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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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Archiv 


für 


Philosophie 


herausgegeben 


von 


L  ii  d  w  i  g    S  t  e  i  n. 


Erste   Abteilung: 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 


BERLIN. 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  Nf. 

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Archiv 


für 


Geschichte  der  Philosophie 


herausgegeben 


von 


Ludwig    Stein, 


Band  XXVI. 

Neue   Folge. 
XIX.  Band. 


BERLIN. 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Siniion  Ni. 

1913. 


ßöL.26 


Inhalt. 


Seil  e 

I.    Fichte    und    der   transzendentale  Wahrheitsbegriff.     Von 
Dr.  Lanz 1 

II.   Vier  Briefe  über  Beneke 26 

III.  Alfred  Fouille'e.    par  Rene  Worms-Paris 3o 

IV.  War    Nietzsche    Pragmatist?    Von    W.   Eggen schw  j  I  er 

in  Turin 35 

V.   Die    Ekstasis    als    Erkenntnisform    bei    Plotin.      Von    Dr. 

Elisabeth  Thiel  in  Breslau 18 

VI.    Die  Sprachphilosophie  Lockes.     Von  Dr.  Karl  Fahrion  .      56 

VII.  Die    Wurzeln   des   Pessimismus    bei   Schopenhauer.      Von 
Oscar  Schuster 66 

VIII.  Die    Ethik    des    Xaturrechtslehrers    Chr.    Thomasius    mit 
Berücksichtigung    seiner   Rechtsphilosophie.     Ein  Beitrag 

zur  Geschichte  der  Philosophie  von  Dr.  Martin  Joseph      83 
IX.  Die    Problemstellung    von    Hegels    „Phänomenologie    des 
Geistes".    Eine  problemgeschichtliche  Einführung  in  seine 
Philosophie.    Von  Fritz  Münch HO 

X.  Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants  als  Beweis 
für  den  idealen  Charakter  seiner  Philosophie.  Von  Dr. 
Emil  Raff 174 

XI.  Wiederentgegnung.    Von  David  Neumark 195 

XII.    Gregor  Skovoroda,  ein  Philosoph  der  Ukraine.   (1721 — 1794.) 

Von  Dr.  Marie  von  Besobrasof  in  St.  Petersburg     .    .     1!>7 

XIII.  Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen  auf  Grund 

der  Marl M-schen  Beziehungslehre.    Von  Heinrich  Schüßler  -Jos 

XIV.  Gri  11  parzer  und  Kant.    Von  Wilhelm  Born  er     .     .    .     .  242 
XV.    Die  Grundlehre  Spinozas  im  Lichte  der  kritischen  Philo- 
sophie.   Von  Otto  Samuel 252 

XVI.   Kants  Beweis   für  die  transzendentale  Synthesis  der  Ein- 
bildungskraft.   Von  Friedrich  Maywald 281 

W  II.   Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft   und  dem  Ent- 
wicklungsgedanken.   Von  Richard  Xoll 302 


n 


Inhalt. 


Seite 

XVIII.   Nietzsche  und  der  Pragmatismus.    Von  Richard  Müller 

Freienfels  in  Berlin-Halensee 339 

XIX.   Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.    Von  Dr.  Roland 

Schacht 359 

XX.   Zu  Heraklit.   Von  Dr.  Ernst  Arndt,  Oberlehrer  in  Essen    370 
XXI.    Friedrich  Rosens  Darstellung  der  persischen  Mystik.    Von 

Ludwig  Stein 401 

XXII.    Piatos    Stellung    zu    Erziehungsfragen.      Von    Stud.-lehr. 

Dr.  Jegel 405 

XXIII.  Bemerkungen  zur  Abfassungszeit  und  zur  Methode  der 
Amphibolie    der   Reflexionsbegriffe.     Von   Edgar   Zilsel 

in  Wien 431 

XXIV.  Kleitophon  wider  Sokrates.  Ein  Beitrag  zur  Erklärung 
des  nach  ersterem  bekannten  Dialogs  der  platonischen 
Sammlung.    Von  Dr.  Heinrich  Brünnecke  in  Göttingen    449 

XXV.   The  Logic  of  Antisthenes.    By  C.  M.  Gillespie,  Professor, 

University  of  Leeds 479 

Rezensionen 129    271    378  501 

Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der 

Philosophie 143    277    395  511 

Zeitschriftenschau 145    278    396  512 

Zur  Besprechung  eingegangene  Werke 147    279    397  513 

Erklärung  betr.  Besetzung  philosophischer  Lehrstühle 399 


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fr 

Archiv  für  Philosophie, 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.    XIX.  Band,  1.  Heft. 


I. 

Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff. 

Von 
Dr.  Lanz. 

Das  Problem  der  Wahrheit  hat  in  der  neueren  Zeit  nach  zwei 
Richtungen  hin  eine  tiefe  Umwandlung  und  durchgreifende  Umarbei- 
tung erfahren:  es  ist  einerseits  die  absolute  Identität  zwischen  Wahr- 
heit und  Sein  und  anderseits  die  absolute  Heterogeneität  zwischen 
derselben  und  dem  psychischen  Bewußtsein  gefunden  und  festgestellt 
wurden.  Die  erste  klare  Formulierung  und  prinzipielle,  allen  weiteren 
Forschungen  richtunggebende  Lösung  der  ersten  Seite  des  Problems 
verdanken  wir  Kants  kritischen  Untersuchungen.  Es  ist  seine  ,,Ko- 
pernikanische  Tat",  die  ihm  die  führende  Rolle  und  herrschende 
Stellung  in  der  Philosophie  der  Gegenwart  geschaffen  hat.  Das  Sein 
ist  nur  als  Sein  des  Denkens  möglich  und  i  s  t  nichts  anderes  als  das 
methodische  Denken  selbst;  die  Objektivität  ist  mit  dem  Denken 
völlig  identisch,  hat  in  ihm  ihren  Sinn  und  ihren  ganzen  Bestand. 
Das  Denken  aber  interessiert  Kant  nicht  von  der  Seite  seines  Vor- 
ganges, sondern  von  derjenigen  seines  Inhalts,  seiner  Geltung;  in 
die  geltende  Wahrheit  des  Denkens  wird  die  Objektivität  verlegt; 
„die  Gegenständlichkeit  ist  weiter  nichts  als  Gültigkeit,  als  unbe- 
dingtes Gelten  und  Zurechtbestehen,  Objektivität  des  Seins  weiter 
nichts  als  Absolutheit  des  Geltens."1)  Im  Begriffe  des  Transzenden- 
talen bei  Kant  ist  der  frühere  Gegensatz  des  Subjekts  und  Objekts, 
der  Wahrheit  und  des  Gegenstandes  aufgehoben.  —  In  dieser  Hin- 
sicht hat  die  spätere  Zeit  nichts  prinzipiell  Neues  geschaffen  oder 
hinzugefügt. 


')  Em.  Lask,  Die  Logik  der  Philosophie,  S.  28. 
Archiv   für  Geschichte  dex  Philosophie.    XXVI,  I. 


2  Lanz, 

Die  andere  Seite  des  Problems  aber,  welche  die  Verschiedenheit 
zwischen  der  reinen  Geltung  der  Wahrheit  und  ihrem  psychischen 
Dasein  betrifft,  ist  in  der  Kantischen  Philosophie  bei  weitem  nicht 
so  klar,  geschweige  erschöpfend  formuliert  worden.  Mag  Kant  tat- 
sächlich den  antipsychologistischen  Standpunkt  der  modernen  Gel- 
tungsphilosophie vertreten  haben,  —  den  Begriff  der  Geltung  im 
Gegensatze  zum  Bewußtsein  finden  wir  bei  ihm  nicht.  Der  „sachliche 
Inhalt"2)  der  Erfahrung  ist  noch  nicht  zu  einem  selbständigen,  seiner 
logischen  Struktur  nach  vom  Bewußtsein  unabhängigen  Begriffe 
ausgearbeitet  worden.  Die  Wahrheit  bleibt  immer  noch  ein  Cha- 
rakteristikum des  Urteils,  sie  ist  von  dem  Prozesse 
des  TJrteilens  noch  nicht  ausdrücklich  losgelöst;  Kants  Antipsycho- 
logismus  besteht  nur  darin,  daß  er  diesen  Prozeß  als  solchen  nicht 
beachtet  und  nur  das  Wahrheits-  und  Inhaltscharakteristikum  a  n 
diesem  Prozesse  ins  Auge  faßt;  beide  sind  aber  an  sich  absolut  ver- 
bunden, oder  richtiger  ausgedrückt,  noch  nicht  getrennt.  In  seiner 
Philosophie,  faktisch,  läßt  sich  der  Unterschied  beider  Begriffe  fest- 
stellen und  genau  verfolgen;  aber  er  war  nicht  f  ü  r  seine  Philosophie, 
also  genetisch,  da.  Die  prinzipielle  Identität  beider  Momente  — 
Wahrheit  und  Erkenntnis,  Geltung  und  Akt  —  bedeutet  bei  ihm 
keine  kritische  Einheit,  sondern  vielmehr  eine  naive  Indifferenz. 

Erst  die  nachfolgende  Zeit,  in  der  Reflexion  über  die  ersten 
psychologistischen  Interpretationen  der  Kantischen  Lehre,  vermochte 
das  Problem  der  logischen  Heterogeneität  der  Wahrheit  und  des 
Bewußtseins  in  seiner  ganzen  Tiefe  und  Präzision  zu  formulieren. 
Die  neueste  Zeit  akzeptierte  dieses  wichtige  Problem  und  versuchte, 
an  die  älteren  Formulierungen  anknüpfend,  dasselbe  weiterzuführen 
und  auszubilden.  Die  bewußte  antipsychologistische  Revolution, 
welche  die  moderne  Philosophie  unternahm,  gipfelt  in  der  Hyper- 
trophie des  Antipsychologismus,  welche  in  der  Rücksichtslosigkeit 
und  Einseitigkeit  der  neuesten  Geltungsphilosophie  ihren  Ausdruck 
gefunden  hat.  Aus  der  logischen  Heterogeneität  und  prinzipiellen 
Verschiedenheit  derWahrheit  und  des  Bewußtseins  entsteht  die  absolute 
Transzendenz  zweier  inkommensurablen  Reiche,  welche  die  Wieder- 
verbindung beider  unbegreiflich,  sogar  unmöglich  macht,  weil  jedes 
nur  eine  formelle  Negation  des  anderen  zum  Ausdruck  bringt  und, 


2)  Cohen,  Kants  Theorie  der  Erfahrung,  S.  255. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  3 

folglich,  jeden  methodischen  Übergang  beider  prinzipiell  vernichtet. 
Nicht  der  Begriff  der  Wahrheit  wird  im  Prozesse  der 
logischen  Begriffsbildung  vom  Begriffe  des  Be- 
wußtseins unabhängig  und  als  Begriff  selbständig  gedacht, 
sondern  die  Wahrheit  selbst,  als  eine  „unsinnliche"  Wesenheit,  wird 
metaphysisch  vom  Bewußtsein  selbst  getrennt.  Zwei  Arten  der  Be- 
griff sbildung  werden  zu  zwei  Reichen  des  Etwas  hypostasiert;  aus 
der  Kantischen  Kritik  entsteht  wiederum  eine  Art  aufgeklärter  Me- 
taphysik, wo  die  Stelle  des  alten  transzendenten  Seins  das  ebenfalls 
transzendente  Gelten  einnimmt,  wobei  nach  dem  intentionalen  Ver- 
halten unseres  Bewußtseins  (und  seiner  Möglichkeit)  zu  diesem  Gelten 
fast  nirgends  mit  Klarheit  gefragt  wird,  als  ob  diese  schwierigste 
Frage  der  ganzen  Logik  und  Philosophie  überhaupt  nicht  existierte. 
In  dem  Pathos  der  neuen  Entdeckung  vergißt  mau,  daß  der  neue 
Begriff  in  der  Funktion,  die  man  ihm  zuschreibt,  dem  Bewußtsein 
gegenüber  mit  derselben  Rätsel  auftritt,  wie  seinerzeit  der  meta- 
physische Begriff  des  absoluten  Seins,  und  daß  gegen  ihn  alle  die  Ein- 
wände erhoben  werden  können,  welche  der  kritische  Idealismus  gegen 
den  alten  Dogmatismus  der  vorkritischen  Zeit  zur  Geltung  brachte. 
Die  Übertreibung  der  antipsyehologistischen  Tendenz  findet  ihren 
Ausdruck  in  der  Behauptung  der  Transzendenz,  —  einer  quasi  — 
methaphysischen  Isolierung  des  Wahrheitsreiches  vom  Bewußtsein; 
die  Wahrheit  einer  Aussage  in  ihrer  Verschiedenheit  vom  Akte  des 
Bewußtseins  und  ihrer  prinzipiellen  Selbständigkeit  wird  zu  einer 
„transzendenten  Idee",  oder  einem  „transzendenten  Sollen"  erhoben 
und  „unabhängig  vom  Bewußtsein"  nicht  nur  betrachtet, 
sondern  auch  gesetzt.  —  Die  Bewußtseinsakte  entstehen  und  ver- 
gehen; die  Wahrheit  ihrer  Aussagen  aber  entsteht  und  vergeht  nicht; 
sie  bleibt,  frei  von  jeder  Beziehung  zu  irgend  einer  erkennenden  Orga- 
nisation, als  ideelle  logische  Einheit  an  sich  selbst  bestehen;  es  liegt 
in,  ihrem  Wesen  gar  nicht  die  Forderung  bewußt  oder  erkannt  zu 
werden3).  Als  „transzendentes  Urbild"  besteht  sie  an  sich,  unab- 
hängig und  a  u  ß  e  r  h  a  1  b  jedes  Bewußtseins,  „gleichsam  an  einem 
nichtsinnlichen  Ort"4),  wo  sie  die  formale  Gegenständlichkeit  „des 
transpersonalen  Sinnes"  5)  begründet  und  ausmacht.    Die  Beziehung 


8)  Husserl,  Log.  Untersuchungen,  Bd.  I,  100,  117,  131.  187  ff.  u.  a. 

4)  Lask,  Logik  der  Philosophie,  S.  19ß. 

5)  Ib.  193. 


4  Lanz , 

zum  Wissen  liegt  nicht  im  Wesen  der  Wahrheit  und  ist  ihr  schlecht 
hin  zufällig.  Obgleich  bei  Rickert  im  Begriff  des  transzendenten 
Sollens  eine  notwendige  Beziehung  zur  Subjektivität  zu  liegen  scheint, 
so  macht  doch  die  metaphysische  Kluft  der  absoluten  Tran.ssubjektivi- 
tät  keine  begriffliche  Fixierung  dieser  Beziehung  möglich.  Im  Be- 
griffe der  „Stellungnahme  zu  einem  Werte",  in  der  Forderung  „der 
Anerkennung"  liegt  dieselbe  undurchdringliche  Dunkelheit,  wie  auch 
in  der  traditionellen  „Intention".  Die  Schwierigkeit,  die  dem  Problem 
des  „immanenten  Sinnes"6)  oder,  richtiger,  des  Immanentwerdens 
des  transzendenten  Sinnes  beiwohnt,  wird  durch  alle  diese  Begriffe 
kaum  bezeichnet,  geschweige  irgendwie  formuliert  oder  gelöst.  In 
welchem  Begriffe  läßt  sich  diese  rätselhafte,  unbegreifliche  Relation 
der  transzendenten  Wahrheit  zum  Bewußtsein  abbilden?  Und  wie 
vermag  das  wahrheits-  und  geltungslose  Bewußtsein  wiederum  diese 
in  ihm  nicht  enthaltene  Wahrheit  aufzufassen,  sozusagen  einzufangen? 

Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  die  moderne  Wahrheitstheorie  dar- 
zustellen. Uns  interessiert  hier  vielmehr  die  Frage  nach  dem  geschicht- 
lichen Ursprünge  dieser  Theorie.  Nach  Husserls  „Logischen 
Untersuchungen."  ist  es  üblich  geworden,  diese  Lehre  auf  Bolzano 
zurückzuführen.  Und  in  der  Tat,  wenn  wir  Bolzanos  Logik  mit  den 
antipsychologistischen  Ansätzen  bei  Mehmel  oder  Herbart  vergleichen, 
so  erscheint  sie  uns  als  ein  großer  Fortschritt  im  Gebiete  der  reinen 
Logik.  Die  „Wahrheit  an  sich"  in  ihrer  absoluten  Selbständigkeit 
ist  mit  vollständiger  Klarheit  dem  Dasein  und  dem  Bewußtsein  gegen- 
übergestellt, in  ihrer  Unabhängigkeit  und  Eigenart,  frei  von  allen 
Zutaten  des  Bewußtseins,  erkannt,  Es  ist  eine  neue  Welt  entdeckt 
und  gefunden  worden,  eine  Welt,  die  keine  Existenz  und  kein  Da- 
sein hat,  und  doch  die  ganze  Existenz  der  wirklichen  Welt,  die  ganze 
unendliche  Entwicklung  des  Universums  in  sich  idealiter  enthält 
und  abbildet.  Das  ist,  nach  Byrons  Ausdruck,  die  Welt,  „wo  die  Phan- 
tome wehen,  die  Wesen  waren  und  Schatten  werden  sein".  Diese 
Welt  i  s  t  nicht,  und  darin  besteht  eben  ihre  Eigenart  und  ihr  Wert. 
Neben  dem  Sein  und  dem  Bewußtsein  ist  ein  neues  Frinzip,  eine  neue 
Kategorie  des  Etwas  gefunden  worden.  Dieses  neue  Etwas  ist  das, 
was  Lotze  nachher  Geltung  nannte. 

Nun  aber  steht  Bolzano  in  der  Entdeckung  und  Herausarbeitung 


6)  Rickert,  Zwei  Wege  der  Erkenntnistheorie.      Kantstudien  Bd.  XIV 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  5 

dieses  wichtigen  Begriffs  zu  seiner  Zeit  nicht  allein.  —  Es  ist  eine 
große  historische  Ungerechtigkeit,  daß  man  von  Bolzano  spricht, 
ohne  Fichte  zu  erwähnen.  Mag  Bolzano  die  Fichteschen  Schriften 
der  sogenannten  metaphysischen  Periode  nicht  gekannt  haben7),  da 
sie  größtenteils  erst  viel  später  gedruckt  waren,  so  ist  doch  nicht  zu 
verkennen,  daß  der  größte  und  beste  Teil  seiner  logischen  Lehre 
mit  Leib  und  Seele  in  der  Fichteschen  Philosophie  wurzelt.  Der 
Terminus  und  die  Bedeutung  der  „Wahrheit  an  sich"  ist  von  Fichte 
geprägt  worden.  Die  Begriffe  des  ,, Sinnes",  des  „Inhalts",  der  „Be- 
deutung" finden  wir  in  seiner  Transzendentalen  Logik  mit  einer  er- 
schöpfenden Allseitigkeit  ausgearbeitet  und  mit  solcher  Tiefe  der 
Problemstellung  behandelt,  welche  wir  sogar  in  den  modernen  Theo- 
rien nicht  aufweisen  können.  Hätte  man  in  der  neueren  Zeit  nicht 
von  Bolzanos  Wissenschaftslehre,  sondern  von  Fichtes  Logik  aus- 
gegangen, so  wären  die  wenig  begründeten  Überschreitungen  des 
kritischen  Standpunktes,  welche  wir  z.  B.  bei  Husserl  finden,  oder 
die  Einseitigkeiten  der  Transzendenzlehre  unmöglich  gemacht. 

In  zwei  wesentlichen  Punkten  weicht  Fichte  im  positiven  Sinne 
von  Bolzano  ab. 

1.  Die  Entdeckung  der  neuen  Welt  zerstört  bei  ihm  nicht  die 
Idee  des  kritischen  Monismus  in  bezug  auf  das  Gegenständ- 
lichkeitsproblem. Die  Wahrheit,  als  Ordnung  der  Erscheinung, 
in  der  Form  des  absoluten  Seins  wird  als  einzig  wahres 
Sein  anerkannt  und  behalten;  in  der  Gestalt  des  Sollens  bildet 
sie  den  einzigen  Gegenstand  der  wahren  Erkenntnis. 

2.  Die  logische  Selbständigkeit  des  Wahrheits  b  e  g  r  i  f  f  s  wird 
noch  nicht  in  die  metaphysische  Transzendenz  des  Wahrheits- 
wesens umgedeutet.  —  Dieser  zweite  Punkt  führt  zu  einer 
wesentlichen  Korrektur  der  modernen  Geltungslehre,  welche, 
eben  in  dieser  Hinsicht,  völlig  auf  Bolzanos  Wissenschafts- 
lehre aufgebaut  ist.  Wir  wollen  aber  zuerst  die  Problemstellung 
bei  Fichte  selbst  verfolgen. 

Für  dieses  Problem  ist  von  besonderer  Wichtigkeit  die  Darstel- 
lung der  Wissenschaft  sichre  vom  Jahre  1804.     Die  ganze  logische 


7)  In  den  geschichtlichen  Paragraphen  der  Bolzanoschen  Wissenschaft  s- 
lehre  ist  Eichte  überhaupt  nicht  erwähnt.  S.  Bolzano,  Wissenschaft. sichre 
§§  21,  27. 


6  Lanz, 

Tendenz,  sogar  die  äußere  Methode  dieser  Wissenschaftslehre  läuft 
darauf  hinaus,  die  Ursprünglichkeit  und  Selbständigkeit  der  Wahr- 
heit dem  Bewußtsein  der  „Einsicht"  gegenüber  zu  betonen  und  zu 
erhalten.  Schon  das  zugrunde  gelegte  Prinzip  der  Genesis,  welches 
als  Methode  durch  die  ganze  Untersuchung  hindurchgeht,  drückt 
diese  Grundtendenz  aus.  Genesis  bedeutet  rein  logische  Begründung, 
Erzeugung  aus  dem  Prinzip;  zur  Genesis  erheben  wir  uns  durch  Ab- 
straktion von  aller  Zufälligkeit  und  Faktizität  der  Einsicht,  um  das 
unmittelbar  Eingesehene  „aus  dem  Prinzip  und  Grunde  seines  So- 
Seins,  also  in  der  Genesis  seiner  Bestimmtheit  zu  durchdringen"8). 
Der  methodische  Gang  der  Wissenschaftslehre  besteht  eben  in  dieser 
allmählichen  Befreiung  von  den  zur  Wahrheit  nicht  gehörenden 
und  störenden  Zutaten  des  Bewußtseins,  in  der  stufenweisen  Erhebung 
zum  reinen  „Inhalte".  Das  ist  die  Bedeutung  der  genetischen  Evidenz, 
daß  wir  die  Wahrheit  nicht  einsehen,  sondern  die  Wahrheit  werden 
und  erleben,  in  ihrer  Reinheit  unser  Selbst  vernichten  und  verlieren, 
jede  Stufe  der  faktischen  Einsicht  nur  „in  Rücksicht  dessen,  was 
an  sich  gültig  ist",  gelten  lassen,  ohne  die  Bewußtseinsform  zu  be- 
achten. Von  allem  „Effekte"  des  bloßen  Bewußtseins  allmählich 
zu  abstrahieren  und  nur  den  „reinen  Inhalt"  zur  Geltung  zu  bringen, 
—  das  ist  das  Wesen  der  genetischen  Methode  der  Wissenschaftslehre 
1804;  „das  Bewußtsein  in  seiner  An-sich-Gültigkeit  zu  vernichten", 
d.  h.  dasselbe  als  ein  geltungsfremdes  Prinzip  zu  entwerten,  —  ist 
ihre  große  logische  Leistung.  „Der  Grund  der  Wahrheit,  als  Wahr- 
heit, liegt  doch  wohl  nicht  in  dem  Bewußtsein,  sondern  durchaus 
in  der  Wahrheit  selbst;  von  der  Wahrheit  mußt  du  also  immer  das 
Bewußtsein  abziehen,  als  derselben  durchaus  nichts  verschlagend."9) 
Denselben  Gedanken  finden  wir  bei  ihm  schon  im  Jahre  1797 
in  der  ersten  Einleitung  ausgesprochen.  Der  Grund  der  Wahrheit 
einer  Vorstellung,  „einer  Bestimmung  des  Bewußtseins"  liegt  nicht 
in  der  Vorstellung  als  solcher,  sondern  in  der  Wahrheit  selbst, 
welche  „unabhängig  von  uns  festgestellt  sein  soll"  und  als  ein  „Muster" 
uns  gegenübertritt;  durch  das  Gesetz  dieser  Wahrheit  (später  Sollen) 
wird  unsere  Erkenntnis  „gebunden",  nicht  frei  und  notwendig;  also 
unsere  Erkenntnis  erhält  ihre  Notwendigkeit  aus  dem  Reiche  der 


8)  Fichte,  Ges.  Werke,  N.  Bd.  X,  128. 

9)  Ib.  X,  195. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  7 

Wahrheit.  Unsere  Vorstellungen  „beziehen  wir  auf  eine  Wahrheit, 
die  unabhängig  von  uns  festgestellt  sein  soll, 
als  auf  ihr  Muster;  und  unter  der  Bedingung,  daß  sie  mit  dieser 
Wahrheit  übereinstimmen  sollen,  finden  wir  uns  in  der  Bestimmung 
dieser  Vorstellungen  gebunden.  In  der  Erkenntnis  halten  wir  uns, 
was   ihren    Inhalt   betrifft,  nicht  für  frei."10) 

Von  diesem  Zeitpunkt  an  (J.  1797)  können  wir  die  allmähliche 
Entwicklung  dieses  Gedankens  bei  Fichte  verfolgen.  Zuerst  vereinzelt 
und  nur  symptomatisch,  als  eine  noch  nicht  mit  voller  Klarheit  be- 
wußte Tendenz,  erhält  dieser  Gedanke  immer  größere  Präzision  und 
schärfere  Formulierung,  um  im  Jahre  1804  mit  Bewußtsein  seiner 
ganzen  Tragweite  zum  Hauptprinzip  der  Wissenschaftslehre  zu  werden. 
Wir  können  sogar  aus  den  einzelnen  Stellen  seiner  Wrerke  die  künftige 
Argumentations weise  für  die  Ideen  der  Unabhängigkeit  ablesen, 
welche  viel  gründlicher,  tiefer  und  allgemeiner  ist  als  bei  Bolzano. 

Niemals  kann  eine  Vorstellung  A,  ein  psychisches  Faktum,  als 
logischer  Grund  der  Wahrheit  irgend  einer  andern  Vorstellung  B, 
betrachtet  werden;  sie  ist  die  Ursache  des  Seins  dieser  Vorstellung, 
nicht  aber  ihrer  Wahrheit11).  Einfache  Tatsache  des  Bewußtseins 
gibt  noch  keine  Garantie  und  keinen  Grund  der  Wahrheit;  in  ihr 
liegt  noch  nichts,  was  als  logischer  Anfang  der  Deduktion  dienen 
könnte ;  denn  eine  Tatsache  des  Bewußtseins  kann  nicht  in 
einer  Kette  der  logischen  Schlußfolgerung 
als  deren  Glied  oder  Prämisse  enthalten  sein; 
das  Auffassen  sagt  uns  schlechterdings  nichts  über  das  Wesen  des 
Aufgefaßten,  da  es  ihm  ganz  „zufällig"  bleibt.  „Das  Aufgefaßte 
soll  durch  das  Auffassen  weder  hervorgebracht,  noch  auf  irgend  eine 
Weise  modifiziert  sein;  es  soll  überhaupt  sein,  und  so  sein,  wie  es  ist, 
unabhängig  von  dem  Auffassen.  Es  war,  ohne  auf- 
gefaßt zu  sein  und  würde,  wie  es  war,  geblieben  sein,  wenn  ich's  auch 
nicht  aufgefaßt  hätte;  mein  Auffassen  ist  ihm  schlechterdings  zu- 
fällig und  verändert  nicht  das  mindeste  im  Wesen  desselben  .  .  . 
So  nämlich  erscheine  ich  mir  selbst  im  Finden;  es  ist  hier  nur  um 

10)  Einleitung  in  die  Wissenschaftslehre,  Bd.  I,  423.  Hier  in  der  1.  Ein- 
leitung schwankt  Fichte  noch.  So  z.  B.  S.  425  wird  die  Erkenntnis  nicht  durch 
die  Wahrheit,  sondern  durch  „das  Ding"  bestimmt,  was  offenbar  einen  Rück- 
fall in  den  Standpunkt  der  Wissenschaftslehre  v.  J.  1797  bedeutet. 

u)  Zweite  Einleit.  Bd.  I,  4G5. 


8  Lanz, 

eine  Exposition  der  bloßen  Tatsache  des  Bewußtseins,  keineswegs 
aber  darum  zu  tun,  wie  es  sich  in  der  Wahrheit,  d.  i.  von  dem  höchsten 
Standpunkte  der  Spekulation  aus,  verhalten  möge."12)  Es  ist  hier 
die  Wahrheit  klar  dem  Bewußtsein,  als  dem  bloßen  Finden,  gegen- 
übergestellt. Es  ist  niemals  etwas  wahr,  nur  darum,  weil  es  unmittel- 
bar gefunden  wird.  Die  Tatsache  des  Bewußtseins  beweist  nichts. 
Der  Grundsatz,  daß  Ich  =  Ich  sei,  ist  nicht  durch  das  unmittelbare 
Bewußtsein  seiner  Faktizität  bewiesen,  sondern  erst  dadurch,  daß 
er  als  eine  notwendige  Voraussetzung  für  das  System  der  Wissenschafts- 
lehre erscheint,  durch  dieses  System  der  an  sich  gültigen  Sätze  be- 
dingt und  dieselben  wiederum  bedingend  ist;  darum  ist  das  Ich  für 
Fichte  keine  Tatsache,  sondern  Prinzip.  „Dieses  Selbstbewußtsein 
wird,  nicht  zwar  als  Faktum,  denn  als  solches  ist  es 
unmittelbar,  aber  in  seinem  Zusammenhange  mit  allem 
übrigen  Bewußtsein,  als  wechselseitig  bedingend  dasselbe  und  be- 
dingt durch  dasselbe,  in  einer  Grundlage  der  gesamten  Wissenschafts- 
lehre nachgewiesen."13)  Diese  Erhebung  zum  rein  logischen  Zusammen- 
hange, zur  genetischen  Betrachtung  des  reinen  Inhalts,  ist  von  An- 
fang an  eine  verborgene  Tendenz  aller  Darstellungen  der  Wissen- 
schaftslehre gewesen;  aber  erst  im  Jahre  1804  hat  diese  „realistische" 
Tendenz  ihr  Prinzip  und  ihre  allseitige  und  präzise  Formulierung 
gefunden,  worin  auch  der  Grund  davon  liegt,  daß  diese  Wissenschafts- 
lehre klarer  geworden  ist,  als  alle  ihre  früheren  Darstellungen14) ;  es 
geschah  „lediglich  durch  die  unbefangene  Aufstellung  der  Maxime", 
daß  das  unmittelbare  Bewußtsein  in  seiner  An-sich-Gültigkeit  abge- 
wiesen und  Idealismus  jeder  Art  bekämpft  und  widerlegt  sein  solle. 
Es  wird  jetzt  als  Grundirrtum  des  Idealismus  bezeichnet,  daß 
er  „das  unmittelbare  Bewußtsein  zum  Absoluten,  zum  Urquell  und 
Bewährer  der  Wahrheit  machte"15).  Der  höchste  Punkt  der  ideali- 
stischen Argumentation  bleibt  immer  Bewußtsein  und  Denken; 
wenn  wir  den  Idealisten  fragen,  woher  wisse  er  denn,  daß  er  denkt, 
wo  liegt  denn  der  Grund  dieser  Wahrheit,  daß  es  Denken  überhaupt 
gebe,  so  wird  er  nichts  anderes  antworten  können,  als  daß  er  dessen 
unmittelbar  bewußt  ist16).    An  die  Stelle  der  logischen  Begründung 


12)  Das  System  der  Sittenlehre,  Bd.  IV,  19. 

13)  Das  System  der  Sittenlehre,  Bd.  IV,  23. 

14)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1804,  N.  Bd.  X,  210. 

15)  Ib.  X,  192.  «)  Ib.  X,  184. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  9 

tritt  ein  schlichter  Hinweis  auf  eine  Tatsache  des  Bewußtseins  ein. 
Wir  fragen  nach  dem  logischen  Grunde  und  erhalten  ein  psycholo- 
gisches Faktum;  ein  Faktum  kann  aber  nie  die  Funktion  der  Begrün- 
dung übernehmen;  „wenn  du  glaubtest,  in  dem  Bewußtsein  liege  der 
Grund,  daß  Wahrheit  Wahrheit  ist,  so  verfielest  du  in  den  Schein; 
und  allenthalben,  wo  dir  etwas  darum  wahr  sein  soll, 
weil  du  dessen  bewußt  bist,  bist  du  in  der  Wurzel  eitel 
Schein  und  Irrtum."17)  „Die  Wissenschaftslehre  leugnet  die  Gültig- 
keit der  Aussagen  des  unmittelbaren  Bewußtseins."18) 

Freilich  können  wir  faktisch  aus  diesem  Bewußtsein  nie  heraus; 
immer  bleiben  wir  in  seiner  Gewalt;  welches  höchste  Prinzip  wir  auch 
aufstellen  mögen,  es  bleibt  im  Bewußtsein  und  durch  das  Bewußtsein; 
immer  kann  der  Idealist  seine  Position  dadurch  zu  behaupten  ver- 
suchen, daß  er  sogar  die  Transzendenz  und  logische  Negation  des 
Bewußtseins  unter  die  Begriffe  dieses  Bewußtseins  setzt.  Darin 
besteht  eben  „die  Hartnäckigkeit  des  Idealismus",  daß  er  jeden  Inhalt 
nur  im  Lichte  des  Bewußtseins  gelten  läßt  und  jedes  aufgestellte 
Prinzip  unter  dem  Gesichtspunkte  seiner  Intuition  betrachtet.  Alles  — 
sei  es  das  absolute  Sein,  oder  Ansich,  oder  Wahrheit  —  alles  wird 
als  Bewußtsein  charakterisiert  und  in  seiner  Selbständigkeit  auf- 
gehoben. Warum?  Weil  ich  es  unmittelbar  so  auffasse.  Hier  endet 
sich  jede  Argumentation.  Anstatt  einer  Begründung  wird  eine  absolut 
dogmatische  Maxime  aufgestellt,  alles  in  Beziehung  auf  unsere  Intuition 
betrachten  zu  wolle  n.  Gegen  dieses  willkürliche  Wollen  ist  nichts 
einzuwenden,  sei  es  denn  nur,  daß  es  eben  willkürlich  ist.  Wenn  der 
Idealist  jeden  Inhalt  nur  insofern  in  Betracht  zu  ziehen  vermag  und 
nur  insofern  ihn  gelten  lassen  will,  als  er  ihn  in  seinem  Bewußtsein 
auffaßt,  wenn  er  niemals  von  seiner  Auffassung  abstrahieren  will 
und  kann,  so  läßt  sich  gegen  diese  traurige  Beschränktheit  des  Wollens 
und  Könnens  nichts  ausrichten.  Diese  Maxime  ist  kein  theoretischer 
Satz,  sondern  ein  dogmatischer  Willensentschluß,  mit  welchem  man 
auf  dem  theoretischen  Gebiete  nicht  streiten  kann.  Man  kann  den 
Idealisten,  um  ihm  die  Willkiirlichkeit  seiner  Position  zu  zeigen,  nur 
darauf  aufmerkasm  machen,  daß  es  für  Wahrheit  eben  unwesentlich 
ist,  ob  sie  von  jemand  aufgefaßt  wird  oder  nicht;  wir  können  nämlich 


17)  Ib.  X,  195. 

18)  Ib. 


10  Lan  z, 

nach  der  „Wahrheit  an  sich"  fragen,  „die  wir  für  wahr  seiend  und  wahr 
bleibend  anerkennen,  falls  sie  auch  kein  Mensch  einsähe"  19).  „Der 
Begriff  hat  in  sich  selber  einen  Inhalt"  und  das  Bewußtsein,  „welches 
an  ihm  vorkommt  ...  ist  ihm  nicht  mehr  wesentlich,  sondern  nur 
bedingend  sein  Leben,  d.  h.  seine  Erscheinung"  20).  Der  Grundfehler 
der  idealistischen  Weltanschauung  besteht  darin,  daß  sie  die  An-sich- 
Gültigkeit  der  Wahrheit  nicht  sieht  und  dieselbe  in  der  Nichtgültigkeit 
der  Intuition  vernichtet.  Die  Tendenz  jeder  wahren  Philosophie  aber 
soll  darauf  hinaus  gehen,  das  Wesen  der  „Wahrheit  an  sich",  „des 
schlechthin  Unvertilgbaren  im  Wissen"  21),  unabhängig  von  jeder 
Auffassung,  von  jedem  Bewußtsein  zur  Darstellung  zu  bringen,  mil- 
den „reinen  Inhalt",  „mit  völliger  Abstraktion  von  der  Faktizität 
des  Denkens"  22)  gelten  zu  lassen.  Dieses  reine  Wesen  der  Wahrheit  als 
Idee  besteht  darin,  daß  „sie  ist,  so  wie  sie  einmal  ist,  und  nichts  in 
ihrem  Wesen  wandeln  kann"  23).  Sie  ist  unwandelbar,  jene  „Ruhe 
und  Festigkeit  des  Wissens",  jene  „Bestimmtheit  der  reinen  Frei- 
heit' ,  welche  „dem  Wissen  standhält  und  ihm  nicht  unter  der  Hand 
zerfließt"24).  Als  absolutes  Sein25)  hat  sie  kein  Dasein  im  Gebiete  der 
Erscheinung,  keine  faktische  und  zeitliche  Existenz. 

Es  ist  in  den  „Einleitungs Vorlesungen"  aus  dem  Jahre  1813  aus- 
drücklich anerkannt,  daß  es  ganz  sinnlos  und  widersprechend  sei,  den 
logischen  Inhalt  und  Sinn  einer  Aussage  als  eine  „seiende  Begebenheit" 
zu  betrachten  26).  Gegen  die  Dogmatiker  aller  Art  muß  ausdrücklich 
verschärft  werden,  daß  die  Aussage  des  Seins  nur  in  einem  Urteile 
Sinn  und  Bedeutung  hat.  Die  Wissenschaftslehre  fragt  nicht  nach 
einem  Sein  an  sich,  sondern  untersucht  nur  den  Sinn  der  Seinsprädi- 
kation. Nun  ist  aber  die  seiende  Seinsprädikation  unmöglich  und 
widersprechend;  „dieses  ihr  (der  Dogmatiker)  Ist  (als  ein  seiendes 
Ist)  ist  ganz  unmöglich  und  widersprechend:  denn  Was  gesagt 
wird  widerspricht  dem,  D  a  ß  es  gesagt  wird". 27) 

«)  Bd.  X,  143.  20)  Ib.  142. 

21)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1801,  Bd.  II,  53. 

22)  Wissenschaftelehre  v.  J.  1804,  Bd.  X,  111. 
2:t)  Über  das  Wesen  des  Gelehrten,  Bd.  VI,  359. 

24)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1801,  Bd.  II,  85. 

25)  Absolutes  Sein  =  Wahrheit  der  Erscheinung.    Vgl.  Bd.  IX,  38,  139; 
Bd.  X,  93,  176  u.  a. 

26)  Einleitungsvorlesungen  zur  Wissenschaftslehre  v.  J.  1813,  Bd.  IX,  14. 

27)  Ib.  S.  43.     Vgl.  dazu:  Wissenschaftslehre  v.  J.  1812,  Bd.  X,  327. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  11 

Der  Sinn  der  Seinsaussage  ist  also  selbst  kein  Sein;  als  Wahrheit 
gehört  sie  zu  einer  ganz  andern  ,, Region  der  Anschauung",  die  nicht 
im  Dasein  liegt  und  kein  Dasein  hat.  „Im  B.  (Begriff,  Bild)  erhebt 
sich  darum  zuvörderst  eine  ganz  andere  Region  der  Anschauung, 
die  der,  welche  einen  materiellen  Inhalt  ausdrückt,  ganz  und 
gar  entgegengesetzt  ist,  indem  sie  nicht  ausspricht  einen 
Inhalt,  sondern  die  B  e  d  e  u  t  n  n  g  und  den  Sinn  des  Inhalts  ..."  28). 
Die  Wahrheit  gehört  nicht  zur  Welt  des  zeitlichen  Seins  und  soll  mit 
ihm  nicht  verwechselt  werden 29). 

Ebenso  wie  von  dem  Sein  ist  die  Wahrheit  auch  vom  Bewußtsein 
verschieden.  Die  Vorstellungen  gehen  und  wechseln;  ihre  Wahrheit 
aber  entsteht  und  vergeht  mit  ihnen  nicht.  Im  Gegensatze  zu  der 
Zufälligkeit  und  zeitlicher  Faktizität  des  Urteils,  gilt  sie  „absolut 
zeitlos"  30)  und  in  dieser  Zeitlosigkeit  ist  sie  der  reine  Ausdruck  „des 
Denkens,  das  da  Wesen,  Geist  und  Bedeutung  hat  und  in  Beziehung 
auf  dieses  Wesen  ganz  und  gar  sich  gleich  und  unverändert  ist"  31).  — 
Wenn  ich  einen  Vortrag  halte,  so  dauert  er  eine  bestimmte  Zeit,  ist 
unter  diesen  und  diesen  Bedingungen  zustande  gekommen,  wird  von 
mir,  durch  meine  geistige  Tätigkeit  und  Kraft,  erzeugt  und  gemacht, 
Alle  diese  Prädikate  verlieren  in  bezug  auf  die  Wahrheit  jeden  Sinn: 
„nicht  die  Wahrheit  wird  gemacht,  sondern  nur  der  Vortrag  der 
Wahrheit"  32). 

Es  verändert  nichts  in  dem  reinen  Wesen  der  Wahrheit,  daß  sie 
eingesehen  wird;  dieses  Einsehen  ist  ihr  schlechthin  zufällig:  „sie 
bleibt  ewig  wahr,  ehe  sie  irgend  jemand  einsah,  und  ob  sie  nie  Einer 
eingesehen  hätte"33);  „es  ist  gar  nicht  notwendig,  daß  wir  die  Wahrheit 
einsehen."  ;!4)  Unser  Bewußtsein  ist  kein  Grund  davon,  daß  Wahrheit 
Wahrheit  ist,  kann  nichts  begründen  und  bewahrheiten.  Faktisch 
bleiben  wir  zwar  immer  in  seiner  Gewalt;  „intelligibel"  aber,  „in 
Rücksicht  dessen,  was  an  sich  gültig  ist",  können  wir  uns  von  seinen 


28)  Die  transzendentale  Logik.     Bd.  IX,  135. 

29)  Ib.  S.  207. 

30)  Wisenschaftslehre  v.  J.  1801,  Bd.  II,  6.     Vgl.  Sittenlehre   v.  J.  1812, 
Bd.  XI,  52:  „Der  Begriff  selbst  ist  außer  aller  Zeit." 

31)  Wissensc.iaftslehre  v.J.  1804,  Bd.  X,  141. 

32)  Transzendentale  Logik,  Bd.  IX,  188. 

:i3)  Wissenschait.slehre  v.J.  1804,  Bd.  X,  145. 
34)  Ib.  S.  199. 


12  Lanz, 

illusorischen  Ketten  wohl  befreien,  indem  wir  „von  seinem  wesentlichen 
Effekte  abstrahieren"  und  nur  die  reine  „Bedeutung"  der  Wahrheit 
an  sich  gelten  lassen.  Worin  besteht  dieser  „unausbleibliche  Effekt" 
des  Bewußtseins,  um  dessen  willen  dasselbe  alle  seine  Gültigkeit 
verliert? 

Um  diese  Frage  zu  beantworten,  müssen  wir  genauer  den  Begriff 
des  Bewußtseins  analysieren.  Bewußtsein  ist  für  Fichte  ein  kom- 
pliziertes Phänomen,  in  welchem  eine  ganze  Reihe  von  Synthesen 
liegen.  Vor  allem,  und  nur  darauf  kommt  es  uns  hier  an,  wird  es  als 
eine  Vereinigung  der  Gültigkeit  und  Tätigkeit  (und  Fichte  absolutes 
Sein  und  Freiheit)  gedacht.  —Ein  jeder  Akt  des  wirklichen  Bewußtseins 
wird  nur  dadurch  zu  einem  wirklichen  Akte,  daß  er  irgendwie  „be- 
stimmt" ist;  er  enthält  in  sich  schon  durch  sein  bestimmtes 
Sein  eine  Synthesis  zweier  Momente,  —  nämlich  seine  unbestimmte 
Aktualität  (unendliche  Tätigkeit)  und  seine  Bestimmtheit,  welche 
ihn  von  andern  Akten  unterscheidet;  die  reine  Aktualität  oder  un- 
begrenzte Tätigkeit  enthält  noch  kein  Bewußtsein;  das  ist  es  eben, 
was  Fichte  in  der  späteren  Periode  „bloßes  Bewußtsein"  oder  „Frei- 
heit" nennt.  Erst  die  „begrenzte  Tätigkeit",  d.  h.  in  der  späteren 
Terminologie,  die  durch  das  absolute  Sein  (=  absolute  Wahrheit) 
„bestimmte  Freiheit"  gibt  ein  wirkliches  Bewußtsein. 

In  dem  Entwicklungsgange  der  Fichteschen  Philosophie  wird 
dieses  Moment  der  Bestimmtheit  vom  wirklichen  Akte  des  Bewußt- 
seins allmählich  losgelöst  und  erhält  eine  unabhängige  und  ursprüngliche 
Selbständigkeit.  Aus  der  immanenten  Bestimmtheit  des  Aktes  bildet 
sich  allmählich  die  selbständige  Gültigkeit  der  Wahrheit  heraus, 
welche  in  der  Form  des  absoluten  Seins  der  Aktualität  gegenüber  als 
ein  sie  bindendes  Gesetz  auftritt.  Diese  Verselbständigung  der  „Be- 
stimmtheit" zur  „Wahrheit",  zum  „wahren  Sein",  ist  der  wesentliche 
Punkt  des  Unterschiedes  der  zweiten,  sogen,  metaphysischen  Periode, 
von  der  ersten  —  immanenten.  In  der  ersten  Periode  (bis  zum  Jahre 
1801)wurde  die  absoluteTätigkeit  durch  sich  selbst  bestimmt  gedacht35) ; 
der  Grund  ihrer  Bestimmung  lag  in  ihrem  eigenen  praktischen  Wesen 
Dabei  war  der  Begriff  der  Bestimmung  noch  sehr  metaphysisch  ge- 


35)  Die  vereinzelten  Andeutungen  an  den  entgegengesetzten  Standpunkt 
sind  durchaus  zufällig  und  unsystematisch;  sie  verändern  noch  nichts  in  der 
eigentlichen  Prinzipienlehre  der  immanenten  Position. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  13 

färbt;  die  Bestimmung  bedeutete  nichts  anderes  als  eine  metaphysische 
Begrenzung  oder  Konkretisation  der  unendlichen  Tätigkeit.  Wie  die 
absolute  Substanz  bei  Spinoza  durch  eine  Reihe  der  Determinationen 
und  Begrenzungen  zu  ihren  individuellen,  endlichen  Äußerungen  oder 
Modis  kam,  ebenso  brachte  auch  die  absolute  Tätigkeit  bei  Fichte 
durch  eigene  Begrenzung  oder  Konzentration  ihre  Modi,  d.  h.  Objekte, 
hervor.  Das  Objekt,  das  Nicht-Ich,  wurde  zu  einem  bestimmten 
Quantum  des  Ich;  es  war  dasselbe  Ich,  nur  in  seiner  Bestimmtheit 
gedacht.  Das  reine  Nicht-Ich,  welches  innerhalb  der  theoretischen 
Philosophie  die  Aufgabe  hat,  das  reine  Bewußtsein  zu  bestimmen,  ist 
weder  ein  „Ding"  noch  eine  „Wahrheit"  an  sich,  sondern  nur  ein  noch 
undeutlich  gedachtes  Moment  der  Bestimmtheit. 

Aus  dieser  metaphysischen  Auffassung  taucht  allmählich  die 
rein  logische  Tendenz  auf.  Die  Bestimmtheit,  welche  dem  reinen 
Ich  das  Objekt  gibt  oder,  richtiger,  die  Objektivität  selbst  ausmacht 
und  erschöpft,  erhält  im  Geiste  des  Philosophen  allmählich  ihre  wahre 
Gestalt;  sie  wird  begrifflich  von  dem  Bewußtsein,  von  dem  bloßen 
Verstehen,  isoliert:  „Aus  dem  bloßen  Ausdruck  des  Verstehens  eines 
Bestimmten  ist  klar,  daß  die  Bestimmtheit  dem  Ver- 
stehen vorausgehen,  nicht  durch  dieses,  das  ja  die 
bloße  Form  ist,  erfolgen  soll.  Die  Bestimmtheit  ist  schlechthin 
vor  allem  Verstehen,  und  wenn  das  Verstehen  auch 
nicht  hinzukäme,  so  bliebe  es  bei  einer  solchen  =  x"  36). 
Auf  diese  Weise  verwandelt  sich  die  „Bestimmtheit"  oder  „Begrenzt- 
heit" in  das  absolute  Sein,  dem  die  Wissenschaftslehre  vom  Jahre  1804 
die  Bedeutung  der  „Wahrheit  an  sich"  gibt;  sie  wird  zur  völligen  Selbst- 
ständigkeit herausgearbeitet  und  gewinnt  die  logische  Bedeutung  des 
transzendentalen  Grundes  der  objektiven  Welt.  In  das  System  der 
Fichteschen  Philosophie  wird  auf  diese  Weise  eine  kritisch  aufgeklärte 
Platonische  Idee  eingeführt 37).  Es  wiederholt  sich  hier,  wie  überall, 
die  allgemeine  Tatsache,  daß  fast  alle  Philosophen  in  der  reiferen 
Perioden  ihrer  Entwicklung  in  der  einen  oder  andern  Form  7,11111 
Piatonismus  zurückkehren.  Weder  das  idealistische  Bewußtsein, 
noch   die   dogmatisch-metaphysische   Substanz    wird    als    Grundlage 


:!6)  Transzenclcnlalc    Logik  Bd.  IX,   311. 

37)  Das  absolute  Sein  ==  Idee.    Vgl.  Das  System  d.  Sittenlehre  v.  J.  1812, 
Bd.  XI,   31,  42. 


14  Lanz, 

der  Welt  angenommen;  sondern  das  Reich  der  gültigen  und  wahren 
Gesetze  erscheint  als  diese  Grundlage;  das  ist  der  Gegenstand  der 
wahren  Erkenntnis,  —  alles  Andere  ist  Trug  und  Schein.  Der  höchste 
Grund  alles  Seins  liegt  im  absoluten  Sein,  im  „absoluten  Gesetze", 
d.  h.  in  der  Wahrheit  an  sich.  Die  Wahrheit  macht  das  Seinsmoment 
am  Seienden  aus.  Sie  ist  nicht  dem  Sein,  sondern  nur  dem  Seienden 
entgegengesetzt..  Auf  diese  Weise  wird  der  spätere  Bolzano-Husserlsche 
Irrtum  der  Verdoppelung  der  Welt  vermieden  und  abgewiesen.  Die 
Wahrheit  bat  nicht  die  Aufgabe  das  Sein  abzubilden,  sondern  alles 
Seiende  in  seiner  Gesetzmäßigkeit  zu  konstituieren,  da  diese  Gesetz- 
mäßigkeit nichts  anderes  ist  als  eben  die  reine  Wahrheit  oder  das 
absolute  Sein  38). 

In  den  Bereich  dieses  absoluten  Seins  wird  alles  Logische  verlegt ; 
aller  gesetzliche  Zusammenhang,  aller  Grund,  haben  ihren  eigentlichen 
Sitz  in  diesem  ursprünglichen  Reiche.  Der  Grund  davon,  daß  etwas 
da  ist  und  so  oder  so  bestimmt  ist,  liegt  immer  in  diesem  Reiche,  und 
wenn  wir  irgend  ein  Phänomen  in  seiner  Wahrheit  erklären  wollen, 
müssen  wir  uns  zu  der  Anschauung  dieses  Reiches  erheben  und  in 
seinem  Intelligieren  völlig  aufgehen. 

Wir  haben  die  Wahrheit  in  ihrer  Ursprünglichkeit  und  Eigenart 
erkannt.  Was  bleibt  jetzt  dem  Bewußtsein  übrig,  nachdem  wir  alle 
Logizität,  alle  begriffliche  Genesis  von  ihm  entfernt  haben  39)  ?  Von 
dem  wirklichen  Akte  des  Bewußtseins  sind  wir  ausgegangen,  durch 
das  Moment  der  Bestimmtheit  zum  Begriffe  der  reinen  Wahrheit  auf- 
gestiegen, und  diese  Wahrheit  von  ihm  in  unserer  Betrachtung  isoliert; 
was  bleibt  dem  Bewußtsein  übrig?  Es  soll  sich  auch  offenbar  aus 
dem  wirklichen  Akte  in  ein  bloßes  Moment  verwandeln;  es  bleibt  ihm 
nichts  anderes  übrig,  als  eben  das  Moment  der  Bewußtheit  selbst, 
dasjenige,  was  keinem  Begriffe  zugänglich  ist,  da  alles  Begriffliche 
und  Logische  auf  die  andere  Seite  übertragen  ist  und  dort  bleibt,  — 
absolute  Irrationalität  der  anschaulichen  Tätigkeit,  welche  nach 
Abstraktion  von  jedem  logischen  Grunde  und  sachlichen  Inhalt  noch 


38)  Wir  können  hier  nicht  diesen  Gedanken  ausführlicher  hehandeln 
und  unsere  Auffassung  der  Fichteschen  Philosophie  in  dieser  von  der  all- 
eemeinen Ansicht  abweichenden  Form  rechtfertigen.  Das  soll  der  Gegen- 
stand einer  besonderen  Monographie  bilden. 

39)  Vgl.  dazu:  Wissenschaftslehre  v.  J.  1801;  bes.  einleitende  Seiten  der 
„Darstellung  d.  Wissenschaftslehre"  v.  J.  1812,  Bd.  X.  320—342. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  15 

übrig  bleibt.  Dieses  Moment  bringt  die  Faktizität  und  Mannigfaltigkeit 
mit  sich,  bedingt  die  aktuelle,  zeitliche  Auseinandergerissenheit  der 
Erscheinung  des  Seins;  es  liegt  außerhalb  jeder  Begründung, 
da  eine  Begründung  nur  innerhalb  des  ersten  Moments,  innerhalb 
der  Wahrheit  einen  Sinn  hat,  ist  absolut  grundlos  und  wird  darum 
„absolute  Freiheit"  genannt;  seine  Aufgabe  ist  die  „Beleuchtung"  des 
absoluten  Seins.  Es  ist  nicht  mehr,  wie  es  in  der  ersten  Periode  (be- 
sonders 1794)  war,  —  die  höchste  Idee  des  Seins  oder  der  Realität 
selbst,  die  absolute  Substanz,  welche  alle  Dinge  hervorbringt,  sondern 
die  absolute  Abstraktion  vom  Sein,  völlige  Beseitigung  und  Ver- 
nichtung des  Seins,  das  subjekti vierte  platonische  Apeiron  40). 

Aus  dieser  kurzen  Darstellung  soll  es  ganz  begreiflich  werden, 
warum  die  Wissenschaftslehre  „die  An-sich-Gültigkeit  des  Bewußtseins 
leugnet".  Wenn  wir  einen  Akt  des  Bewußtseins  gedanklich  zer- 
schneiden und  die  beiden  Momente  —  der  Geltung  und  der  Bewußt- 
heit —  so  auseinander  halten,  daß  sie  nichts  miteinander  gemein 
haben,  so  sehen  wir  uns  gezwungen,  die  Bewußtheit  als  solche 
vollständig  alogisch  zu  denken;  wir  begreifen  sie  als  eine  Unbegreiflich- 
keit, als  bloße  Anschauung  ohne  Geltung.  Obgleich  alle  Begründung 
und  alles  Sein  nur  im  „Lichte"  dieser  Bewußtheit  oder  Freiheit  er- 
blickt wird,  so  gehört  doch  dieses  Licht  selbst  keineswegs  in  den  logischen 
Zusammenhang  der  Begründung,  oder  in  den  begrifflichen  Inhalt  des 
Seins.  Das  bloße  Bewußtsein  kann  also  nichts  begründen  oder  bewahr- 
heiten; es  vermag  nur  die  Kette  der  Begründung  zu  beleuchten,  sie 
zur  Erscheinung  und  Offenbarung  zu  bringen.  Das  absolute  Sein 
bedingt  die  Gesetzlichkeit  der  Einsicht,  das  bloße  Bewußtsein  dagegen 
die  Faktizität  und  Zufälligkeit  derselben.  Sein  „wesentlicher  Effekt" 
besteht  darin,  daß  es  den  rein  logischen  Inhalt,  die  absolute  Wahrheit 
an  sich  immer  gewissermaßen  entstellt  und  eine  notwendige  Täuschung 
in  sie  hineinbringt.  Durch  seine  Faktizität  erzeugt  es  die  Illusion  der 
Zeitlichkeit  und  psychologischen  Tatsächlichkeit  der  Wahrheit;  es 
macht  die  Wahrheit  zum  stehenden  und  ruhenden  Objekte,  gibt  ihr 
die  Illusion  des  Daseins.  Dieses  faktische  Dasein  ist  daher  absolut 
zufällig  und  irrational.  Alle  Notwendigkeit,  alL  Gesetzlichkeit  des 
Daseins  liegl  im  absoluten  Sein;  das  Dasein  als  Dasein  aber  ist  ganz 
zufällig,  Produkt  der  absolut  grundlosen  Freiheit,  d.  h.  Bewußtheit. 


40)  Wissenschalt  sichre  v.  J.  1801,  Bd.  II,  67. 


16  Lanz, 

So  erscheint  das  Bewußtsein  „seinem  Sein  nach  überhaupt  als  zufällig, 
seinem  Inhalte  nach  aber  als  notwendig"  41);  zu  dieser  Notwendigkeit 
des  Inhalts  soll  sich  die  Wissenschaftslehre  erheben,  alle  Zufälligkeit  des 
bloßen  Bewußtseins  völlig  ignorierend.  Das  Bewußtsein  an  sich  ist 
weder  wahr,  noch  falsch,  es  ist  eben  nur  faktisch  Bewußtsein  und  weiter 
nichts;  die  Wahrheit,  die  logische  Systematisierung  und  Begründung 
kommt  ausschließlich  dem  Inhalte  zu,  das  bloße  Bewußtsein  aber 
kann  nicht  als  ein  Glied  dieses  Systems,  als  ein  Moment  in  der  Kette 
der  logischen  Begründung  auftreten;  „das  Bewußtsein  kann  Nichts 
bewahrheiten"  2),  da  jede  Bewahrheitung  im  Prozesse  der  erkenntnis- 
theoretischen Abstraktion  auf  der  entgegengesetzten  Seite  des  absoluten 
Seins  geblieben  ist. 

„Das  Bewußtsein  ist  in  seiner  Sichgültigkeit  abgewiesen."  42)  Es 
„hat  an  sich  gar  keine  Gültigkeit  und  Beziehung  auf  Wahr- 
heit".    Mit  diesem  Grundsatze  ist  Fichte  zu  dem  Urgründe  aller 
antipsychologistischer    Argumentationen    durchgedrungen.        Diese 
prinzipielle  Stellung  zum  Bewußtseinsproblem  macht  seine  Unter- 
suchungen viel  schwieriger,  aber  auch  viel  klarer,  tiefer  und  wertvoller 
als  die  ganze  Wissenschaftslehre  Bolzanos  mitsamt  ihren  Nachfolgern. 
Die  absolut  alogische  Natur  des  Bewußtseins  ist  weder  von  Bolzano, 
noch  auch  später  von  jemandem,  durchschaut  worden.     Die  üblich 
gewordene  Argumentation  in  diesem  Punkte  ist  sozusagen  zerstreut 
und  prinziplos;  man  sieht  richtig  ein,  daß  die  Wahrheit  vom  Bewußt- 
seinsakte verschieden  sei;  aber  den  höchsten  Grund  davon  vermag 
man  nicht  anzugeben.    Dieser  Grund  besteht  eben  in  der  grundlosen, 
logischfremden  Natur  des  Bewußtseins;  im  Bewußtsein  und  durch 
das  Bewußtsein  kann  man  nichts  begründen,  sondern  nur  die  objektive 
Begründung  beleuchten.  Das  Bewußtsein  steht  selbst  immer  außerhalb 
jedes   logischen   Zusammenhanges,    der   nur   zwischen   Wahrheiten, 
nicht  aber  zwischen  Bewußtseinsakten  bestehen  kann;  das  Verhältnis 
zwischen  Bewußtseinsakten  kann  n  u  r  real,  dasjenige  zwischen  den 
Wahrheiten  n  u  r  ideal  gedacht  werden.    Darum  stehen  sie  in  keinem 
andern  Verhältnis,  als  in  dem  der  Negation  zu  einander. 

Der  eigentliche  Kern  dieser  Einsicht  liegt  darin,  daß  das  Bewußt- 
sein nie  als  ein  Glied  oder  eine  Etappe  in  der  Kette  der  logischen 


41)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1804,  Bd.  X,  195. 
«)  Ib.  S.  198. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  17 

Schlußfolgerungen  aufzutreten  vermag,  daß  es  kein  begründendes 
und  auch  kein  begründetes  Phänomen  ist.  Unter  dem  Gesichtspunkte 
des  bloßen  Bewußtseins  betrachtet,  sind  unsere  psychischer 
Bewußtseinsvorgänge  absolut  sinnlos  und  haben  „gar  keine  Beziehung 
auf  Wahrheit",  da  sie  ja  zu  diesen  Vorgängen  erst  werden,  in 
einer  spezifisch  alogischen,  nämlich  in  der  psychisch-kausalen 
und  assoziativen  Betrachtungsweise;  nur  insofern  wir  diese  Faktizität 
vernichten,  von  ihr  völlig  abstrahieren,  vermögen  wir  uns  zur  Wahrheit 
selbst  zu  erheben;  dann  aber  erkennen  wir  sie  auch  nicht  und 
fassen  sie  nicht  auf,  sondern  wir  sind  sie  selbst,  fallen  mit  ihr  zusammen 
und  verlieren  unser  eigenes  zeitliches  Wesen  in  ihrer  intelligiblen 
Geltung  43). 

Diese  Konzeption  ergibt  in  bezug  auf  das  Bewußtsein  einen  rück- 
sichtslosen Skeptizismus,  welcher  nicht  nur  wie  bei  Aenesidemus-Schulze 
an  den  geschichtlichen  Zustand  der  Erkenntnis  zweifelt,  und  auch 
nicht  wie  bei  Hume  die  notwendige  Gültigkeit  der  Bewußtseins- 
aussagen verneint,  sondern  jede  auch  die  komparative  und  bloß 
wahrscheinliche  Gültigkeit  des  Bewußtseins  aufhebt,  seine  Logizität 
überhaupt  zugrunde  richtet.  In  dem  früher  verstandenen,  intentionalen 
Sinne  des  Wortes  erkennt  man  überhaupt  nichts. 
„Zwar  hat  die  Gedankenlosigkeit  und  Faselei  sich  einen  vornehmen 
Titel  verschafft,  den  des  Skeptizismus,  und  glaubt,  daß  nichts  zu 
hoch  sei,  das  sie  unter  diesem  Titel  nicht  erschwingen  könnte.  Von 
der  Wissenschaftslehre  muß  sie  wegbleiben.  In  der  reinen  Vernunft  läßt 
sich  der  Zweifel  nicht  mehr  anbringen;  diese  trägt  und  hält  sich  und 
jeden,  der  in  ihre  Region  kommt,  fest  und  unverrückt.  Will  sie  aber  die 
An-sich-Gültigkeit  des  Bewußtseins  bezweifeln  ...,  so  käme  sie 
mit  diesem  Generalzweifel  für  die  Wissenschaf  ts- 
lehre  zu  spät;  denn  diese  bezweifelt  nicht  nur  provisorisch 
jene  An-sich-Gültigkeit,  sondern  sie  behauptet  und  erweist 
kategorisch  die  Nichtgültigkeit,  die  selbst  der 
Generalzwcifcl  nur  in  Frage  stellen  würde.  Gerade  der  Besitzer 


43)  „Wir  allerdings  sind  es,  die  diese  Konstruktion  vollziehen,  aber  in- 
wiefern wir,  wie  gleichfalls  eingesehen  worden,  das  Sein  selber  sind  und  mit 
ihm  zusammenfallen;  keineswegs  aber,  wie  es  erscheienn  könnte,  ...  als  ein 
vom  Sein  unabhängiges  und  freies  Wir."  Bd.  X,  214.  ,,.  .  .  aber  in  der  Wahr- 
heit  begreifen  wir  es  eben  auch  nicht,  sondern  wir  haben  es  und  Bind  es." 
Ib.  S.  168.     Vgl.  auch  Bd.  X,  286,  313,  336,  367,  371. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  1.  2 


18  L  a  n  z , 

der  Wissenschaftslehre...  könnte  einen,  alles 
bisher  Angenommene  gänzlich  vernichtenden 
Skeptizismus  aufstellen,  bei  welchem  wohl  selber  den- 
jenigen, die  bisher  mit  allerhand  Skeptiserei  zum  Zeitvertreibe  ge- 
spielt haben,  grauen  dürfte,  und  sie  rufen  würden:  der  Spaß  gehe 
doch  zu  weit!"44)  Systematische  Bedeutung  eines  solchen 
Skeptizismus  ist  außerordentlich  groß,  da  er  aus  sich  selbst  heraus 
ein  positives  Resultat  erzeugt.  In  dieser  hoffnungslosen  Skepsis 
des  Bewußtseins  wird  die  absolute  Vernunft  und  reines  Sein  ge- 
boren: die  Vernichtung  und  Ausschaltung  des  Bewußtseins  eröffnet 
das  Reich  des  Logischen  in  aller  seiner  Reinheit  und  Selbständigkeit. 
Eine  solche  Skepsis  vernichtet  die  Wahrheit  und  ihre  Möglichkeit 
nicht,  sondern  umgekehrt,  in  ihrem  Grundsatze  „der  Vernichtung" 
der  Subjektivität,  erzeugt  sie  die  Wahrheit  in  ihrem  Begriffe.  Der 
Skeptizismus  in  bezug  auf  das  Bewußtsein  erzeugt  einen  völligen 
Absolutismus  der  Wahrheit  an  sich.  In  ihm  ist  nicht  die  Wahr- 
heit, sondern  ein  alter  Irrtum,  eine  unrichtige  Theorie,  welche  das 
Wissen  als  eine  Abbildung  der  Wahrheit  im  Bewußtsein  betrachtet, 
zu  Grunde  gegangen.  In  diesem  Sinne  ist  das  Wissen  unmög- 
lich; es  entsteht  nicht  in  der  Abbildung  und  auch  nicht  in  anderen 
mehr  verfeinerten  Formen  dieser  Idee,  sondern  in  der  Vernichtung 
der  Subjektivität,  in  der  Abstraktion  von  ihr. 

Die  vollständige  logische  Kraftlosigkeit  des  Bewußtseins  ist  hier 
ausdrücklich  proklamiert.  Das  Prädikat  „wahr"  hat  in  bezug  auf  das 
Bewußtsein  überhaupt  keinen  Sinn45) ;  nur  der  Inhalt  selbst,  nicht  aber 
das  Bewußtsein,  kann  die  Wahrheit  besitzen;  denn  Wahrheit  ist  eine 
bestimmte  logische  Relation,  welche  in  ihrer  An-sich-Gültigkeit 
das  Bewußtsein  völlig  ignoriert  und  außer  sich  läßt. 

Das  Bewußtsein  und  die  Wahrheit  sind  also  zwei  grundverschiedene 
Begriffe.  Damit  ist  die  Heterogeneität  und  sogar  Inkommensurabilität, 
aber  noch  keine  Transzendenz  bewiesen  worden.  Fichte  wollte  es 
auch  nicht.  Daraus,  daß  Bewußtsein  nicht  Wahrheit  und  diese 
wiederum  nicht  Bewußtsein  ist,  daß  beide  in  einem  imaginären  Ver- 
hältnisse zueinander  stehen  und  absolut  inkommensurable  Funktionen 


41)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1804,  Bd.  X,  196. 

45)  „Was  sich  nicht  selbst  macht,  was  irgend  ein  Ich  hindenkt,  ist  falsch." 
Wissenschaftslehre  v.  J.  1812,  Bd.  X,  320. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  19 

und  Bestimmungen  haben,  folgt  noch  gar  nicht,  daß  beide  als  getrennt 
gedacht  werden  müssen.  Diese  Getrenntheit  und  Transzendenz  will 
etwas  mehr  bedeuten,  als  einfache  begriffliche  Heterogeneität  und 
Inkommensurabilität;  sie  will  beide  Momente  nicht  nur  logisch,  als 
begrifflich  selbständige  Elemente,  sondern  auch  metaphysisch,  durch 
eine  unbegreifliche,  übersinnliche  Kluft  voneinander  trennen;  sie 
bringt  einen  metaphysischen  Beigeschmack  in  das  Problem  hinein. 
Wahrheit  und  Bewußtsein  repräsentieren  in  dieser  Auffassung,  wie 
wir  oben  dargestellt  haben,  zwei  von  einander  objektiv  getrennte 
Reiche,  welche  faktisch  konstatiert  und  post  factum  künstlich  mit 
einander  verbunden  werden.  Die  Wahrheit  ebenso  wie  das  Bewußtsein 
werden  absolut  an  sich  gedacht.  Versuchen  wir  aber  solche  Meta- 
physiker  zu  fragen,  was  eigentlich  ihr  unabhängig  von  jeder  Wahrheits- 
bestimmung an  sich  gedachtes  Bewußtsein  ist,  oder  auch  was  für 
eine  Art  des  Verhältnisses  zwischen  diesen  beiden  objektiven  Potenzen 
besteht,  so  weiden  sie  uns  keine  andere  Antwort  geben  können,  als 
die  einfache  Behauptung  irgend  einer  dunklen  und  unbegreiflichen 
„Tntention"  oder  „Richtung".  Eben  dieser  Wunderbegriff,  der  nichts 
als  eine  Forderung  der  Kluftüberbrückung  ausdrückt,  zeigt  uns,  daß 
in  den  Wahrheitsbegriff  etwas  mehr  hineingelegt  oder  hineingedeutet 
wird,  als  man  das  Recht  dazu  hätte. 

Was  beweist  man  eigentlich  mit  allen  Argumenten  gegen  die 
Psychologisierung  der  Wahrheit?  —  nichts  anderes  als  daß  der  Be- 
griff „Wahrheit"  in  seiner  logischen  Konstitution,  für  seine  in- 
haltliche Bildung  den  Begriff  des  Bewußtseins  nicht  braucht  und 
nicht  voraussetzt.  Wenn  wir  z.  B.  den  Begriff  des  Triangels 
bilden  wollen,  so  setzen  wir  eine  Masse  von  Begriffen  voraus;  Baum, 
Größe,  Richtung,  Dimension,  Punkt,  Linie  usw.,  —  alle  diese  Begriffe 
sind  für  die.  Bildung  des  Triangels  notwendig  und  unumgänglich. 
Dasselbe  gilt  auch  für  den  Wahrheitsbegriff.  Begriffe:  des  Begriffs, 
des  Satzes,  des  Grundes,  der  Hypothesis,  der  logischen  Zusammen- 
gehörigkeit, werden  notwendig  vorausgesetzt,  damit  der  Wahrheits- 
begriff erst  entstellen  könnte.  Der  Begriff  des  Bewußtseins  kommt 
unter  diesen  Voraussetzungen  nicht  vor;  logisch  brauchen  wir  ihn 
nicht,  um  den  Wahrheitsbegrifi  zu  erzeugen  und  in  seinem  „Werden'' 
zu  verstehen.  Das,  alter  auch  nur  das,  besagt  der  Satz:  die  Wahrheil 
ist  vom  Bewußtsein  unabhängig;  die  Unabhängigkeit  besteht  nicht 
zwischen  zwei  Wesenheiten,  sondern  zwischen  zwei  Arten  der  BegrilTs- 

2* 


20  Lanz\ 

bildung  —  der  logischen  und  psychologischen.  Mehr  dürfen  wir  nicht 
annehmen.  Die  Behauptung  der  Transzendenz  legt  aber  in  beide 
Begriffe  etwas  mehr  hinein.  Dieses  Mehr  kann  nicht  erklärt  oder 
definiert  werden,  da  die  Transzendenz  kaum  den  Anspruch  ihres  Be- 
griffes erheben  kann.  Die  Kluft,  die  in  diesem  unklaren  Worte  liegt, 
wird  eigentlich  in  den  Wahrheitsbegriff  hineinphantasiert.  Auf  Grund 
dieser  Phantasie  aber  erwächst  eine  Menge  wunderbarsten  Fragen 
und  vor  allem  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Intention.  Dieser  Be- 
griff gibt  uns  die  Antwort  auf  eine  ausgedachte  und  ungesetzliche 
Frage,  welche  überhaupt  nicht  existiert,  da  der  Begriff  der  Transzen- 
denz, auf  dessen  Grunde  sie  erwächst,  keine  Geltung  hat,  ja  kein  Be- 
griff, sondern  eine  Vorstellung  ist.  Zwischen  Wahrheit  und  Bewußtsein 
besteht  kein  Verhältnis  der  Intention;  —  nie  können  zwei  Begriffs- 
bildungen aufeinander  tendieren?  Das  ist  der  Sinn  des  Fichteschen 
Skeptizismus  46).  —  Wir  finden  bei  Fichte  den  klar  ausgedrückten 
Protest  gegen  die  Möglichkeit  einer  solchen  transzendenten  Auf- 
fassung. Es  macht  den  Eindruck,  als  ob  er  für  hundert  Jahre  die 
drohende  Übertreibung  und  Verunstaltung  seiner  großen  Entdeckung 
vorausgesehen  hätte.  Schon  im  Jahre  1801  erklärt  er  das  absolute 
Wissen  als  eine  innige  Durchdringung  des  „Was"  und  des  „Weil", 
als  absolute  Einheit  der  Gültigkeit  und  Tätigkeit,  des  „ruhenden 
Seins"  und  der  „Freiheit".  „Im  Wissen  sonach  müßten  die  beiden 
oben  unterschiedenen  Momente  des  Absoluten  schlechthin  ineinander 
fallen  und  verschmelzen,  so  daß  beide  gar  nicht  mehr  unterscheidbar 
wären."  47)  Sie  sind  nämlich  nur  als  Momente,  ihrer  logischen  Leistung 
nach,  nicht  aber  an  sich,  als  ursprünglich  selbständige  und  voneinander 
getrennte  Wesenheiten,  zu  unterscheiden.  Werden  sie  voneinander 
ursprünglich  getrennt,  so  wird  man  sie  nie  wieder  zusammenbringen 
können.  „Du  sollst  sie  nicht  bloß  nach  ihrer  Trennung  wieder 
zusammenknüpfen,  wie  mit  einem  Faden,  den  du  nirgends 
herzunehmen  weißt,  sondern  du  sollst  begreifen,  daß  sie  organisch 
ineinander  und  durcheinander  verschmolzen  sind,  damit  du  nur  erst 
sie  trennen  könnest."  48)     Ein  äußerer  Faden  durch    eine    absolut 


46)  Bei  Fichte  kompliziert  sich  das  Problem  noch  dadurch,  daß  das  Be- 
wußtsein nicht  nur  das  Objekt  der  psychologischen,  sondern  eine  eigentümlich 
und  spezifisch  philosophische  Begriffsbildung  darstellt. 

