" unverständlich.
I )ieses e i n e Wort „ewig" ist aber von außerordentlicher Wichtig-
keit. Denn daraus ersehen wir, daß Demokrit aus seinem Prinzip,
daß wir nicht für die Zustände, sondern für die Änderungen der Zu-
stände Ursachen zu suchen haben, daß also für die Fortdauer einer
einmal vorhandenen Bewegung keine Ursache zu suchen ist, bereits
den Schluß gezogen hat, daß eine einmal vorhandene Bewegung,
wenn keine Ursache vorhanden ist, welche sie ändert, ewig in gleicher
Weise fortdauert. Dieses Prinzip können wir als das Beharrungs-
gesetz bezeichnen.
Ferner dürfen wir aus unserer Stelle schließen, daß Demokrit
das Bcharrungsgesetz angewandt hat zur Erklärung der aus den
Vorstellungen von Gauklern (Simplicius zu de coelo ed. Karsten,
p. 235 b— 44) bekannten Tatsache, daß Wasser, welches sich in einem
im Kreise geschwungenen Gefäße befindet, auch dann nicht ausfließt,
wenn die Öffnung des Gefäßes nach unten gekehrt ist. Auch hier hat
Empcdokles eigentlich nur die Tatsache formuliert, daß in einem solchen
Falle die Schwere nicht zur Wirksamkeit gelangt, sondern daß das
Gefäß mit seinem Inhalt trotz der Schwere seine Kreisbewegung
fortsetzt. (Ar. de coel. II 13, p. 295 a), während Demokrit, wie wir
annehmen können, diese Tatsache auf das allgemeine Prinzip zurück-
geführt hat, daß eine einmal vorhandene Bewegung, wenn sie nicht
durch eine größere Kraft überwunden wird, ewig beharrt. Demokrit
ist also der erste, welcher die Erscheinungen der Zentrifugalkraft
auf das Beharrungsgesetz zurückgeführt hat.
Endlich ergibt sich aus unserer Stelle, daß nach Demokrits An-
sicht ein in Kreisbewegung befindlicher Körper die Kreisbewegung
ewig beibehält, wenn keine Kraft auf ihn wirkt. Er lehrt also ganz
richtig, daß ein in Bewegung befindlicher Körper, auf den keine Kraft
wirkt, seine Bewegung nicht ändert, weder in bezug auf Geschwindig-
keit, noch in bezug auf Richtung, und ich erblicke hierin
die genialste und folgenreichste Leistung
der griechischen Philosophie. Er glaubte aber
fälschlich, daß die Kreislinie eine ebenso einfache Linie sei, wie die
gerade Linie, und daß daher ein in Bewegung befindlicher Körper,
wenn er seine Richtung nicht ändert, fortfährt, sich im Kreise zu
Die Wissenschaft Demokrlts. '11
bewegen. Unmöglich aber konnte die moderne Physik die Beschleu-
nigung zum Maß der Kraft machen, bevor jemand mit solcher Energie
wie Demokrit darauf hingewiesen hatte, daß wir für die unveränderte
Fortdauer einer einmal vorhandenen Bewegung keine Ursache zu
suchen haben.
Das Beharrungsgesetz hängt aufs Innigste zusammen mit der
Definition der Kraft als Ursache der Änderung der Bewegung. Denn
aus dem Demokritischen Prinzip, daß wir für die unveränderte
Fortdauer einer Bewegung keine Ursache zu suchen haben, ergibt
sich zunächst die Definition der Kraft als Ursache der Änderung der
Bewegung; und aus dieser Definition der Kraft folgt erst das Behar-
rungsgesetz n). Hat nun vielleicht Demokrit schon die Kraft in
dieser Weise definiert? Keine Überlieferung gibt davon direkte Kunde.
Wir lesen aber bei Aristoteles (Met. IX 1, p. 1046 a): „Alle diejenigen
Bedeutungen aber (des Begriffs der Kraft), welche sich auf denselben
Begriff beziehen, sind gewisse Prinzipien; und man bezieht sie auf
eine einzige Grundkraft; und diese ist das Prinzip der Veränderung,
das sich in einem andern oder wenigstens, insofern es ein anderes ist,
befindet." Met. 1X8, p. 1049 b steht: „Ich spreche aber von einer
Kraft nicht allein in dem definierten Sinne, wonach sie das eine
Andciung hervorbringende Prinzip ist, welches sich in einem andern
oder wenigstens, insofern es ein anderes ist, befindet, sondern über-
haupt von einer Kraft, als von jedem Prinzip, das Bewegung oder
Kühe hervorbringt." Met. V 12, p. 1019 a steht: „Kraft heißt das
Prinzip der Bewegung oder der Veränderung, das sich in einem andern
oder wenigstens, insofern es ein anderes ist, befindet." Offenbar
polemisiert Aristoteles an der zweiten Stelle gegen die an der ersten
mitgeteilte Definition der Kraft; und an der dritten Stelle, wo er,
wie der Zusammenhang zeigt, die Bedeutung der termini technici
erläutern will, gibt er eine Difinition der Kraft, welche die an der
. n) Vgl. Kirchhoff: Über das Ziel der Xaturwissenscahften, Heidel-
berg 1805, p. 6, wo auf das deutlichste ausgesprochen wird, daß das Beharrun<:s-
gesetz kein Erfahrungsgesetz ist, sondern eine logische Folge aus unserer
Definition der Kraft. Darin wich aber Kirchhoff von Helmholtz ab, daß er
die Definition der Kraft, aus welcher sich das Beharrungsgesetz ergibt, damit
begründete, daß mit ihrer Hilfe die in der Natur vorkommenden Bewegungen
am einfachsten beschrieben werden können, Helmholtz dagegen damit, daß
es die Aufgabe der Naturwissenschaft nicht ist, für die Fortdauer dir Be-
wegungen, sondern für die Änderung der Bewegungen Ursachen aufzusuchen.
28 Louis Löwenheim,
ersten Stelle mitgeteilte Definition und seine eigene, an der zweiten
Stelle gegebene Definition zusammenfaßt. Hiernach müssen wir an-
nehmen, daß die an der ersten Stelle mitgeteilte Definition die in der
damaligen Naturwissenschaft übliche war. Und diese kann von
keinem andern als Demokrit herrühren, da der Zusammenhang dieser
Definition mit dem Demokritischen Beharrungsgesetz unverkennbar
ist. In der Tat klingt die Bestimmung ,,in einem andern oder wenigstens,
insofern es ein anderes ist", ganz demokritisch (vgl. p. 206). Dagegen
wird Demokrit statt des Ausdrucks „Prinzip" den Ausdruck „Ur-
sache" gebraucht haben; denn der Ausdruck „Prinzip" klingt mehr
aristotelisch als demokritisch. Demokrit wird also die Kraft folgender-
maßen definiert haben: „Kraft ist die Ursache einer Änderung, die
sich in einem andern oder wenigstens, insofern es ein anderes ist,
befindet."
Kehren wir nun zur ursprünglichen Bewegung der Atome zu-
rück. Über die Richtung, die diese ursprüngliche Bewegung nach
Ansicht der Atomisten hat, sind drei verschiedene Ansichten auf-
gestellt worden. Dilthey 12) hält die Urbewegung der Atomisten
für eine Wirbelbewegung, d. h. für eine Kreisbewegung der Atome,
Zeller für eine senkrechte Bewegung nach unten (I b5 p. 872 — 886),
Brieger13) und Liepmann14) für eine geradlinige Bewegung nach ver-
schiedenen Richtungen. Brieger gibt zwar als Urbewegung die Wirbel-
bewTgung an; da er aber darunter nicht wie Dilthey eine Kreis-
bewegung versteht, sondern vielmehr „ein wirres Durcheinander-
fliegen nach verschiedenen Richtungen", so bildet er nicht mit Dilthey,
sondern mit Liepmann zusammen eine Gruppe.
Dilthey führt für seine Ansicht eine Reihe von Stellen an, welche
beweisen sollen einerseits, daß der Anfangszustand nicht der senk-
rechte Fall der Atome sein kann, anderseits, daß er eine Wirbel-
bewegung ist. Für uns kommen hier nur diejenigen Stellen in Be-
tracht, welche positiv dafür sprechen sollen, daß die ursprüngliche
Bewegung nach Demokrit eine Wirbelbewegung ist; und dies sind
12) Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften I. Leipzig 1883,
p. 214—215.
13) Brieger, Die Urbewegung der Atome und die Weltentstehung bei
Leucipp und Demokrit, Programmabhandlung, Halle 1884.