47)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1801,  Bd.  VI,  17. 
4S)  Ib.  8.  19. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  21 

irrationale  Kluft  der  metaphysischen  Transzendenz,  per  liiatum 
irrationalem,  ist  absolut  undenkbar,  —  es  ist  ganz  einerlei,  ob  wir  einen 
transzendenten  Gegenstand  oder  eine  transzendente  Wahrheit  dem 
Bewußtsein  gegenübersetzen.  Es  ist  nämlich  unbegreiflich  durch 
welche  Kraft  bekommt  das  Bewußtsein  dieses  äußere  „Auge",  ver- 
möge dessen  es  die  Wahrheit  „sehen"  kann.  Das  absolute  Sein  wäre 
in  der  transzendenten  Auffassung  absolut  unsichtbar.  „Und  wenn 
wir  dir  dieses  Auge  auch  in  der  Tat  schenken  wollten,  wie  wir  doch  nicht 
können,  so  wirst  du  ferner  die  Verbindung  desselben  mit  jenen  Absoluten 
nimmer  erklären,  sondern  sie  nur  in  den  Tag  hineinbehaupten."  49) 
Beide  Momente  also,  welche  wir  oben  als  verschieden  betrachtet  haben, 
sollen  jetzt  nach  Fichte  in  einem  andern  Sinne  und  einer 
andern  Richtung  absolut  zusammenfallen.  Solange  wir  das  Problem 
rein  logisch  fassen,  um  den  B  e  g  r  i  f  f  der  Wahrheit  in  seiner  Selbst- 
ständigkeit zu  erkennen,  so  sehen  wir  klar  die  prinzipielle  Inkommen- 
surabilität  beider  Momente.  Sobald  aber  wir  die  metaphysische  Seite 
des  Problems  berühren,  und  die  Möglichkeit  der  transzendenten 
Getrenntheit  der  Wahrheit  ins  Auge  fassen,  müssen  wir  diese  Möglich- 
keit verneinen  und  in  diesem  Sinne  eine  absolute  Identität 
beider  Momente  festsetzen.  Diese  Identität  bedeutet  nichts  mehr, 
als  eine  Abwehr  der  vermeintlichen  metaphysischen  Kluft  zwischen 
denselben. 

In  d  i  e  s  e  in  Sinne  betrachtet  Fichte  die  Wahrheit  und  das  bloße 
Bewußtsein  als  zwei  dialektische  Pole  einer  höheren  Einheit,  welche 
er  „absolutes  Wissen"  oder  „reines  Licht"  nennt.  Als  isolierte 
logische  Punkte,  als  selbständige  und  unmittelbare  Gegebenheiten, 
sind  diese  Momente  des  absoluten  Wissens  unmöglich  und  undenkbar; 
die  transzendente  Trennung  ertötet  ihren  Sin  n.  Sie  stellen  eine  un- 
zertrennliche Einheit  in  dem  Verhältnisbegriffe  des  absoluten  Wissens 
dar;  ihre  Zweiheit  wird  völlig  in  einer  einzigen  Relation  aufgelöst,  die 
ihren  Ausdruck  in  der  Theorie  der  „Vernichtung  des  Begriffs"  findet.  Sic 
können  nur  durch  einander  existieren,  bilden  ein  absolutes  dialektisches 
„Durch".  Die  Wahrheit  als  absolutes  Sein  steht,  als  bindendes 
und  bestimmendes  Gesetz,  der  Freiheit,  d.  h.  drin  bloßen  Bewußtsein 
gegenüber;  nur  in  dieser  Entgegensetzung  hat  sie  einen  Sinn  und 
irgend  einen  Inhalt.     Sie  nimmt   in  dieser  Entgegensetzung  die 

*9)  Ib.  S.  19. 


22  La  nz, 

Bedeutung  des  Sollens  an;  aber  dieses  Sollen  erhält  bei  Fichte  keinen 
Anklang  der  Transzendenz,  sondern  drückt  vielmehr  die  dialektische 
Abhängigkeit  beider  Momente  am  deutlichsten  aus.  Das  Sollen  ist 
nämlich  einerseits  die  absolute  An-sich-Gültigkeit  einer  Wahrheit,  „ein 
inneres,  absolutes,  rein  qualitatives  sich  selber  Machen,  und  auf  sich 
selbst  Ruhen";  „dem  problematischen  Soll  liegt  nichts  weiter  zu- 
grunde, als  eben  die  innere  Annahme  durchaus  von  sich  selber  und 
ohne  allen  äußeren  Grund."50)  An  sich  trägt  es  den.  Charakter 
der  absoluten  Position  und  ist,  als  „Notwendigkeit  im  bloßen  Be- 
griffe", vom  absoluten  Sein  gar  nicht  zu  unterscheiden:  „es  trägt 
durchaus  alle  Kennzeichen  des  im  Grundsatze  eingesehenen  Seins 
an  sich."  Es  enthält,  r  e  i  n  für  sich  betrachtet,  durchaus 
keine  Forderung  und  ist  inhaltlich,  als  Wahrheit,  bestimmt,  ohne  die 
Anerkennung  von  der  Seite  des  Subjekts  vorauszusetzen.  (Darin 
Unterschied  von  Rickert  und  der  ganzen  praktischen  Richtung  in  der 
späteren  Logik.) 

Nun  aber  anderseits  liegt  im  Sollen  eine  notwendig  mitgedachte, 
obgleich  keine  inhaltliche,  aber  doch  formale  Beziehung  zur  absoluten 
Freiheit,  d.  h.  zum  bloßen  Bewußtsein;  es  liegt  in  ihm  „eine  Regel, 
ein  Gesetz  also  zu  verfahren;  außerdem  wird  es  kein  Soll."51)  Sein 
Inhalt  ist  selbständig,  seine  Form  aber,  als  Sollen,  setzt  die  Subjektivität 
voraus.  Nur  als  ein  bestimmendes  Gesetz  für  die  Freiheit  des  bloßen 
Bewußtseins,  als  eine  das  absolute  „Vermögen"52)  bei  der  Ge- 
legenheit seiner  Vollziehung  bindende  Regel,  nur  als 
ein  Soll  für  dieses  Vermögen,  hat  es  überhaupt  einen  Sinn ;  ohne 
dieses  „für"  ist  es  nichts;  es  drückt  nur  das  Moment  der  Bestimmung 
an  der  bestimmten  Freiheit  aus.  „Mithin  liegt  dieses  Soll  in  der  ur- 
sprünglichen Bestimmung  des  Vermögens  durch  sein  Sein  aus  Gott."53) 
—  Wie  ein  Gesetz  der  materiellen  Welt  ohne  die  Materie  selbst  jeden 
Sinn  verliert,  da  ja  dieser  Sinn  eben  in  der  Beziehung  auf  die  Materie 
besteht,  obgleich  dem  Inhalte  nach  die  Materie  nicht  voraussetzt  und 


»)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1804,  Bd.  X,  219. 

51)  Ib.  S.  228. 

52)  „Vermögen"  (1810)  =  „Leben"  (1804)  =  „Freiheil"  (1801)  =  „Tätig- 
keit" (1794)  =  bloßes  Bewußtsein. 

53)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1810,  Bd.  II,  700.  Vgl.  die  Transzend.  Log. 
(Bd.  IX,  317):  „Die  Bestimmtheit  kann  nicht  sein,  wenn  nicht  ein  Bild  ist; 
denn  sie  ist  nur  Bestimmtheit  des  Bildes." 


Fichte   und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  23 

nicht  aus  ihr  deduziert  wird,  ebenso  verwandelt  sich  auch  die  Geltung 
eines  Soll  in  ein  absolut  totes  Nichts,  sobald  wir  das  Bewußtsein  voll- 
ständig wegdenken;  in  seinem  Wesen,  seiner  logischen  Bedeutung 
liegt  schon  implizite  eine  Relation,  ein  Hinweis  auf  das  Bewußtsein, 
dessen  Bestimmung  es  eben  zu  seiner  Aufgabe  hat ;  es  ist  eben 
nichts  anderes  als  die  Bestimmung  selbst,  als  Moment  des  Wissens 
gedacht.  Die  Geltung  des  Sollen  ist  darum  immer  wissend  und  das 
Wissen  immer  geltend;  beide  bilden  eine  ursprüngliche,  untrennbare 
Einheit,  sind  nur  verschiedene  „Ansichten"  eines  und  desselben 
Wissens.  „Die  Disjunktion  daher,  welche  hier  übrig  bleibt,  ist  nicht 
Disjunktion  zweier  ursprünglich  Verschiedenen,  sondern  es  ist  Dis- 
junktion in  Einem,  das  bei  aller  Disjunktion  Eins  bleibt  . . .  Populär: 
es  ist  nicht  Disjunktion  zweier,  sondern  nur  verschiedene  Ansicht 
Eines  und  eben  desselben."  54)  Derselbe  Inhalt  wird,  sozusagen,  in 
zwei  ganz  verschiedenen  Dimensionen  betrachtet,  welche  zu  einander 
in  einer  ähnlichen  Relation  stehen,  wie  das  1.  zu  y~  1,  —  einmal 
seinem  logischen  Gehalte  nach,  unter  dem  Gesichtspunkte  des  Denkens, 
anderes  mal  seiner  faktischen  Beleuchtung  nach,  in  der  „Intuition", 
unter  dem  Gesichtspunkte  der  Anschauung.  Beide  Betrachtungen 
führen  zur  absoluten  Inkommensurabilität  der  Resultate,  — 
absolutes  Sein  und  absolute  Freiheit,  Gültigkeit  und  Tätigkeit,  — 
welche  aber  vor  der  Betrachtung,  unter  dem  Gesichts- 
punkte des  Absoluten,  gar  nicht  verschieden  sind  und  in 
eine  höhere  Einheit  (des  absoluten  Wissens)  zusammenfallen.  Wenn 
man  also  die  „Immanenz"  des  Inhaltes,  das  Auffassen  der  Wahrheit 
im  Bewußtsein  zu  erklären  versucht,  so  „sucht"  man  eigentlich 
nichts  anderes,  als  „denselben  Begriff,  denselben  in  Absicht  des  In- 
halts, nur  in  einer  andern  qualitativen  Bestimmung"  55).  Diese  quali- 
tative Bestimmung  besteht  aus  der  Bewußtseins-  oder  „S  e  h  e"- 
Charakteristik,  welche  absolut  a  1  o  g  i  s  c  h  ist  und  darum  jeder  ratio- 
nalen Fassung,  jeder  weiteren  begrifflichen  Determination  spottet 56). 
Wenn  wir  jetzt  die  oben  aufgeworfene,  imaginäre  Frage 
nach  dem  Verhältnisse  zweier  transzendenten  Glieder  beantworten 


")  Wissenscbaftslehre  v.  J.  1804,  Bd.  X,  258.  sr)  Ib.  S.  230. 

56)  „Die  Vernichtung  des  Begriffs  durch  die  Evidenz,  also  die 
Sicherzeugung  der  Unbegreiflich  keit  ist  diese  lebendige  Konstruk- 
tion der  inneren  Qualität  des  Wissen,"  Bd.  X,  117.  Vgl.  Transzend.  Log., 
Bd.  IX,  173,  174. 


24  L  a  n  z , 

wollen,  so  müssen  wir  sagen,  daß  es  keine  Brücke  zwischen 
der  Wahrheit  und  der  Freiheit  des  Bewußtseins,  sondern  nui  eine 
absolute  Identität  beider  gibt.  In  der  eigentümlichen 
Terminologie  Fichtes  heißt  es:  „das. . .  innere  Weil  schlechthin  (Frei- 
heit) soll  mit  dem  inneren  Was  schlechthin  (abs.  Sein)  verschmelzen, 
und  diese  Verschmelzung  selbst  soll  innerlich  oder  für  sich  sein"  57). 
Nur  dieses  Für  sich  bedingt  die  Notwendigkeit  der  Disjunktion 
der  Wahrheit  und  des  Bewußtseins  (oder  Freiheit);  d.  h.  diese  Dis- 
junktion ist  nur  in  der  Ansicht,  beide  Momente  sind  nun  als  Be- 
griffe verschieden ;  was  wir  oben  nachgewiesen  haben.  A  n  sich 
aber  sind  beide  schlechthin  identisch;  d.  h.,  wenn  wir  beide  Momente 
im  Bilde  der  Transzendenz  metaphysisch  isolieren  wollen,  so  tritt 
uns  die  Unmöglichkeit  und  Ungesetzlichkeit  dieser  Isolierung  eben 
im  Begriffe  der  Identität  entgegen.  Beides  sind  logisch  unabhängig 
und  verschieden,  metaphysisch  aber  absolut  verbunden  und  identisch. 
Die  entgegengesetzten  Prädikationen  erklären  sich  durch  die  Ver- 
schiedenheit der  Rücksichten,  in  denen  dieselben  genommen  werden. 
Damit  löst  sich  der  scheinbare  Widerspruch  im  Begriffe  des  Wissens. 
Alle  diejenigen  Unklarheiten  und  Fragezeichen,  welche  mit  der 
modernen  transzendenten  Wahrheitslehre  verbunden  sind  und  ihr 
aus  der  metaphysischen  Kluft  zwischen  der  isolierten  Gültigkeit  und 
dem  objektivierten  Bewußtsein  erwachsen,  werden  durch  diese  Kon- 
zeption beseitigt.  Wie  die  Frage  nach  dem  Verhältnisse  der  Form 
zur  Materie  nur  dann  etwas  unbegreifliches  in  sich  einschließt,  wenn 
beide  als  metaphysisch  getrennte  Wesenheiten  aufgefaßt  werden  und 
die  Lehrheit  der  Form  eine  räumliche  Interpretation  erhält 58),  ebenso 
entsteht  die  Frage  nach  der  „Immanenz"  der  Wahrheit  nur  dort, 
wo  beide  in  einem  objektiven  Bilde  ursprünglich  auseinandergerissen 
werden  und  eine  ungesetzliche  objektive  Selbständigkeit  erhalten. 
Die  Frage  der  Immanenz  hat  bei  Fichte  gar  keinen  Sinn  mehr,  da  ja 
beide  Momente  ursprünglich  immanent  sind  und  nicht  erst  hinterher 
zu  einander  zu  kommen  brauchen.  Zur  Klärung  des  Gedankens  können 
wir  noch  mehr  sagen:  sie  dürfen  in  diesem  Gegensatze  der  Immanenz 
und  Transzendenz  gar  nicht  gedacht  werden,  weil  er  einem  andern 
Problemzusammenhange  angehört  und  nicht  ohne  weiteres  auf  Alles 
übertragen  werden  darf;  es  gibt  weder  immanente,  noch  transzendente 

57)  Wissenschaftslehre  v.  J.  1801,  Bd.  II,  38. 

58)  Vgl.  Schuppe,  Erkenntnistheoretische  Logik. 


Fichte  und  der  transzendentale  Wahrheitsbegriff.  25 

Wahrheit,  sondern  nur  eine,  immer  sich  selbst  gleiche  Wahrheit, 
welche  ursprünglich  zwei  Momente  in  sich  enthält.  Diese  Momente 
sind  nur  als  solche,  d.  h.  als  Momente,  nicht  Teile  oder  Wesenheiten, 
zu  unterscheiden;  alle  weitere  Zutaten,  die  diesen  logischen  Unter- 
schied noch  irgendwie  zu  modifizieren  und  andere  zu  interpretieren 
versuchen,  sind  unzulässig.  Die  Verschiedenheit,  Heterogeneität, 
sogar  Inkommensurabilität  ist  noch  keine  Transzendenz;  um  zu  dieser 
Transzendenz  zu  kommen,  müssen  wir  die  Momente  oder  Termini  der 
Unterscheidung  irgendwie  objektivieren,  in  irgend  einem  intelligiblen 
Räume  vor  uns  gegenständlich  hinstellen.  Fichte  hat  die  drohende 
Gefahr,  welche  in  diesem  „natürlichen  Hange  des  Menschen  zum 
objektivierenden  Denken"'9)  liegt,  klar  gesehen  und  ausdrücklich  davor 
gewarnt.  Das  scheint  das  Schwierigste  in  dem  philosophischen  Denken 
zu  sein,  nicht  mehr  zu  denken,  als  die  gemachten  Voraussetzungen 
erlauben.  Dieses  Mehr  kommt  gewöhnlich  auf  Kosten  der  versteckten 
Objektivierung,  mit  der  zu  kämpfen  zuweilen  eine  Unmöglichkeit  ist. 
Zu  dieser  Objektivierung  (per  hiatum  irrationalem  dazu)  haben 
wir  in  unserem  Problemzusammenhange  nicht  nur  keine  Veranlassung, 
sondern  auch  kein  Recht.  Wir  dürfen  die  Geltung  einer  Wahrheit  nur 
ihrer  logischen  Tendenz,  ihrer  transzendentalen  Bestimmung  nach, 
nicht  aber  ihrem  Wesen  nach  vom  Bewußtsein  isolieren;  im  Lichte 
des  Wesensbegriffs,  als  verschiedene  objektive  Qualitäten,  lassen  sich 
beide  nicht  unterscheiden;  bilden  nicht  nur  eine  Einheit,  sondern 
vollständige  Identität.  Nun  hat  aber  diese  absolute  Identität  ver- 
schiedene Bestimmungen  oder  Aufgaben;  einerseits  soll  sie  die  Welt 
in  ihrer  festen  Gesetzlichkeit  und  (nach  Fichte)  in  ihrem  moralischen 
Sinne  konstituieren,  anderseits  aber  die  Konstruktion  im  Lichte  des 
Bewußtseins  vollziehen,  oder  „offenbaren".  Beide  Bestimmungen 
drücken  verschiedene  Relationen  derselben  Einheit  aus  und  nur  in 
dieser  Verschiedenheit  der  Bestimmungsrelation  derselben  besteht  ihre 
Inkommensurabilität  und  ihre  Selbständigkeit.  Wahrheit  und  Be- 
wußtsein sind  also  keine  isolierte,  obgleich  auch  logisicrte,  Wesen- 
heiten, sondern  nur  Richtungen  und  Relationen  an  einem  und  dem- 
selben Wesen  des  absoluten  Wissens;  Richtung  und  Relation  können 
aber  nicht  transzendent,  sondern  höchstens  inkommensurabel  sein. 


59 )  Fichte,  Bericht  über  die  Wissenschaftslehre  und  die  bisherigen  Schick- 
sale derselben.     1806,  Bd.  VIII,  372. 


IL 

Vier  Briefe  über  Beneke. 

Es    ist    bekannt,    daß    Fr.   Ed.   Beneke    der    venia    legendi, 
die  er  an    der    Berliner   Universität    erhalten    hatte,    im  Winter- 
semester  1821/22   verlustig  ging.    Ein   sachlicher  Grund   für   diese 
Maßregelung    wurde    nicht   angegeben.      Eine    Erklärung   des   mit 
der   Strafuntersuchung  gegen   Beneke   betrauten    Regierungsbevoll- 
mächtigten an  der  Berliner  Universität,   des  Geh.  Oberregierungs- 
rates Schultz,   gibt  lediglich  an,   er,   Schultz,   habe  bei  einer  vor- 
läufigen    Durchsicht     von    Benekes     Schrift:     „Grundlegung     zur 
Physik  der  Sitten",   Berlin,  1822,   die  Maßregel  der  Regierung  hin- 
reichend gerechtfertigt   gefunden.      Beneke   und  ihm  Nahestehende 
aber  nahmen  an,  daß  die  eigentliche  Ursache  der  Maßregel  in  einer 
persönlichen   Einwirkung   Hegels    auf   dessen  Freund,    den    Unter- 
richtsminister von  Altenstein,  zu  suchen  sei.  Über  die  dieser  Annahme 
zugrunde  liegenden  Motive  vgl.  Gramzow,  Fr.  Ed.  Benekes  Leben 
und  Philosophie  1899,  S.  24  ff.    Die  Hypothese,  der  große  Lehrerfolg 
seines  „Antipoden"  Beneke  habe  Hegel  dazu  bewegen  können,  den 
Minister  von  Altenstein,  der  vom  alleinigen  und  ausschließlichen  Werte 
der  Hegeischen  Philosophie  durchdrungen  war,  zur  Beseitigung  des 
unangenehmen  Konkurrenten  zu  veranlassen,  wird  von  Kuno  Fischer 
(Hegel,  1.  Teil,  1901  S.  155—157)  bestritten;  indessen  wird  diese  Be- 
streitung nicht  gerade  durch  eine  von  Fischer  in  anderm  Zusammen- 
hange mitgeteilte  Tatsache  gestützt  (a.  a.  0.  S.  154) :  hiernach  hat  Hegel, 
als  in  der  Halleschen  Allgemeinen  Literaturzeitung  eine  seine  Rechts- 
philosophie von  Friesischen  Gesichtspunkten  aus  angreifende  Kritik 
erschienen  war,   als   „preußischer  Beamter"   beim  Ministerium  um 
Schutz  und  Genugtuung  nachgesucht,  woraufhin  Altenstein  der  Re- 
daktion „eine  drohende  Mißbilligung"  zukommen  ließ.    Da  bei  dem 
jedenfalls    rein    persönlich    zu     denkenden    Einflüsse    Hegels    auf 
Altenstein  eine  aktenmäßige  Aufklärung  des  Falles  Beneke  auch  für 
die  Zukunft    kaum    zu    erwarten  ist,    so    dürften    die  nachstehend 


Vier  Briefe  über  Beneke.  27 

abgedruckten  Briefe,  auch  abgesehen  von   der  Person  der  Schreiber, 
nicht  ohne  Interesse  sein. 

Im  Wintersemester  1826/27  wurde  in  Basler  Universitäts- 
kreisen, wohl  auf  Betreiben  des  im  Jahre  1821  von  Berlin  nach 
Basel  berufenen  freisinnigen  Theologen  De  Wette,  die  Schaffung 
eines  philosophischen  Lehrstuhls  an  der  Universität  Basel  und 
dessen  Besetzung  durch  Beneke  in  Erwägung  gezogen.  Die  bei 
diesem  Anlasse  von  Basler  Seite  eingeholten  Auskünfte  hat  vor 
Kurzem  Herr  Staatsarchivar  Dr.  Kudolf  Wackernagel  im  Basler 
Staatsarchiv  aufgefunden  und  dem  Schreiber  dieses  freundlichst 
zur  Verfügung  gestellt. 

Als  communis  opinio  wird  in  diesen  Briefen  die  Ansicht  ausge- 
sprochen, daß  die  Maßregelung  Benekes  letzten  Endes  auf  Hegel 
zurückzuführen  sei.  Schleiermacher  spricht  vorsichtig  von  einem 
Mißfallen  an  seinem  System,  ohne  die  Person,  der  es  mißfiel,  näher 
zu  bezeichnen,  deutlicher  weist  Bouterwek  auf  einen  sophistisch- 
schwärmerischen  Parteigeist  hin,  klarer  noch  drückt  sich  Chamisso 
über  den  Eifer  der  Philosophen  aus,  die  Lehren,  zu  denen  sie  sich 
nicht  bekennen,  schlechthin  zu  verdammen  und  nicht  zu  dulden, 
völlig  unverhohlen  endlich  berichtet  Reiche,  man  hätte  in  Berlin 
allgemein  geglaubt,  Benekes  Opposition  gegen  die  dort  viel  geltende 
Hegeische  Philosophie,  als  deren  Antipoden  er  sich  mündlich  und 
schriftlich  darstellte,  habe  ihm  sein  Schicksal  zugezogen. 

(An  Professor  Röper.) 

Über  Ihre  glückliche  Ankunft,  werthgeschätzter  Freund,  in  dem 
dortigen  schön  aufblühenden  Musensitze  freue  ich  mich  herzlich.  Sic 
sind  nun  Bewohner  eines  Landes,  dessen  bloßer  Name  die  Phantasie 
eines  Nordteutschen  in  eine  angenehme  Spannung  versetzt,  in  der 
Nähe  so  mancher  Glanzpuncte  unsers  Planeten,  \Tom  herrlichen 
Hesperien  nur  durch  ein  Meer  von  Naturscenen  der  sanftesten  und 
wildesten  Art  getrennt,  wo  es  zwar  Acroceraunia  giebt,  aber  keinen 
Schiffbruch.  Wie  erwachen  alle  meine  Erinnerungen  aus  Italien  und 
der  Schweiz.  Daliin!  Dahin!  Auch  müssen  Sie  wissen,  ist  es  zwischen 
Ihrem  Hl  Vetter  Zurnedden  und  mir  beschlossen,  Sie  recht  bald  dort 
zu  besuchen,  und  da  werden  Sie  mit  uns  nach  den  Hochalpen  und 
nach  Straßburg  ziehen!  —  Ich  höre,  Sie  haben  den  edlen  Kabrikherrn 
in  Thann  besucht,  und  glückliche  Stunden  in  der  F?milie  zugebracht. 


28  Vier  Briefe   über  Beneke. 

Es  thut  mir  leid,  daß  ich  nicht  wußte,  daß  „Oncle  Fritz"  jetzt  dort  ist; 
ich  würde  Ihnen  sonst  herzliche  Grüße  an  ihn  mitgegeben  haben.  Es 
ist  ein  alter  sehr  theurer  Jugendfreund  von  mir.  Zuletzt  sah  ich  ihn 
in  Marseille  vor  4  Jahren,  als  er  sich  jüngst  dort  etabliert  hatte. 

Im  Drange  vieler  Geschäfte  muß  ich  mich  leider  heute  darauf 
beschränken,  Ihre  Fragen  wegen  H.  Dr.  Beneke  zu  beantworten. 
Sein  bereits  dreijähriger  Aufenthalt  in  Göttingen,  die  persönliche 
Bekanntschaft  mit  ihm,  und  mit  mehreren  seiner  Bekannten,  setzt 
mich  in  den  Stand,  Ihre  Anfragen  in  der  Hauptsache  zu  befriedigen. 
Der  Dr.  Beneke  (Friedrich  Eduard  wenn  ich  nicht  irre)  ist  gebürtig 
aus  Berlin,  wo  sein  Vater  Regierungsfiscal  und  Justizcommissarius 
war.  Seine  Mutter  ist  eine  Schwester  des  durch  vortreffliche  Er- 
ziehungsschriften bekannten  Wilmsen,  Prediger  in  Berlin,  Verfasser 
des  Kinderfreundes,  der  kürzlich  die  80.  Auflage  erlebt  hat.  Auch 
der  vor  einigen  Jahren  verstorbene  berühmte  Kanzelredner  Probst 
Hanstein  war  sein  Oheim.  Er  ist  reformierter  Konfession  und  steht 
im  30.  Lebensjahre.  Mehrere  Jahre  studierte  er  Theologie  in  Halle 
und  Berlin,  widmete  sich  aber  nachher  der  Phi'osophie,  zum  Theil 
deswegen,  weil  er  als  Freiwilliger  den  Feldzug  von  1815  mitgemacht 
hatte.  Er  habilitierte  sich  als  philosophischer  Privatdozent  in  Berlin 
im  Jahre  1820,  mit  Verteidigung  einer  Abhandlung  de  veris  philosophiae 
initiis  Berol.  1820.  In  Berlin  schon  hatte  er  als  Privatdozent  be- 
deutenden Beifall,  und  mehremale  gegen  40  Zuhörer;  sein  Vortrag 
war  als  schön  bekannt,  wie  ich  von  einem  dort  Studierenden  weiß. 
Noch  in  Berlin  erschienen  von  ihm  folgende  Schriften: 

1.  Erkenntnislehre  nach  dem  Bewußtsein  der  reinen  Vernunft 
in  ihren  Grundzügen  dargelegt.    1820. 

2.  Erfahrungs-Seelenlehre  als  Grundlage  alles  Wissens.    1820. 

3.  Die  genannte  Inauguraldissertation  de  veris  philosophiae 
initiis. 

4.  Grundlegung  zur  Physik  der  Sitten  —  mit  einem  Anhange  über 
das  Wesen  und  die  Erkenntnisgrenzen  der  Vernunft.   1822. 

5.  Neue  Grundlegung  zur  Metaphysik,  Programm.   1822. 

6.  Schutzschrift  für  meine  Physik  der  Sitten.  1823. 

7.  Beiträge  zu  einer  rein  seelenwissensohaftlichen  Bearbeitung 
der  Seelenkrankheit-Kunde.    1824. 

Die  nun  folgenden,  meistenteils  größeren  Werke,  wurden  von  ihm 
zu  Göttingen  ausgearbeitet: 


Vier  Briefe  über  Benekö.  29 

8.  Skizze  zur  Naturlehre  der  Gefühle.    Erster  Band  1825.    Am 
zweiten  Bande  wird  gegenwärtig  gedruckt. 

9.  Allgemeine  Einleitung  in  das  akademische  Studium.  1826.  — 
Über  dies  Werk  hielt  er  Vorlesungen  hier  in  Göttingen. 

10.  Über  das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib.  1826 
Außerdem  lieferte  er  mehrere  Recensionen  zum  Hermes,  wovon 

ich  namentlich  die  Rezension  vonJakobi's,  des  Philosophen,  Werken 
kenne,  im  XV.  Bande,  auch  zu  der  Jenaischen  Litteratur-Zeitung, 
zu  den  Göttinger  gelehrten  Anzeigen;  auch  sind  mehrere  ausführliche 
Rezensionen  in  den  Wiener  Jahrbüchern  der  Litteratur  mit  seinem 
Namen  unterschrieben,  besonders  in  den  letzten  Bänden.  Auch  arbeitet 
er  an  der  Nasse'schen  Zeitschrift  für  psychische  Ärzte  und  für  Anthropo- 
logie. _  Seine  große  schriftstellerische  Tätigkeit  ließe  sich  kaum  er- 
klären, wenn  er  nicht  einen  eisernen  Fleiß  und  sehr  schnelle  Fassungs- 
gabe besäße.  Im  Jahre  1822  wurde  ihm  vom  Curatorium  das  Lesen 
einstweilen  untersagt,  nicht  absolut.  Dabei  lag  übrigens  nicht 
die  geringste  politische  Veranlassung  zum  Grunde.  Daß  man  weder 
gegen  sein  Betragen  noch  gegen  seine  Gesinnungen  etwas  habe,  darüber 
erteilte  ihm  das  Universitäts-Curatorium  eine  schriftliche,  vom 
Minister  Altenstein  unterzeichnete  Erklärung,  mit  der  Erlaubnis, 
davon  Gebrauch  zu  machen,  und  mit  dem  ausdrücklichen  Zusätze, 
man  wünsche  ihn  herzlich  auch  mit  seiner  äußeren  Lage  zufrieden 
zu  sehen.  Ich  habe  dieses  Rescript  selbst  gesehen.  Als  einziger  Grund 
werden  darin  seine  (damals  allerdings  wohl)  noch  nicht  völlig  gereifte 
philosophische  Ansichten  angegeben.  Man  glaubt  allgemein,  daß 
seine  Opposition  gegen  die  dort  viel  geltende  Hegeische  Philosophie, 
als  deren  Antipoden  er  sich  mündlich  und  schriftlich  darstellte,  ihm 
jenes  Schicksal  zugezogen.  Von  Berlin  begab  er  sich  hierher.  Hier  in 
Göttingen  waren  bis  jetzt  seine  Vorlesungen  nicht  so  besucht  wie  in 
Berlin;  dies  war  auch  bei  dem  entschiedenen  Beifall  von  Hofrat 
Bouterwek  und  Hofrat  Schulze  nicht  zu  verwundern,  vielmehr  voraus- 
zusehen. Er  las  indeß  mit  wenigen  Unterbrechungen,  und  zwar  Logik. 
Psychologie,  Einleitung  ins  akademische  Studium,  und  Moral  zu 
wiederholten  Malen.  Wenn  er  in  der  letzten  Zeit  weniger  las,  so  ge- 
schah es,  um  sich  mit  schriftstellerischen  Arbeiten  ungestörter  zu  be- 
schäftigen. Hier  in  Göttingen  arbeitete  er  sein  größtes  Werk:  Psycholo- 
gische Skizzen  aus,  welches  ich  genauer  kenne,  und  welches  zwar  wegen 
mancher  eigentümlichen  Ansichten  und  manches  Widerspruchs  gegen 


30  Vier  Briefe  über  Beneke. 

beliebte  Zeitvorstellungen  wohl  keinen  allgemeinen  Beifall  erhalten 
wird,  aber  ohne  Zweifel  des  Neuen  und  gründlich  Durchdachten  sehr 
Vieles  enthält;  wie  es  denn  meiner  Meinung  nach  die  Aufmerksamkeit 
der  Forscher  sehr  auf  sich  ziehen  wird. 

Daß  er  in  seinen  Schriften  etwas  gegen  die  Religion  gesagt  habe, 
kann  wohl  niemand  behauptet  haben ;  vielmehr  giebt  er  dem  religiösen 
Gefühl  sich  oft  hin,  und  ist  deswegen  ein  großer  Verehrer  des  so 
frommen  Philosophen  F.  H.  Jakobi,  dessen  Manen  sein  neuestes  Werk 
dediciert  ist.  Mir  als  Lutheraner  konnte  seine  philosophische  Ansicht 
von  der  Freiheit  etwas  zu  reformiert  d.  h.  deterministisch  scheinen; 
aber  dieser  Streit  betrifft  ja  bekanntlich  nur  die  Schule  und  Speculation, 
nicht  die  Religion  und  das  Leben.  —  Sein  Lebenslauf  ist  durchaus  un- 
tadelig, selbst  musterhaft,  worüber  nur  eine  Stimme.  Daß  er  selbst 
kirchlich-religiös  ist,  schließe  ich  daraus,  daß  er  ein  großer  Verehrer 
unseres  vortrefflichen  Universitätspredigers  Ruperti  ist,  und  selten 
dessen  Predigten  versäumt.  Sein  Umgang  ist  liebevoll  und  geistreich, 
doch  den  kennen  Sie  ja. 

Ich  habe  Ihnen,  theuerster  Freund,  von  dem  Mann  gesagt,  was 
ich  weiß,  und  was  ich  verbürgen  kann.  Der  Brief  ist  darüber  ein  wenig 
lang  geworden.  Noch  einmal  meinen  herzlichsten  Wunsch,  daß  Wissen- 
schaft, Natur,  Kunst  und  Zusammensein  mit  edlen  Menschen  ihren 
Himmel  Ihnen  bereiten;  einen  Wunsch,  dessen  Erfüllung  Ihre  Freunde 
mit  Zuversicht  voraussehn  können.  Seyn  Sie  nur  nicht  zu  glücklich, 
und  vergessen  Deutschland  ganz  und  zugleich 

Ihren 

Göttingen,  den  27.  Januar  1827.  G.  Reiche. 

Herrn  Professor  J.  Roeper,  Wohlgeb. 
frei  Basel. 

Mein  sehr  theurer  Freund, 

ehedem  stimmten  die  Theologen  abweichender  Schulen  darin 
überein,  daß  die  Anhänger  irriger,  d.  i.  anderer  als  eben  der  Lehren, 
zu  denen  sie  sich  bekannten,  schlechthin  zu  verdammen  seien,  und 
nicht  zu  dulden.  An  die  Stelle  der  Theologen  sind  nun  die  Metaphysiker 
getreten,  und  sie  sind  eines,  wo  nicht  gleichen,  so  doch  gewiß  ähnlichen 
Eifers  nicht  frei  zu  sprechen.  Dem  Fichte  galt  Schellings  Philosophie 
für  ein  Verwerfliches,  absolut  Schlechtes,  nicht  zu  Duldendes,  und 


Vier  Briefe  über  Beneke.  3] 

Fichte  „war  ein  ehrenwerther  Mann".  Im  Wechsel  der  Philosophien 
besteht  indeß  die  Philosophie,  nur  träumt  jeder,  der  den  Strom  hinab 
wallt,  die  Ufer  flögen  an  ihm  vorüber,  und  an  selbiger  Stelle,  wo  er 
war,  macht  schon  eine  neue  Welle  den  Strom  aus.  Ich  habe  den  Dr. 
Beneke  nicht  genauer  gekannt,  wohl  aber,  wie  jeder  Mann,  Antheil  an 
dem  Ereignis  genommen,  als  ihm,  der  Rechte,  die  er  sich  erworben 
ungeachtet,  ferner  an  hiesiger  Universität  zu  lesen  verwährt  wurde. 
Er  hatte  sich  in  dem  Gebiete  des  Denkens  seinen  eigenen  freien  Weg 
gebahnt,  und  jener  befremdende  Schritt  wurde  dem  Einfluß  einer 
philosophischen  Schule  zugeschrieben,  die  sich  in  Besitz  der  Vorrechte 
einer  allein  selig  machenden  Kirche  zu  setzen  gewußt.  Solche  feind- 
liche Beachtung  eines  sonst  achtbaren  und  nur  geachteten  Mannes 
schien  Vielen  mehr  jener  Schule  als  ihm  zum  Vorwurf  gereichen  zu 
sollen.  Ich  entlehne  im  Übrigen  über  den  Dr.  B.  die  Stimme  eines 
betagteren  Richters  als  ich. 

S.  V.  b.  e.  z.  v. 
Berlin,  14.  Feb.  1827.  Anissimus 

D.  Adelbert  v.  Chamisso. 

An 
Herrn  von  Chamisso,  Hochwohlgebohren. 

Herr  Prediger  Wilmsen  hat  mir  gesagt  Sie  wünschen  in  ein  Paar 
Zeilen  meine  Meinung  über  den  jetzt  in  Göttingen  sich  aufhaltenden 
Dr.  Beneke  zu  erfahren.  Was  nun  seine  philosophische  Denknngsart 
betrifft  so  liegt  diese  so  weit  sie  sich  bis  jetzt  entwickelt  hat,  in  seinen 
Schriften  zu  Tage,  und  ich  enthalte  mich  um  so  mehr  etwas  darüber 
zu  sagen  als  mir  überhaupt  das  was  die  verschiedenen  philosophischen 
Schulen  als  solche  von  einander  unterscheidet  ziemlich  gleichgültig  ist. 
Indeß  scheint  mir  das  schon  immer  sehr  beachtenswert!].,  daß  er  sich 
seinen  eigenen  Weg  gebahnt  hat,  so  wie  mir  auch  in  seinen  Schriften 
ein  ausgezeichnetes  Bestreben  vorzuwalten  scheint,  die  Gedanken, 
worauf  es  ankommt  zur  Anschaulichkeit  zu  bringen.  Könnte  man  nun 
aus  dieser  Seite  seiner  Schriften  einen  Schluß  auf  sein  Lehrtalent 
machen:  so  würde  ich  von  demselben  das  beste  hoffen,  und  das  thue 
ich  auch  in  bezug  auf  diesen  sehr  wesentlichen  Punkt.  Mehr  aber 
wage  ich  auch  nicht  zu  sagen,  da  er  hier  als  Privatdocenl  zu  kurze 
Zeit  gewesen  ist,  als  daß  ich  ihn  in  dieser  Hinsicht  beurtheilen  könnte. 


32  Vier  Briefe  über  Beneke. 

In  Göttingen  hat  es  ihm  nicht  gelingen  wollen  sich  dauernd  Zuhörer 
zu  verschaffen;  indessen  ist  dabei  sehr  viel  auf  die  dortige  Art  und 
Weise  des  Studierens  zu  rechnen,  und  wenigstens  müßte  ich  in  seiner 
Persönlichkeit  keinen  Grund  dazu  aufzufinden. 

Von  Seiten  seines  sittlichen  Charakters  und  seiner  Führung  ist 
er  mir  nur  vorteilhaft  bekannt.  Das  Ministerium  hat  ihm  hier  auf 
eine  der  gewöhnlichen  Praxis  ganz  zuwiderlaufende  Art  das  Recht 
Vorlesungen  zu  halten  genommen.  Die  Gründe  dazu  sind  nie  meines 
Wissens  weder  ihm  selbst  noch  der  Universität  angegeben  worden; 
allgemein  aber  hat  man  sie  in  einem  Mißfallen  an  seinem  System 
gesucht,  und  notorisch  ist  wenigstens  daß  dies  Verfahren  auf  keine 
Weise  mit  dem  was  man  demagogische  Umtriebe  genannt  hat  oder 
überhaupt  mit  Theilnahme  an  verbotenen  Verbindungen  zusammen- 
hängt. So  daß  auch  von  dieser  Seite  nichts  im  Wege  steht  daß  ihm 
nicht  irgendwo  wieder,  wie  ich  es  ihm  von  Herzen  wünsche,  ein 
Wirkungskreis  als  Lehrer  könnte  eröffnet  werden. 

Es  freut  mich  Ihnen  bei  dieser  Gelegenheit  die  Versicherung 
meiner  aufrichtigen  Hochachtung  erneuern  zu  können. 

12/2.  27.  Schleiermacher. 

An  Herrn  Rud.  Merian,  Wohlgeb. 

Auf  die  an  mich  ergangene  Anfrage,  den  hiesigen  Privatlehrer 
der  Philosophie,  H.  Doctor  Beneke  betreffend,  habe  ich  die  Ehre  zu 
erwiedern,  daß  ich  diesen  achtungswerthen  Mann,  den  ich  noch  durch 
persönlichen  Umgang  näher  kennen  zu  lernen  Gelegenheit  gehabt 
habe,  zu  den  vorzüglichsten  unserer  neuern  Selbstdenker  zähle.  Über 
das  Eigenthümliche  seiner  aus  seinen  Schriften  bekannten  Philosophie 
erlaube  ich  mir  hier  kein  Urteil,  da  unsere  Systeme  in  mehreren  nicht 
unwesentlichen  Punkten  von  einander  abweichen,  und  die  Halt- 
barkeit eines  Systems  im  Streite  der  Meinungen  sich  doch  zuletzt  an 
der  allgemeinen  Menschenansicht  erproben  muß.  Aber  der  helle 
und  rasche  Forschungsgeist  des  H.  Dr.  Beneke  kann,  wie  ich  glaube, 
sehr  wohltätig  auf  unser  Zeitalter  mitwirken,  um  die  Fortschritte 
eines  sophistisch-schwärmerischen  Parteigeistes  zu  hemmen,  der  ihn 
von  Berlin  verscheucht  hat.  Was  sein  Docententalent  betrifft,  weiß 
ich  nur,  daß  er  schon  in  Berlin  mit  Beifall  aufgetreten  seyn  soll. 

Göttingen,  den  11.  Februar  1827.  Bouterwek. 


III. 

Alfred  Fouillee 

par  Rene  Worms-Paris. 

Comme  les  plus  illustres  sociologues  contemporains,  Alfred 
Fouillee  etait  venu  ä  la  sociologie  par  la  philosophie.  Depuis  1864, 
il  avait  enseigne  la  philosophie  dans  differentes  chaires,  dont  la  plus 
elevee  fut  celle  de  TEcole  Normale  Superieure.  II  a  consacre  de  nom- 
breux  ouvrages  ä  des  questions  de  philosophie  proprement  dite. 
Citons  notamment  ses  livres  sur  Socrate,  sur  Piaton,  sa  these  de  doc- 
torat  sur  1  a  liberte  et  1  e  d  e  t  e  r  m  i  n  i  s  m  e.  II  s'y  montre 
desireux  de  concilier  les  deux  theories  opposees :  ses  preferences  scienti- 
fiques  sont  pour  le  determinisme ;  niais  il  croit  utile,  pour  la  morale, 
de  maintenir  quelque  chose  de  la  liberte:  ce  sera,  non  pas  le  libre- 
arbitre,  mais  l'idee  de  notre  liberte;  celle-ci,  presente  dans  notre 
esprit,  suffira  pour  nous  donner  une  independance  relative  en  face 
des  impulsions  etrangeres.  Citons  encore  sa  Critique  des 
systemes  de  morale  contemporains,  ses  livres 
sur  Nietzsche,  sur  Kant,  sur  L  e  mouvement  positiviste, 
sur  L  e  mouvement  i  d  e  a  1  i  s  t  e  ,  sur  Les  n  o  u  v  e  1 1  e  s 
ecoles  anti-intellectualistes.  Ici  aussi,  comme 
precedemment,  il  se  montre  .preoccupe  de  faire,  dans  son  appreciation 
de  chaque  theorie,  des  parts  equitables  ä  l'eloge  et  ä  la  critique. 

On  ne  s'etonnera  pas  de  trouvcr  la  meine  tendance  dans  les 
Berits  sociologiques  sortis  de  sa  plume.  Plusieurs  sont  devenus 
classiques.  Dans  La  science  sociale  contemporaine, 
il  cherche  une  definition  du  lien  social;  Jean- Jacques  Rousseau 
voyait  dans  la  societe  humaine  le  produit  d'un  contrat;  Herbert 
Spencer  jugeait,  au  contraire,  qu'elle  se  forme  ä  la  maniere  des  or- 
ganismes  naturels;  Alfred  Fouillee  fusionne  ces  deux  coneeptions 
en  appelant  la  societe  un  ,,organisme  contractuel" :  sclon  lui,  eile 
naitrait  suivant  des  procedes  organiques,  et  se  deve'opperait  en- 
suite  d'apres  des  procedes  contractuels.  Cette  vue  synthetique 
a  r^uni  beaueoup  de  suffrages.  Son  auteur  a  aborde,  dans  im  esprit 
analogue,  d'autres  grands  problemes  sociologiques.     Dans  son  livre 

Archiv  für  Oosrhiclito  dor  Philosophie.     XXVI.  t.  ;; 


34  Rene  Worms,    Allred   Fouillee. 

sur  L'i  cl  e  o  du  droit,  il  a  muntre  que  le  droit  est  generale- 
ment  concu,  en  Allemagne,  comme  derivant  de  la  force;  en  Angle- 
terre,  comme  reposantsur  i'utilite;  en  France,  comme  ne  de  l'equite; 
et  il  a  fait  voir  ce  qu'il  y  a  de  legitime  dans  ces  trois  conceptions. 
Pareillement,  dans  L  a  p  r  o  p  r  i  e  t  e  sociale  et  1  a  d  e  m  o  - 
c  r  a  t  i  e  ,  il  a  reconnn  I'utilite  sociale  de  la  propriete  individuelle, 
mais  en  memo  temps  proelame  l'origine  sociale  du  droit  dos  proprie- 
taires  et  etabli  leurs  dette  envers  la  eollectivite.  Dans  Le  so- 
cia  lisme  et  la  sociologie  reformiste,  il  s'est 
montre  fort  democrate,  mais  oppose  ä  tonte  violence  revolutionnaire. 
Ou  doit  encore  ä  sa  plume  feconde  de  nombreux  essais  de  psychologie 
sociale,  intitules  notamment :  T  e  m  p  e  r  a  m  e  n  t  et  c  a  r  a  c  - 
1  e  r  e  ,  P  s  y  c  h  o  1  o  g  i  e  d  u  p  e  u  p  1  e  f  r  a  n  c  a  i  s  ,  L  a 
F  r  a  n  c  e  a  u  p  o  i  n  t  d  e  v  u  e  m  oral,  E  s  q  u  i  s  s  e  p  s  y  - 
c  h  o  1  o  g  i  q  u  e    des    p  e  u  p  1  e  s    e  u  r  o  p  e  e  n  s. 

11  souhaitait  que  la  philosophie  se  renoväi  par  l'apport  des 
donnees  scientifiques.  De  la  son  livre  intitule:  L'avenir  de  la 
m  e  t  a  p  h  y  s  i  q  u  e  f  o  n  d  e  e  s  u  r  l'e  x  p  e  r  i  e  n  c  e.  Et  ces 
donnees,  elles  devaient  surtout  venir,  dans  sa  pensee,  des  sciences 
sociales.  Par  exemple,  il  considerait  que  les  concepts  devaient  etre 
etudies,  moins  en  eux-memes,  que  dans  leur  action  exterieure,  dans 
leur  vie  ä  travers  L'humanite.  Les  idees,  suivant  lui,  sont  des  forces 
agissantes;  ce  sont  des  idees-forces.  (  'est  en  paxtant  de  la  qu'il  a 
esquisse  un  nouvel  evolutionnisme,  une  nouvelle  psychologie,  une 
nouvelle  morale. 

Comme  on  le  voit,  son  oeuvre  est  tres  etendue  et  tres  diverse. 
Elle  est  aussi  fort  concüiante,  fort  synthetique.  Elle  est  enfin  tres 
claire,  quoique  vraiment  savante.  On  comprend  donc  aisement  qu'elle 
nit  eu  un  succes  considerable  1).  Alfred  Fouillee  etait  le  plus  lu  des 
philosophes  et  des  sociologues  francais  vivants.  II  etait  depuis  long- 
temps  membre  de  1' Institut  de  France  et  de  nombreuses  Academies 
etrangeres;  il  avait  ete  president  de  PInstitut  International  de  Socio- 
logie.  Son  activite  intellectuelle  etait  restce  tres  grande,  jusqu'a 
la  veille  de  sa  mort,  survenue  ä  74  ans.  (  'est  une  personnalitö  clevee 
et  attachante  qui  vient  de  disparaitre. 

J)   A   son   action   propre,   il  faui    rettacher  Celle  qu'a   exercee   l'oeuvre 
de  J.-M.   Guyau,    le   fils  adoptif  de    FouilI6e. 


IV. 

War  Nietzsche  Pragmatist? 

Von 
W.  Eggenschwyler  in  Turin. 

Das  mußte  komme  n !  —  Dom  Fleiß  der  philosophischen  Systema- 
tiker und  literarhistorischen  Klassifikatoren  ist  es  endlich  gelungen, 
den  ursprünglichsten  und  unabhängigsten  deutschen  Denker,  den 
Zweifler  unter  den  Zweiflern,  Friedrich  Nietzsche  in  eine 
Schule  und  Partei  einzureihen,  und  seine  persönlichsten  und  originell- 
sten Gedankengänge  „historisch  zu  erklären",  von  seinem  Milieu, 
seinen  Vorgängern  und  seiner  Lektüre  restlos  —  a  b  z  u  1  e  i  t  e  n.  - 
Mit  ebensoviel  Scharfsinn  als  geschickt  geordnetem  Quellenmaterial 
versucht  in  seinem  kürzlich  erschienenen.  Buch  ,,U  n  Rom  a  n  t  i  s  m  e 
Utilitaire,  e*  t  u  cl  e  s  u  r  1  e  m  o  u  v  e  m  e  n  t  p  r  a  g  m  a  - 
tiste"  einer  der  besten  Nietzschekenner  des  Auslands,  Rene  Ber- 
t  h  e  Lot,  den  Nachweis,  daß  Nietzsche  in  der  Hauptsache  ein  Vor- 
kämpfer des  in  den.  letzten  Jahren  zu  so  hohem  Ansehen  gelangten 
—  Pragmatismus  gewesen  sei,  jener  ungemein  praktischen 
Philosophie  des  geringsten  Kraftaufwands,  die  die  Erkenntnis  gänz- 
lich dv\-  Opportunität,  der  Moral  und  Theologie  unterordnet  und  die 
„Brauchbarkeit"  einer  Lehre  als  einziges  Kriterium  ihrer  Wahrheit 
gelten  läßt. 

Ein  verwegenerer  Versuch  der  Klassifikation  um  jeden  Preis, 
der  „Ableitung"  eines  Genies  aus  seinen  Vorgängern  und  Lehrern 
dürfte  gewiß  schwer  zu  linden  sein.  Mit  Recht  wendet  in  der„B  e  \  u  e" 
(vorm.  „Revue dfis  Revues")  der  bekannte  Journalisl  Em  i  Le  Faguet 
dem  Verfasser  ein,  auf  Nietzsche  sei  diese  bequeme  Schulmethode 
nicht  anwendbar,  weil  er  „mehr  als  Quelle  als  als  Derivat"  zu  nehmen 
sei;  —  was  hei  ihm  etwa  an  die  deutsche  Romantik  oder  an  die  eng- 
lischen Utilitaristen  ä  la  Spencer  und  Mill  anklinge,  habe  in  Nietzsches 

3 


h6  \Y.   "Esgenschwvler. 


— 


Händen  eine  zu  tiefgreifende  Umwandlung  erfahren,  als  daß  man  es 
als  einen  Ausfluß  seiner  Lektüre  auffassen  dürfe:  insbesondere  sei 
sein  ..Romantisraus"  wohl  weit  mehr  seinem  dichterischen  Tempera- 
ment zu  verdanken,  als  —  wie  Berthelot  will  —  seiner  romantischen 
Lektüre ! 

„Nietzsche  a  v  a  i  t  s  u  b  i  t  r  e  s  profondement 
l'influence  du  romantisme  allem  and  et  speciale- 
ment  Celle  de  la  poesie  romantique,"  schreibt 
Berthelot.  ..Fondant  1  a  n  o  t  i  o  n  de  v  i  e  q  u  '  i  1  d  e  v  a  i  t 
aux  romantiques  et  celle  qu'il  rencontrait 
chez  les  biologistes  derwiniens,  Nietzsche  se 
forma  du  developpement  de  1  a  v  i  e  u  n  e  i  d  e  e 
plus  complexe;  qu'il  e  s  s  a  y  a  de  f  i  g  n  r  e  r  d  a  n  s 
le  symbole  lyrique  du  „surhomme",  c-ä-d.  de 
l'etre  chez  lequel  s'epanouira  le  plus  com- 
pletement  1  a  p  u  i  s  s  a  n  c  e  de  v  i  v  r  e  .  e  n  p  r  e  n  a  n  t 
ä  1  a  f  o  i  s  c  e  mot  d  a  n  s  1  e  s  e  n  s  romantique  et 
dans   le  sens   darwinie  n.' ' 

Das  Unzulängliche  einer  solchen  Ableitunssmethode  springt  in 
die  Alicen.  Dieselbe  mag  als  literarhistorische  Schulmethode  viel 
Gutes  haben,  besonders  gegenüber  solchen  Schriftstellern,  deren 
Originalität  das  mittlere  Maß  nicht  übersteigt,  und  deren  Lebens- 
werk von  Anfang  bis  Ende  eine  Grundidee  als  ..Leitmotiv  durch- 
zieht. Wie  wenig  das  für  Nietzsche  zutrifft,  dürfte  ohne  weiteres  ein- 
leuchten. 

Aus  demselben  Grund  führt  die  von  Berthelot  zur  Klassifikation 
Nietzsches  aus  seinem  Ideenschatz  herausgegriffene  Grundidee, 
daß  das  Leben  wichtiger  sei.  als  das  Philoso- 
phieren, notwendig  zu  einer  argen  Einseitigkeit  Dieselbe  nimmt 
in  Nietzsches  "Welt-  und  Lebensanschauung  durchaus  keine  wichtigere 
Stelle  ein  als  hundert  andere  sog.  ..Leitmotive**,  die  dem  so  heraus- 
konstruierten Pragmatismus  aufs  entschiedenste  widersprechen. 
Berthelots  Behauptungen,  Nietzsche  sei  der  .. Champion  le  plus 
intransigeant  peut-etre  du  paradoxe  pragmatiste",  man  atme  bei 
ihm  von  Anbeginn  ..die  Atmosphäre,  aus  der  später  durch  Konden- 
sation der  Pragmatismus  entstanden  sei'*,  der  ..Wille  zur  Macht" 
sei  eine  systematische  Darlegung  desselben  usw..  werden  daher  noch 
manches  Kopfschütteln  veranlassen. 


War   Nietzsche   Praematist?  37 


o 


Berthelot  stützt  seine  Theorie  auf  die  weitgehende  Analogie 
zwischen  der  Erkenntnistheorie  Nietzsches  und  der  Vernunftkritik. 
die  William  James  seinem  „Pragmatismus"  voranschickt.  Bei  James 
heißt  es  dem  Sinn  nach  etwa  folgendermaßen:  Die  „Wahrheit"  existiert 
nicht  außerhalb  unseres  Denkens  (die  Zweideutigkeit  des  Satzes  wird 
niemand  entgehen!);  wir  nennen  Wahrheit  gewisse  unserer  Über- 
zeugungen ;  dieselben  sind  aber  nicht  Überzeugungen  reiner  Vernunft- 
wesen, sondern  von  fühlenden,  wünschenden  und  wollenden  Personen. 
Somit  tragen  auch  diese  Glaubenssätze  den  Stempel  unserer  Gefühle, 
Wünsche  und  Wollungen.  —  Die  „Wahrheit"  existiert  nirgends;  es 
existieren  nur  W  ahrheiten,  in  deren  Bejahung  immer  unbe- 
wiesene Postulate  mit  hineinspielen.  So  sehr  auch  diese  Beobachtungen 
mit  den  Betrachtungen  Nietzsches  über  die  „Herkunft  der  Logik", 
über  den  „Ursprung  der  Erkenntnis"  usw.  übereinstimmen,  so  steht 
doch  James  im  ganzen  p  o  s  i  t  i  v  e  n  Teil  seiner  Lehre  zu  dem  an 
Nichts  glaubenden  Nietzsche  im  schroffsten  Gegensatz. 

Gemeinsam  ist  beiden  der  Ausgangspunkt:  Eine  entschiedene 
Ablehnung  des  alten  Rationalismus,  der  im  Menschen  ein 
rein  logisches  Geschöpf  sah  und  das  ganze  Triebleben  ins  Bewußte 
übersetzen  und  gewissermaßen  „wissenschaftlich  organisieren"  und 
nachkonstruieren  wollte. 

Beide,  Nietzsche  und  James,  beginnen  ihre  Lehre  mit  der  Fest- 
stellung der  unentrinnbaren  Gewalt  der  Gefühle,  Wünsche,  Vorurteile. 
Gewohnheiten,  kurz  der  unbewußten  Sphäre  unserer  Psyche  über 
unser  gesamtes  Denken  und  Wollen;  beide  halten  die  menschliche 
Vernunft  noch  für  zu  jung  und  zu  unerfahren,  als  daß  sie  uns  in  den 
meisten  Lebenslagen  ein  sichererer  Führer  sein  könnte,  als  der  seit 
Jahrtausenden  eingeübte  Instinkt  es  ist.  Im  Gegensatz  zu  dem 
weit  verbreiteten  rationalistischen  Vorurteil,  daß  die  Kenntnis  der 
objektiven  Wahrheit  dem  Menschen  in  allen  Fällen  nützlicher 
sein  müsse,  als  der  Irrtum,  bestehen  sie  beide  auf  der  Notwendigkeit 
vieler  Illusionen  und  scheuen  sich  nicht,  den  Nützlichkeitswert  der 
Wahrheil  selbst  in  Präge  zu  stellen.  —  wenn  auch  von  zwei  grund- 
verschiedenen Gesichtspunkten  aus.  —  ..Wenn  die  Illusion  dem  Leben 
unter  Umständen  nützlicher  ist,  als  die  Wahrheit,  weshalb  halten 
wir  denn  unbedingt  an  der  Wahrheit  fest?  Weshalb  nicht  lieber  am 
Irrtum?"  —  l);is  Weitere  wird  uns  zeigen,  wie  sehr  Nietzsche  und 
James  in  der  Antwort  von  einander  abweichen. 


38  W.  Eggenschwyler, 

Die  Übereinstimmun.g  hört  jedoch  vollständig  auf,  sobald  die 
beiden  Denker  von  der  bloßen  Kritik  der  landläufigen  Erkenntnis- 
lehre zum  aufbauenden,  positiven  Teil  ihrer  Lehre  übergehen, 
und  zur  so  getadelten  Irrationalität  des  Menschen  Stellung 
n  e  h  m  e  n.  Gemeinsam  ist  ihnen  lediglich  der  kritische,  negative 
Teil  ihrer  Philosophie;  denn  während  sich  bei  James  die  gerügte 
Irrationalität  des  Menschen  alsbald  in  ein  „Du  sollst",  in  eine  moralische 
Vorschrift  verwandelt,  —  nach  dem  Satz:  Niemand  ist  rein  objektiv, 
seien  wir  also  bewußt  subjektiv!—  hält  Nietzsche  der  „in- 
tellektuellen Reinlichkeit"  zuliebe  durchaus  am  Ideal  einer  möglichst 
objektiven  und  unparteiischen  Erkenntnis  fest,  —  Als  guter  Theologe 
schließt  James  aus  der  Unvollkommenheit  der  reinen  Vernunft 
sofort  auf  die  —  Vollkommenheit  der  Unreinen, 
das  heißt  der  traditionellen  Dogmen  und  Vorurteile.  An  Stelle  der 
Feststellung,  der  Mensch  sei  (leider)  nie  ganz  objektiv,  läßt  er  durch 
eingewandtes  Taschenspielerstück  unversehens  das  moralische  Postulat 
treten:  Der  Mensch  soll  subjektiv  urteilen,  soll  schöne  Gefühle 
für  Argumente  und  starke  "Überzeugungen   für  Wahrheiten  halten! 

Scheinbar  finden  wir  zwar  auch  bei  Nietzsche  da  und  dort  einen 
Anklang  an  diese  Lehre  (besonders  da,  wo  er  sich  über  die  Objektivität 
der  „wissenschaftlichen  Asketen"  lustig  macht!),  doch  ist  zu  be- 
merken, daß  es  sich  dabei  niemals  um  eine  Erkenntnistheorie,  sondern 
stets  nur  um  Ratschläge  fürs  praktische  Leben  handelt.  Das  Eigen- 
tümliche an  Nietzsche  ist  eben  gerade,  daß  er  Lebensweisheit  und 
Erkenntnislehre  streng  auseinanderhält,  und  uns  für  beide  ganz 
getrennte  und  zum  Teil  widersprechende  Rezepte  gibt.  Die  Dichtung 
vom  „Übermenschen",  der  im  Unterschied  zum  modernen  Gelehrten 
all  seine  Triebe  gleichmäßig  wachsen  läßt,  enthält  durchaus  kein 
Rezept  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit.  Obwohl  in  Nietzsche  selbst 
der  „Wille  zur  Macht"  und  der  Erkenntnistrieb  beinahe  zusammen- 
fielen, hat  er  mit  keinem  Worte  angedeutet,  daß  sein  „Übermensch" 
ein  Philosoph,  oder  gar  der  vollkommenste  Erkenntnistheoretiker 
sein  müsse.  Er  wird  im  Gegenteil  nie  müde,  uns  den  Abgrund,  der 
die  beiden  Ideale  trennt,  vor  Augen  zu  führen.  Die  Tendez  James' 
aber,  den  im  Menschen  festgestellten  Hang  zur  Unvernunft  zu  einer 
ethischen  Vorschrift  oder  gar  zu  einem  W  a  h  r  h  e  i  t  s  k  r  i  t  e  r  i  u  m 
zu  erheben,  liegt  ihm  ebenso  fern,  wie  die  Vermengung  von  Wahrheit 
und  Opportunität. 


War   Nietzsche  Pragiuatist?  Ü9 

Während  Nietzsche  der  Menschheit  gerade  ihrer  geringen  „in- 
tellektuellen Reinlichkeit"  wegen  ins  Gewissen  redet  und  unverrückt 

am  Ideal  einer  objektiven,  von  unserer  Auslegung  und  „Anmensch- 
lichung"  unabhängigen  Wirklichkeit  festhält,  schließt  der  Pragmatis- 
mus: Können  wir  nicht  rein  vernünftig-  sein,  so  seien  wir  eben  — 
rein  u  n  v  e  r  n  ü  n  f  t  i  g-.  Wen  erinnert  das  nicht  an  die  Lebens- 
weisheit gewisser  Südländer,  die  da  meinen:  Wozu  uns  waschen? 
Morgen  sind  wir  ja  wieder  schmutzig! 

Berthelot  stützt  seine  Lehre,  Nietzsche  sei  der  erste  und  ent- 
schiedenste Pragiuatist  gewesen,  auf  eine  große  Zahl  von  Zitaten  aus 
„Jenseits  v  o  n  G  u  t  und  Bös  e",  aus  der  ., !;  r  ö  h  1  i  c  h  e  n 
W  i  s  s  e  n  s  c  h  a  f  t",  aus  ,,Z  a  r  a  t  h  u  s  t  r  a"  usw.,  aus  denen 
allerdings  mit  voller  Klarheit  hervorgeht,  daß  Nietzsche  so  gut  wie 
James  an  keine  notwendigen  und  schlechthin  allgemeingültigen  Denk- 
gesetze glaubte,  sondern  auch  die  Sätze  der  Logik  als  geworden,  als 
Ergebnisse  der  menschlichen  Zuchtwahl  auffaßt.  Richtig  ist,  daß  er 
damit  die  philosophische  Grundlage  des  Pragmatismus,  nämlich  die 
Kritik  des  einseitigen  Rationalismus  (oder  „Intellektualismus") 
schärfer  und  gründlicher  formuliert  hat,  als  irgend  ein  anderer  Denker. 
Erwähnt  seien  vor  allem  die  berühmten  Aphorismen  L10,  111  und 
112  der  „Fröhlichen  Wissenschaft": 

„TJ  r  s  p  r  u  n  g  der  E  r  k  e  n  n  t  n  i  s.  —  1  )er  Intellekt  hat 
ungeheure  Zeitstrecken  hindurch  nichts  als  Irrtümer  erzeugt;  einige 
davon  ergaben  sich  als  nützlich  und  arterhaltend:  Wer  auf  sie  stieß 
oder  sie  vererbt  bekam,  kämpfte  den  Kampf  für  sich  und  seinen 
Nachwuchs  mit  größerem  Glück.  Solche  irrtümliche  Glaubenssätze, 
die  immer  weiter  vererbt  und  endlich  fast  zum  menschlichen  Art-  und 
Grundbestand  wurden,  sind  z.  B.  diese:  daß  es  dauernde  Dinge  gebe, 
daß  es  gleiche  Dinge  gebe,  daß  es  Dinge,  Stoffe,  Körper  gebe,  daß  ein 
Ding  das  sei,  als  was  es  erscheine,  daß  unser  Wollen  frei  sei.  daß,  was 
für  mich  gut  ist,  auch  an  und  für  sieh  gut  sei.  Sehr  spät  erst  traten 
die  Leugner  und  Anzweifler  solcher  Sätze  auf  —  sehr  spät  erst  trat 
die  Wahrheit  auf  als  die  unkräftigste  Form  der  Erkenntnis. 
Es  schien,  daß  man  mit  ihr  nicht  zu  leben  vermöge;  unser  Organismus 
war  auf  ihren  Gegensatz  eingerichtet;  alle  seine  höheren  Funktionen, 
die  Wahrnehmungen  der  Sinne  und  jede  Art  von  Empfindung  über- 
haupt, arbeiteten  mit  jenen  uralt  einverleibten  Grundirrtümern.  .Mehr 
noch:    Jene  Sätze   wurden   selbst    innerhalb  der  Erkenntnis  zu  de" 


4 0  W.   Eggenschwyler, 

Normen,  nach  denen  man  Wahr  und  Unwahr  bemaß  —  bis  hinein 
in  die  entlegensten  Gegenden  der  reinen  Logik.  Also :  Die  Kraft 
der  Erkenntnis  liegt  nicht  in  ihrem  Grade  von  Wahrheit,  sondern 
in  ihrem  Alter,  ihrer  Einverleibtheit,  ihrem  Charakter  als  Lebens- 
bedingung." 

(Was  hier  unter  „Kraft"  der  Erkenntnis  zu  verstehen  ist,  dürfte 
ohne  weiteres  klar  sein;  ebenso,  daß  Nietzsche  hier  wie  überall  scharf 
zwischen  dieser  Kraft  und  dem  Grade  von  objektiver  Wahrheit 
unterscheidet.  Im  Gegensatz  dazu  möchte  James  die  „Wahrheit" 
geradezu  auf  die  „Kraft",  d.h.  auf  das  Alter  und  die  Einverleibtheit 
einer  Erkenntnis  zurückführen!) 

„Wo  Leben  und  Erkenntnis  in  Widerspruch  zu  kommen  schienen, 
heißt  es  weiter,  da  ist  nie  ernstlich  gekämpft  worden;  da  galt 
Leugnung  und  Zweifel  als  Tollheit.  Jene  Ausnahmedenker,  wie  die 
Eleaten,  welche  trotzdem  die  Gegensätze  der  natürlichen  Irrtümer 
aufstellten  und  festhielten,  glaubten  daran,  daß  es  möglich  sei,  diese 
Gegenteil  auch  zu  1  e  b  e  n :  Sie  erfanden  den  Weisen  als  den  Menschen 
der  Unveränderlichkeit,  Unpersönlichkeit,  Universalität  der  An- 
schauung, als  Eins  und  Alles  zugleich,  mit  einem  eigenen  Vermögen 
für  jene  ungekehrte  Erkenntnis;  sie  waren  des  Glaubens,  daß  ihre 
Erkenntnis  zugleich  ein  Prinzip  des  Lebens  sei.  Um  dies  alles  aber 
glauben  zu  können,  mußten  sie  sich  über  ihren  eigenen  Zustand 
täuschen:  Sie  mußten  sich  Unpersönlichkeit  und  Dauer  ohne  Wechsel 
andichten,  das  Wesen  des  Erkennenden  verkennen,  die  Gewalt  der 
Triebe  im  Erkennen  leugnen,  und  überhaupt  die  Vernunft  als  völlig 
freie  sich  selbst  entsprungene  Aktivität  fassen;  sie  hielten  sich  die 
Augen  dafür  zu,  daß  auch  sie  im  Widerspruch  gegen  das  Gültige, 
oder  im  Verlangen  nach  Ruhe  oder  Alleinbesitz  oder  Herrschaft  zu 
ihren  Sätzen  gekommen  waren.  Die  feinere  Entwicklung  der  Redlich- 
keit und  der  Skepsis  machte  endlich  diese  Menschen  unmöglich; 
auch  ihr  Leben  und  Urteilen  ergab  sich  als  abhängig  von  uralten 
Trieben  und  Grundirrtümern  alles  empfindenden  Daseins." 

„Endlich  aber  wurde  nicht  nur  der  Glaube  und  die  Überzeugung, 
sondern  auch  die  Prüfung,  die  Leugnung,  das  Mißtrauen,  der  Wider- 
spruch eine  Macht Die  Erkenntnis  wurde  also  zu  einem  Stück 

Leben  selber,  und  als  Leben  zu  einer  immerfort  wachsenden  Macht, 
bis  endlich  die  Erkenntnisse  und  jene  alten  Grundirrtümer  auf- 
einanderstießen, beide  als  Leben,  beide  als  Macht,  beide  in  denselben 


War  Niezsche   Pragmatist?  41 

Menschen.  Der  Denker,  das  ist  jetzt  das  Wesen,  in  dem  der  Trieb 
zur  Wahrheit  und  jene  lebenerhaltenden  Grundirrtümer  ihren  ersten 
Kampf  kämpfen,  nachdem  auch  der  Trieb  zur  Wahrheit  sich  als  eine 
lebenerhaltende  Macht  erwiesen  hat." 

„Herkunft  des  Logischen.  —  Woher  ist  die  Logik 
im  menschlichen  Kopf  entstanden?  Gewiß  aus  der  Unlogik, 
deren  Reich  ursprünglich  ungeheuer  gewesen  sein  muß.  Aber  un- 
zählig viele  Wesen,  welche  anders  schlössen,  als  wir  jetzt  schließen, 
gingen  zugrunde :  Es  könnte  immer  noch  wahrer  ge- 
wesen sein!  —  Wer  z.  B.  das  Gleiche  nicht  oft  genug  auf- 
zufinden wußte,  in  betreff  der  Nahrung  oder  in  betreff  der  ihm  feind- 
lichen Tiere,  wer  also  zu  langsam  subsumierte,  zu  vorsichtig  in  der 
Subsumption  war,  hatte  geringere  Wahrscheinlichkeit  des  Fortlebens 
als  der,  welcher  bei  allem  Ähnlichen  sofort  auf  Gleichheit  riet.  Der 
überwiegende  Hang  aber,  das  Ähnliche  als  gleich  zu  behandeln,  ein 
unlogischer  Hang  —  denn  es  gibt  an  sich  nichts  Gleiches  — ,  hat  erst 
alle  Grundlage  der  Logik  geschaffen.  Ebenso  mußte,  damit  der  Be- 
griff der  Substanz  entstehe,  der  unentbehrlich  für  die  Logik  ist,  ob 
ihm  gleich  im  strengsten  Sinne  nichts  Wirkliches  entspricht,  lange  Zeit 
das  Wechselnde  an  den  Dingen  nicht  gesehen,  nicht  empfunden  worden 
sein.  Die  nicht  genau  sehenden  Wesen  hatten  einen  Vorsprung  vor 
denen,  welche  alles  ,im  Flusse'  sahen.  An  und  für  sich  ist  schon 
jeder  hohe  Grad  von  Vorsicht  im  Schließen,  jeder  skeptische  ang 
eine  große  Gefahr  fürs  Leben.  Es  würden  keine  lebenden  Wesen 
erhalten  sein  (?),  wenn  nicht  der  entgegengesetzte  Hang,  lieber  zu 
bejahen,  als  das  Urteil  auszusetzen,  lieber  zu  irren  und  zu  dichten, 
als  abzuwarten,  lieber  zuzustimmen,  als  zu  verneinen,  lieber  zu  urteilen 
als  gerecht  zu  sein,  —  außerordentlich  stark  angezüchtet  worden 
wäre.  —  Der  Verlauf  logischer  Gedanken  und  Schlüsse  in  unserem 
jetzigen  Gehirn  entspricht  einem  Prozesse  und  Kampf  von  Trieben, 
die  an  sich  einzeln  alle  sehr  unlogisch  und  ungerecht  sind.  Wir  er- 
fahren gewöhnlich  nur  das  Resultat  des  Kampfes:  so  schnell  und  so 
versteckt  spielt  sich  jetzt  dieser  uralte  Mechanismus  in  uns  ab." 

Über  die  Naturerkenntnis  sodann: 

,,Wir operieren  mit  lauter  Dingen,  die  es  nicht  gibt: 
mit  Linien,  Flächen.    Körpern,  Atomen,  teilbaren  Zeiten,  teilbaren 

Räumen ,  wie  soll  da  Erklärung  auch  nur  möglich  sein, 

wenn  wir  alles  erst  zum  Bilde  machen,  zu  unserem  Bilde !    Es  ist 


42  W.    E  g  g  ensc  li  w  y  1  e  r , 

genug,  die  'Wissenschaft  als  möglichst  getreue  Anmenschlichung  der 
Dinge  zu  betrachten,  wir  lernen  immer  genauer  uns  selber  beschreiben. 
Ursache  und  Wirkung:  eine  solche  Zweiheit  gibt  es  wahrscheinlich 
nie.  —  In  Wahrheit  steht  ein  C  o  n  t  i  n  u  u  m  vor  uns,  von  dem  wir 
ein  paar  Stücke  isolieren.;  sowie  wir  eine  Bewegung  immer  nur  als 
isolierte  Punkte  wahrnehmen,  also  eigentlich  nicht  sehen,  sondern 
erschließen.  Die  Plötzlichkeit,  mit  der  sich  viele  Wirkungen  abheben, 
führt  uns  irre;  es  ist  aber  nur  eine  Plötzlichkeit  für  uns.  Es  gibt  eine 
Unmenge  von  Vorgängen  in  dieser  Sekunde  der  Plötzlichkeit,  die  uns 
entgehen." 