14) Liepmann, Die Mechanik der Leucipp-Demokritischen Atome.
Leipziger Inaugural-Dissertation, Berlin 1885.
Die Wissenschaft Demokrits. 29
unter den von Dilthey angezogenen Stellen nur zwei. Die eine steht
in dem zweiten der von Laertius-Diogenes (X 90) mitgeteilten Briefe
Epikurs und lautet: „Nach dem angenommenen Dogma muß not-
wendig nicht nur eine Ansammlung und eine Wirbelbewegung in
dem leeren Raum stattfinden, in welchem eine Weltbildung möglich
sein soll, sowie eine Vermehrung des Stoffs, bis ein Auseinanderprallen
stattfindet, wie jemand von den sogenannten Naturforschern sagt."
Daß „jemand von den sogenannten Naturforschern" hier nur Demokrit
sein kann, gebe ich zu. Aus unserer Stelle folgt aber nur, daß nach
Demokrit der Weltbildimg eine Wirbelbewegung vorangegangen ist,
dagegen keineswegs, daß diese das Ursprüngliche ist. Die zwei.te
Stelle steht in dem Bericht des Diogenes über die Lehre Demokrits
(IX 44—45) und lautet : „Die Atome aber sind unbegrenzt in Ansehung
ihrer Größe und Zahl. Sie bewegen sich aber wirbelnd im All Und
so erzeugen sie alles Zusammengesetzte, Feuer, Wasser, Luft und
Erde ..'.., und alles geschieht mit Notwendigkeit, indem der Wirbel
die Ursache der Erzeugung aller Dinge ist." Diese Stelle macht aller-
dings den Eindruck, als ob der Wirbel der Urzustand sei; es ist die
einzige Stelle, welche sich für die Ansicht Diltheys geltend machen
läßt. Da aber Diogenes ein sehr oberflächlicher und unklarer Schrift-
steller ist, dürfen wir bei ihm keineswegs jedes Wort auf die Goldwage
legen. Jedenfalls kann diese ziemlich unklar gehaltene Stelle gar nicht
in Betracht kommen gegenüber der folgenden ganz klaren Stelle
eines besseren Schriftstellers, welche deutlich zeigt, daß der Wirbel
nicht der Urzustand ist, sondern vielmehr aus einem früheren Zu-
stand hervorgegangen ist (Simpl. in Phys. p.« 731), Dox. Gr. p. 327):
„Demokrit scheint an der Stelle, wo er sagt, daß ein Wirbel sich aus
dem -(ranzen gleichartiger Gestatten abgeschieden habe, ..... .den-
selben von selbst und durch Zufall entstehen zu lassen."
Zeller beginnt seine Auseinandersetzung mit den Worten (I b\
p. 872): „Auch die ursprüngliche Bewegung der Atome müssen sie
(die Atomisten) .... für die notwendige Wirkung natürlicher Ur-
sachen gehalten haben.'- Hieraus ersehen wir bereits, dal.) Zeller zu
seiner Ansicht über den Urzustand der Atome dadurch gelangt ist,
daß er die große Bedeutung des Beharrungsgesetzes im System
Demokrits nicht genügend gewürdigt hat; denn aus diesem Gesetz
folgt ja, daß wir niemals für eine Bewegung, sondern immer nur für
die Änderung einer Bewegung eine Ursache zu suchen haben. Die
30 Louis L ö w o n h e i m ,
Anschauung also, daß die Schwerkraft die Ursache der ursprünglichen
Bewegung sei, würde der ganzen Denkweise Bemokrits widersprechen.
Zeller sucht diesen Einwand, den man gegen seine Annahme machen
kann, folgendermaßen zu entkräften (Ib5, p. 883): „Nun bemerken
freilich Aristoteles und Theophrast, Demokrit habe es ... . sogar
ausdrücklich abgelehnt, für das, was immer war, einen Entstehungs-
grund anzugeben. Allein aus der letzteren Angabe folgt doch, auch
wenn sie sich auf die erste Bewegung der Atome bezieht, nicht mehr,
als daß Demokrit der Ansicht war, die Erklärung der Erscheinungen
aus ihren Ursachen finde an dieser ersten Bewegung ihre Grenze.
Was für eine Art von Bewegung diese war, ist hierfür vollkommen
gleichgültig; und es läßt sich schlechterdings nicht absehen, warum
Demokrit nicht hätte sagen können: ,,daß alle Körper schwer sind,
d. h. daß alle im Leeren fallen (denn dieses beides ist gleichbedeutend),
ist unbestreitbar; warum es so ist, weiß ich nicht; genug, daß es
immer so war." Auch das Übrige beweist nichts gegen die hier ent-
wickelte Ansicht, Wenn Demokrit den Fall der Körper im Leeren
zwar für selbstverständlich, aber für nicht weiter erklärbar hielt, so
ist es ganz natürlich, daß er es unterließ, die Ursache desselben zu
untersuchen oder auch nur anzugeben." Man wird zugeben, daß es
etwas ganz anderes ist, ob jemand sagt: „Für die ursprüngliche Be-
wegung suche ich keine Ursache, weil ich es nicht für richtig halte,
von dem, was immer in gleicher Weise ist, eine Ursache zu suchen,"
oder: „Warum alle Körper im Leeren fallen, weiß ich nicht; genug,
daß es immer so war". Und ebenso klar scheint mir zu sein, daß,
wenn Demokrit gelehrt hätte, daß die ursprüngliche Bewegung der
Atome durch die Schwerkraft hervorgebracht wird, Aristoteles nicht
hätte sagen können: „Woher dem Seienden Bewegung zukommt,
haben die Atomisten nicht untersucht." Aristoteles behauptet aber
nicht nur, daß die Atomisten die Ursache der Bewegung nicht unter-
sucht haben, sondern daß sie auch ihre Richtung nicht angegeben
haben. Er sagt (de coel. III 2, p. 300 b): „Leucipp und Demokrit,
welche sagen, daß die Urkörper im unendlichen leeren Raum sich
immer bewegen, müssen sagen, welches diese Bewegung ist, und welches
ihre natürliche Bewegung ist. Denn wenn ein Element vom andern
gewaltsam bewegt wird, so muß notwendig auch jedes eine natür-
liche Bewegung haben, gegen welche die gewaltsame stattfindet."
Hätten die Atomisten gelehrt, daß die ursprüngliche Bewegung der
Die Wissenschaft Demokrits. 31
Atome senkrecht nach unten gerichtet sei, so hätte Aristoteles ihnen
nicht die Frage entgegenhalten können, welches denn die. ursprüng-
liche und natürliche Bewegung der Atome sei, da doch jede gewalt-
same Bewegung eine natürliche voraussetzt. Zeller sucht sich mit
dieser Stelle folgendermaßen abzufinden: „Was er (Aristoteles)
behauptet, ist ja nicht, daß sich Demokrit und Leucippus bei der
Bewegung der Atome keine bestimmte Bewegung g e d a c h t ,
sondern nur, daß sie sich darüber nicht erklärt haben, was
für eine Bewegung sie den Atomen als ihre Urbewegung zuschreiben.
Zeller gibt also hier zu, daß Demokrit die Ansicht, die er ihm mit
solcher Bestimmtheit beilegt, gar nicht ausgesprochen, sondern nur
gedacht hat. Zeller versucht dann das, was Demokrit weiter gedacht
hat, aus seinem übrigen System zu rekonstruieren. Aristoteles hat
es freilich nicht vermocht. Denn er hält den Atomisten nicht nur
die Frage entgegen, ob die anfangslose Bewegung der Atome eine
natürliche oder gewaltsame sei (obgleich diese erst von Plato und
Aristoteles aufgebrachten Begriffe in dem System Demokrits ebenso
unmöglich sind wie in dem System der modernen Naturwissenschaft),
sondern auch die Frage, welches ihre Bewegung im unendlichen
leeren Raum sei. Was ferner das von Zeller angezogene Aristoteles-
fragment betrifft, so bedeutet hier der Ausdruck „einfallen", wie
sich aus einer später p. 84 anzuführenden Parallelstelle ergibt, nichts
anderes als „auf einander stoßen"; das Fragment beweist somit
nicht, daß sich die Atomisten die ursprüngliche Bewegung als einen
Fall, d. h. eine senkrecht nach unten gerichtete Bewegung vorgestellt
haben. Wir sind aber imstande, den direkten Beweis zu führen, daß
Demokrit unmöglich gelehrt haben kann, daß die ursprüngliche
Bewegung der Atome nach unten gerichtet ist.
Die Atomisten dachten sich den Kaum unendlich groß (Plut.
Kpit, I 18 Dox. Gr. p. 316.) Welche Bedeutung diese großartige An-
schauung für jene frühe Zeit hatte, ersieht man daraus, daß zwei
.Jahrhunderte nach Demokrit der große Archimedes sich noch die
Aufgabe stellte, eine Zahl zu finden, welche jedenfalls größer
wäre, als die Anzahl der Sandkörner, die den gesamten Weltraum
auszufüllen vermögen. Und wir werden später sehen, daß unsere
moderne Anschauung von der Unendlichkeit des Wellalls durch
Zurückgehen auf die Philosophie Demokrits entstanden ist (bei
Gidrdane Bruno zuerst). Nun gibt es aber im unterschiedslosen unend-
32 Louis Löwenheim,
liehen Raum weder ein Oben noch ein Unten. Auch Zeller verkennt
dies nicht. Er denkt sich aber die Atomisten so kindlich, daß sie
diesen so naheliegenden Einwand gegen ihre angebliche Annahme,
daß die Urbewegung der Atone nach unten gerichtet sei, nicht bemerkt
hätten. Und er behauptet, daß Aristoteles dem Demokrit nach-
weise, daß es im unendlichen Raum kein Oben und Unten gibt (II b3,*
p. 412). Zur Stütze dieser Ansicht führt er zwei Stellen an (Ar. Phys.
IV 8, p. 214 b— 215 a und de eoel. 17, p. 275 b— 276 a), in denen
Aristoteles der Behauptung der Atomisten, daß die Existenz eines
leeren Raums die notwendige Bedingung für die Existenz der Bewegung
sei, die Behauptung entgegensetzt, daß vielmehr gerade im Gegen-
teil, wenn ein leerer Raum existiert, keine Bewegung existieren könne,
und bei dem Versuche, diese kühne Behauptung zu beweisen,
den allgemein zugestandenen Satz benutzt, daß im unendlichen
leeren Raum keine Richtung vor der andern ausgezeichnet ist. Zeller
schließt daraus, daß Aristoteles den Atomisten das Bedenken ent-
gegen halten kann, daß es im unendlichen leeren Raum kein Oben
und Unten gibt. Demokrit würde, wenn ihm zu seiner Zeit ein so
oberflächliches > Bedenken gegen die Existenz des leeren Raumes
entgegen gehalten worden wäre, vermutlich dasselbe geantwortet
haben, was die moderne Naturwissenschaft auf dieses Bedenken
erwidern würde, nämlich daß zwar im vollkommen leeren Raum
allerdings keine Richtung vor der andern ausgezeichnet ist, daß aber,
wenn im leeren Raum nur zwei Atome oder genauer zwei materielle
Punkte existieren, dadurch eine Richtung bestimmt ist, und daß
dies genügt, um eine Bewegung möglich zu machen, während . die
Existenz eines Oben und Unten keine notwendige Bedingung für
das Vorhandensein von Bewegung ist, Die Aristotelesstellen können
also in keiner Weise beweisen, daß ein Denker wie Demokrit sich nicht
darüber klar gewesen sein sollte, daß. es im unterschiedlosen unend-
lichen Raum kein Oben und Unten geben kann. Nach anderen Stellen
aber hat Demokrit ausdrücklich gelehrt, daß es im unendlichen Raum
kein Oben und Unten gibt. Wir lesen nämlich bei Simplicius (zu
de coelo p. 300 a): „Er (Aristoteles) wendet sich dabei gegen diejenigen,
welche der Meinung waren, daß es in der Welt kein Oben und Unten
gäbe (oder: welche nicht der Meinung waren, daß es in der Welt
ein Oben und Unten gäbe). Dieser Meinung waren aber Anaximander
und Demokrit, weil sie das All als unendlich voraussetzten." Ich
Die Wissenschaft Deruokrits. 3
q
wüßte nicht, wie man diese Stelle anders auffassen könnte als sp,
daß Anaximander und Demokrit den Raum als unendlich voraus-
setzten und daraus die Folgerung zogen, daß es im "Weltall kein Oben
und Unten gäbe, und daß Aristoteles es ist, welcher dagegen pole-
misierte. Das letztere erklärt sich dadurch, daß Aristoteles im Gegen-
satz zu den Atonalsten, welche sich zwar nicht das ganze Wertgebäude,
wohl aber unsere Welt einmal entstanden dachten, angenommen
hat, daß unsere Welt mit der Erde in der Mitte seit Ewigkeit her
besteht, und nun den Erdmittelpunkt als den untersten Punkt des
ganzen Weltalls bezeichnete und die übrigen Punkte des Weltalls als
umso höher, je weiter sie vom Erdmittelpunkt entfernt sind, und
daher lehrte, daß es in der Welt stets ein Oben und Unten gegeben habe.
Endlich heißt es bei Cicero (fin. I 6, 17): „Jener (Demokrit) meint,
daß die sogenannten Atome .... im unendlichen leeren Raum,
in welchem kein Oben und Unten, keine Mitte, kein Letztes und
kein Äußerstes sei (Cicero sagt nicht „ist", sondern „sei"), sich
so bewegen, daß sie durch Zusammenstöße untereinander in Beziehung
treten." Es kann somit kein Zweifel darüber sein, daß Demokrit
lehrte, daß der Raum unendlich ist und daß es im unendlichen Raum
kein Oben und kein Unten gibt. Er kann daher nicht gelehrt haben,
daß die ursprüngliche Bewegung der Atome senkrecht nach unten
gerichtet ist.
Nun führt aber Zeller (Ib5, p. 877 ff.) eine ganze Reihe von
Stellen an, welche direkt beweisen sollen, daß sich Demokrit die ur-
sprüngliche Bewegung der Atome in der Tat senkrecht nach unten
gerichtet dachte. Die erste steht bei Simplicius (in Phys. p. 310 a)
und sagt allerdings deutlich, daß Demokrit die ursprüngliche Bewegung
der Atome sich durch die Schwere hervorgebracht und folglich senk-
recht nach unten gerichtet dachte. Aber ich behaupte, daß Simplicius
in diesem Punkte unglaubwürdig ist. Denn derselbe Simplicius sagt
a. a. 0. ]). 9 b: „Demokrit sagt, daß die Atome von Natur unbewegt
seien und behauptet, daß sie durch den Stoß in Bewegung gesetzt
werden." Hier meint also Simplicius, daß Demokrit eine ursprüngliche
Bewegung der Atome überhaupt nicht angenommen habe und daß nach
ihm ihre erste Bewegung nicht durch die Schwere, sondern durch den
Stoß hervorgerufen sei. Es kann also nicht im mindesten zweifelhaft
sein, daß Simplicius hinsichtlich der Frage nach der ursprünglichen
Bewegung, welche die Atomisten etwa ihren Atomen erteilten, durchaus
Archiv für systematische Philosophie (Beilageheft). 3
34 Louis Löwen heim,
unglaubwürdig ist, da er in diesem Punkte sich selbst widerspricht.
Und die übrigen Stellen, welche Zeller für seine Ansicht ins Feld
führt, scheinen mir gar keine beweisende Kraft zu haben. Wir wollen
sie der Reihe nach durchgehen.
Zunächst führt er eine Stelle des Theophrast und eine Stelle des
Simplicius an, in denen mit keinem Worte erwähnt ist, daß hier über-
haupt von der ursprünglichen Bewegung der Atome die Rede
ist, d. h. von derjenigen Bewegung, welche vor der Bildung unserer
Welt stattfand; daß aber Demokrit in der gebildeten Welt sich alle
Körper der Schwere unterworfen dachte, hat noch niemand bestritten.