Daß  diese  Bemerkungen  im  großen  Ganzen  mit  der  Vernunft- 
kritik James'  zusammenfallen,  ist  allerdings  nicht  zu  verkennen. 
Nur  fragt  es  sich,  ob  dieselbe  an  James'  System  das  Wesentliche  aus- 
macht. Wenn  ja,  so  dürfte  schwerlich  ein  moderner  Denker  zu  finden 
sein,  der  nach  Berthelot  nicht  als  Pragmatist  zu  gelten  hätte. 
Leider  beginnt  aber  der  charakteristische  Teil  dieser  Lehre  erst  damit, 
daß  James  die  also  festgestellte  Relativität  und  Subjektivität  des 
menschlichen  Erkennens  zu  einer  ethischen  Vorschrift,  zu  einem 
,,Du  sollst1'  erhebt.  Nietzsche  wie  James  anerkennen  die  verdächtige 
Herkunft  und  die  unsicheren  Grundlagen  der  menschlichen  Ver- 
nunft bis  in  die  obersten  und  unentrinnbarsten  „Denkgesetze"  hinein. 
Während  aber  für  Nietzsche  die  so  kritisierte  Vernunft  gleichwohl 
das  einzige  brauchbare  W  a  h  r  h  c  i  t  s  k  r  i  t  e  r  i  u  m  ist,  benützt 
James  seine  Vernunftkritik  nach  berühmtem  Muster  dazu,  ein 
irrationelles  Wahrheitskriterium,  eine  Art  „praktische  Ver- 
nunft" an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Das  objektive  Denken  wird  also  nur 
heruntergemacht,  um  dem  subjektiven,  nächstliegenden,  moral-  und 
routinemäßigen  Denken  eine  Hintertür  zu  öffnen. 

Der  Vollständigkeit  halber  hätte  Berthelot  seine  Zitate  unbedingt 
durch  den  kurz  darauf  folgenden  Aphorismus  122  ergänzen  sollen, 
wo  es  heißt: 

„D  a  s  Lebe  n  k  ein  A  r  g  u  m  e  n  1 1  —  WTir  haben  uns  eine 
Welt  zurecht  gemacht,  in  der  wir  leben  können,  mit  der  Annahme 
von  Körpern,  Linien,  Flächen,  Ursachen  und  Wirkungen,  Bewegung 
und  Ruhe,  Gestalt  und  Inhalt:  Ohne  diese  Glaubensartikel  hielte  es 
jetzt  keiner  aus,  zu  leben.  Aber  damit  sind  sie  noch 
n  i  c  h  t  s    B  e  w  i  e  s  e  n  e  s.     D  a  s    L  e  b  e  n     i  s  t    k  e  i  n    A  rgu- 


War  Nietzsche  Pragmatist?  43 

in  e  n  t ;  u  n  t  e  r  d  e  n   B  e  d  i  n.  g  u  n  g  c  n  des  L  e  1)  e  n  s  k  ö  n  n  t  e 
d  e  r   I  r  r  t  u  m   sei  n." 

Derselbe  Gedanke  tritt  uns  außer  unzähligen  andern  Sentenzen 
desselben  Sinnes  im  Vorwort  zum  „AVillen  zur  Macht1'  entgegen: 

„Die  Bedingungen,  unter  denen  man  mich  verstellt  und  dann 
mit  Notwendigkeit  versteht,  ich  kenne  sie  nur  zu  genau:  Man  muß 
rechtschaffen  sein  in  geistigen  Dingen  bis  zur  Härte,  um  auch  nur 
meinen  Ernst,  meine  Leidenschaften  auszuhalten.  Man  muß  geübt 
sein,  auf  Bergen  zu  leben,  —  das  erbärmliche  Zeitgeschwätz  von 
Politik  und  Völker-Selbstsucht  unter  sich  zu  sehen.  Man  muß  gleich- 
gültig geworden  sein.  Man  muß  nie  fragen,  ob  die  Wahr- 
heit nützt,  ob  sie  einem  Verhängnis  wird." 

Bei  näherem  Zusehen  reduzieren  sich  die  Berührungspunkte 
zwischen  Nietzsche  und  James  auf  einen  einzigen,  und  auch  dieser 
ist  mehr  äußerlicher,  zufälliger  Natur  als  Ausfluß  einer  inneren  Ver- 
wandtschaft. Beide  fordern  von  der  Philosophie  (aber  nicht  von 
der  Erkenntnistheorie!),  daß  sie  „dem  Leben  förderlich" 
sei.  Bedenken  wir  aber,  was  für  grundverschiedene  Vorstellungs- 
kreise unsere  beiden  Denker  mit  dem  an  sich  sehr  vagen  Wort  „Leben" 
verbinden,  so  müssen  wir  bald  einsehen,  daß  es  sich  hier  im  Grunde 
um  eine  —  rein  sprachliche  Analogie  handelt.  Denn  „Leben"  und 
„Handeln"  bedeuten  für  Nietzsche  in  allen  Stücken  so  ziemlich  das 
Gegenteil  davon,  was  die  Pragmatisten  darunter  verstehen.  J  a  m  e  s 
stellt  das  religiöse  Leben,  den  Gehorsam,  die  Unterwerfung  unter 
eine  Gottheit  oder  überkommene  Moral  am  höchsten,  Nietzsche  den 
ungehemmten  „Willen  zur  Macht",  den  extremen  Individualismus. 
Für  James  ist  „Leben,"  —  Glauben  und  Gehorchen,  für  Nietzsche 
Zweifeln  und  —  Herrschen.  Kurz,  in  allen  Stücken  ein  Gegensatz, 
der  ziemlich  genau  dem  Nietzscheschen  Dualismus  von  Herrenmoral 
und  Sklavenmoral,  Herrenleben  und  I  [erdenleben  entspricht.  Um 
nur  das  wichtigste  zu  erwähnen:  für  James  bedeutet  „das  Leben 
fördernd"  zweifellos  in.  erster  Linie  „die  Moral  fördernd",  für  Nietzsche 
eben  gerade  das  Gegenteil.  Indessen  darf  man  daraus  nicht  etwa  den 
Schluß  ziehen,  daß  auch  Nietzsche  (\vn  Wahrheitsbegriff  zugunsten 
seines  Lebensideals  halte  !'  ä  Ischen  wollen.  Da  für  ihn  der  inten- 
sivste Lebensgenuß  anerkanntermaßen  gerade  im  Zweifeln,  Grübeln 
und  Vorurteile-Stürzen  bestand,  so  ist  er  wenigstens  über  den  Ver- 


44  W.   Eggen schwyler, 

dacht  erhoben,  daß  er  uns  ein  neues  Dogma,  einen  neuen  Glauben,— 
mit  einem  Wort  eine  neue  Scheuklappe  habe  anpreisen  wollen. 

Natürlich  mußte  eine  so  grundverschiedene  Lebensauffassung 
auch  zu  zwei  ganz  verschiedenen  G  1  ü  c  k  s  r  e  z  c  p  t  e  n  führen. 
Wer  von  der  Erkenntnislehre  nur  verlangt,  daß  sie  ihn  ruhig  schlafen 
lasse,  ihm  seinen  Glauben  lasse  und  ihn  nicht  mit  Zweifeln  störe, 
der  wird  sich  am  besten  mit  der  —  „unbewußten  P  h  i  1  o  s  o  - 
sophie  der  Sprache"  begnügen  und  in  jede  Lücke  seiner 
Weltanschauung  ein  möglichst  wohltönendes  Wort  („life",  ,,action", 
,,use",  „humanism")  treten  lassen,  während  derjenige,  dem  Philosophie 
vor  allem  Zweifel  und  Kritik  bedeutet,  auch  auf  sprachlichem  Gebiet 
ein  großer  Zweifler  und  Revolutionär  sein  wird.  Und  in  der  Tat  ist  den 
in  unserer  Sprache  und  Grammatik  verewigten  Vorurteilen  („Substanz", 
Kausalität,  Identität  und  Widerspruch  usw.)  bisher  niemand  so 
unerbittlich  zu  Leibe  gegangen,  wie  gerade  Nietzsche,  wie  die  von 
Berthelot  zitierten  Stellen  zur  Genüge  dartun.  Im  Gegensatz  dazu 
könnten  wir  die  Lehre  James'  geradezu  eine  —  philosophische  Um- 
schreibung der  englischen  Sprache  nennen,  dieser  erzutilitaristischen, 
für  Priester  und  Geschäftsmänner  gleich  praktischen  Sprache,  die 
denn  auch  die  berühmtesten  Stellen  aus  James1  und  Schillers  Werken 
so  gut  wie  unübersetzbar  macht. 

Die  Oberflächlichkeit  dieser  Philosophie  tritt  am  deutlichsten 
zutage,  wenn  wir  beachten,  welche  Vorliebe  ihre  Vertreter  für  möglichst 
vage  und  volltönende  Abstraktionen  und  übereilte  Verallgemeinerung 
an  den  Tag  legen.  Die  soziale  oder  moralische  Nützlichkeit  zum 
Kriterium  der  Wahrheit  zu  machen,  ist  ja  auf  jeden  Fall  nur  aus- 
nahmsweise, nur  in  einzelnen  Fällen,  und  auch  da  nur  teil- 
weise möglich.  Jedes  Raisonnement,  das  theoretische  wie  das 
praktische,  bleibt  notgedrungen  immer  noch  zum  größten  Teil  den 
Gesetzen  der  Logik  und  der  Erfahrung  unterworfen.  Denn  selbst  um 
festzustellen,  welche  von  zwei  Theorien  uns  die  nützlichere 
sei  und  sich  mit  unserem  Handeln  oder  unseren  ererbten  Anschauungen 
am  besten  vertrage,  bedarf  es  logischer  Schlüsse  und  empirischer 
Daten,  die  ihrerseits  nicht  wieder  pragmatischer  Herkunft  sein  können. 

Das  pragmatische  Wahrheitskriterium  kann  also  nur  ausnahms- 
weise, nur  beiläufig  auf  unser  Denken  einwirken,  und  bleibt  völlig 
unbrauchbar,  so  lange  sich  die  Pragmatistcn  nicht  die  Mühe  geben, 
uns  zu  sagen,  wo  und  wieweit  wir  uns  seiner  zu  bedienen  haben.  Dazu 


War   Nietzsche   Pragmatist?  45 

wäre  aber  voraussichtlich  eine  lange  und  überaus  komplizierte 
Kasuistik  erforderlich,  von  der  uns  die  Pragmatisten  auch  nicht 
das  erste  Wort  liefern.  Sie  finden  es  bequemer,  dieses  auch  vor  ihnen 
in  engen  Grenzen  zugelassene  sog.  Wahrheitskriterium  (man  denke 
an  Kant !)  in  ganz  unsinniger  Weise  zu  verallgemeiner  n. 
Daraus,  daß  in  einzelnen  Fällen  zu  allen  Zeiten  unsere  Gefühle, 
Wünsche  und  Vorurteile  in  unsere  philosophischen  Betrachtungen 
hineingespielt  haben,  schließen  sie  nicht  nur,  daß  es  nun  ein  für  alle 
mal  so  sein  m  ü  s  s  e  ,  sondern  erheben  diesen  Schnitzer  zur  R  e  g  e  1 , 
die  nun  ü  b  e  r  a  1 1  unser  Denken  leiten  soll !  Wie  wurde  Nietzsche 
selbst  den  Pragmatismus  beurteilen,  wenn  er  ihm  heute  vor  Augen 
käme?  —  Die  Antwort  scheint  uns  leicht  auszurechnen:  Alles  was 
Nietzsche  über  und  wider  den  „Theologen-Instinkt",  die  mangelnde 
„intellektuelle  Rechtschaffenheit  der  Deutschen"  —  oder  gar  der 
Engländer  geschrieben  hat,  ist,  so  übertrieben  es  manchem  erscheinen 
mag,  buchstäblich  auf  den  Pragmatismus  anwendbar  und  deckt  sich 
zum  Teil  wörtlich  mit  den  Anklagen,  die  S  c  h  i  n  z  seinem  „Anti- 
pragmatismus"  voranschickt, 

„Wer  Theologenblut  im  Leibe  hat,"  sagt  er  unter  anderm,  „steht 
von  vornherein  zu  allen  Dingen  schief  und  unehrlich";  —  „Was  ein 
Theologe  als  wahr  empfindet,  das  m  u  ß  falsch  sein.  Man  hat  daran 
beinahe  ein  Kriterium  der  Wahrheit.  Es  ist  sein  unterster  Selbst- 
erhaltungsinstinkt, der  ihm  verbietet,  daß  die  Realität  in  irgend  einem 
Punkte  zu  Ehren,  oder  auch  nur  zu  Worte  komme.  Soweit  der  Theologen- 
Einfluß  reicht,  ist  das  Werturteil  auf  den  Kopf  gestellt,  sind  die 
Begriffe  wahr  und  falsch  notwendig  umgekehrt.  Was  dem  Leben 
am  schädlichsten  ist,  das  heißt  hier  wahr,  was  es  hebt,  steigert,  be- 
jaht, rechtfertigt  und  triumphieren  macht,  das  heißt  falsch." 

„Woher  das  Frohlocken,  das  beim  Auftreten  Kants  durch  die 
deutsche  Gelehrtenwelt  ging,  die  zu  drei  Vierteln  aus  Pfarrers-  und 
Lehrerssöhnen  besteht?  Woher  die  deutsche  Überzeugung,  daß  mit 
Kant  eine  Wendung  zum  Hessern  beginne?    Der  Theologen-Instinkt 

im   deutschen   Gelehrten  erriet,   was   nun  wieder  möglich   war 

Ein  Schleichweg  zum  allen  Ideal  stand  offen,  der  Begriff  .wahre 
Welt',  der  Begriff  der  .Moral  als  Essenz  der  Welt'  war  jetzt  wieder 
dank  einer  verschmitzt-klugen  Skepsis,  wenn  nicht  beweisbar,  so  doch 
nicht  mehr  widerlegbar.  Die  Vernunft,  das  Recht  der  Vernunft 
reicht  nicht  so  weit Man  hatte  aus  der  Kealität  eine  scheinbare 


4G  W.   E  g  g  e  n  s  c  h  w  y  1  e  r , 

Welt  gemacht,  man  hatte  eine  vollständig  erlogene  Welt,  die  des 
, Seienden',  zur  Realität  gemacht.  Der  Erfolg  Kants  ist  bloß  ein 
Theologenerfolg:  Kant  war,  gleich  Luther,  gleich  Leibniz,  ein  Hemm- 
schuh mehr  in  der  an  sich  nicht  taktfesten  deutschen  Recht- 
schaffenheit." 

„Ich  nehme  ein  paar  Skeptiker  beiseite,  den  anständigen  Typus 
in  der  Geschichte  der  Philosophie:  Aber  der  Rest  kennt  die  ersten 
Forderungen  der  intellektuellen  Rechtschaffenheit  nicht.  Sie  machen 
es  allesamt  wie  die  Weiblein,  alle  diese  großen  Schwärmer  und  Wunder- 
tiere, —  sie  halten  die  ,schönen  Gefühle'  bereits  für  Argumente, 
den  gehobenen  Busen'  für  einen  Blasebalg  der  Gottheit,  die  Über- 
zeugung für  ein.  Kriterium  der  Wahrheit.  Zuletzt  hat  noch  Kant 
(und  James?)  in  ,deutscher'  Unschuld  diese  Form  der  Korruption, 
diesen  Mangel  an  intellektuellem  Gewissen  unter  dem  Begriff  prak- 
tische Vernunft'  zu  verwissenschaftlichen  gesucht;  er  erfand  eigens 
eine  Vernunft  dafür,  in  welchen  Fällen  man  sich  nicht  um  die  Ver- 
nunft zu  bekümmern  habe,  nämlich  wenn  die  Moral,  wenn  die  er- 
habene Forderung  ,Dli  sollst'  laut  wird!" 

Leider  scheint  Nietzsche  nicht  bemerkt  zu  haben,  daß  seine 
Erkenntnistheorie  durch  die  häufige  Anspielung  auf  den  Lebens- 
wert der  Wahrheit  ernstlich  Gefahr  läuft,  selbst  als  opportunistische, 
pragmatistische  Wahrheitsidee  ausgedeutet  zu  werden.  Wenn 
er  den  Theologen  vorwirft,  die  Begriffe  Wahr  und  Falsch  dadurch  auf 
den  Kopf  gestellt  zu  haben,  daß  sie  das  Lebensfeindliche  „wahr"  und 
das  Lebenbejahende  „falsch"  nennen,  so  steht  es  damit  um  seine 
eigene  „intellektuelle  Rechtschaffenheit"  streng  genommen  nicht 
besser,  als  um  diejenige  seiner  Gegner,  da  ja  auch  er  die  objektive 
Wahrheit  von  dem  rein  zufälligen  Kriterium  ihrer  Nützlichkeit  ab- 
hängen läßt,  —  nur  daß  für  ihn  der  Begriff  „Leben"  wie  bekannt 
einen  ganz  andern  Sinn  hat,  als  für  seine  Gegner.  Dieser  Lapsus  mag 
nicht  wenig  dazu  beigetragen  haben,  Berthelot  in  seiner  pragmatistischen 
Auslegung  zu  bestärken.  Zum  Glück  verschwinden  aber  diese  zwei- 
deutigen Anspielungen  an  das  Lebensideal  des  Übermenschen  gänzlich 
gegenüber  den  sehr  bestimmten  gegenteiligen  Erklärungen  Nietzsches, 
die  eine' Verwechslung  der  übermenschlichen  Lebensweisheit 
mit  seiner  Erkenntnistheorie  durchaus  ausschließen.  Daß  er  hie  und 
da  versucht  war,  seiner  nichts  respektierenden  Skepsis  m  e  h  r  Lebens- 
wert  zuzuerkennen,   als   der   furchtsamen   Erkenntnistheorie   seiner 


War   Nietzsche  Pragmatist  ?  47 

Gegner,  ist  leicht  begreiflich,  wenn  wir  bedenken,  wie  sehr  in  Nietzsche 
selbst  der  bedingungslose  Erkenntnistrieb  mit  dem  als  Essenz  des 
Lebens  erkannten  Machttrieb  zusammenfiel  (und  gar  nicht  etwa  mit 
den  an  der  ,, blonden  Bestie"  hervorgehobenen  militärisch-barbarischen 
Eigenschaften!).  Für  Nietzsche  persönlich  bestand  allem  Anschein 
nach  zwischen  dem  „Willen  zur  Macht"  und  dem  Willen  zur  Wahrheit 
um  jeden  Preis  kein  erheblicher  Unterschied. 

Das  Charakteristische  an  Nietzsches  Philosophie  liegt  eben  darin, 
daß  für  ihn  Lebensweisheit  und  Erkenntnistheorie  n  i  c  h  t  zusammen- 
fallen.. Und  daß  er  dem  ein  möglichst  vollständiges  Leben  auslebenden 
Idealmenschen  wesentlich  andere  Ratschläge  erteilt,  als  die,  die 
nach  ihm  zur  objektiv  richtigsten  Erkenntnis  führen.  Selbst  wenn 
er  sich  darin  da  und  dort  eines  kleinen  Widerspruchs  oder  einer  Zwei- 
deutigkeit schuldig  macht,  so  berechtigt  uns  das  durchaus  nicht 
dazu,  seine  sehr  kategorischen  Erklärungen,  daß  das  Leben,  kein 
A  i'  g  u  m  e  n  t  für  die  Wahrheit  sei,  und  daß  sich  der  Philosoph  nie 
fragen  dürfe,  o  b  die  W  a  h  rh  e  i  t  n  ü  t  z  e  ,  einfach  zu  ignorieren. 

Seine  vermeintlichen  Widersprüche  werden  indessen,  niemals 
an  die  Bedeutung  der  großen.  Inkonsequenz  heranreichen,  die  das 
Wesen  des  Pragmatismus  ausmacht,  und  der  bewirkt,  daß 
sich  der  Pragmatismus  praktisch  selbst  aufhebt.  Denn  da  dem  von 
ihm  verfochtenen  subjektiven  Wahrheitskriteriuni  in  allen  Fällen 
nur  eine  beiläufige,  dreinpfusch.en.de  Rolle  zukommen  kann,  so  wird 
das  pragmatistische  Wahrheitsrezept  in  seiner  allgemeinen  Form 
praktisch  zu  einer  bloßen  Phrase,  der  wir  mit  dem  besten  Willen 
keinen  deutlichen  Sinn  entnehmen  können.  Die  Regel  bleibt  in  Wirk- 
lichkeit auch  für  den  pragmatischen  Denker  immer  noch  das  ob- 
j  e  k  t  i  v  e  Wahrheitskriterium,  ob  er  sichs  nun  eingestehe  oder  nicht. 
Das  subjektive  kommt  immer  erst  an  zweiter  Stelle,  nämlich,  wenn 
der  Pragmatisl  zum  folgerichtigen  Denken  aus  irgend  einem  Grunde 
zu  träge  oder  zu  furchtsam  ist. 


V. 

Die  Ekstasis  als  Erkenntnisform  bei  Plotin. 

Von 
Dr.   Elisabeth  Thiel   in  Breslau. 

Was  Plotins  Lehrsystem  überhaupt  und  seine  Lehre  von  der 
Ekstasis  als  Erkenntnisform  insbesondere  betrifft,  so  liegen  durch 
die  Bemühungen  von  E.  Zeller,  Dr.  H.  Kirchner,  A.  Richter,  H.  v. 
Kleist,  A.  Drews  die  Tatsachen  in  genügender  Deutlichkeit  vor; 
es  handelt  sich  für  uns  nur  um  die  rechten  Gesichtspunkte  für  ein 
geschichtliches  Urteil. 

Die  ersten  Jahrhunderte  unserer  Zeitrechnung  haben  das  Größte 
gesehen,  was  in  der  Geschichte  der  Menschheit  überhaupt  zur  Ver- 
wirklichung gelangt  ist;  die  Entstehung  der  christlichen  Religion, 
ihre  Durchbildung  in  Kultus,  Lehre,  Verfassung,  und  in  den  Formen 
des  sittlichen  Lebens,  und  im  Anschluß  daran  ihre  Verbreitung  rings 
in  den  Ländern  der  Kulturwelt. 

Es  ist  daneben  in  demselben  Zeitraum  noch  anderes  Großes 
geschaffen  worden:  die  Ausbildung  der  römischen  Monarchie  und 
des  Systems  der  Verwaltung,  die  klassische  römische  Literatur,  das 
gewaltige  System  des  römischen  Rechts,  alles  Dinge,  von  denen  die 
Menschheit  noch  heute  zehrt,  wenn  auch  keines  derselben  mit  der 
religiösen  Bewegung  des  Zeitalters  an  Bedeutsamkeit  auch  nur  von 
ferne  verglichen  werden  kann.  Jedenfalls,  die  Neigung,  in  jenen 
Jahrhunderten  ein  Zeitalter  des  Verfalls  zu  erblicken,  ist  verkehrt. 
Kein  Abschnitt  der  Geschichte  der  Menschheit  hat  ein  stärkeres 
schöpferisches  Vermögen  bewiesen.  So  hoch  man  auch  den  Wert 
der  Blütezeit  atheniensischer  und  überhaupt  hellenischer  Kultur 
anschlagen  mag,  das  Zeitalter  christlich  hellenistischer  Kultur  stellt 
dagegen  nicht  zurück,  und  wie  man  gelernt  hat,  das  Griechisch  der 
hellenistischen    Epoche    als    rechtmäßige    Fortbildung    der    Sprache 


Die  Ekstasis  als  Erkenntnisfotm  bei  Plotin.  49 

des  Plato  und  Demosthenes  von  selbständigem  Werte  anzusehen, 
so  sollte  man  auch  die  Philosophie  Plotins  im  Verhältnis  zu  der  Piatos 
nicht  als  eine  Verfallserscheinung,  sondern  als  eine  tiefsinnige  Fort- 
bildung von  schöpferischer  Bedeutung  und  von  bleibendem  Werte 
anzuerkennen  sich  entschließen. 

Die  rechte  Würdigung  Plotins  wird  denen  besonders  schwer, 
die  in  der  Wissenschaft  ausschließlich  die  Befriedigung  des  Erkenntnis- 
triebes zum  Maßstabe  des  Wertes  machen  und  daneben  alles  andere 
als  gleichgültig  oder  gar  als  bedenklich  betrachten.  Aber  die  Wissen- 
schaft übt  im  Leben  des  menschlichen  Geschlechtes  und  in  dem  des 
einzelnen  Menschen  viele  Wirkungen  von  höchstem  idealen  Werte 
noch  außer  denen,  die  dem  reinen  Intellekt  angehören!  Wirkungen 
auf  das  staatliche  Leben,  auf  die  gesellschaftlichen  Verbindungen 
der  Menschen  überhaupt,  auf  das  Sinken  oder  Steigen  der  Sittlichkeit, 
auf  Religion  und  Kirche,  auf  Industrie  und  Technik.  Wer  wissen- 
schaftliche Erscheinungen  richtig  beurteilen  will,  darf  gegen  diese 
Wirkungen  der  Wissenschaft  nicht  blind  sein  oder  sich  gegen  sie 
ablehnend  verhalten. 

Man  wird  sagen  dürfen,  daß  in  der  Philosophie  der  Hellenen 
bis  auf  die  Zeiten  des  Plato  und  des  Aristoteles  das  Interesse  an  der 
reinen  Erkenntnis  wenn  auch  nicht  das  einzige,  so  doch  das  weit 
überwiegende  gewesen  ist.  Als  dieses  Interesse  bei  den  großen  Denkern 
aus  der  Schule  des  Sokrates  seine  Befriedigung  so  weit  gefunden 
hatte,  wie  es  das  Zeitalter  und  seine  Kultur  zuließ,  da  machten  sich 
in  der  Wissenschaft  selber  andere  Bestrebungen  und  Gesichtspunkte 
mit  größtem  Nachdruck  geltend  und  gewannen  in  dem  neuen  Ge- 
schlecht mit  seinen  neuen  Lagen  und  Bedürfnissen  die  Oberhand. 
Die  Wissenschaft  sollte  nunmehr  dazu  dienen,  den  Menschen  inneren 
Frieden  und  Seelenruhe  zu  verschaffen,  sie  für  die  rechte  Behandlung 
der  praktischen  Lebensaufgaben  tauglich  zu  machen  und  sie  über 
das  gemeine  Getriebe  zu  einem  höheren  geistigen  Dasein  zu  erheben. 
Dieser  Zug  zur  Weltweisheit  war  allen  Schulen  und  Richtungen  der 
Philosophie  in  dem  Zeitalter  nach  Aristoteles  und  Alexander  dem 
Großen  gemeinsam,  nicht  ohne  den  Einfluß  des  darch  Alexander 
und  seine  Nachfolger  aufgeschlossenen  Orients,  zu  dem  fortan  das 
llellenentum  in  nahe  Beziehung  trat,  das  Eigene  mitteilend,  das 
Fremde  entgegennehmend  und  es  mit  dem  Eigenen  verschmelzend. 
Stoiker  und  Epikureer,   Skeptiker  und  Mystiker,   Dogmatiker  und 

Arohiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  1.  4 


50  Elisabeth  Thiel, 

Eklektiker,  —  so  weit  sie  sonst  auseinander  gingen,  darin  waren  sie 
einig,  daß  ihnen  der  Friede  der  Seele  höher  stand  als  das  rein  in- 
tellektuelle Streben  nach  wissenschaftlicher  Befriedigung  des  Er- 
kenntnistriebes. 

Eben  aus  dieser  Sehnsucht  ist  dann  der  große  Zug  der  Zeit  zu 
einer  den  Geist  befriedigenden  Religion  entsprungen  und  von  Jahr- 
hundert zu  Jahrhundert  stärker  geworden,  ohne  den  das  Christen- 
tum nimmermehr  so  übermächtig  sich  seinen  Platz  zu  gewinnen 
vermocht  hätte.  Aber  allerdings,  aus  eben  dieser  zur  Religion  hin- 
treibenden  Stimmung  und  Bedürftigkeit  entsprangen  für  die  jungen 
Keime  der  Religion  Christi  andererseits  zugleich  die  größten  Gefahren. 
Es  ist  wohl  selbstverständlich,  daß  eine  mißverstandene  Pietät  an 
die  alten  überlieferten  Religionsformen,  an  die  Kulte  und  Vorstel- 
lungen des  polytheistischen  Heidentums,  an  seine  Göttergestalten 
und  seine  Mythen  sich  anklammerte  und  sich  gegen  die  Religion 
der  Anbetung  im  Geist  und  in  der  Wahrheit  so  gut  es  ging  wehrte, 
indem  man  den  Göttern  und  Göttermythen,  den  Kultusgebräuchen 
und  ethischen  Lehren  soviel  Vergeistigung  zu  leihen  suchte,  wie  man 
mit  dem  größten  Aufwand  von  Geist  irgend  zu  leisten  vermochte. 

Damit  ist  Plotins,  des  großen  Führers  und  Schöpfers  der  neu 
platonischen  Bewegung,  geschichtliche  Stellung  dem  äußeren  Um- 
risse nach  gekennzeichnet.  Von  da  aus  müssen  wir  auch  zu  verstehen 
und  zu  würdigen  suchen,  was  Plotin  in  der  Form  der  Ekstasis  als 
Erkenntnismittel  und  Erkenntnisinhalt  schildert  und  selbst  erlebt  hat. 
Plotin  ist  auch  in  diesem  Punkte  nicht  der  Urheber  und  Erstling 
gewesen;  aber  er  hat  der  Lehre  weittragende  Wirkungen  verschafft 
auch  für  das  Christentum.  Man  muß  sich  immer  vergegenwärtigen, 
daß  die  großen  Vertreter  der  beginnenden  christlichen  Wissenschaft 
und  die  der  neuplatonischen  Philosophie  demselben  Zeitalter  an- 
gehörten, und  daß  ihnen  bei  aller  Verschiedenheit  der  Gesichtspunkte 
und  Bestrebungen  doch  auch  vieles  gemeinsam  ist,  teils  weil  sie  aus 
denselben  Quellen  schöpfen,  teils  weil  die  Sehnsucht  und  das  Streben 
nach  jenseitiger  Vollendung  in  beiden  Richtungen  mächtig  ist.  Auch 
von  diesen  heidnischen  Philosophen,  die  die  Herrlichkeit  Christi 
und  seiner  Kirche  nicht  kannten  oder  ausdrücklich  verschmähten, 
gilt  des  Dichters  Wort:  sie  lernten  das  Überirdische  schätzen,  sie 
sehnten  sich  nach  Offenbarung.  Auf  Plotin  hat  sicher  auch  Philo 
der   Jude   Einfluß    geübt,     der   die   Übereinstimmung   hellenischer 


Die  Ekstasis  als  Erkenntnisform  bei  Plotin.  51 

Weisheit  mit  alttestamentlicher  Offenbarung  nachzuweisen  bemüht 
war.  Philo  hatte  platonische,  aber  auch  stoische  Lehren  in  seiner 
Weise  verwandt.  Was  die  Stoiker  als  Apathie  priesen,  das  ward 
bei  ihm  zur  Abwendung  von  allem  Sinnlichen,  um  des  Friedens  in 
Gott  teilhaftig  zu  werden.  Wo  er  von  dem  kontemplativen  Leben 
oder  von  der  Freiheit  des  Gerechten  und  Gottseligen  handelt,  da 
klingt  Plato  und  Aristoteles  an.  Ihm  genügte  es  nicht,  die  göttlichen 
Kräfte,  zu  erkennen,  mit  denen  Gott  die  ganze  Welt  durchdringt; 
er  will  vielmehr  Gott  selbst  in  seinem  reinen  Wesen  ergreifen,  und 
das  kann  nur  in  einfacher  Anschauung  gelingen;  dahin  führt  nicht 
der  mühsame  Weg  des  reflektierenden  Denkens.  Vor  Augen  stehen 
ihm  die  von  Gott  begeisterten  alttestamentlichen  Propheten ;  anderer- 
seits preist  er  die  reine  Kontemplation,  die  bei  den  Hellenen  Theoria 
heißt,  die  Erhebung  des  Geistes  aus  der  Welt  der  sinnlichen  Dinge 
in  seine  wahre  Heimat,  in  das  Reich  der  Ideen.  Das  Ergreifen  des 
göttlichen  Wesens  in  seiner  Einheit  und  Vollkommenheit  durch  die 
Gott  verwandte  Vernunft,  das  ergibt  bei  Philo  das  Bild  des  Zustandes, 
den  er  als  Ekstase  schildert.  Da  geht  der  Geist  hinaus  über  alle  sinn- 
lichen Gestalten,  über  alles  Sein,  das  nicht  Gott  selber  ist,  wenn  es 
auch  aus  Gott  stammt,  auch  über  die  Ideen  und  über  ihre  Zusammen- 
fassung in  dem  einen  Logos.  Da  wo  der  Geist  das  reine  Licht  der 
Gottheit  ohne  jede  Trübung  schauen  und  Gott  selbst  in  sich  tragen 
darf,  da  findet  er  seine  Seligkeit;  da  kann  er  befriedigt  ruhen;  da 
wird  der  Mensch  gleichsam  selbst  zum  Logos,  zum  Sohne  Gottes. 
Gott  selbst  erleuchtet  ihn,  bewegt  ihn  wie  der  Künstler  das  musika- 
lische Instrument.  Wie  Gott  sich  den  Propheten  kundgetan  hat, 
so  teilt  er  sich  dem  Weisen  und  Gerechten  mit.  Es  ist  ein  Zustand 
prophetischer  Inspiration,  die  menschliche  Vernunft  versinkt,  um 
Gottes  Vernunft  allein  wirken  zu  lassen;  in  weissagenden  Träumen, 
in  hohem  Wahnsinn,  im  Außersichgeratcn  des  Geistes  findet  die 
Erleuchtung  statt.  Wenigen  wird  solche  Erleuchtung  zuteil;  nur 
auserlesene  Rüstzeuge  sind  ihrer  fähig;  der  Masse  der  Menschen 
bleibt  diese  höchste  Form  der  unmittelbaren  Anschauung  des  Göttlichen 
versagt. 

Dieser  Gedankengang,  wie  er  uns  bei  Philo,  dem  Juden,  ent- 
gegentritt, lehrt  uns  auch  die  entsprechenden  Wendungen  dr^  Ge- 
dankens  bei  Plotin,  dem  Heiden,  besser  würdigen.  Es  ist  ein  gemein- 
samer Zug  darin,  der  über  dvn  Unterschied  der  Zeiten  und  der  per- 

4* 


52  Elisabeth  Thiel, 

sönlichen  Stellung  hinausreicht,  ein  Zug  von  allgemein  religiöser 
Art  und  zugleich  von  tiefer  wissenschaftlicher  Bedeutung,  ein  Nach- 
hall großer  philosophischer  Erkenntnisse  aus  der  Blütezeit  der  helle- 
nischen Philosophie,  und  zugleich  voll  innerer  Beziehung  auf  die 
Wahrheit,  die  da  kommen  sollte,  die  Welt  zu  durchleuchten.  Die 
christliche  Erkenntnis  von  dem  Verhältnis  der  von  Gott  erleuchteten 
Menschenseele  zu  Christus,  dem  Sohne  Gottes,  der  sich  in  den  Tiefen 
des  menschlichen  Gemütes  eine  Stätte  seiner  Offenbarung  zubereitet, 
klingt  bei  dem  Heiden  wie  bei  dem  Juden  von  ferne  an. 

Plotin  ist  im  Kern  und  Grund  seiner  Lehre  Platoniker.  Er  hat 
viele  Denker  gewissenhaft  studiert,  vor  allem  Aristoteles,  und  ist 
mit  den  Gedanken  der  Neupythagoreer,  insbesondere  des  Numenius, 
genau  vertraut  gewesen:  aber  das  Platonische  ist  seines  .  Geistes 
eigentliche  Heimat.  Wo  er  von  Plato  sich  entfernt,  da  ist  es  die 
religiöse  Stimmung  seines  Geistes,  die  ihn  auf  eigene  Wege  leitet. 
Aber  auch  darin  bedeutet  die  Abweichung  nicht  Entstellung  oder 
Verfälschung,  sondern  rechtmäßige  Fortbildung  im  eigenen  Geist 
und  Sinne  des  Piatonismus.  Schon  in  Plotins  Lehre  vom  Absoluten 
sollte  man  das  echt  religiöse  Motiv  seines  Denkens  erkennen.  Seine 
liebende  Seele  schwingt  sich  über  alle  Bestimmungen  begrifflicher 
Art,  mit  denen  man  Gottes  Wesen  zu  erfassen  trachten  möchte,  weit 
hinaus.  Kein  Prädikat  genügt,  um  das  zu  bezeichnen,  was  des  Herzens 
Sehnsucht  befriedigt.  Darum  wird  geradezu  der  Verzicht  auf  das 
unterscheidende  Denken  gefordert,  um  Gott  zu  ergreifen.  Solange 
wir  denken,  sind  wir  gezwungen,  an  bestimmten  Punkten  Halt  zu 
machen,  uns  um  Substanz,  Qualität,  Grund,  Existenz  zu  bekümmern. 
Aber  Gott  ist  uns  ja  nicht  ein  Fremdes,  dessen  wir  uns  in  einer  dieser 
Formen  zu  bemächtigen  suchen  müßten.  Das  Wesen,  das  die  Freiheit 
selbst  ist,  kann  auch  mit  dem  Begriff  der  Freiheit  nicht  erschöpft 
werden;  keine  Trennung,  kein  Unterschied  reicht  an  dieses  Wesen 
heran.  Darauf  beruht  es,  daß  die  letzte  und  höchste  Abstraktion 
die  Art  ist,  in  der  wir  uns  des  Absoluten  bemächtigen.  Gewiß  kann 
man  es  als  das  Unendliche,  als  das  Eine,  als  das  Gute  bestimmen» 
dann  aber  muß  man  sogleich  auch  hinzufügen,  daß  keine  dieser  Be- 
stimmungen das  Absolute  erschöpft,  und  somit  müssen  wir  jede 
begriffliche  Bestimmung,  indem  wir  sie  setzen,  auch  zugleich  wieder 
aufheben.  Das  Absolute  ist  dem  begrifflichen  Denken  gegenüber 
das    Jenseits   schlechthin,    jeder   positiven    Bestimmung   gegenüber 


Die  Ekstasis  als  Erkenntnisform   bei   Plotin.  53 

das  Negative  schlechthin,  aber  es  ist  das  als  die  aufgehobene  Negation: 
jenseits  des  Seins,  jenseits  des  Wirkens,  jenseits  der  Vernunft  und 
des  Gedankens  ist  es,  weil  es  zugleich  alles  das  ist  und  über  alles  das 
hinausliegt,  auch  über  Einheit  und  Schönheit,  über  Denken  und 
Leben,  während  es  das  Wirklichste  und  Bestimmteste  ist.  So  müssen 
wir  es  beim  Schweigen  bewenden  lassen,  wo  wir  von  ihm  reden  wollen. 
Aber  Plotin  ist  sich  wohl  bewußt,  daß  dieses  Schweigen  die  letzte 
Fülle  aller  irgend  ausdrückbaren  Begriffe  bedeutet,  daß  in  dieser 
Abstraktion  nicht  etwa  das  Nichts  als  Objekt  übrig  bleibt,  sondern 
das  All,  der  eine  Grund,  die  eine  Kraft,  die  in  allem  Leben  und  Weben 
sich  erhaltende  eine  Tätigkeit. 

Wir  haben  hier  nicht  das  System  des  Plotin  überhaupt  nach- 
zuzeichnen, auch  nicht  in  seinen  äußersten  Umrissen;    aber  eines 
ist   für   unsere    Betrachtung   von   entscheidender   Wichtigkeit:    die 
Stellung    der   Menschenseele    im  Zusammenhange    des  Universums. 
Des  Menschen  Seele  stammt  aus  der  überirdischen  Welt  und  gehört 
docli  durch  ihre  Verbindung  mit  dem  Leibe  der  sinnlichen  Welt  an. 
Danach  bestimmt  sich  des  Menschen  Aufgabe  und  Beruf.    In  uns 
lebt  eine  Seele,  die  im  Übersinnlichen  daheim  ist,  und  diese  eigentlich 
sind  wir  selbst;  durch  sie  bleiben  wir  in  Verbindung  mit  der  göttlichen 
Vernunft,  die  alles  Geschaffene  durchdringt;    durch  sie  werden  wil- 
der   unmittelbaren    Anschauung    des    absoluten    Wesens    teilhaftig. 
Andererseits  lebt  in  uns  ein  zweites  seelisches  Prinzip,  das  sich  der 
Verflechtung  mit  dem  Leibe  und  dadurch  mit  der  Welt  der  sinnlichen 
Erscheinungen  nicht  zu  entziehen  vermag.   Mit  jenem  übersinnlichen 
Teil  unseres  Wesens  erfassen  wir  das  Reich  der  Ideen  als  der  göttlichen 
Gedanken,  die  die  Welt  gestalten,  in  seiner  Einheit,  mit  dieser  auf 
das  Sinnliche  gerichteten  Seele  bleiben  wir  auf  ein  diskursives,  reflek- 
tierendes Denken  angewiesen,  wo  wir  in  bestimmte  Begriffe  unter- 
scheiden und  trennen  und  von  der  sinnlichen  Wahrnehmung  auf- 
steigend Gedächtnisbilder  in  uns  erzeugen  und  von  sinnlicher  Ein- 
bildung zu  den  reinen  Gedanken  gelangen.   Wo  wird  nun  der  Mensch 
sein  eigentliches  Ziel  und  seine  Aufgabe  zu  suchen  haben?    Doch 
offenbar  in  der  Verwirklichung  dessen,  was  sein  eigentliches  Wesen 
ist,  also  in  seiner  über    alles  Sinnliche    hinausragenden  Vernunft- 
anlage, in  der  er  mit  dem  Göttlichen  verwandt  ist.    Und  so  finden 
wir  denn  auch  hier  bei  Plotin  einen  platonischen  Gedanken  in  seinem 
eigenen  Sinne  konsequent  fortgesetzt. 


54  Elisabeth  Thiel, 

Seine  Glückseligkeit,  die  volle  Erfüllung  seiner  Bestimmung 
hat  der  Mensch  nur  in  der  Abwendung  von  dem  Sinnlichen,  dem 
Niedrigen,  in  das  ihn  sein  leibliches  Dasein  immer  wieder  hinabzieht. 
Der  Mensch  lebt  seiner  Bestimmung  gemäß,  wo  er  sich  vom  Leibe 
und  von  der  Sinnlichkeit  reinigt,  um  die  Anlage  zur  göttlichen 
Natur,  die  er  in  sich  trägt,  zu  verwirklichen.  Aber  das  Sinnliche 
übt  dabei  zugleich  die  positive  Wirkung,  daß  es  den  Geist  zu  eben 
dieser  Abwendung  und  Reinigung  erweckt.  Diese  sündige  Welt  ist  ja 
von  der  Idee  nicht  verlassen ;  als  entferntes  Abbild  der  reinen  Herrlich- 
keit und  Schönheit  der  Idee  erinnert  sie  an  die  übersinnliche  Welt 
und  erweckt  die  begeisterte  Liebe,  den  Eros,  als  die  Sehnsucht  nach 
allem  Guten,  Schönen  und  Göttlichen,  mit  dem  die  Seele  sich  im 
Schauen  zu  vereinigen  begeht.  Da  erhebt  sich  dann  die  Seele  über  die 
Wahrnehmung,  die  ein  dunkles  Denken  ist,  und  löst  sich  vom  Sinn- 
lichen ab,  das  unwirklich  bleibt,  ein  äußeres  Abbild  dessen,  was 
wirklich  ist,  ein  bloßes  Spielzeug.  Das  Leibliche  und  die  Sinnen- 
empfindung fällt  ab  wie  ein  bloß  äußerliches,  befleckendes  An- 
hängsel des  wahren  Wesens.  Die  Seele  dringt  weiter  hinaus  über  das 
reflektierende  Denken,  das  vermittelt  und  auf  die  Einzelheiten  der 
Erscheinung  gerichtet  ist;  sie  sucht  das  wahre  Wissen,  das  kein 
Wissen  durch  Beweise  und  vermittelte  Denkbewegungen  ist.  Im 
reflektierenden  Denken  erreichen  wir  nur  eine  gewisse  Wahrscheinlich- 
keit; erst  im  obersten  Vernunftvermögen  ist  die  Stätte  reiner  Er- 
kenntnis; da  ergreift  der  Geist  das  Notwendige.  Der  Geist  versteht 
nur  den  Geist.  Es  gilt  ein  unmittelbares  Ergreifen  der  höchsten 
Wahrheit.  Indem  der  denkende  Geist  sich  selbst  anschaut,  schaut 
er  das  ewige  unwandelbare  Wesen  des  Geistes  an  und  ergreift  das 
reine  absolute  Seiende,  das  über  alles  Sinnliche  und  über  aUe  Be- 
stimmtheit hinaus  ist.  In  solcher  intellektuellen  Anschauung  wird 
der  menschliche  Geist  mit  dem  göttlichen  eins,  ohne  daß  in  dieser 
Vereinigung  das  persönliche  Leben  und  Bewußtsein  verschwände. 
Den  Gipfel  dieses  Schauens  nun  bezeichnet  die  Ekstasis.  Hier  schwindet 
die  Bestimmtheit  des  Begriffs  und  die  Klarheit  der  Unterscheidung 
in  dem  reinen  Lichte,  in  dem  der  denkende  Geist  die  Bewegung  und 
Trennung  vom  Denkenden  und  Gedachten  verliert,  Zu  diesem  Zu- 
stande der  Befreiung  bereitet  sich  die  Seele  vor  durch  Stillesein  und 
Harren;  die  Seele  muß  einsam  werden  und  sich  von  allem  Fremden 
lösen,  in  sich  selbst  gekehrt,  jedem  äußeren  Bilde,  jedem  gegen- 


Die  Ekstasis  als  Erkenntnisform  bei  Plotin.  55 

ständlichen  Gedanken  abgewandt.  Die  Eigenheit  wird  dann  vernichtet, 
die  Seele  ist  ein  reines  Gefäß  für  die  Aufnahme  des  Göttlichen  ge- 
worden, vereinfacht,  in  Selbstvergessenheit,  in  reiner  Liebe  wie  in 
einem  göttlichen  Wahnsinn  befangen,  vom  Licht  des  Geistes  erfüllt, 
selbst  reines  Licht  geworden.  In  solchem  Anschauen  vollzieht  sich 
das  Einswerden  mit  Gott.  Da  ist  alle  Disharmonie  gelöst,  die  Seele  zu 
reinem  seligem  Genießen  gelangt.  Es  ist  kein  dauernder  Zustand; 
die  Seele  wird  in  diesem  leiblichen  Dasein  seiner  nur  für  Momente 
teilhaftig,  die  sich  in  der  Zeit  wiederholen  können.  Nach  dem  Bericht 
des  Porphyrius  ist  Plotin  in  den  6  Jahren,  die  Porphyrius  im  Um- 
gange mit  ihm  verlebt  hat,  viermal  in  diesem  Zustand  der  Ekstasis 
zur  Einigung  mit  Gott  gelangt. 

Man  muß  dem  Gedankengange  Plotins  mindestens  dies  zu- 
gestehen, daß  er  in  sich  konsequent  ist.  Von  vornherein  ist  bei  Plotin 
das  Schauen  als  der  höchste  Zweck  bestimmt.  Diese  gesamte  materielle 
AVeit  ist  dazu  gestaltet,  damit  das  schaffende  Prinzip  sich  an  diesem 
Schauspiel  erfreue.  Alles  praktische  Verhalten  entspringt  aus  dem 
Schauen  und  ist  nur  eine  Abschwächung  desselben  und  um  des 
Schauens  willen.  Das  platonische  Prinzip  ist  auch  darin  gewahrt; 
im  Dienste  religiöser  Stimmung  hat  es  seine  weitere  Ausbildung  er- 
fahren. So  hat  es  in  der  ihm  von  Plotin  erteilten  Form  mächtig  auf 
die  Nachwelt  eingewirkt.  Bei  dem  großen  Augustinus,  dem  Heiligen, 
dem  Vater  der  abendländischen  Kirche,  treten  die  Einflüsse  Plotins 
deutlich  hervor,  und  so  fortan  in  der  gesamten  Christenheit  bei  den 
Gemütern  von  tieferer  Sehnsucht  und  innigerer  Frömmigkeit.  Gerade 
die  Lehre  von  der  Einigung  mit  Gott  in  der  Ekstase  hat  bei  den 
Mystikern  in  der  Christenheit  zu  allen  Zeiten  einen  kräftigen  Nach- 
hall gefunden.  Die  Lehren  von  der  Reinigung  und  der  Abgeschieden- 
heit, von  der  geistlichen  Armut  und  Empfänglichkeit,  von  der  Geburt 
Gottes  in  der  Seele,  wie  sie  den  Mystikern  zu  allen  Zeiten  geläufig 
waren,  zeigen  überall  die  nächste  Verwandtschaft  mit  der  plotinischen 
Lehre  von  der  Ekstasis. 


VI. 

Die  Sprachphilosophie  Lockes. 

Von 

Dr.  Karl  Fahrion. 

Wer  in  den  Gedankengang  des  Loekeschen  Hauptwerkes  ein- 
zudringen versucht,  kommt  immer  wieder  auf  das  dritte  Buch  zurück, 
über  das  er  am  Anfang  weggelesen  hat,  weil  es  nach  der  Überschrift 
vom  eigentlichen  Thema  abzuliegen  scheint.  Aus  diesem  Grund 
wird  auch  das  „vielleicht  wichtigste  und  geistvollste"  unter  den 
vier  Büchern  in  den  meisten  Darstellungen  der  Lockeschen  Lehre 
als  Digression  übergangen,  was  Edmund  Pfleiderer  schon  vor  längerer 
Zeit  beklagt  hat x).  Auch  seither  ist  darin  keine  Wandlung  ein- 
getreten. Im  folgenden  soll  deshalb  untersucht  werden,  welche  be- 
sondere Bedeutung  dem  dritten  Buch  im  ganzen  der  Lockeschen 
Lehre  zukommt.  Es  wird  gezeigt,  daß  Lockes  Sprachphilosophie 
vor  allem  der  Klarstellung  des  Substanzbegriffs  dienen  soll,  daß 
die  Sprachphilosophie  selbst  vom  Lockeschen  Substanzbegriff  be- 
einflußt ist,  daß  das  dritte  Buch  im  besonderen  die  psychologische 
Entstehung  des  doppelten  Substanzbegriffs  erklären  will  und  in- 
sofern den  Höhepunkt  der  Lockeschen  Denkens  darstellt,  endlich, 
daß  aus  diesem  Grund  die  weitere  Entwicklung  der  englischen  Philo- 
sophie an  das  dritte  Buch  Lockes  angeknüpft  hat. 

Locke  selbst  spricht  davon,  daß  er  nicht  von  Anfang  an  auf 
die  Bedeutung  der  Wörter  achten  zu  müssen  geglaubt  habe,  sondern 
erst  nachdem  er  über  den  Ursprung  und  die  Zusammensetzung  der 
Ideen  hinausgekommen  sei  und  den  Umfang  und  die  Sicherheit  unseres 


x)  Edmund    Pfleiderer,     Empirismus    und    Skepsis    in    Dav.    Humes 
Philosophie.     Berlin  1874.    S.  12  u.  50. 


Die  Sprachphilosophie  Lockes.  57 

Wissens  zu  prüfen  begonnen  habe  2).  Locke  empfand  also,  daß  zwischen 
dem,  was  er  im  2.  Buch  abhandelte  und  dem,  was  er  im  4.  Buch  unter- 
suchte, eine  Lücke  sei,  daß  das  2.  Buch  nach  einer  Seite  hin  einer 
Ergänzung  bedürfe.  Dieser  nicht  ganz  geklärte  Begriff  kann  kein 
anderer  sein,  als  der  Substanzbegriff,  in  dem  bei  Locke  die  Haupt- 
frage der  neueren  Philosophie,  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von 
Denken  und  Sein,  zum  Ausdruck  kommt. 

Sie  macht  dem  Philosophen  die  größten  Schwierigkeiten;  denn 
sein  Standpunkt  ist  durch  gegensätzliche  Motive  bestimmt.  Auf 
der  einen  Seite  kann  er  ein  von  der  Vorstellung  verschiedenes  Sein 
nicht  entbehren.  Seine  Problemstellung  geht  von  dem  naiven  Glauben 
an  die  Außenwelt  aus.  Er  spricht  überall  von  Objekten,  die  auf  die 
Sinne  einwirken;  ja  er  läßt  die  Ideen  von  den  Körpern  durch  einen 
Stoß  hervorgebracht  werden  (IL  8,  11).  Seine  Unterscheidung  ein- 
facher und  zusammengesetzter  Ideen,  primärer  und  sekundärer 
Qualitäten  ist  nicht  möglich  ohne  die  Annahme  einer  von  den  Ideen 
verschiedenen  Wirklichkeit,  Auf  der  andern  Seite  aber  sind  Sinnes- 
wahrnehmung und  Selbstbeobachtung  für  ihn  die  einzigen  Quellen 
unsrer  Ideen.  Durch  sie  werden  uns  aber  nur  die  einfachen  Ideen 
geliefert,  welche  die  sinnlichen  Eigenschaften  der  Dinge,  wie  Aus- 
dehnung, Gestalt  und  Farbe  zum  Inhalte  haben.  Unsere  Ideen  sind 
wohl  zu  unterscheiden  von  der  Natur  der  existierenden  Gegenstände; 
von  diesen  können  wir,  da  unser  Geist  keinen  andern  unmittelbaren 
Gegenstand  hat  als  unsre  Ideen,  überhaupt  nichts  aussagen.  Die 
einfachen  Ideen  bilden  die  Grenzen  unsres  Denkens,  über  die  der 
Geist  nicht  um  ein  Jota  hinauskommen  kann;  von  der  Idee  der  Sub- 
stanz des  Körpers  sind  wir  gerade  soweit  entfernt,  als  wenn  wir  über- 
haupt von  ihm  nichts  wüßten.  (IL  23,  29  u.  16). 

Locke  setzt  also  auf  der  einen  Seite  ein  von  der  Idee  verschiedenes 
Sein  voraus,  auf  der  andern  lehrt  er,  daß  es  von  unsem  Ideen  nicht 
erfaßt  wird.  Daher  ist  seine  Lehre  von  der  Substanz  zwiespältig 
und  ist  es  immer  geblieben.  Er  faßt  den  Begriff  zuerst  in  der  alten 
Weise;  es  ist  das  den  wahrgenommenen  Erscheinungen  zugrunde- 
liegende wahre  und  bleibende  Sein,  der  Träger  der  sinnlichen  Eigen- 
schaften.   Von  der  Substanz  in  diesem  Sinn  haben  wir  gar  keine 


a)  John  Locke,  Über  den  menschlichen  Verstand,  übers,  von  Schultz» 
(Reclam).     Buch  III,  Kap.   9,  §  21. 


58  Karl  Fahrion, 

Erkenntnis;  wer  sein  Denken  prüft,  findet,  daß  er  keine  andere 
Idee  von  ihr  hat  als  nur  die  Voraussetzung  von  er  weiß  nicht  welcher 
Stütze  solcher  Eigenschaften,  die  einfache  Ideen  in  uns  hervorzubringen 
vermögen,  und  die  man  gewöhnlich  Accidentien  nennt.   (II.  23,  2). 

Neben  diesen  alten  Begriff  stellt  Locke  einen  neuen.  Für  den 
Philosophen  sind  nach  seiner  Meinung  die  Substanzen  nur  eine  Samm- 
lung solcher  einfachen  Ideen,  die  als  Repräsentanten  von  bestimmten 
einzelnen  aus  ihnen  bestehenden  Dingen  gelten.  (II.  12,  6).  Der  erste 
Begriff  bezieht  sich,  wie  Locke  sagt,  auf  die  Substanz  im  allgemeinen, 
der  andere  betrifft  die  einzelnen  Substanzen,  also  die  Dinge.  Es 
ist  nun  aber  nicht  so,  daß  Locke,  wie  später  Berkeley,  den  alten 
Substanzbegriff  aufheben  und  den  Dingbegriff  allein  übrig  behalten 
würde,  sondern  die  zwei  Bestimmungen  sind  nach  seiner  Meinung 
beide  notwendig  und  nicht  von  einander  zu  trennen.  Auch  die  Sub- 
stanz im  zweiten  Sinn,  als  Summe  einfacher  Ideen,  ist  kein  genauer 
Begriff.  Die  Eigenschaften  und  Kräfte  der  Substanzen  sind  so  mannig- 
faltig, daß  keines  Menschen  Idee  sie  alle  enthält.  (IL  31,  8).  Locke 
gibt  also  den  metaphysischen  Begriff  der  Substanz  nicht  auf;  deshalb 
hat  sein  Begriff,  seinem  doppelten  Ausgangspunkt  entsprechend, 
einen  doppelten  Inhalt.  Die  Substanzideen  haben  in  unsrem  Geist 
eine  doppelte  Beziehung:  1.  Zuweilen  beziehen  sie  sich  auf  ein  voraus- 
gesetztes wirkliches  Wesen  jeder  Art  von  Dingen.  2.  Zuweilen  sollen 
sie  nur  Abbildungen  und  Darstellungen  existierender  Dinge  im  Bewußt- 
sein mit  Hilfe  von  Ideen  der  in  ihnen  zu  entdeckenden  Eigenschaften 
sein.  So  wie  so  sind  diese  Kopien  jener  Originale  und  Urbilder  un- 
vollkommen und  ungenau.  (IL  31,  6).  Unsre  komplexen  Ideen  von 
Substanzen  enthalten  neben  allen  den  einfachen  Ideen,  woraus  sie 
bestehen,  immer  noch  die  verworrene  Idee  von  etwas,  dem  jene  an- 
gehören und  worin  sie  den  Grund  ihrer  Existenz  finden.  Es  ist  immer 
noch  die  Voraussetzung  dabei,  daß  die  Substanz  etwas  außer  der 
Ausdehnung,  Gestalt,  Solidität,  Bewegung,  dem  Denken  oder  andern 
wahrnehmbaren  Ideen  sei,  obgleich  wir  nicht  wissen,  was  das  ist. 
(IL  23,  3). 

Es  ist  zu  verstehen,  daß  Locke  das  Bedürfnis  empfand,  diesen 
so  merkwürdig  verwickelten  und  verworrenen  Begriff  aufzuklären  3). 


3)  A.  Riehl,    Der    philosophische    Kritizismus.     1876.    I.    S.  52:    Der 
Begriff  der  Substanz  bereitet  der  Lockeschen    Theorie    augenscheinlich    (  ie 


Die  Sprachphilosophie  Lockes.  59 

Daß  er  zu  diesem  Zweck  auch  auf  die  Bedeutung  der  Wörter  zurück- 
ging, mag  äußerlich  darin  begründet  sein,  daß  der  Philosoph  in  seiner 
Jugend  die  mittelalterliche '  Philosophie  und  namentlich  die  Lehre 
des  Occam  von  den  Universalia  studiert  hatte.  Innerlich  begründet 
ist  sein  Unternehmen  in  dem  Umstand,  daß  der  Substanzbegriff 
Lockes,  wenigstens  nach  einer  Seite  hin,  inhaltslos,  also  nichts  weiter 
als  ein  Wort  ist;  wenn  außerdem  beide  Substanzbegriffe  ungenau 
sind  und  das  Wesen  der  Substanz  nicht  wiedergeben,  so  lag  der  Schluß 
nahe,  ihre  Bedeutung  beruhe  auf  dem  Zweck  der  sprachlichen  Mit- 
teilung. Der  Philosoph  jedenfalls  betrachtet  sein  Zurückgreifen 
auf  die  Bedeutung  der  Wörter  wie  eine  neue,  wichtige  Entdeckung. 
Die  Erzählung  im  3.  Buch  (Kap.  9,  §  16)  steht  in  Parallele  zu  der 
aus  der  Einleitung  bekannten.  Wie  ein  Streit  unter  Bekannten  ihn 
auf  den  schöpferischen  Gedanken  geführt  hat,  vor  der  Entscheidung 
über  die  Probleme  müsse  man  prüfen,  wie  weit  unsere  eigenen  Fähig- 
keiten gehen,  so  geht  ihm  bei  einem  zweiten  Streit  die  Erkenntnis 
auf,  vor  jeder  genaueren  Untersuchung  müsse  man  zuerst  die  Be- 
deutung der  Wörter  prüfen. 

Die  Ausführung  seiner  Absicht  enthält  das  3.  Buch.  Für  unsern 
Zweck  genügt  es,  einen  kurzen  Überblick  über  ihren  allgemeinen 
Teil,  also  über  die  drei  ersten  Kapitel,  zu  geben.  Manches  ist  dabei 
ausgelassen  oder  umgestellt,  da  Lockes  Darstellung  wegen  ihrer 
ewigen  Wiederholungen  wenig  übersichtlich  ist;  auch  so  tritt  die 
eigentliche  Meinung  Lockes  erst  allmählich  deutlich  hervor. 

Im  1.  Kapitel  ist  die  Rede  von  der  Sprache  im  allgemeinen, 
von  der  Fähigkeit  des  Menschen,  artikulierte  Laute  hervorzubringen, 
diese  zu  Zeichen  seiner  Ideen  zu  machen  und  allgemeine  Zeichen 
zu  bilden.  Bald  geht  Locke  über  zur  Einteilung  des  Stoffs;  er  will 
zeigen,  erstens,  worauf  im  Sprachgebrauch  Namen  unmittelbar  An- 
wendung finden  und  zweitens,  worin  das  Wesen  der  Gattungen  und 
Arten  bestehe;  denn  die  meisten  Namen  sind  nach  seiner  Meinung 
allgemein  und  drücken  Arten  und  Klassen  von  Dingen  aus.  Weiter 
soll  gezeigt  werden,  worin  die  natürlichen  Vorzüge  und  Mängel  der 
Sprache  bestellen,  wie  der  Mißbrauch  der  Wörter  entstehe  und  wie 
ihm  gesteuert  werden  könne. 


größten  .Schwierigkeiten,    daher   die    beständig   wiederkehrende  Bemühung, 
diesen  Begriff  aufzuklären. 


60  Karl  Fahr ion, 

Die  erste  Frage  wird  rasch  in  dem  zweiten,  kurzen  Kapitel  ab- 
gehandelt. Die  Wörter  sind  für  die  Mitteilung  unsrer  Gedanken 
notwendige  sinnliche  Zeichen.  Sie  sind  zunächst  nur  die  Zeichen  der 
Ideen  dessen,  der  sie  gebraucht;  sie  drücken  weder  die  Idee  eines 
andern  noch  die  Eigenschaft  eines  Dings  aus.  Tatsächlich  aber  haben 
sie  oft  eine  verborgene  Beziehung  auf  die  Ideen  anderer.  Sie  setzen 
voraus,  daß  unsre  Wörter  auch  den  Ideen  anderer  entsprechen  und 
ebenso  werden  sie  auch  auf  die  wirklichen  Dinge  bezogen,  da  die 
Menschen  nicht  in  den  Verdacht  kommen  wollen,  von  bloßen  Ein- 
bildungen zu  reden. 

Im  3.  Kapitel  wendet  sich  Locke  der  zweiten  Frage  zu,  wie  es 
sich  mit  den  Namen  der  Gattungen  und  Arten  verhalte.  Die  meisten 
Wörter,  führt  er  aus,  sind  allgemein;  denn  es  ist  unmöglich  und  un- 
nötig, für  jedes  einzelne  Ding  einen  Namen  zu  haben.  Wörter  werden 
dadurch  allgemein,  daß  sie  zu  Zeichen  allgemeiner  Ideen  gemacht 
werden,  Ideen  dadurch,  daß  sie  von  den  örtlichen  und  zeitlichen 
Umständen  und  irgend  welchen  anderen  Ideen  getrennt  werden, 
die  ihnen  die  Bestimmtheit  dieser  oder  jener  einzelnen  Existenz  geben. 
Man  läßt  von  den  Ideen  der  einzelnen  Individuen  das  aus,  was  jeder 
von  ihnen  eigentümlich  ist  und  behält  nur  das  allen  Gemeinsame 
zurück.  Auf  diesem  Weg  der  Abstraktion  erhalten  die  Ideen  die 
Fähigkeit,  mehrere  Individuen  als  eins  darzustellen.  Die  allgemeinen 
Wörter  bezeichnen  nicht  bloß  ein  einzelnes  Ding,  auch  nicht  eine 
Mehrheit,  sondern  eine  Art  von  Dingen.  Sie  sind  Erfindungen  und 
Schöpfungen  des  Verstands  und  deshalb  besteht  das  Wesen  der  Arten 
eben  in  der  abstrakten  Idee. 

Freilich  ist  zuzugeben,  daß  die  Natur  bei  der  Hervorbringung 
der  Dinge  eine  Anzahl  derselben  ähnlich  gestaltet,  wie  wir  es  besonders 
deutlich  sehen  an  den  Tiergeschlechtern  und  an  allen  sich  durch 
Samen  fortpflanzenden  Wesen.  Aber  das  reale  Wesen  dieser  Gat- 
tungen, d.  h.  die  Ursache  der  Gleichförmigkeit,  kennen  wir  nicht, 
Wir  wissen  nichts  von  einer  gewissen  Anzahl  von  Formen  und  Scha- 
blonen, worin  alle  existierenden  Naturdinge  gegossen  wären,  und 
woran  sie  gleichmäßig  teil  hätten.  Mit  der  Vernunft  läßt  sich  über 
das  reale  Wesen  der  Gattungen  und  Arten  nichts  ausmachen.  Ein 
Beweis  dafür  ist  die  Tatsache,  daß  schon  oft  bei  der  Geburt  eines 
Kindes  ein  Streit  entstand,  ob  es  ein  Mensch  sei  oder  nicht.  Das 
ist  nur  deshalb  möglich,  weil  wir  das  reale  Wesen  des  Menschen  nicht 


Die  Sprachphilosophie  Lockes.  61 

kennen  und  weil  unsre  Idee  „Mensch"  nur  eine  unsichere  und  wandel- 
bare Sammlung  einfacher  Ideen  ist,  die  der  Verstand  zusammen- 
gefügt hat.  Wir  bilden  solche  Sammlungen  einfacher  Ideen  zum 
Zweck  der  leichteren  Mitteilung  des  Wissens  und  legen  ihnen  ein- 
heitliche Namen  bei,  um  so  die  Dinge  gleichsam  bündelweise  betrachten 
und  besprechen  zu  können. 

Es  sind  demnach  zwei  Bedeutungen  von  Wesen  auseinander- 
zuhalten, das  nominale  und  das  reale.  Das  reale  ist  die  wirkliche, 
innre,  wenn  auch  unbekannte  Beschaffenheit  der  Dinge,  das,  wodurch 
sie  sind,  was  sie  sind.  Unsre  allgemeinen  Ideen  beziehen  sich  nun 
gewöhnlich  auch  auf  ein  solches  reales  Wesen,  aber  mit  Unrecht, 
da  uns  dieses  unbekannt  ist  und  wir  nach  ihm  niemals  die  Dinge 
in  Gattungen  und  Arten  einteilen  könnten.  Wir  können  die  Dinge 
nur  nach  den  vom  Verstand  gebildeten  abstrakten  Ideen  sortieren. 
Das  Wesen  der  Gattungen  und  Arten  liegt  also  in  der  abstrakten 
Idee;  sie  stellen  nur  das  nominale  Wesen  dar,  d.  h.  die  Summe  der 
wahrnehmbaren  Eigenschaften,  nach  denen  wir  die  Dinge  benennen. 

Auf  diese  drei  ersten  Kapitel  des  dritten  Buchs  folgen  noch 
andere,  in  denen  Locke  zuerst  seine  allgemeine  Sprachphilosophie 
auf  die  einzelnen  Arten  von  Ideen  anwendet  und  dann  allgemeinere 
Bemerkungen  über  die  Unvollkommenheit  der  Wörter  und  ihren 
Mißbrauch  macht.  Er  stellt  darin  seine  Auffassung  der  Wörter  immer 
wieder  von  einer  neuen  Seite  dar,  in  der  Hauptsache  aber  gibt  er 
eine  praktische  Anwendung  und  eine  Wiederholung  seiner  Sprach- 
philosophie. 

Es  ist  nicht  schwer  zu  sehen,  daß  diese  hauptsächlich  oder  fast 
allein  auf  den  Substanzbegriff  berechnet  ist.  Denn  nicht  nur  ist  der 
Abschnitt  über  die  Substanznamen  (Kap.  6)  der  umfangreichste, 
die  Unterscheidung  von  Nominal-  und  Realwesen,  in  der  die  all- 
gemeinen Ausführungen  Lockes  gipfeln,  findet  gar  keine  Anwendung 
auf  die  andern  Wortarten.  Bei  den  Namen  der  einfachen  Ideen  fällt, 
wie  Locke  im  4.  Kapitel  ausführt,  Real-  und  Nominalwesen  zusammen ; 
sie  sind  vollständig  dem  Dasein  der  Dinge  entnommen  und  ganz 
und  gar  nicht  willkürlich.  Ihnen  entspricht  also  wirklich  eine  reale 
Existenz.  Die  Namen  der  gemischten  Modi  und  Relationen  aber 
sind  willkürlich  und  ohne  Rücksicht  auf  ein  reales  Dasein  vom  Geist 
geschaffen.    Bei  ihnen  handelt  es  sich  also  gar  nicht  um  ein  reales 


62  Karl  Fahrion 


Wesen;  denn  ihre  Realität  besteht  allein  und  ganz  in  der  Idee.  Nur 
nebenbei  soll  erwähnt  werden,  daß  auch  die  Art,  wie  die  Namen  der 
einfachen  und  gemischten  Modi  entstehen,  nicht  zu  der  im  3.  Kapitel 
(§  6  und  7)  angegebenen  paßt,  d.  h.  daß  sie  nicht  auf  dem  Weg  der 
Abstraktion  zustande  kommen  können.  Was  Locke  dagegen  über 
die  Substanznamen  sagt,  ist  nichts  anderes  als  eine  Wiederholung 
seiner  allgemeinen  Sprachphilosophie.  Hier  fallen  nominales  und 
reales  Wesen  auseinander.  Die  Natur  macht  die  Ähnlichkeiten,  aber 
die  Menschen  bestimmen  die  Arten.  Jede  Substanz  hat  wohl  ihre 
eigentliche  innere  Beschaffenheit,  worauf  die  sinnlichen  Eigenschaften 
und  Kräfte,  die  wir  an  ihnen  wahrnehmen,  beruhen;  aber  das  Ein- 
ordnen der  Dinge  in  Arten  geschieht  den  Ideen  gemäß,  die  wir  von 
ihnen  haben.  (III.  6,  13).  Die  Substanzidee  besteht  nur  aus  einer 
Sammlung  von  sinnlichen  Ideen,  die  wir  an  den  Substanzen  wahr- 
nehmen. (III.  6,  9).  Bei  ihrer  Bildung  verfahren  die  Menschen  will- 
kürlich; sie  haben  mehr  die  Bequemlichkeit  der  Sprache  im  Auge 
als  die  wahre  und  genaue  Natur  der  Dinge;  die  Namen  sind  deshalb 
schwankend  und  unsicher  und  bei  verschiedenen  Menschen  ver- 
schieden. Die  Substanznamen  haben  also  nach  Lockes  Meinung 
eine  Beziehung  sowohl  auf  das  reale  als  das  nominale  Wesen;  aber 
beide  Beziehungen  sind  ungenau.  Das  reale  Wesen  ist  uns  unbekannt 
und  die  Sammlung  einfacher  Ideen,  welche  das  nominale  Wesen 
darstellen,  ist  unvollständig,  weil  es  dem  doch  vorhandenen  realen 
Wesen  nicht  entspricht. 

Das  zeigt,  daß  die  Sprachphilosophie  nicht  bloß  auf  den  Substanz- 
begriff berechnet  ist,  sondern,  daß  sie  von  Anfang  an  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  Lockeschen  Substanzbegriffs  in  sich  enthält.  Locke 
stellt  nicht  eine  voraussetzungslose  Untersuchung  an  über  die  alte 
Frage  nach  der  Bedeutung  der  Universalia,  sondern  er  nimmt  sogleich, 
wie  es  seiner  Erkenntnistheorie  entspricht,  an,  daß  die  allgemeinen 
Ideen,  auf  welche  die  allgemeinen  Wörter  sich  beziehen,  zusammen- 
gesetzter Art  sind;  diese  Ideen  aber  sind  nach  seiner  Lehre  vom  mensch- 
lichen Geist  geschaffen  und  sind  keine  Abbilder  der  Wirklichkeit. 
Daneben  aber  setzt  er  voraus,  was  allein  für  die  Substanz  zutrifft, 
daß  die  allgemeinen  Ideen  doch  in  der  Ähnlichkeit  der  Dinge  ihre 
Grundlage  haben;  sie  enthalten  also  doch  eine  Hinweisung  auf  das 
Sein.  Lockes  Auffassung  der  Wörter  ist  also  von  Anfang  an  durch 
seinen  Substanzbegriff  bestimmt;  die  Unterscheidung  des  realen  und 


Die  »Sprachphilosophie  Lockes.  63 

nominalen  Wesens  entspricht  ganz  seinem  doppelten  Substanzbegriff. 
Lockes  Antwort  ist  deshalb  beidemal  nicht  eindeutig.  Seine  Sprach- 
philosophie ist  nicht  rein  nominalistisch,  wie  sie  vielfach  aufgefaßt 
wird4).  Die  allgemeinen  Begriffe  sind  nicht  bloße  Namen;  es  ent- 
spricht ihnen  ein  Sein,  nur  ist  uns  dieses  Sein  verborgen.  Die  Sprach- 
philosophie enthält  deshalb  auch  dieselben  Widersprüche  wie  die 
Substanzenlehre.  Die  Namen  der  einfachen  Ideen  sollen  von  einer 
realen  Existenz  entnommen  sein  und  auf  eine  solche  hinweisen;  die 
Namen  der  Substanzen  aber,  die  doch  aus  einfachen  Ideen  zusammen- 
gesetzt sind,  sollen  willkürlich  gebildet  und  das  ihnen  entsprechende 
Sein  soll  uns  vollständig  unbekannt  sein.  Weiter  sollen  auf  der  einen 
Seite  unsre  Substanznamen  mit  der  wahren  Natur  der  Dinge  über- 
einstimmen, wir  sollen,  verlangt  der  Philosoph,  die  Natur  und  die 
Eigenschaften  der  Dinge  selbst  untersuchen,  um  dadurch  unsre  Art- 
begriffe zu  vervollkommnen;  auf  der  andern  Seite  wird  nach  Lockes 
Lehre  (III  6,  48  ff.)  ein  reales  Wesen  nur  deshalb  vorausgesetzt, 
um  den  Arten  Festigkeit  zu  geben  und  dadurch  die  Wörter  brauch- 
barer zu  machen. 