Zeller fährt dann fort: „Schon Plato bestreitet (Timaeus 62 C) die
Meinung, daß es in der Welt ein Unten und Oben im strengen Sinne
gebe und daß alle Körper sich nach unten und nur gezwungen nach
oben bewegen. Er kennt also bereits eine Theorie, welche, wie
Demokrit bei Simplicius, den Fall für die einzige natürliche Bewegung
der Körper, das Aufsteigen des Feuers oder der Luft für eine gewalt-
same hielt. Diese Ansicht hegt aber nicht allein der gewöhnlichen
Anschauung fern; sondern sie wird uns auch von keinem der
vorplatonischen Physiker außer Demokrit berichtet. Es hat daher
alle Wahrscheinlichkeit für sich, daß Plato hier ihn und keinen andern
im Auge hat." Diese Worte zeigen zunächst sehr charakteristisch,
wie sehr sich Zeller gewöhnt hat, die ganze griechische Philosophie
mit den Augen des Aristoteles zu betrachten. Denn die Begriffe
der natürlichen und gewaltsamen Bewegung sind, wie bereits erwähnt,
Aristotelische Begriffe, welche weder Demokrit noch die heutige
Naturwissenschaft kennt. (Auch p. 873 spricht Zeller beim System
Demokrits von der natürlichen Bahn der Atome.) Die angeführte
Platostelle beginnt nun (Timaeus 26, p. 62 C— E): „Das Schwere
und Leichte aber dürfte am deutlichsten seine Natur offenbaren,
wenn es zugleich mit der sogenannten Natur des Unten und Oben
untersucht würde. Denn daß es von Natur zwei entgegengesetzte
Orte gebe, die das All in zwei Teile zerlegen, einen unteren Ort, zu
dem alles getrieben wird, was körperliches Volumen besitzt, und einen
oberen Ort, zu dem alles nur unfreiwillig geht, das darf man durchaus
nicht für richtig halten. Denn ". Plato bereitet dann hier die
später von Aristoteles gegebene Definition des Oben und Unten vor.
Es ist nun durchaus nicht selbstverständlich, daß die hier bekämpften
Ansichten alle derselben Schule angehören, sondern sehr gut denkbar,
Die Wissenschaft Demokrits. 35
daß Plato einerseits die Ansicht der unwissenschaftlichen Menge be-
kämpft, daß es ein absolutes Unten und Oben gäbe, anderseits die
Ansicht der Atomisten, daß in unserer Welt alle Körper schwer seien,
der Plato und Aristoteles die Ansicht entgegensetzten, daß es leichte
und schwere Körper gebe, von denen die ersteren ebenso nach oben,
wie die letzteren nach unten gezogen werden. Daß Plato die Anschau-
ungen der unwissenschaftlichen Menge und die der Atomisten in
eine m Atem nennt, kann uns nicht wunder nehmen, da in dem aus
weiteren Kreisen sich zusammensetzenden athenischen Publikum,
an das Plato sich wandte, eine Kombination beider Anschauungen
vielleicht sehr verbreitet war. Sollte aber Plato auch bei der Anschau-
ung, daß es ein absolutes Unten und Oben gibt, die Atomisten im
Auge haben, so würde daraus weiter nichts folgen, als daß er das
System der Atomisten mißverstanden hat. Jedenfalls ist in der ganzen
Stelle von der ursprünglichen Bewegung der Atome keine Rede, und
ebendies gilt auch von den Worten des Ekphantus und des Aristoteles,
welche Zeller weiter zur Stütze seiner Ansicht anführt. Nun erst gibt
er solche Stellen an, welche sich wirklich auf die ursprüngliche Be-
wegung der Atome beziehen. Die erste derselben ist eine Stellle des
Lukrez, von der Zeller annimmt, daß sie sich gegen den von Lukrez
nicht genannten Demokrit richtet. Nun beginnt aber diese Stelle
mit den Worten (II, 225): „Wenn nun vielleicht irgend
jemand glaubt." Lukrez polemisiert also nicht gegen eine be-
stimmte Person, sondern macht sich selbst einen Einwand, den viel-
leicht jemand erheben könnte. Diese kurze Bemerkung möge hier
genügen; ich werde die in Rede stehende Stelle, auf welche Zeller großes
Gewicht zu legen scheint, später p. 70 ausführlich besprechen.
Mit dieser Stelle steht nun eine Cicerostelle im Zusammenhang,
welche Zeller ebenfalls für seine Ansicht ins Feld führt und welche
ich gleichfalls später p. 71 besprechen werde. Zeller hebt dann ferner
hervor, daß Diogenes bei der Darstellung der atomistischen Theorie
sagt, daß bei der Weltbildung die Körper in einen leeren Raum ein-
fallen (IX, 30); (nicht das Wort „fallen", sondern das Wort „einfallen"
gebraucht Diogenes), so meint er damit offenbar nur, daß sie in einen
leeren Raum eindringen; denn Diogenes ist wahrhaftig nicht der
Schriftsteller, bei dem man jedes Wort auf die Goldwage legen darf.
Zeller führt dann noch eine Stelle des Scholiasten Alexander an,
woraus sich ergebe]] soll, daß dieser den Fall der Atome im Leeren
3*
36 Louis Löwen heim,
als die gemeinsame Voraussetzung aller atomistisehen Theorien be-
trachtet. Aber Alexander sagt, daß das, was er Epikur entgegenhält,
vielleicht auch gegen Leucipp und Demokrit sagen lasse, worin
liegt, daß er nicht sicher weiß, wohin die Lehre der älteren Atomisten
in diesem Punkte ging. Und wenn das griechische Wort lömq,
das ich mit „vielleicht" übersetzte, auch nicht immer diese Bedeutung
hat, so kann es doch diese Bedeutung haben. Und es kann daher
die angeführte Stelle nicht eine aus zahlreichen andern Stellen ge-
wonnene Überzeugung erschüttern. Wenn Zeller dann noch hervor-
hebt, daß uns berichtet werde, daß nach Demokrit die Atome, wenn
sie aufeinander stoßen, einander einholen, was eine Bewegung in
der gleichen Bichtung voraussetzte, so gebe ich zu, daß in dem deutschen
Wort „einholen" liegt, daß die verglichenen Bewegungen gleiche
Richtung haben, kann aber nicht zugeben, daß dies auch in dem
griechischen Wort tjcilafißaveir Hegt, welches Zeller mit „ein-
holen" übersetzt.
Endlich glaubt Zeller seine Ansicht noch durch eine ganz eigen-
tümliche Betrachtung annehmbar machen zu können. Er sagt:
„Das Gleiche (daß der Fall der Atome im Leeren die gemeinsame
Voraussetzung aller atomistisehen Theorien ist) ergibt sich aber auch
aus der Angabe, das Leere sei den Atomisten zufolge der Grund der
Bewegung. Kann mit diesem Satze auch nicht gesagt sein sollen,
daß sie dem Leeren, d. h. dem Mchtseienden eine bewegende Kraft
beigelegt haben, so darf man ihn doch ebensowenig so deuten, als ob
es nur für die Bedingung erklärt werden sollte, ohne die keine Be-
wegung möglich wäre ; sondern die Meinung kann nur d i e sein, daß
nach ihrer Ansicht die Bewegung der Körper von selbst eintrete,
wenn sie sich im Leeren befinden. Die einzige Bewegung aber, von
der sich dies, die Schwere der Atome vorausgesetzt, von selbst zu
verstehen scheint, ist die Fallbewegung." Die Ansicht, die Atomisten
hätten gelehrt, daß das Leere der Grund der Bewegung sei, stammt
aus Aristoteles. Nun sagt aber Aristoteles selbst (Phys. IV 7, p. 214 a):
„Sie (es ist die Rede von denen, welche die Existenz des leeren Raumes
behaupten, womit die Atomisten gemeint sind) meinen aber, daß der
leere Raum in dem Sinne Grund der Bewegung sei, daß in demselben
die Bewegung vor sich geht." Daß das Leere der Grund der Bewegung
sei, ist also nur ein unklarer Aristotelischer Ausdruck für die ein-
fache Lehre der Atomisten, daß das Leere die Bedingung ist, ohne
Die Wissenschaft Demokrits. 37
die keine Bewegung möglich ist. Und wenn Zeller hervorhebt, daß
Eudemus den Demokrit wegen der eigentümlichen Lehre, daß das
Leere der Grund der Bewegung sei, apostrophierte, so möchte ich
darauf erwidern, daß Eudemus diese Auffassung der Lehre Demokrits
aus Aristoteles geschöpft haben wird.
Die Ansicht Zellers ist also ebensowenig haltbar, wie diejenige
Diltheys. Wie dachten sich nun die Atomisten die ursprüngliche
Bewegung der Atome? Es ist darüber nichts überliefert. Und doch ist
die Frage leicht zu entscheiden. Wir haben gesehen, daß ihnen
Aristoteles vorwirft, daß sie nicht sagen, welches die ursprüngliche
Bewegung der Atome ist. Und da wir auch bei andern Schriftstellern
nichts darüber finden, so können wir nicht daran zweifeln, daß die
Atomisten sich über die Richtung der urprünglichen Bewegung gar
nicht geäußert haben. Und daraus müssen wir notwendig schheßen,
daß sie dieser ursprünglichen Bewegung gar keine bestimmte Richtung
gegeben haben, sondern annahmen, daß die verschiedenen Atome
sich in verschiedener Richtung bewegten, so daß alle möglichen Rich-
tungen vertreten waren.
Zu demselben Ergebnis gelangen wir auch von einem ganz andern
Gesichtspunkte aus. In einer auf Theophrast zurückgehenden Stelle
des Simplicius heißt es (in Phys. 7 a, Dox. Gr. p. 483 — 484): „Dieser
(Leucipp) nahm die Atome als die in unendlicher Zahl vorhandenen
und immer bewegten Elemente an und dachte sich die bei ihnen
vorkommende Anzahl von Gestalten unendlich groß, weil kein Grund
vorhanden sei, warum ihre Gestalt eher diese als jene sein solle ....
In ähnlicher Weise aber nahm auch sein Gefährte Demokrit aus Ab-
dera das Volle und das Leere als Prinzipien an .... ; und sie be-
haupten, daß die Anzahl der unter den Atomen vorkommenden Ge-
stalten unendlich groß sei, weil kein Grund vorhanden sei, warum ihre
Gestalt eher diese als jene sein solle. Denn dies geben sie selbst als
Grund für die unendliche Anzahl der Gestalten an." Diese Schluß-
weise werden nun die Atomisten auch auf die Richtung der ursprüng-
lichen Bewegung angewandt und sich gesagt haben, daß hier jede
Richtung vertreten sein müsse, weil kein Grund vorhanden ist, war-
um im unendlichen unterschiedlosen Räume eine Richtung vor der
andern bevorzugt sein sollte. Ich bin somit in der Lage, mich der
von Brieger und Liepmann vertretenen Ansicht anschließen zu können.
Wenn Brieger freilich sagt: ,,daß sich Demokrit bei dem Durchein-
38 Louis Löwen heim,
anderfliegen die horizontale Bewegung vorherrschend gedacht hat.
vermute ich, ohne es beweisen zu können" (a. a. 0. p. 13), so kann ich
dem in keiner Weise zustimmen, da es im unendlichen unterschied-
losen Räume keine horizontale Richtung gibt.
Fragen wir endlich, ob sich die Atomisten che ursprüngliche
Bewegung der Atome mit zunehmender, gleichbleibender oder ab-
nehmender Geschwindigkeit vor sich gehend dachten, so wird zwar
hierüber nichts überliefert; doch läßt sich die Frage aus dem System
der Atomisten mit ziemlicher Sicherheit beantworten. Demokrit
wird aus dem Beharrungsgesetz geschlossen haben, daß die Atome,
solange sie nicht in die Sphäre ihrer gegenseitigen Wirksamkeit ge-
langen, mit unveränderter Geschwindigkeit sich weiterbewegen müssen.
Und auch Leucipp wird bereits zu demselben Ergebnis gekommen
sein und es damit begründet haben, daß kein Grund vorhanden ist,
warum ihre Geschwindigkeit eher zunehmen als abnehmen, oder eher
abnehmen als zunehmen sollte.
Die ursprüngliche Bewegung der Atome wird nun dadurch
modifiziert, daß die Atome aufeinander stoßen. So lesen wir bei
Stobaeus ecl. phys. ed. Heer, p. 348: „Demokrit sagt, daß die Ur-
körper .... im unendlichen Raum durch Aufeinanderstoßen in
Bewegung gesetzt werden." Und bei Alexander v. Aphrodisias ad
Met. 14, p. 27, 20 heißt es: „Diese (Leucipp und Demokrit) sagen
nämlich, daß die Atome gegen einander schlagen und aufeinander
stoßen und so in Bewegung gesetzt werden." Natürlich muß ein
solches Aufeinanderstoßen um so häufiger in einer bestimmten Zeit
geschehen, je mehr Atome sich in einem bestimmten Raum befinden.
Es wird uns darüber berichtet (Seneca, Naturales Quaest. V2):
„Demokrit sagt: "Wenn in einem schmalen leeren Raum viele Körper-
chen sind, die er Atome nennt, so erfolge ein Wind. Dagegen sei
der Zustand der Luft ruhig und still, wenn in einem großen leeren
Raum wenig Körperchen sind. Denn sowie man auf einem Platz
oder einem Wege, solange wenige da sind, ohne Gedränge geht, da-
gegen da, wo eine Menge in einem engen Raum zusammenkommt,
ein Konflikt der einen mit den andern entsteht, so müssen notwendig
auch in dem Raum, von welchem wir umgeben sind, wenn viele Körper
einen kleinen Raum erfüllen, die einen an die andern geraten und sich
stoßen und zurückgestoßen werden und sich verwickeln und zusammen-
gedrängt werden, wodurch ein Wind entsteht, da jene Körper, welche
Die Wissenschaft Demokrits. 39
miteinander in Konflikt gerieten, sich aufeinander stürzten und nach
langem und zweifelhaftem Schwanken ihre Richtung änderten. Wo
dagegen in einem großen und weiten Raum wenig Körper sich be-
finden, da können sie Stöße weder erteilen noch empfangen."
2. Die Lehre von der Schwere und von der all-
gemeinen Anziehung.
Demokrit wußte, daß alle Körper schwer sind. Denn Simplicius
sagt ausdrücklich (zu de coel. p. 314 b): ,,Die Anhänger Demokrits
meinen, daß alle Körper schwer sind." Höchst wahrscheinlich war
Leucipp bereits derselben Meinung. Doch hat Demokrit keineswegs
nur nachgesprochen, was Leucipp vor ihm gesagt hatte, denn der
Lehre Leucipps. daß alle Körper schwer sind, hatte vor dem Auf-
treten Demokrits Anaxagoras eine andere Lehre entgegengesetzt,
welche sich den Tatsachen besser anzusehließen schien. Laertius
Diogenes berichtet uns darüber (II 8): „Von den Körpern aber
haben (nach der Lehre des Anaxagoras) die schweren den unteren
Ort inne, wie die Erde, die leichten aber den oberen Ort, wie das
Feuer, Wasser und Luft aber den mittleren Ort." Anaxagoras lehrte
also, daß nicht alle Körper schwer sind, sondern daß es leichte und
schwere Körper gibt, und daß das Feuer zu den leichten gehört.
Wenn freilich Diogenes hinzufügt, daß Wasser und Luft nach der
Lehre des Anaxagoras eine mittlere Stellung einnahmen, so beruht
dies höchst wahrscheinlich auf einer Verwechslung mit der Lehre
des Aristoteles. Denn Anaxagoras unterschied Feuer oder Äther
einerseits und Luft, Wasser. Erde und Gesteine anderseits. Daß er
aber das Feuer als den leichten nach oben strebenden Körper von
den schweren nach unten strebenden Körpern unterschieden habe,
werden wir glauben können, da es durch Aristoteles bestätigt wird,
welcher in Meteor. II 7 säst: ..Anaxagoras behauptet, daß der Äther
von Natur bestimmt sei. sich nach oben zu bewegen." Eine indirekte
Bestätigung gibt auch die Stelle des Simplicius zu de coelo p. 121b:
„Man muß aber wissen, daß Straton und Epikur nicht allein sagten,
daß alle Körper schwer seien .... Denn auch diejenigen, welche
behaupteten, daß es kontinuierliche Atome gäbe, sagten, daß diese
seli wer seien."" Denn wenn außer Straton und Epikur unter den grie-
chischen Philosophen nur die Atomisten behaupteten, daß alle Körper
seh wer seien, so kann es Anaxagoras nicht behauptet haben. Warum
40 Louis Löwenheim,
er sich der Ansicht Leucipps nicht anschloß, ist leicht zu sehen. Denn
die tägliche Erfahrung zeigt uns ja, daß das Feuer nicht fällt, sondern
aufsteigt. Wenn also Demokrit nach dem Auftreten des Anaxagoras
die Ansicht Leucipps, daß alle Körper schwer sind, aufrecht erhalten
wollte, so mußte er eine Theorie ersinnen, welche diese Erscheinung
erklärt, Worin diese Theorie bestand, ersehen wir aus folgender Stelle
des Simplicius (zu de coelo p. 254 b): „Die Anhänger Demokrits
und später Epikur behaupten, daß alle Atome gleichartig, und zwar
schwer seien; dadurch aber, daß gewisse von ihnen schwerer seien,
sänken diese wieder und die leichteren würden von ihnen gestoßen
und so in die Höhe getrieben; und so, sagen sie, scheine es, als ob
die einen leicht, die andern schwer seien." Wir dürfen hier keinen
Anstoß daran nehmen, daß Simplicius, der nach Aristoteles lebte,
das Wort „leicht" bald in dem Sinne Demokrits gebraucht, wo es
ebenso wie bei uns nichts anderes bedeutet als weniger schwer, bald
in dem Sinne Aristoteles, der absolut leichte Körper kennt, welche
ebenso immer nach oben streben, wie die schweren Körper immer nach
unten streben. Simplicius will sagen, daß nach Demokrit leichte
Körper im Sinne des Aristoteles nicht existieren, sondern der Schein
der Existenz solcher Körper nur dadurch erzeugt wird, daß die weniger
schweren Atome durch die schwereren in die Höhe getrieben werden.