Durch  die  Sprachphilosophie  ist  also  die  Frage  nach  der  Substanz 
in  keiner  Weise  gelöst  oder  auch  nur  geklärt;  im  Gegenteil,  das  3.  Buch 
ist,  wenn  das  genialste,  dann  gewiß  auch  das  widerspruchvollste. 
Auf  alle  Widersprüche  einzugehen  ist  hier  nicht  der  Ort;  wenn  aber 
die  Sprachphilosophie  so  wenig  zur  Lösung  beiträgt,  so  müssen  wir 
fragen:  Welchen  Zweck  hat  sie  dann  und  welchen  Dienst  leistet  sie 
Locke?  Sie  soll  seinen  widerspruchsvollen  Substanzbegriff  stützen 
und  rechtfertigen,  indem  sie  eine  psychologische  Erklärung  desselben 
gibt.  Die  SprachpHilosophie  gibt  an,  was  der  Begriff,  sofern  er  aus 
einer  Sammlung  einfacher  Ideen  besteht,  zu  bedeuten  hat  und  welchen 
Zweck  er  erfüllt.  Er  ermöglicht  es,  die  Dinge  bündelweise  zu  betrachten 
und  unser  Wissen  rasch  und  leicht  mitzuteilen.  Aber  auch  die  Be- 
ziehung des  Begriffs  auf  eine  reale  Existenz  ist  erklärt.  Die  eben  er- 
wähnten letzten  Paragraphen  des  6.  Kapitels  sind  hier  wohl  zu  be- 
achten. Nur  aus  sprachlichen  Gründen,  sagt  Locke,  wird  ein  reales 
Wesen  vorausgesetzt.  Unsre  Substanzideen  als  Sammelbegriffe  sind 
unvollständig  und  deshalb  schwankend.     Müßten  wir  deshalb  an- 


4)  z.  B.  von  Ed.  Fechtner.     John  Locke,    ein  Bild  aus  den  geistigen 
Kämpfen  Englands  im  17.  Jahrhundert.     Stuttgart  1897,  S.  178. 


64  Karl  Fahrion, 

nehmen,  unsre  Nebenmenschen  verstehen  unter  ihren  Namen  etwas 
anderes  als  wir,  so  wäre  das  ein  großes  Hindernis  für  den  Gebrauch 
der  Sprache.  Man  setzt  daher  voraus,  daß  zu  jeder  Art  ein  reales 
Wesen  gehöre  und  daß  unser  Name  dieses  reale  Wesen  in  sich  enthalte 
und  ausdrücke.  Durch  diese  Erklärung  ist  der  Dualismus  Lockes 
sanktioniert.  Freilich  ist  zugleich  der  Substanzbegriff  noch  mehr 
in  den  Hintergrund  gedrängt.  Es  gibt  wohl  eine  Substanz,  aber  unsre 
Erkenntnis  erscheint  doch  ganz  als  subjektiver  Besitz  und  zum  Teil 
als  subjektiven  Ursprungs.  Nun  ist  eine  Vermittlung  zwischen  dem 
2.  und  4.  Buch  gefunden;  Locke  konnte  getrost  an  die  Aufgabe  heran- 
treten, Umfang  und  Sicherheit  des  Wissens  zu  untersuchen  und  konnte 
mit  dem  Satz  beginnen,  daß  die  Wahrheit  in  der  Erkenntnis  der 
Übereinstimmung  oder  Nichtübereinstimmung  zweier  Ideen  bestehe, 
ein  Satz,  an  dem  er  freilich  im  späteren  Verlauf  wieder  nicht  konsequent 
festhielt. 

Die  Sprachphilosophie  stellt  also  eine  idealistische  Weiterbildung 
der  Lockeschen  Lehre  dar;  bei  dem  Versuch,  seinen  Realismus  zu 
stützen,  wird  der  Philosoph  von  selbst  auf  die  idealistische  Bahn  ge- 
lenkt 5).  Das  kommt  äußerlich  darin  zum  Ausdruck,  daß  Lockes 
Nachfolger,  Berkeley,  gerade  an  die  Sprachphilosophie  angeknüpft 
hat.  Man  brauchte  nur  diese  Stütze  des  Substanzbegriffs  wegzunehmen, 
so  wurde  der  Begriff  hinfällig.  Nun  war  ein  Angriff  auf  die  Sprach- 
philosophie nicht  schwer.  Locke  gründete  das  Recht  des  Substanz- 
begriffs auf  seinen  sprachlichen  Zweck  und  diesen  auf  den  Charakter 
des  Begriffs  als  eines  allgemeinen  und  abstrakten.  Dadurch  entstanden 
große  Schwierigkeiten.  Denn  im  2.  Buch  hatte  Locke  eine  Idee  der 
Substanz  im  allgemeinen,  dann  die  Ideen  eigentümlicher  Arten  von 
Substanzen,  endlich  komplexe  Sammelideen  von  Substanzen  unter- 
schieden. Wie  kann  man  sich  nun  unter  diesen  Ideen  zurechtfinden, 
wenn  doch  nach  dem  3.  Buch  auch  die  Ideen  der  eigentümlichen  Arten 
der  Substanzen  allgemeiner  Natur  sind?  Berkeley  löste  die  Schwierig- 
keit, indem  er  in  der  Einleitung  zu  den  Prinzipien  die  Existenz  all- 
gemeiner, abstrakter  Ideen  kurzerhand  leugnete.  Damit  war  der 
Lockesche  Substanzbegriff  zerstört.  Berkeley  fand  dabei  Anknüpfungs- 
punkte bei  Locke  selbst,  so  im  4.  Buch  (17.  8),  wo  dieser  ausführt, 


5)  Dieser  Seite  der  Lockeschen  Lehre  steht  ihr  „recht  massiver  Realis- 
mus" gegenüber.    A.  Schopenhauers  Werke.    Stuttgart,  Cotta.    VIII,  S.  21. 


Die   »Sprachphilosophie   Lockes.  65 

daß  das  unmittelbare  Objekt  all  unsres  Wissens  nur  einzelne  Dinge 
seien,  daß  unsern  partikularen  Ideen  Allgemeinheit  nur  beiläufig 
zukomme  und  nur  darin  bestehe,  daß  ihnen  mehr  als  ein  einzelnes 
Ding  entsprechen  könne.  Und  im  3.  Buch  (10,  15)  bezeichnet  schon 
Locke  die  Materie  als  bloßes  Wort  und  leugnet,  daß  es  ein  solches 
vom  Körper  verschiedenes  Ding  wirklich  in  der  Natur  gebe. 

So  stellt  die  Sprachphilosophie  den  Höhepunkt  des  Lockeschen 
Systems  dar;  es  bezeichnet  den  Punkt,  an  dem  die  Lehre  Lockes  über 
sich  selbst  hinausführen  mußte.  Gewiß  geht  im  3.  Buch  das  Denken 
des  Philosophen  am  tiefsten,  wenn  auch  seine  Darstellung  dieselben 
Mängel  aufweist  wie  sonst.  Allein  von  dem  Begründer  eines  neuen 
Problems  kann  man  nicht  verlangen,  daß  er  sogleich  eine  klare  und 
endgültige  Lösung  finde. 


Archiv  für  Geschichte  der  Philoi«phie.    XXVI.  1 


VII. 

Die  Wurzeln  des  Pessimismus  bei  Schopenhauer. 

Von 

Oscar  Schuster. 

Durch  seinen  glänzenden  Stil,  seine  persönliche  Art  zu  philoso- 
phieren, seine  ästhetisierende  und  moralisierende  Richtung  ist  Schopen- 
hauer in  weitere  Kreise  eingedrungen.  Er  hat  auch  das  Schicksal  er- 
lebt, daß  sein  Charakterbild  durch  der  Parteien  Haß  und  Gunst 
verwirrt,  in  der  Geschichte  schwankt 1).  Und  dem  muß  wohl  auch  so 
sein.  Es  gehen  zu  viele  Gefühle,  zu  viel  von  der  Persönlichkeit  des 
Philosophen  in  das  Werk  ein  2).    Bei  der  fortschreitenden  Psychologie 


J)  Zur  Orientierung  über  die  Schopenhauerliteratur:  Überweg-Heinze, 
Geschichte  der  Philosophie,  10.  Aufl.,  4.  Bd.,  S.  96  ff.  Laban,  Schopenhauer- 
literatur. Ein  Nachtrag  dazu  ist  erschienen.  Hertslet,  Schopenhauer,  Register 
zu  den  Werken.  Gustav  Friedrich  Wagner,  Enzyklopädisches  Wörterbuch 
zu  Schopenhauers  Werken.  Ferner  sind  bei  Abfassung  dieser  Arbeit  auf  den 
Verfasser  von  Einfluß  gewesen:  Grisebach,  Schopenhauers  Leben.  Grisebach, 
Schopenhauer,  neue  Beiträge  zur  Geschichte  seines  Lebens  nebst  einer  Schopen- 
hauer-Bibliographie. Kuno  Fischer:  Schopenhauers  Leben,  Werke  und  Lehre. 
Lehmann:  Schopenhauer,  ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  Metaphysik.  Möbius, 
Schopenhauer.  Dieses  Buch  ist  stark  psychiatrisch  gefärbt.  Volkelt,  Schopen- 
hauer. Von  Gwinner:  Schopenhauers  Leben.  Dieses  bedeutende  Buch  hat 
jetzt  seine  dritte  Auflage  erlebt.  Jürgen  Bona  Meyer,  Arthur  Schopenhauer 
als  Mensch  und  Denker.  Graf  Keyserling,  Schopenhauer  als  Verbilder.  Fried- 
rich Paulsen,  Schopenhauer,  Hamlet,  Mephistopheles,  drei  Aufsätze  zur  Natur- 
geschichte des  Pessimismus.  Kowalewsty,  Studien  zur  Psychologie  des 
Pessimismus.  Kowalewsky,  Arthur  Schopenhauer  und  seine  Weltanschauung. 
Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  Bd.  28,  S.  33.  von  Brock- 
dorff :  Schopenhauer  und  die  wissenschaftliche  Philosophie.  Eduard  v.  Hart- 
mann: Zur  Geschichte  und  Beg?ündurg  des  Pessimismus,  dazu  die  Polemik 
in  den  ,, Kantstudien"  u.  a.  m. 

"-)  Vgl.  dazu  die  bedeutenden  Ausführungen  von  H.  S.  Chamberlain  in 
dem  Abschnitt  über  Bruno  in  seinem  Kantwerk,  S.  308  ff. 


Die  Wurzeln   des   Pessimismus    bei  Schopenhauer.  67 

wird  mancher  Streit  um  Objekte  mehr  zum  Subjekt  führen,  und  es 
wird  vielleicht  auf  diesem  Boden  eine  Duldung  erwachsen  können, 
welche  besser  fundamentiert  ist,  als  manch  andere  Toleranz.  Wir  sind 
eben  alle  innerhalb  gewisser  Grenzen  gegebene  Größen  und  können 
nur  ein  „Partialleben"  führen.  In  dieser  Richtung  ist  das  Werk  von 
James:  „Die  religiöse  Erfahrung  in  ihrer  Mannigfaltigkeit"  sehr  be- 
grüßenswert. Hier  wird  der  Versuch  gemacht,  bestimmte  Menschen- 
typen auseinnader  zu  spalten  und  zu  charakterisieren,  und  dann 
wieder  durch  Ideen  zu  vereinigen  3).  „Velle  non  discitur" !  Dieses 
„Velle"  hat  Schopenhauer  tief  in  sich  gespürt  und  zu  einem  Angel- 
punkt seiner  Philosophie  gemacht,  es  künstlerisch  gestaltet.  Hier 
handelt  es  sich  nicht  nur  um  etwas  Anthropormorphes,  sondern  um 
etwas  Individuomorphes  —  sit  venia  verbo !  Ein  Weltbild  schuf  der 
Philosoph,  das  vom  Typus  der  schwermütigen  Seele  geschaffen  worden 
ist,  um  mit  James  zu  sprechen,  und  ein  Bild  auch,  das  in  den  Zeit- 
verhältnissen lag:  In  manchem  Sinne  ein  antirationalistisches4). 

Vor  7  Jahren  ist  das  Buch  von  Möbius  zum  ersten  Male  erschienen. 
Es  scheint  mir,  daß  wir  heute  in  der  Lage  sind,  etwas  tiefer  in  die 
Persönlichkeit  des  Philosophen  Einblick  zu  erhalten.  Möbius  hat 
das  Werk  als  Psychiater  geschrieben.  Seither  ist  eine  Reihe  von. 
Publikationen  in  gleichem  Sinne  in  der  deutschen  Literatur  erschienen.5) 
Für  den  philosophisch  Geschulten  fällt  an  vielen  dieser  Veröffent 
lichungen  das  Durcheinanderwerfen  des  biologischen  und  des 
ethischen  Standpunktes  in  der  regellosesten  Weise  auf.  Nietzsche, 
der  starke  Betoner  biologischer  Werte,  die  bei  ihm  freilich  teilweise 
mit  den  ethischen  zusammenfielen,  würde  wohl  Manches  an  seiner 
Lehre  zu  modifizieren  haben,  wenn  viele  der  neueren  Anschauungen 
bedingungslos  gelten.  Der  Psychiater  kann  in  manchen  Fällen  in 
eine  bedenkliche  Lage  kommen  einem  Manne  gegenüber,  der  seiner 
Zeit  vorausgeeilt  und  in  Widerspruch  mit  herrschenden  Gewalten 
gekommen  ist.  Ganz  objektiv  angesehen,  müßte  schon  das  Bestellen 
so  unendlich  vieler  Werte  nebeneinander  vorsichtig  machen.     Man 


3)  Vgl.  auch  Richert,  „Schopenhauer",  6.  Vortrag,  Epikrise. 

4)  Am  besten  ist  dem  Jcel  in  seinem  Buche  über  Nietzschs  und  die 
Romantik,  gerecht  geworden.    Siehe  S.  202:  Schopenhauer  und  die  Romantik. 

5)  Alles  Nähere  darüber  findet  man  in  dem  Literaturverzeichnis  von 
William  Stern,  das  dieser  seinem  Buche  „Dift'erenzielle  Psychologie"  bei- 
gegeben hat. 

5* 


68  Oscar  Schuster, 

kann  Arzt  und  dabei  ein  krasser  Philister  sein.  Wie  viele  unserer 
Anschauungen  Klassenanschauungen  sind,  das  möge  man  in  dem 
interessanten  Buch  von  Hellpach,  ..Xervenleben  und  AVeit  an  schauung" 
nachlesen  6).  Man  kann  sehr  wohl  fragen,  ob  etwas,  das  für  den  Homo 
sapiens  (Mitogenetisch  wertlos,  nicht  phylogenetisch  sehr  wertvoll 
sein  könne.  Der  Begriff  des  Zweckes  spielt  stark  in  die  Wertfrage 
hinein.  Man  braucht  nur  an  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft"  zu  er- 
innern, um  sich  zu  sagen,  daß  ohne  Philosophie  eine  gedeihliche  Be- 
handlung dieser  Probleme  nicht  wohl  möglich  ist.  William  Stern  hat 
viel  Gründliches  über  den  Begriff  der  Norm  in  seiner  differentiellen 
Psychologie  gesagt.  Abhandlungen  über  den  „normalen"  Menschen 
würden  vorerst  noch  sehr  verdienstlich  sein.  Stern  betont  mit  Recht, 
daß  normal  keinen  Punkt,  sondern  eine  Strecke  bezeichnet7).  Schopen- 
hauer gehört  zu  dem  Typus  von  Menschen,  welche  man  neuerdings 
als  „emotionelle  Nichtaktöve"  angesprochen  hat8). 

Hennann  Cohen  spricht  in  seinem  bekannten  Werke  „Kants 
Theroie  der  Erfahrung"9)  bei  der  Verteidigung  von  Kants  trans- 
zendentaler Deduktion  von  Schopenhauers  „Kraftsprache".  Es  wäre 
aber  ein  großer  Irrtum,  hinter  starken  Ausdrücken  ohne  weiteres 
eine  Kraftnatur  zu  vermuten.  Viele  Psychopathen  bewegen  sich  bei 
ihrer  leichten  Erregbarkeit  sehr  schnell  in  starken  Ausdrücken,  manch- 
mal sehr  zu  ihrem  späteren  Leidwesen.  Die  Nichtaktivität  zeigt 
sich  an  Schopenhauers  ganzer  Lebensführung.  Sein  Leben  geht  auf 
ein  Ausweichen  hinaus.     Seine  Dozentenlaufbahn  gibt  er  bald  auf, 


6)  Drastische  Beispiele  für  den  Wert  mancher  „psychiatrischer"  Be- 
urteilung findet  man  bei  Pelmann,  „Psychische  Grenzzustände",  S.  61  und 
in  Lamarcks  „Philosophischer  Zoo'ogie",  Ausgabe  von  Schmidt,  Verlag  von 
Kröner,  S.  XIV. 

7)  Möbius  hat  außer  über  Schopenhauer  noch  über  Rousseau,  Nietzsche, 
und  Goethe  geschrieben.  Das  zweibändige  Werk  über  diesen  halte  ich  für 
die  schwächste  Arbeit.  Ferner  habe  ich  benützt  Sadgers  Psychopathologien; 
Ribot,  Die  Persönlichkeit,  4.  Auflage.  Hoche.  Moderne  Analyse  psychischer 
Erscheinungen.  Groß,  Über  psychopathische  Minderwertigkeiten.  Birnbaum, 
Über  psychopathische  Persönlichkeiten.  Hoffmann,  Kant  und  Swedenborg. 
Groß,  Die  zerebrale  Sekundärfunktion. 

8)  Vgl.  Zeitschrift  für  Psychologie,  Bd.  51.  De  Artikel  von  Heymans 
und  Wiersmar  über  Menschentypen.  Siehe  auch  Hejmans,  „Die  Psychologie 
der  Frauen",  S.  192  ff.,  S.  252,  S.  271  ff. 

9)  2.  Aufl.  S.  349  ff.     Der  zitierte  Ausdruck  S.  354. 


Die   Wurzeln  des   Pessimismus   bei   Schopenhauer.  69 

sein  Umgang  beschränkt  sich  zeitlebens  auf  wenige  Personen.  Schopen- 
hauer hat  einige  seiner  pathologischen  Seiten  idealisiert,  z.  B.  seine 
Neigung  zur  Einsamkeit.  Die  Sprache  spricht  nicht  umsonst  von 
Sonderlingen.  Eine  der  charakteristischsten  Episoden  ist  das  Gespräch 
des  jungen  Studenten  mit  dem  alten  Wieland:  „Das  Leben  ist  eine 
mißliche  Sache,  ich  habe  mir  vorgesetzt,  es  damit  zuzubringen,  über 
dasselbe  nachzudenken"10).  In  dem  Alter  ist  der  Mensch  doch  sonst 
mit  Aktivität  gesättigt. 

Bei  dem  hohen  Intellekt  eine  sehr  starke  Reflexionslust.  Diese 
Neigung  schuf  ihm  in  der  Jugend  viel  natürliches  Leid:  „Ein  junger 
Philosoph  ist  uns  ein  wenig  gegen  das  Gefühl,  und  der  Erwachsene 
wird  geneigt  sein,  in  einem  unerwachsenen  Weltweisen  einen  vor- 
lauten Burschen  zu  sehen"11).  Und  sehr  hoch  schätzte  dieser  Welt- 
weise diese  Welt  nicht  ein!  „Einem  Menschen  wie  ihm  sei,  besonders 
solange  er  jung  sei,  in  allen  Lebensverhältnissen  beständig  zu  Mute, 
wie  einem,  der  in  Kleidern  stecke,  die  ihm  nicht  passen".  Alle  per- 
sönlichen Sorgen  seien  ihm  gegenüber  einem  philosophischen  Gedanken 
verschwunden,  der  sei  ihm  Ernst  gewesen,  alles  andere  dagegen.  Spaß  12). 
Die  starke  Emotionalität  tritt  an  vielen  Stellen  der  Werke  hervor. 
Im  Leben  schuf  sie  ihm  viele  Leiden.  Sie  war  ihm  auch  ein  Feind, 
der  bekämpft  werden  mußte  „aus  Selbsterhaltimg"  1;').  Die  Heftigkeit 
seiner  Polemiken,  sein  Benehmen  gegen  Beneke,  seine  Art,  wie  er 
sogar  gegen  einen  Kant  zu  Felde  zog,  sind  besonders  drastische  Zeugen. 
Das  bekannte  Abenteuer  mit  der  Näherin  Marquet  war  eine  der 
teuersten  Lehren  für  ihn.  Auch  die  Briefe  gegen  die  Mutter,  dann 
deren  Briefe  an  ihn  sind  charakteristisch,  besonders  der  bei  Gwinner, 
S.  48  der  3.  Auflage  mitgeteilte  Brief  ist  sehr  bezeichnend.  Der  von 
Grisebach  herausgegebene  Briefwechsel  bildet  eine  reiche  Fund- 
grube seiner  emotionalen  Schreibart. 

In  seiner  Jugend  war  Schopenhauer  eine  weiche  höchst  ver- 
wundbare Natur.  Diese  ist  ja  für  viele  Psychopathen  charakteristisch 
und  kann  bei  falscher  Behandlung  zu  schweren  Depressionen  der 
Anlaß  werden.     „Sensibilität  und  Intcllektualität  waren  in  ihm  alle 


10)  Cwinner  S.  68. 
n)  Möbius,  1.  Aufl    S.  47. 
la)  (iwinner,  3.  Aufl.  S.  263. 

13)  Vgl.    Sadger,   „Konrad   Ferdinand   Meyer".      Eine   pathographisch- 
psychologische  Studie. 


70  Oscar  Schuster, 

Zeit  vorherrschend,  weshalb  er  alle  Zeit  für  die  Übel  und  Unbilden 
dieses  Lebens  die  intensivste  Empfänglichkeit  hatte,  von  den  Freuden 
und  Genüssen  verhältnismäßig  weniger  bewegt  wurde.  Deshalb  lagen 
von  Jugend  auf  seinen  Träumen  von  Glück  immer  Szenen  der  Zurück- 
gezogenheit, der  Stille,  der  Einsamkeit  und  des  Selbstgenusses  zu 
Grunde"  14).  Damit  vergleiche  der  Leser  Betsys  Worte  über  ihren 
Bruder  Konrad  Ferdinand  Meyer,  den  großen  Schweizer  Dichter, 
der  auch  unter  dem  Erbteil  seiner  Ahnen  litt.  „Neben  dem  rastlosen 
Gedankenflug  war  meinem  Bruder  noch  eine  zweite  künstlerische 
Anlage  zuteil  geworden,  ein  Erbstück  meiner  Mutter,  das  er  aber 
noch  nicht  wie  sie  in  ihrer  zarten  Weise  erheiternd  und  tröstend 
Andern  zu  Gute  kommen  ließ,  sondern  als  scharfes  Werkzeug  gegen 
sich  selbst  wandte  zur  eigenen  Qual.  Er  hatte  wie  sie  em  höchst  reiz- 
bares feinfühlendes  Organ  für  fremde  Individualitäten,  ein  echo- 
gleiches langes  Fortklingen  persönlicher  Eindrücke,  die  sich  in  den 
verschiedensten  Variationen  weiterbildeten.  Es  war  eine  Schärfe  des 
Empfindens  und  des  Unterscheidens,  die  ihn  vorderhand  nur  un- 
glücklich machte.  Die  leiseste  Empfindung  empfand  er  als  schmerzenden 
Stoß"  15).  Diese  Art  hatte  Schopenhauer  vom  Vater,  auch  bei  Konrad 
Ferdinand  Meyer  scheint  der  Vater  sie  gleichfalls  besessen  zu  haben. 
Betsy  sagt  über  den  Vater:  ,,Jede  Aufwallung  der  Demokratie,  die 
an  den  Andern  spurlos  abglitt,  tat  ihm  augenscheinlich  körperlich 
weh." 

Diese  Sensibilität  ist  ein  wesentliches  Moment  zum  Verständnis 
des  Pessimismus  des  Philosophen.  Sie  verstärkte  die  düstere  Gemüts- 
lage, die  ihm  eigen  war.  Diese  Sensibilität  hat  wohl  auch  Schuld  an 
einer  gewis3en  Härte  des  Charakters  in  den  späteren  Jahren,  die  in 
so  grellem  Gegensatz  zu  seiner  Mitleidsmoral  steht 16).  Diese  Empfind- 
samkeit züchtet  leicht  Egoisten  ganz  gegen  ihren  Willen.  Solche 
Menschen  werden  gezwungen,  gegen  ihre  Absicht  an  sich  zu 
denken.  Sadger  leitet  aus  dem  peinvollen  Sich-Empfinden  die 
Assoziations-Unlust  her.  Diese  Naturen  sind  su  verwundbar,  schon 
im  engen  Kreise,  geschweige  denn  in  der  Rohheit,  Gleichgültigkeit 
und  Alogik  des  Lebens.  Sie  betasten  ihren  Seelenlcib  ganz  reflektorisch, 


14)  Gwinner,  S.  204  der  3.  Auflage. 
18)  Zitiert  nach  Sadger. 

-6)  Vgl.  dazu  die  Ausführungen  von  Weininger  in  seinem  Buche  ,,Ce- 
sclileclttund  Charakter"  S.  316  der  1.  Auflage 


Die   Wurzeln   des   Pessimismus   bei  Schopenhauer.  71 

wenn  sie  eine  Berührung  daran  verspürt  haben.  Häufen  sich  solche 
Eindrücke,  so  wird  der  Blick  nach  Innen  mächtig  entwickelt,  und  er 
geht  in  die  Tiefe,  wenn  eine  bedeutende  Persönlichkeit  dahinter  steht. 
So  war  es  auch  bei  Schopenhauer.  Er  verinnerlichte  sich.  "Was  muß 
ich  tun,  damit  ich  selig  werde,  war  die  Frage,  die  ihm  vor  die  Seele 
trat. 

Solche  Leute  beschäftigen  sich  viel  mit  sich  selbst,  geben  peinlich 
Acht  auf  ihr  Inneres,  zergliedern  sich  und  können  sich  auch  wohl 
selbst  zerfleischen.  Eine  gewisse  Entspannung  kann  durch  die  Ab- 
lenkung auf  ein  bestimmtes  in  das  Auge  gefaßte  Ziel  geschaffen  werden. 
Schopenhauer  wollte  Reize  meiden,  weil  er  hochgradig  verwundbar 
war.  Es  fiel  ihm  auch  schwer,  bei  seiner  Nichtaktivität  Bekannt- 
schaften anzuknüpfen.  Seine  Verstimmungen  ließen  ihn  gern  größere 
Geselligkeiten  meiden.  Mit  Schopenhauers  Sensibilität  hängt  seine 
Ansicht  über  das  Leiden  eng  zusammen.  „Schopenhauer  hat  zum 
ersten  Male  in.  der  neueren  Philosophie  den  absoluten  Wert  des  Leidens 

betont,  in  Übereinstimmung  wohl  mit  aller  Mystik". „Alles 

Leben,  überhaupt  alle  Objektivation  des  positiven  Willens  bedingt 
nach  Schopenhauer  ein  Leiden"  1T).  Es  liegt  nahe,  hier  auch  an 
Nietzsche  zu  denken  18).  Im  Zaratlmstra  finden  sich  viele  Äußerungen 
über  das  „Reagieren-Müssen".  Schopenhauer  kannte  es  auch  aus 
eigener  bitterer  Erfahrung.  Ein  Gott  gab  ihm  aber,  dieses  Leiden  zu 
verklären,  und  diese  Verklärung  war  ein  Auslösen  von  Spannungen 
ähnlich  wie  sie  der  Dichter  erlebt,  eine  der  Triebfedern  seiner  Philo- 
sophie. Das  Leiden  hat  bei  ihm  zwei  Wurzeln:  Die  erste  ist  diese 
abnorme  Seelenkonstitution.  Der  bekannte  Schweizer  Psychiater 
Dubois  hat  dafür  den  Ausdruck  Psychasthenie  geprägt  19).  Schopen- 
hauers Lebensschicksale  in  der  Jugend  haben  fremder  Einwirkung 
bei  solcher  seelischer  Bauart  stark  Raum  gegeben.  Man  stelle  sich 
doch  vor:  Ein  junger  Mensch  wird  schon  mit  9  Jahren  auf  2  Jahre 


1T)  Mühlethaler,  „Die  Mystik  bei  Schopenhauer".  Siehe  auch  Sixomel, 
„Schopenhauer  und  Nietzsche"  S.  73  ff.  E.  von  Hartmann,  „Zur  beschichte 
und  Begründung  des  Pessimismus",  Abschnitt  XV. 

18)  Bei  Nietzsche  spielt  die  Erscheinung  des  Reagieren-Müsscns  eine 
wichtige  Rolle  als  Degenerationsmerkmal. 

19)  Dubois,  „Die  Psychoneurosen  und  ihre  psychische  Behandlung/* 
Dubois,  „Pathogenese  der  neurasthenischen  Zustände"  S.  512  ff.,  längere 
Ausführungen  übe:  die  Schwierigkeit  einer  scharfen  Begriffsabgrenzupi:. 


72  Oscar  Schuster, 

von  Hause  entfernt,  wird  dann  wiederholt  aus  seinem  Milieu  gerissen 
und  geht  mit  15  Jahren  in  diesem  ohnehin  enorm  eindrucksfähigen 
Alter  auf  eine  fast  2  jährige  Reise,  die  ihn  durch  halb  Europa  führt. 
Vor  dieser  langen  Wanderschaft  hat  ihn  die  Familie  unsinnigerweise 
vor  eine  Schicksalsfrage  gestellt,  er  soll  über  den  künftigen  Beruf 
entscheiden. 

Dabei  war  es  ein  Frühreifer,  mit  30  Jahren  hatte  Schopen- 
hauer bereits  sein  Hauptwerk  geschrieben.  Und  dazu  handelte 
es  sich  um  einen  Jüngling  von  außergewöhnlicher  Intelligenz  und 
Rezeptivität.  Es  ist  ja  erstaunlich,  wie  schnell  er  die  Lücken  seiner 
Bildung  ausfüllte. 

Er  wird  während  des  Aufenthaltes  in  England  auf  6  Monate  in 
eine  „infame  Bigoterie"  hineingedrängt,  sieht  eine  Reihe  der  herr- 
lichsten Landschaftsbilder  an  sich  vorbeiziehen,  besucht  das  ganze 
südliche  Frankreich  und  erblickt  die  Gletscher  von  Chamonix.  Aber 
er  erblickt  auch  das  Elend  der  Welt,  „untreu  dem  glücklichsten 
Leichtsinn  des  eigennützigsten  Lebensalters"  20). 

Und  daß  dies  Elend  so  besonders  starken  Eindruck  auf  ihn 
machte,  kann  ihm  wohl  nicht  zur  Unehre  angerechnet  werden.  Hält 
man  neben  die  Ausführung  Schopenhauers  einen  Optimismus,  wie 
er  von  vielen  Naturwissenschaftlern  im  19.  Jahrhundert  vertreten 
worden  ist,  so  muß  man  sich  billig  über  die  Flachheit  dieser  Herren 
wundern  21).  Man  merkt  es  den  Ausführungen  Schopenhauers  an, 
daß  es  sich  um  Gedanken  aus  dem  Herzen  handelt,  um  in  seiner 
Sprache  zu  bleiben. 

Es  drängt  sich  hier  unwillkürlich  der  Vergleich  mit  einem  Größeren 
auf,  als  er  es  war,  mit  Augustin.  Auch  in  ihm  lebte  eine  starke  Emo- 
tionalität.  Er  war  von  großer  Sensibilität,  eine  von  Grund  aus  vor- 
nehme und  wahrheitsliebende  Natur,  ein  Mann  von  starkem  Ge- 
rechtigkeitsgefühl, ein  Geist,  der  die  Vereinheitlichung  des  wechsel- 
vollen Chaos  in  einem  Urgrund  auf  das  Innigste  erstrebte.  Schopen- 
hauer hat  denn  auch  immer  mit  Hochachtung  von  Augustin  ge- 


20)  Gwinner  S.  14,  15,  16;  S.  23  eine  besonders  charakteristische  Stelle. 
Vgl.  dazu  die  Bemerkungen  von  Möbius  S.  58  ff. 

21)  Siehe  Gustav  Wang,  Schopenhauer-Darwin,  Pessimismus  oder 
Optimismus.  Vgl.  auch  Weininger,  „Geschlecht  und  Charakter",  1.  Aufl. 
S.  441. 


Die  Wurzeln  des  Pessimismus  bei   Schopenhauer.  73 

sprechen,  so  rühmte  er  seine  Ehrlichkeit  gegenüber  dem  Problem  der 
Erbsünde  und  der  Willensfreiheit  -). 

Für  Schopenhauer  waren  diese  beiden  Probleme  gleichfalls 
brennend,  er  wählte  den  Weg  zur  Erlösung  nicht  durch  die  Gnade 
Gottes,  da  er  ihm  nicht  offen  stand.  Aber  auch  er  mußte  transzendentes 
Land  betreten,  und  er  wurde  ein  Mystiker.  Ja,  er  verwies  auf  die 
großen  Männer  der  Kirche.  Seine  Aktivität  zog  Augustin  in  den 
Kampf.  Aber  auch  sein  inneres  Leben  fand  einen  großen  Ausdruck 
im  Gottesstaat  23).  Ein  tiefer  Pessimismus  durchzieht  auch  dieses 
Werk.  Gerechtigkeit  und  Gnade  sind  die  Schlußakkorde.  Die  massa 
perditionis  fällt  der  Verdammnis  anheim  -4). 

Schopenhauers  starkes  Selbstgefühl  ist  oft  ungünstig  beurteilt 
worden,  ebenso  seine  Eitelkeit.  Möbius  hat  ihn  in  Schutz  genommen. 
Gewiß,  er  empfand  bis  in  den  Grund  seiner  Seele  hinein  aristokratisch, 
Begriffe  wie  Gleichheit  der  Menschen  waren  ihm  zuwider.  Aber  ich 
kann  nicht  finden,  daß  er  damit  so  unrecht  gehabt  hat.  Ohne  allen 
Zweifel  haben  sich  diese  Eigenschaften  durch  Jugenderlebnisse  ver- 
stärkt. Der  junge  Philosoph  war  nicht  anerkannt  worden,  und  so 
fühlte  er  in  sich  auch  die  Wahrheit  beeinträchtigt,  und  da  verstand 
er  keinen  Spaß.  Es  gibt  ein  Gefühl  der  Befriedigung,  das  mit  Eitelkeit 
nichts  zu  tun  hat.  Auch  Konrad  Ferdinand  Meyer  ist  es  nicht  ver- 
dacht worden,  daß  er  sich  seines  Erfolges  nach  langem  Harren  im 
Dunkel  gefreut  hat 25).  Der  Philosoph  sah  endlich  sein  Werk  erhöht, 
sein  Kind,  um  dessen  Fortkommen  mit  heißem  Eifer  er  sich  bemüht 
hatte,  anerkannt.    Daß  er  das  Haupt  hochtrug,  geschah  wohl  auch 


—  )  Schopenhauers  Aussprüche  über  Augustin:  Hertslet,  Schopenhauer- 
Register  S.  14.    Wagner,  Enzyklopädisches  Wörterbuch  S.  24. 

Über  die  eigentümliche  Stellung,  in  die  sich  Augustin  gedrängt  sah, 
wird  man  sich  am  besten  klar»  wenn  man  die  Prädestination  und  Gnadenvahl 
und  die  Lehre  vom  Bösen  in  das  Auge  faßt.  Siehe  Rottmanner,  „Der  Augustinis- 
mus" und  Scipio,  „Schopenhauers  Metaphysik  im  Rahmen  seiner  ehre  vom 
Übel".  Die  ganze  Literatur  über  Augustin  bei  Bardenheber.  Patrologie.  Zur 
Erlösungslehre  Schopenhauers  besonders  Hecker,  „Schopenhauer  und  die 
indische  Philosophie"  IL  und  III.  Abschnitt  S.  182,  183,  184;  S.  237  Charak- 
terisierung der  Persönlichkeit  Schopenhauers. 

23)  Reuter,  AugUStinische  Studien,  übersetzt  „Ciottesstadt". 

21)  Für  den  Pessimismus  Augustins  ist  sehr  charakteristisch  das  22.  Ka- 
pitel des  XXII.  Buches. 

25)  S.  die  Biograpl   e  von  Frey,  S.  305. 


74  Ose arSc huster, 

aus  dem  Geiste  der  Opposition.  Das  Pbilisterium  hatte  er  am  eigenen 
Leibe  gründlich  kennen  gelernt.  Vielleicht  ist  hier  auch  eine  der 
Wurzeln  für  die  Abneigung  gegen  sein  Volk,  zu  dessen  Kardinalfehlern 
es  gehört. 

Die  Einsperrung  in  den  kaufmännischen  Beruf  hat  sicher  sehr 
dazu  beigetragen,  den  Pessimismus  zu  verstärken.  Das  Joch  lastete 
auf  ihm  schwerer  als  auf  Andern,  Erinnerungen  daran  traten  ihm  vor 
die  Seele  und  erregten  ihn  später  noch,  so  daß  er  doppelt  ängstlich 
um  die  Erhaltung  seines  Vermögens  besorgt  war.  Eine  lebhafte  Phan- 
tasie spiegelt  sicli  in  seinen  Schriften  wieder.  Sie  quäle  ihn  oft  und 
war  ein  getreuer  Diener  seines  Mißtrauens.  Sie  half  die  Nebel  in 
seiner  Welt  zu  gespenstigen  Gestalten  ballen,  sie  verbitterte  ihm  den 
Ausblick  in  die  Zukunft.  Vielleicht  war  sie  auch  eine  der  Triebfedern, 
warum  er  später  den  Ort  nicht  mehr  wechselte.  Er  sah  im  Geiste  an 
neuen  Örtlichkeiten  neues  Ungemach. 

Über  die  Stellung  des  Philosophen  zu  den  Frauen  ist  viel  ge- 
schrieben worden.  Beinahe  in  jedem  Buche  über  die  Frauenfrage 
kann  man  den  Namen  Schopenhauer  finden.  Ich  brauche  hier  wohl 
nicht  das  Märchen  vom  Frauenhasser  wieder  aufzuwärmen  oder  von 
einem  Sonderling,  der  nie  zu  ihnen  in  Beziehungen  getreten  ist 20). 
Bei  Schopenhauers  Stellung  zu  den  Frauen  wollen  folgende  Punkte 
in  das  Auge  gefaßt  werden:  Seine  starke  lntellektualität,  sein  Un- 
abhängigkeitssinn (Widerwille  gegen  Dauerverbindungen),  seine  Wahr- 
heitsliebe, sein  Denken  an  die  gefährliche  Stellung  im  Leben,  seine 
Selbstgenügsamkeit,  seine  syphilitische  Erkrankung.  Ein  rein  intellek- 
tueller Typus  des  Mannes  hat  für  die  Frau  im  Durchschnitt  wenig- 
Anziehendes.  Er  steht  ihrem  Gesichtskreis  zu  fern.  Abstrakte  Ideen 
fesseln  das  weibliche  Geschlecht  im  allgemeinen  nur,  wenn  sie  mit 
Emotionellem  verknüpft  sind,  wie  dies  bei  religiösen  Lehren  der  Fall 
ist.  Heymans  zitiert  in  semem  Buche  über' die  Psychologie  der  Frauen 
einen  Ausspruch  von  Lotze  und  bemerkt  selbst,  daß  die  Seltenheit 
weiblicher  Genies  weniger  auf  mangelnden  Fähigkeiten,  als  auf 
mangelnden  Neigungen  beruht,  weniger  auf  dem  Können  als  auf  dem 


26)  Vgl.  u.  a.  Joel,  „Nietzsche  und  die  Romantik"  S.  266.  Möbius, 
„Schopenhauer"  S.  8,  71  ff.;  dann  des  gleichen  Autors  Buch  über  den  physiolo- 
gischen Schwachsinn  des  Weibes  Iwan  Bloch,  „ras  Sexualleben  unserer 
Zeit"  S  IX  des  Namensregisters  der  7.-9.  Stereotyp-Ausgabe.  Weininger, 
„Geschlecht  und    Charakt^  "  1.  Aufl.  S.  314. 


Die   Wurzeln  des   Pessimismus  bei   Schopenhauer.  75 

Wollen  2T)-  Schopenhauer  mußte  nun  aus  seiner  Natur  heraus  neue 
Werte  schaffen.  Schon  dem  Durchschnittsmann  gegenüber  geriet  er 
in  eine  mißliche  Lage,  geschweige  denn  gegenüber  der  Frau.  Er  blickte, 
wie  aus  seiner  Kritik  der  Weiblichkeit  hervorgeht,  nach  bestimmter 
Richtung  und  erwartete,  daß  sich  ihm  von  dieser  Seite  her  das  Weib 
nähern  sollte.  Das  aber  war  ein  Irrtum.  Nietzsche  schätzte  da  besser 
ein.  Weininger  sagt 28) :  „Es  ist  die  allgemeine  Passivität  der  weiblichen 
Natur,  welche  die  Frauen  auch  am  Ende  die  männlichen  Wertungen, 
zu  welchen  sie  gar  kein  bestimmtes  Verhältnis  haben,  akzeptieren  und 
übernehmen  läßt."  Möbius  drückt  einen  ähnlichen  Gedanken  so  aus, 
daß  er  von  einer  verlogenen  Anerkennung  der  Sittlichkeit  von  Seiten 
der  Frauen  redet,  die  man  gar  nicht  Heuchelei  nennen  kann,  weil 
nichts  antimoralisches  durch  sie  verdeckt  werden  soll.  Schopenhauer 
konnte,  wollte  er  sich  nicht  selbst  aufgeben,  wie  auch  Möbius  schon 
betont  hat,  keine  Ehe  auf  geistiger  Gemeinschaft  gründen.  Er  sah, 
daß  es  sich  für  ihn  um  eine  Utopie  handelte.  Er  wußte,  daß  er  in 
ein  Joch  s:ebeuet  werde.  Er  trachtete  nach  dem  Werke  und  nicht 
nach  dem  Glück.  Freilich  fiel  ihm  Werk  und  Glück  bis  zu  einem  ge- 
wissen Punkte  zusammen.  Sein  Selbst  stand  auf  einer  Karte.  Sie 
zu  spielen  war  zu  gewagt.  Zu  viel  Nieten  standen  in  Aussicht.  Es  ist 
für  mich  kein  Zweifel,  daß  auch  für  den  Sehopenhauerschen  Menschen- 
typ eine  Ergänzung  existiert.  Aber  will  man  ihn  tadeln,  bei  der 
verschwindenden  Seltenheit  eines  Gegen parts  und  bei  der  eignen,  klar 
erkannten  Unfähigkeit,  zu  suchen? 

Vielleicht  spielt  auch  die  Assoziationsunlust  eine  Rolle,  aber  wohl 
bemerkt  neben  den  andern  Umständen.  Seine  von  Iwan  Bloch  nach- 
gewiesene syphilitische  Erkrankung  2B)  mag  ihn  stark  beschäftigt 
haben.  Seinem  Pessimismus  war  sie  eine  gute  Nährstätte,  besonders 
wohl  durch  Meditationen  über  das  enge  Zusammenliegen  der  Lust 
mit  dem  Gift. 

In  späteren  Jahren,  hat  er  sehr  wenig  weiblichen  Umgang  gehabt, 
und  das  ist  in  vielen  Beziehungen  zu  bedauern.  Manches  seiner  Urteile 
ist  dadurch,  zu  hart  geworden  30). 


27)  Heymans,  „Die  Psychologie  der  Frauen"  S.    152  und   153. 

28)  „Geschlecht  und  Charakter",  1.  Auf  age  S.  355. 

29)  Medizinische  Klinik  1906  Heft  Nr.  25  und  26. 
co)  »S.  Jtel,  „Nietzsche  und  die  Romantik"  S.  266. 


76  Oscar  Schuster, 

Als  Faktor,  der  zur  weiteren  Verdüsterung  seines  Gemütes  bei- 
trug, müssen  die  Familienverhältnisse  angesprochen  werden.  Den 
Vater  verlor  er  früh  31),  ein  Schicksal,  das  ja  die  Söhne  höherer  Stände 
öfter  trifft,  als  die  anderer.  Es  fehlte  ihm  die  im  Kämmerlein  über- 
mittelte Erfahrung.  Die  ersten  Erfahrungen  der  Welt  müssen  bei  der 
Verlogenheit  und  Konventionalität  der  gesellschaftlichen  Zustände 
immer  täuschen.  Schopenhauer  bemerkt  denn  auch  einmal,  sicherlich 
auf  Grund  eigner  Erfahrungen,  daß  es  das  Zeichen  eines  gemeinen 
Charakters  für  einen  jungen  Mann  sei,  wenn  er  lernt,  sich  in  der  Welt 
schnell  zurecht  zu  finden. 

Der  Vater  starb  auf  eine  unglückliche  Weise.  Plötzlich  wird  er 
dem  so  tief  impressioniblen  Sohn  geraubt.  Die  Mutter  wurde  ihm 
immer  mehr  zum  Fremdling.  Die  größere  Schuld  an  dem  Zwiespalt 
ist  ihr  zuzumessen:  Weltdame,  Schöngeist,  eine  ziemlich  kaltherzige, 
aber  gern  in  Gefühlen  schwelgende  Egoistin.  Sie  heiratete  den  älteren 
und  ungeliebten  Mann.  Als  Schriftstellerin  fühlt  sie  sich  als  inter- 
essante Frau.  Sie  spielt  die  Rolle  mit  Vergnügen.  Sie  schmeichelt 
ihrer  Eitelkeit.  Solche  Frauen  messen  sich  mit  Vorliebe  an  ihren 
Geschlechtsgenossinnen  und  verlieren  dann  häufig  den  Maßstab  für 
sich  gänzlich.  Man  sehe  sich  einmal  diese  Briefe  an,  diese  Verständnis- 
losigkeit  der  federgewandten  Literatin  dem  grübelnden  Sohn  gegen- 
über, dieses  kühle  nüchterne  Wägen,  diese  berechnend  gesetzten 
Worte.  So  wenig  von  Wärme  und  Gefühl.  Es  würde  falsch  sein, 
Schopenhauer  für  einen  Mann  zu  halten,  der  für  Liebe  unzugänglich 
war.  Bei  seiner  Konstitution  konnte  sich  wenig  nach  außen  entladen. 
Gerade  die  Empfindsamkeit  schiebt  immer  den  Riegel  vor,  wo  es  gilt, 
ein  Gefühl  zu  zeigen.  Es  ist  ein  schädliches  Phänomen  auch  nach 
meiner  Überzeugung  für  die  Entwicklung  der  Seele.  Von  Mensch 
zu  Mensch,  besonders  bei  der  gegenseitigen  Annäherung,  sind  derartige 
Naturen  ziemlich  hilflos.  Eine  merkwürdige  Rolle  spielen  sie  darum 
häufig  in  der  Liebe  32).  Möbius  meint,  dem  jungen  Schopenhauer 
sei  der  Pessimismus  Herzenssache  gewesen,  dem  alten  Sache  des  Ver- 
standes. „Bald  scheint  die  Sonne  schon  um  Mittag,  bald  bricht  sie 
erst  gegen  Abend  durch  die  Wolken.  Das  Leben  eines  Menschen  mit 
ausgesprochener  Dyskolie  gleicht  einem  Tage,  an  dem  der  Himmel  sich 


31)  Literatur  über  Schopenhauers  Vater  bei  Gwinner,  3.  Aufl.  Register 
S.  435. 

3'-)  Möb'.us,  „Schopenhauer",  1.  Auflage  S.  39  und  40,  vgl.  auch  S.  G3. 


Die  Wurzeln  des   Pessimismus  bei  Schopenhauer.  77 

schon  in  den  Morgenstunden  umzieht,  und  erst  dann,  wenn  die  Sonne 
sich  neigt,  ihre  Strahlen  zum  wehmütig-heiteren  Abschiede  leuchten. 
So  war  Schopenhauers  Leben"  33). 

Als  die  Beziehungen  zur  Mutter  sich  lockerten,  da  kam  auch 
sein  Stolz,  seine  Hartnäckigkeit,  sein  Rechthabenwollen  um  jeden 
Preis  mit  in  das  Spiel,  und  nüchterne  geschäftliche  Erwägungen  traten 
dazu.  Die  Verschwendungssucht  der  Mutter  scheint  mir  gegenüber 
Möbius1  Ansicht  doch  zu  Recht  zu  bestehen  34).  Möbius  beurteilt  im 
Gegensatz  zu  Grisebach  Johanna  Schopenhauer  sehr  wohlwollend. 

Sehr  wenig  sind  wir  über  die  meines  Erachtens  wichtige  Frage 
der  Arbeitskraft  und  der  Ermüdung  unterrichtet.  Es  ist  wichtig,  sich 
klar  zu  machen,  daß  die  Leistungsfähigkeit  sehr  häufig  durch  das 
Maß  der  Willenskraft  verdeckt  wird,  das  einem  Menschen  zu  eigen  ist. 
Neuerdings  ist  darauf  hingewiesen  worden,  welche  Wichtigkeit  der 
Ermüdbarkeit  für  die  Seelenkonstruktion  zukommt 35). 

Ein  besonderes  Licht  auf  die  Persönlichkeit  des  Philosophen 
wirft  seine  Lehre  von  der  Kunst.  Hier  merkt  der  Leser,  der  sich  ein 
wenig  in  sie  versenkt  hat,  überall  Schopenhauer  selbst.  Der  Frank- 
furter Sonderling  war  ein  Mann,  dem  die  Kunst  Erlösung  brachte, 
Sich-selbst-verlieren,  Ruhe  von  Gefühlsstürmen,  von  der  Sensibilität, 
von  der  Weltverachtung,  vom  Ärger,  vom  peinvollen  Empfinden  des 
eigenen  Ich.  Der  Denker  hatte  das  Denken  in  der  Kunst  verloren. 
Er  hatte  empfunden,  daß  die  höchsten  Augenblicke  im  künstlerischen 
Genießen  die  sind,  in  denen  das  Subjekt  im  Kunstwerk  verschwindet. 
Ich  glaube,  daß  wir  berechtigt  sind,  in  Schopenhauer  einen  Vorläufer 
der  Einfühlungstheorie  zu  sehen  und  habe  das  in  einem  Vergleich  mit 
der  Einfühlungstheorie  von  Theodor  Lipps  in  diesen  Blättern  näher 
ausgeführt 36). 


33)  Eucken  spricht  von  „ohnmächtiger  Geistigkeit"  Schopenhauers. 
Eucken,  „Lebensanschauungen  großer  Denker",  6.  Auflage  S.  470. 

34)  Über  das  Verhältnis  zur  Mutter,  Möbius  S.  17  ff.,  19,  45.  Gwinner 
S.  435  (Register). 

35)  Die  Literatur  bei  Offner,  die  geistige  Ermüdung  S.  83.  Stadelmann, 
„Ärztlich-pädagogische  Vorschule",  besonders  S.  161  ff.  Man  vgl.  die  Aus- 
führungen Stadelmanns  über  den  katatonischen  Typus  mit  einzelnen  Schil- 
derungen Schopenhauers  bei  Möbius. 

36)  Vgl.  Hellpach,  „Ner  ^enleben  und  Weltanschauung"  Kap.  IV  „Die 
nervöse  Psyche".  Über  Einfühlung  (der  Druckfehlerteufel  hat  Einführung 
daraus  gemacht)  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  25  Heft  1,  vgl. 
be  sonders  S.  116. 


78  Oscar   Schuster, 

Sein  Pessimismus  bricht  in  seiner  Ästhetik  teilweise  ganz  im- 
verhüllt  durch.  Lehrreich  ist  auch  zu  sehen,  wie  Lipps  entgegen  dem 
Nichtaktiven-Emotionellen  dem  Aktivitätscharakter  der  Einfühlung 
gerecht  wird  37).  Bei  Schopenhauer  ist  es  immer  mehr  das  passive, 
entspannende  Element:  „Das  Rad  des  Ixions  steht  still,  auf  die 
Zuchthausarbeit  des  Willens  folgt  Sabbatruhe.  Wir  kennen  diese 
Ruhe,  die  den  von  Leidenschaften  und  Not  Gequälten  überkommt, 
wenn  er  in  die  Fülle  der  schönen  Natur  blickt.  Glück  und  Unglück 
sind  verschwunden,  wir  sind  nicht  mehr  das  eine  Individuum,  sondern 
das  Weltauge"  38). 

Der  Drang  zur  Ruhe  wurde  mit  dem  zunehmenden  Alter  stärker. 
In  späteren  Jahren  hat  Schopenhauer  recht  hart  über  das  Reisen 
geurteilt.  Wir  müssen  aber  doch  dem  Schicksal  dankbar  sein,  daß  ei- 
sernst die  Welt  gesehen  hat.  Der  Weltmann  spricht  aus  seinen  Schriften, 
nicht  der  Stubengelehrte.  Der  englische  Aufenthalt  und  der  Verkehr 
mit  Engländern  scheinen  ihn  besonders  stark  beeinflußt  zu  haben, 
wie  man  bei  Gwinner  näher  nachlesen  kann.  Von  den  trüben  Ein- 
drücken der  Jugend  ist  schon  gesprochen  worden. 

Auf  das  Kapitel  vom  „Genie"  bei  Schopenhauer  kann  nicht  ein- 
dringlich genug  hingewiesen  werden.  Viele  Züge  sind  vom  eigenen 
Ich  genommen.  Er  betont  die  Unpraktischkeit  des  Genies:  „Alles 
kommt  zuletzt  darauf  an,  wo  der  eigentliche  Ernst  des  Menschen 
liegt.  Bei  fast  allen  liegt  er  ausschließlich  in  dem  eigenen  Wohl  und 
dem  der  Ihrigen,  dalier  sie  dies  und  nichts  anderes  zu  fördern  imstande 
sind,  weil  eben  kein  Vorsatz,  keine  willkürliche  und  absichtliche  An- 
strengung den  wahren,  tiefen,  eigentlichen  Ernst  verleiht  oder  ersetzt 
oder  richtiger  verlegt,  Denn  er  bleibt  stets  da,  wo  die  Natur  ihn 
hineingelegt  hat:  Ohne  ihn  kann  alles  nur  halb  betrieben  werden. 
Daher  sorgen,  aus  demselben  Grunde,  geniale  Individuen  oft  schlecht 
für  ihre  eigene  Wohlfahrt"  39).  Schopenhauer  spricht  wenige  Zeilen 
später  von  „abnormen  Menschen",  ebenso  von  „Unnatürlichkeit", 
dann  aber  von  „Übernatürlichkeit". 


37)  Lipps,  „Ästhetik"  1.  Teil,  Grundlegung  de-  Ästhetik  S.  101,  109, 
120—124;  vgl.  auch  den  Leitfaden  der  Psychologie  2.  Aufl.  (die  3.  ist  inzwischen 
erschienen),  5.  Abschnitt. 

•i8)  Zitiert  nach  H.  R'chert,  „Schopenhauer"  S.  02. 

:!9)  2.  Bd.  von  ürisebachs  Ausgabe  S.  452. 


Die  Wurzeln   -les  Pessimismus   bei  Schopenhauer.  79 

Im  31.  Kapitel  der  Ergänzung  des  dritten  Buches  der  „Welt  als 
Wille  und  Vorstellung"  heißt  es:  „Intellekt  und  Willenstrennung  sind 
der  Grundzug  des  Genius."  Alle  Genies  aber  seien  Melancholiker. 
Schon  Aristoteles  habe  das  gefunden.  Der  hauptsächlichste  Grund 
dafür  nun  sei  der,  daß  der  Wille  zum  Leben,  von  je  hellerem  Intellekt 
er  sich  beleuchtet  findet,  desto  deutlicher  das  Elend  seines  Zustandes 
wahrnimmt 40). 

Der  Philosoph  kommt  bei  seiner  Lehre  vom  Genie  auch  auf  die 
Sensibilität  zu  sprechen  und  erklärt  sie  geradezu  für  unerläßlich. 
Er  schreibt : ,  Wenn  wir  uns  endlich  noch  das  Genie  von  der  somatischen 
Seite  betrachten,  so  finden  wir  es  durch  mehrere  anatomische  und 
physiologische  Eigenschaften  bedingt,  welche  einzeln  selten  voll- 
kommen vorhanden,  noch  seltener  vollständig  beisammen,  dennoch 
alle  unerläßlich  erfordert  sind,  so  daß  daraus  erklärlich  wird,  warum 
das  Genie  uns  als  eine  völlig  vereinzelte,  fast  potentose  Ausnahme 
vorkommt".  —  „Die  Grundbedingung  ist  ein  abnormes  Überwiegen 
der  Sensibilität  über  die  Irritablilität  und  Reproduktionskraft,  und 
zwar,  was  die  Sache  erschwert,  auf  einen  männlichen  Körper"  41). 

Anlagen,  die  Schopenhauers  Pessimismus  noch  verstärkten,  waren 
seine  Bedenklich-  und  Ängstlichkeit.  Der  Leser  findet  bei  Möbius 
und  Gwinner  darüber  nähere  Ausführungen.  Sein  Mißtrauen,  das  sich 
auf  die  tiefe  Mißachtung  und  Furcht  vor  den  „Zweifüßlern"  aufbaute, 
hatte  aber  doch  einen  berechtigten  Kern.  Naturen  wie  diese  müssen, 
sofern  sie  überhaupt  klug  mit  sich  zu  Werke  gehen,  mehr  Vorsichts- 
maßregeln ergreifen,  als  andere.  Schopenhauer  war  ein  solcher  Mann, 
der  sich  gefährdet  fühlte.  Die  Überzeugung  seiner  Jugend  predigte 
ihm  das.  Seine  hohe  Intellegenz  sagte  ihm  auf  Grund  der  Selbst- 
beobachtung, was  Andern  nicht  so  bald  auffiel.  Denn  wie  er  selbst 
einmal  äußert,  muß  man  etwas  von  dem  Wesen  der  Person  in  sich 
tragen,  welcher  man  gerecht  werden  will.  Es  ist  das  ein  Prinzip,  das 
in  politischen  Dingen,  in  Klassenkämpfen  z.  B.  eine  viel  größere  Rolle 
spielt,  als  man  häufig  meint.  Gelehrte,  die  nach  bestimmten  ttichtungen 
logisch  eingestellt  sind,  meinen,  andere  müssen  auch  ein  logisches 
Leben  führen.   So  entsteht  häufig  ein  verstiegener  Rationalismus. 


,0)  2.   ßd.   von  Grisebachs  Ausgabe  S.   442,   450,   551.      Vgl.   Crotjan, 
Soziale  Pathologie,  S.  532,  An m. 

")  S.  2.  Bd.  der  Grisebachschen  Ausgabe  S.  4G1. 


80  Oscar  Schuster, 

Reaktionen  der  Welt  gegen  ihn  steigerten  seinen  Pessimismus, 
ohne  daß  ihm  daraus  ein  Vorwurf  zu  machen  ist.  Oberflächlichkeit 
und  Heuchelei  haben  ihn  mehr  als  einmal  auf  das  tiefste  verletzt. 
Sein  intellektuell  reines  Gewissen  warf  ihm  Hindernisse  in  den  Weg, 
und  es  ist  ein  sympathischer  Geist  in  dem  Buche  von  Möbius,  der  ihn 
gegen  die  wackere  Schar  der  „Guten  und  Gerechten"  verteidigt,  die 
keinen  Hauch  Schopenhauerschen  Geistes  gespürt  haben  und  nun 
meinen,  er  hätte  an  ihrem  Stricke  durch  die  Zeit  ziehen  müssen. 
Friedrich  Paulsen,  den  ich  nicht  im  Verdacht  habe,  allzu  wohl  gesinnt 
gegen  die  Schopenhauersche  Geistesart  zu  sein,  lehnt  doch  das  vor- 
geschriebene Gleis  für  sie  ab  42). 

In  seinem  Buche  über  die  religiösen  Erfahrungen  hat  James  die 
„leichtmütige"  und  die  ,, schwermütige"  Seele  einander  gegenüber- 
gestellt, die  „Einmal  Geborenen"  und  die  „Wiedergeborenen"  43). 

Schopenhauer  gehörte  zu  den  letzteren.  Als  ein  besonderes 
Zeichen  der  Wiedergeborenen  werden  ihre  metaphysischen  Neigungen 
und  ihre  Reflexionslust  aufgeführt.  Die  ganze  Philosophie  des  Mannes 
ist  von  Moral  durchtränkt.  Er  wertete  nach  seiner  Meinung  im  wahren 
christlichen  und  buddhistischen  Sinne  und  zwar  von  Jugend  auf. 
Mit  starker  Abstraktion  trat  er  an  die  Welt  heran.  Durch  die  Er- 
fahrungen erhielt  er  starke  Rückschläge.  Ich  muß  hier  wohl  noch 
einmal  an  den  katatonischen  Typus  von  Stadelmann  erinnern,  ob- 
gleich ich  schon  unser  mangelndes  Wissen  nach  dieser  Hinsicht  hin 
über  Schopenhauer  betonte.  Die  starken  Rückschläge  können  eine 
Unlust  zu  weiteren  Erfahrungen  und  ein  sich  Beschränken  auf  die 
eigene  Welt  hervorrufen  und  Konstruktionen  und  immer  wieder 
neue  Konstruktionen,  bis  schließlich  die  Realität  ganz  unter  der 
Phantasie  verschwindet  44).  Hier  ist  der  Boden  für  die  Mystik  vor- 
bereitet. Schopenhauer  stand  diesem  Gebiete  des  Geisteslebens  kraft 
seiner  Seelenkonstitution  gerechter  gegenüber  als  Kant.  Kants  System 
weiß  mit  einem  Franz  von  Assisi  nichts  anzufangen,  sagt  irgendwo 
ein  neuerer  Denker,  wenn  ich  nicht  irre  Simmel.  Schopenhauer  zog 
auch  noch  ein  anderes  Ding  zur  Mystik,  sein  Unabhängigkeitsdrang, 
denn  „die  Mystik  als  Prinzip  gesetzt,  ergibt  als  Konsequenz  das  un- 


42)  L.  Paulsen,  „Schopenhauer,  Hamlet,  Mephistopheles"   S.  19. 

43 )  Im  4.  und  5.  Kapitel. 

44)  Vgl.  Eugen  Dühring,  „Wert  des  Lebers",  6.  Aufl.  S.  130 ff.,  S.  373f :.t 
S.  405  ff. 


Die  Wurzeln  des  Pessimismus  bei  »Schopenhauer.  81 

endliche  Recht  der  subjektiven  Überzeugung  aller  Autorität  gegen- 
über" 45). 

Häufig  flüchten  sich  solche  Naturen  wie  Schopenhauer,  wenn 
sie  weniger  männlich  sind,  ganz  in  die  Ästhetik.  Die  schönste  Be- 
gründung, die  ich  jemals  für  den  Wert  der  Kunst  von  einer  pessimisti- 
schen Seele  gelesen  habe,  sind  die  Schlußworte  von  W.  Paters 
„Renaissance".  Den  Zwiespalt  zwischen  Lehre  und  Werk  bei  seiner 
nichtaktiven  Natur  hat  Schopenhauer  wohl  gefühlt.  Es  ist  dies  oft 
hervorgehoben  worden.  Auch  hier  erhebt  sich  im  inneren  Kampfe 
wieder  ein  neues  Moment  für  seine  düstere  Weltanschauung.  Sich 
selbst  gegenüber  glich  der  Philosoph  einem  angeschmiedeten  Pro- 
metheus 46). 

Ein  Kapitel,  das  ein  sehr  interessantes  Licht  auf  den  Pessimismus 
Schopenhauers  wirft,  ist  das  von  der  Askese.  Es  wurde  bekanntlich 
später  von  Nietzsche  in  die  entgegengesetzte  Beleuchtung  gerückt, 
ebenso  wie  das  Kapitel  von  der  Einsamkeit.  Nietzsche  hatte  für 
manche  Regungen  der  menschlichen  Seele,  die  das  Gebiet  des  Krank- 
haften streifen  oder  wohl  auch  noch  hineingehören,  ein  sehr  feines 
Organ.  Und  mit  der  Heftigkeit  des  Renegaten  griff  er  seines  Meisters 
Lehre  an.  Eine  vermittelnde  Stellung  nimmt  James  in  seinem  schon 
öfter  erwähnten  Buche  ein.  Nach  ihm  ist  weder  die  verdammende, 
noch  die  lobpreisende  Anschauung  die  richtige.  Er  zählt  6  Wurzeln 
der  Askese  auf47). 

1.  Asketisches  Leben  kann  lediglich  der  Ausdruck  physischer 
Kraft  sein,  die  alles  Weichliche  verachtet. 

2.  Mäßigkeit  im  Essen  und  Trinken,  Einfachheit  in  der  Kleidung, 
Keuschheit  und  das  allgemeine  Streben,  den  Körper  nicht  zu  ver- 
zärteln, können  aus  dem  Streben  nach  Reinheit  hervorgehen,  die  vor 
jedem  Sinnengenuß  zurückschreckt. 

3.  Sie  können  auch  der  Liebe  entspringen,  d.  h.  sie  können 
dem  Menschen  als  Opfer  erscheinen,  die  er  der  von  ihm  geglaubten 
Gottheit  mit  Freuden  darbrindt. 

4.  Ferner  können  die  Kasteiungen  und  Martern  des  asketischen 
Lebens  eine  Folge  des  pessimistischen  Urteils  über  das  eigene  Ich  sein. 


«)  Lasson,  „Meister  Eckhart,  der  Mystiker"  S.  32. 
48)  Kucken,  „Lohensiinsclmuung  großer   Denker",  G.  Aufl.   S.  4<U. 
,7)  James,  „Die  religiöse  Erfahrung  in  ihrer  Mannigfaltigkeit". 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  1.  (5 


82  Oscar  Schuster. 

das  sich  mit  den  kirchlichen  Sühnevorstellungen  verbindet.  Der 
Fromme  kann  das  Gefühl  haben,  als  kaufe  er  sich  frei  und  entgehe 
schlimmeren  Leiden  in  der  Zukunft,  wenn  er  hier  Buße  tut. 

5.  Psychopathische  Personen  üben  diese  Kasteiungen  oft  in 
vernunftwidriger  Weise  auf  Grund  einer  Art  Besessenheit  oder  auf 
fixe  Idee,  die  als  Forderung  auftritt  und  erfüllt  werden  muß,  wenn 
der  betreffende  Mensch  seine  innere  Ruhe  wiederfinden  soll. 

6.  Schließlich  können  asketische  Übungen  —  wenn  auch  seltener  — 
durch  wirkliche  Umkehrungen  der  körperlichen  Empfindsamkeit 
angeregt  werden.  Schmerz  bereitende  Reize  werden  dann  geradezu 
als  Lust  empfunden. 

Schopenhauer  knüpfte  besonders  am  2.  und  4.,  Nietzsche  in 
der  Hauptsache  am  5.  Punkt  an.  Nietzsche  sah  hier  vieles 
richtiger  an  als  Schopenhauer,  und  dieser  ist  in  seinem  taedium 
vitae  bis  zu  einer  Grenze  gegangen,  wo  er  abstoßend  wirkt.  Wie 
konnte  er  die  Verirrungen  in  Altertum  und  Neuzeit  einer  Welt,  von 
der  ihn  sonst  ein  Abgrund  trennte,  in  derartiger  Weise  preisen!  Ich 
will  damit  nicht  seinen  Pessimismus  überhaupt  absprechend  be- 
urteilen. Wenn  heute  ein  neuer  Schopenhauer  käme,  ein  wie  weites 
Feld  wäre  vor  ihm  aufgetan!  Bei  der  Beurteilung  des  Pessimismus 
muß  man  immer  die  Hilfsquellen  im  Auge  haben,  welche  dem  Optimis- 
mus aus  sozialen  und  religiösen  Gründen  und  aus  der  Feigheit  und 
Oberflächlichkeit  im  allgemeinen  reichlicher  fließen.  Die  Vorwürfe 
gegen  die  Gefühlsphilosophie  kann,  ich  nur  zum  Teil  als  berechtigt 
anerkennen.  Welche  Unsumme  von  emotionellem  Leben  ist  in  die 
logischen  und  positivistischen  Untersuchungen  des  letzten  Jahr- 
zehntes halb  oder  ganz  unbewußt  eingeströmt.  Wir  werden  in  Schopen- 
hauer immer  einen  Mann  zu  verehren  haben,  dem  es  mit  dem  Er- 
kennen bitter  ernst  war.  Und  dieser  Ernst  schritt  auch  über  die  eigene 
Person  hinweg.  Es  ändert  nichts  an  der  Sache,  wenn  wir  heute  in  der 
Lage  sind,  an  Hand  einer  freilich  noch  recht  dürftigen  Psychologie 
der  Metaphysik  Manches  auf  der  subjektiven  Seite  zu  buchen,  was 
Schopenhauer  als  objektiv  ansah. 


VIII. 

Die  Ethik   des    Naturrechtslehrers   Chr.  Thomasius 
mit  Berücksichtigung  seiner  Fechtsphilosophie. 

Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Philosophie 

von 
Dr.  Martin  Joseph. 

Ich  selbst  kann  mir  keine  angenehmere  Be-. 
schäftigung  machen,  als  die  Xamen  berühmter 
Männer  zu  mustern,  ihr  Recht  auf  die  Ewigkeit  zu 
untersuchen,  unverdiente  Flecken  ihnen  abzu- 
wischen, die  falschen  Verkleisterungen  ihrer  Schwä- 
chen aufzulösen,  kurz  alles  im  moralischen  Sinne 
zu  tun,  was  derjenige,  dem  die  Aufsicht  über  einen 
Bildersaal  anvertraut  ist,  physisch  verrichtet. 

L  e  s  s  i  n  g  :    Rettungen  des  Horaz, 

Inhaltsangabe. 

Einleitung. 

1.  Vergleich  der  griechischen  Aufklärung  mit  der  Aufklärung  des  16.  und 
17.  Jahrhunderts. 

2.  Die  Bedingungen  der  Ethik  des  Chr.  Thomasius. 

3.  Der  Standpunkt  und  der  Charakter  derselben. 

I.    Buch. 

1.  Die  Normen  der  Sittenlehre. 

2.  Das  Ziel  der  Sittlichkeit, 

3.  Die  Prinzipien  der  Sittlichkeit. 

a)   die  vernünftige  Liebe, 
1))  die  unvernünftige  Liebe. 

4.  Die  Tugendlehre, 

a)   die  allgemeine  Liebe, 
I))  die  besondere  Liebe, 
c)    die  vernünftige  Selbstliebe 

5.  Die  Stellung  der  Ethik  zu  andern  Disziplinen. 

a)  zur  Religion. 

b)  zum  Recht. 

G* 


84  Martin  Joseph, 

IL    Buch. 

A.  Psychologische  Grundlegung  der  Ethik. 

1.  Verstand  und  Wille, 

2.  Willensfreiheit  und  Gewissen, 

3.  Verantwortlichkeit. 

B.  Affektenlehre. 

1.  Die  Hauptaffekte, 

2.  Die  vermischten  Affekte, 

3.  Die  Mittel  zur  Befreiung  von  den  Affekten. 

Schluß. 

1.  Bewertung  dieser  Lehren  von  Seiten  des  Philosophen, 

2.  Historische  Würdigung  der  Ethik  des  Chr.  Thomasius. 

Literaturverzeichnis. 

Chr.  Thomasius: 

1.  Historie  der  Weisheit  und  Torheit  1693. 

2.  Versuch  vom  Wesen  des  menschlichen  Geistes  1693. 

3.  Lustige  und  ernsthafte  Monatsgespräche  1688 — 1694. 

4.  Von  den  Mängeln  der  aristotelischen  Ethik  1721. 

5.  Einleitung  in  die  Hofphilosophie  1710. 

6.  Von  den  vier  Temperamenten  1693. 

7.  Hällische  Bemerkungen  1700. 

8.  Einleitung  zur  Sittenlehre  1692. 

9.  Ausübung  der  Sittenlehre  1696. 

10.  Höchst  notwendige  Wissenschaft,  das  Verborgene  des  Herzens  anderer 
Menschen  zu  erkennen  1694. 

11.  Grundlagen  des  Natur-  und  Völkerrechts  1688. 

12.  Drei  Bücher  der  göttlichen  Rechtsgelahrtheit  1705. 

13.  Luden:    Chr.  Thom.  nach  seinen  Schicksalen  und  Schriften. 

14.  B.  A.  Wagner:   Chr.  Thom.,  Ein  Beitrag  zur  Würdigung  seiner  Verdienste 
um  die  deutsche  Literatur. 

15.  G.  G.  Fülleborn:    Beiträge  zur  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  IV. 

16.  Klemperer:    Chr.  Thom.,  ein  Vorkämpfer  der  Volksauf klärung. 

17.  Windelband:   Geschichte  der  Philosophie,  Bd.  I,  2.  Aufl.,   Bd.  III  u.  IV, 
4.  Aufl. 

18.  Alex.  Nicoladoni:  Chr.  Thom.,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Aufklärung. 

19.  Überweg:    Geschichte  der  Philosophie,  Bd.  III,  S.  190—198. 

20.  Schröckh:    Allgemeine  Biographie  Bd.  V. 

21.  Brucker:    Historia  philosophiae  tom  IV. 

22.  Ziegler:    Geschichte  der  Ethik. 

23.  Jodl:    Geschichte  der  Ethik. 

24.  Franz  von  Holtzendorf:    Enzyklopädie  der  Rechtswissenschaften. 

25.  Felix  Dahn:  Rechtsphilosophische  Studien. 

26.  Bluntschli:    Staatswörterbuch. 


Die  Ethik  des   Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  85 

27.  Adolf  Lasson:    Rechtsphilosophie. 

28.  Siegel:    Deutsche  Rechtsgeschichte. 

29.  Gierke:    Naturrecht  und  deutsches  Recht. 

30.  Hinrichs:    Geschichte  der  Rechts-  und  Staatsprinzipien. 

31.  Trendelenburg:    Naturrecht  auf  dem  Grunde  der  Ethik.    Leipzig  1857. 

32.  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  VII. 


Die  Bedingungen,  aus  denen  heraus  die  Ethik  des  Naturrechts- 
lehrers Chr.  Thomasius  zu  erklären  ist,  haben  in  mancher  Hinsicht 
eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  jenen  Umständen,  auf  Grund  deren  wii 
die  griechische  Aufklärung  und  ihre  Ableger  zu  begreifen  haben. 
Die  Verschiedenheit  in  den  metaphysischen  Ansichten,  die  gerade,  in 
den  Systemen  der  bedeutendsten  Denker  zu  Tage  trat,  erregte  die 
Unzufriedenheit  der  Zeit.  Der  Untergang  des  griechischen  Gemein- 
wesens lenkte  das  Interesse  des  einzelnen  von  den  Aufgaben  der 
Gesamtheit  ab  und  bewirkte  die  Zurückziehung  des  Individuums  auf 
sich  selbst,  auf  sein  eigenes  Heil  und  seinen  eigenen  Nutzen  und  Vorteil. 

..Wo  die  Geschicke  der  äußeren  Welt  vernichtend  über  ganze 
Völker  und  gewaltige  Reiche  dahinrollten,  da  schien  nur  noch  im 
Innern  der  Persönlichkeit  Glück  und  Genuß  zu  winken,  und  so  wurde 
für  alle  Besseren  die  Frage  nach  der  rechten  Einrichtung  des  persönlichen 
Lebens  die  wichtigste  und  brennendste".  (Windelband,  Präludien 
S.  16/17.) 