Wir lernen also aus unserer Stelle die Theorie Demokrits kennen,
daß es von dem Medium, in welchem sich ein Körper befindet, ab-
hängt, ob er steigt oder fällt, da nach ihm das Aufsteigen eines Körpers
nur dann stattfinden kann, wenn er von den schwereren Atomen
des umgebenden Mediums in die Höhe getrieben wird, seine eigenen
Atome also weniger schwer sind, als die des Mediums, während er
im entgegengesetzten Falle, da alle Körper schwer sind, zu Boden
fallen muß. Die wenigen Worte des Simplicius,
welche uns dies mitteilen, sind, wie wir im
dritten Bande sehen werden, für die Geschichte
der Wissenschaft geradezu von entscheiden-
der Bedeutung geworden. Wir müssen daher etwas
länger dabei verweilen, um genau zu untersuchen, wie dieselben zu
verstehen sind.
Eine zweite Stelle des Simplicius, welche sich auf denselben
Gegenstand bezieht, lautet (zu de coelo p. 314 b): „Die Anhänger
Demokrits meinen, daß alle Körper schwer seien; das Feuer aber
Die Wissenschaft Demokrits. 41
werde, weil es weniger schwer sei, von andern Körpern, die ihm den
Platz wegnehmen, verdrängt und nach oben getrieben; und deswegen
scheine es leicht zu sein .... Nichts hindert aber, daß auch das
Feuer und alle andern Körper schwer sind." Diese Stelle führt uns
aber nicht weiter, da sie nur eine Anwendung des in der vorigen
Stelle allgemein Gesagten auf das Feuer enthält. Eine etwas aus-
führlichere Auseinandersetzung finden wir bei Lukrez (II 184 — 215),
welcher das System Epikurs darstellt, der sich in den meisten Punkten
an Demokrit anschließt. Diese Stelle ist recht geeignet, den Ge-
danken Demokrits populär zu veranschaulichen. Aber freilich.
wissenschaftliche Genauigkeit werden wir weder von dem oberfläch-
lichen Epikur, noch von dem poetischen Lukrez erwarten können;
und den dort ausgesprochenen Satz, daß die Geschwindigkeit, mit
der Holz im Wasser aufsteigt, von der Kraft abhängt, mit der es
in das Wasser hineingestoßen ist, würde Demokrit schwerlich unter-
schreiben. Wir müssen uns daher nach einer andern Möglichkeit
umsehen, über die in unserer Simpliciusstelle angedeutete Theorie
Demokrits näheren Aufschluß zu erhalten.
Diese Möglichkeit wird nun geboten durch Demokrits Erklärung
der merkwürdigen Tatsache, daß dünne Metallplatten auf Wasser
schwimmen, was dem Prinzip, daß schwere Körper in einem leichten
Medium stets fallen müssen, zu widersprechen scheint. Diese, wie
es scheint, von Demokrit entdeckte Erscheinung erklärt sich nach
der zuerst von Galilei ausgesprochenen und von der heutigen Natur-
wissenschaft angenommenen Auffassung dadurch, daß diese Platten
so weit einsinken, daß das Volumen der verdrängten Wassermasse
größer ist, als das Volumen der Metallplatte und daher das Gewicht
der verdrängten Wassermasse gleich sein kann dem Gewicht der
Platte und der über der Platte bis zur Oberfläche des Wassers befind'
liehen Luft. Wrie Demokrit sich zu der Sache stellte, erfahren wir
ans folgender Stelle des Aristoteles (de coelo. IV 6, p. 313 a — b):
...Jener (Demokrit) behauptet nämlich (betreffs der erwähnten Er-
scheinung), daß die aus dem Wasser aufsteigenden warmen Körper
von den schweren Körpern die flachen festhalten, während die schmalen
du ichfielen; denn auf diese stießen nur wenige von ihnen. Es müßte
aber in der Luft dies in noch höherem Maße geschehen, wie auch
jener selbst sich diesen Einwand macht. Aber nachdem er ihn ge-
macht, widerlegt er ihn mir schwach. Er behauptet nämlich, daß der
42 Louis Löwen heim,
öovc nicht auf eine Stelle hindränge, indem er öovg die Bewegung
der aufsteigenden Körper nennt." Was das eigentümliche Wort <>orc
betrifft, so teilt uns Plato mit, daß man in Lakonien so eine schnelle
Bewegung nannte (Kratylus 26, p. 412 B). Nun schrieb Demokrit
zwar nicht dorisch, sondern ionisch; aber wir dürfen wohl annehmen,
daß, wenn ein dem Attischen fremdes Wort in Lakonien und in
Ionien gebraucht wurde, es hier wie dort denselben Begriff bezeichnete.
Wir ersehen nun aus unserer Aristotelesstelle, daß Demokrit durch die
in Rede stehende Erscheinung, welche seinem Prinzip widersprach,
sich weder veranlaßt sah, sein Prinzip aufzugeben, noch die Erschei-
nung in Abrede zu stellen oder zu ignorieren, sondern daß er bemüht
war, die Erscheinung mit seinem Prinzip in Einklang zu bringen.
Seine Erklärung ist zwar nicht richtig, aber sehr geistreich. In ähn-
licher Weise, wie wir die Tatsache, daß eiserne Gegenstände, wenn
sie sich in einem Boote befinden, nicht untergehen, dadurch erklären,
daß sie durch das Boot, das leichter ist als Wasser, gehalten werden,
dachte sich Demokrit, daß die auf dem Wasser schwimmenden Eisen-
oder Bleiplatten gehalten würden von unsichtbaren Wärmekörperehen,
von Körpern also, die er sich sehr leicht dachte, da man im Altertum
das Feuer als den leichtesten Körper ansah, und von denen er daher
annahm, daß sie in jedem Medium aufsteigen. Galilei hat diese Theorie
Demokrits eingehend besprochen und sie nicht schlechthin verworfen,
sondern unter bestimmten Verhältnissen für zulässig erklärt. Die
interessante Stelle lautet (Opere di Galileo Galilei XII, p. 66—68):
„Demokrit hat in diesem speziellen Fall besser philosophiert als
Aristoteles. Aber ich will deswegen nicht behaupten, daß Demokrit
richtig philosophiert habe Vielmehr zeigt uns die Erfahrung,
daß ein Körper, der beispielsweise die Gestalt einer Kugel hat und
der kaum oder nur sehr langsam untergeht, dies auch tun wird, und
auch herabsinken wird, wenn er in eine ganz platte Gestalt gebracht
ist." Galilei macht dann zweitens gegen Demokrit geltend, daß nach
seiner Theorie ein Körper, der im Wasser langsam untersinkt, nach
Erhitzung des Wassers aufsteigen müßte, und fährt dann fort: „Aber
Demokrit merke sich 15), daß dies nur statt hat, wenn es sich darum
handelt, Platten von Stoffen, welche nur wenig schwerer als Wasser
15) Diese uns komisch erscheinende Aufforderung an einen Mann, der
seit zwei Jahrtausenden nicht mehr unter den Lebenden weilte, zeigt recht
deutlich, wie lebhaft sich Galilei mit Demokrit beschäftigt haben muß.