Man  fragte  nach  dem  praktischen  Wert  der  Wissenschaften  und 
suchte  das  bisher  Geleistete  —  nicht  immer  zum  Frommen  derselben  — 
zu  popularisieren.  (Vgl.  Windelband,  Geschichte  der  alten  Philosophie 
S.  63  ff.)  Außerdem  gehört  auch  das  Anwachsen  der  einzelnen  empi- 
rischen Wissenschaften  innerhalb  des  Bereiches  der  alles  umfassenden 
Philosophie  zu  den  Faktoren,  welche  die  Emanzipierung  der  einzelnen 
Disziplin 'ii  herbeiführten.  Sie  lenkten  das  Augenmerk  der  Denkenden 
von  den  expansiv  größeren  Fragen  der  metaphysischen  Spekulation 
auf  rein  praktische  Probleme.  Dazu  kam,  daß  das  einst  fest  gefügte 
Gebäude  der  Religion  zu  wanken  begann.  Die  religiösen  Vorstellungen 
verschoben  sich,  um  sich  allmählich  zu  läutern.  Sie  gestalteten  sich 
derart  um,  daß  sie  für  den  Denkenden  wie  für  die  Massen  keinen 
festen  Orientierungspunkt  mehr  boten.  (Vgl.  Ziegler,  Geschichte  der 
Ethik  B.  1  §  7  S.  141.)   I  »er  Spiegel  solcher  wie  aller  Kulturströmungen 


86  Martin  Joseph, 

ist  die  Kunst  und  Literatur.  Anstelle  der  griechischen  Tragödie  tritt 
vielfach  die  Satire,  d.  h.  die  Kritik  an  dem  Bestehenden  und  den 
Tdealen  der  Zeit.  Aristophanes  verspottet  die  sokratische  Lehre  und 
in  ihr  die  ganze  Schulphilosophie:  „Das  Vorwiegen  des  Interesses  für 
das  Individuum  zeigt  sich  auch  in  der  Kunst,  wo  an  der  Stelle  des 
Ideellen  mehr  und  mehr  das  Realistische  und  Charakteristische  tritt.' 
(Ziegler,  Geschichte  der  Ethik  B.  1  S.  141.) 

Ähnlich  verhält  es  sich  zur  Zeit  der  Aufklärung.  Bereits  der 
Westfälische  Friede  hatte,  wenn  auch  nicht  formell,  so  doch  der  Wirk- 
lichkeit nach  das  deutsche  Reich  in  ein  Konglommerat  von  Einzelstaaten 
ohne  jeden  einheitlichen,  organischen  Zusammenhang  aufgelöst. 
Die  Scholastik  lag  im  Todeskampf  und  konnte  die  Bedürfnisse  des 
Gemütes  nicht  mehr  befriedigen.  Durch  den  Widerstreit  der  einfluß- 
reichsten Lehrsysteme  des  Aristoteles,  Descartes  und  Spinoza  fühlte 
sich  der  menschliche  Geist  beunruhigt.  Dazu  kam  das  Aufblühen 
der  Naturwissenschaft. 

Die  Erkenntnis  ihrer  Unvereinbarkeit  mit  den  herrschenden 
religiösen  Anschauungen  brach  sich  bei  den  Gebildeten  Bahn.  Die 
Überzeugung,  daß  der  menschliche  Geist  allein  für  die  Erforschung 
aller  Wissensgebiete  wie  der  Religion  ausreichend  und  kompetent  sei, 
gewann  immer  mehr  und  mehr  Boden  *). 

So  schwankte  der  Boden  der  althergebrachten  und  der  neueren 
Systeme,  die  in  ihrem  schwerfälligen  Kothurne  den  Anspruch 
auf  Allgemeingültigkeit  erhoben,  unter  den  Füßen  derjenigen, 
denen  es  nicht  so  sehr  an  kritischer  Gabe  und  Skepsis  wie  an  pro- 
duktiver Kraft  und  tiefer,  schöpferischer  Energie  zu  neuen  Geistes- 
taten fehlte.  Man  suchte  am  „gesunden  Menschenverstand"  Halt, 
denn  von  den  Antworten  auf  die  Rätsel,  die  das  Dasein  stellt,  fühlte 
man  sich  nicht  mehr  befriedigt.  Man  will,  abgelenkt  von  den  großen 
nationalen  Aufgaben  und  dem  Ringen  nach  streng  wissenschaftlicher 
Erkenntnis,  lieber  ergründen,   was  für  den  Menschen  als  solchen, 


x)  „Diese  Hoffnungen  auf  eine  Religion  der  Vernunft  empfingen  schon 
seit  dem  15.  Jahrhundert  eine  immer  zunehmende  Stärke  durch  die  Erfolge 
dieser  Vernunft  in  der  Unterwerfung  der  Natur  durch  das  Wissen."  (Dilthey, 
Die  Autonomie  des  Denkens  im  17.  Jahrhundert.  Archiv  für  Geschichte 
der  Philosophie  VII  S.  42).  „Die  Vernunft  besitzt  in  sich  selbst  das  Ver- 
mögen aller,  auch  der  religiösen  moralischen  Wahrheiten"  war  der  Hauptsatz 
in  der  Philosophie  Herberts  v.  Cherbuery.      (Dilthey,    ebendaselbst    S.  31.) 


Die  Ethik  des  Xaturreehtslehrers  Chr.   Thomasius.  87 

losgelöst  von  der  Gesamtheit,  nützlich  ist.  Auch  die  Form,  in  welcher 
diese  Frage  beantwortet  werden  soll,  kann  des  methodisch-systemati- 
schen Charakters  entbehren. 

Die  belletristischen  Produktionen  zeigen  deutlich  diese  Physio- 
gnomie; in  Frankreich  veröffentlicht  Pierre  Bayle  seine  Nouvelles 
de  la  republique  des  Lettres,  während  in  Deutschland  nicht  nur  die 
satirischen  Gedichte  Alexanders  von  Sittenwald,  die  Thomasius  in 
seinen  „Monatsgesprächen"  bespricht,  sondern  auch  die  höchsten 
Leistungen  der  Aufklärungsperiode  und  des  Rationalismus  den  Geist 
der  Verflachung  und  des  Praktisch-Nüchternen  atmen.  In  Gottsched 
ist  der  Kulminationspunkt  und  das  Konterfei  solcher  Denkungsart 
gegeben,  und  Rousseaus  „Devin  de  village"  tendiert  ebenfalls  von  der 
Überkultur  zur  Einfachheit  und  zum  Natürlichen. 

Ebensowenig  wie  in  der  Literatur  sämtliche  Faktoren  einer  Zeit- 
strömung durch  eine  Persönlichkeit  zum  Ausdruck  kommen,  brauchen 
alle  Bedingungen  der  Aufklärungsperiode  zusammen  in  einem  einzelnen 
ethischen  Systeme  konsequent  den  Standpunkt  zu  ergeben.  Die 
Konsequenz  in  solchen  Lehrgebäuden  ist  in  der  Regel  abhängig  von 
der  Individualität,  ihrer  geistigen  Stärke,  ihrer  Lebensstellung,  ihrer 
Gewohnheit  und  ihres  Milieu.  Gerade  die  Inkonsequenz,  das  Schwanken 
zwischen  dem  Alten  und  dem  Neuen,  das  Streben,  sich  von  dem  einst 
Ehrwürdigen  im  Geistesleben  loszulösen  und  die  Ohnmacht,  sich  von 
diesen  Fesseln  entgültig  zu  befreien,  sind  bei  jenen  mehr  praktisch  als 
theoretisch  angelegten  Naturen  das  Natürliche  und  Charakteristische. 
Eine  solche  praktische  Natur  sucht,  das  in  den  einzelnen  Systemen 
ihr  nützlich  und  richtig  Scheinende  zu  vereinen  und  für  ihre  Zwecke 
zu  verwerten.  So  zeichnen  sich  solche  Lehrgebäude  durch  den  eklek- 
tischen Charakter  aus,  dem  es  weniger  auf  streng  systematische 
Begriffe  als  auf  praktische  Anwendung  und  Brauchbarkeit  ankommt. 

Damit  ist  der  Standpunkt  bestimmt,  den  Chr.  Thomasius  auf 
dem  Gebiete  der  Ethik  einnimmt.  Er  ist  im  großen  und  ganzen  von 
keinem  Philosophen  direkt  abhängig.  Er  bekennt  sich  zum  Eklektizis- 
mus 2)  und  will  die  Mitte  zwischen  den  Peripatetikern  und  Descartes 
halten.  (Einleitung  zur  Sittenlehre  und  Einleitung  zur  Philosophie, 
K;i|>.  1  §  92.) 


2)  Nach  der  Ansicht  des  Th.  sind  alle  großen  Philosophen  wie  J'lato, 
Aristoteles,  Descartes,  Eklektiker  gewesen.  (Einl.  zur  Hofphilosophie  1.  Kap. 
§  93.) 


88  Martin  Joseph, 

„Das  Unsystematische  ist  bei  ihm  geradezu  beabsichtigt."  (Windel- 
band, Geschichte  der  neueren  Philosophie  1.  B.  4.  Auff.  S.  516.)  Für 
die  Popularisierung  philosophischer  Gedanken  sah  er  in  Leibniz  das 
Vorbild.  Windelband  (ebendaselbst  S.  510)  charakterisiert  ihn  deshalb 
als  „einen  allseitig  aufgelösten  Charakter,  einen  unruhigen  Neuerer, 
der  die  Wissenschaften  zum  Hebel  gemeinnütziger  Interessen  macht, 
einen  kritiklosen  Eklektiker  und  dabei  einen  überaus  wirkungsvollen 
Popularisator." 

Die  Epikureische  Doktrin  von  der  Glückseligkeit  hat  er  sich  in  der 
Umgestaltung,  die  sie  durch  Gassendi  erfahren  hatte,  zu  eigen  gemacht. 
Einen  größeren  Einfluß  hatte  auf  sein  Denken  die  englische  Philosophie. 
Ihr  auf  das  Praktische  und  Erfahrungsmäßige  gerichteter  nüchterner 
Sinn  konnte  dem  Juristen  und  banausen  Denker  zusagen,  ohne  daß 
er  die  volle  Tragweite  und  Bedeutung  dieser  Geistesrichtung  verstand. 
So  entnimmt  er  Baco  von  Verulam  die  vernünftige  Liebe  als  das  rechte 
Maß  aller  Tugenden.  Den  empirisch-sensualistischen  Charakter  seiner 
Erkenntnistheorie  hat  er  Locke  entlehnt.  Im  übrigen  soll  der  gesunde 
Menschenverstand  die  verworrenen  Fäden  des  menschlichen  Geistes 
und  Wollens  auseinanderlegen.  Die  Ablösung  des  abstrakten  Denkens 
und  der  Begriffe  durch  schwankende,  mehrdeutige  populäre  Aus- 
drücke und  platte  Allgemeinverständlichkeit,  die  Vereinigung  und 
Verschmelzung  heterogener  Bestandteile  zu  einem  einheitlichen 
Ganzen  wirkt  bei  der  ethischen  Systembildung  —  soweit  von  einer 
solchen  die  Rede  sein  kann  —  mit.  Ihre  Prinzipien  oder  Motive  sind 
eben  bestimmt  durch  jene  utilitaristischen  Zwecke  und  so  zahlreich 
und  unbestimmt  wie  die  Wege,  die  in  den  verschiedenen  Lebenslagen 
zu  dem  jeweiligen  Ziele  führen.  In  diesem  Sinne  urteilt  Jodl  (Geschichte 
der  Ethik  B.  2  S.  25):  „Es  darf  hier  daran  erinnert  werden,  daß  dem 
Eudaimonismus  des  17.  und  18.  Jahrhunderts,  soweit  er  einer  rein 
rationalen  humanen  Ethik  zustrebte,  vielfach  das  imperative  Moment, 
das  Sollen,  fehlte;  daß  er  statt  reiner  und  scharfer  Ausprägung  der 
Form,  im  Gegensatz  zu  allem  sittlich  Abweichenden,  sich  in  ein  bloßes 
Beschreiben  der  gutartigen  Menschennatur  verlor"  3). 

Recht  charakteristisch  für  die  seichte  Behandlung  und  die  Ver- 
mischung fremdartiger  Gesichtspunkte  in  der  Ethik  des  Thomasius 

3)  „Alle  Moralphilosophie  ist  schlechter  als  die  natürliche  Sittlichkeit, 
die  sie  erklären  und  begründen  wollte."  (Jodl,  Geschichte  der  Ethik,  Bd.  II, 
S.  13.) 


Die   Ethik  des   Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  89 

ist  die  Behandlung  altruistischer  Fragen.  „Sein  Leben  für  sein  Vater- 
land wagen,  ist,  wenn  man  einen  rechten  Menschen  ansieht,  ein  be- 
lustigendes und  nützliches  Gut;  denn  ein  tugendhafter  Mann  tut  es  mit 
Freuden  und  erhält  dadurch  den  gemeinen  Nutzen,  in  welchem  sein 
eigener  steckt."  (S.  40  Einl.  d.  Sittl.).  An  einer  andern  Stelle  (S.  343 
bis  345  ebendaselbst)  begründet  er  die  Pflicht  der  Selbsterhaltung 
zum  Zwecke  der  Förderung  des  Nächsten  mit  dem  Hinweis,  daß  wir 
ohne  Hilfe  anderer  Menschen  nicht  auskommen  können  und  auf 
gegenseitige  Unterstützung  angewiesen  sind.  Daß  es  Güter  und  Ideale 
gibt,  die  unter  Hintansetzung  des  eigenen  Wohles  zu  erstreben  sind, 
daß  sie  gerade  das  Wesen  sittlicher  Handlungs-  und  Denkweise  aus- 
machen und  ihr  vornehmlich  den  Stempel  echter  Moralität  aufdrücken, 
hat  Thomasius  nicht  erfaßt.  Es  ist  eben  das  Fehlen  des  Pflicht- 
begriffes, daß  sich  hier  bitter  rächt.  An  ihm  geht  man,  wie  ein  neuerer 
Philosoph  einmal  sagt,  nicht  ungestraft  vorbei,  wenn  man  ihn  außer 
acht  läßt.  In  demselben  Sinne  sagt  Alexander  Nicoladoni  (Chr. 
Thomasius,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Aufklärung.  Berlin  1888 
S.  67):  „Charakteristisch  ist  allen  (sc.  Werken),  daß  ihnen  nicht 
etwa  ein  ideales  auf  den  Begriffen  der  Pflicht,  vor  dem  alle  andern 
zurücktreten,  beruhendes  Sittengesetz  als  Zweck  vorschwebt,  zu 
dessen  Verwirklichung  sie  dienen  sollen,  sondern  daß  sie  sichtlich 
bestrebt  sind,  das  eigene  Wohlergehen  mit  den  Interessen  der  Gesamt- 
heit, aber  mit  mehr  Rücksicht  auf  das  liebe  Ich  in  Einklang  zu  bringen." 
Selbst  der  begeisterte  Verehrer  des  Juristen  konnte  sich  dieses 
Vorwurfes  nicht  enthalten.  Luden  schreibt  in  seiner  trefflichen 
Biographie  (Chr.  Thomasius  nach  seinen  Schicksalen  und  Schriften. 
Berlin  1805  S.  185 ff.):  „Etwas  Scientifisches  wird  man  von  dem 
Eklektiker  wohl  nicht  erwarten;  aber  auch  von  der  Idee  der  Moral, 
die  darauf  ausgeht,  alle  Moralität,  die  nur  das  Produkt  des  Streites 
zwischen  Neigung  und  Pflicht  ist,  in  welchem  diese  den  Sieg  behält, 
und  die  aufhören  muß,  wenn  der  Streit  aufhört,  überflüssig  zu  machen, 
von  einem  allgütigem  Gesetz,  das  regierend  eingreifen  soll  in  der 
Menschen  Tun  und  Wollen,  bei  den  großen  wie  bei  den  kleinen  Ver- 
hältnissen des  Lebens,  verrät  dies  Werk  des  Thomasius  keine  Ahnung. 
Ja  nicht  einmal  der  Begriff  der  Pflicht  ist  ihm  dabei  eingefallen, 
sondern  es  ist  vielmehr  ein  wohlgemeintes,  gutmütiges  Raisonnement, 
das  die  Menschen  nicht  eben  nimmt,  wie  sie  sind,  ebensowenig,  als  es 
sie  zu  machen  sucht,    wie  sie  sein  sollen,  sondern  das  nach  einem 


90  Martin  Joseph, 

gewissen  Romanideal  die  Glückseligkeit  der  Menschen  preist,  die  auf 
Wackefieldsclie  Weise  zufrieden  leben  in  häuslicher  Freude,  voll 
Liebe  gegen  andere  Menschen,  die  ihnen  gleichen,  und  vollGutmütigkeit 
gegen  solche,  die  sie  nicht  leiden  können.  Ja,  man  könnte  einen  guten 
Teil  des  Werkes,  ohne  ihm  zu  nahe  zu  treten,  eine  Ehestanddisziplin 
nennen,  das  zwar  nicht  gute  Menschen  beschreibt,  das  aber  nie  als 
Regulativ  fürs  Leben  etwas  bedeuten  kann." 

Bevor  wir  daher  in  die  Darstellung  der  Ethik  des  Thomasius  ein- 
treten, muß  betont  werden,  daß  die  systematischeDarstellung  doppelten 
Schwierigkeiten  aus  dem  Wege  zu  gehen  hatte.  Die  ersteren  liegen 
sowohl  in  dem  eben  bezeichneten  Standpunkt  und  den  Bedingungen, 
aus  denen  heraus  die  Sittenlehre  unseres  Naturrechtslehrers  zu  be- 
greifen ist,  zweitens  hat  bereits  Fülleborn  in  den  Beiträgen  zur  Ge- 
schichte der  Philosophie  (Bd.  1  Stück  4  S.  7)  bemerkt,  daß  der  über- 
große Eifer  und  die  heftige  Polemik  gegen  die  Pedanterie  seiner  Zeit, 
besonders  gegen  den  Aristotelismus4),  Thomasius  daran  gehindert  hat, 
eine  streng  wissenschaftliche  Untersuchung  über  die  Moral  anzustellen. 
Nicht  anders  denkt  auch  Scherer.  (Geschichte  der  deutschen  Literatur 
S.  333.)  „Er  (Th.)  haßte  das  Mittelalter  und  stellte  Hans  Sachs  über 
Homer.  Er  zog  überall  die  Berufung  auf  den  gesunden  Menschen- 
verstand einem  streng  wissenschaftlichen  Beweise  vor  und  legte  den 
höchsten  Wert  auf  den  Nutzen  der  Wissenschaft." 

Wofern  man  nicht  den  Gedanken  unseres  Philosophen  Zwang 
antun  will,  mußte  deshalb  von  einer  sogenannten  Vertiefung  seiner 
sittlichen  Ideen  Abstand  genommen  werden,  da  sie  sich  nicht  in  seinem 
Geiste  rechtfertigen  läßt.  Anderseits  mußte  vieles  Material  in  seinen 
ethischen  Schriften,  unberücksichtigt  bleiben,  wenn  auf  den  einheitlich 
wissenschaftlichen  Charakter  der  Darstellung  nicht  ganz  verzichtet 
werden  sollte.  Dies  läßt  sich  um  so  eher  rechtfertigen,  als  Thomasius 
häufig  mehr  als  moralisierender  und  predigender  Lehrer  auftritt  an- 
statt als  wissenschaftlicher  Denker.  Er  mußte  nach  der  bisherigen 
Charakteristik  als  Ethiker  das  Katheder  mit  der  Kanzel  vei wechseln. 
Außerdem  sei  schon  hier  bemerkt,  daß  auch  die  Rechtsphilosophie 


4)  „Freiheit  von  der  aristotelischen  Philosophie,  —  das  war  ein  Losungs- 
wort, unter  welchem  sich  Neuerer  der  mannigfachsten  Richtungen  zusammen- 
fanden  "     (Windelband,    Geschichte  der  neueren  Philosophie.     Bd.  I, 

4.  Aufl.,  S.  6/7.) 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  91 

unseres  Juristen  berücksichtigt  worden  ist.  Die  Gründe  hierzu  er- 
geben sich  aus  dem  Kapitel  über  die  Stellung  der  Ethik  zum  Recht. 
(S.  106/107.) 

I.  Buch. 
1.  D  i  e   Normen   der   Sittenlehre. 

Wir  wenden  uns  zunächst  dem  Begriffe  „gut"  zu.  Thomasius 
definiert:  „Gut  ist,  wenn  zwei  Dinge  mit  einander  übereinkommen, 
d.  i.  ein  Ding,  das  ein  anderes  in  seiner  Dauer  erhält  und  dessen  Wesen 
und  Beschaffenheit  vermehrt.  Böse,  wenn  ein  Ding  dem  andern  zu- 
wider ist,  d.  h.  wenn  ein  Ding  die  Dauer  des  andern  verkürzt  oder 
dessen  Wesen  und  Beschaffenheit  verringert".  (Einl.  der  Sittenl.  S.  6.) 

Unser  Philosoph  will  also  nicht  psychologisch  aus  der  Natur  des 
sittlich  wollenden  Menschen  den  Begriff  „gut"  erklären,  sondern  er 
fällt  ein  Werturteil  über  Objekte  in  ihren  Beziehungen  zu  einander, 
um  es  dann  auf  den  Menschen  selbst  zu  übertragen.  Der  Grund  hierfür 
liegt  eben  darin,  daß  seine  ganze  Ethik  auf  eine  Nützlichkeitspolitik 
für  den  Menschen  in  seiner  psychophysischen  Natur  hinausläuft.  Die 
Prädikate  „gut"  und  „böse"  werden  gefällt  in  bezug  auf  die  Er- 
haltung und  Dauer  des  Lebens.  An  diesem  Maßstabe  sollen  alle  sitt- 
lichen Werte  gemessen  werden.  Demnach  gibt  es  zwei  Arten  von  Gütern, 
die  der  Seele  und  die  des  Körpers.  Auch  als  Kriterium  des  ersteren 
gilt  „die  Dauerhaftigkeit"  d.  h.  das  Verharren  in  einem  Zustande, 
der  das  Wesen  des  Geistes  vermehrt.  Für  die  Seele  gehört  zu  dem  Be- 
griffe „gut"  die  Bestimmung,  daß  sie  nicht  zu  sehr  von  den  Gefühlen 
der  Lust  und  des  Schmerzes  affiziert  wird,  sondern  sich  einer  gewissen, 
gleichmütigen,  fast  apathischen  Stimmung  erfreut.  Eine  gewisse 
Beschaulichkeit  des  Daseins,  eine  Selbstzufriedenheit,  die  durch  kein 
Ereignis  aus  der  Ruhe  gebracht  wird,  eine  fröhliche  Tatenlosigkeit, 
ein  „Stilleben"  ist  das  wesentliche  Gute  der  Seele. 

Ziehen  wir  aus  dem  bisher  Gesagten  die  Konsequenzen,  wie  es 
auch  unser  Philosoph  tut,  so  können  wir  noch  hinzufügen: 

1.  Ein  Gut  von  kurzer  Dauer,  dem  ein  langes  Übel  folgt,  ist  kein 
Gut,  sondern  ein  Böses. 

2.  Ein  Gut,  das  nach  der  einen  Seite  hin  für  den  Menschen  förder- 
lich ist,  nach  der  andern  schädlich,  ist  kein  Gut,  sondern  ein  Böses 
(Einl.  d.  Sittenl.  S.  10—12). 


92  Martin  Joseph, 

Thomasius  polemisiert  von  diesem  Standpunkte  gegen  die  in 
seiner  Zeit  übliche  Einteilung  des  Begriffes  „gut".  Man  teilte  nämlich 
das  Gute  ein  in  honestum,  utile  und  iucundum,  als  ob  es  verschiedene 
Arten  wären.  Dieser  Unterschied  ist,  so  lehrt  der  Philosoph,  hinfällig; 
denn  nur  in  seiner  Betrachtung  nach  den  veischiedenen  Gesichts- 
punkten und  Gegenständen,  auf  die  es  bezogen  wird,  liegt  seine  Ver- 
schiedenheit. 

Auf  Gott  wird  das  Prädikat  honestum  angewandt,  dasselbe  Gute 
aber  angesichts  seines  Genusses  für  denAugenblick  nennt  man  iucundum, 
hinsichtlich  seines  Wertes  und  seiner  Nützlichkeit  utile. 

Thomasius  hat  offenbar,  ebenso  wenig  wie  Descartes 5),  einen 
richtigen  Einblick  in  das  Wesen  der  Gefühle  und  Leidenschaften,  denn 
bald  faßt  er  das  Wort  iucundum  als  angenehm  auf  und  versteht  darunter 
einen  rein  emotionellen  Gefühlszustand,  der  sich  als  eine  Fröhlichkeit 
des  Gemütes,  gewissermaßen  als  eine  Art  stehenden  Gemeingefühles 
bezeichnen  läßt.  Bald  aber  versteht  er  hierunter  die  Befriedigung, 
die  ein  mit  Bewußtsein  erstrebtes  Gut  gewährt.  Natürlich  hat  er  sich 
durch  diese  Verwechslung  den  Kampf  mit  seinen  Gegnern  leicht  ge- 
macht.   (Einl.  d.  Sittenl.  S.  33  u.  34.) 

Freilich  gewährt  der  Besitz  eines  Gutes  eine  Freude.  Aber  diese 
Freude  ist  doch  eben  das  Accidens,  die  Folge  jenes  Besitzes  im  Unter- 
schiede von  dem  Gefühle  des  Angenehmen  und  „Belustigenden",  das 
sich  nicht  auf  den  bewußten  Besitz  eines  Gutes  gründet.  Es  ist  nicht 
die  Freude  oder  die  Zufriedenheit  über  einen  erlangten  Besitz,  sondern 
lediglich  ein  augenblicklicher  Zustand,  der  als  Lebenserhöhung  emp- 
funden wird.  Man  kann  das  Gefühl  des  Angenehmen  bzw.  Unan- 
genehmen je  nach  seinen  Wirkungen  und  Folgen  verschieden  be- 
werten, es  selbst  ist  aber  niemals  mit  Gut  oder  Böse  identisch. 

Ebenso  tritt  eine  gewisse  Beschränktheit  und  Einseitigkeit  in 
dem  Erfassen  ethischer  Gesichtspunkte  hervor,  wenn  er  honestum 
nur  in  bezug  auf  Gott  als  ein  richtiges  Prädikat  anerkennen  will. 
Er  hat  bei  dieser  Behauptung  zwar  wohl  das  Gefühl  der  Unsicherheit 
gehabt,  wenn  er  sagt  (S.  34  Einl.  d.  Sittenl.):  „Endlich  ist  es  (das 
wahrhaft  Gute)  auch  ehrbar  oder  zum  wenigsten  unehrbar."  Jedoch 
zur  Klarheit  des  Begriffes  hat  er  sich  nirgends  durchgerungen.    Das 


5)  Vgl.  Bark,  Die  Lehre  von  den  Leidenschaften  bei  Descartes.  Rostock, 
Dissert.  1892.  Pleßner,  Descartes'  Lehre  von  den  Leidenschaften.  Leipzig  1888. 


Die  Ethik  des   Xaturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  93 

utile  erscheint  ihm  als  das  einzige  Gewisse,  insofern  es  die  Förderung 
und  die  Erhaltung  des  somatischen  Menschen  bedeutet.  Nach  dieser 
Richtung  wird  auch  das  honestum  umgebogen.  „Die  Ehrbarkeit 
gründet  sich  auf  den  gemeinen  Nutzen  des  Menschengeschlechtes." 
(S.  34  Einl.  d.  Sittenl.)  Daß  die  Handlungen  des  honestum  zuletzt 
auch  dem  Menschen  oder  der  Menschheit  dienlich  sind,  läßt  sich  nicht 
bestreiten.  Aber  zweckmäßig  sind  sie  weder  ihrem  Ursprünge  noch 
ihrem  Wesen  nach.  Es  ist  der  Nachteil  der  eklektischen  Philosophie, 
die  überall  mehr  die  zufällige,  äußere  Gleichheit  der  Dinge,  als  deren 
innere  Verschiedenheit  betrachtet.  So  hat  unser  Philosoph  übersehen, 
daß  das  Absehen  der  Moral  in  erster  Linie  auf  den  Willen  6)  gerichtet 
ist,  während  den  Gegenstand  des  Rechtes  die  Handlung  bildet 7). 

2.    Das   Ziel   der    Sittlichkeit. 
Die  Ethik  hat  keine  streng  wissenschaftliche,  sondern  eine  rein 
praktische  Aufgabe.     Sie  will  weniger  zeigen,  worin  das  Wesen  der 
Sittlichkeit  besteht,  als  vielmehr  die  Menschen  glücklich  machen  und 
ihren  Charakter  verbessern.    Sie  ist  „nichts  anderes,  als  eine  Lehre, 
die  den  Menschen  unterweiset,  worin  seine  wahre  und  höchste  Glück- 
seligkeit besteht,    wie   er   dieselbe   erlangen    und   die    Hindernisse, 
so   durch  ihn   selbst    verursacht  werden,   ablegen  und  überwinden 
solle."   (Einl.  zur  Sittenl.,  Kap.  II  S.  57.)  Diese  Glückseligkeit  besteht 
in  einem  Zustande,  der  die  größte  Ähnlichkeit  mit  der  Ataraxie  der 
Griechen  besitzt.     Unser  Philosoph  versteht  unter  ihr  eine  Apathie 
und  Interesselosigkeit  gegen  die  Außenwelt.    Sie  ist  ein  „ruhiges  Ver- 
langen und  gemäßigtes  Vorstellen".     (S.  85  Einl.  d.  Sittenl.)     Ihre 
einzige  Tätigkeit  ist  ein  Streben  nach  Vereinigung  mit  andern  In- 
dividuen, die  ebenfalls  den  Willen  bis  zui  Verneinung  aller  Begierden 
ertötet  haben.  Aber  auch  dieses  Streben  hat  nur  den  Zweck,  den  einmal 
gewonnenen  Zustand  aufrecht  zu  erhalten.   Das  höchste  Gut  ist  „eine 
ruhige  Belustigung,  die  darin  besteht,  daß  der  Mensch  weder  Schmerz 
noch  Freude  über  etwas  empfindet  und  in  diesem  Zustande  sich  mit 
andern  Menschen,  die  eine  dergleichen  Gemütsruhe  besitzen,  zu  vei- 


6)  Über  das  Verhältnis  von  Moral  zum  Recht  bei  Thomasius  siehe  das 
nachfolgende   Kapitel.     (S.  106/107.) 

7)  Wenn  im  Strafrecht  die  Begriffe  dolus  und  culpa  auch  ihren  Platz 
halien,  so  liegt  der  innere  Grund  dennoch  in  den  dem  Recht  innewohnenden, 
eigentümlichen  Prinzipien. 


94  Martinjoseph, 

einigen  trachtet."  (S.  86  Einl.  d.  Sittenl.)  Diese  Tätigkeit  soll  die 
erlangte  Gemütsruhe  des  Individuums  nicht  stören,  sondern  ist  „ein 
ruhiges  Bemühen  und  Darbieten  und  folglich  eine  Kontinuierung 
der  einmal  erhaltenen  Gemütsruhe,  als  welche  ordentlich  durch  eine 
dergleichen  Vereinigung  entsteht  oder  auch  eine  stets  währende 
Wirkung  dieser  Gemütsruhe,  um  dadurch  anzuzeigen,  daß  diese  Ruhe 
nicht  in  einer  Trägheit  oder  Faulheit  oder  Mangel  aller  Bewegung, 
welches  alles  böse  Dinge  sind,  sondern  in  einer  munteren,  aber  pro- 
portionalen Bewegung  besteht".    (S.  86/87  Einl.  d.  Sittenl.) 

Zunächst  springt  hier  wieder  der  naturalistisch-utilitaristische 
Charakter  der  Ethik  in  die  Augen.  Vollständige  Untätigkeit  involviert 
das  Fehlen  an  Bewegung  des  Körpers.  Das  ist  ungesund  und  schädlich, 
ergo  unsittlich  und  schlecht.  Um  aber  diese  Lehre  ganz  zu  verstehen, 
sei  sie  in  ihre  einzelnen  Bestandteile  zerlegt. 

Aristoteles,  gegen  den  unser  Philosoph  über  Gebühr  eifert 8) 
(vgl.  Jon.  Matthias  Schröckh.  Allgem.  Biographie  5.  Teil  1778  S.  334), 
bestimmt  die  Glückseligkeit  als  eine  Tätigkeit  der  Vernunft.  Diese 
besteht  in  der  Tugend.  Als  Konsequenz  solcher  Betätigung  tritt  das 
Lustgefühl  ein,  das  jedoch  nicht  als  Triebfeder  zur  Sittlichkeit  zu  be- 
trachten ist.  (Th.  Ziegler,  Geschichte  der  Ethik  Bd.  1  S.  108.)  Nach- 
dem die  Oyrenaiker  das  Wesen  der  Moral  lediglich  in  der  Lust  er- 
blickten, erklärte  die  Schule  Epikurs  als  das  Ziel  des  Lebens  die 
Ataraxie ;  sie  ist  eine  Lust,  die  im  Stillstand  der  Seele  und  ihrer  Regungen 
besteht,  ein  Schweigen  aller  andern  Affekte  mit  Ausnahme  eben,  jenes 
Lustgefühls.  Der  Genuß  einer  solchen  Ruhe  ist  das  größte  Glück  und 
das  einzig  erstrebenswerte  Gut  des  Menschen.  (Ziegler,  Geschichte 
der  Ethik  S.  153.)  Die  Anschauungen  Epikurs  in  dieser  Gestalt  waren 
durch  Gassendi  wieder  zum  Ansehen  gelangt,  der  sie  gegen  die  Ver- 
dächtigung des  Materialismus  rechtfertigte.  (Gassendi,  de  vita,  moribus 
et  doctrina  Epicuri  1647.) 

Die  Lehre  unseres  Philosophen  ist,  wie  das  Luden  in  seiner  Bio- 
graphie S.  188  betont,  aus  diesen  Bestandteilen  zu  erklären.  Er  hat 
als  echter  Eklektiker  vergebens  versucht,  diese  verschiedenen  Elemente 
zu  einem  einheitlichen  Ganzen  zu  verschmelzen.    Die  Schwierigkeiten 


8)  Die  Polemik  gegen  Aristoteles  scheint  eine  Erbschaft  der  Abneigung 
Luthers  gegen  diese  Philosophie  zu  sein.  Der  Reformator  sah  in  dem  scholas- 
tischen Aristotelismus  „eine  gottlose  Wehr  der  Papisten",  und  in  dem  neueren, 
wie  ihn  die  Philologen  brächten,  das  pure  naturalistische  Heidentum. 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  95 

werden  sich  im  folgenden  Abschnitt  über  die  Prinzipien  der  Ethik 
deutlich  zeigen. 

3.    Die    Prinzipien   der   Sittlichkeit. 
a)    Die   vernünftige   Liebe. 
Das  höchste  und  einzige  Prinzip  des  sittlichen  Handelns  ist  die 
vernünftige  Liebe.     Sie  ist  ein  Affekt,  dessen  psychologische  Natur 
weiter  unten  erörtert  werden  soll.    Ihre  Tätigkeit  wird  hervorgerufen 
durch  die  Erkenntnis,  daß  etwas  gut  ist.    Hierzu  tritt  der  Wille,  das 
letztere  an  sich  zu  ziehen,  daß  es  zu  einem  Bestandteile  des  Liebenden 
wird.    (S.  159  Ein,  d.  Sittenl.)    Die  vernünftige  Liebe  gewährt  ferner 
allein  die  Sicherheit  für  den  Bestand  der  Gemütsruhe.    Dies  hat  die 
negative  Bedeutung,  daß  sie  die  Schäden  und  Gefahren,  die  aus  egoisti- 
schem Handeln  entstehen,  abwehrt;  „denn  ohne  eine  friedliche  Gesell- 
schaft kann  er  (der  Mensch)  nicht  vergnügt  leben."    (Einl.  d.  Sittenl. 
S.  187.)    Positiv  erzeugt  sie  stets  neue  Liebe  und  Freuden  über  den 
erreichten  Zustand.    Sie  selbst  beruht  nicht  nur  auf  der  Erkenntnis 
von  dem  Nutzen  ihrer  Betätigung,  sondern  ist  auch  ein  dem  Menschen 
innewohnender  Trieb.   Denn  einerseits  erklärt  Thomasius:  „Die  Liebe 
ohne  den  Gedanken,  daß  etwas  gut  ist,  kann  nicht  begriffen  werden" 
(S.  159  Einl.  d.  Sittenl.),  anderseits  ist  er  der  Meinung:  „Wenn  der 
Mensch  gar  keine  Liebe  oder  Zuneigung  zu  einer  ruhigen  und  fried- 
lichen Gesellschaft  in  seinem  Herzen  hätte,  so  wäre  nicht  möglich, 
daß  er  jemals  ein  Verlangen  nach  derselben  haben  oder  nur  begreifen 
könnte,  daß  Ruhe  und  Friede  etwas  Gutes  für  ihn  wäre."     (S.  345 
Ausübung  d.  Sittenl.)    Unser  Philosoph  preist  die  vernünftige  Liebe 
als  „das  rechte  Maß  aller  Tugenden"  (S.  190  Einl.  d.  Sittenl.);  sie  ist 
die  Tugend  selbst.   Sie  ist  im  Gegensatz  zu  der  Lehre  des  Aristoteles, 
gegen  den  er  offenbar  hier  polemisiert,  nicht  nur  ein  habitus,  sondern 
auch  eine   actio    virtutis  (vgl.   Windelband,    Geschichte  der  alten 
Philosophie  §  43  S.  169  u.  170).     Sie  ist  auch  umfassender  als  das 
Prinzip  der  Gerechtigkeit.    Denn,  ein  Übermaß  in  dieser  Tugend  ist 
schon  unvernünftig.  Dagegen  gibt  es  kein  Zuviel  in  der  Liebe.  Während 
die  Mitte  in  der  Tugend  etwas  Schwankendes  ist,  hat  die  vernünftige 
Liebe  nach  keiner  Seite  einen  Überschuß  oder  Mangel  aufzuweisen. 
Auch  hier  zeigt  sich  die  Mißlichkeit  der  Vermengung  individueller 
und   altruistischer  Gesichtspunkte.      Die  vollständige  Hingabe  des 
Einzelnen  an  die  Interessen  der  Gesamtheit  als  die  höchste  sittliche 


96  Martinjoseph, 

Leistung  hat  in  einem  solchen  Schema  keinen  Platz.  Der  utilitaristische 
Gedanke  kann  keine  echte  moralische  Liebe  erzeugen,  sondern  in 
letzter  Instanz  nur  die  Kücksicht  auf  das  eigene  Ich.  Das  sittlich- 
altruistische Streben  jedoch  kennt  keine  Beziehung  auf  den  eventuellen 
Nutzen  oder  Schaden  des  Handelnden  oder  Wollenden.  Es  besteht 
eben,  um  mit  J.  St.  Mill  (philosophie  of  Hamilton)  zu  reden,  in  einer 
uninteressierten  Liebe  zu  dem  Nächsten.  Eine  solche  Liebe  kann  den 
Nutzen  für  die  Gesamtheit  wie  für  das  eigene  Ich  involvieren,  aber  in 
ihrem  Ursprünge  kennt  sie  diese  Absicht  nicht. 

Der  Vollständigkeit  halber  sei  hier  noch  eine  Bemerkung  des 
Philosophen  erwähnt,  die  für  die  ganze  Ethik  ohne  Belang  bleibt, 
höchstens  dokumentiert  sie  seine  Unklarheit  auf  diesem  Gebiete  und 
die  Willkür  im  Gebrauche  ethischer  Determinationen.  An  einer 
einzigen  Stelle  (Einl.  d.  Sittenl.  S.  111)  erklärte  er  die  Tugend,  worunter 
er  vermutlich  hier  das  tätige  sittliche  Handeln  im  altruistischen  Sinne 
versteht,  als  das  Prinzip  der  Sittlichkeit.  „Sie  ist  Mutter  und  Tochter 
sowohl  der  Weisheit  als  der  Glückseligkeit."  Auch  ist  ihm  die  Arbeit 
für  die  Gesamtheit  die  größte  sittliche  Tat.  Das  Wohl  des  Ganzen 
ist  das  höchste  Strebensziel.  Denn  der  Mensch  ist  im  Grunde  ein 
^cöov  jioZiTixov.    (S.  90  u.  91  Einl.  der  Sittenl.) 

Man  kann  es  begreifen,  wenn  Fülleborn  (Beiträge  zur  Geschichte 
zur  Philosophie  Bd.  1  Stück  4  S.  69  ff.)  sich  aus  der  Verwirrung  und 
dem  Konglommerat  von  individuellen  und  generellen,  utilitaristischen 
und  altruistischen  Bestandteilen  nicht  ganz  zurechtfinden  konnte. 
Denn  Ataraxie  und  tätige  Liebe  oder  das  Wohl  der  Gesamtheit  lassen 
sich  logisch  nicht  gut  vereinigen.  Er  sucht  in  die  sich  ausschließenden 
Bestimmungen  Einklang  zu  bringen,  indem  er  ausführt:  ,,Da  bei 
Thomasius  das  Prinzip  der  Ethik  die  Liebe  ist  und  zu  ihr  sowohl  ein 
Liebender  wie  eine  geliebte  Person  gehören,  so  war  es  ihm  einleuchtend, 
daß  das  Wohl  des  Ganzen  der  Zweck  der  Handlung  eines  jeden  In- 
dividuums sein  müsse,  und  daß  jedes  einzelne  Mitglied  sein  eigenes 
Wohl  durch  das  Ganze  befördere."  Diese  Erklärung  und  Interpretation 
ist  wohl  kaum  ausreichend.  Denn  insofern  die  Liebe  mit  einem  be- 
glückenden Lustgefühl  verbunden  ist,  würden  dann  das  Wesen  und 
das  Prinzip  der  Sittlichkeit  zusammenfallen.  Außerdem  folgt  noch 
nicht  aus  dem  äußeren  Umstände,  daß  zur  Liebe  stets  zwei  Personen 
gehören,  die  notwendige  Gleichstellung  der  Interessen  der  geliebten 
Person  mit  denen  der  liebenden.    Der  Gegenstand  der  Liebe  läßt  sich 


Die  Ethik  des   Naturrechtslehrers  Chr.  Thomasius.  97 

im  Hinblick  auf  die  Gemütsruhe  des  Individuums  auch  als  Mittel  zum 
Zweck  auffassen  9).  Demnach  scheint  kein  anderer  Ausweg  für  eine 
Erklärung  übrig  zu  sein  als  die  folgende  Armahme :  Glückseligkeit  im 
Sinne  der  Ataraxie  wird  auf  altruistischem  Wege  durch  die 
Liebe  erreicht.  Der  Endzweck  dieser  Liebe  bleibt  der  Zustand  der 
Ataraxie  als  des  höchsten  Glückes  des  Individuums. 

b)   Die   unvernünftige   Liebe. 

Die  mit  dem  intellektuellen  Faktor  der  Einsicht  in  den  Nutzen 
begründete  Liebe  ermöglicht  es  unserem  Philosophen,  die  Selbstliebe 
als  töricht  zu  bezeichnen.  Denn  in  Wirklichkeit  ist  der  Egoismus  nicht 
unsittlich,  sondern  „eitle  Einbildung  unvernünftiger  Menschen"  (S.  160 
Einl.  d.  Sitten!.).  Sie  entspringt  der  mangelhaften  Erkenntnis  des 
Wertes  einer  Handlung,  die  das  augenblickliche  Vergnügen  und  Lust- 
bedürfnis des  Handelnden  bezweckt.  Sie  besteht  in  einem  Verlangen 
nach  Dingen,  die  sich  auf  die  Dauer  als  schädlich  und  untauglich  er- 
weisen, deren  Erlangen  sich  also  vor  dem  Forum  des  Nützlichkeits- 
prinzipes  nicht  rechtfertigen  läßt.  Sie  entsteht  durch  starke,  plötz- 
liche Affizierung  der  Sinne,  die  einen  turbulenten,  hitzigen  Wunsch 
nach  Gegenständen  hervorrufen,  ohne  daß  der  Verstand  ihren 
dauernden   Nutzen  genügend  geprüft  hat. 

Ihre  nähere  Natur  und  ihre  besonderen  Arten  sollen  in  der  Aflekten- 
lehre  erörtert  werden,  da  sie  von  Thomasius  lediglich  von  diesem 
Gesichtspunkte  aus  betrachtet  werden. 

4.    Tugendlehre. 

Das  Kapitel  über  die  Prinzipien  der  Ethik  bezeichnete  die  ver- 
nünftige Liebe  im  weitesten  Sinne  als  deren  Prinzip.  Welche  Tugenden 
durch  sie  verwirklicht  werden  sollen,  sei  der  Gegenstand  dieses  Kapitels. 

a)   Die   allgemeine   Menschenliebe. 

Sie  äußert  sich  in  folgenden  fünf  Tugenden: 

1.  Die  Leutseligkeit.  Sie  ist  eine  Leistung,  die  man  ohne  große 
Opfer  vollziehen  kann,  und  gilt  als  officium  humanitatis.  Sie  ent- 
springt —  hier  legt  Thomasius  Gewicht  auf  die  Gesinnung  —  dein 


9)  Vgl.  Nicoladoni.    Chr.  Tli.  S.  G7. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVI.  1. 


98  MartinJoseph, 

freien  Willen  und  ist  deshalb  von  jedem  Zwange  frei.  (S.  211  Einl.  d. 
Sittenl.)  Doch  soll  sie  anerzogen  werden  durch  Beschämung  beim 
Unterlassen  solcher  gefälligen  Handlungen.  Sie  darf  nicht  mit  Dank 
erwidert  werden,  sofern  sie  nicht  ihren  spezifischen  Charakter  als 
solche  verlieren  soll 10). 

Geschieht  die  „Leutseligkeit"  mit  Aufwand  von  Mühe  und  Opfer, 
so  heißt  sie  „Guttat".  Sie  soll  eintreten,  wenn  ihre  Unterlassung 
schweren  Schaden  nach  sich  zieht,  und  kann  dann  erzwungen  werden. 

Genau  betrachtet  fällt  eine  solche  Handlung  in  das  Gebiet  des 
Rechts  11).  Bei  der  engen  Verbindung  oder  richtiger  bei  der  Ver- 
mengung von  Moral  und  Recht  nimmt  es  nicht  Wunder,  wenn  rein 
juridische  Themata  bisweilen  in  dei  Sittenlehre  erörtert  werden. 

2.  Die  Wahrhaftigkeit 12).  Sie  besteht  darin,  daß  wir  unser  Ver- 
sprechen jedem  Menschen  13)  gegenüber  genau  halten.  (S.  216  Einl. 
d.  Sittenl.)  Sie  ist  eine  Erweiterung  der  Leutseligkeit.  Denn  sie  kann 
vom  Geber  nicht  jederzeit  gewährt,  als  auch  im  Interesse  des  Empfängers 
nicht  stets  empfangen  werden,  ohne  daß  beide  bisweilen  ideellen 
Schaden  an  Ehr  und  Ansehen  nehmen. 

3.  Die  Bescheidenheit.  Sie  äußert  sich  darin,  daß  der  Mensch 
dem  andern  keinen  ihm  gesellschaftlich  zustehenden  Vorzug  be- 
ansprucht. Er  wünscht  gleiches  Recht  mit  ihm  zu  haben  und  die- 
selben Forderungen  zu  erfüllen.  Er  verzichtet  mit  Rücksicht  auf  die 
Wandelbarkeit  und  Unsicherheit  des  menschlichen  Schicksals  und 
Besitzes  auf  jeden  Vorzug  und  Vorrang,  der  ihm  gemäß  einer  glück- 
lichen Anlage  und  sozialen  Stellung  zusteht 14). 


10)  „Die  Leutseligkeit  ist  eine  Tugend,  die  den  Menschen  antreibt,  allen 
Menschen,  die  dessen  von  Nöten  haben,  mit  allen  denjenigen  Dingen,  die  er 
noch  nicht  hoch  ästimiert,  oder  deren  Mitteilung  ihm  nicht  sauer  ankommt,  bei- 
zustehen und  einen  Gefallen  zu  erweisen."  (S.  208  Einl.  d.  Sittenl.) 

X1)  Vgl.  das  Kapitel  „Recht  und  Moral"  (S.  106  ff.). 

12)  „Durch  die  Wahrhaftigkeit  verstehe  ich  allhier  die  Tugend,  nach 
welcher  wir  schuldig  sind,  das  Versprechen,  das  wir  allen  Menschen,  sie  mögen 
sein,  wer  sie  wollen,  getan  haben,  treu  und  unverbrüchlich  halten."  (S.  216 
Einl.  d.  Sittenl.) 

1S)  Charakteristisch  ist  die  Bemerkung,  daß  man  auch  Ketzern  gegenüber 
.Versprechen  halten  soll,  da  sie  sich  dadurch  auch  ihrerseits  zum  Halten  der- 
selben verpflichtet  fühlen.  (S.  223  Einl.  d.  Sittenl.) 

14)  „Die  Bescheidenheit  ist  eine  Tugend,  die  den  Menschen  antreibt, 
daß  er  allen  Menschen,  sie  mögen  sein,  von  was  Stande  sie  wollen,  freundlich 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  99 

Thomasius  will  diese  Tugend  streng  von  der  "Demut  geschieden 
wissen.  Denn  man  kann  wohl  begreifen,  daß  man  mit  allen  andern 
Mensehen  auf  derselben  Stufe  steht,  nicht  aber,  daß  man  sich  geringer 
als  sie  bewerten  soll.  Das  ist  eine  Forderung  der  Religion,  nicht  der 
Ethik  (S.  229  Einl.  d.  Sittenl.). 

4.  Die  Verträglichkeit.  Sie  fordert,  jedem  das  Seine  zu  lassen, 
das  Eigentum  des  Nächsten  in  keiner  Weise  zu  schmälern ;  wenn  dieses 
irrtümlich  oder  vorsätzlich  geschehen  ist,  so  soll  dem  Geschädigten 
Ersatz  geleistet  werden.  Diese  Tugend  umfaßt  also  mit  einem  Worte 
die  ganze  Sphäre  des  juristischen  Begriffes  Besitz  und  Eigentum  15). 

5.  Die  Geduld.  Diese  Tugend  verlangt  Nachsicht  gegen  die- 
jenigen, die  aus  irgend  einem  Grunde,  sei  es  mit  Vorsatz  oder  un- 
absichtlich, die  bisher  aufgezählten  Tugenden  nicht  geübt  haben. 
Außerdem  verlangt  sie  Verzicht  auf  diejenigen  Rechte  und  An- 
sprüche, die  der  Benachteiligte  als  Äquivalent  erheben  könnte,  falls 
man  die  vier  letzten  Tugenden  gegen  ihn  nicht  geübt  hat. 

Es  ist  eine  Art  Feindesliebe,  die  in  der  Absicht  geübt  wird,  den- 
jenigen, der  gegen  die  vier  ersten  Tugenden  gefehlt,  gerade  durch  die 
„Geduld"  in  seiner  Schlechtigkeit  zu  besiegen.  Daß  dies  kein  ungebühr- 
liches Verlangen  ist,  wird  mit  folgendem  Hinweis  begründet:  Auch 
der  Gute  erfüllt  andern  Menschen  gegenüber  nicht  immer  die  Pflicht 
und  schuldigen  Leistungen,  verlangt  oder  wünscht  dagegen  für  sich 
bei  jedem  Fehltritte  Nachsicht.  Im  Interesse  des  Ausgleiches  soll 
man  also  Geduld  gegen  denjenigen  gebrauchen,  der  seinen  Pflichten 
nicht  nachkommt 16).     (S.  235  Einl.  d.  Sittenl.) 


und  als  Menschen,  die  in  diesem  Stück  seinesgleichen  sind,  begegnet,  sie  gleiches 
Recht  mit  sich  genießen  läßt  und  sich  nicht  mehr  herausnimmt,  als  ihm  von 
Rechts  wegen  gebührt."     (S.  225—226  Einl.  d.  Sittenl.) 

15)  „Die  Verträglichkeit  ist  eine  Tugend,  die  den  Menschen  antreibt, 
daß  er  allen  andern  Menschen  das  Ihrige  in  Fried'  und  Ruh'  genießen  läßt 
und  ihnen  an  ihren  Gütern  sowohl  des  Leibes  als  des  Glückes  keinen  Schaden 
tun  oder  derselben  auf  eine  Weise  sie  beraube,  oder  wenn  ja  allenfalls  hier- 
w  ider  etwas  aus  Vorsatz  geschehen,  die  Sache  nebst  allen  verursachten  Schaden 
erstatte  oder  sonsten  annehmliche  Satisfaktion  leiste."   (S.  230  Einl.  (1.  Sittenl.) 

16)  „Die  Geduld  ist  eine  Tugend,  die  den  Menschen  antreibt,  daß  sie  den 
andern  Menschen,  die  die  allgemeine  Liebe  nicht  wohl  in  acht  genommen, 
sondern  vielmehr  wider  die  bisher  vier  aufgezählten  Tugenden  entweder  aus 
Vorsatz  oder  Versehen   angestoßen,   ihre   Beleidigung  aus   allgemeiner   Liebe 

7* 


100  Martin  Joseph, 

Alle  diese  fünf  Tugenden  sollen  nach  der  Ansicht  unseres  Philoso- 
phen wegen  der  allgemeinen  Gleichheit  des  Menschengeschlechtes 
geübt  werden.  Er  versteht  darunter  die  physische  Beschaffenheit  der 
Menschen,  deren  Leben  denselben  Bedingungen  des  Geschehens 
unterworfen  ist.  Sie  sind  als  Naturprodukte  denselben  Prozessen 
des  Entstehens  und  Vergehens  ausgesetzt.  Glück  und  Zufall  sind 
häufig  genug  die  Faktoren,  welche  die  soziale  und  gesellschaftliche 
Stellung  bedingen.  Stand,  Rang  und  Würde  sind  wandelbar.  Auch 
die  moralischen  Anlagen  und  Fähigkeiten  sind  im  Grunde  dieselben, 
trotz  einiger  Abweichungen.  ,,Sie  sind  alle  gleich  unfähig,  durch  ihre 
eigenen  Kräfte  zur  wahren  Tugend  zu  gelangen."  (S.  200  ff.  Einl.  d. 
Sittenl.)-  Auch  sind  sie  alle  Kinder  Gottes,  vor  dem  sie  gleich  sind, 
und  der  ihnen  gleiches  Recht  widerfahren  läßt.  Schließlich  kann  auch 
der  schlechteste,  dümmste  und  unglücklichste  Mensch  uns  genau  so 
nützen  und  schaden  wie  der  beste,  klügste  und  glücklichste.  (Eben- 
daselbst.) 

Aus  drei  Gründen  also  sollen  wir  uns  der  fünf  Tugenden  befleißigen. 
Wir  können  den  ersten  den  physischen  Grund  der  Einheit  des  Menschen- 
geschlechtes nennen.  Er  hat  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit  dem  der 
metaphysischen  Einheit  im  Sinne  Schopenhauers,  der  von  ihr  das 
Mitleid  als  Motiv  der  Sittlichkeit  ableitet.  Der  zweite  Grund  ist  religiös. 
Wir  wollen  ihn  kurz  als  moralische  Impotenz  bezeichnen.  Der  dritte 
Grund  enthält  wieder  das  Nützlichkeitsprinzip  als  das  eigentliche 
Agens  der  Moral. 

Es  ist  klar,  daß  die  Zahl  und  die  Reihenfolge  der  Tugenden,  die 
aus  solch  verschiedenen  Gesichtspunkten  heraus  aufgezählt  werden, 
nicht  auf  eine  nach  logischen  Gesichtspunkten  geordnete  Vollständigkeit 
Anspruch  erheben  können.  Ihre  Zahl  kann  beliebig  vergrößert  oder 
verkleinert  werden.  Jedoch  spricht  aus  dieser  Einteilung  und  Auf- 
zählung nicht  so  sehr  der  Philosoph  als  der  Jurist  und  Naturrechts- 
lehrer, der  das  Interesse  der  Gesellschaft  im  Auge  hat 17). 


verzeihen  und  sich  solchergestalt  auch  der  nach  dem  natürlichen  Rechte  zu- 
gelassenen Mitteln  freiwillig  wegen  des  allgemeinen  .Friedens  begeben."  (S.  231 
Einl.  d.  Sittenl.) 

17)  Vgl.    Chr.  Thomasius,     3   Bücher   der   göttlichen    Kechtsgelahrtheit, 
S.  161. 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  101 

b)    Die    besondere    Liebe. 

Sie  ist  das  Streben  zweier  Wesen,   die  dasselbe  sittliche   Ziel 

haben.    Wenn  Thomasius  auch  ausdrücklich  erklärt,  daß  diese  Zahl 

nicht  auf  zwei  eingeschränkt  zu  bleiben  braucht  (S.  266,  Einl.  d. 

Sittenl.),  so  ist  hier  das  Urteil  Ludens  (S.  186  ff.)  für  die  Ethik  unseres 

'Philosophen  als  eine  Ehestandsdisziplin  durchaus  am  Platze18). 

Es  folgt  in  diesem  Kapitel  eine  ermüdende  Abhandlung  über 
den  Verkehr  zwischen  den  beiden  Geschlechtern,  zwischen  Freund- 
schaft und  Liebe  besteht  nur  ein  gekünstelter  Unterschied.  Während 
nur  dieselbe  Inklination  für  das  sittliche  Ziel  von  den  beiden  Liebenden 
verlangt  wird,  kann  ihr  Grad  und  ihre  Intensität  verschieden  sein. 
Die  Voraussetzung  dieser  Liebe  ist  die  Hochachtung.  Sie  äußert 
sich  in: 

1.  Gefälligkeit  und  Sorgfalt,  durch  die  man  den  Tugendliebenden 
näher  kennen  lernen  will.  Sie  besteht  in  kleinen  Liebesdiensten  und 
Galanterien,  die  von  Seiten  der  Empfangenden  nicht  verlangt  werden. 
Dies  ist  das  erste  Stadium  der  besonderen  Liebe.  Auf  einer  höheren 
Stufe  hören  diese  kleinen  Dienste  auf,  da  sie  nicht  eigentlich  das 
Zeichen,  sondern  nur  ein  Mittel  zur  Prüfung  und  Bestätigung  der 
vermuteten  Liebe  waren.  Wo  diese  Höflichkeiten  nicht  schwinden, 
hat  man  es  mit  keiner  wirklichen  Liebe  zu  tun  (s.  282,  Einl.  d.  Sittenl.). 

2.  Vertrauen  und  Opferbereitschaft.  Das  Vertrauen  entspringt 
aus  der  Liebe,  die  das  Wohl  der  geliebten  Person  mit  Hintansetzung 
aller  persönlichen  Interessen  bezweckt.  Ihr  Korrelat  ist  die  Dank- 
barkeit als  ein  Trieb,  diese  Guttätigkeit  zu  erwidern  und  sie  freudig 
anzunehmen  lö). 

3.  Gütergemeinschaft,  sowie  Gemeinschaft  alles  Tuns  und  Lassens. 
Diese  sittliche  Forderung  steht  im  engsten  Zusammenhang  mit  den 
rechtsphilosophischen  Anschauungen  des  Thomasius.  Sie  ist  eine 
Konsequenz  aus  der  Lehre,  daß  das  Eigentum  aus  der  moralischen 
Verschiedenheit  der  Menschen  entstanden  ist.  Denn  im  Urzustände, 
als  dem  eigentlich  normalen,  herrschte  Liebe,  die  erst  durch  den 
Sündenfall   aufhörte.      Dazu   kommt,    daß    unser   Philosoph   gleich 


18)  Vgl.  oben  S.  90. 

19)  Es  verrät  praktisch-psychologischen  Scharfsinn,  wenn  Th.  sagt,  wer 
derartige  Dienste  demjenigen  erweist,  den  er  nicht  genau  kennt  oder  liebt, 
dient  damit  seinem  Eigennutz.     (S.  278  Einl.  d.  Sittenl.) 


102  Martin  Joseph, 

Aristoteles  (Niko machische  Ethik  VIII,  12)  den  Menschen  mehr  zur 
Ehe  als  zum  Bürger  geschaffen  sein  läßt.  (S.  344  der  drei  Bücher  der 
göttlichen  Rechtsgelahrtheit).  Da  bei  ihm  Liebe  und  Freundschaft 
fast  identische  Begriffe  sind,  so  erklärt  sich  auch  hieraus  die  Forderung 
der  Gemeinschaft  alles  Tuns  und  Lassens 20). 

Thomasius  hat  sich  die  Schwierigkeiten  bei  der  Erreichung  jenes 
Idealzustandes  nicht  verhehlt,  doch  soll  dem  Menschen  die  Idee  als 
Regulativ  vorschweben.  Denn  das  Arbeiten  an  jenem  Ziele  gewährt 
Vergnügen  und  ist  ein  besonders  geeignetes  Beförderungsmittel  zur 
Glückseligkeit.    (S.  306  ff.  der  Einl.  d.  Sittenl.) 

c)    Die    vernünftige    Selbstliebe. 

Da  den  Inhalt  und  das  Ziel  der  vernünftigen  Liebe  zum  großen 
Teil  der  Nutzen  des  Nächsten  bildet,  so  folgt  aus  ihr  auch,  daß  der 
Liebende  solche  Pflichten  gegen  sich  zu  erfüllen  hat,  die  ihm  und 
seiner  tätigen  Liebe  gegen  den  andern  förderlich  sind.  So  ist  die  Er- 
klärung unseres  Philosophen  zu  verstehen:  „Aus  der  Liebe  gegen 
andere  fließt  Liebe  gegen  uns  selbst".    (S.  343  Einl.  d.  Sittenl.) 

Sie  wird  aus  doppelten  Gründen  gefordert: 

a)  aus  der  „allgemeinen  Liebe",  weil  wir  auf  die  Dienste  der 
„allgemeinen  Liebe"  angewiesen  sind  und  gegenseitig  der  Hilfe  be- 
dürfen; 

b)  aus  der  „besonderen  Liebe",  weil  wir  Objekte  der  Betätigung 
dieser  Liebe  für  andere  sind.  Durch  Schädigung  unserer  eigenen 
Person  würden  wir  uns  ihrer  Liebe  entziehen. 

Diese  Pflichten  gegen  uns  selbst  zerfallen  in:  1.  Mäßigkeit; 
2.  Reinlichkeit;  3.  Arbeitsamkeit;  4.  Tapferkeit. 

Gerade  dieses  Kapitel  über  die  „Selbstliebe"  zeigt  deutlich,  wie 
wenig  klar  sich  unser  Philosoph  über  das  Wesen  und  den  Gegensatz 
von  individualistischer  und  altruistischer  Moral  geworden  ist.  Ohne 
^daß  ihm  der  Gedanke  ihrer  Vermittlung  bzw.  Unvereinbarkeit  ge- 
kommen ist,  stehen  die  beiden  Elemente  ruhig  nebeneinander.  Denn 
ist  der  Altruismus  das  Ziel  unseres  Handelns,  so  ist  es  unlogisch, 
Tugenden  aus  „allgemeiner  Liebe",  d.  i.  aus  egoistischen  Motiven  zu 


20)  Th.  scheint  dabei  an  den  Eklektiker  Cicero  in  der  Schrift  Laelius, 
de  amicitia  zu  denken,  der  wahre  Freundschaft  als  idem  velle  et  idem  nolle 
definiert. 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thoruasius.  103 

fordern,  vice  versa:  Ist  der  individualistische  Utilitarismus  der  eigent- 
liche Kern  sittlichen  Strebens,  so  ist  es  eine  ungerechtfertigte  Forderung, 
daß  der  Einzelne  sich  nur  als  Mittel  zur  Betätigung  von  Willens- 
regungen anderer  gebrauchen  lassen  soll,  die  ihm  keinen  direkten 
Nutzen  bringen  21). 

Die   vier   menschlichen    Gesellschaften. 

Obwohl  das  Vorbild  für  alles  sittliche  Leben  die  Ehe  ist,  sollen 
dennoch  alle  diese  Tugenden  in  den  folgenden  Gesellschaftskreisen 
geübt  werden: 

1.  Mann  und  Weib.  2.  Eltern  und  Kind. 

3.  Herr  und  Knecht.  4.  Obrigkeit  und  Untertan. 

Die  dritte  und  vierte  Gesellschaftsklasse  ist  durch  den  Mangel 
an  Liebe  entstanden.  Das  Prinzip,  das  in  ihnen  herrscht,  ist  die 
Gerechtigkeit,  im  Unterschied  zu  den  ersten  beiden  Klassen,  in  welchen 
die  Liebe  die  Herrschaft  führt.  Gerechtigkeit  und  Liebe  unterscheiden 
sich  aber  dadurch,  daß  jene  ihre  Forderungen  erzwingt,  diese  jeden 
Zwang  verpönt.  (Einl.  z.  Sittenl.  Kap.  5  §  104.)  Gleichwohl  sollen 
die  dritte  und  vierte  Gesellschaftsklasse  auch  in  der  Ethik  und  nicht, 
wie  man  erwarten  sollte,  im  Naturrecht  ihren  Platz  haben.  Denn 
ohne  Liebe  kann  keine  Gesellschaft  bestehen,  wohl  aber  ohne  Zwang. 
Die  Gewalt  wurde  nur  deshalb  eingeführt,  weil  einige  aus  moralischer 
'  Unvollkommenheit  oder  Böswilligkeit  ihre  Obliegenheit  gegen  die 
Gesamtheit  nicht  erfüllten. 

Sie  ist  deshalb  nur  ein  Mittel,  um  den  Zustand  der  Liebe  wieder 
herzustellen  und  ihn  vor  Haß  und  Beleidigung  zu  schützen.  In  dem 
Augenblick,  wo  die  Gesellschaft  wieder  „ein  einig  Volk  von  Brüdern" 
bildet,  schwindet  der  Zwang  von  selbst.  (Einl.  z.  Sittenl.  Kap.  5  §  82 
und  Kap.  9  §§  8—24.)  Zur  Staatslehre  bemerkt  Thomasius  im 
Anschluß  an  diese  Gedanken,  daß  der  Fürst  lediglich  das  Wohl  der 
Untertanen  zu  fördern  hat.  Die  letzteren  sollen  seine  Aufgabe  durch 
Gehorsam  und  freiwillige  Unterwerfung  erleichtern.  Der  Adel  darf 
die  Bürger  und  Bauern  nicht  unterdrücken  und  demütigen.  Denn 
alle  Menschen  sind  gleichmäßig  zur  Beobachtung  der  Tugenden,  die 
die  allgemeine  Liebe  umfassen,  verpflichtet.  (Einl.  z.  Sittenl. 
Kap.  9  S.  369  ff.) 


21)  Vgl.  oben  S.  89  die  Ansicht  Thomasius'  über  den  Tod  für  das  Vater- 
land. 


104  Martin  Joseph, 

5.  Stellung  der  Ethik  zu  den  andern  Disziplinen. 

a)    Religion    und   Ethik. 

Mußte  nach  den  historischen  Voraussetzungen  und  Bedingungen 
die  Erörterung  nach  dem  Kriterium  und  den  Prinzipien,  nach  dem 
„Was"  und  „Wie",  spärlich  ausfallen,  so  wird  sich  auch  für  die  strenge 
Abgrenzung  der  Ethik  von  andern  Wissensgebieten  wenig  Wissen- 
schaftliches und  logisch  Konsequentes  erwarten  lassen.  So  hat 
Thomasius  auf  die  Frage  nach  der  Sanktion  der  Moral  durch  die 
Religion  keine  ganz  widerspruchsfreie  Antwort  gegeben. 

Insofern  als  das  höchste  Gut  oder  die  Glückseligkeit  auf  einem 
Gefühle  beruht,  ist  auch  bei  ihm  der  Grund  des  sittlichen  Strebens 
eo  ipso  klar.  Denn  jedes  Gefühl,  das  in  der  Lust  besteht,  ist  genügend 
als  Erklärung  für  bestimmte  Handlungen,  die  diesen  höchsten  Lust- 
effekt bezwecken  sollen.  Somit  sind  die  sittlichen  Betätigungen  nicht 
Selbstzweck,  sondern  sie  werden  vollzogen  mit  Rücksicht  auf  die  aus 
ihnen  resultierende  Lust.  Zwar  spricht  unser  Philosoph  viel  von  der 
vernünftigen  Liebe  zu  den  Menschen,  doch  ist  sie,  so  sahen  wir,  nicht 
der  Grund  sittlichen  Handelns,  sondern  gibt  nur  ein  Mittel  an,  wie  der 
Mensch  zu  dem  höchsten  Gute  gelangen  kann.  Jedenfalls  genügte  die 
Erklärung,  daß  die  Moral  auf  dem  Streben  nach  Glückseligkeit  beruhe, 
und  bedürfte  keiner  weiteren  Deduktion.  Er  weist  den  Einwurf, 
daß  die  Liebe  zu  Gott  ihr  Prinzip  sei,  mit  der  Erklärung  zurück: 
„Gott  weist  uns  auf  die  Liebe  zu  den  Menschen  hin,  je  mehr  wir  sie 
lieben,  um  so  mehr  lieben  wir  ihn."  (S.  191  Einl.  d.  Sittenl.)  „Die 
vernünftige  Liebe  zu  den  Menschen  ist  das  einzige  Mittel,  die  wahre 
Gemütsruhe  zu  erlangen."  (S.  187  Einl.  d.  Sittenl.)  Ebenso  erklärt  er 
in  der  Lehre  vom  Naturrecht  (Vorrede  zu  3  Büchern  der  göttlichen 
Rechtsgelahrtheit  S.  20  u.  41),  daß  die  Theologie  sorgfältig  von  der 
Moral  und  dem  Recht  zu  scheiden  sei.  Denn  die  Religion  erstrebt 
ewige  Glückseligkeit,  die  Moral  dagegen  nur  zeitliches  Glück.  Thomasius 
hat  somit  an  dieser  Stelle  ein  Kriterium  für  beide  Disziplinen  gegeben, 
er  hat  eine  scharfe  Trennung  der  Moral  von  der  Religion  vollzogen  und 
die  erstere  auf  sich  selbst  gestellt,  eine  Tat,  die  ihm  Ehre  macht.22) 

Gleichwohl  soll  die  Religion  für  die  Ethik  nicht  entbehrlich 
sein.      Theoretisch  ist  Gott  die  letzte  Ursache  der  Glückseligkeit. 


22)  Vgl.  auch  Einl.  der  Hofphilosophie  S.  71  und  S.  249  der  „3  Bücher  der 
göttlichen  Rechtsgelahrtheit". 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  105 

Doch  ist  er  nicht  im  psychologischen  Sinn  Erreger  sittlichen  Stre- 
bens  etwa  derart,  daß  er  als  moralisches  Prinzip  in  uns  tätig  ist. 
Der  Gottesbegriff  antwortet  nicht  auf  die  Frage,  warum  soll  der 
Mensch  nach  Glückseligkeit  trachten,  indem  er  sagt:  „Gott  veran- 
laßt den  Menschen,  nach  der  Realisierung  des  höchsten  Gutes  zu 
streben.  Unser  Philosoph  erklärt  vielmehr  Gott  dem  Ursprünge 
nach  als  den  Geber  alles  Guten,  somit  auch  des  höchsten  Glückes. 
Praktisch  ist  dieser  Gedanke  notwendig,  denn  ohne  Gotteserkenntnis 
ist  kein  wahres  Glück  möglich.  Die  Vollkommenheit  der  Gemütsruhe 
erfordert  Gott.  Er  dient  zu  ihrer  Förderung  und  hat  in  dieser  Hin- 
sicht pädagogischen  Wert.  Er  lehrt  unsere  Handlungen  mit  Rück- 
sicht auf  ihn  als  den  Spender  des  höchsten  Glückes  einzurichten, 
nach  seinem  Willen  zu  leben  und  auf  ihn  zu  vertrauen.  Diese  Reli- 
giosität soll  der  Moral  den  negativen  Nutzen  gewähren,  daß  unsere 
Gemütsruhe  nicht  durch  Furcht  vor  andern  Menschen  und  äußeren 
Schicksalsschlägen  gestört  wird.    (S.  147  Einl.  d.  Sitten  1.) 

Kann  man  die  relative  Berechtigung  des  Wertes  dieser  Ausfüh- 
rungen für  die  Moral  anerkennen,  so  kann  man  den  wackeren  Vor- 
kämpfer für  Volksaufklärung  nicht  von  Einseitigkeit  und  Voreingenom- 
menheit freisprechen,  da,  wo  er  über  die  falschen  Arten  des  Glaubens 
handelt.  Der  Atheist,  so  meint  Thomasius,  kennt  nur  sein  eigenes 
Wohl  und  begeht  deshalb  heimlich  Ungerechtigkeit.  In  manchen 
Stunden  aber  kommt  ihm  sein  Vergehen,  die  Existenz  Gottes  und 
dessen  sittliche  Forderung  zum  Bewußtsein.  Die  Folge  davon  ist 
Angst  und  Furcht,  und  so  besitzt  der  Mensch  keine  Gemütsruhe. 
Ebenso  schädlich  ist  der  Aberglaube.  Er  besteht  darin,  daß  der  Mensch 
sich  falsche  und  schlechte  Vorstellungen  von  Gott  macht,  seine  eigenen 
Leidenschaften  ihm  oder  irgend  einem  andern  Wesen  oder  Gegenstand 
vindiziert.  Indem  er  ihnen  dient,  geht  er  ebenfalls  der  wahren  Gemüts- 
ruhe verlustig.    (S.  150  Einl.  d.  Sittenl.) 

Schon  aus  dem  bisher  Gesagten  ist  es  einleuchtend,  daß  die  reli- 
giösen Anschauungen  in  letzter  Instanz  den  größten  Einfluß  auf  die 
Ethik  des  Naturrechtslehrers  gehabt  haben.  Ein  durchgehender  Zug  in 
ihr  ist  seine  Abhängigkeit  von  der  Religion  trotz  des  Versuches,  jene 
Disziplin  selbständig  zu  machen.  Genau  genommen  ist  sogar  die 
Bibel  der  Leitfaden  und  die  Grundlage  seines  ganzen  Systems.  (Aus- 
übung der  Sittenlehre  S.  530.)  In  dem  „Beschluß  der  Sittenlehre" 
legt  er  dann  auch  das  offene  Bekenntnis  ab,  daß  die  Quelle  für  sein 


106  Martin  Joseph, 

dreiteiliges  Schema  der  Leidenschaften23)  jene  Stelle  ist,  wo  Johannes 
sagt:  „Alles,  was  in  der  Welt  ist,  und  nicht  von  Gott,  gehört  zu  den 
drei  Klassen:  Wollust,  Ehrgeiz  und  Geldgeiz.  Während  er  ferner 
die  Sittenlehre  mit  dem  stolzen,  selbstbewußten  Versprechen  be- 
gonnen, sichere  Kriterien  und  Mittel  für  einen  moralischen  Lebens- 
wandel zu  geben24),  beschließt  er  dieses  Werk  resigniert  mit  dem  Ge- 
danken der  Erbsünde.  Wer  wahrhaft  sittlich  handeln  und  denken  will, 
wird  auf  die  Bibel  verwiesen  als  das  einzige  echte  Mittel  für  die  Tugend 
und  Glückseligkeit.    (S.  251  Ausübung  d.  Sittenl.) 

So  bleibt  die  Philosophie  die  hörige  Magd  der  Theologie,  bei 
der  es,  um  an  ein  Scherzwort  Kants  zu  erinnern,  nicht  zweifelhaft 
bleibt,  ob  sie  ihr  die  Schleppe  trägt  oder  ihr  mit  dem  Lichte  voran- 
geht. Es  ist  nichts  weiter  als  ein  kleiner  Anlauf  zur  Emanzipation 
der  Moral  von  der  Religion.  Thomasius  ist  in  diesen  Problemen  das 
Kind  seiner  Zeit,  wenn  auch  ein  sehr  kluges,  das  sich  nicht  von  dem 
Gängelbande  der  Kirche  befreien  konnte. 

b.    Die   Stellung   der   Ethik   zum  Recht. 

1.    Ethik   und   positives    Recht. 

Das  positive  Recht  ist  eine  Rechtsordnung,  deren  Grundlage 
die  Offenbarung,  d.  h.  der  Dekalog  bildet.  Je  nach  dem  jeweiligen 
Bedürfnisse  und  den  Interessen  der  Gesellschaft  ist  es  modifizierbar. 
Der  Zweck  des  Rechtes  ist  der  äußere,  materielle  Nutzen  der  Ge- 
meinschaft, hinter  den  alle  geistigen  Forderungen  des  Individuums 
zurücktreten  müssen.  Wie  der  Ursprung  und  das  Ziel  des  positiven 
Rechtes  sich  von  der  Moral  unterscheiden,  so  sind  auch  die  Mittel, 
durch  die  es  verwirklicht  wird,  andere  als  die  der  Ethik.  Das  Prinzip 
des  Rechtes  ist  die  Gerechtigkeit,  sie  verschafft  sich  durch  Gewalt 
Geltung.  Das  Prinzip  der  Sittlichkeit  —  so  sahen  wir  —  die  Liebe, 
sie  kennt  keinen  Zwang.  (Einl.  zur  Sittenlehre  Kap.  5  §  104  u.  a,  0.) 
Gemeinsam  ist  beiden  Disziplinen  der  Unterschied  von  der  Theologie. 
Während  sie  das  ewige  Wohl  anstrebt,  zielen  Recht  und  Moral  nur 
auf  das  zeitliche  Glück  hin.  (Chr.  Th.  Vorrede  zu  den  3  Büchern  der 
göttlichen  Rechtsgelahrtheit  S.  41.) 


23)  Vgl.  unten  S.  119  ff. 

24)  Vgl.  auch  Chr.  Th.,  Von  den  Mängeln  der  aristotelischen  Ethik,  S.  80. 


Die   Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  107 

2.    Ethik  u  n  d   K  a  t  u  rrec  h  t. 

Von  diesem  positiv  geoffenbarten  Rechte  unterscheidet  Tho- 
masius und  seine  Zeit  noch  das  Naturrecht  als  die  eigentliche 
Rechtsdisziplin.  Um  das  Wesen  und  den  Charakter  dieser 
Wissenschaft  zu  verstehen,  soll  zunächst  ihre  Entstehung  ent- 
wickelt werden.  Die  historischen  Untersuchungen  haben  es  als 
unumstößlich  festgestllt,  daß  alle  Systeme  in  der  Geisteswissen- 
schaft, alle  großartigen  Gesichtspunkte  und  Prinzipien,  die  der  Zeit 
völlig  neu  erschienen,  gleichsam  wie  die  Minerva  aus  dem  Haupt 
des  Zeus  entsprungen,  historisch  durch  reale  Umstände  bedingt  wurden. 
Diese  Umstände  sind  zwar  nicht,  wie  die  materialistische  Auffassung 
behauptet,  Ursachen  im  Sinne  des  kausalen  Geschehens,  sondern, 
wie  bei  der  Erkenntnis  der  Stoff  von  außen  gegeben,  Veranlassungen, 
an  denen  sich  die  idealen  Faktoren  betätigen. 

Die  zur  Neugestaltung  der  Lebensanschauung  und  der  Gesell- 
schaft treibenden  Kräfte  des  16.  Jahrhunderts  waren  der  Humanis- 
mus und  die  Reformation.  Doch  weder  die  Renaissance  noch  Luther 
konnten  die  praktischen  Probleme  ihrer  Zeit  lösen.  Die  freudige 
Bejahung  des  Lebens,  die  man  als  ein  Charakteristikum  jener  Be- 
wegung ansieht,  war  allein  noch  kein  in  die  Speichen  der  Politik  und 
des  sozialen  Getriebes  eingreifender  Faktor.  Die  Vertreter  jener 
Epoche  verloren  sich  in  gelehrte  Untersuchungen  über  das  Alter- 
tum. Auch  Luthers  Wirken  hatte  für  die  neue  Gesellschaftsorgani- 
sation und  Gestaltung  des  öffentlichen  Lebens  nicht  die  angemessene 
Form  gefunden.  Die  Feudalität  war  dahin.  In  die  festgeschlossene 
Einheit  der  katholischen  Welt  war  ein  wuchtiger  Keil  getrieben. 
Die  Autorität  und  die  Grundfesten  der  kirchlichen  Vernunft  waren 
erschüttert.  Andererseits  war  es  der  Reformation  nicht  gelungen, 
ein  einheitliches  und  allgemein  anerkanntes  religiöses  Lehrgebäude 
an  die  Stelle  des  alten  zu  setzen.  Religionshader  und  Religionskriege 
waren  die  Folgen.  Dieser  Hader  zwischen  den  Konfessionen  wird  von 
den  tiefer  und  harmonisch  angelegten  Naturen  auf  die  Dauer  als 
unerträglich  empfunden.  Im  Jahre  1654  klagt  Logau:  „lutherisch, 
päpstisch,  calvinisch,  diese  Glauben  alle  drei  sind  vorhanden.  Doch 
ist  Zweifel,  wo  das  Christentum  denn  sei."    Solche  Stimmungen  und 


25)  Audi    Lasson   unterscheidet  in   seiner  Rechtsphilosophie  die  beiden 
Disziplinen  durch  die  Erzwingbarkelt  bzw.  Nichterzwingbarkeit. 


108  Martin  Joseph, 

Ahnungen  wecken  die  Ansicht,  daß  alle  Religionen  eine  gemeinsame 
Grundlage  haben  und  in  ihnen  eine  gemeinsame  Wahrheit  enthalten 
ist.  Diese  Wahrheit  wurzelt  in  der  Vernunft  als  dem  alleinigen  und 
hinlänglichen  Vermögen  aller  Erkenntnisse.  „So  entstand  der  Begriff 
der  natürlichen  Religion.  Mit  dieser  Richtung  auf  eine  natürliche  Reli- 
gion, welche  nunmehr  für  die  Seligkeit  zureichend  gefunden  wird, 
gehen  die  Probleme  aus  der  Hand  der  Theologie  in  die  der  Philosophie 
über.  Das  natürliche  System  bildet  sich  aus."  (Dilthey,  Natürliches 
System  der  Geisteswissenschaften  im  17.  Jahrhundert.  Archiv  für 
Geschichte  der  Philosophie  Bd.  VI,  S.  116.)  „Der  Protestantismus  war 
somit  nur  eine  Form  jenes  Freiheitsdranges,  welcher  die  ganze  Re- 
naissance belebte."  (Windelband,  Geschichte  der  neueren  Philosophie, 
Bd.  I,  S.  34.    4.  Auflage.) 

Während  Herbert  v.  Cherboury  (de  veritate  1624)  als  erster 
Vertreter  der  natürlichen  Religion  gelten  kann,  reichen  die  Wurzeln 
des  natürlichen  Rechtes  bis  in  das  Mittelalter  zurück.  Aber  auch 
diese  Disziplin  vermochte  erst  durch  die  große  Revolution,  die  das 
Wirken  Luthers  heraufbeschwor,  im  17.  Jahrhundert  sich  voll  zu  ent- 
wickeln. Denn  erst  in  dieser  Epoche  zeigt  sich  das  Verlangen,  die  äußere 
Gestaltung  des  bürgerlichen  Lebens  durch  das  Gesetz  zu  begründen 
und  zu  rechtfertigen.  Ebendahin  tendieren  auch  die  neuen  Formen 
der  Bildung  und  Gesittung. 

Man  ging  ähnlich  wie  bei  der  natürlichen  Religion  von  dem  Ge- 
danken aus,  daß  die  menschliche  Vernunft  Quelle  und  Grund  alles 
Rechtes  sei.  Der  isoliert  gedachte,  sittlich  wollende  Mensch  ist  der 
Maßstab,  an  dem  man  Recht  und  Unrecht  messen  kann.  Aus  diesem 
Begriffe  allein  sollen  alle  Rechtsvorschriften  abgeleitet  werden.  Es 
ist  das  Ideal  des  Rationalismus,  der  auch  auf  diesem  Gebiete  von  der 
Erfahrung  unabhängige  Wahrheiten  aus  der  denkenden  Natur  des 
Menschen  erschließen  will.  Dieses  Recht  soll  deshalb  auch  die  Eigen- 
schaften besitzen,  die  den  eigentümlichen  Charakter  der  Vernunft- 
wahrheiten ausmachen.  Es  ist,  weil  logisch,  ewig  und  unveränderlich, 
allgemein  gütig  und  notwendig.  Hugo  Grotius  (de  iure  pacis  ac  belli  I 
cap.  I  10)  erklärt:  „Das  Naturrecht  ist  so  unveränderlich,  daß  es  selbst 

von  Gott  nicht  verändert  werden  kann So  wenig  Gott  bewirken 

kann,  daß  zweimal  zwei  nicht  vier  ist,  ebensowenig  kann  er  bewirken, 
daß  das,  was  seiner  inneren  Natur  nach  schlecht  ist,  nicht  schlecht 
sei."  Der  Nutzen  dieser  Lehre  besteht  darin,  daß  man  mit  Heiden  und 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  109 

Atheisten  ein  gemeinsames  Gesetz  habe.  (Thomasius  inst,  iuris  pr. 
divin.  1  I.  cap.  1  §'84. )  Die  Basis  des  Naturrechts  ist  bei  Thomasius 
die  Glückseligkeit.  Er  steht  hierin  im  Widerspruch  mit  seinen  Vor- 
gängern. Hobbes  wollte  aus  der  Furcht  die  Entstehung  des  Staates 
ableiten.  „Nach  Grotius  hat  der  Mensch  ein  geselliges  Bedürfnis, 
und  deshalb  ist  der  Staat  der  Zweck  der  Natur."  (Stahl,  Ge- 
schichte der  Rechtsphilosophie,  Bd.  I,  S.  175.)  Er  ist  der  klassische 
Vertreter  für  die  Tendenzen  dieser  Epoche;  sein  Ziel  ist,  für  die 
neue  Gesellschaftsordnung  rechtlich  politische  Begriffe  zu  finden. 
Nach  ihm  hat  Pufendorf  (de  jure  naturae  1672,  de  officio  hominis 
et  civis  1693)  dieses  sozialistische  System  weiter  ausgebaut.  Tho- 
masius folgte  zwar  anfangs  Grotius  und  seinem  Nachfolger  in  dieser 
Ansicht  (Vorrede  zum  Grotius).  „Der  Mensch  ist  zwar  ein  t,coov 
jtoXirixov,  doch  nicht  nur  aus  einem  inneren  Instinkt,  sondern  er  wird 
aus  Furcht  vor  dem  Unglück,  das  ihm  von  andern  Menschen  beständig 
droht,  zur  Gemeinschaft  getrieben."  (Inst,  iurisp.  divinae  III.  Bd. 
3  lib.  cap.  6  §  11.)  Doch  die  Vermischung  von  Moral  und  Recht,  die 
er  schon  damals  bei  seinen  Vorgängern  bemängelt,  brachte  ihn  zu  dem 
Ergebnis,  daß  der  Sozialismus  kein  ausreichendes  Prinzip  für  das  Natur- 
recht sei.  An  seine  Stelle  setzt  er  deshalb  die  Glückseligkeit,  die  im 
äußeren  und  inneren  Frieden  besteht.  (Fund,  juris  nat.  et  gentium 
I.  Buch  cap.  6  §  19  und  21.)  Hierdurch  wird  es  ihm  möglich,  ein 
doppeltes  Gesetz  zu  folgern:  Das  forum  externum  und  das  forum 
internum.  Das  Ziel  des  Rechts  ist  der  äußere  Friede,  die  Moral  da- 
gegen zweckt  den  inneren  Frieden  ab.  Das  Recht  trägt  ferner  einen 
andern  Charakter  als  die  Moral.  Die  Prinzipien  der  Ethik  sind  das 
honestum  und  decorum.  Von  ihnen  werden  dann  alle  einzelnen  sitt- 
lichen Gebote  abgeleitet.   (Fund,  juris  naturae  et  gent.  I.  cap.  5.) 

Der  Grundsatz  des  honestum  lautet:  „Was  du  willst,  daß  dir 
andere  tun  sollen,  das  tue  dir  selbst." 

Der  Grundsatz  des  decorum  lautet:  „Was  du  willst,  daß  andere 
dir  tun  sollen,  das  tue  ihnen." 

Der  Grundsatz  des  iustum  lautet:  „Was  du  dir  nicht  willst  getan 
wissen,  das  tue  du  andern  auch  nicht." 

Als  drittes  das  Recht  von  der  Moral  unterscheidendes  Kriteiium 
tritt  hinzu,  daß  die  Pflichten  des  justum  erzwingbar  sind,  dagegen 
die  Forderungen  des  honestum  und  decorum  keinem  Zwange  unter- 


110  Martin  Joseph, 

liegen.    (Einl.  zur  Sittenlehre,  cap.  5  §  104.    Fund,  juris  nat.  et  gent. 
S.  105  deutsche  Ausgabe.) 

Um  diese  Eigenschaft  des  Rechtes  zu  begreifen,  ist  es  nötig, 
auf  eine  Gedankenentwicklung  einzugehen,  die  von  hervorragender 
Bedeutung  für  die  ganze  Zeitrichtung  gewesen  ist.  Ein  Recht,  das  aus 
der  sittlichwollenden,  vernünftigen  Natur  des  Menschen  sich  ergeben 
soll,  ist  dem  Zwange  abhold.  Sein  Charakteristikum  ist  der  autonome 
Wille  des  Menschen  oder  die  Freiheit.  Weil  alle  dieselbe  Freiheit 
haben,  so  konnte  Thomasius  die  Gütergemeinschaft  als  einen  natür- 
lichen Zustand  der  Gesellschaft  bezeichnen,  denn  sie  kann  ohne  Zwang, 
nicht  aber  ohne  Liebe  bestehen.  (Einl.  d.  Sittenl.  S.  42  u.  Fund, 
juris  nat.  et.  ent.  lib.  I  cap.  5.  §  12.) 

Der  Ursprung  des  Zwanges  wird  bei  den  meisten  Naturrechtslehrern 
auf  einen  freiwilligen  Vertrag  gegründet,  der  zum  Schutze  der  Freir 
heit  geschlossen  ist.  Aus  dieser  Institution  sollen  alle  Rechte  und  Ver- 
pflichtungen deduziert  werden,  bzw.  auf  ihr  beruhen.  Die  verschieden- 
sten, dem  Begriffe  der  frei  wollenden  Natur  des  Menschen  entgegen- 
gesetzten Abhängigkeitsverhältnisse  sollen  durch  sie  gerechtfertigt 
werden.  Bodin  wollte  den,  unumschränkten  Despotismus,  die  absolute 
Souveränität  des  Monarchen  durch  einen  solchen  Vertrag  begründen. 
Sogar  die  für  alle  Zeit  dauernde  Sklaverei  als  ein  zu  Recht  bestehender 
Zustand  wird  durch  ihn  sanktioniert.  „So  ist  es  nur  ein  Moment  im  Ver- 
trage, in  welchem  Freiheit  ihr  volles  Dasein  übt.  Wie  der  Blitz  stirbt 
sie  mit  der  Geburt."  (Stahl,  Geschichte  d.  Rechtsphilosophie,  1.  Bd. 
S.  153.) 

Als  eine  dem  Recht  innewohnende  Eigenschaft  brauchte  bei 
Thomasius  der  Zwang  nicht  erst  durch  das  Medium  des  Vertrages  ab- 
geleitet zu  werden.  Denn  während  die  Pflichten  der  Moral,  des  hones- 
tum  und  decorum  eine  innerliche,  besitzt  der  Grundsatz  des  iustum 
eine  äußerliche  Verbindlichkeit.  Der  Vertrag  dagegen  verpflichtet 
nicht  an  und  für  sich,  er  kann  für  sich  weder  das  Recht  erzeugen  noch 
bestätigen.  (Fundamen ta  juris  nat.  et  gent.  lib.  I  cap.  5  §  27.) 
Schon  vor  ihm  hat  der  Mensch  angeborene  Rechte,  zu  denen  die 
Freiheit  und  die  ursprüngliche  Gemeinschaft  gehören,  im  Unterschied 
von  dem  angenommenen  Recht,  in  dessen  Bereich  die  Herrschaft 
und  das  Eigentum  fallen.  (Fund,  juris  nat.  et  gent.  lib.  I  cap.  5  §  12.) 
Die  Pflichten,  die  das  Vertragsrecht  auferlegt,  haben  ihre  Grenze 
an  der  Norm  des  auf  Vernunft  beruhenden  und  frei  begehrten  Rates 


Die   Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  111 

des  Naturrechts   und  an   der  Norm   der   Herrschaft    des  Vertrags- 
und des  bürgerlichen  Rechts26).    (Fund.  lib.  I  cap.  4  §§  91—99.) 

Es  war  schon  des  öfteren  erwähnt  worden,  daß  die  Konsequenz 
nicht  zu  den  stärksten  Seiten  des  Thomasius  gehört.  So  hatte  unser 
Philosoph  gelehrt,  daß  die  „Guttat"  bisweilen  erzwungen  weiden  kann 
(vgl.  S.  16).  Auch  fanden  sich  in  seiner  Ethik  genug  Begriffe,  die  eher 
unter  die  Kategorie  des  iustum  als  die  des  honestum  und  decorum 
fallen  (vgl.  S.  16  f.).  Hinriehs  (Geschichte  der  Rechts-  und  Staats- 
prinzipien Bd.  3,  209)  will  eine  innere  Entwicklung  in  den  ethischen 
und  naturrechtlichen  Anschauungen  des  Thomasius  annehmen  und 
die  „Fundamente"  für  das  reifste  Werk  des  Philosophen  halten.  Er 
schreibt:  „Wir  finden  in  den  Fundamenten  des  Natur-  und  Völker- 
rechts manches  von  Thomasius  aufgenommen  und  verworfen,  was 
er  in  seinen  früheren  Schriften  behauptet  und  erörtert  hatte.  Die 
Fundamente  haben  namentlich  durch  den  Wegfall  der  Institutionen 
und  die  Aufnahme  so  vieler  Bestimmungen,  besonders  aus  der 
Vernunft-  und  Sittenlehre,  ihre  eigentümliche  Form  und  Gestalt 
empfangen.  Die  Fundamente  müssen  als  das  Resultat  und  das  Produkt 
aller  Bemühungen  und  Kämpfe  angesehen  werden,  welche  Thomasius 
um  die  Entwicklung  und  höhere  Fassung  des  Naturrechts  gehabt  hat." 
Falls  hiermit  gesagt  sein  soll,  daß  Thomasius  seine  frühere  in  den 
„Einleitungen"  niedergelegte  Ethik  ignoriert,  in  den  „Fundamenten" 
allein  ein  endgültiges  Moralsystem  aufstellt,  so  halten  wir  das  nicht  für 
wahrscheinlich.  Richtig  ist  nur,  daß  große  Teile  der  Einleitung  der 
Vernunft-  und  Sittenlehre  sich  in  den  Fundamenten  wiederfinden,  und 
daß  sie  hier  tiefer  begründet  und  klarer  durchdacht  sind.  Aber  das 
Hauptgewicht  liegt  in  dem  letzten  Werke  auf  dem  Recht.  Nur  um  es 
philosophisch  zu  begründen  und  aus  der  Natur  des  vernünftigen 
Menschen  zu  deduzieren,  mußte  es  Thomasius  gegen  die  verwandte 
Disziplin,  abgrenzen.  Da  es  einmal  im  Wesen  des  Rechts  liegt, 
gesellschaftliches  Leben  zu  ermöglichen  und  zu  fundieren,  mußte  auch 
die  Ethik  im  Naturrecht  einen  mehr  sozialethischcn  Charakter  tragen. 
In  der  Einleitung  und  Ausübung  der  Sittenlehre  zeigt  die  Moral  —  so 
sahen  wir  —  rein  individuell-utilitaristische  Ziele  und  Prinzipien. 
Wenn  in  diesen  Werken  des  Philosophen  auch  rein  juristische  Probleme 


26)  Da  hier  nur  das  Verhältnis  <l<r  Moral  zum  Recht  erörtert  werden 
soll,  so  mag  die  ausführliche  I  Darstellung  der  El  liil<  des  Xaturrechts  den  <  Jegen- 
stand  einer  besonderen  Abhandlung  bilden. 


112  Martin  Joseph, 

behandelt  wurden,  so  erklärt  sich  das  aus  dem  bereits  gerügten 
Mangel  an  Konsequenz  bei  Thomasius  und  dem  Prävalieren  seines 
Verständnisses  und  Interesses  für  Recht  vor  dem  der  Moral.  Wir  glauben 
deshalb  mit  Luden  und  Fülleborn  (Beiträge  zur  Geschichte  der  Philo- 
sophie Bd.  I,  IV.  Stück,  S.  7  ff.),  daß  wir  es  in  den  „Einleitungen"  mit 
der  von  Thomasius  gemeinten  Ethik  zu  tun  haben.  Doch  konnte  das 
Naturrecht  eben  deshalb,  weil  diese  Ethik  in  ihm  tiefer  begründet 
wird,  in  den  Bereich  der  vorliegenden  Betrachtung  gezogen  werden. 
Es  bildet  eine  Ergänzung  und  mag  deshalb  die  großen  Lücken  des 
Systems  der  Morallehre  einigermaßen  ausfüllen  und  über  einige  gar 
nicht  in  ihr  behandelte  Fragen  Aufschluß  geben. 

II.    B'uch. 
A.    Die   philosophische    Grundlage   der   Ethik. 
1.   Verstand   und   Wille. 
Will  man  die  psychologischen  Bedingungen  in  der  Ethik  unseres 
Philosophen  verstehen,  so  muß  man  die  Rudimente  seiner  Psychologie 
und  Erkenntnistheorie  vorausschicken. 

Thomasius  hat  folgende  Einteilung: 

1.  Verstand. 

a)  Sinnlichkeit. 

b)  Sinn  und  Gedanken. 

2.  Wille. 

a)  Inklination  zu  einem  gegenwärtigen  Objekt. 

b)  Neigung  oder  Leidenschaft  für  ein  abwesendes  Objekt. 
Der  Sinn  wird  durch  äußere  Dinge  affiziert,  durch  innere  Ver- 
arbeitung der  Affektion  entstehen  Gedanken.  Unser  Philosoph  steht 
ganz  auf  dem  Boden  Lockes  und  zitiert  häufig:  nihil  est  in  intellectu, 
quod  non  fuerit  in  sensu.  (3  Bücher  der  göttlichen  Rechtsgelahrtheit 
3  cap.  1  §§  38—55  Fund.  II  cap.  12,  §  9.)  Werden  die  Affektionen  nicht 
intellektuell  verarbeitet,  so  sind  die  Gedanken  passiv.  Die  höhere, 
aktive  Form  gewinnen  sie  erst,  wenn  man  mit  Willen  bedenkt,  was 
man  sinnlich  empfunden.  (Chr.  Thom.,  Ein),  zur  Vernunftlehre, 
III.  cap.  S.  34.)  Sie  haben  eine  doppelte  Natur,  sie  bestehen  aus  Ver- 
stand und  Willen.  Jeder  Willensakt  ist  in  der  Regel  mit  einem  Ver- 
standesmoment „vergesellschaftet".  Der  Verstand  ist  das  Tun  und 
Leiden  der  Seele,  sofern  sie  das  Wesen  oder  die  Beschaffenheit  der 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  113 

Dinge  betrachtet,  der  Wille  ist  das  Tun  und  Leiden  deiselben,  sofern 
sie  etwas  durch  die  Glieder  und  Organe  des  Körpers  zu  tun  gedenkt. 
Er  wird  auch  die  Kraft  der  Seele  genannt,  durch  welche  der  Mensch 
sich  einer  gewissen  Sache  zuneigt,  und  die  übrigen  Kräfte  antreibt, 
etwas  zu  tun.  (Ausübung  der  Sittenlehre  cap.  3  §  22.)  Dem  Verstände 
fällt  auch  die  Aufgabe  des  Urteilens  zu.  Er  hat  die  Mittel  zur  Erlangung 
derjenigen  Objekte  zu  wählen,  nach  denen  der  Wille  begehrt.  In  diesem 
Falle  ist  er  unfrei.  Frei  urteilt  er  nur,  wenn  er  vom  Willen  nicht  an- 
getrieben wird.  Der  Wille  hingegen  ist  stets  in  seinem  Tun  und 
Lassen  vom  Verstände  unabhängig,  gleichwohl  ist  er  mit  dem  Verstände 
verbunden.  Er  wird  nicht  von  dem  letzteren  dazu  bestimmt,  das 
Gute  zu  begehren  und  das  Entgegengesetzte  zu  meiden;  nicht  des- 
halb, weil  der  Verstand  etwas  für  gut  hält,  wird  es  der  Gegenstand 
des  Verlangens  für  den  Willen,  sondern  weil  man  es  begehrt,  hält  es 
der  Verstand  für  gut.  Er  kann  das,  was  dem  Willen  angenehm  ist, 
nicht  anders  als  gut  beurteilen.  (Fund.  lib.  Ic  cap.  I  §§35—53,  Aus- 
übung der  Sittenlehre  Kap.  3  §  69.) 

überhaupt  ist  bei  unserem  Philosophen  der  Wille  das  eigen  Gliche 
Agens  des  Seelenlebens.  Ihm  entspringen  auch  die  Neigungen.  Thoma- 
sius tadelt  deshalb  Descartes,  der  die  Affekte  mehr  aus  dem  Verstände 
als  aus  dem  Willen  ableiten  will.  (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  78.) 
„Die  Gemütsneigungen  sind  Bewegungen  des  menschlichen  Willens 
zu  angenehmen  oder  widrigen  Dingen,  die  abwesend  oder  zukünftig 
sind,  die  von  den  starken  Eindrücken  äußerlicher  Dinge  in  das  Herz 
des  Menschen  oder  der  daraus  erfolgten  außerordentlichen  Bewegungen 
des  Geblütes  entstehen."  (Ausübung  d.  Sittenlehre  S.  105.)  Wenn 
der  Wille  von  den  innerlichen  Leibesbewegungen  affiziert  wird,  ver- 
hält er  sich  passiv,  wenn  er  diesen  Eindrücken  trotzt  und  den  ihm 
eigenen  spontanen  Antrieben  folgt,  ist  er  aktiv.  (Ausübung  der  Sitten- 
lehre S.  75  ff.)  Es  gibt  nur  eine  Hauptneigung  des  Begehrens  oder 
Verschmähens.  Sie  heißt  Liebe  bzw.  Haß.  Alle  andern  Neigungen 
sind  nur  Arten  dieser  Gemütsbewegung.  Sie  werden  weitet  unten 
näher  aufgezahlt  und  beschrieben  werden.  Hier  seien  nur  noch  zwei 
Tätigkeiten  des  Begehrens  erwähnt,  die  auf  der  Grenze  zwischen 
Willen  und  Verstand  liegen.  Der  Wille  hat  die  Vorurteile  der  Ungeduld 
und  der  Nachahmung.  (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  23/24,  Einleitung 
in  die  Hofphilosophie  Kap.  6  §8.)  Das  ersterc  veranlaßt  uns  häufig 
dem  nachzustreben,   „was  unsere  Sinne  und  Gemütskiäfte  augen- 

Archiv  l'ür  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  1.  8 


114  Martin  Joseph, 

blicklich  und  empfindlich  rührt",  dagegen  als  schlecht  zu  meiden, 
was  uns  nicht  stark  affiziert,  oder  dessen  gute  Wirkung  erst  in  der 
Folge  sich  geltend  macht.  Das  letztere  veranlaßt  uns,  dem  nachzu- 
jagen, was  andere,  die  wir  lieben  und  schätzen,  für  begehrenswert 
halten  und  umgekehrt  das  zu  meiden,  was  sie  verabscheuen.  Ferner 
liegt  der  Grund  für  die  widersprechenden  Vorstellungen  und  Ideen 
nicht  im  Verstände,  sondern  im  Willen,  der  aus  Vorurteil  und  Gewohn- 
heit den  Verstand  verdunkelt.    (Einl.  zur  Vernunftslehre  S.  88.) 

Es  ist  deshalb  ein  Mißverständnis,  wenn  B.  A.Wagner  (Chr.Thoma- 
sius,  Ein  Beitrag  zur  Würdigung  seiner  Verdienste  um  die  deutsche 
Literatur,  S.  8)  sagt:  „Das  irdische  Glück  ist  von  einem  tugendhaften 
Leben,  dieses  aber  von  der  Erkenntnis  der  Wahrheit  abhängig.  Da 
aber  die  Erkenntnis  durch  diepraejudicia,  d.  h.  vorgefaßten  Meinungen, 
oder  wie  er  in  späteren  Schriften  sagt,  ,  Vorurteile'  gehemmt  werde, 
so  müssen  diese  beseitigt  werden."  B.  A.  Wagner  übersieht,  daß  diese 
„Vorurteile"  nicht  intellektuelle,  sondern  emotionelle  Vorgänge  sind, 
die  ihren  Ursprung  im  Willen  haben. 

Charakteristisch  für  den  Popularphilosophen  ist  es,  wenn  er  den 
Trieb  nach  wissenschaftlicher  Erkenntnis  als  einen  Affekt  bezeichnet, 
der  durch  Eindrücke  auf  unsere  Sinnlichkeit  entsteht.  Er  begründet 
seine  Ansicht  mit  dem  Hinweis  auf  das  Lustgefühl,  das  auf  wissen- 
schaftliche Betätigung  folgt.  „Zu  geschweigen,  daß  auch  diese  Begierde 
durch  das  vorhergehende  Lesen  erweckt  wird."  (Ausübung  der  Sitten- 
lehre S.  93.)  Thomasius  verwechselt  den  Trieb  mit  Affekt,  Begierde  und 
Leidenschaft.  Das  Lustgefühl  ist  das  sekundäre.  Zunächst  sind 
beim  Triebe  zwei  Seiten  zu  unterscheiden.  Der  Trieb  bezeichnet 
erstens  das  Bedürfnis  der  Tätigkeit,  ohne  daß  irgend  ein  Lustgefühl 
erwartet  wird.  Zweitens  umfaßt  er  sowohl  ein  Gefühl  der  Lust  als 
der  Unlust,  durch  das  er  rege  gemacht  wird.  „Daraus,  daß  der  Zweck 
(oder  das  Objekt)  des  Triebes  etwas  ist,  das  Lust  erregt  oder  zu  er- 
regen scheint,  folgt  nicht,  daß  derselbe  notwendigerweise  das  Lust- 
gefühl selbst  ist."  (Höffding,  Psychologie  im  Umrisse  auf  Grundlage 
der  Erfahrung,  III.  Auflage,  Leipzig  1901,  S.  431.) 

Der  Affekt  ist  ein  Grad  des  Gefühles,  der  Vcr&tand  und  Willen 
vollständig  beherrscht;  die  Leidenschaft  dagegen  ist  ein  durch  Ge- 
wohnheit eingewurzeltes  Gefühl,  das  sich  beständig  in  derselben 
Richtung  entladen  will.  Kant  sagt:  „Affekle  sind  von  Leidenschaften 
spezifisch  verschieden.    Jene  beziehen  sich  bloß  auf  das  Gefühl,  diese 


Die  Ethik  des   Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  115 

gehören  dem  Begehrungsvermögen  an  ui>d  sind  Neigungen,  welche 
alle  Bestimmbarkeit  der  Willkür  durch  Grundsätze  erschweren  und 
unmöglich  machen.  Jene  sind  stürmisch  und  unvorsätzlich,  diese 
anhaltend  und  überlegt."  (Kritik  der  Urteilskraft,  1.  Teil,  TL  Buch, 
Allgemeine  Anm.,  Reclam,  S.  131.) 

2.    Will  e-n  sfreiheit,    Gewissen,    Verantwort- 

1  i  c  h  k  e  i  t. 

Der  Wille  wird  von  Thomasius  eine  moralische  Kraft  ohne  jede 
Wahl  genannt.  Diejenige  Handlung,  die  mit  Notwendigkeit  seinem 
innersten  Wesen  entspringt,  heißt  freiwillig.  (Fundamenta  lib.  I  cap. 
1  §  68.)  Insofern  aber  der  Wille  andern  Kräften  dient  und  äußeren  wie 
inneren  Einwirkungen  ausgesetzt  ist,  ist  er  innerlich  gebunden.  (Fund, 
lib.  L  §  56.)  Wenn  diese  Kräfte  dem  Willen  angenehm  sind,  merkt 
der  Mensch  nicht  die  Abhängigkeit  von  ihnen,  und  dann  kann  man 
auch  von  einer  äußeren  Freiheit  des  Willens  reden.  „Der  Schein  der 
inneren  Freiheit  entsteht  dadurch,  daß  man  Handlungen  und  Ent- 
schlüsse, die  leicht  ohne  große  seelische  Anstrengungen  und  Kämpfe 
geschehen,  für  frei  hält,  während  in  Wirklichkeit  die  herrschende 
Leidenschaft  es  zuwege  bringt,  sei  es  durch  Hoffnung  auf  Belohnung 
oder  Furcht  vor  Strafe."    (Fundamenta  S.  136.) 

Der  eigentliche  Grund  für  die  deterministische  Lehre  unseres 
Philosophen  liegt  in  dem  kirchlichen  Dogma.  Thomasius  steht  betreffs 
der  Unfreiheit  des  Willens  auf  dem  Boden  Luthers.  (Alexander 
Nicoladoni  dir.  Thom.,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Aufklärung 
S.  70.)  „Zu  der  Erkenntnis  des  natürlichen  Unvermögens  und  Unzu- 
länglichkeit der  menschlichen  Kräfte  haben  mich  so  viele  klare  Aus- 
sprüche, die  in  allen  Büchern  der  Heiligen  Schrift  stehen,  durch  Gottes 
Gnade  gebracht  und  gewiesen,  wie  die  mir  noch  anklebende  gemeine 
Lehre  unserer  Leute  von  dem  freien  Willen  des  Menschen  damit  nicht 
bestehen  kann."     (Ausüb.  der  Sittenlehre  S.  500.) 

Andererseits  war  es  ein  Dogma  der  ganzen  Aufklärungsphilosophie, 
daß  der  Mensch  vermöge  seines  Verstandes  das  Gute  und  Böse  klar 
erkennen  und  unterscheiden  kann  und  dann  bloß  zu  wählen  habe. 
In  diesem  Sinne  soll  die  Ethik  unseres  Philosophen  die  Aufgabe 
haben,  (\vn  Charakter  zu  verbessern  und  so  lehrt  sie  denn,  wenn  auch 
zweideutig,  die  Freiheit  (U^  Willens.  „Das  natürliche  Vermögen 
des  Menschen  ist  zwar  nicht  hinlänglich,  die  bösen  Affekte  zu  dämpfen. 

8* 


116  Martin  Joseph, 

aber  die  Lehrsätze  der  Vernunft  von  der  Dämpfung  der  Leidenschaften 
sind  auch  nicht  ganz  aus  den  Augen  zu  setzen."  (Ausübung  der 
Sittenlehre  S.  500  ff.) 

Aus  diesem  Zwiespalt  erklärt  sich  das  beständige  Schwanken 
der  Ansicht  des  Thomasius  über  den  menschlichen  Willen27).  Offenbar 
ist  der  Jurist  über  derartige  Probleme  nicht  ins  klare  gekommen,  und 
so  kann  es  dann  nicht  Wunder  nehmen,  daß  in  einem  solchen  tohu- 
wabohu  Gedanken  auftauchen,  die  bald  die  Determination,  bald 
die  Indetermination  zu  lehren  scheinen.  Thomasius  kennt  die  Stimme 
des  Gewissens  als  ein  Zeichen  der  Möglichkeit  des  Freiwerdens  von. 
den  schlechten  Affekten  oder  Begierden.  Freilich  ist  es  dem  Worte 
gemäß  nur  das  Wissen  von  einem  Gesetze.  (3  Bücher  der  göttlichen 
Rechtsgelahrtheit  S.  19  und  20.)  Es  ist  nicht  angeboren,  wie  die 
Cartesianer  lehren;  denn  es  besteht  im  Urteil.  Deshalb  kann  es  eben- 
sowenig wie  angeborene  Gedanken  ein  apriorisches  Gewissen  geben. 
Das  beweist  ja  auch  die  Verschiedenartigkeit  in  der  Bewertung  von 
gut  und  böse,  wie  denn  auch  die  Anhänger  der  Gewissenslehre  ein 
wahres  und  falsches  Gewissen  kennen.  (Grundlehren  S.  79  und  80.) 
Der  Naturrechtslehrer  unterscheidet  ferner  ein  vorhergehendes  und  ein 
nachfolgendes  Gewissen.  Mit  dem  letzteren  haben  wir  uns  hier  nur 
zu  beschäftigen.  Es  ist,  je  nachdem  die  Tat  gebilligt  oder  verworfen 
wird,  ein  ruhiges  oder  unruhiges,  bzw.  gut  oder  böse.  Es  ist  sodann 
fast  gleichbedeutend  mit  dem  Begriffe  der  sittlichen  Freiheit  etwa  in 
dem  Sinne  Kants.  Es  ist  die  Stimme  des  Sittenrichters  in  uns  oder, 
um  mit  Kant  zu  reden,  jene  Göttin,  vor  der  wir  ehrfurchtsvoll  unser 
Knie  beugen;  es  ist  der  unliebsame  Mahner,  der  trotz  aller  Recht- 
fertigungsversuche der  unsittlichen  Handlungen  sich  nicht  beschwich- 
tigen läßt.  Andererseits  ist  das  Gewissen  eine  rein  empirische  Tat- 
sache, auch  identisch  mit  der  vernünftigen  Liebe,  ein  Affekt  oder 
Leidenschaft  gleich  den  andern  Affekten.  „Der  noch  bei  jedem 
Menschen  vorhandene  Funke  der  vernünftigen  Liebe  erinnert  den- 
selben oft  und  täglich  und  bestraft  ihn  wegen  seines  Tuns  und 
Lassen s."    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  514  und  515.)  28) 


2?)  Alexander  Nicoladoni,  Chr.  Thomasius  S.  70,  vgl.  auch  Fülleborn, 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Philosophie,  Bd.  III,  S.  27. 

28)  „Pflicht  ist  eine  Neigung  des  Willens  durch  verursachte  Furcht  oder 
Weckung  von  Hoffnung."     (Chr.  Thom.,  Grundlehren  S.  86.) 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  117 

„Es  wird  ein  jeder  Mensch  bei  sich  befinden,  daß  dieses  Verlangen, 
oder  die  vernünftige  Liebe  zuweilen  oder  bei  manchen  gar  oft,  bei 
allen  aber  doch  zum  wenigsten  einmal  durch  eine  außerordentliche 
Bewegung  rege  werde  und  ihm  die  Torheit  seiner  herrschenden  Be- 
gierde dergestalt  zu  erkennen  geben,  daß  er  vom  Verlangen  getragen, 
dieselbe  loszuwerden,  auch  sich  solches  ernstlich  vorgenommen, 
es  sei  nun,  daß  diese  Selbstbestrafung,  welches  man  die  Aufwachung 
des  Gewissens  nennt,  aus  dem  Unglück,  das  uns  unsere  herrschenden 
Begierden  über  den  Hals  gezogen,  als  Schmerzen,  Krankheit,  Bevor- 
stehung der  Strafe  usw.  oder  auch  aus  einer  Ursache,  die  wir  selbst 
nicht  sagen  oder  begreifen  können,  entstanden."  (Ausübung  der 
Sittenlehre  S.  346.) 

„Obwohl  ein  Mensch  nicht  vermögend  ist,  die  herrschende  Be- 
gierde zu  dämpfen  und  gar  selten  kapabel  ist,  der  stärkeren  Reizung 
Widerstand  zu  leisten,  daß  sie  nicht  in  äußerliches  Tun  und  Lassen 
herausbrechen  sollte,  wenn  ihn  nicht  die  Furcht  einer  andern  laster- 
haften Passion  oder  die  Strafe  zurückhält,  so  ist  er  dennoch  unver- 
mögend, aus  freiem  Willen  immer  mehr  Böses  zu  tun  und  durch  mut- 
willige Suchung  der  Gelegenheit  und  freiwillige  Neigung  zu  den  Taten, 
die  seinen  Affekt  noch  mehr  stärken,  denselben  noch  mehr  zu  reizen 
und  also  schlimmer  zu  werden;  ingleichen,  daß,  wenn  er  schon  ofte 
vorher  sieht,  daß  er  was  tun  werde,  das  ihm  hernach  selbst  leid  ist, 
und  daher  wohl  manchmal  Gelegenheit  zu  verfallen  meiden  könnte, 
wenn  er  sich  derselben  in  Zeiten,  und  da  seine  Passion  noch  nicht 
gereizt  worden,  enthielte,  er  dennoch  ohne  stärkeren  Antrieb  sich 
resolvieit  wieder  die  vernünftige  Begreifung  zu  tun."  (Ausübung  der 
Sittenlehre  S.  514.)29) 

Insofern  als  die  Handlungen  des  Menschen  aus  seinem  Willen 
und  Können  entspringen,  werden  sie  ihm  zugerechnet,  und  ist  er 
für  sie  verantwortlich.  Unverantwortlich  ist  er  in  solchen  Fällen, 
wo  sein  Tun  und  Lassen  aus  Zwang  oder  Nötigung  erfolgt.  (Drei 
Bücher  der  göttlichen  Rechtsgelahrtheit  S.  19  und  20.) 

Die  Lehre  von  der  Verantwortlichkeit  läßt  sich  ebenso  aus  dem 


29)  Vgl.  auch  Chr.  Thom.,  3  Bücher  der  göttlichen  Rechtsgelahrtheit,  Vor- 
rede  S.  59,  wo  Thomasius  gegen  die  herkömmliche  Methode  der  Ethik  mit  ihren 
11  aristotelischen  Tugenden  polemisiert,  ..das  vornehmste  Stück  der  Sitten- 
lehre, nämlich  die  Richtschnur  eines  tugendhaften  Lehens,  und  wie  man  die 
Laster  vom  Halse  loswerden  sollte,  blieb  unberührt". 


118  Martin  Joseph, 

Indeterminismus  deduzieren.  Denn  der  Determinismus  verlangt  nichts 
weiter,  als  daß  die  Handlung  ursächlich  aus  dem  Wesen  und  Chai  akter 
des  Individuums  hervorgeht.  Der  Indeterminismus  dagegen  begründet 
eben  seine  Lehre  mit  dem  Hinweis  auf  das  Verantwortlichkeitsgefühl 
bzw.  mit  den  eben  erwähnten  Erörterungen  über  das  Gewissen.  Es 
ist  nicht  zu  verwundern,  daß  der  Jurist  und  Philosoph  bei  diesen 
Fragen  auf  keine  Schwierigkeiten  gestoßen  ist,  die  ihn  hätten  veran- 
lassen können,  sich  mehr  nach  der  einen  oder  andern  Anschauung 
zu  bekennen.  Denn  der  Begriff  der  Verantwortlichkeit  im  deter- 
ministischen Sinne  entspricht  vollkommen  den  Anforderungen  des 
Rechtes,  im  indeterministischen  Sinne  bietet  er  eine  bequeme  Hand- 
habe, um  aus  ihm  die  Willensfreiheit  zu  beweisen. 

B.    Affektenlehre. 

Infolge  der  Verwechslung  und  Identifizierung  von  Affekt,  Leiden- 
schaft und  Trieb,  sowie  sämtlichen  ursprünglichen  und  abgeleiteten 
Willenserscheinungen 30)  kennt  Thomasius  nur  einen  Grundtrieb, 
der  als  genereller  Begriff  „Verlangen"  heißt.  Er  teilt  dieses  Verlangen 
—  oder  auch  Begierde  genannt  —  ein  in  1.  Liebe,  2.  Haß. 

Die  Bewertung  der  Gemütsneigungen  soll  durch  das  Gleichnis 
mit  einem  Kreise  veranschaulicht  werden.  Der  Mittelpunkt  ist  die 
Gemütsruhe  als  Ziel  des  Strebens.  Diejenigen  Linien,  deren  Punkte 
von  der  Peripherie  zum  Mittelpunkte  fortschreiten,  bezeichnen  die 
guten,  diejenigen,  deren  Punkte  den  umgekehrten  Weg  gehen,  die 
bösen  Affekte.  Danach  lassen  sich  zwei  Regeln  über  die  Affekte  auf- 
stellen. 

1.  Regel: 

„Diejenigen  Gemütsneigungen,  die  den  Menschen  außer  sich 
selbst  (von  dem  Mittelpunkt)  führen  und  ein  anderes  Ziel  haben  als 
die  Vereinigung  mit  andern  Menschen,  die  nach  der  Gemütsruhe 
trachten,  sind  böse."  —  „Alle  Gemütsneigungen,  die  den  Menschen 
in  sich  selbst  führen  und  mit  andern  ruhigen  Menschen  vereinigen, 
sind  gut." 

2.  Regel: 

„Ein  jeder  Affekt,  der  mit  einer  so  empfindlichen  Bewegung 
begleitet  ist,  daß  davon  entweder  der  Leib  an  seinen  Kräften  auch 


3Ü)  Vgl.  S.  113  ff. 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  119 

nur  einen  Augenblick  merklich  geschwächt  wird,  oder  der  Wille  in 
größere  Unruhe  kommt  oder  mit  großer  Mühe  zurückgehalten  wird, 
ist  böse."    (Einleitung  der  Sittenlehre  S.  153.) 

1.    Die   Hauptaffekte. 
Thomasius  zählt  die  Affekte  wie  folgt  auf: 

1.  vernünftige  Menschenliebe,  das  ist  Charakter  des  Phlegmatikers. 

2.  Liebe  zur  Ehre,  das  ist  Charakter  des  Cholerikers. 

3.  Liebe  zur  Wollust,  das  ist  Charakter  des  Sanguinikers. 

4.  Liebe  zum  Gelde,  das  ist  Charakter  des  Melancholikers 31). 

Jeder  Affekt  involviert  zugleich  die  Abneigung  gegen  den  ent- 
gegengesetzten Trieb,  so  die  Menschenliebe  den  Haß  des  Irrtums 
und  des  Lasters,  der  Ehrgeiz  den  Haß  der  Schande,  die  Wollust  den 
Haß  der  Enthaltsamkeit,  der  Geldgeiz  den  Haß  der  Armut. 

Da  die  vernünftige  Liebe  gleichsam  nur  das  Produkt  aus  den 
drei  übrigen  Affekten  als  Faktoren  ist,  so  besteht  die  menschliche 
Natur  im  Grunde  nur  aus  diesen  drei  Lastern. 

Wie  willkürlich  und  unwissenschaftlich32)  diese  Trichtomie  ist, 
sieht  man  auch  aus  dem  Vergleich,  den  Thomasius  mit  der  Physik 
zieht.  Man  wird  an  Bombastus  Paracelsus  erinnert,  wenn  unser 
Philosoph  in  vollem  Ernste  erklärt:  der  Mensch  besteht  aus  den 
Elementen  Salz,  Quecksilber,  Schwefel. 

Schwefel  erzeugt  Ehrgeiz,  Quecksilber  Wollust,  Salz  Geldgeiz. 
Stehen  diese  Elemente  in  einem  richtigen  Verhältnis  zueinander,  so 
herrscht  die  vernünftige  Liebe.  Jede  der  drei  Leidenschaften  hat 
ihren  besonderen  Sitz;  der  Ehrgeiz  im  Kopfe,  der  Geldgeiz  im  Herzen, 
die  Wollust  im  Unterleib. 

Entsprechend  dieser  Dreiteilung  wird  jedes  Laster  durch  einen 
besonderen  politisch-sozialen  Vorgang  oder  Einrichtung  hervor- 
gerufen. 

a)  1.  Der  Ehrgeiz  durch  Unterschied  der  Geburt. 

2.  Der  Geldgeiz  durch  Aufhebung  der  Gütergemeinschaft. 

3.  Die  Wollust  als  Folge  der  ersten  beiden  Ursachen. 


")  Chr.  Thom.,    Ilislnrie    der  Weisheit    und  Torheit.     3.  7.  8.245  und 
Kinl.  (I.   Sittcnl.  S.  3. 

8a)  Vgl.  auch  das  Kapitel  Religion  und  Ethik,  S.  104  ff. 


120  Martin  Joseph, 

b)  1.  Die  Wollust  ist  besonders  heimisch  im  Nährstand. 

2.  Der  Ehrgeiz  ist  besonders  heimisch  im  Wehrstand. 

3.  Der  Geldgeiz  ist  besonders  heimisch  im  Lehrstand. 

(Ausübung  der  Sittenlehre  S.  160  ff.) 

3.    Die   Affekte   und   ihre   Nebenaffekte. 

I.  „Die  vernünftige  Liebe  ist  die  Gemütsruhe;  die  Gedanken 
können  nicht  ruhig  sein,  wenn  nicht  eine  vollkommene  Harmonie 
zwischen  den  Kräften  ist."    (Ausübung  S.  175.) 

Tabelle  der  Tugenden,  die  aus  ihr  hervorgehen: 

1.  Verschwiegenheit. 

2.  Freigebigkeit. 

3.  Freundlichkeit. 

4.  Herzhaftigkeit. 

5.  Keuschheit. 

6.  Sparsamkeit. 

7.  Geschäftigkeit. 

8.  Geduldsamkeit  und  Großmütigkeit. 

9.  Dienstfertigkeit. 

10.  Gedächtnis,  Erfindungsgabe  und  Scharfsinn. 

II.  „Die  Wollust  ist  eine  Gemütsneigung,  die  ihre  Ruhe  in  stets 
währender  veränderlicher  Belustigung  des  Verstandes  und  der  Sinne 
hauptsächlich  des  Geschmackes  und  des  geilen  Gefühles  vergeblich 
sucht  und  dieserwegen  sich  mit  gleichgearteten  Menschen  zu  vereinen 
trachtet33)."    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  186.) 

Tabelle  der  Untugenden,  die  aus  ihr  hervorgehen: 

1.  Klatschsucht. 

2.  Liederliche  Verschwendung. 

3.  Unterwürfigkeit. 

4.  Feigheit  und  Ungeduld. 

5.  Geilheit  und  Schlemmerei. 

6.  Verschwendung. 

7.  Müßiggang. 


33)  Der  lediglich  auf  den  praktischen  Nutzen  gerichtete  Sinn  des  Philo- 
sophen bringt  es  zuwege,  daß  selbst  die  Liebe  zur  Wissenschaft  aus  der  Wollust 
abgeleitet  wird.     (Ausübung  d.  Sittenl.  S.  207.) 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.  Thomasius.  12l 

8.  Jähzorn,  dem  bald  darauf  Weichherzigkeit  folgt. 

9.  Kuppler-  und  Spielmannsdienste. 
10.  Ingenieuse  Erfindungsgaben. 

III.  „Der  Ehrgeiz  ist  eine  Gemütsneigung,  die  ihre  Ruhe  in  stets- 
währender veränderlicher  Hochachtung  und  Gehorsam  anderer, 
sonderlich  aber  gleich  gesinnter  Menschen  durch  Hochachtung  seiner 
selbst  und  Unterfangung  teils  verschmitzter,  teils  gewaltsamer  Taten 
vergebens  sucht  und  deswegen  mit  gleichgearteten  Menschen  sich 
zu  vereinigen  trachtet."  34)    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  220.) 

Tabelle  der  Untugenden,  die  aus  ihm  hervorgehen: 

1.  Hartnäckige  Stöckigkeit. 

2.  Eitle  Verschwendung. 

3.  Verächtlicher  Hochmut. 

4.  Grimme  Tollkühnheit. 

5.  Stoische  Unempfindlichkeit. 

6.  Genauigkeit. 

7.  Wachsame  Arbeitsamkeit. 

8.  Zornige  Rachgier. 

9.  Banditendienstfertigkeit. 

10.  Kritische  Entscheidungsgabe. 

IV.  „Der  Geldgeiz  ist  eine  Gemütsneigung,  die  ihre  Ruhe  in  stets 
währender  veränderlicher  Besitzung  allerhand  Kreaturen,  die  unter 
den  Menschen  sind  und  mit  Geld  können  angeschafft  werden,  vergebens 
sucht  und  dieserwegen  mit  solchen  Kreaturen,  oder  wenn  die  Begierde 
in  einem  solchen  Grade  ist,  mit  dem  Gelde  allein  durch  eigentüm- 
liche Erlangung  und  Verwahrung  dieser  oder  desselben  sich  zu  ver- 
einigen trachten."    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  223.) 

Tabelle  der  Untugenden,  die  aus  ihm  hervorgehen: 

1.  Tückische  Lügen  und  Simulierung. 

2.  Unbarmherzige  Knickerei. 

3.  Närrische  Aufgeblasenheit. 

4.  Hämische  Grausamkeit. 

5.  Haß  gegen  das  Weib. 

6.  Knechtische  Submission. 


:u)  Der  Ehrgeizige  und  der  Wollüstige  können  der  Gesellschaft  nicht  ant- 
raten, jedoch  kann  und  will  der  letztere  sich  unterordnen,  während  der  erstere 
sich  andere  Untertan  machen  will.     (Ausübung  d.  SittenL  fc>.  223.) 


122  Martin   Joseph, 

7.  Mühsame  Eselsarbeit. 

8.  Neidische  Schadenfreude. 

9.  Verbeißende  Nachtragung. 
10.  Starkes  Gedächtnis. 

Zu  bemerken  ist  hier,  daß  unter  10.  stets  eine  geistige  Fähigkeit 
genannt  wird,  die  natürlich  nicht  als  ein  schlechter  Affekt  zu  nehmen 
ist,  sondern  nur  stark  im  Dienste  des  Hauptaffektes  inzitiert  wird. 

3.    Vermischte    Affekte. 

Die  Laster  kommen  gewöhnlich  in  Verbindung  mit  einander  vor 
und  erzeugen  dann  verschiedene  Tugenden  und  Untugenden. 

Wollust  und  Ehrgeiz  in  gleicher  Stärke  erzeugen  eine  der  ver- 
nünftigen Liebe  ähnliche  Mischung. 

1.  Klatscherei  der  Wollust  und  Stöckigkeit  des  Ehrgeizes  ergeben 
verschwiegene  Offenherzigkeit. 

2.  Liederliche  Verschwendung  der  Wollust  und  Verschwendung 
des  Ehrgeizes  ergeben  guttätige  Freigebigkeit. 

3.  Submission  der  Wollust  und  Hochmut  des  Ehrgeizes  ergeben 
gleichmütige  Freundschaft. 

4.  Feigheit  der  Wollust  und  Tollkühnheit  des  Ehrgeizes  ergeben 
geduldige  Herzhaft]  gkeit, 

5.  Geilheit  der  Wollust  und  stoische  Unempfindlichkeit  des 
Ehrgeizes  erzeugen  geduldige  Großmut. 

6.  Wollüstige  Verschwendung  und  Genauigkeit  des  Ehrgeizes 
erzeugen  nüchterne,  mäßige  Keuschheit. 

7.  Müßiggang  der  Wollust  und  wachsame  Arbeitsamkeit  des 
Ehrgeizes  erzeugen  tugendhafte  Sparsamkeit. 

8.  Jähzorn  mit  Weichherzigkeit  der  Wollust  und  zornige  Rach- 
gier des  Ehrgeizes  erzeugen  geschäftige  Munterkeit. 

9.  Lust  und  Freudentaumel  der  Wollust  und  Ernst  der  Banditen- 
geschäftigkeit des  Ehrgeizes  erzeugen  freudige  Dienstfertigkeit. 

10.  Erfindungsgabe  der  Wollust  und  kritische  Entscheidungs- 
gabe des  Ehrgeizes  erzeugen  gute  Geistesanlage  und  Urteilsfähigkeit 
bei  gutem  und  schlechtem  Gedächtnis. 

Ehrgeiz  stärker  als  Wollust  erzeugt  einen  zurückhaltenden, 
verschlossenen,  ernsten  Charakter. 

Wollust  stärker  als  Ehrgeiz  erzeugt  ein  freundliches,  fried- 
liebendes Temperament.    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  313.) 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  123 

WeDn  Wollust  und  Ehrgeiz  gleich  stark  sind,  und  zu  ihnen  Geld- 
geiz hinzutritt,  so  ergeben  sich  folgende  Charaktere: 

1.  Aus  der  verschwiegenen  Offenherzigkeit  wird  eine  Art  Unwahr- 
heit und  Heuchelei,  die  die  Menschen  für  verständige  Klugheit  halten. 

2.  Aus  der  gilttätigen  Freigebigkeit  wird  eine  Art  Sparsamkeit 
und  Knickerei,   die  in  der  Politik  für  sorgfältige  Haushaltung  gilt. 

3.  Aus  der  gleichmütigen  Freundlichkeit  wird  eine  Art  Hochmut 
und  Glück,  Unterwürfigkeit  im  Unglück. 

4.  Aus  der  geduldigen  Herzhaftigkeit  wird  eine  Art  Grausamiveit. 

5.  Aus  der  geduldigen  Großmut  wird  eine  Art  verbissener  Nach- 
tragung, die  Verschlagenheit  genannt  wird. 

6.  Aus  der  mäßigen  Keuschheit  wird  eine  Art  Haß  gegen  das  Weib. 

7.  Aus  der  Sparsamkeit  wird  eine  Art  Knickerei. 

8.  Aus  der  geschäftigen  Munterkeit  wird  eine  Art  Arbeitsamkeit. 

9.  Die  freudige  Dienstfertigkeit  wird  durch  Schadenfreude  auf- 
gehoben. 

10.  Zur  guten  Geistesanlage  und  Urteilsfähigkeit  tritt  stets  ein 
gutes  Gedächtnis. 

Ehrgeiz  und  Geldgeiz  gleich  stark  erzeugen  geehrte  und  gefürchtete 
Menschen. 

Aus  hartnäckiger  Stöckigkeit  des  Ehrgeizes  und  tückischer 
Simulierung  des  Geldgeizes  ergibt  sich  kluge  Verschwiegenheit.  Solche 
Menschen  eignen  sich  besonders  für  Staatsdienste  und  andere  diploma- 
tische Zwecke.    (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  315.) 

Ehrgeiz  stärker  als  Geldgeiz  erzeugt  äußerliche  Beherrschung 
und  Unterdrückung  innerer  Erregungen. 

Geldgeiz  stärker  als  Ehrgeiz  erzeugt  erheuchelte  Freundschaft 
und  herablassendes  Wesen. 

Tritt  zum  Ehrgeiz  und  Geldgeiz  noch  die  Wollust  hinzu,  so  ver- 
ringert sich  die  Verschwiegenheit.  Solche  Menschen  erscheinen  in 
der  Gesellschaft  angenehm  und  treuherzig.  (Ausübung  der  Sitten- 
lehre S.  316.) 

W  ollusl    u  n  (I    G  e  1  d  ge  i  z. 
Sie  sind  das  Zeichen  jener  inkonsequenten,  unschlüssigen,  energie- 
losen, schwankenden  und  grotesken  Naturen.     Der  Wollüstige  kann 
schlecht  schweigen,  und  so  verrät  sich  die  Lüge  des  Geldgeizigen. 
Im  Glück  kennt  er  kein  .Mall  für  sein  großsprecherisches  Tun,  im  Un- 


124 


Martin  Joseph, 


glück  ist  er  unfähig,  sich  zu  fassen.  „Fauler  Müßiggang  ist  mit  müh- 
samer Eselsarbeit,  jähzornige  Weichherzigkeit  mit  verbissener  Nach- 
tragung, ingeniöse  Erfindungen  ohne  iudicium  mit  gutem  Gedächtnis 
vermischt." 

Bei  der  Beurteilung  des  einzelnen  Charakters  ist  der  Stand, 
das  Alter  und  die  Gelegenheit  zur  Tat  zu  berücksichtigen.  Die  Wollust 
ist  bei  einem  Jüngling  natürlicher  als  bei  einem  Alten.  Ein  junger 
Geizhals  ist  mehr  zu  verachten  als  ein  alter.  Der  Stand,  das  Alter 
und  die  Umstände  verleihen  demselben  Laster  bisweilen  ein  verschie- 
denes Aussehen  und  eine  verschiedene  Bewertung. 

Die  in  den  angeführten  Tabellen  aufgeführten  Mischungen  der 
Leidenschaften  sollen  bisweilen  Charaktere  ergeben,  die  der  vernünftigen 
Liebe  sehr  ähnlich  sind.  Im  schroffen  Gegensatz  hierzu  steht  deshalb 
die  Behauptung,  daß  die  vernünftige  Liebe  mit  der  unvernünftigen 
nichts  gemeinsam  habe.  Aus  der  Annahme  der  Berechnung  der  ein- 
zelnen Leidenschaften  in  Graden  folgt  auch,  daß  zwischen  ihnen 
nicht  qualitative,  sondern  nur  quantitative  Unterschiede  bestehen. 
Ausübung  der  Sittenlehre  S.  361.) 

Innerhalb  der  Gradberechnung  herrscht  folgende  Reihenfolge 
der  "Affekte : 

I. 


IL 


III. 


1.  Ehrgeiz. 

IV.  1.  Geldgeiz. 

2.  Geldgeiz. 

2.  Wollust. 

3.  Wollust. 

3.  Ehrgeiz. 

4.  Vernünftige 

Liebe. 

4   Vernünftige  Liebe. 

1.  Geldgeiz. 

V.  1.  Wollust. 

2.  Ehrgeiz. 

2.  Ehrgeiz. 

3.  Wollust. 

3.  Geldgeiz. 

4.  Vernünftige 

Liebe. 

4.  Vernünftige  Liebe. 

1.  Wollust. 

VI.  1.  Ehrgeiz. 

2.  Geldgeiz. 

2.  Wollust. 

3.  Ehrgeiz. 

3.  Geldgeiz. 

4.  Vernünftige 

Liebe, 

4.  Vernünftige  Liebe. 

Als  Werte  für  die  Leidenschaften  nimmt  Thomasius  für  die  vierte 
1,  für  die  erste  12,  in  andern  Schriften  5  und  60  an.  (Historie  der 
Weisheit  und  Torheit.)  Man  vermag  nicht  ohne  Lächeln  die  Versuche 
zu  lesen,  in  denen  unser  Philosoph  die  Charaktere  der  Könige  Saul, 
David  und  Salomon  nach  dieser  Schablone  berechnen  und  beurteilen 


Die  Ethik  des  Naturreehtslehrers  Chr.   Thomasius.  125 

will.  Doch  soll  hier  nicht  verschwiegen  werden,  daß  auch  Helvetius 
in  seiner  Schrift  de  l'esprit  (disconrse  II)  Maße  für  sittliche  Werte 
aufgestellt  hat.  Ebenso  glaubte  Kant  in  seiner  vorkritischen  Periode 
(Versuch,  den  Begriff  der  negativen  Größen  in  die  Welt  Weisheit  einzu- 
führen 1763)  Grade  sittlicher  Gesinnung  annehmen  zu  dürfen,  wenn 
sie  auch  nicht  erkennbar  seien» 

4.   Die    Mittel    zur    Befreiung    von    den    Leiden- 
schaften. 

Die  Voraussetzungen,  um  zur  vernünftigen  Liebe  zu  gelangen, 
sind:  1.  ein  vorurteilsfreier  Verstand,  2.  häufige  unbefangene  kritische 
Beleuchtung  desselben,  3.  Belauschung  der  herrschenden  Leidenschaft 
in  den  Augenblicken,  wo  sie  klar  zutage  tritt.  (Ausübung  der 
Sittenlehre  S.  397.) 

Die  nächste  Aufgabe  besteht  darin,  alle  Hindernisse  aus  dem 
Wege  zu  räumen.  Der  Mensch  soll  sich  vom  Vorurteil  der  Nachahmung 
und  der  Ungeduld  befreien.  Sodann  belehrt  ihn  die  Tugend,  daß  sie 
wahrhaft  angenehm  und  nützlich  ist,  während  Ehrgeiz,  Geldgeiz 
und  Wollust  nur  vorübergehend  einen  gewissen  Sinnenkitzel  hervor- 
rufen. In  Wirklichkeit  aber  untergraben  sie  die  Gesundheit  und 
führen  zur  Gemütsunruhe.  Die  böse  Gesellschaft  und  Gelegenheit 
zur  Betätigung  schlechter  Handlungen  müssen  gemieden  werden. 
Auch  gehört  Geduld  zur  Erreichung  der  wahren  Glückseligkeit. 
„Gut  Ding  will  Weile  haben."  (Ausübung  der  Sittenlehre  S.  473  ff.) 
Mit  dem  Fortschreiten  auf  dem  Wege  zur  sittlichen  Besserung  hat  es 
dieselbe  Bewandtnis,  wie  mit  einem  von  schwerer  Krankheit  Ge- 
nesenden. Wie  er  bisweilen  Rückfälle  hat,  so  geht  es  auch  auf  sitt- 
lichem Gebiete  nicht  ohne  Rückfälle  in  die  alte  Lebensweise  ab. 

Mag  man  immerhin  zugeben,  daß  durch  die  Betätigung  der  drei 
Laster  das  Ziel  der  Ataraxie  verfehlt  wird,  so  tragen  die  praktischen 
Vorzüge,  welche  aus  der  Bezähmung  dieser  Leidenschaften  hervor- 
gehen sollen,  doch  das  Gepräge  der  Unwahrscheinlielikeit.  Es  zeugt 
nicht  gerade  von  großer  Folgerichtigkeit  im  Denken  und  pädagogischem 
Geschick,  wenn  man  dem  unsittlichen  Menschen  Nachteile  vorspiegelt, 
die  ihm  ;ius  seinen  Lastern  erwachsen,  im  Gegensatz  zu  den  Chancen, 
die  ein  rechtschaffener  Lebenswandel  im  Gefolge  halten  soll.  ..Mau 
muß  durchaus  sich  klar  machen,  daß  sittlich  zu  handeln  kein  Mittel 
ist,  um  glücklich  und  mächtig  zu  werden;  es  gibt  kein  törichteres 


126  Martin  Joseph, 

Unternehmen,  als  das  der  Moralisten,  die  dem  Menschen  einreden 
wollen,  daß  er  am  klügsten  daran  tue,  sich  der  sittlichen  Norm  zu 
unterwerfen:  sie  werden  von  der  Erfahrung  alle  Tage  widerlegt." 
(Windelhand,  Präludien:    Normen  und  Naturgesetze  S.  268/269.) 

C.   1.   Die    Bewertung    dieser    Lehren    von    Seiten 

des   Philosophen. 

Thomasius  hat  den  Wert  seiner  Lehren  keineswegs  überschätzt. 
„Die  Mixtur  menschlicher  Begierden  bleibt  in  stets  währender  Pro- 
portion und  Ordnung,  als  er  selbige  auf  die  Welt  gebracht  hat."  Nur 
augenblicklich  kann  das  Temperament  unterdrückt  werden,  um  später 
mit  um  so  größerer  elementarer  Gewalt  wieder  hervorzubrechen. 
Unser  Philosoph  zitiert:  natura  expellas  furca,  tarnen  usque  reccurret. 
(Ausübung  der  Sittenlehre  S.  387/388.)  Er  ist  deshalb  nicht 
weit  von  der  Verzweiflung  an  der  Möglichkeit  der  Besserung  mensch- 
licher Charaktere  sowie  von  fatalistischen  Anwandlungen  entfernt, 
(Ausübung  der  Sittenlehre  Seite  556/557.)  Eine  sittliche  Recht- 
fertigung der  Strafe  kennt  er  deshalb  nur  soweit,  als  durch  sie  andere 
Übeltäter  abgeschreckt  werden  könnten.  Er  weiß  sehr  wohl,  „daß 
durch  diese  Furcht  kein  Mensch  fromm  und  tugendhaft  gemacht  wird". 
Der  Mensch  tut  stets  Böses.  Nur  ein  quantitativer  Unterschied  be- 
steht zwischen  den  einzelnen  schlechten  Handlungen.  Das  einzige 
Mittel  gut  und  glücklich  zu  werden,  ist  die  Bibel  und  die  Gnade  Gottes. 
(Ausübung  der  Sittenlehre  S.  521.) 

2.   Historische    Würdigung   der   Ethik   des 
Christian   Thomasius. 

Das  Urteil,  welches  bei  der  Behandlung  der  Sittenlehre  unseres 
Philosophen  gefällt  wurde,  ließ  sie  in  einem  keineswegs  günstigen 
Lichte  erscheinen.  Der  große  Vorkämpfer  der  Aufklärung,  um  die 
er  sich  bedeutende  Verdienste  erworben,  der  vielgenannte  Rechts- 
gelehrte, dessen  Lehre  von  Naturrecht  noch  in  Trendelenburg, 
Ahrens  35)  u.  a.  Anhänger  findet,  hat  sich  hier  auf  ein  Gebiet  gewagt, 
auf  dem  er  nicht  heimisch  war. 


86)  Vgl.  den  ersten  Aufsatz  in  Holtzendorfs  Enzyklopädie  der  Rechts- 
wissenschaften. 


Die  Ethik  des  Naturrechtslehrers  Chr.   Thomasius.  127 

„Seine  Lehre  ist  ein  kritikloser  Eklektizismus  ohne  systematische 
Einheit  und  ohne  methodisches  Prinzip."  „Der  Weg,  den  er  ein- 
schlug,, führte  mehr  aus  der  Wissenschaft  heraus,  als  in  die  Wissen- 
schaft hinein.  Aber  dieser  unwissenschaftliche  Charakter  des  Mannes 
zeigte  nur  die  jugendliche  Unreife,  womit  sich  ein  bedeutender  Ge- 
danke zuerst  Bahn  bricht.  Die  Forderung,  daß  die  Wissenschaft 
mit  dem  wirklichen  Leben  Fühlung  halte  und  die  Ausbreitung  ihrer 
Gedanken  durch  eine  verständliche  Form  ihrer  Darstellung  befördere, 
war  im  Wesen  der  Sache  ebenso  wie  in  den  Bedürfnissen  der  Zeit 
begründet,"  (Windelband,  Geschichte  der  neueren  Philosophie  I.  Bd., 
,4.  Aufl.,  S.  516/517.) 

Auch  darf  die  historische  Bedeutung  der  vorliegenden  Ethik 
nicht  unterschätzt  werden.  Im  Gegensatz  zu  den  Scholastikern  be- 
deutet seine  Lehre  eine  Vereinfachung.  Descartes,  ein  älterer  Zeif- 
genosse  unseres  Juristen,  hat  es  über  eine  Affektenlehre,  in  der  sich 
ethische  Apercus  befinden,  nicht  hinausgebracht.  Leibniz  konnte 
von  seinem  metaphysischen  Standpunkte  und  der  Theodizee  darauf 
verzichten,  eine  besondere  Ethik  zu  entwerfen.  Das  große  Vorbild 
unseres  Philosophen,  Locke,  hielt  es  mit  Rücksicht  auf  die  Bibel 
für  überflüssig,  eine  Morallehre  zu  entwickeln36).  Die  wenigen  Be- 
merkungen über  die  Ethik  in  seiner  Erkenntnistheorie  (Bd.  II  Kap.  20, 
21  und  28)  sind  belanglos. 

Thomasius  hat  deshalb  das  Verdienst,  in  seiner  Zeit  den,  wenn 
auch  mißglückten,  Versuch  zu  einer  von  aller  Scholastik  freien  Ethik 
gemacht  zu  haben,  in  der  Absicht,  sie  auf  sich  selbst  zu  stellen  und 
von  allen  verwandten  Disziplinen  unabhängig  zu  machen.  Aus  diesem 
Grunde  rühmt  ihm  Lasson  (Rechtsphilosophie  S.  94)  nach,  „daß  die 
ethische  Prinzipienlehre  durch  ihn  entschieden  Fortschritte  gemacht 
hat".  Aber  diesem  Urteil  stehen  andere  gegenüber,  in  denen  mit  Recht 
ein  scharfer  Tadel  gegen  den  Naturrechtslehrer  ausgesprochen  wird. 
Stahl  (Rechtsphilosophie  III.  Bd. S.  127)  nennt  ihn  ideenlos  imdLuden 
einen  unphilosophischen  Kopf,  der  seinen  Zeitgenossen  Spinoza 
nicht  versteht,  (Chr.  Thomasius  S.  K7  ff.)  Auch  Hinrichs  (Geschichte 
der  Rechts-  und  Staatsprinzipien,  III.  Bd.  S.304)  bezeichnet  ihn  als 
eine  vielseitige  entzweite  Natur,  ohne  Genialität.  Die  Ethik  unseres 
Philosophen   ist    verglichen    mit    den    Moralsystemen   seiner   Zeit    ein 


36)  Brief  Locken  an  Molineux  vom  30.  3.  1896  bei  Stephan  1.  Kap.  2S,  86. 


128  Martin  Joseph. 

dürftiges  Werk  und  ihre  Emanzipierung  von  der  Religion  nicht  seine 
schöpferische  Tat.  Hierin  sind  ihm  Baco  v.  Verulam  und  Charron 
vorausgegangen.  Sie  haben  mit  Konsequenz  und  Energie  eine  syste- 
matische Ethik  aufgestellt,  mit  der  die  Sittenlehre  unseres  Philosophen 
nicht  annähernd  verglichen  werden  kann.  Baco  hat  seine  Doktrin 
auf  ein  Naturgesetz  gegründet,  indem  er  an  die  römische  Stoa  an- 
knüpfend lehrte :  die  sittlichen  Ordnungen  stehen  unter  einem  Natur- 
gesetz. „Die  Herrschaft  des  Naturgesetzes  begreifen  und  fördern,  heißt 
es  psychologisch  auffassen,  sonach  muß  es  auf  die  in  ihm  wirkenden 
Kräfte  zurückgeführt  werden."  (Dilthey,  Die  Autonomie  des  Denkens 
im  17.  Jahrhundert.  Archiv  der  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  VII, 
S.  48.)  Auch  Charron  hat  zwar  kein  absolut  neues  ethisches  Prinzip 
aufgestellt.  Aber  auch  er  kennt  ein  oberstes  Gesetz  der  Ethik,  und  das 
ruht  nicht  in  der  Religion,  sondern  in  der  Natur  und  in  der  mensch- 
lichen Vernunft. 

Ebensowenig  kann  es  Thomasius  mit  den  englischen  Gefühls- 
moralisten aufnehmen.  Ihre  Systeme  bedeuten  einen  großen  Versuch, 
psychologisch  aus  dem  Gefühl  den  Ursprung  und  die  Aufgabe  der 
Ethik  herzuleiten.  Sie"  bilden  einen  Eckstein  in  der  Geschichte  der 
Moralwissenschaft.  Denn  von  ihnen  allein  führt  der  Weg  zu  dem  rigo- 
rosen Pflichtbegriff  J.  Kants  (vgl.  Windelband,  Geschichte  der  neueren 
Philosophie  §  36  ff.). 


Rezensionen. 

Otto  Gilbert,  Griechische  Religionsphilosophie.  Leipzig,  Engelmann, 
1911.  (554  S.) 
Dieses  Buch  kommt  einem  Bedürfnis  entgegen,  das  in  der  letzten  Zeit 
für  die  Erforschung  der  griechischen  Philosophie  immer  fühlbarer  wurde,  — 
im  Einzelnen  das  Herauswachsen  der  Philosophie  ans  der  Religion  nach- 
zuweisen und  im  weiteren  die  enge  Verwandtschaft  zwischen  theologischer 
und  philosophischer  Spekulation  zu  verfolgen.  Die  Grundidee  des  Buches  ist 
die,  daß  fast  alle  griechische  Welterklärung  im  Grunde  eine  Zurückführung 
des  Weltgeschehens  auf  ein  göttliches  Prinzip  ist.  Am  glücklichsten  hat  der 
Verfasser  seine  Grundidee  in  den  Abschnitten  über  die  Vorsokratik  durch- 
geführt, die  daher  eine  eingehendere  Betrachtung  verdienen. 