Die Wissenschaft Demokrits. 43
oder außerordentlich dünn sind, in die Höhe zu hellen und oben zu
halten. Aber bei Stoffen, welche sehr schwer sind und eine gewisse
Dicke haben, wie Platten von Blei oder andern Metallen, bleibt eine
solche Wirkung vollständig aus .... Aber um uns zu Aristoteles
zu wenden, so scheint mir, daß er noch bedeutend frostiger den
Demokrit widerlegt als eben dieser Demokrit es für Aristoteles mit
dem Einwand tut, den er sich selbst macht.'' Wie hatte nun Demokrit
diesen Einwand widerlegt, daß die warmen Körperchen, wenn sie
die Metallplatten im Wasser oben erhielten, es noch mehr in der Luft
tun müßten? Unsere sehr unklare Aristotelesstelle gibt uns darüber
keine genügende Auskunft. Glücklicherweise besitzen wir aber zu
dieser Stelle einen ausführlichen Kommentar des Simplicius (zu de
coelo p. 322 b), welcher uns nicht nur über Demokrits Erklärung
der in Rede stehenden speziellen Erscheinung, sondern auch über
seine allgemeine Theorie wichtigen Aufschluß gewähren wird.
Dieser Kommentar spricht nach Auseinandersetzung des Sach-
verhaltes von dem Einwand, daß in der Luft die dünnen Platten
noch mehr getragen würden als im WTasser; „denn in der Luft seien
mehr Wärmeatome als im WTasser. Nachdem Demokrit so in schöner
Weise einen Einwand erhoben hatte, brachte er die Widerlegung in
schwacher und kraftloser Weise vor. Er sagt nämlich, daß deswegen
in der Luft die flachen Körper von den hervorquellenden Wärme-
atomen nicht oben gehalten werden, weil sich diese in der Luft, da
sie dünn und ausgedehnt sei, nicht verdichteten wie im Wasser.
Wenn sie nun zerstreut sind, so drängt ihre Bewegung nicht auf eine
einzige Stelle hin, so daß sie das darüber Befindliche halten könnten,
wenn es flach ist, während im Wasser, da es dichter und unnachgiebiger
ist, die gewaltsam emporgetriebenen Wärmeatome mehr zusammen-
schlagen und sich verdichten." Wir dürfen nun natürlich durch die
Verachtung, mit welcher Aristoteles und Simplieius auf Demokrits
Widerlegung des von ihm selbst erhobenen Einwandes herabblicken,
uns nicht beirren lassen, sondern müssen unsere Stelle dazu benutzen,
um in objektiver Weise die der Theorie Demokrits zugrunde liegende
Anschauung festzustellen.
Der Kommentar des Simplicius zeichnet sich keineswegs durch
eine größere Klarheit vor der Aristotelesstelle aus, sondern nur durch
größere Ausführlichkeit, welche es uns aber möglich machen wird,
von der Theorie Demokrits eine ganz klare Vorstellung zu gewinnen.
44 Louis Löwen heim,
Auf den ersten Blick erscheint es ganz unverständlich, daß nach
Demokrit zwar in der Luft mehr Feueratome vorhanden sein sollen
als im Wasser, was doch nur heißen kann, daß in einem gleichen Raum
in der Luft mehr Feueratome enthalten sind als im Wasser, und daß
dennoch diese Feueratome sich im Wasser mehr verdichten sollen
als in der Luft, was doch nur heißen kann, daß in einem gleichen
Raum im Wasser mehr Feueratome enthalten sind als in der Luft.
Einen Anhalt, wie dies zu verstehen ist, geben uns aber die Worte,
daß „im Wasser die gewaltsam emporgetriebenen Feueratome mehr
zusammenschlagen und sich verdichten". Denn daraus müssen wir
schließen, daß die Aufwärtsbewegung der Feueratome im Wasser
lebhafter geschieht als in der Luft, und daß dies die Ursache ist, warum
sie im Wasser enger aneinander geraten. Solange freilich die aufwärts
steigenden Feueratome keinen Widerstand finden, kann, wenn nur
die Bewegung gleichmäßig geschieht, die Anzahl der in einem be-
stimmten Augenblick in einer Horizontalebene von bestimmter Größe
vorhandenen Atome nicht abhängig sein von der Geschwindigkeit,
mit welcher sie aufsteigen, sondern nur von der Dichtigkeit, mit
welcher sie in dem Mittel, in dem sie sich befinden, verteilt sind.
Nun wird den Feueratomen weder innerhalb der Wassermasse Wider-
stand entgegengesetzt, noch an der Grenze von Wasser und Luft,
da sie ja in der Luft ebensowohl wie im Wasser aufsteigen, wohl aber
an der Grenze der auf dem Wasser schwimmenden Metallplatten,
welche sie nicht zu durchdringen vermögen. Demokrit muß sich also
denken, daß die in einem bestimmten Raum vorhandene Anzahl von
Feueratomen zwar im allgemeinen in der Luft größer ist als im Wasser,
dagegen unmittelbar unter den Metallplatten im Wasser größer als
in der Luft. Nehmen wir zunächst der Einfachheit wegen an, daß
diese Anzahl im allgemeinen in der Luft ebenso groß wäre als im Wasser,
so haben wir uns vorzustellen, daß an denjenigen Stellen, wo keine
Metallplatten auf dem Wasser schwimmen, die Anzahl der in einer
Horizontalebene vorhandenen Feueratome in jeder Horizontalebene
dieselbe bleibt, im Wasser sowTohl wie in der Luft, da sie in der Luft
zwrar langsamer aufsteigen, aber alle um gleich viel langsamer, daß
dagegen an denjenigen Stellen, wto Metallplatten auf dem Wasser
hegen, das Auf steigen der Feueratome nicht geradlinig geschehen kann,
da dieselben, an der Grenze der Metallplatten angelangt, sich zunächst
horizontal längs der Metallplatten bis zu deren Ende bewegen müssen,
Die Wissenschaft Demokrits. 45
bevor sie in der Luft aufsteigen können, und daß dadurch die Anzahl
der in einer Horizontalebene vorhandenen Feueratome vermehrt
wird. Dies würde nun zwar auch der Fall sein, wenn sich die Metall-
platten in der Luft befinden würden. Aber um wieviel die Anzahl
der in einer Horizontalebene befindlichen Feueratome vermehrt wird,
das hängt offenbar ab von dem Verhältnis der Geschwindigkeit,
mit welcher die Feueratome aufsteigen, zu der Geschwindigkeit,
mit welcher sie sich horizontal längs der Metallplatten bewegen.
Denken wir uns nun, daß die Geschwindigkeit, mit welcher sich die
Feueratome längs der Metallplatten bewegen, dieselbe ist, mögen diese
Platten auf dem Wasser oder in der Luft hegen, während die Ge-
schwindigkeit, mit welcher sie aufsteigen, im Wasser größer ist als
in der Luft, so muß die Vermehrung der Feueratome an den Grenzen
der Metallplatten größer sein, wenn die Metallplatten auf dem Wasser
liegen als wenn sie in der Luft hegen würden, und wenn nur das Auf-
steigen der Feueratome im Wasser um genügend viel schneller ge-
schieht als in der Luft, so kann dies auch dann noch stattfinden,
wenn im allgemeinen in der Luft mehr Feueratome enthalten sind als
im Wasser. Der Theorie Demokrits Hegt also die Voraussetzung zu-
grunde, daß die Feueratome im Wasser schneller aufsteigen als in der
Luft. Dies wird dadurch bestätigt, daß Demokrit, wie wir aus unserer
Simpliciusstelle sehen, das Wasser als „unnachgiebiger" bezeichnet
als die Luft; denn das kann doch nur heißen, daß das Wasser einen
in dasselbe eindringenden Körper mit größerer Energie heraustreibt
als die Luft, Warum nahm nun Demokrit an, daß das Feuer im Wasser
schneller aufsteigt als in der Luft? Auch hierüber gibt uns unsere
Simpliciusstelle Auskunft; es wird hier nämlich als Grund angegeben,
daß die Luft dünner, das Wasser dichter ist. So sind wir durch unsere
trockene Erörterung zu dem wichtigen Ergebnis gelangt, d a ß n a c h
der Lehre Demokrits ein Körper, der leichter
ist als das umgebende Medium und daher darin
aufsteigt, dies mit umso größerer Geschwindig-
keit tut, je dichter dieses Medium ist.
Von der außerordentlichen Bedeutung, welche dieser Satz
Demokrits für die gesamte Geschichte der Wissenschaft gehabt hat,
kann man sich daraus einen Begriff machen, daß Aristoteles dem Satz
Demokrits den Satz entgegenstellte, daß ein Körper, der in die Höhe
steigt, dies umso schneller tut, je dünner das Medium ist, in welchem
46 Louis Löwen heim,
das Aufsteigen geschieht, da der aufsteigende Körper nicht durch
das umgebende Medium in die Höhe getrieben werde, sondern infolge
einer ihm innewohnenden Kraft in die Höhe steige, welche durch den
Widerstand des Mediums umso weniger beeinträchtigt werden könne,
je dünner dieses Medium ist; daß ferner die epochemachende Ab-
handlung des Archimedes über die schwimmenden Körper, worin
das berühmte Archimedische Prinzip vorkommt, ganz auf der Vor-
aussetzung basiert ist, daß die Kraft, mit der ein fester Körper in
einer Flüssigkeit aufsteigt, umso größer ist, je dichter die Flüssigkeit
ist, und daß endlich Galilei andeutet, daß dies Letztere der Grund
gewesen sei, warum er für Demokrit gegen Aristoteles Partei genommen
habe.
Wir fragen nun weiter, wohin sich Demokrit die Schwere gerichtet
dachte. Hierauf gibt uns unsere Überlieferung eine ganz präzise
Antwort. Denn wir lesen bei Aristoteles (de coelo IV 4, p. 311b):
„Einige meinen, daß alle Körper schwer seien. Denn daß etwas
Schweres existiert und immer nach dem Mittelpunkt geht, lehren
auch einige andere ; es existiert aber in gleicher Weise auch das Leichte."
Nun lehrten aber vor Aristoteles nur die Atomisten, daß alle Körper
schwer sind, und da die beiden Sätze unserer Stelle durch „denn"
verbunden sind, so sind einige andere des zweiten Satzes identisch
mit „einige" des ersten Satzes und werden nur insofern andere ge-
nannt, als sie von Aristoteles verschieden sind. Unzulässig dagegen
erscheint es mir, die Stelle so aufzufassen, daß danach einige Philo-
sophen lehren, daß alle Körper schwer seien, andere dagegen, daß
manche Körper schwer seien und nach dem Mittelpunkt gehen, und
manche Körper leicht seien. Um jedoch jeden Zweifel zu zerstreuen,
sagt Simplicius ausdrücklich (zu de coelo, p. 314 b): „Die Anhänger
Demokrits meinen, daß alle Körper schwer seien .... Diese aber
lehren, daß das Schwere allein existiere und daß dies immer nach dem
Mittelpunkt gehe." Demokrit wußte also schon, daß die durch die
Schwere bestimmte Richtung nach unten nichts anderes bedeutet,
als die Richtung nach dem Mittelpunkt der Erde.
Demokrit legte sich nun ferner die Frage vor, warum der eine
Körper schwerer ist, als der andere. Er griff diese Frage in durchaus
wissenschaftlicher Weise an, indem er gemäß seiner atomistischen
Theorie zunächst untersuchte, ob und eventuell warum die ver-
schiedenen Atome verschieden schwer sind. Wie er hierüber dachte,
Die Wissenschaft Demokrits. 47
zeigt folgender Bericht des Theophrast (de sensibus 61): „Schweres
nun und Leichtes unterscheidet Demokrit nach der Größe. Wenn
nämlich jedes einzelne unterschieden würde, so würde es, wenn es
auch hinsichtlich der Gestalt Unterschiede zeigte, naturgemäß sein
Gewicht je nach seiner Größe haben." Und ebenso sagt Aristoteles
(de gen. et corr. 18, p. 526 a): „Demokrit sagt, daß jedes der Atome
je nach seiner größeren Ausdehnung schwerer sei." Demokrit lehrte
also, daß das Gewicht der Atome sich wie ihre Größe verhalte.
Sehen wir nun zu, wie dieser Satz Demokrits sich in der modernen
Terminologie ausdrücken würde. Die moderne Physik unterscheidet
die beiden im gewöhnlichen Leben nicht unterschiedenen Begriffe
„Schwere" und „Gewicht" und definiert die Schwere eines Körpers
als das Verhältnis seines Gewichts zu seiner Masse oder als das Ge-
wicht der Masseneinheit. Die antike Physik hat diesen Begriff der
Schwere nie gehabt und konnte ihn nicht haben, weil der Begriff
der Masse ein moderner ist. Wir dürfen also streng genommen, wenn
von einem einzelnen Körper die Rede ist, kein griechisches Wort
durch „Schwere" übersetzen. Da wir nun einen Körper schwerer
nennen als einen andern (nicht dann, wenn er eine größere Schwere
besitzt, was niemals zutrifft, da alle Körper gleiche Schwere haben,
sondern) wenn er ein größeres Gewicht besitzt, so haben wir das Wort
ßdgog, das mit ßctQvg = schwer zusammenhängt, (nicht durch
„Schwere", sondern) durch „Gewicht" zu übersetzen. ßaQoc,
lyur können wir mit „schwersein" wiedergeben. Wenn übrigens
das Wort ßägoc nicht von einem einzelnen Körper, sondern allgemein
gebraucht wird, so können wir es durch „Schwere" übersetzen, da
unser deutsches Wort „Schwere", wenn es nicht auf einen einzelnen
Körper bezogen wird, nur eine Abkürzung für „Schwerkraft" ist
und auch das griechische Wort ßaQog in diesem Sinne gebraucht
wird. (Selbst Galilei hat den physikalischen Begriff der Masse noch
nicht gekannt. Wenn man bei physikalischen Erörterungen das
griechische Wort öyxog durch „Masse" übersetzt, so ist das eine
falsche Übersetzung.)
Wie lautet nun der Satz Demokrits, wenn wir die modernen
Begriffe Masse und Schwere darauf anwenden? Da die Atome Demo-
krits alle gleichartig sind, so ist ihre Masse ihrer Größe proportional.
Wenn also Demokrit lehrte, daß das Gewicht der Atome ihrer Größe
proportional ist, so ist nach seiner Lehre auch das Gewicht der Atome
48 Louis Löwenheim,
ihrer Masse proportional, folglich das Verhältnis des Gewichts zu
ihrer Masse oder die Schwere für alle Atome dieselbe. Wenn also
Zeller sagt, daß nach der Lehre Demokrits die Atome an Schwere
ebenso verschieden sein müssen wie an Größe (I b5, p. 860), so kann
ich das nicht zugeben 16). Denn wenn wir nur wiedergeben wollen,
was Demokrit wirklich gelehrt hat, so dürfen wir den Ausdruck
„Schwere" überhaupt nicht anwenden; und wenn wir seine Lehre
in die moderne Terminologie übertragen wollen, so müssen wir sagen,
daß nach seiner Lehre alle Atome gleiche Schwere haben.
Soviel über das Gewicht der Atome. Was Demokrit über das
Gewicht der zusammengesetzten Körper lehrte, geht aus folgendem
Bericht des Theophrast a. a. 0. hervor: „Aber in den gemischten
Körpern sei das Leichtere dasjenige, welches mehr leeren Kaum ent-
halte, das Schwere aber dasjenige, welches weniger leeren Kaum ent-
halte."
Ausführlicher ist Aristoteles in folgender Stelle, welche
sich offenbar auf die Atomisten bezieht (de coelo IV 2.
p. 308 b — 309 a): „ Denn es zeigt sich, daß einige
Körper hinsichtlich üires Volumens zwar kleiner sind, trotzdem
aber schwerer. Es ist also offenbar, daß es nicht genügt zu sagen,
daß das Gleichschwere aus gleichen Urbestandteilen zusammen-
gesetzt sei; denn dann hätte es gleiches Volumen .... Da sich nun
zeigt, daß sich nicht alle zusammengesetzten Körper auf gleiche
Weise verhalten, sondern wir sehen, daß viele mit geringerem Volumen
schwerer sind, wie z. B. Erz schwerer ist als Wolle, so meinen und
sagen einige, .... daß das Leere, wenn es in die Körper hinein-
genommen werde, dieselben leichter mache und bewirke, daß zu-
weilen das Größere leichter sei; denn es enthalte einen größeren
leeren Kaum. Durch diesen sei nämlich häufig das aus gleichen oder
selbst kleineren Körpern Zusammengesetzte hinsichtlich seines
1<s) Es liegt der Gedanke nahe, daß Zeller hier nur den Ausdruck ...Schwere"
anstatt des Ausdrucks „Gewicht" gebraucht hat, wie dies bei Nichtphysikern
üblich ist. Indes Zeller vertritt, wie wir sehen werden, die Ansicht, daß nach
Demokrit die größeren Atome mit größerer Geschwindigkeit falle i. Daraus
nun, daß die Atome verschiedenes Gewicht besitzen, folgt in keiner Weise,
daß sie verschieden schnell fallen; wenn sie aber verschiedene Schwere be-
säßen, so würde daraus in der Tat folgen, daß sie verschieden schnell fallen
müssen.
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