Gemeinsam  aus  der  staunenden  Betrachtung  der  im  Himmel  und  auf 
der  Erde  waltenden  Mächte  hervorgegangen,  lassen  sich  Religion  und  Philosophie 
der  Griechen  im  Anfange  kaum  scheiden.  Unmerklich  geht  die  Theologie 
in  die  Physik  über,  die  auch  nach  ihrer  Loslösung  einen  durchaus  religiösen 
und  theologischen  Charakter  bewahrt  und  an  ihren  Begriffen  noch  lange 
später  mytologische  Schlacken  mitschleppt. 

Die  alten  Kosmogonien  enthalten  im  Keime  die  Begriffe,  die  später  in 
der  griechischen  Philosophie  eine  Rolle  spielen.  Es  sind  in  den  Kosmogonien 
drei  Eormen  der  Welterklärung  zu  unterscheiden.  Die  erste  leitet  alles  Sein 
aus  Himmel  und  Erde  oder  dem  Chaos  als  der  gähnenden  Kluft  zwischen 
Himmel  und  Erde  ab  und  bringt  zum  Ausdruck,  daß  alle  Weltbildung  sich 
aus  dem  Räume  heraus  vollzogen  hat.  Die  zweite  Form  der  Kosmogonien 
läßt  alles  Sein  aus  der  Nr  cht  entstehen,  die  als  die  ursprüngliche  Zeiteinheit 
autzufassen  ist,  oder  drückt  die  Abhängigkeit  alles  Seins  von  der  Zeit  noch 
schärfer  durch  Einführung  des  Chronos  als  Urvater  der  Göttergeschlechter 
aus.  Natürlich  wurden  Raum  und  Zeit  nicht  als  Abstraktionen  gefaßt,  sondern 
dem  mythologischen  Denken  gemäß  als  stoffliche  Substanzen  vorgestellt. 
I  ranz  in  den  Vordergrund  tritt  das  Interesse  für  den  Stoff  in  der  dritten  Form 
der  Kosmogonien,  die  Erde  und  Wasser  zu  den  Urprinzipien  erhebt.  Zu  allen 
diesen  Welterklärungen  hat  schon  früh  die  eigene  Beobachtung  geführt, 
und  es  ist  nicht  not io;  anzunehmen,  die  Kenntnis  der  Elementarstoffe  sei  den 
Griechen  aus  der  Fremde  gekommen.  Neben  dein  hei  vorragenden  Interesse 
der  kosmologisclien  Spekulation  für  den  Stoff  als  welterklärendes  Prinzip 
tritt  die  Frage  nach  den  weltbewegenden  Klüften  zurück,  weil  tue  Stoffe 
selbst  als  lebendig,  das  Prinzip  der  Bewegung  in  sich  tragend  gefaßt  winden. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  1.  9 


-i  OA  Rezensionen. 

Dennoch  finden  sich  auch  nach  dieser  Richtung  hin  Anfänge,  welche  besondere 
Kräfte  statuieren.  Dem  Eros  als  der  Kraft  der  Anziehung  tritt  die  Eris  als 
die  Kraft  der  Abstoßung  gegenüber. 

Eine  zweite  gemeinsame  Quelle  der  Religion  und  Philosophie  ist  in  den 
psychischen  Erfahrungen  des  Menschen  zu  finden.  Die  Orphiker  als  die  Be- 
gründer dieser  Gedankenrichtung  haben  damit  in  die  Spekulation  einen 
mystischen  Zug  gebracht,  den  von  ihnen  die  Pytagoräer  übernahmen.  Zu- 
gleich haben  diese  das  dualistische  Moment,  das  in  der  orphischen  Gegenüber- 
stellung von  Seele  und  Leib  besteht,  noch  schärfer  betont  und  sind  so  die 
Begründer  der  dualistischen  Weltanschauung  geworden.  In  den  folgenden 
Jahrhunderten  kämpft  der  dualistische  Gedanke  mit  dem  monistischen,  der 
in  den  Joniern  seine  Vertretung  fand. 

Den  Joniern  und  Pythagoräern  gemeinsam  ist  der  Gedanke, 
daß  allem  Wandel  der  Erscheinungswelt  ein  bleibendes  göttliches  Sein  zu- 
grunde liegen  müsse.  Die  Verschiedenheit  beider  Weltkonzeptionen  besteht 
darin,  daß  die  Jonier  ein  einheitliches  Weltprinzip  annehmen,  nämlich  die 
Materie  als  Ausgangspunkt  und  treibende  Kraft  aller  Bewegung,  die  Pytagoräer 
dagegen  zwei  ursprünglich  von  einander  getrennte  Weltprinzipien  aufstellen, 
das  schöpferische  Formprinzip  und  die  ungeschiedene  chaotische  Materie. 
Alle  Jonier  sind  darin  einig,  daß  die  Materie,  von  einem  gegebenen  Anfang 
ausgehend,  sich  aus  eigener  Initiative  noch  einer  festen  Ordnung  stufenweise 
in  alle  Formen  des  Kosmos  umwandelt.  Nur  über  den  Ausgangspunkt  dieser 
Stoffevolution  herrscht  unter  den  einzelnen  Joniern  Differenz.  Immer  wird 
die  Grundsubstanz  durchaus  animistisch  als  göttliche  Persönlichkeit  auf- 
gefaßt; ebenso  sind  die  vier  Grundelemente,  in  die  sie  sich  scheidet,  ewige 
persönliche  Substanzen,  und  die  wiederum  aus  diesen  hervorgehenden  Einzel- 
dinge persönliche  aber  vergängliche  Wesen.  Diese  Götterlehre  bedeutet  keines- 
wegs einen  Bruch  mit  dem  Volksglauben,  sondern  versucht  die  nationalen 
Götter  tiefer  zu  erfassen  und  umzudeuten.  Dem  göttlichen  Gesamtwillen 
treten  in  den  Einzelwillen  der  Elemente  und  den  freien  Entscheidungen  der 
Einzeldinge  Hemmungen  entgegen,  aus  deinen  Unrecht  und  Sünde  entspringen. 
Der  Gipfelpunkt  der  jonischen  Philosophie  ist  H  e  r  a  k  1  i  t ,  für  den  die 
Gottessubstanz  die  allen  Wandlungen  zugrunde  liegende  Vernunft,  somit  das 
Weltgesetz  ist.  Die  Gottesvernunft  ist  in  der  mit  ihr  identischen  menschlichen 
Vernunft  tätig,  und  die  Sprache  als  eine  unmittelbare  Schöpfung  der  letzteren 
ein  organischer  Bestandteil  der  Gottheit.  Der  Begriff,  der  sich  in  der  mensch- 
lichen Vernunft  bildet,  ist  der  adäquate  Ausdruck  des  Wesens  der  Dinge, 
d.  h.  Denken  und  Sein  sind  identisch. 

Für  die  P  y  t  a  g  o  r  ä  e  r  ist  das  Charakteristische  der  Welteinheit  nicht 
mehr  der  einheitliche  Stoff,  sondern  die  Einheit  der  Form.  Nicht  aus  dem 
wandelbaren  Stoff,  sondern  aus  der  Form,  den  äußeren  Form  Verhältnissen, 
Maß  und  Zahl,  bildet  sich  unsere  Erkenntnis.  Die  Einzelformen  gehen  alle 
auf  ein  göttliches  Formprinzip  zurück,  das  mit  dem  Feuer  als  dem  form- 
gebenden Element  identifiziert  und  als  höchster  Gott  oder  Zeus  bezeichnet 
wird.  Bestimmte  Einzelformen  werden  bestimmten  Göttern  des  Volksglaubens 
gleichgesetzt.    Ihre  Aufgabe  ist  der  Kampf  mit  der  widerstrebenden  Materie. 


Rezensionen.  131 

Die  Einigung  von  Stoff  und  Form,  die  Harmonie,  führt  zur  Bildung  der  Einzel- 
dinge. Auch  die  Seele,  das  Formprinzip  des  animalischen  Körpers,  wird 
als  Harmonie  bezeichnet.  Wie  die  Formen  überhaupt  ist  auch  die  Seele  aus 
Feuerstoff  gebildet.  Das  Dogma  von  der  Seelenwanderung  übernahmen  die 
Pytagoräer  von  den  Orphikern  aus  religiösen  Rücksichten,  ohne  es  erklären 
zu  können.  Die  religiöse  Erfassung  der  Welt  und  des  Lebens  beherrscht  alles 
Denken,  Fühlen  und  Handeln  der  Pytagoräer. 

Xenophanes  übernimmt  von  den  Pytagoräern  den  dualistischen 
Gedanken,  indem  er  die  Gottessubstanz  von  der  elementaren  Materie  scheidet, 
von  den  älteren  Joniern  das  Dogma  von  der  Einheitssubstanz,  die  er  als  eine 
mit  Sinnen   und  Vernunft  begabte  Persönlichkeit  auffaßt  und  als   Gottheit 
bezeichnet.     Sein  Versuch,  die  Einheit  der  Gottheit  begrifflich  zu  erweisen, 
ist  völlig  ungenügend.     Wie  bei  den  Joniern  ist  die  Gottheit  eine  materielle 
Substanz.     Sie  steht  in  organischer  Verbindung  mit  der  Materie,  deren  vier 
Grundformen  Wandlungen  einer  Materie,  des  Erdelements,  sind.    Die  Materie 
als  solche  ist  tot  und  unbewegt,  ihre  Bewegung  ist  durch  die  Gottessubstanz 
bedingt.    So  nehmen  zwei  verschiedene  Substanzen  denselben  Raum    ein;  die 
Gottessubstanz  erscheint  also   als  ein   geistiger  Begriff.      Daß   Xenophanes 
außer  dem  einen  Gotte  noch  untergeordnete  Gottheiten  angenommen  habe, 
ist  nicht  wahrscheinlich.     Parmen  ides  schließt  sich  in  der  Charakteri- 
sierung der  Einheitssubstanz  an  Xenophanes  an  und  entwickelt  ebenso  wie 
dieser  seine  Beweisführung  aus  dem  Begriffe  selbst.    Da  das  logische  Denken 
aus  der  Gottesvernunft  selbst  stammt,  so  muß  sich  das  Seiende  in    seiner 
Realität  mit  dem  Begriff  decken.    Aus  dem  Begriffe  des  Seienden  folgt  aber 
in  erster  Linie,  daß  es  unwandelbar  in  Zeit  und  Raum  ist.    Diese  Überwertung 
des  begrifflich  fixierten  Seins  hat  zu  der  verständnislosen  Verachtung  des 
Weltgeschehens    geführt.       Nicht    metaphysisch,    sondern    physikalisch    will 
Parmenides   sein    Seiendes   verstanden    wissen.       Pytagoräisch-heraklitischen 
Einflüssen  folgend,  bestimmt  er  es  näher  als  das  Feuer.    Dem  Seienden  tritt 
die  wandelbare  Stoffmasse  entgegen,  die  als  das  Nichtseiende  bezeichnet  wird 
und  in  der  Erde  konzentriert  ist.   Die  Art  der  Einwirkung  der  feurigen  Gottes- 
substanz  auf  die  Materie  ist  für  Parmenides  ein  unlösbares  Rätsel,  er  versucht 
aber  eine  wahrscheinliche  Erklärung  zu  geben.    Obgleich  es  nach  Parmenides 
für  das  logische  Denken  nur  einen  Gott  gibt,  versucht  er  zur  Befriedigung  des 
Gemüts    einen    Ausgleich    zwischen    der    eigenen    Welt konsl Miktion    und    den 
religiösen   Traditionen  nach  Art  der  Jonier  und    Pytagoräer  herbeizuführen. 
Empedokles  kombiniert  monistische    und  dualistische  <  .'edanken  zu 
einein   mystischen,  widerspruchsvollen  Welt!)  ilde,  indem  er  /.war  der  Materie. 
den  Joniern  folgend,  eine  zentrale  Stellung  anweist,  die  bewegende  Kraft  aber 
loslöst  und  verselbständigt.     Die  Materie  verliert  bei  ihm  ihre  absolute  Ein- 
heitlichkeit, indem  er  vier  verschiedene  Klenientarsubstanzen  von  selbständiger 
Struktur  lehrt  urd  jede  mit  einer  Gottheil  des  Volksglaubens  identifiziert. 
Die  den  Elementen  übergeordneten  urd  v<  n  ihnen  völlig  unabhängigen  Kräfte 
der  Anziehung  und  Abstoßung,  die  aber  auch  räumlich  ausgedehnte  Wesen- 
heiten sind,  vei  einigen  in  sich  alle  Initiative.    Aber  sie  handeln  nicht  in  freu  m 
Entschlüsse,  nichl   cach  einem  festen  Gesetze,  sondern  werden  planlcs  und 

9* 


132  Rezensionen. 

ordnungslos  von  einer  blinden  Zufallsmacht,  der  ärdyxr},  in  Bewegung  ge- 
setzt. Wie  eine  bewußte  Reaktion  gegen  diesen  Standpunkt  erscheint  die 
Weltanschauung  Anaxagoras',  der,  obgleich  auch  auf  dualistischem 
Boden  bauend  eine  einheitliche  Weltanschauung  erstehen  läßt.  »Sein  Nus  ist 
die  schöpferische,  ordnende  Gottesvernunft,  die  die  Kosmosbildung  zum 
Zweck  hat.  Damit  knüpft  Anaxagoras  an  die  Jonier  an,  läßt  aber  die  Vernunft 
nicht  wie  jene  sich  aus  der  Materie  selbst  entwickeln,  sondern  stellt  sie  dieser 
als  höheren  Weltfaktor  gegenüber.  In  der  Materie  sieht  Anaxagoras  abweichend 
von  seinen  Vorgängern  nicht  nur  die  vier  Elementarformen,  sondern  eine 
Mischung  der  Keime  aller  in  der  Welt  vorkommenden  Gebilde.  Auf  Scheidung 
und  Vereinigung  dieser  Weltkeime  geht  alles  kosmische  Geschehen  zurück. 
Was  den  Nus  bewogen  hat,  seine  Ruhe  und  Isolierung  zu  verlassen  und  an  die 
Materie  heranzutreten,  hat  Anaxagoras  nicht  erklärt.  Das  Wirken  des  Nus 
besteht  darin,  daß  er  die  der  Materie  inhärenten,  zwecklos  und  im  Wider- 
streite mit  einander  tätigen  Kräfte  seinem  Ziele  unterordnet,  dessen  Durch- 
führung sich  bis  in  Ewigkeit  fortsetzt.  In  dem  Nus  ist  alle  Göttlichkeit  kon- 
zentriert, neben  ihm  ist  für  die  Götter  des  Volksglaubnes  kein  Platz.  Der 
Gottheit  des  Xenophanes  ähnlich  ist  der  Nus  auch  als  Substanz  zu  fassen. 
Wie  er  aber  durch  seine  Beweglichkeit  weit  über  diesen  hinausgeht,  läßt  er 
besonders  die  Gottheiten  der  früheren  Denker  weit  hinter  sich,  indem  er  über 
aller  Materie  steht  und  sich  damit  dem  Begriffe  des  rein  Geistigen  nähert. 
Dem  Nus  eignet  die  höchste  Sittlichkeit.  Daher  verleiht  er  der  menschlichen 
Seele,  indem  er  in  sie  als  ihr  Bestandteil  eingeht,  das  sittliche  Streben. 

In  Anaxagoras  System  haben  wir  den  reinsten  Ausdruck  des  Monotheismus. 
Mit  ihm  hat  sich  die  Philosophie  von  der  Volksreligion  losgelöst.  Nach  ihm 
hat  sich  die  Philosophie  verschieden  zur  Volksreligion  verhalten.  Die  sophi- 
stische Spekulation,  die  alle  kosmischen  Werte  ihrer  absoluten 
Geltung  entkleidete,  zog  natürlich  auch  die  Götter  in  den  Bereich  ihres  Zweifels. 
Für  sie  gab  es  keine  Gottesvernunft  und  keine  Götter  mehr.  Sokrates 
dagegen  gelten  die  Götter  wieder  als  Realitäten,  die  über  jeden  Zweifel  er- 
haben sind.  Gilberts  weitere  Ausführungen  über  Sokrates  sollen  hier  über- 
gangen werden,  da  sie,  auf  unsicheren  Boden  aufgebaut,  nicht  haltbar  sind. 
Gilbert  stützt  sich  nämlich  auf  die  Platonischen  Dialoge  bis  zum  Phädon 
inklusive,  in  denen  seiner  Meinung  nach  Plato  ein  Gesamtbild  der  ganzen 
Weltanschauung  des  Sokrates  entwirft.  Die  Auffassung  des  Phädon  als  einer 
historischen  Darstellung  von  Sokrates'  letzten  Gesprächen  kann  nun  aber  als 
überwunden  angesehen  werden,  da  die  Lehren  des  Phädon  sich  von  denen 
der  früheren  Dialoge  allzuweit  entfernt  haben.  Auch  die  Tatsache,  daß  sich 
der  von  den  Dialogen  bis  zum  Phädon  eingenommene  Standpunkt  verändert 
hat,  spricht  gegen  die  Auffassung  dieser  Dialoge  als  einer  Gesamtdarstellung 
der  sokratischen  Weltanschauung.  Außerdem  war  Plato,  als  er  den  Phädon 
schrieb,  schon  etwa  45  Jahre  alt,  und  es  ist  anzunehmen,  daß  er  dann  schon 
eigene  und  nicht  Sokratische  Lehren  vortrug.  Endlich  ist  die  Annahme,  Plato 
habe  bis  zum  Phädon  inklusive  sokratische,  in  den  folgenden  Dialogen  aber 
eigene  Lehren  vorgetragen,  durchaus  willkürlich. 

Durch   die   Auffassung   von   Sokrates   leidet   auch   die   Darstellung    der 


Rezensionen.  1 3 

Philosophie  P  1  a  t  o  s.  Die  erste  Entwicklungsperiode  Piatos  geht  bei  Gilbert 
verloren,  denn  sie  ist  ja  Sokrates  zugeschrieben  worden.  Daher  ist  für  Gilbert 
die  weitere  Entwicklung  Piatos  nichts  als  eine  Ausführung  und  Vertiefung 
Sokra tischer  Gedanken,  und  erst  die  unter  den  Einflüssen  der  Pytagoräer 
und  Eleaten  stehenden  Dialoge  des  Alters  führen  nach  Gilbert  weit  ab  von  den 
Geleisen  sokratischer  Spekulation.  Gilbert  ist  bemüht,  zu  erweisen,  daß  gleich 
Sokrates  auch  Plato  mit  beiden  Füßen  fest  auf  dem  Boden  nationalen  Glaubens 
steht.  Dies  kann  jedoch  nicht  bedingungslos  angenommen  werden.  Indem 
Gilbert  seine  Behauptung  auf  die  mythischen  Partien  der  Platonischen  Dialoge 
gründet,  übersieht  er,  daß  Plato  dann  zur  mythischen  Darstellung  greift, 
wenn  seine  Gedanken  sich  noch  nicht  zu  Begriffen  kristallisiert  haben,  und 
daß  seine  Mythen  nicht  wörtlich  genommen  werden  dürfen,  weil  sie  mit  den 
gangbaren  und  dem  Leser  geläufigen  Vorstellungen  und  Anschauungen 
operieren.  Jedenfalls  ist  die  Götterwelt  Piatos  weit  über  die  Götter  des  Volks- 
glaubens erhaben.  Gilberts  Darstellung  der  Platonischen  Philosophie  ist 
ferner  durchdrungen  von  der  Überzeugung,  daß  nicht  der  logische,  sondern 
der  religiöse  Gesichtspunkt  für  Plato  der  entscheidende  ist.  Diese  Überzeugung 
kann  aber  auch  nur  mit  Einschränkungen  gelten.  Während  sie  einerseits 
Gilbert  zu  einer  wohlbegründeten  Ablehnung  der  Natorpschen  Auffassung  der 
Ideenlehre  als  eines  transzendentalen  Idealismus  veranlaßt,  führt  sie  ihn 
andererseits  zu  einer  einseitigen  Auffassung  der  Ideenlehre.  Er  versteht  die 
Ideen  als  überkosmische  Substanzen,  welche  in  mystischen  Prozessen  sich 
mit  den  Dingen  verbinden.  Zwischen  dem  überkosmischen  Reiche  der  Ideen 
und  den  irdischen  Dingen  nehmen  die  Götter  und  Dämonen  eine  Mittler- 
stellung ein.  Die  Idee  des  Guten  faßt  Gilbert  als  ein  lebendiges  und  persönliches 
Wesen,  die  von  den  Grenzen  der  Welt  aus  ihre  Wirkung  auf  die  Materie  des 
Kosmos  ausübt.  Auch  diese  Anschauungen  entspringen  aus  des  Verfassers 
Auffassung  der  Platonischen  Mythen  als  ernst  gemeinter  Lehren. 

Aristoteles  hat  sich  nach  Gilbert  hauptsächlich  dadurch  als  echter 
Platoniker  erwiesen,  daß  er  auch  die  Gottheit  mit  den  Enden  des  Kosmos 
organisch  verbindet.  Da  Aristoteles  nun  die  Gottessubstanz  als  immateriell 
charakterisiert  hat,  so  muß  er  natürlich  durch  ihre  räumliche  Fixierung  bei 
der  Darlegung  des  Wechselverhältnisses  von  Gott  und  Welt  in  unlösbare  Wider- 
sprüche geraten.  Diese  Substanz  zu  einer  rein  geistigen  Potenz  zu  erheben, 
hat  Aristoteles  nicht  vermocht.  In  dieser  Beschränkung  bleibt  die  Gottheit 
in  aristotelischer  Auffassung  das  Höchste  was  antikes  Denken  geschaffen  hat. 
Gott  ist  die  absolute  Energie  und  löst  im  Kosmos  immer  neue  bewegende 
Kräfte  aus.  Aul  ihn  geht  alle  Bewegung,  wie  sie  in  unendlich  verschiedener 
Weise  das  Werden  der  Dinge  bestimmt  und  beherrscht,  zurück.  Der  Gegenpol 
zur  Gottheit  ist  die  ewige,  ungewordene,  an  sich  von  der  Gottheit  völlig  un- 
abhängige Materie.  Aristoteles  schließt  sich  also  an  die  dualistischen  Vor- 
stellungen der  Pytagoräer  und  Piatos  an,  nimmt  aber  an  ihnen  eine  bedeutsame 
Korrektur  vor,  indem  er  sie  nicht  als  ein  der  Gottheit  feindliches  Prinzip, 
sondern  als  ein  der  Gottheil  /.um  Aulhau  der  Welt  dienliches  Baumaterial 
ansieht.  Unter  der  Einwirkung  der  Gottheit  vollzieht  sich  der  Wandel  der 
Materie  in  einer  festen  Ordnung.     Gott  steht  aber  nicht  nur  am  Anfang  der 


134  Rezensionen. 

Weltevolution,  sondern  ist  auch  ihr  Endpunkt.  Der  Weltplan  ist  der  Gedanke 
Gottes  und  gelangt  in  dem  erreichten  Ziel  zum  Ausdruck.  Gott  ist  das  Gute, 
das  Schöne,  das  Beste.  Die  Materie  ist  daran  schuld,  daß  die  göttlichen  In- 
tentionen sich  nicht  immer  vollkommen  realisieren  lassen.  In  der  Überwindung 
der  Materie  und  in  ihrer  Erhebung  zum  Mittel  für  die  Durchführung  der 
göttlichen  Pläne  hat  Aristoteles  einen  entscheidenden  Schritt  vorwärts  zur 
monistischen  Welterklärung  getan.  Dabei  hält  er  aber  die  Gestirne  und  die 
ätherischen  Sphären  für  Einzelgötter,  die  dem  höchsten  Gottesprinzip  unter- 
geordnet sind  und  erkennt  so  die  Berechtigung  des  Volksglaubens  im  all- 
gemeinen durchaus  an.  Aus  dieser  ätherischen  Substanz  stammt  die  mensch- 
liche Seele,  die  Vernunft  des  Menschen  aber  entstammt  direkt  dem  höchsten 
Gottesprinzip.  Was  die  Lehre  vom  vovg  7iot>]Tix6g  und  voZg  Tiu&rjTixög  an- 
betrifft, so  tritt  Gilbert  für  die  Identität  beider  vovg  ein,  indem  er  die  Aktivität 
und  Passivität  des  vovg  als  seine  wechselnden  Phasen  betrachtet.  Mit  dieser 
Auffassung  kann  sich  der  Rezensent  jedoch  nicht  einverstanden  erklären,  da 
sie  das  von  Aristoteles  in  de  an.  III,  5,  430  a  10  ff.  ausdrücklich  ausgesprochene 
Prinzip,  der  in  der  Natur  beobachtete  Gegensatz  von  dvvafJig  und  evEoysiu 
solle  auch  auf  dem  Gebiete  der  Psychologie  durchgeführt  werden,  ignoriert. 
Im  Übrigen  verweist  der  Rezensent  für  diese  Frage  auf  seinen  Aufsatz  in 
Band  22  (1909)  unserer  Zeitschrift,  S.  493. 

Bei  der  Darstellung  des  atomistischen  Materialismus  ist 
Gilbert  in  seinem  Streben  die  Göttlichkeit  der  welterklärenden  Prinzipien 
in  der  griechischen  Philosophie  nachzuweisen  zu  weit  gegangen.  Seine  Auf- 
fassung des  demokritischen  Feuerstoffes  als  einer  Art  Weltseele  und  die 
Meinung,  daß  die  einzelnen  Feueratome  die  Fähigkeit  zu  empfinden  und  zu 
denken  besitzen,  sind  falsch. 

Glücklicher  hat  Gilbert  die  Grundidee  seines  Buches  bei  der  Darstellung 
der  tiefreligiösen  Welterfassung  der  Stoiker  durchgeführt. 

P.  Bokownew. 

Franz  Brentano,  Aristoteles  und  seine  Weltanschauung.  153  S. 
Quelle  und  Meyer,  Leipzig  1911. 
Brentano  hat  die  Tendenz  seines  Buches  im  Vorwort  selbst  charakte- 
risiert. Er  wendet  sich  gegen  die  Mehrheit  der  heutigen  Aristotelesinterpreten, 
die,  seiner  Meinung  nach,  in  ihren  Darlegungen  der  Aristotelischen  Philo- 
sophie uns  etwas  Unharmonisches  voller  greifbarer  Absurditäten  bieten. 
„Wenn  sie  bei  ihrer  Forschung  auf  Sätze  stoßen,  die  aufs  auffälligste  ein- 
ander zu  widersprechen  scheinen,"  sagt  Brentano,  „so  nehmen  sie  ohne  wei- 
teres an,  daß  hier  wirklich  Unvereinbares  gelehrt  werde  und  fragen  darauf- 
hin nur  noch,  ob  man  sich  bei  der  Darstellung  mehr  an  diese  oder  jene  Be- 
hauptung zu  halten  habe.  Und  doch  liegt  hier  die  Vermutung  nahe,  jene 
Stellen  möchten  sich  auch  in  einem  anderen  Sinne  deuten  lassen,  der  die  eine 
mit  der  anderen  in  Einklang  bringt,  wo  dann  das,  was  dem  Verständnis  eine 
Schwierigkeit  zu  bereiten  schien,  ihm  vielmehr  sur  Erleichterung  dient.  .  .  . 
Vielleicht  verlangt  die  Erklärung  des  Zusammenhangs  des  einen  mit  dem 
anderen  Ausspruch  gewisse  vermittelnde  Glieder,  und  so  enthüllt  sich  uns 


Rezensionen.  135 

dann  das  Ganze  der  Aristotelischen  Lehre  in  viel  größerer  Vollständigkeit." 
Es  ist  klar,  daß  Brentano  in  seinem  Streben  Unklarheiten  und  Widersprüche 
des  Aristoteles  wegzuretuschieren  uns  nicht  den  wirklichen,  sondern  einen 
idealisierten  Aristoteles  gibt.  Obgleich  Brentano  in  seinem  Abschnitt  über 
die  Schriften  des  Aristoteles  (S.  9  ff.),  der  neben  dem  über  das  Leben  des  Ari- 
stoteles zu  den  besten  des  Buches  zählt,  die  mangelhafte  Redaktion  der  Aristo- 
telischen Schriften  richtig  einschätzt,  so  ist  er  doch  fortwährend  bemüht, 
die  mannigiachen  widerspruchsvollen  Äußerungen  Aristoteles'  miteinander 
verträglich  erscheinen  zu  lassen.  Aber  nicht  nur  die  Schriften,  sondern  auch 
gerade  den  Gedankenbau  des  Aristoteles  spricht  er  von  Widersprüchen  und 
Unklarheiten  frei.  Für  ihn  ist  Aristoteles  der  Philosoph,  in  dessen  Denken 
keine  Inkonsequenzen  vorkommen.  Der  ist  Aristoteles  in  Wirklichkeit  aber 
nicht,  und  darum  leistet  Brentano  der  Aristotelesforschung  keinen  Dienst, 
wenn  er  z.  B.  „unsere  modernen  Interpreten"  dafür  rügt,  daß  sie  Aristoteles 
lehren  lassen,  die  Materie  gelange  zur  Wirklichkeit  vermöge  ihres  Begehrens 
nach  der  Gottheit  (92  ff.).  Gewiß  ist  diese  Lehre  nicht  konsequent,  da  nach 
Aristoteles  einerseits  das  Begehren  der  Materie  sich  in  der  Weise  darstellen 
würde,  daß  die  Materie  vor  allem  die  Gottheit  denke,  und  indem  sie  sie  denke, 
gut  finde,  ihr  ähnlich  zu  sein,  und  so  nach  ihr  begehre,  andrerseits  aber  die 
Materie  gar  nicht  denken,  geschweige  denn  die  Gottheit  denken  könne.  Es 
ist  gut,  eine  solche  Insonkequenz  des  Aristoteles  hervorzuheben,  wie  das 
..unsere  modernen  Interpreten"  getan  haben,  denn  das  führt  uns  zu  den 
innersten  treibenden  Kräften  des  Aristotelischen  Denkens.  Es  ist  aber  weniger 
gut,  wie  Brentano  das  Begehren  der  Materie  nach  der  Gottheit  als  einen  me- 
taphorischen Ausdruck  für  die  Einwirkung  der  Gottheit  auf  die  Materie  zu 
deuten.  Warum  denn  dem  Aristoteles  eine  so  unglückliche  metaphorische 
Wendung  zuschreiben?  Warum  sollte  Aristoteles  statt  zu  sagen,  was  er  ge- 
meint habe:  „Die  Gottheit  wirkt  auf  die  Materie"  gesagt  haben:  „Die  Ma- 
terie begehrt  nach  der  Gottheit"?  Offenbar  nur,  weil  er  das  Problem  nicht 
so  konsequent  durchdacht  hatte  wie  sein  Ausleger  Brentano. 

Ein  anderes  Beispiel  für  die  Methode  Brentanos  (S.  97).  Aristoteles 
lehrt  einerseits,  die  Gottheit  in  ihrer  Vollkommenheit  habe  keine  Kenntnis 
vom  Schlechten,  andrerseits  sei  es  mit  der  Vollkommenheit  der  Gottheit  nicht 
vereinbar,  wenn  irgendwelche  Wahrheit  von  seinem  Wissen  ausgeschlossen 
wäre.  Die  richtige  Lösung  der  Schwierigkeit  ist  nach  Brentano  diese:  es 
gibt  nichts  Schlechtes  in  der  Welt,  denn  die  Welt  ist  in  unendlicher  Weisheit 
geordnet  und  erscheint  als  das  denkbar  vollkommenste  Werk;  die  Teile  der 
Welt  mögen,  losgelöst  vom  Ganzen  gedacht,  tadelnswert  erscheinen,  im  Zu- 
sammenhang mit  dem  Ganzen  betrachtet,  erscheinen  sie  aber  aufs  beste  ge- 
rechtfertigt. Nur  in  dieser  Weise  erkennt  die  Gottheit  die  Welt;  daher  muß 
die  Gottheit  nicht  etwas  Schlechtes  erkennen,  wenn  sie  die  Welt  erkennt. 
Hier  haben  wir  es  wiederum  nicht  mit  der  wirklichen  Lehre  des  Aristoteles, 
sondern  mit  ihrer  Weiterinidung  durch  Brentano  zu  tun.  Denn  die  Welt 
ist  in  der  Auffassung  des  Aristoteles  nicht  so  vollkommen,  wie  Brentano  ihn 
lehren  läßt.  Brentano  wird  der  Aristotelischen  Materie,  der  Ursache  aller 
Hemmungen  und  Unvollkoinmenheiten,  nicht  gerecht. 


136  Rezensionen. 

Wenn  beide  Beispiele  zeigen,  daß  Brentano  die  Aristotelische  Lehre 
umbildet,  so  zeigen  sie  auch,  nach  welcher  Richtung  hin  er  sie  umbildet.  So 
tadelnswert  es  auch  ist,  diese  Umbildung  für  Aristotelische  Lehre  auszu- 
geben, so  sehr  er  dafür  den  Vorwurf  verdient,  den  er  für  seine  Ausführlich- 
keit glaubt  fürchten  zu  müssen,  nämlich  er  habe  Aristoteles  gar  vieles  in  den 
Mund  gelegt,  woran  dieser  selbst  nicht  gedacht  habe,  so  sehr  spricht  es  für 
das  tiefe  Verständnis,  das  Brentano  den  Intentionen  des  Aristoteles  entgegen- 
bringt, wenn  er  seine  Lehre  nach  der  Richtung  hin  umbildet,  die  auch  Aristo- 
teles erstrebte.  Aristoteles  war  bemüht,  die  Materie  zu  überwinden  und 
einen  reinen  Monismus  herzustellen,  hat  dieses  Ziel  aber  nicht  erreicht.  Den 
für  Aristoteles  charakteristischen  Dualismus  von  Stoff-  und  Formprinzip 
sucht  Brentano  zu  beseitigen,  indem  er  der  Materie  die  Realität  raubt,  welche 
ihr  Aristoteles  zuschreibt. 

Wie  schon  oben  erwähnt,  liegt  ein  Verdienst  des  Verfassers  in  den  Ab- 
schnitten über  das  Leben  und  die  Schriften  des  Aristoteles.  Nur  wer  sich 
mit  so  viel  Gründlichkeit  und  Liebe  in  Aristoteles'  Schriften  versenkt  hat 
wie  Brentano,  kann  eine  so  treffliche  Charakteristik  der  Aristotelischen  Dar- 
stellungsweise geben.  Sehr  dankenswert  ist  das,  was  der  Verfasser  über  den 
lauteren  Charakter  und  die  edle  Persönlichkeit  des  Aristoteles  sagt,  um  so 
mehr,  als  Aristoteles  heutzutage  so  viel  geschmäht  wird. 

P.  Bokownew. 

Franz  Brentano,  Aristoteles'  Lehre  vom  Ursprung  des  menschlichen 
Geistes.  VIII  und  165  S.  Veit  &  Comp.,  Leipzig  191L 
Brentano  erneuert  in  diesem  Buch  eine  alte,  vor  fast  30  Jahren  be- 
gonnene Polemik  gegen  Zeller.  Auf  Brentanos  Abhandlung  „Über  den  Crea- 
tianismus  des  Aristoteles"  vom  Jahre  1882  hatte  Zeller  noch  in  demselben 
Jahre  eine  Entgegnung  folgen  lassen.  Das  Neuerscheinen  dieser  Zellerschen 
Schrift  im  ersten  Bande  der  Sammlung  von  Zellers  „Kleinen  Schriften"  hat 
nun  dieses  Buch  hervorgerufen.  Es  ist  vielleicht  doch  nicht  mehr  so  lohnend 
wie  der  Verfasser  meint,  diese  alte  Polemik  zu  erneuern,  da  Zellers  Inter- 
pretationen der  Aristotelischen  Nuslehre,  insbesondere  seine  Auffassung  von 
der  Teilung  des  Nus  in  einen  vovg  TtovtjTtxvg  und  vovg  7ru&rjTix6g,  im  Laufe 
der  Zeit  schon  als  unzulänglich  erkannt  worden  ist.  Der  erste  Teil  des  Buches  ist 
ein  Abdruck  der  erwähnten  Abhandlung  „Über  den  Creatianismus  des  Aristo- 
teles", der  zweite  behandelt  die  Einwände  Zellers  und  stellt  ihnen  Widerlegungen 
gegenüber.  Die  beiden  aufeinanderstoßenden  Auffassungen  der  Aristote- 
lischen Nuslehre  sind  in  Kürze  folgende:  Zeller  lehrt  die  Präexistenz  des 
Nus,  Brentano  lehrt,  daß  die  schöpferische  Kraft  der  Gottheit  auf  einer  ge- 
wissen Stufe  der  fötalen  Entwicklung  den  Nus  zu  den  niederen  Seelenteilen 
hinzufügt  —  das  ist  der  Creatianismus  des  Aristoteles.  Auf  die  Einzelheiten 
der  Kontroverse  einzugehen,  erlaubt  der  Rahmen  einer  Rezension  nicht. 
Es  sei  nur  über  die  Methode  Brentanos  ganz  allgemein  bemerkt,  daß  er  bei 
der  Aristotelesinterpretation  wie  ein  echter  Nachfolger  des  Thomas  von  Aquino 
verfährt,  indem  er  wohl  die  Schwierigkeiten  und  Lücken  im  Aristotelischen 
Denken  scharf  ins  Auge  faßt,  aber  sie  immer  auszugleichen  und  zu  über- 


Rezensionen.  137 

brücken  bestrebt  ist.  Die  absolute  Einheitlichkeit  und  Konsequenz,  die  Bren- 
tano dem  System  des  Aristoteles  und  besonders  seiner  Nuslehre,  in  der  alle 
Fäden  des  Aristotelischen  Denkens  zusammenlaufen,  zuschreibt,  lassen  sich 
wohl  kaum  noch  aufrecht  erhalten.  P.  Bokowne  w. 

Hans  Kurfeß,  Zur  Geschichte  der  Erklärung  der  Aristotelischen  Lehre 
vom  sog.  vovq  TtoirjTixug  und  7va&r]Tix6g-  Dissertation.  VIII  und  60  S. 
G.  Schnürten,  Tübingen  1911. 
Der  Verfasser  behandelt  sehr  eingehend  die  bedeutendsten  Erklärungen, 
die  die  Lehre  vom  voic  ttoujtixoq  und  vovg  na&r\Tixog  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte, angefangen  von  Aristotels'  ersten  Kommentatoren  bis  herab  zur 
Gegenwart,  erfahren  hat.  Ausgehend  von  der  Überzeugung,  daß  keine  Er- 
klärung, mag  sie  sich  auch  auf  Aristotelische  Aussprüche  gründen,  befrie- 
digte, weil  jede  von  ihnen  einseitig  das  eine  oder  andere  Wort  des  Aristo- 
teles betonte,  unterzieht  sich  der  Verfasser  der  sehr  lohnenden  Aufgabe  durch, 
eine  historische  Betrachtung  der  Erklärungen  eine  breite  Basis  für  einen 
Lösungsversuch  zu  schaffen.  Indem  Kurfeß  bemüht  ist,  die  organische  Ein- 
heit der  einzelnen  Erklärungen  möglichst  hervortreten  zu  lassen,  zeichnet 
er  mit  großer  Klarheit  die  eine  über  die  andere,  so  daß  wir  auf  die  verschie- 
denen Momente  aufmerksam  werden,  die  das  Problem  in  sich  schließt.  Die 
Zusammenstellungen  früherer  Erklärungen,  die  vor  mehreren  Jahrzehnten 
Brentano  und  andere  gemacht  hatten,  benutzend,  bearbeitet  er  weit  voll- 
ständiger die  Erklärungen  des  Problems  im  Altertum  und  im  Mittelalter  und 
legt  dann  den  Schwerpunkt  auf  die  wichtigsten  neuesten. Erklärungen,  ohne 
dabei  Vollständigkeit  anzustreben,  um  dadurch  die  früheren  Zusammen- 
stellungen nach  dem  neuesten  Stand  zu  ergänzen.  Die  Gründlichkeit  der  Ar- 
beit läßt  es  wünschenswert  erscheinen,  daß  Kurfeß  recht  bald  die  in  Aus- 
sicht gestellte  zusammenfassende  Untersuchung  über  die  Nuslehre  liefern  möge. 

P.  Bokowne  w. 

Visvald  Sanders,  Der  Idealismus  des  Parmenides.  Dissertation. 
München  1910.  (76  S.). 
Sanders  versucht  zu  beweisen,  daß  Parmenides  mit  dem  Sein  nicht 
eine  materielle  Substanz,  sondern  ein  ,,intelligibles"  Sein  gemeint  und  somit 
die  Ideenlehre  begründet  habe.  Dieser  Versuch  ist  aber  verfehlt,  da  aus  der 
Beweisführung  Schwierigkeiten  und  Widersprüche  erwachsen,  die  der  Ver- 
fasser nicht  imstande  ist .  zu  lösen,  so  die  Kugelgestalt  des  Seins  und  die  Lehre, 
daß  das  Sein  voll  {t/jjvleov)  sei.  Schon  die  These,  daß  das  Sein  „intelligibel" 
sei,  deutet  auf  eine  Unklarheit  der  Begriffe.  Es  ist  ganz  offenbar,  daß  der 
Verfasser  das  Sein  als  ein  logisch-transzendentales  verstanden  wissen  will. 
Dafür  ist  ,, intelligibel"  aber  nicht  der  geeignete  Ausdruck,  da  es  nach  antiker 
Auffassung  intelligible  stoffliche  Substanzen  gibt,  so  das  Feuer  Heraklits. 
das  niouQ  der  Pytagoräer,  den  vovq  des  Anaxagoras.  Konsequent  denkt 
der  Verfasser,  wenn  er  bei  seiner  Auffassung  vom  Sein  des  Parmenides  den 
zweiten  Teil  des  Pannenideischen  Gedichtes  nicht  als  Meinung  des  Panne- 
nides selbst,  sondern   als  Bammhing   fremde!   Leinen   ansieht,  operiert   doch 


138  Rezensionen. 

Parmenides  hier  mit  zwei  materiellen  Prinzipien,  Feuer  und  Erde,  die  dem 
Sein  und  Nichtsein  des  ersten  Teiles  entsprechen.  Mit  Unrecht  schenkt  aber 
der  Verfasser  Arist.  Metaph.  I,  5,  986  b  33 — 987  a  2,  wo  davon  die  Rede  ist, 
daß  diese  Prinzipien  einander  entsprechen,  nur  wenig  Beachtung  (S.  45). 
Um  ein  Bedeutendes  erschwert  er  sich  seine  Aufgabe,  indem  er  einerseits 
nachzuweisen  sucht,  daß  die  Parmenideische  .Scheinlehre  Anaximandrisch- 
Heraklitische  Welterklärungen  enthält,  andrerseits  Parmenides  gegen  Heraklit 
polemisieren  läßt,  ohne  angeben  zu  können,  von  welchem  Standpunkt  aus 
Parmenides  gegen  Heraklit  polemisiere.  P.  Bokownew. 

J.  J.  Jagodinsky,  Der  Sophist  Protagoras.  Kasan  1906.  In  russischer 
Sprache.     35  S. 

Diese  Monographie  behandelt  Leben  und  Lehren  des  Protagoras.  Die 
Darlegung  seiner  Philosophie  wird  auf  die  Referate  Piatos,  Aristoteles'  und 
des  Sextus  Empirikus  gegründet.  In  der  Beurteilung  der  Quellen  schließt 
sich  der  Verfasser  an  Zeller  an.  Die  Philosophie  des  Protagoras  wird  auf  fol- 
gende Lehrsätze  zurückgeführt:  1.  die  Materie  ist  fließend;  2.  die  Materie 
ist  qualitätslos;  3.  das  Wissen  stammt  aus  den  Sinnesempfindungen;  4.  die 
wahre  Gestalt  des  Seins  ist  Relativität;  5.  der  Mensch  ist  das  Maß  aller  Dinge. 
Für  die  Ethik  ergeben  diese  Prinzipien  einen  moralischen  Indifferentismus: 
Protagoras  erkennt  keine  absoluten  moralischen  Vorschriften  an.  Nichts- 
destoweniger versucht  er  die  moralische  Grundlage  der  Gesellschaftsordnung 
zu  erklären.  Als  solche  gelten  ihm  die  in  der  Natur  des  Menschen  begrün- 
deten dixr\  und  aldiJüQ.  Das  widerspricht  nicht  seinem  erkenntnistheore- 
tischen Prinzip,  denn  es  bleibt  dem  Einzelnen  überlassen,  diese  Begriffe  nach 
eigenem  Ermessen  zu  interpretieren.  Während  die  Ethik  des  Protagoras 
eine  vereinzelte  Erscheinung  in  der  griechischen  Philosophie  ist,  bildet  seine 
Erkenntnistheorie  ein  Glied  in  der  Entwicklungsreihe  Heraklit,  Protagoras, 
Demokrit,  Plato.  Protagoras  hat,  Heraklits  Lehre  vom  Weltfeuer  weglassend, 
die  Konsequenzen  seiner  Philosophie  gezogen.  Demokrit  behält  die  Lehre 
von  der  Subjektivität  der  sinnlichen  Qualitäten  bei,  findet  aber,  ein  rationa- 
listisches Element  in  sein  System  aufnehmend,  einen  festen  Stützpunkt  für 
das  Wissen  in  den  Atomen.  Plato  erkannte,  daß  der  Materialismus  wider- 
spruchsvoll ist  und  daß  der  Stützpunkt  für  das  Wissen  nur  in  dem  Gebiet 
des  Geistigen,  den  Ideen,  gefunden  werden  kann. 

Die  Aufstellung  dieser  Entwicklungsreihe  ist  willkürlich  und  unbegründet, 
denn  das  gegenseitige  Verhältnis  von  Protagoras  und  Demokrit  ist  proble- 
matisch, und  zwischen  Demokrit  und  Plato  ist  kein  historischer  Zusammen- 
hang nachzuweisen.  P.  Bokownew. 

Aristotelis     De     anima     libri    III    recognovit    Guilelmus    Bielil, 
editio  altera,  curavit  Otto  Apelt.    Teubncr  1911,   in  der  Biblio- 
theca  scriptorum  Graecorum  et  Romanorum. 
Es  ist  erfreulich  und  dankenswert,   daß  Apelt  die   Biehlsche   Ausgabe 
von  Aristoteles'  de  anima  neu  ediert  hat.    Seit  dem  Erscheinen  der  vorzüg- 
lichen Ausgaben  von  Rodier  (Aristote,  Traite  de  l'äme.     Traduit  et  annote 


Rezensionen.  139 

par  G.  Kodier.  Tom.  I  et  II.  Paris  1900)  und  Hicks  (Aristotle,  de  anima. 
With  translation,  introduction  and  notes  by  R.  D.  Hicks.  Cambridge  1907), 
die  eine  kritische  Zusammenstellung  alles  dessen,  was  seitBiehl  in  der  Text- 
forschung geleistet  worden  ist.  liefern,  war  eine  Xeuedierung  dieses  Werkes 
in  der  Teubnerschen  Bibliothek  notwendig  geworden.  Das  vorliegende  Buch 
zeugt  nicht  nur  von  einer  fleißigen  Benutzung  dieser  beiden  Ausgaben,  son- 
dern weist  auch  sonstige  Fortschritte  im  Vergleich  zur  ersten  Ausgabe  auf. 
Mehrfach  wird  das,  was  in  der  ersten  Ausgabe  noch  als  unentschieden  dahin- 
gestellt war.  zu  einer  glücklichen  Entscheidung  gebracht.  So  findet  sich 
jetzt,  z.  B.  p.  403  b  2  ode  tov  anstatt  des  unbefriedigenden  eld'og  tov 
der  ersten  Ausgabe,  wo  Biehls  schon  bemerkt  hatte,  daß  cds  tov  vielleicht 
richtig  sei,  ohne  sich  entschließen  zu  können,  es  in  den  Text  aufzunehmen. 

P.  B  o  k  o  w  n  e  w. 

J.  L  o  1 1  i  n  ,  Quetelet,  Statisticien  et  Sociologue,  Louvain  et  Paris  (Alcan), 
1912.  — 

Apres  biograpbie  et  bibliographie  critiques,  L.  montre  comment,  imbu 
des  idees  de  Laplace  et  Fourier,  Quetelet  a  considere  la  theorie  des  probabilites 
comme  la  base  des  Sciences  exrerimentales.  Sans  doute,  vu  la  complexite 
des  phenomenes  de  la  nature,  il  est  bon  de  recourir,  pour  plus  de  precision  et 
d'exactitude,  ä  l'observation  de  la  masse,  ä  la  methode  strtlfitique.  Mais  la 
theorie  des  probabilites,  pour  etablir  ses  moyennes  objectives,  suppose  connu 
un  ensemble  de  causes  communes.  Des  conditions  dans  lesquelles  se  pro- 
duisent  les  regularites  statistiques,  nous  ne  savons  ricn  de  semblable.  II  faut 
ceperdant  reconnaltre  qu'ä  mesure  qu'elles  se  reproduisent,  la  probabilite 
de  causes  communes  s'accrcit.  Mais  ce  qui  importe  au  savant,  ce  n'est  pas 
tant  d'inferer  l'existence  des  causes  que  d'en  determiner  la  nature  et  le  modus 
operandi.  Une  regularite  statistique  n'est  pas  une  loi:  eile  ne  nous  apprend 
rien  des  conditions  d'apparition  des  phenomenes.  La  prevision  meme  qu'elle 
fonde  repose  en  realite  sur  la  presomption  de  circonstances  identiques,  mais 
inconnues.  Quetelet  s'est  donc  un  peu  abuse  sur  la  portee  experimentale  de  la 
theorie  des  probabilites. 

La  maniere  dont  Quetelet  comprend  la  statistique  n'est  nullement  ori- 
ginale. Quant  ä  sa  physique  sociale,  eile  n'a  avec  celle  de  Comte,  qu'il  semble 
du  reste  avoir  ignoree,  que  des  analogies  superficielles.  II  n'a  pas  davantage 
connu  ses  autres  precurseurs  et  peut-etre  meme  Condorcet  avec  lequel  il  a  plu- 
sieurs  points  commune.  C'est  de  Laplace  et  de  sa  mecanique  Celeste  qu'il  a  sur- 
tout  ici  sulii  l'influence:  il  a  voulu  creer  une  mecanique  sociale  qui  etudierait 
Iea  lois  qui  regissent  le  Systeme  social.  Au  point  de  vue  statique,  toutes  les 
particularites  individuelles  oscillent  autour  d'un  point  d'equilibre,  veritable 
centre  de  gravite  social,  l'homme  moyen,  tyjie  harmonieux  du  beau  et  du 
bien,  de  la  vertu  et  de  la  sante  dont  ä  chaqueepoque  cesont  les  grands  hominis 
qui  se  rapproehent  le  plus.  Au  point  de  vue  dynarnique,  dont  l'etude  supj>ose 
celle  de  l'homme  moyen,  le  mouvemenl  social  depend  de  deux  ordrea  de 
causes:  les  causes  naturelles,  independantea  de  l'homme,  Boumisea  an  prin- 
cipe de  conservation  des  forces  et  agentfl  tle  d^veloppement   uniforme;   les 


140  Rezensionen. 

causes  perturbatrices,  issnes  de  l'activite  humaine  et  surtout  de  l'intelligence 
et  de  la  Science,  agents  d'evolution  et  deprogres,  tendant  ä  resserrer  les  liniites 
autour  du  type  moyen. 

La  constance  des  donnees  statistiques  (criminalite,  suicide,  mariage 
etc.)  amena  Quetelet  ä  proclamer  la  predominance  des  causes  sociales,  des 
causes  morales  qui  existent  en  dehors  des  individus,  sur  les  initiatives  indivi- 
duelles. Quetelet  a-t-il  ou  non  ete  deterministe  ?  Les  commentateurs  dis- 
cutent  lä-dessus.  En  iait  il  n'a  jamais  soutenu  le  determinisme  de  la  volonte 
individuelle,  mais  peulement  le  determinisme  social  La  liberte  humaine, 
soumise  a  la  raison,  assure  la  regularite  de  la  marche  de  la  societe;  mais  eile 
ne  peut  la  modifier  que  tres  lentement,  car  les  particularites  individuelles 
s'y  neutralisent  pour  ainsi  dire  dans  l'ensenible  des  faits  observes,  qui  seuls 
Interessent  le  statistioien  Le  milieu  social  n'est  pas  essentiellement  variable 
et  il  existe  une  connexion  intime  entre  le  milieu  et  les  faits  moraux  qui  en  de- 
coulent:  sinon  comment  tirer  du  passe  des  lecons  pour  l'avenir?  Quetelet  affirme 
donc  l'influence  du  milieu  sur  les  hommes,  qui  permet  seulement  des  previsions 
d'ensemble;  l'individu  pris  isolement  echappe  ä  toute  conjecture.  Tout 
homme  a  son  libre-arbitre,  mais  les  hommes  en  general  n'en  usent  pas.  Cette 
conception  du  determinisme  social  a  montre  sa  vitalite  en  creant  un  courant 
d'idees  qui  n'est  pas  etranger  aux  theories  sociologiques  actuelles.  On  n'en 
saurait  dire  autant  de  l'hypothese  de  1' homme  moyen,  qui  a  maintenant  vecu. 

Ch.    Blondel. 

Pohorilles,    Noah'  Elieser,    Entwicklung    und    Kritik    der    Erkenntnis- 
theorie Eduards  von  Hartmanns.     Heller  &  Co.,  Wien  1911.     VI  und 
147  S. 
Ein  schätzbarer  Beitrag  zur  Hartmann-Literatur,  in  dem  namentlich 
die   Beziehungen   Hartmanns   zu   seinen   Vorgängern,   insbesondere   zu   Kant 
beachtet  und  berücksichtigt,  anderseits  aber  auch  die  Fäden,  die  in  die  Gegen- 
wart reichen,  nicht  übersehen  werden.    Die  Hartmar.nsche  Philosophie  findet 
eine  sehr  systematische,  wenn  auch  etwas  trockene  Darstellung.     Das  Buch 
ist  jedem  zu  empfehlen,    der  sich  mit  den  Gedankengängen  des  Philosophen 
vertraut  machen  will,    ohne  doch  alle  seine  Werke  genau  durchzustudieren. 

W.  Bloch. 

Christ.      Edzard      Kreipe,      Dr.,      Die     Abhängigkeitsbeziehungen 
zwischen   den   beiden   philosophischen   Vermächtnisschriften   des  Frei- 
herrn G.  W.  von  Leibniz.     Leipzig  1911.     (Abhandlgn.  zur  Philos.  u. 
ihrer  Gesch.  ed.  Prof.  Falckenberg.     21.  Heft.)     71  S.     2,25  Mk. 
K.  untersucht  das  Verhältnis  von  Leibnizens  sogenannter  Monadologie 
und  den  Principes  de  la  nature  et  de  la  grace,  fondes  en  raison,  über  das  bis 
heute  noch  nicht  volle  Klarheit  herrscht,  obwohl  der  Irrtum  der  Identifizierung 
der  beiden  Schriften  schon  1840  durch  Erdmann  aufgedeckt  worden  ist.    Eine 
eingehende   und    systematisch    orientierte   Analyse   des   Aufbaues,   eine   ver- 
gleichende Betrachtung  der  Grundgedanken  macht  es  einleuchtend,  daß  die 
Monadologie  die  jüngere  Fassung  der  Gedanken  Leibnizens  bietet.     K.  geht 


Rezensionen  141 

in  seiner  Betrachtung  von  dem  Begriff  der  substance  composea  aus,  den  Leibniz 
in  der  Monadologie  ganz  und  gar  vermeidet.  Er  nimmt  mit  Recht  an,  daß 
sich  L.  zu  dieser  geklärteren  Auffassung  dieses  Begriffes  auf  Grund  seines 
Briefwechsels  mit  Clarke  erhoben  habe.  Das  principium  identitatis  indis- 
cernibilium  findet  sich  in  der  Monadologie  in  zweifacher  Anwendung,  in  den 
principes  in  einfacher.  Der  Begriff  der  perception  wird  in  der  Monadologie 
genau  fundiert,  in  den  principes  lückenhaft.  Die  Tafel  der  Irrtümer  der  Car- 
tesianer  ist  in  der  Monadologie  systematischer  und  bestimmter  gefaßt  als  in 
den  principes.  Diese  Vergleichung  führt  K.  für  die  Hauptbegriffe  durch.  Er 
kommt  zu  dem  Schlüsse,  die  Principes  mit  Gerhardt  in  das  Jahr  1714  zu  setzen, 
während  die  Monadologie,  wie  aus  der  Datierung  des  5.  Schreibens  Clarkes, 
das  in  der  Zeit  vom  Juni — November  1716  abgefaßt  sein  muß,  in  die  letzten 
Monate  des  Philosophen  fällt. 

Gießen.  Dr.  G.  Falter. 

John  Lockes  Versuch  über  den  menschlichen  Verstand.  2.  Bd.  über- 
setzt von  Carl  Winckler.  Leipzig  1911.  Philos.  Bibl.  Nr.  76.  428  S. 
5,40  Mk. 

Der  vorliegende  2.  Band  enthält  Buch  III  und  IV  der  berühmten  Locke- 
schen Schrift.  Buch  III  untersucht  den  Einfluß  der  Sprache  auf  das  Denken, 
IV  die  Arten  und  die  Grenzen  der  menschlichen  Erkenntnis. 

Die  Übersetzung  Wincklers  ist  nicht  eine  Umarbeitung  von  J.  H.  von 
Kirchmanns  Übersetzung,  sondern  eine  völlige  Neuübersetzung,  die  unter 
sorgfältigster  Vergleichung  älterer  Übersetzungen  insbesondere  der  philo- 
logisch strengen  von  Schnitze  in  der  Reclambibliothek  veranstaltet  ist. 
Winckler  hat  seiner  Übersetzung  die  kritische  Ausgabe  von  Fräser  zugrunde 
gelegt,  die  Schnitze  noch  nicht  benützt  hat.  Die  Übersetzung  ist  wohl  ge- 
lungen.    Sie  ist  genau,  ohne  dabei  der  Anmut  der  Sprache  Eintrag  zu  tun. 

Dem  1.  Band,  der  im  Laufe  des  Jahres  noch  erscheinen  wird,  soll  ein 
ausführliches  Register  beigeben  werden. 

Gießen.  Dr.  G.  Falter. 

Eva  S  c  li  a  p  i  r  a  ,  Dr.,  Lichtenberg  als  Philosoph.  Diss.  Bern.  1011. 
56  S. 
Die  Verfasserin  geht  zunächst  historisch  den  Einflüssen  nach,  die  auf 
den  philosophischen  Werdegang  Lichtenbergs  eingewirkt  haben.  Sie  zeigt, 
daß  es  hauptsächlich  die  Philosophen  seines  Zeitalters,  vor  allem  die  Engländer 
sind,  die  auf  ihn  eingewirkt  baben.  Von  (\i'n  Engländern,  für  die  er  überhaupt 
eine  große  Vorliehe  liebte,  kennt  er  nicht  nur  liaeon,  Berkeley  und  besonders 
Hume,  dessen  Einfluß  unverkennbar  ist,  sondern  auch  die  Assoziationspsycho- 
logen Hartley  und  Prieetley.  In  den  80er  Jahren  machte  sich  der  Einfluß 
des  Spinoza  hei  ihm  bemerkbar.  Er  sah  jedoch  im  Spinozismus  nicht  ein  end- 
gültiges System,  sondern  eine  Religion.  Zu  Kant  hat  er  erst  spät  ein  näheres 
Verhältnis  gewonnen.  Er  hatte  zwar  die  vorkritischen  Schriften  gelesen. 
Aber  erst  durch  die  Bekannlsehafl  mit  der  knt  ik  der  reinen  Vernunft  gelangte 
er  zu  jener  hohen  Schätzung  des  Kantischen  Systems,  das  ihm  als  Vollendung 


142  Rezensionen. 

galt.  Auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnistheorie  berührt  er  sich  in  vielen  Punkten 
mit  Kant  und,  wie  die  Verf.  zeigt,  hat  ei  diesen  Standpunkt,  nachdem  er 
ihn  einmal  erreicht  hatte,  auch  nicht  wieder  verlassen  (cfr.  S.  37).  Nachdem 
so  im  2.  Teil  der  Arbeit  die  Philosophie  Lichtenbergs  behandelt  wird,  gibt  der 
3.  eine  allgemeine  Char&kt3ristik  der  Persönlichkeit  unseres  Philosophen. 
Nicht  berücksichtigt  wurde  die  Ästhetik  Lichtenbergs,  die  gerade  seinen  Humor 
in  Beziehung  zu  seiner  Philosophie  zu  setzen  hätte.  Seine  Erklärungen  der 
Hogarthschen  Kupfertafeln  und  viele  zerstreut  sich  vorfindenden  Bemer- 
kungen hätten  Material  hierzu  geliefert.  Eine  Neubearbeitung  dürfte  auch  die 
Psychologie  Lichtenbergs  in  den  Kreis  ihrer  Darstellung  einbeziehen.  Alles 
in  allem  ist  die  interessante  Arbeit  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Kenntnis  Lichten- 
bergs. 

Gießen.  Dr.  G.  Falter. 

Rene  Descartes,  Über  die  Leidenschaften  der  Seele.  3.  Auflage. 
Übersetzt  und  erläutert  von  Dr.  ArturBuchenau.  Leipzig  1911. 
Philos.  Bibl.  Bd.  29.     150  S.     2,20  Mk. 

Die  Schrift  über  die  Leidenschaften  der  Seele  enthält  die  Psychologie 
des  Descartes.  Descartes  ist  nicht  nur  der  Begründer  der  modernen  Philo- 
sophie, er  ist  auch  der  Begründer  der  streng  wissenschaftlichen  Psychologie. 
Gerade  die  Schrift  über  die  passions  de  l'äme,  die  1646  zu  Ehren  der  Pfalz- 
gräfin Elisabeth  entstanden  ist,  hat  in  hervorragendem  Maße  die  nachfol- 
gende Zeit  in  ihren  Ansichten  über  das  Verhältnis  von  Leib  und  Seele  be- 
einflußt. Wie  der  um  die  Descartesforschung  verdiente  Herausgeber  Dr.  Buche- 
nau  in  den  Anmerkungen  (S.  111)  erklärt,  ist  es  das  Verdienst  des  Descartes, 
auf  die  Notwendigkeit  einer  physiologischen  Fundamentierung  der  Psychologie 
hingewiesen  zu  haben,  wenn  es  ihm  auch  nicht  gelang,  seine  physiologischen 
Grundsätze  streng  festzuhalten. 

Die  vorliegende  Übersetzung  verdient  in  jeder  Hinsicht  alles  Lob,  das 
einer  Übersetzung  gespendet  werden  kann.  Sie  ist  besonders  zum  Gebrauch 
in  Seminarien  und  für  Studierende  geeignet.  B.  empfiehlt  S.  150,  das  Studium 
der  Cartesischen  Philosophie  mit  der  Abhandlung  über  die  Methode  und  den 
„Regeln"  zu  beginnen,  über  die  „Meditationen"  fortzuführen  und  hiernach 
erst  die  „Leidenschaften  der  Seele"  zu  lesen.  Der  Übersetzung  sind  ausführ- 
liche Register  (S.  120 — 150)  beigegeben,  die  auf  sämtliche  in  der  Philo- 
sophischen Bibliothek  erschienenen  Schriften  Descartes'-  Rück- 
sicht nehmen. 

Gießen.  Dr.  G.  Falter. 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.    Deutsche    Literatur. 

Abhandlungen,  philosophische,  Hermann  Cohen  zum  80.  Geburtstag.     Berlin, 

Cassirer. 
Avenarius,  R.,  Der  menschliche  Weltbegriff.     3.  Aufl.     Leipzig,  Reisland. 
Balzac,  H.,  Physiologie  des  Alltagslebens.    Herausgegeben  v.  Fred.    München, 

Müller. 
Chamberlain,  H.  St.,  Die  Grundlagen  des  19.  Jahrhunderts.  10.  Aufl.  München, 

Bruckmann. 
Erdmann,  B.,  Gedächtnisrede  auf  W.    Dilthey.     Berlin,  Reimer. 
Fuente,  H.,  W.  v.  Humboldts  Forschung  über  Ästhetik.    Gießen,  Töpelmann. 
(Joedeckemeyer,  A.,  Die  Gliederung  der  aristotelischen   Philosophie.      Halle, 

Xiemeyer. 
Hegels  Entwürfe  zur  Enzyklopädie  und  Propädeutik  nach  den  Handschriften 

der  Harvard-Universität.     Hegel-Archiv,  hrsg.  v.  G.  Lasson.     Leipzig, 

Meiner. 
Hume,  D.,  Traktat  über  die  menschliche  Natur.     Hrsg.  v.  Lipps.     3.  Aufl. 

Leipzig,  Voß. 
Knauth,  A.,  Die  Naturphilosophie  J.  Reinkes  und  ihre  Gegner.    Regensburg, 

Manz. 
Kronenberg,  M.,  Geschichte  des  deutschen  Idealismus.    Von  Kant  bis  Hegel. 

München,  Beck. 
Kuntze,  F.,  Die  Philosophie  Salomon  Maimons.    Heidelberg,  Winter. 
Lewin,  J.,  Die  Lehre  von  den  Ideen  bei  Malebranche.     Halle,  Niemeyer. 
Meier,  M.,  Die  Lehre  des  Thomas  v.  Aquino  passionibus  animae.     Münster. 

Aschendorff. 
Xatorp,   P.,   Kant    und  die  Marburger  Schule.     Berlin,   Reuther. 
Orelli,  K.,  Die  philosophischen  Anschauungen  des  Mitleids.     Bonn,  Marcus. 
Reiner,  J.,  Aus  der  modernen  Weltanschauung.     Leipzig,  Tobies. 
Rosalewski,  W.,  Schillers  Ästhetik  im  Verhältnis  zur  Kantischen.     Heidel- 
berg, Winter. 
Sauter,  ('.,  Avicennas  Bearbeitung  der  Aristotelischen  Metaphysik.     Freiburg, 

Herder. 
Steinbüchel,  Th.,  Der  Zweckgedanke  in  der  Philosophie  des  Thomas  v.  Aquino 

Münster,   Aschendorff. 

Walleser,  M.,  Die   buddhistische   Philosophie   in   ihrer  geschichtlichen    Ent- 
wicklung.    Heidelberg,  Winter. 


144   Die  neuesten  Erscheinungen  a.  d.  Gebiete  der  Geschichte  der  Philosophie. 

B.    Englische  und  amerikanische  Literatur. 

Adams,  J.,   The  Evolution  of  Educational  Theory.      London,  Macmillan. 
Angell,    J.,    Chapters   from   Modern    Psychology.       New  York,    Longmans. 
Elliot,  H.,  Modern  Science  and  the  Illusicns  of  Bergson.     London,  Green. 
Husik,  J.,  Matter  Form  in  Aristotle.     Berlin,  Siniion. 
Leland,   A.,   The  Educational  Theory   and  Practice  of   Green.      New  York, 

Teacher's  College. 
Seth,  J.,  English  Philosophers  and  Schools  of  Philosophy.    London,  Dent. 
Wheeler,  Ch.,  Critique  of  Pure  Kant  or  a  Real  Realism.    Boston,  Arakelyan. 
Wilson,   J.,   Aristotelian   Studies.      Oxford,   Clarendon. 

C.  Französische  und  belgische  Literatur. 

Beilange,  Ch.,  Spinoza  et  la  Philosophie  moderne.    Paris,  Didier. 
Brunschvig,    L.,    Les  etapes  de  la  philosophie  mathematique.     Paris,  Alcan. 
Le  Bon,  G.,  La  Revolution  francaise  et  la  psychologie  des  revolutions.    Paris, 

Flammarion. 
Picard,  R.,  Pages  choisies  de  Comte.     Paris,  Crcs. 
Roques,  P.,  Hegel,  sa  vie  et  ses  oeuvres.    Paris,  Alcan. 
Talbot,  E.,  Piaton.     Apologie  de  Socrate.     Paris,  Hachette. 
Terraillon,  E.,  La  morale  de  Geulincx  dans  ses  rapports  avec  la  philosophie 

de   Descartes.      Paris,    Alcan. 

D.  Italienische  und  spanische  Literatur. 

Billia,   L.,   Piatone   psicofisico.      Citta  di  Castello. 

Colozza,  II  Metodo  attivo  sur  „Emilio".    Palermo,  Trimarchi. 

Saitta,  G.,  Le  origini  del  neo-tomismo  nel  secolo  XIX.    Bari,  Laterza. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Bd.  XXV,  H.  3.  Linsmeier,  Die  Weiter- 
entwicklung der  Atomistik  in  der  neuesten  Zeit.  Breit,  Die  Engel- 
und  Dämonenlehre  des  Andr.  Caesalpinus.  Heidegger,  Das  Realitäts- 
problem in  der  modernen  Philosophie.  Endres,  Studien  zur  Geschichte 
der  Frühscholastik.  Leiber,  Name  und  Begriff  der  Synthesis  in  der 
mittelalterlichen  Scholastik. 

Zeilschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  Bd.  147,  H.  2.  Jacoby, 
Der  amerikanische  Pragmatismus  und  die  Philosophie  des  Als  ob. 
Spengler,  Das  Verhältnis  der  „Philosophie  des  Als  ob  Vahingers  zu 
Meinongs  ..Über  Annahmen'". 

Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Bd.  XXIV,  H.  1.  Bericht  über  den  V.  Kon- 
greß für  experimentelle  Psychologie,  Berlin,  vom  IG. — 19.  April  1912. 
Schröbler,  Bericht  über  die  Ausstellung  des  Instituts  für  angewandte 
Psychologie  und  psychologische  Sammelforschung  auf  dem  V.  Kon- 
gref.»  für  experimentelle  Psychologie  in  Berlin.  —  H.  2  u.  3.  Külpe, 
Wilhelm  Wundt  zum  80.  Geburtstag. 

Zeitschrift  für  Aesthetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft.  Bd.  VII,  H.  3. 
Moog,  Die  homerischen  Gleichnisse.  Baumgarten,  Die  Lyrik  K.  F. 
Meyers.     Bemerkungen:  Vereinigung  für  ästhetische  Forschung,  1911. 

Imago,  Zeitschrift  für  Anwendung  d,,-  Psychoanalyse  auf  die  Geisteswissen- 
schaften. Bd.  1,  H.  1,  3.  Freud,  Der  Wilde  und  der  Neurotiker.  Ferenczi, 
Symbolische  Darstellung  des  Lust-  und  Realitätsprinzips  im  Üdipus- 
Mythos. 

■  phüo8ophique.  An.  XX.W'll.  Nr.  8.  Segond,  L'idealisme  des  valeurs 
et  la  doctrine  de  Spir.  Robin,  L'oeuvre  philosophique  de  V.  Broohard. 
Nr.  !'.  SdiliiT.  La  philosophie  russe  contcmporainc 
Revue  dt  Philosophie.  An.  \li.  Nr.  7.  Beimond,  L'univocite  skotiste.  Dies, 
Revue  oritique  d'Histoire  (!<•  la  Philosophie  antique.  L'Orphisme  et 
la  question  Eippocratique.  Nr.  8.  Beimond,  L'univocite  scotiste. 
La  Douvelle  Organisation  de  l'enseignemenl  philosophique  ä  l'institul 
catholique  de  Pai 

Revue  de  M  Haphysiqw  et  dt  Morale.    An.  XX.    Nr.  I.   Millioud,  Ch.  Secretan, 
rie  ei  son  ociivrc.    Belot,  Lcs  ideea  oosmogoniquea  modernes.    Du- 
furnier,  La   philosophie  des  mathematiques  de   Russell  ei    Whitehead. 
Mamelet,   La  philosophie  de  <>.  Simmel. 
Archiv  im  Geschichte  der  l'liilosophie.    XXVI,  t.  jq 


146  Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Revue  Neo-Scolastique.  An.  XIX.  Nr.  75.  Lebrun,  Neo-Darwinisme  et  Neo- 
Lamarckisme.  Grabmann,  Le  „Correctorium  corruptorü"  du  Domi- 
nicain J.  Quidort  de  Paris  j-  1306.  De  Wulf,  Ouvrages  recents  sur 
l'histoire  de  la  philosophie  medievale  en  Occident.  Le  mouvement 
neo-scolastique. 

The  American  Journal  of  Psychology,  Vol.  XXVIII.  Nr.  3.  Hall,  Why  Kant 
is  Passing.    Titchener  and  Foster,  A  List  of  the  Writings  of  J.  Ward. 

The  Monist.  Vol.  XXII.  Nr.  3.  Russell,  The  Philosophy  of  Bergson.  Jordan, 
Kant  and  Bergson.  Jourdain,  Maupertius  and  the  Principle  of  Least 
Action.  Carus,  The  Anti-Intellectual  of  To-Day.  Garbe,  Postcript 
on   Buddhism  and  Christianity.      Poincares  Cosmogonic  Hypotheses. 

Mind.   Nr.  83.   Taylor,  The  Analysis  of  Em6Tr}[i/r}  in  Piatos  Seventh  Epistle. 

Sharp,  The  Ethical  System  of  Richard  Cumberland  and  its  place  in 

the  History  of  British  Ethics.      Hicks,  Eulers  Circles  and  Adjacent 

Space. 
The  Philosophical  Review.   Vol.  XXI.    Nr.  5.    Ewald,  Philosophy  in  Germany 

in  1911.    Lovejoy,  The  Problem  of  Time  in  recent  French  Philosophy. 

Sabine,  Bosanquets  Logic  and  the  concrete  Universal.    Schaub,  Hegels 

Criticism  of  Fichtes  Subjectivism. 
Rivista  di  Filosofia.    An.  IV.    Fase.  III.    Paladino,  Per  l'edizione  critica  della 

„Citta  del  Sole"  di  Tommaso  Campanella.    Mieli,  Scienziati  e  pensatori 

di  Kyrene. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.    Deutsche  Literatur. 

Dahlniann-Waitz,  Quellenkunde  der  Deutschen  Geschichte.  VIII.  Auf. 
Leipzig,  K.  F.  Koehler. 

Dörfler,  J.,  Zur  Urstofflehre  des  Anaximenes.    Freistadt  O.-Ö.,  Selbstverlag. 

Erhardt,  F.,  Tatsachen,  Gesetze,  Ursachen.     Rostock,  Stiller. 

Fiedler,  F.,  Vom  Zuge  der  Menschheit.  I.  Teil.  Die  logische  Konstruktion 
des   Hauptproblems   der   Metaphysik.       Hamburg,    E.    Behrens. 

Flügel,  0.,  Herbarts  Lehren  und  Lebe,n.     IL  Aufl.     Leipzig,  Teubner. 

Goedeckenmeyer,  A.,  Die  Gliederung  der  Aristotelischen  Philosophie.  Halle, 
Niemeyer. 

Gomperz,  H.,  Sophistik  und  Rhetorik.     Leipzig,  Teubner. 

Heininchen,  0.,  Die  Grundgedanken  der  Freimaurerei  im  Lichte  der  Philo- 
sophie.    Berlin,  A.  Unger. 

Hensel,  P.,  Rousseau.     IL  Aufl.     Leipzig,  Teubner. 

Hönigswald,  R.,  Zum  Streit  über  die  Grundlagen  der  Mathematik.  Heidel- 
berg, Carl  Winter. 

Kade,  R.,  Rudolf  Euckens  noologische  Methode  in  ihrer  Bedeutung  für  die 
Religionsphilosophie.      Leipzig,  Veit. 

Külpe,  O.,  Immanuel  Kant.      III.   Aufl.      Leipzig,  Teubner. 

Lewin,  J.,  Die  Lehre  von  den  Ideen  bei  Malebranche.     Halle,  Niemeyer. 

Menzel,  A.,  Naturrecht  und  Soziologie.     Wien,  Fromme. 

Niemeyer,  Th.,  Der  Rechtsspruch  gegen  Shylock  im  „Kaufmann  von  Venedig". 
München,    Duncker    &    Humblot. 

Petrescu,  N.,  Zur  Begriffsbestimmung  der  Philosophie.    Berlin,  L.  Simion  Nf. 

P.  N.,  Gedanken  und  Winke.      Ebd. 

Pichler,   H,   Möglichkeit  und  Widerspruchslosigkeit.      Leipzig,   Barth. 

Pribram,  K.,  Die  Entstehung  der  individualistischen  Sozialphilosophie.  Leip- 
zig, Hirschfeld. 

Römer,  A.,  Der  Gottesbegriff  Franks.     Halle,  Niemeyer. 

Schuck,  K.,  Studien  über  Johannes  Müller.     Diss.     Heidelberg,  Pfeffer. 

Staudenmaier,  L.,  Die  Magie  als  experimentelle  Naturwissenschaft.  Leipzig, 
Akademische  Verlagsgesellschaft. 

Sturmfels,  W.,  Recht  und  Ethik  in  ihrem  gegenseitigen  Verhältnis.  Diss. 
Gießen,  Kindt. 

Thesing,  R.,  Georges  Bohn.  Die  neue  Tierpsychologie.     Leipzig,  Veit. 

Wanderer,  R.,  Glück.     München,  Reinhardt. 

10* 


148  Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

B.    Französische    Literatur. 

Archambault,  P.,  Stuart  Mill.     Paris,  Louis  Michaud. 

Dupreet,  E.,  Le  Rapport  Social.     Paris,  F.  Alcan. 

Severac,  J.-B.,  Condorcet.     Paris,  Louis  Michaud. 

Sortais,  G.,  Histoire  de  la  philosophie  ancienne.     Paris,  Lethielleux. 

C.    Italienische    Literatur. 

Billia,  L.  M.,  L'esiglio  di  Sant'-Agostino.     Seconda  ed.     Torino,  Fiandesio. 
Saitta,  G.,  Le  origini  del  Neo-Tomismo  nel  secolo  XIX.     Bari,  Latezza. 


Berichtigung. 

In  Bd.  XXV   Heft  4  S.  500  Zeile  7  von   oben   lies: 
Henning,   H. :    Goethe  und  die  Fachphilosophie.   Straßburg  1912,   Bongard. 


^ 


Arohiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XIX.  Band,   2.  Heft. 


IX. 

Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie 

des  Geistes". 

Eine  problemgeschichtliche  Einführung  in  seine  Philosophie. 
Vortrag,  gehalten  in  der  ..Phil.  Gesellschaft-  zu  Jena  am  12.  Juni  1912, 


von 
Fritz  Münch. 


» 


Meine  Damen  und  Herren !  Wie  Sie  wohl  alle  wissen,  wird  Hegel 
wieder  modern  in  dem  Sinne,  daß  sich  in  erhöhtem  Maße  die  Auf- 
merksamkeit der  philosophischen  Kreise  von  neuem  seinem  Gedanke n- 
Bystem  zuwendet. 

Es  ist  darum  nicht  nur  sachgemäß,  Hegel  zu  studieren  —  das  war 
es  von  jeher  bei  allen,  die  etwas  von  der  Sache  verstanden  — , sondern 
auch  zeitgemäß,  und  Zeitgemäßheit  gilt  ja  in  einzelnen  philosophischen 
Lagein  als  höchste  Wertinstanz  des  Philosophierens.  Ich  bin  kein 
I freund  dieses  pragmatistischen  Grundsatzes,  sondern  bin  so  unmodern, 
immer  noch  zu  glauben,  daß  ein  Gedankensystem  nicht  deshalb  wahr 
ist,  weil  es  Erfolg  hat,  nicht  deshalb  sachgemäß,  weil  es  zeitgemäß  ist, 
sondern  umgekehrt  zeitgemäß  ist  und  Erfolg  hat,  weil  es  wahr.  d.  h. 
eben  sachgemäß  ist.  J>n  aber  im  vorliegenden  falle  m.  E.  die  Zeit- 
gemäßheit auch  in  der  Sache  begründet  ist,  ist  sie  als  erfreuliches 
Zeichen    der   Zeit    zu    begrüßen  1). 


1)  —  erfreulich  allerdings  nur  unter  der  Bedingung,  daß  man  sich  nun 
wirklich  an  der  Hand  von  riegele  Gedankengängen  am  die  Sache  be- 
müht; nicht  aber,  wenn  ein  bloßes  iurarc  in  verba  magistri  resultiert,  wobei 
man  sich  nur  —  der  Abwechslung  halber  —  mal  an  den  Magister  Hegel  halt, 
statt  an  den  Matristi-r   Kant. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  2.  iq 


150  Münch, 

Wenn  ich  darum  beschlossen  habe,  Ihnen  etwas  über  Hegel  vor- 
zutragen, so  ergab  sich  mir  zunächst  ein  Dilemma  in  der  Wahl  des 
Themas.    Wenn  ich  bloß  im  allgemeinen  zu  Ihnen  von  Hegel  reden 
wollte,  so  bestände,  bei  der  Kürze  der  zur  Verfügung  stehenden  Zeit, 
eine  doppelte  Gefahr:  entweder  daß  ich  Ihnen  bloß  erzähle,  was  Sie 
in  jedem  Kompendium  der  Philosophiegeschichte  auch  finden  können, 
oder  aber,  wenn  ich  Ihnen  darzulegen  unternähme,  was  ich  von  Hegels 
Gesamtsystem  für  bleibend  richtig  halte;  die  andere  Gefahr:  daß, 
wer  nicht  eine  ähnliche  philosophische  Entwicklung  durchgemacht 
hat,  wie  ich  selbst,  und  demgemäß  von  andern  Prämissen  ausgeht 
wie  ich,  schwerlich  den  eigentlichen  letzten  Gesamtsinn  des  von  mir 
Gemeinten  aus  den  kurzen  Ausführungen  zu  entnehmen  vermöchte. 
Ich  habe  mir  deshalb  eine  viel  speziellere  und  zugleich  viel  bescheidenere 
Aufgabe  gestellt,  nämlich  bloß,  Sie  in  problemgeschichtlicher  Weise 
zu  Hegel  hinzuführen,  in  specie  zu  der  grundlegenden  Problemstellung, . 
von  der  er  ausgegangen  ist.    Um  meine  Absicht  in  einem  Bilde  an- 
schaulich zu  machen:  Ich  will  versuchen,  aus  dem  ungemein  ver- 
wickelten Knoten  der  damaligen  philosophischen  und  geistesgeschicht- 
lichen Lage  Ihnen  einige  Fäden  in  ihrer  besonderen  Färbung  sichtbar 
werden  zu  lassen,  aus  deren  Ineinander  sich  die  besondere  Form  der 
Schürzung  und  Lösung  des  Knotens  durch  Hegel  in  ihren  logischen 
Grundmotiven  begreifen  läßt.    Denn  wie  immer,  so  liegt  auch  hier  in 
der  Stellung  des  Problems  schon  das  allgemeine  logische  Schema 
seiner  Lösung,  durch  welche  Hegel  dann  seinerseits  in  die  problem- 
geschichtliche Kette  als  Glied  eintritt. 

Es  liegt  in  der  Natur  dieser  meiner  Problemstellung  begründet, 
daß  ich  mich  wiederholt  auf  Vorrede  und  Einleitung  werde  beziehen 
müssen,  die  Hegel  seiner  „Phänomenologie"  vorausgeschickt  hat. 
Während  die  Einleitung  ein  Kabinettstück  einer  klar,  scharf  und 
präzis  formulierenden  philosophischen  Abhandlung  ist,  ist  die  Vorrede 
sehr  schwer  zu  verstehen,  weil  sich  in  dieser  Hegel  mit  der  gesamten 
Problemlage  seirer  Zeit  auseinandersetzt  und  dabei  die  Kenntnis  dieser 
ganzen  Geisteslage  voraussetzt.  Aber  Kudolf  Haym  hat  nicht  mit 
Unrecht  von  dieser  Vorrede  gesagt:  wer  sie  versteht,  versteht  das 
ganze  Hegeische  System.  Um  dieses  Vorzugs  willen  will  ich  mich 
trotz  jenes  Nachteils  bemühen,  Hegel  selbst  zu  Ihnen  reden  zu  lassen, 
soweit  er  ohne  Kommentar  verständlich  ist.  Jenem  Mangel  aber  will 
ich  abhelfen,  indem  ich  Ihnen  die  Problemlage,  die  er  vorfand,  in 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".      151 

kurzen  Strichen  vorher  skizziere.  Um  den  Fluß  des  Vortrages  nicht 
ins  Stocken  zu  bringen,  werde  ich  die  Zitate  nicht  jedesmal  aus- 
drücklich als  solche  kennzeichnen;  Sie  werden  ja  am  Stil  schon  selbst 
herausmerken,  ob  Hegel  zu  Ihnen  spricht  oder  ich. 


Die  Wahrheit  eines  philosophischen  Systems  ist  eine  anders  be- 
gründete als  die  Wahrheit  in  irgend  einer  Einzeldisziplin,  etwa  der 
Anatomie.  Und  es  ist  grundfalsch,  bei  der  Verschiedenheit  philoso- 
phischer Systeme  vornehmlich  nach  Übereinstimmung  oder  Wider- 
spruch ihrer  Resultate  zu  fragen;  sie  sind  vielmehr  zu  betrachten  als 
„die  fortschreitende  Entwicklung  der  Wahrheit,  die  eine  organische 
Einheit  ist,  in  der  jedes  Glied  seine  notwendige  Stelle  hat,  wie  bei  der 
Pflanze  Knospe,  Blüte  und  Frucht". 

Darum  liegt  der  Haupt  wert  eines  philosophischen  Systems  nicht 
in  seinen  Zwecken  und  Resultaten,  vielmehr  ist  hier  gerade  „die  Sache 
nicht  in  ihrem  Zwecke  erschöpft,  sondern  in  ihrer  Ausführung,  noch 
ist  das  Resultat  das  wirkliche  Ganze,  sondern  es  zusammen  mit  seinem 
Werden;  der  Zweck  für  sich  ist  das  unlebendige  Allgemeine,  wie  die 
Tendenz  das  bloße  Treiben,  das  seiner  Wirklichkeit  noch  entbehrt; 
und  das  nackte  Resultat  ist  der  Leichnam,  den  die  Tendenz  hinter  sich 
gelassen  hat." 

Demgegenüber  ist  die  richtige  Art  der  philosophischen  Befassung 
mit  einer  Sache,  „in  ihr  zu  verweilen  und  sich  in  ihr  zu  vergessen, 
sich  ihr  voll  und  ganz  hinzugeben".  Nicht  auf  Beurteilen  und  Ab- 
sprechen kommt  es  an,  sondern  auf  Erfassung  der  Sache,  wie  sie 
in  sich  selbst  beschaffen  ist  in  dem  ganzen  Reichtum  ihrer  inhaltlichen 
Bestimmungen.  Erst  dann  kann  „der  Ernst  des  Begriffs  in  ihre  Tiefe 
steigen". 

Nur  durch  ein  solches  Verhalten  kann  es  gelingen,  die  Philosophie 
zum  Range  einer  Wissenschaft  zu  erheben.  Das  aber  muß  das  Ziel 
alles  philosophischen  Bemühens  sein;  denn  „d  i  e  w  a  h  r  e  Gestalt, 
in  w  e  1  c  h  er  d  i  e  W  a  h  r  h  e  i  t  existiert,  k  a  n  n  a  1 1  e  i  n 
das    wissenschaftliche    System    sein". 

Mit  diesen  Gedanken  beginnt  Hegel  seine  Vorrede.  Ihre  und  der 
Einleitung  Aufgabe  ist  es,  aus  einer  Auseinandersetzung  mit  der  zeit- 
genössischen Philosophie  heraus  den  Plan  eines  neuen  Systems  der 
Philosophie  zu  entwerfen.   Diese  Auseinandersetzung  und  diesen  Plan, 

10* 


152  Münch, 

dessen   Ausführung  dann   natürlich   die  Phänomenologie  selbst  ist, 
nach  Thema  und  Methode  wollen  wir  nun  betrachten. 

I. 

Als  erster  Teil  die  Auseinandersetzung.  Bei  ihr  ist  als  nicht 
weiter  zu  diskutierender  Ausgangspunkt  vorausgesetzt:  einerseits 
das  Kantische  System,  anderseits  das  Bedürfnis  nach  einer  einheit- 
lichen Synthese  des  unausgeglichenen  Gedankenreichtums  desselben. 
Denn  unter  diesem  Zeichen  stehen  alle  philosophischen  Bemühungen, 
die  sich  an  Kant  anschließen. 

In  diesem  Bestreben  stehen  sich  nun  zwei  Richtungskomplexe 
gegenüber,  die  man  etwa  bezeichnen  kann  als:  1.  d  i  e  Gefühls- 
und   Glaubensphilosophie    (eines  Jacobi,  der  Roman- 
tiker, eines  Schleiermacher) ;  2.  dieBegriffsphilosophie, 
die,    von    Fichte    inauguriert,     von    Schelling    fortgesetzt,    Hegel 
zum     Abschluß     zu     bringen     sucht.        Mit     beiden    setzt     sich 
Hegel    auseinander,     dort    indem    er    das    Prinzip,    hier    indem 
er  die  spezifische  Ausgestaltung  des  Prinzips  bekämpft.     Um  diese 
Auseinandersetzung  nun  verstehen  zu  können,  müssen  wir  wenigstens 
eine  Skizze  von  den  einzelnen  Phasen  jenes  gewaltigen  Ideenkampfes, 
von  dessen  Führern  und  Hauptevolutionen  vor  Augen  haben.     Ich 
werde  Ihnen  zuerst  die  begriffsphilosophische  Linie  vorführen,  nicht 
allein  deshalb,  weil  diese  die  mächtige  Oberströmung  bildet,  neben 
der  die  andere  Linie  eben  nur  nebenher  läuft,   sondern  auch  deshalb, 
weil  diese  in  Schellings  letzter  Entwicklungsphase  sich  unmittelbar 
mit  der  andern  Linie  berührt,  so  daß  deren  Darstellung  da  bequem 
anknüpfen  kann.     In   beiden   Darlegungen   werde   ich 
mich    natürlich    darauf    beschränken,    die    zum 
Verständnis  Hegels  wichtigen  Momente  hervor- 
zuheben.    Daran  sollen  sich    dann  die  Ausführungen  Hegels  zu 
diesen  Philosophien  reihen,  die  mit  Bekämpfung  der  Gefühlsphilosophie 
beginnen.      Seine   Darlegungen   zur   Begriffsphilosophie   seiner   Zeit 
werden  dann  unmittelbar  zu  dem  systematischen  Teile  dieses  Vortrags 
überleiten,  der  Ihnen  zuerst  das  Grundprinzip  der  Hegeischen  Philoso- 
phie und  die  sich  aus  ihm  ergebende  Methode,  und  dann  die  spezielle 
Aufgabe  der  Phänomenologie  vorführen  soll,  mit  der  ja  Hegel  selbst  als 
ein  Glied  in  die  begriff sphilosophische  Entwicklung  eintritt. 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       153 

1.  Kant  hatte  es  unternommen,  die  Grundstruktur  des  „Be- 
wußtseins überhaupt",  d.  h.  der  Vernunft,  und  zwar  zunächst  der 
menschlichen,  herauszustellen,  um  von  dieser  Einsicht  aus  alle  Er- 
kenntnis, von  der  Erkenntnis  ans  dann  aber  alle  Gegenstände  derselben 
in  ihrer  Notwendigkeit  und  Allgemeingültigkeit  begreiflich  zu  machen. 
Bei  der  Kantischen  Lösung  blieb  aber  ein  Riß  zwischen  theoretischer 
und  praktischer  Vernunft,  der  sich  besonders  beim  Ding-an-sich- 
Begriff  zuspitzte,  und  den  der  Primat  der  praktischen  Vernunft,  so 
wie  Kant  ihn  faßte  (mit  seiner  Postuliermethode),  ebensowenig  ganz 
zu  schließen  vermochte,  als  die  ästhetisch-teleologische  Synthese  der 
„Kritik  der  Urteilskraft".  Hier  setzt  nun  Fichte  ein,  um,  wie  er 
selbst  sagt,  den  Punkt  zu  finden,  „der  Denken  und  Wollen  in  Eins 
vereinigt  und  Harmonie  in  mein  "Wesen  bringt".  Diesen  findet  er 
dadurch,  daß  er  1.  den  Ding-an-sich-Begriff  zerstört,  und  2.  dem  Primat 
der  praktischen  Vernunft  seine  denkbar  größte  Ausdehnung  gibt: 
diese  bestimmt  jetzt  auch  das  Erkennen,  indem  auch  dieses  als  ein 
wertgetragenes  Handeln  begriffen  wird.  Der  Begriff  des  Sollen  s  — 
damit  aber  auch,  was  für  Hegels  Gegensatz  zu  ihm  wichtig  ist,  der- 
jenige rastlosen  Handelns  und  Strebens  ohne  Ende  —  wird  von  Fichte 
zum  Zentralbegriff  der  ganzen  Philosophie  gemacht.2)  Nach  ihm  ist 
der  Grund  aller  Wirklichkeit  in  dem  Ideal  zu  suchen,  dem  sie  sich 
in  unendlichem  Streben  annähert.  Daraus  aber  ergibt  sich  eine  durch- 
aus einheitliche  Methode  für  die  ganze  Philosophie:  es  ist  diejenige 
der  teleologischen  Dependenz,  gemäß  der  alle  einzelnen  Formen 
des  Bewußtseins  zu  begreifen  gesucht  werden  als  notwendige  Mittel 
für  notwendige,  in  der  Vernunft  selbst  begründete  Aufgaben  (ob- 
jektive Zwecke).  Damit  ist  dann  aber  weiterhin  notwendig  ein  Dua- 
lismus statuiert,  da  alles  Sollen  einen  Sinn  nur  hat  aus  dem  Wider- 
spruch zwischen  der  Aufgabe  und  dem  Material,  an,  in  und  mit  dem 
Sie  erfüllt  werden  soll.  Daraus  resultiert  ferner  —  der  zweite  für  Hes:el 
wichtige  Punkt  —  unmittelbar  der  Dreitakt  der  dialektischen  Me- 
thode, d.  h.  der  Weg  zum  Ziel  besteht  immer  und  überall  in  dem  Fort- 
schritt von  der  Aufgabe  über  ihren  Widerpart  zu  einer  Synthese 
beider,  die  dann  wieder  eine  Antithese  und  eine  neue  Synthese  fordert, 
und  so  fort. 

Kiehtes    Lehre    ist.    wenn    man     will,     Metaphysik,    aber    eine 


2)  Die  spätere  Entwicklung  Pichtes  bleibt  hier  außer  Betracht. 


154  Münch, 

Metaphysik  ohne  Ding-an-sich;  die  ontologische  Seins-Zwei- 
heit  der  Welt  ist  weggefallen:  es  gibt  nur  die  eine  von  uns  erlebte 
Welt.  Deren  einheitliche  Erfassung  in  der  Vernunft  erfüllt  die  Auf- 
gabe, die  alle  Metaphysik  lösen  wollte.  Aber  wohlgemerkt:  das 
Grundprinzip  von  Fichtes  Philosophie  liegt  in  der  praktischen 
Vernunft.    Das  mag  von  Fichte  für  vorliegenden  Zweck  genügen. 

Wir  kommen  zu  Schellin g.  Daß  Fichte  in  seiner  ganzen 
Philosophie  auf  dem  Standpunkte  der  praktischen  Vernunft  stand, 
bewirkte  bei  ihm,  daß  ihn  die  Natur  nur  interessierte  in  ihrem  Zu- 
sammenhang mit  dem  sittlichen  Handeln  des  Menschen ;  er  fragt  nur 
nach  dem  Sinn,  den  sie  für  die  Gesamtanschauung  des  Menschen 
als  eines  sollenden  und  handelnden  Wesens  hat.  Eine  eigentliche 
Naturphilosophie,  die  die  Natur  in  ihren  eigenen  Zu- 
sammenhängen zum  Objekt  macht,  lag  ihm,  auch  schon  nach 
seinem  Bildungsgange,  fern ;  ihn  interessiert  nur  die  Deduktion  ihrer 
Notwendigkeit  für  und  durch  die  praktische  Vernunft.  Hier  setzt 
nun  ergänzend  Schelling  ein,  der  sich  während  seiner  Studien  auch 
eingehend  mit  Naturwissenschaft,  wie  sie  zu  seiner  Zeit  doziert  wurde, 
befaßt  hatte.  Er  geht  dabei  zunächst  von  Fichtes  „Wissenschaftslehre" 
aus,  will  nichts  anderes  geben  als  die  Ausfüllung  einer  Lücke  in  der- 
selben. Die  in  dieser  gegebenen  Prämissen  für  eine  Naturphilosophie 
aber  sind  folgende:  Die  Natur  ist  als  die  Gesamtheit  der  anscheinend 
gegebenen  Einzeldinge  transzendentalphilosophisch  zu  begreifen  als 
Urpositionen  der  produktiven  Einbildungskraft  zum  Zwecke  der  Pflicht- 
erfüllung. Da  aber  diese  Einbildungskraft  nicht  die  individuelle, 
möglicherweise  willkürlich  verfahrende  sein  kann,  sondern  der  über- 
individuellen Vernunft  angehört,  muß  die  Gesamtheit  dieser  Ur- 
positionen =  Naturdinge  und  Naturvorgänge,  Vernunftcharakter  haben. 
Das  aber  bedeutet:  Sie  müssen  einen  zweckvoll  in  sich  geordneten 
Zusammenhang,  ein  System,  bilden.  Das  ist  soweit  genau  die  Ein- 
sicht, die  sich  in  der  transzendentalen  Analytik  von  Kants  „Kritik 
der  reinen  Vernunft"  mit  ihren  Kategorien  und  Grundsätzen  begründet. 
Während  aber  Kant  dieses  System  der  Natur,  sofern  es  strenge  Wissen- 
schaft sein  soll,  ausdrücklich  auf  die  kausal-mechanische  Auffassung 
beschränkte,  die  teleologische  Betrachtung  dagegen  bloß  als  ein  — 
möglicherweise  vernunftnotwendiger  —  Glauben,  aber  auf  jeden  Fall 
kein  Wissen  im  strengen  Sinne,  gelten  ließ,  mußte  nun,  nach  der  Aus- 
dehnung des  Primates  der  praktischen  Vernunft  auch  auf  das  Gebiet 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       155 

des  Erkennens,  dieser  Naturzusammenhang  seinen  transzendentalen 
Sinn  empfangen  in  Rücksicht  auf  das  letzte  Ziel  eben  dieser  prak- 
tischen Vernunft.  Dies  Ziel  aber  ist  nach  der  auf  der  Wissen  schafts- 
lelire  fußenden  Sittenlehre  Fichtes:  das  sittliche  Handeln  aus  Frei- 
heit um  des  sittlichen  Handelns  willen.  Soll  nun  hiermit  die  Natur 
in  Verbindung  gebracht  werden,  so  kann  dies  gemäß  der  beherrschen- 
den Grundkategorie  der  teleologischen  Dependenz  nur  so  geschehen, 
daß  sie  daraufhin  betrachtet  wurde,  ob  sie  für  diesen  Zweck  ein  not- 
wendiges Mittel  darbiete.  Was  aber  ist  die  notwendige  Vorbedingung 
dafür,  daß  sittlich  gehandelt  werde?  Antwort:  Es  müssen  selbst- 
bewußte Subjekte  da  sein,  die  dies  als  ihre  Pflicht  empfinden.  Da- 
mit aber  ergibt  sich:  Die  Natur  muß  transzendentalphilosophisch  auf- 
gefaßt werden  als  ein  organisches  System  von  Kräften,  das  auf  Her- 
vorbringung von  menschlichem  Leben  und  Bewußtsein  abzielt. 

Die  Ausführung  dieses  naturphilosophischen,  Grundprinzips 
durch  Schelling  in  bezug  auf  die  einzelnen  Naturphänomene  ist 
vielfach  willkürlich  und  läßt  sich  durch  ganz  äußere  Analogien  leiten. 
Ich  werde  später3)  eine  polemische  Bemerkung  Hegels  gegen  die- 
selbe vorlesen,  der  selbst  aber  nichtsdestoweniger  in  seiner  eigenen 
Naturphilosophie  von  der  Schellings  sehr  abhängig  ist.  Es  trat  also 
bei  Schelling  vor  das  eng  an  Fichte  sich  anlehnende  „System  des 
transzendentalen  Idealismus"  als  weiterer  Teil  seines  Gesamtsystems 
das  „System  der  Naturphilosophie".  Das  System  des  transzendentalen 
Idealismus  untersucht,  wie  das  Ich  zur  Natur  kommt,  die  Natur- 
philosophie umgekehrt,  wie  die  Natur  zum  Ich  kommt.  Über  diesen 
Dualismus  strebt  aber  nun  Schelling  hinaus,  und  er  versucht  es  zu- 
nächst unter  dem  Einfluß  eines  Teils  der  Romantiker,  namentlich 
aber  der  unmittelbar  an  Kants  Kritik  der  Urteilskraft  anknüpfender 
Kunsttheorie  Schillers:  Die  Kunst  ist  ihm  dasjenige  Verhalten 
des  Ich,  in  dem  jener  Dualismus  von  Natur-  und  Vernunftwesen 
sich  zur  Einheit  schließt.  So  wird  ihm  auf  dieser  Phase  seiner  Ent- 
wicklung die  Ästhetik  zur  abschließenden  philosophischen  Disziplin, 
zu  der  sich  die  beiden  andern  philosophischen  Disziplinen  (Transzen- 
dentalphilosophie  und  Naturphilosophie)  gleichmäßig  erheben,  um  in 
ihr  ihre  Einheit  zu  finden. 

Aber  immer  noch  ist  das  Subjekt  der  Träger  aller  Wirklichkeit. 


f)  S.  164  des  Textes. 


156  Münch, 

Nun  aber  kommt  bei  Schelling  der  entscheidende  Wendepunkt,  der 
wohl  schon  mit  unter  dem  Einfluß  Hegels  erfolgt:    das  Fichtesche 
„Ich  als  Idee"  wird  zu  einer  metaphysischen  Realität,  von  der  Sub- 
jekt  und    Objekt   nur  zwei  verschiedene   Erscheinungsweisen   sind. 
Diese  dritte  Phase  in  der  Entwicklung  Schellings  bildet  sein  „Identitäts- 
system".   Seine  Philosophie  gab  ihm  bis  jetzt  zwei  Gegenstände,  die 
Natur  und  das  Ich.  Ihre  Synthese  hatte  er,  v  o  m  St  a  n  d  punkte 
des    Subjekts    aus    gesehen,    in  dem  ästhetischen  Ver- 
halten gefunden.    Aber  es  blieb  das  Problem  einer   objektiven 
Synthese  der  Gegenstände   der  subjektiven   V  e  r  h  a  1  - 
t  u  n  g  s  w  e  i  s  e  n  ,  das  Bedürfnis,  ein  gemeinsames  Prinzip  zu  finden, 
aus  dem  sich  Natur  und  Ich,  Objektives  und  Subjektives,  gleicher- 
maßen begreifen,  ließen.  Dieses  aber  konnte  nicht  mehr  das  Fichtesche 
„absolute  Ich"  sein,    weil  dieses  für  Schelling    unter  dem  Einfluß 
seiner  eigenen  Naturphilosophie  allmählich  aus  dem  überindividuellen 
Ich  zum  individuellen   Ich  geworden  war,  dem  die  Natur  als  eine 
selbständige    Macht   gegenübersteht.      Der   Urgrund   beider   mußte 
etwas  anderes  sein:    Schelling  nannte  ihn  schlechthin  das  Absolute; 
er  griff  damit  auf  Spinoza  zurück,  dessen  Einfluß  damals  durch 
Herder   und    Goethe    immer  größer  wurde :    Natur  und  Geist 
sind  zwei  Offenbarungen  des  einen  Absoluten,  Gottes.    Dies  Absolute 
aber  wird  erfaßt  in  der  genialen  Intuition,  der  intellektuellen  Anschau- 
ung, die,  schon  mit  Fichtes  Selbstanschauung  des  Ich  beginnend, 
von  seinen  Nachfolgern,  im  Gegensatz  zu  Kant,  in  immer  stärkerem 
Maße  als  wirkliche  Eigenschaft  des  menschlichen  Erkennens  bezeichnet 
wurde.4)    Bei  Schelling  war  sie  allerdings  bloß  ein  Vorzug  besonders 
begabter  Subjekte,  des  Genies;  wir  werden  gleich  hören,  daß  Hegel 
hiergegen  opponierte  und  sie  —  umgeformt !  —  als  wissenschaftliche, 
also  allen  zugängliche  Methode  proklamierte.  Da  aber  das  Anschauende 
doch  auch  zugleich  ein  Teil  des  Angeschauten  ist,  so  schaut  das  Abso- 
lute sich  selbst  an:  Subjekt  und  Objekt  sind  identisch  in  ihrem  Wesen. 

Diese  Identität  aber  ist  bei  Schelling  die  völlige  Indifferenz: 
Es  ist  die  ungeschiedene  Einheit  aller  Gegensätze;  die  entgegen- 
gesetzten Prädikate  kommen  ihm  gleicher  Weise   zu;   mit   andern 


4)  Es  sei  jedoch  ausdrücklich  bemerkt,  daß  dieser  Begriff,  infolge  der 
anderen  Gesamtproblemstellung,  schließlich  eine  andere  Bedeutung  bekommt, 
als  dasselbe  Wort  bei  Kant  hat. 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       157 

Worten :  Es  ist  das  absolute  Nichts.  Dieses  Nichts  aber  hat  die  Mög- 
lichkeit der  Differenzierung  in  Natur  und  Geist  (Geschichte).  Jedes 
einzelne  Ding  ist  eine  differenzierte  Bestimmtheit  des  Absoluten 
und  als  solche  eine  Mischung  von  Natur  und  Geist  in  verschieden 
abgestuftem  Verhältnis.  Von  den  zwei  Reihen,  die  sielt  so  ergeben, 
hat  Schelling  bloß  das  Reich  der  Natur  näher  ausgeführt;  Hegel  hat 
es  dann  unternommen,  auch  der  zweiten  Entwicklungsmöghchkeit  des 
Absoluten,  der  Geschichte,  zu  ihrem  Rechte  in  der  Gesamt  Weltan- 
schauung zu  verhelfen. 

Unter  dem  Einfluß  von  Hegel  verbindet  sich  dann  bei  Schelling 
mit  dieser  Lehre  von  der  Entwicklungspotenz  des  Absoluten  P  1  a  t  o  s 
Ideenlehre,  und  zwar  in  der  neu  platonische  n  Form,  die  in 
den  Ideen  Gedanken  Gottes  sieht.  Nunmehr  ist  das,  was  vom  Stand- 
punkte der  Objekte  gesehen,  Differenzierungen  des  Absoluten  sind, 
vom  Standpunkte  des  absoluten  Subjekts  betrachtet,  Ideen  Gottes. 
"War  in  seiner  früheren  Phase  die  Ästhetik  die  einheitliche  Spitze  des 
Systems,  diese  Einheit  vom  Standpunkte  des  Subjekts  gesehen,  so  ist 
es  jetzt  die  Religionsphilosophie.  Dabei  ist  das  Verhältnis  der 
realen  und  idealen  Reihe  so,  daß  die  letztere  die  Priorität  hat:  die 
empirische  Welt  der  endlichen  Erscheinungen  ist  die  äußere  Ge- 
staltung des  unendlichen  Ideenreiches  Gottes.  Die  Ausgestaltung 
dieses  letzten  Gedankenganges,  die  Lösung  des  hier  liegenden  Pro- 
blems, wie  das  Herausfließen  des  Endlichen  aus  dem  Unendlichen 
begrifflich  zu  begreifen  sei,  ist  die  Aufgabe  Hegels. 

2.  "Wir  haben  die  begriffsphilosophische  Linie  bis  zu  dem  Punkte 
verfolgt,  wo  Hegel  in  sie  eingreift.  "Werfen  wir  nun  noch  einen  Blick 
auf  die  gefühlsphilosophische  Strömung.  Wir  können  uns  hier  kürzer 
fassen,  weil  Hegel  aus  dieser  keine  positiven  Momente  übernommen 
hat,  sondern  in  schroffer  Opposition  zu  ihr  steht. 

Auch  hier  können  wir  noch  bei  Schelling  bleiben.  Die  Frage, 
bei  der  wir  ihn  verlassen  haben,  weil  es  auch  die  Frage  Hegels  ist, 
läutet:  AVie  geht  die  AVeit  aus  Gott  hervor?  Hegel  gibt,  wie  wu- 
schen werden,  auf  sie  eine  rein  begriffliche  Antwort.  Ganz  anders 
Schelling:  Er  sucht  sie  zu  lösen  durch  eine  Verschmelzung  von  Reli- 
gion und  Philosophie.  Seine  Antwort  lautet  völlig  irrational:  Das 
Heraustreten  der  Ideen  aus  Gott  ist  ein  Abfall  von  ihm,  der  aus  seinem 
"Wesen  nicht  zu  begreifen  ist;  es  ist  eine  undeduzierbare  Urtatsache. 
Und  diese  Urtatsache   nennt    Schelling  Sündenfall,   und  faßt  dem- 


158  Münck, 

gemäß  jetzt  die  ganze  Weltentwicklung  als  Sühne  dieses  Abfalls, 
als  Rückkehr  zu  Gott. 

Mit  diesem  Irrationalismus  ist  ein  ungemein  interessanter  Punkt 
in  der  nachkantischen  Entwicklung  berührt,  den  ich  gleich  in  der 
klaren  Form  angeben  will,  in  der  ihn  Medicus  formuliert  hat:  es 
handelt  sich  um  die  Frage  nach  einem  ,,für  das  (endliche)  Bewußt- 
sein dunklen  Gebiet  innerhalb  der  Vernunft    selbst"5). 

Darüber  folgendes:  Die  pragmatische  Notwendigkeit  der  Ideen- 
entwicklung aus  Kants  Gedankenmassen  heraus  führte  in  ihrem 
Hauptstrome  zu  einer  immer  stärkeren  Rationalisierung  der  Wirk- 
lichkeit :  es  soll  schließlich  alles  restlos  in  Begriffe  der  Vernunft  auf- 
gelöst werden.  Aber  all  diese  Systeme  müssen  Halt  machen  vor  einem 
Letzten,  das  sie  nicht  mehr  rational  begreifen  können,  weil  es  sich 
bloß  noch  erlebend  fassen  läßt.  Das  war  bei  Kant  darin  zum  Aus- 
druck gekommen,  daß  er  erklärt  hatte:  für  die  Vernunft  ist  der  Er- 
iahrungs  s  t  o  f  f  ein  Gegebenes;  das  ist,  wie  besonders  Maimon 
betont,  der  tiefsfe  Sinn  der  theoretischen  Seitfr  seiner  Lehre  vom 
Ding-an-sich:  sie  drückt  aus,  daß  für  uns  eine  inhaltliche  Grenze 
des  Begreifens  bleibt,  ein  letztes  Inhaltliches,  von  dem  man  nur  noch 
das  vorkritische  Wort  Kants  aussagen  kann:  Est;  hoc  et  concepisse 
et  dixisse  sufficit!  Und  nichts  anderes  besagt  doch  wohl  auch  bei 
Fichte  der  Begriff  der  Urposition  der  Empfindungen:  Sie  sind  in 
ihrem  Inhalt  eben  einfach  da,  sind  die  bloß  erlebend  faßbare  Inhalt- 
lichkeit des  Wirklichen.  Die  Transzendentalphilosophie  vermag  aus 
dem  Primat  der  praktischen  Vernunft  heraus  wohl  zu  sagen,  was  sie 
für  einen  Sinn  haben,  d.  h.  w  o  z  u  sie  da  sind,  aber  nicht  ihr  ele- 
mentares  Daß   und   W  a  s   begreiflich  zu  machen. 

Hier  setzen  nun  eine  Reihe  von  Denkern  mit  ihrer  Kritik  am 
kritischen  Idealismus  ein,  indem  sie  gegen  dessen  Allvernünftigkeit 
protestieren.  Diese  Richtung  umfaßt  eine  Menge  von  Persönlichkeiten, 
deren  Anschauungen  im  einzelnen  ganz  große  Differenzen  zeigen, 
auch  nach  der  prinzipiellen  Seite.  Nur  durch  eine  weitgehende  Ab- 
straktion ist  es  möglich,  sie  zum  Zwecke  unserer  Problemstellung  zu- 
sammenzufassen, indem  ich  mich  eben  darauf  beschränken  muß, 
die  ihnen  gemeinsamen  Momente  hervorzuheben,  gegen   die  Hegel 

5)  Vgl.  F.  Medicus  ,, Fichte"  in  „Große  Denker"  (herausg.  von  E.  von 
Aster),  Bd.  II,  S.  160. 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       159 

sich  wendet.  Diese  aber  scheinen  mir  im  folge»  den  zu  liegen :  1.  In  der 
Betonung  des  Gefühls  als  bestimmendem  Grundprinzip  der  philo- 
sophischen Gesamtan  schauung,  ur>d  zwar  einerseits  des  ästhetischen, 
wie  bei  den  Romantikern,  anderseits  des  religiösen,  wie  bei  Schleier- 
macher; 2.  damit  zusammenhängend,  in  der  (eben  erwähnten)  Be- 
tonung der  Irrationalität  des  wirklich  Wirklichen,  wie  bei  dem  „Glau- 
bensphilosophen" Jacobi.  Mit  letzterem  Punkte  berühren  sich  dann, 
eigentümlicher  aber  begreiflicher  Weise,  empiristische  Einwände  von 
Seiten  der  Männer  der  empirischen  Einzelwissenschaften,  denen  ihr 
Stoff  unter  den  Händen  „zu  Vernunft  zu  verdampfen  droht". 

Was  nun  zuerst  Jacobi  anlangt,  so  ist  er  durch  und  durch 
Gefühlsmensch:  Das  Gefühl  beherrscht  bei  ihm  alles,  ist  ausschlag- 
gebender Faktor  in  allen  Fragen.  Dabei  ist  er  erfüllt  von  dem  philo- 
sophischen Streben  nach  Erfassung  des  unendlichen  Weltinhaltes. 
Aber  hierbei  steht  es  ihm  eben  von  vornherein  unerschütterlich  fest, 
daß  dies  nur  durch  das  ursprüngliche  Gefühl  (Rousseau!)  geschehen 
könne;  nur  dieses  sei  imstande,  das  Unbedingte,  die  übersinnliche 
Welt,  zu  erfassen;  das  unbedingte  Sein  sei  nie  zu  beweisen  —  schon 
dies  Verlangen  sei  ein  unsinniges!  — ,  sondern  nur  unmittelbar  zu 
erfühlen:  Es  ist  kein  Objekt  des  Wissens,  sondern  nur  ein  Gegenstand 
des  Glaubens.  Solcher  Gegenstände  des  unmittelbar  in  sich  selbst 
gewissen  Glaubens  aber  gebe  es,  genauer  zugesehen,  zwei:  das  sinn- 
lich Wahrnehmbare  und  das  Übersinnliche.  Nur  letzteres  aber  inter- 
essiert eigentlich  Jacobi:  die  einzige  Geltungsinstanz  für  Erfassimg 
desselben  liege  im  individuellen  Gefühl;  die  gefühlserfüllte  Individuali- 
tät allein  sei  der  Grund  aller  Gewißheit. 

Diese  Betonung  der  Individualität  ist  der  Punkt,  der  Jacobi 
mit  den  Romantikern  verbindet.  Sie  knüpfen  (mit  Schiller, 
mögen  sie  sich  persönlich  auch  von  diesem  noch  so  weit  entfernen) 
an  Kants  „Kritik  der  Urteilskraft '  (erster  Teil)  und  damit  an  das 
ästhetische  Gefühl  als  das  vereinheitlichende  Prinzip  des  Lebens  an. 
„Gefühl  ist  alles. '  Von  da  aus  wird  aber  dann  sehr  rasch  bei  ihnen  das 
ästhetisch  fühlende  Individuum  alles,  nicht  ohne  starken  Einfluß  der 
mißverstandenen  Ichlehre  Fichtes.  Es  bildet  sich  der  Kultus  des 
Genies  aus,  wie  er  vorbildlich  in  Friedrich  Schlegel  hervortritt,  dessen 
Moral  in  der  schrankenlosen  Willkür  des  allein  auf  sich  selbst  stehenden 
individuellen  Ichs  gipfelt,  das  auf  nichts  außer  sich  Rücksicht  zu 
nehmen,  nur  sich  auszuleben  hat. 


160  Münch, 

Zum  Schlüsse  muß  hier  auch  noch  Schleier  m  acher 
erwähnt  werden.6)  Er  knüpft  direkt  an  Kant  an.  Die  letzte 
Synthese  für  dessen  Dualismus  wäre  die  Erkenntnis  der  Gottheit. 
Dies  ,, Ideal  der  Vernunft",  die  „theologische  Idee",  ist  aber 
bei  Kant  bloß  eine  in  ihrem  Sinn  und  Inhalt  wissen  schaft- 
lich-konstitutiv  nicht  erkennbare,  nur  regulative  Richtlinie 
unseres  Wissens  und  Handelns.  Hier  sucht  Schleiermacher  weiter 
zu  kommen:  unerkennbar  allerdings  ist  die  Gottheit,  aber  sie  ist 
erfühlbar.  In,  diesem  Gefühl  begründet  sich  das  Wesen  aller 
Religion,  die  deshalb  von  der  Moral  und  der  Erkenntnis 
gleichmäßig  unabhängig  ist.  Die  Religionsphilosophie  ist  die  Lehre 
nicht  von  Gott,  sondern  vom  religiösen  Gefühle.  Sie  ist  die 
Wissenschaft, die  sich  dadurch,  daßsie  sich 
jenes  Gefühls  Voraussetzungen  klar  macht, 
den  Inhalt  des  subjektiven  Gefühls  objek- 
tiv macht.  Für  die  theoretische  Vernunft  ist  sonach 
Gott  das  schlechthin  Unerkennbare,  die  absolute  Indifferenz,  über  die 
wissenschaftlich  schlechterdings  nichts  ausgesagt  werden 
kann. 

IL 

Unser  historischer  Gang  ist  zu  Ende.  Schauen  wir  nun  zu,  wie 
sich  Hegel  zu  den  entwickelten  Geistesströmungen  stellt. 

1.  Er  setzt  sich  zunächst  mit  der  Gefühls-  und  Glau- 
bensphilosophie auseinander  und  sucht  sich  diese  Erschei- 
nung der  zeitgenössischen  Philosophie  nach  ihren  Ursachen  und  ihrem 
Sinn  klar  zu  machen.  Er  sieht  in  ihr  —  zweifellos  mit  Recht  —  eine 
typische  Erscheinung  in  der  Entwicklung  des  Menschheitsgeistes. 
Der  Menschengeist  ist  an  seinem  Anfange  eingeschlossen  in  einen 
sozialpsychischen  Gesamtzusammenhang.  Das  Individuum  taucht 
mit  seinem  Denken,  Fühlen  und  Wollen  vollkommen  unter  in  die 
Apperzeptionsmassen  seines  Volkes  und  seiner  Zeit.  Mit  dem  er- 
wachenden und  erstarkenden  Selbstbewußtsein  aber  löst  sich  all- 
mählich der  individuelle  Geist  von  dem  Banne  der  allgemeinen  Mei- 
nung, er  „ist  über  das  substanzielle  Leben,  das  er  sonst  im  Elemente 


6)  Ich  rufe  in  Erinnerung,  daß  ich  mich  durchgängig  beschränke  auf 
Hervorhebung  nur  derjenigen  Momente,  die  mir  zum  Verständnisse  Hegels 
wichtig  erscheinen. 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       161 

des  Gedankens  führte,  hinaus".   Er  übt  nun  Kritik  und  verfällt  dabei 
meist  in  „das  andere  Extrem  der  substanzlosen  Reflexion",  in  der 
die  gesamten  bisherigen  Anschauungen  zersetzt  werden.    (Man  denke 
etwa  an  die  Zeit  der  Sophistik  in  Athen.)    Da  kommt  die  Erwachung 
und  Ernüchterung,  die  Einsicht,  daß  nun  alles  und  jedes  wankt,  daß 
man  den  Boden  unter  den  Füßen  verliere.  Man  ruft  nach  einem  festen 
Halt,  und  zwar  geht  dieser  Ruf  zunächst  zurück  in  der  Richtung  des 
Alten,  das  man  verloren  hat.    Man  verlangt  von  der  Philosophie  in 
diesem  Stadium  nicht,  daß  sie  „das  chaotische  Bewußtsein  zur  ge- 
dachten Ordnung  und  zur  Einfachheit  des  Begriffes  bringe",  sondern 
daß  sie  „vielmehr  die  Sonderungen  des  Gedankens  zusammenschütten, 
den  unterscheidenden  Begriff  unterdrücken  und  das    Gefühl    des 
Wesens  herstellen,  nicht  sowohl  Einsicht,  als  Erbauung  gewähren" 
soll.    „Das  Schöne,  Heilige,  Ewige,  die  Religion  und  Liebe  sind  der 
Köder,  der  gefordert  wird,  um  die  Lust  zum  Anbeißen  zu  erwecken ; 
nicht  der  Begriff,  sondern  die  Ekstase,  nicht    die    kalt    fort- 
schreitende   Notwendigkeit    der    Sache,    sondern 
die    gärende    Begeisterung    soll  die  Haltung  und  fort- 
leitende Ausbreitung  des  Reichtums  der  Substanz  sein."  Ein  Symptom 
für  solche  Zeitströmungen  seien  (sind!)  die  gegenwärtigen  philoso- 
phischen Versuche,  die  das  Absolute  nicht  begriffen,  sondern  gefühlt 
und  angeschaut  haben  möchten. 

Damit  verbinde  sich  als  zweites  Moment  die  Richtung  dieser 
Strömung  auf  das  Überirdische.  Während  die  „Zeit  der  Ge- 
bundenheit" sich  charakterisiere  durch  ein  Versunkensein  in  das  Gött- 
liche, in  die,  wenn  man  so  sagen  darf,  „jenseitige  Gegenwart"-  (man 
denke  an  das  Mittelalter),  hafte  das  „zerrissene  Bewußtsein"  mit 
all  seinen  Interessen  am  Irdischen;  darum  müsse  natürlich  die  philo- 
sophische Richtung,  die  von  diesem  zu  jenem  Zustand  zurückstrebe, 
auch  wieder  mit  aller  Macht  auf  das  Göttliche  hinweisen,  sich  in 
Ekstase  zu  ihm  erheben. 

Aber  all  diese  Bemühungen  sind  nach  Hegel  falsch  und  verderb- 
lich. Der  richtige  Weg,  der  allein  zu  einer  neuen,  bleibenden  Synthese 
führen  könne,  sei  allein  der  der  Wissenschaft.  „Wer  nur  Er- 
bauung sucht,  wer  die  irdische  Mannigfaltigkeil  seines  Daseins  und 
des  Gedankens  in  Nebel  einzuhüllen  und  nach  dem  unbestimmten 
Genüsse  dieser  unbestimmten  Göttlichkeil  verlangt,  mag  zusehen, 
wo  er  dies  findet;  er  wird  leicht  selbst  sieh  etwas  vorzuschwärmen 


162  Münch, 

und  damit  sich  aufzuspreizen  die  Mittel  finden.  Die  Philosophie 
aber  muß  sich  hüten,  erbaulich  sein  zu  wolle  n." 
„Wie  es  eine  leere  Breite  gibt,  so  auch  eine  leere  Tiefe,  wie  eine  Ex- 
tension der  Substanz,  die  sich  in  endliche  Mannigfaltigkeit  ergießt, 
ohne  Kraft  sie  zusammenzuhalten,  so  eine  gehaltlose  Intensität, 
welche,  als  lautere  Kraft  ohne  Ausbreitung  sich  haltend,  dasselbe  ist, 
was  die  Oberflächlichkeit." 

Der  Begriff  allein  sei  das  Mittel,  zu  festen  Anschauungen  zu  ge- 
langen. Zu  ihm  sei  aber  auch  alle  Anstrengung  begrifflich  wissenschaft- 
lichen Denkens  erfordert.  Hier  genüge  weder  der  sogen. 
gesunde  Menschenverstand,  noch  die  Genialität. 

Was  zunächst  den  ersteren  anlangt,  so  kommt  er  über  triviale 
Wahrheiten  nicht  hinaus,  für  deren  Bedeutsamkeit  er  aber  immer 
bereit  ist,  mit  den  Phrasen  von  der  „Unschuld  des  Herzens"  und  der 
„Reinheit  des  Gewissens"  einzutreten.  Hält  man  ihm  die  Unbe- 
stimmtheit oder  Schiefheit  seiner  Ansichten  vor,  so  hilft  er  sich  so, 
daß  er  gereizt  einfach  erklärt,  seine  Behauptungen  seien  „ausge- 
machtermaßen" richtig,  alles  andere  sei  „Sophisterei".  Hilft  auch  dies- 
nicht,  so  beruft  er  sich  auf  das  innere  Orakel  seines  Gefühls  und  er- 
klärt, „daß  er  dem  weiter  nichts  zu  sagen  habe,  der  nicht  dasselbe 
in  sich  finde  und  fühle".  Hiermit  aber  tritt  er  die  Wurzel  der  Humanität 
mit  Füßen.  „Denn  die  Natur  dieser  ist,  auf  die  Übereinkunft  mit 
andern  zu  dringen,  und  ihre  Existenz  besteht  nur  in  der  zustande 
gebrachten  Gemeinsamkeit  der  Bewußtseine." 

Ganz  anders  verhält  es  sich  mit  den  Aposteln  der  Genialität. 
„Macht  sich  jener  gemeine  Weg  im  Hausrocke,  so  schreitet  hier  das 
Hochgefühl  des  Ewigen,  Heiligen,  Unendlichen  im  hohepriesterlichen 
Gewände  einher  —  einen  Weg,  der  vielmehr  schon  selbst  das  un- 
mittelbare Sein  im  Zentrum,  die  Genialität  tiefer  origineller  Ideen 
und  hoher  Gedankenblitze  ist.  Wie  jedoch  solche  Tiefe  noch  nicht 
den  Quell  des  Wesens  offenbart,  so  sind  diese  Raketen  noch  nicht  das 
Empyreum.  Wahre  Gedanken  und  wissenschaft- 
liche Einsicht  ist  nur  in  der  Arbeit  des  Be- 
griffs zu  gewinnen.  Er  allein  kann  die  Allgemeinheit 
des  Wissens  hervorbringen,  welche  weder  die  gemeine  Unbestimmtheit 
und  Dürftigkeit  des  gemeinen  Menschenverstandes,  sondern  gebildete 
und  vollständige  Erkenntnis,  noch  die  ungemeine  Allgemeinheit 
der  durch  Trägheit  und  Eigendünkel  von  Genie  sich  verderbenden 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       163 

Anlage  der  Vernunft,  sondern  die  zu  ihrer  einheimischen  Form  ge- 
diehene Wahrheit,  —  welche  fähig  ist,  das  Eigentum  aller  selbst- 
bewußten Vernunft  zu  sein." 

Diesen  beiden  Arten  zu  philosophieren  stellt  Hegel  sein 
begriffliches  Philosophieren  gegenüber,  von  dem 
er  behauptet,  daß  es  Wissenschaft  im  strengen  Sinne,  kein  esoterisches 
Besitztum  einiger  Einzelner  sei,  daß  es  also  jedem  vernünftigen  Wiesen 
vermittelt  werden  könne.  Bevor  er  aber  das  Grundprinzip  dieses 
Philosophierens  entwickelt,  setzt  er  sich  zunächst  auseinander  mit 
demjenigen  Grundprinzip  der  Philosophie,  das  Sehe  Hing  in 
seinem  Identitätssystem  aufgestellt  hatte,  mit  dessen  Begriff  des 
Absoluten. 

Die  Auseinandersetzung  wird  folgendermaßen  eingeleitet:  ,,Die 
AVissenschaft,  die  erst  begirnt  und  es  also  noch  weder  zur  Vollständig- 
keit des  Details  noch  zur  Vollkommenheit  der  Form  gebracht  hat, 
ist  dem  Tadel  darüber  ausgesetzt.  Aber  wenn  dieser  ihr  Wesen  treffen 
soll,  so  dürfte  er  ebenso  ungerecht  sein,  als  es  unstatthaft  ist,  die 
Forderung  jener  Ausbildung  nicht  anerkennen  zu  wollen.  Dieser 
Gegensatz  scheint  der  hauptsächlichste  Knoten  zu  sein,  an  dem  die 
wissenschaftliche  Bildung  sich  gegenwärtig  zerarbeitet,  und  worüber 
sie  sich  noch  nicht  gehörig  versteht.  Der  eine  Teil  pocht  auf  den 
Reichtum  des  Materials  und  die  Verständlichkeit,  der  andere  ver- 
schmäht wenigstens  diese  und  pocht  auf  die  unmittelbare  Vernünftig- 
keit und  Göttlichkeit.  Wenn  auch  jener  Teil,  es  sei  durch  die  Kraft 
der  Wahrheit  allein  oder  auch  durch  das  Ungestüm  des  andern  zum 
Stillschweigen  gebracht  ist,  und  wenn  er  in  Ansehung  des  Grunds 
der  Sache  sich  überwältigt  fühlte,  so  ist  er  darum  in  Ansehung  jener 
Forderungen  nicht  befriedigt;  denn  sie  sind  gerecht,  aber  nicht  er- 
füllt. Sein  Stillschweigen  gehört  nur  halb  dem  Siege,  halb  aber  der 
Langeweile  und  Gleichgültigkeit,  welche  die  Folge  einer  beständig 
erregten  Erwartung  und  nicht  erfolgten  Erfüllung  der  Versprechungen 
zu  sein  pflegt."  Sie  sehen,  m.  D.  u.  H.,  das  Problem,  das  Hegel  be- 
schäftigt, ist  genau  das,  welches  sich  uns  am  Schlüsse  der  Ausführung 
über  die  historische  Entwicklung  der  begriffsphilosophischen  Richtung 
ergeben  hat,  nämlich:  Wie  kommen  die  Einzeleinsichten  mit  dem 
philosophischen  Grundprinzip  zu  einer  Einheit  zusammen?  Zur 
Lösung  der  Frage  weist  nun  Hegel  zunächst  das  Unzureichende  an 
dem  Schellingschen  Begriff  des  Absoluten  nach:    Dieser  Begriff  sei 


164  Münch, 

absolut  leer  und  tot.  „Irgend  ein  Dasein,  wie  es  im  Absoluten  ist, 
betrachten,  besteht  hier  in  nichts  anderem,  als  daß  davon  gesagt  wird, 
es  sei  zwar  jetzt  von  ihm  gesprochen  worden,  als  von  einem  Etwas; 
im  Absoluten  jedoch  gebe  es  dergleichen  gar  nicht,  sondern  darin  sei 
alles  eins."  Mit  andern  Worten:  Dies  Absolute  ist  „die  Nacht,  worin, 
wie  man  zu  sagen  pflegt,  alle  Kühe  schwarz  sind,  es  ist  die  Naivität 
der  Leere  an  Erkenntnis!"  Mit  diesem  Formalismus  sei  nicht  weiter 
zu  kommen,  bis  das  Erkennen  der  absoluten  Wirklichkeit  sich  über 
seine  Natur  vollkommen  klar  geworden,  sei,  bis  ein,  Prinzip  gewonnen, 
aus  dem  Form  und  Inhalt  des  Wirklichen  sich  gleichermaßen  begreifen 
ließe.  „Es7)  ist  mit  solchem  Formalismus  derselbe  Fall  als  mit  jedem. 
Wie  stumpf  müßte  der  Kopf  sein,  dem  nicht  in  einer  Viertelstunde 
die  Theorie,  daß  es  asthenische,  sthenische  und  indirekt  asthenische 
Krankheiten  und  ebenso  viele  Heilpläne  gebe,  beigebracht,  und  der 
nicht,  da  ein  solcher  Unterricht  noch  vor  kurzem  dazu  hinreichte, 
aus  einem  Routinier  in  dieser  kleinen  Zeit  in  einen  theoretischen 
Arzt  verwandelt  werden  könnte  ?  Wenn  der  n  a  t  u  r  p  h  i  1  o  s  o  - 
p  h  i  s  c  h  e  Formalismus  etwa  lehrt,  der  Verstand  sei  die  Elektrizität, 
oder  das  Tier  sei  der  Stickstoff,  oder  auch  gleich  dem  Süd  oder  Nord 
u.  s.  f.,  oder  repräsentiere  ihn,  so  nackt  wie  es  hier  ausgedrückt  ist, 
oder  auch  mit  mehr  Terminologie  zusammengebraut:  so  mag  über 
solche  Kraft,  die  das  weit  entlegen  Scheinende  zusammengreift, 
und  über  die  Gewalt,  die  das  ruhende  Sinnliche  durch  diese  Verbin- 
dung erleidet  und  die  ihm  dadurch  den  Schein  eines  Begriffs  erteilt, 
die  Hauptsache  aber,  den  Begriff  selbst  oder  die  Be- 
deutung der  sinnlichen  Vorstellung,  auszusprechen 
erspart,  —  es  mag  hierüber  die  Unerfahrenheit  in  ein  bewunderndes 
Staunen  geraten,  darin  eine  tiefe  Genialität  verehren,  sowie  an  der 
Heiterkeit  solcher  Bestimmungen,  da  sie  den  abstrakten  Begriff  durch 
Anschauliches  ersetzen  und  erfreulicher  machen,  sich  ergötzen  und 
sich  selbst  zu  der  geahndeten  Seelenvcrwandtschaft  mit  solchem  herr- 
lichen Tun  glückwünschen.  Der  Pfiff  einer  solchen  Weisheit  ist  so- 
bald erlernt,  als  es  leicht  ist,  ihn  auszuüben;  seine  Wiederholung  wird, 
wenn  er  bekannt  ist,  so  unerträglich,  als  die  Wiederholung  einer  ein- 
gesehenen Taschenspielerkunst.    Das  Instrument  dieses  gleichtönigen 


7)  Das  hier  folgende  Zitat  war  oben  S.  154  gemeint;  es  illustriere  zugleich 
Diktion  und  .Stil  Hegels  und  die  humorvolle  Überlegenheit  seiner  Polemisier- 
weise. 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".      165 

Formalismus  ist  nicht  schwerer  zu  handhaben,  als  die  Palette  eines 
Malers,  auf  der  sich  nur  zwei  Farben  befänden,  etwa  Rot  und  Grün, 
um  mit  jener  eine  Fläche  anzufärben,  wenn  ein  historisches  Stück, 
mit  dieser,  wenn  eine  Landschaft  verlangt  wäre.  —  Es  würde  schwer 
zu  enstcheiden  sein,  was  dabei  größer  ist,  die  Behaglichkeit,  mit  der 
alles,  was  im  Himmel,  auf  Erden  und  unter  der  Erden  ist,  mit  solcher 
Farbenbrühe  angetüncht  wird,  oder  die  Einbildung  auf  die  Vortreff- 
lichkeit dieses  Universalmittels ;  die  eine  unterstützt  die  andere. 
Was  diese  Methode,  allem  Himmlischen  und  Irdischen,  allen  natür- 
lichen und  geistigen  Gestalten  die  paar  Bestimmungen  des  allgemeinen 
Schemas  aufzukleben  und  auf  diese  Weise  alles  einzurangieren,  her- 
vorbringt, ist  nichts  geringeres  als  ein  „sonnenklarer  Bericht"  über 
den  Organismus  des  Universums,  nämlich  eine  Tabelle,  die  einem 
Skelette  mit  angeklebten  Zettelchen,  oder  den  Reihen  verschlossener 
Büchsen  mit  ihren  aufgehefteten  Etiketten  in  einer  Gewürzkrämer- 
bude gleicht,  die  so  deutlich  als  das  eine  und  das  andere  ist,  und  die, 
wie  dort  von  den  Knochen  Fleisch  und  Blut  weggenommen,  hier  aber 
die  eben  auch  nicht  lebendige  Sache  in  den  Büchsen  verborgen  ist, 
auch  das  lebendige  Wesen  der  Sache  weggelassen  hat.  —  Daß  sich 
diese  Manier  zugleich  zur  einfarbigen  absoluten  Malerei  vollendet, 
indem  sie  auch,  der  Unterschiede  des  Schemas  sich  schämend,  sie 
als  der  Reflexion  angehörig  in  der  Leerheit  des  Absoluten  versenkt, 
auf  daß  die  reine  Identität,  das  formlose  Weiße,  hergestellt  werde, 
ist  schon  bemerkt  worden.  Jene  Gleichfarbigkeit  des  Schemas  und 
seiner  leblosen  Bestimmungen  und  diese  absolute  Identität  und  das 
(hergehen  von  einem  zum  andern  ist  eines  gleich  toter  Verstand  als 
das  andere  und  gleich  äußerliches  Erkennen." 

2.  Nachdem  sich  Hegel  so  mit  seinen  philosophierenden  Zeit- 
genossen auseinandergesetzt  hat,  geht  er  nun  daran,  diesen  falschen 
oder  unzulänglichen  Bestrebungen  seineu  neuen  Versuch  gegenüber 
zu  stellen.  Ich  will  mich  bemühen,  Ihnen  die  Grundanschauungen, 
von  der  aus  Hegel  an  die  „Phänomenologie  des  Geistes"  herantritt, 
an  folgenden  3  Punkten,  klar  zu  machen: 

a)  Substanz  und   Wahrheit, 

b)  die  dialektische  .Methode, 

c)  Räsonnieren  und  BegreifeUi 
und  werde  Ihnen  dann  als  Abschluß 

Archiv  für  (Jeschichte  der  Philosophie.    XXVI.  '2.  JJ 


166  Münch, 

d)  die  Aufgabe  der  Phänomenologie 
zusammenfassend  formulieren. 

In  der  Einleitung  der  Phänomenologie  gibt  Hegel  eine  von  seinem 
Standpunkte  aus  ungemein  scharfsinnige  Kritik  der  Kantischen 
Erkenntnistheorie.  Sie  trifft  Kant  deshalb  nicht,  weil  sie  gerade 
davon  als  einem  Zugestandenen  ausgeht,  was  Kant  zum  Problem 
macht,  nämlich  daß  das  Ideal  des  wissenschaftlichen  Erkennens  die 
Erfassung  der  absoluten  Realität  sei.  Aber  item:  man  lernt  wenigstens 
daraus,  wie  Hegel  sein  System  und  dessen  Prinzip  meint.  Ich  glaube, 
man  kann  das  sehr  einfach  formulieren. 

Hegel  geht  von  einer  doppelten  Überzeugung  aus,  nämlich: 
1.  daß  wir  tatsächlich  das  letzte  Wesen  der  Dinge  zu  erkennen  ver- 
mögen. Er  hat  an  der  Hand  der  griechischen  Philosophie  den  „Mut 
zur  Wahrheit"  zurückgewonnen;  er  ist  von  der  Überzeugung  getragen, 
daß  das  Universum  nicht  die  Kraft  besitze,  sich  dem  Erkenntnis- 
streben gegenüber  verschlossen  zu  halten.  Das  ist  das  eine.  Und  er 
setzt  2.  voraus,  daß  das,  was  dies  Wahrheitsstreben  erfasse,  eo  ipso 
(nicht  das  „D  i  n  g  -  a  n  -  s  i  c  h"  —  das  hat  Fichte  endgültig 
gestrichen  —  wohl  aber)    das  „A  n  -  s  i  c  h    der    Dinge"    sei. 

Von  diesen  zwei  Prämissen  aus  kommt  nun  Hegel  auf  folgende 
Weise  zu  seinem  Grundprinzip.  Er  kann  sich  natürlich  nicht  verhehlen, 
das  daß  An -sich  der  Dinge  nicht  „als  solches"  in 
unser  Bewußtsein  hineinspaziert,  sondern  daß  es  zu  diesem  Zwecke 
ein  An- sich  „für  uns"  geworden  sein  muß.  Wie  aber  kann 
nun  dieses  „Für-uns"  trotzdem  wahr,  d.  h.  „an  sich"  sein?  Die  Ant- 
wort ergibt  sich  bei  Hegel  so:  Das  „Für-uns"  ist  dann  zugleich  das 
„An-sich",  wenn  das  An-sich  zugleich  ein  „Für-uns"  ist,  d.  h.  wenn 
jenes  desselben  Wesens  ist,  wie  dieses.  Nun  ist  dieses  Bewußtsein, 
also  muß  auch  jenes  Bewußtsein  sein.  Hier  kommt  die  Kantische 
Einsicht  zum  Vorschein,  daß  ein  Erkennen  nur  möglich  ist  gegen- 
über „möglichem  Bewußtseinsinhalt."  Wodurch  wird  nun  aber 
Bewußtseinsinhalt  zu  Erkanntem,  zu  Wahrem?  Antwort:  Dadurch, 
daß  er  gemäß  den  logischen  Gesetzen,  denen  alles  Denken,  sofern 
es  Erkennen  sein  will,  untersteht,  bearbeitet  wird.  Das  ist  wieder 
eine  Kantische  Einsicht:  Alle  Denkgegenständlichkeiten  sind  Pro- 
dukte des  logischen  Denkens,  sind  Funktionen  (im  mathematischen 
Sinne)  der  erkennenden  Vernunft.  Hegel  will  nun  aber  ausgesprochener- 
maßen über  diese  Kantische  Position  noch  hinausgehen,  indem  er 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".      167 

die  logische  Konstituiertheit  zugleich  auch  in  den  Objekten,  in  dem 
Bewußtseins  i  n  h  a  1 1 ,  gesetzt  sein  läßt.  Auch  hierin  liegt  noch  ein 
Kantisches  Moment:  Die  Notwendigkeit  der  An- 
nahme einer  Angepaßtheit  des  Inhalts  an 
die  Formen  der  Vernunft.  Nur  daß  Hegel  den 
bloßen  Postulatscharakter  des  „Postulats  der  Begreiflichkeit  der 
Natur"  (wie  es  die  „Kritik  der  Urteilskraft"  hat)  abstreift.  Also: 
Das  „Für-uns"  kann  wahr,  d.  h.  „an  sich"  sein,  wenn  das  An-sich 
seinem  Wesen  nach  dasselbe  ist,  wie  das  „Wir"  in  dem  „Für-uns". 
Nun  ist  uns  unser  Wesen  als  erkennende  Subjekte  bekannt:  Es  ist 
das  Fehlen  von  aller  individuellen  Willkür  und  das  durchgängige 
Gebundensein  an  die  logischen  Gesetze.  Dann  aber  kann  auch  das 
An-sich  der  Dinge  nicht  anderer  Art  sein:  es  muß  logische  Vernunft 
sein ;  Erkennen  der  Sache  ist  Befolgung  der 
Logik  der  Sache.  Fazit:  Das  An-sich  der  Dinge  ist  die 
reine  logische  Vernunft  selbst.  Die  Welt  ist,  ihrem  letzten  reinen 
Wesen  nach,  durchaus  rationalistisch,  ist  panlogistisch. 

Betrachten  wir  nun  dies  Grundprinzip  etwas  näher,  so  zeigt 
sich  zunächst  ein  durchgängiger  Parallelismus  von  Denken  und  Sein: 
alles  was  ist,  ist  vernünftig,  und:  alles  was  vernünftig  ist,  ist.  Was 
auf  der  subjektiven  Seite  gilt,  gilt  genau  so  auf  der  objektiven,  und 
umgekehrt;  ja,  beides  ist  in  seinem  letzten  Wesen  eins:  Substanz, 
Subjekt,  Wahrheit  ist  ein  und  dasselbe. 

Man  braucht  nicht  viel  Philosophiegeschichte  zu  kennen,  daß 
einem  hier  Spinoza,  auf  den  ich  ja  auch  schon  oben  bei  Schilling 
verwiesen  habe,  einfällt  mit  seiner  Allsubstanz  und  den  Parallel- 
attributen  der  Ausdehnung  und  des  Denkens,  der  beständigen  Kor- 
relation des  esse  und  coneipi.  Aber  ein  fundamentaler  Unterschied 
darf  nicht  verkannt  werden:  dort  ist  die  Gottheit  ein  toter  Mechanis- 
mus, ja  nur  ein  „mos  geometricus",  hier  dagegen  ein  lebendiger  Orga- 
nismus, Dynamismus,  Logismus.  Dort  „geschieht"  alles  bloß, 
hier  dagegen  „lebt  die  Vernunft",  indem  sie  sich  auswirkt  als  der 
dtit^coog  hr/oq,  (Heraklits),  als  die  „lebendige  Wahrheit". 

Damit  hängt  als  weiterer  Unterschied  zusammen:  Dnrl  ist  die 
Substanz  ein  leeres  w  e  r  t  i  n  d  i  f  I'  e  r  e  n  t  e  s  Gefäß,  hier  ein 
an  Entwicklungsmöglichkeiten  unendlich  reiches  lebendiges  V  e  r  - 
n  u  n  f  t  prinzip.  Besteht  hierin  zugleich  der  Unterschied  zu 
Schellings  absoluter  Indifferenz,   so   begründet   sich  darin  anderseits 

11* 


168  Münch, 

die  Verwandtschaft,  ja  Abhängigkeit  von  Fichte;  denn -dessen  Ich 
als  Idee  hatte  auch  diesen  unerschöpflichen  Inhalt  des  Strebens 
und  Wirkens  besessen.  Nur  daß  hier  bei  Hegel  dieser  Träger  alles 
Werthaften  und  Grund  aller  Wirklichkeit,  die  diesen  Namen  ver- 
dient, keine  bloße  Idee  im  Sinne  von  Ideal  ist  (wie  es  nach 
Hegels  Meinung  bei  Fichte  der  Fall  war),  sondern  der 
,, Geist"  sich  als  das  absolute  Realität  besitzende  Traggerüst  alles 
Wirklichen  präsentiert.  Die  Begriffe  (dialektische) 
„Idee"  und  „logische  Möglich  keitsbedin - 
g  u  n  g",  die  Kant  auseinanderhält,  sind  nach 
Hegel   ein    und    dasselbe. 

Da  dieser  absolute  Weltgeist  aber  Leben  ist,  alles  Leben  aber 
in  einem  Sich-Auswirken  besteht,  ist  dies  Urprinzip  rastlose  Selbst- 
bewegung. Hier  kommt  die  platonische  Idee  in  der  aristoteli- 
schen Umformung  zur  Entelechie  zum  Vorschein.  Hegel 
gebraucht  ungemein  häufig  das  Wort  „Moment":  Gemeint  ist  selbst- 
redend movimentum  =  bewegende  Kraft,  Tendenz,  Zielstrebigkeit, 
forma  substantialis.  Dies  Leben  ist,  eben  weil  es  das  Leben  der  Ver- 
nunft ist,  von  Zwecken  geleitet:  Die  Weltvernunft  ist  zweckmäßiges 
Tun;  „der  Zweck  ist  das  Unmittelbare,  Ruhende,  das  Unbewegte, 
welches  selbst  bewegend  ist",  das  axivt/tor  xlvoiv,  das  xivsi  coq 
SQca(isvov  (Piatos  „egcog"  als  Lebensprinzip  des  „Gottes"  des  Aristo- 
teles!). 

Endlich  noch  zwei  Prädikate  des  Absoluten,  die  uns  hinüber- 
führen sollen  zur  Betrachtung  der  dialektischen  Methode.  Seite  14 8) 
heißt  es:  „Das  Wahre  ist  das  Ganze.  Das  Ganze  aber  ist  nur  das 
durch  seine  Entwicklung  sich  vollendende  Wesen.  Es  ist  von  dem 
Absoluten  zu  sagen,  daß  es  wesentlich  Resultat,  daß  es  erst  am  Ende 
das  ist,  was  es  in  Wahrheit  ist."  Auf  der  vorigen  Seite  13  aber  hatte 
es  geheißen:  „Das  Wahre  ist  das  W  erde  n  seiner  selbst;  der  Kreis, 
der  sein  Ende  als  seinen  Zweck  voraussetzt  und  zum  Anfang  hat,  und 
nur  durch  die  Ausführung  und  sein  Ende  wirklich  ist."  Mag  sein, 
daß  Schelling  bei  solchen  Stellen  in  Erinnerung  an  den  scharfen  Vor- 
wurf Hegels  gegen  sein  Absolutes  als  die  Vereinigung  aller  Gegensätze 
etwas  ironisch  gelächelt  hat.  Und  in  der  Tat  zeigt  sich  hier  die  un- 
gemeine Flüssigkeit  der  Hegeischen  Grundbegriffe,  die  oft  von  Ver- 


Ausgabe  von  Georg  Lasson  in  der  „Phil.  Bibl." 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".      169 

schwommenheit  fast  nicht  zu  unterscheiden  ist.  Aber  immerhin: 
obige  beiden  Sätze  lassen  sich  vereinigen;  nämlich  so:  da  alles  und 
jedes  Vernunft  ist,  diese  aber  in  verschiedenen  Formen  erscheint, 
kann  die  eine  und  dieselbe  Vernunft  von  der  einen  Seite  als  Werden, 
von  der  andern  Seite  als  Resultat  angesehen  werden. 

Ich  gehe  nun  zur  Betrachtung  der  sogenannten  dialek- 
tischen Methode  über.  Wir  haben  soeben  gesehen, 
daß  das  Weltpririzip  logische  Vernunft  ist.  Alle  Logik 
aber  gründet  auf  dem  Satze  der  Identität  und  des  Wider- 
spruchs. Sind  nun  die  logischen  Gesetze  Realitätsgesetze, 
so  muß  auch  der  Widerspruch  absolute  Realität  sein,  d.  h. 
im  Weltprinzip  muß  embryonal,  in  nuce,  sowohl  die  Positivität  wie 
die  Negativität  enthalten  sein,  die  beide  nur  aufeinander  hin  sinnvoll 
sind,  und  so  sagt  auch  Hegel  auf  Seite  13:  „Die  lebendige  Substanz 
ist  als  Subjekt  die  reine  einfache  Negativität,  eben  dadurch  die  Ent- 
zweiung des  Einfachen  oder  die  entgegensetzende  Verdoppelung, 
welche  wieder  die  Negation  dieser  gleichgültigen  Verschiedenheit  und 
ihres  Gegensatzes  ist." 

Diese  Negativität  spielt  nun  im  Hegeischen  System  eine  eminente 
Rolle.  Sie  ist  das  Mittel,  durch  welches  die  Selbstbewegung  der  Sub- 
stanz erfolgt.  Im  Anschluß  an  Fichte  (der  seinerseits  an  Kants  „artige 
Bemerkung"  zu  der  Kategorientafel,  daß  jeweils  die  dritte  Kategorie 
die  erste  und  zweite  in  sich  enthalte,  anknüpft)  übernimmt  Hegel  das 
triadische  System,  wonach  aller  Fortschritt  in  der  Substanz  vernunft- 
notwendig zu  denken  sei  als  Übergang  von  einer  Thesis  über  eine 
Antithesis  zur  Synthesis,  in  der  dann  jene  beiden  „aufgehoben"  wären, 
(1.  li.  nicht  mehr  in  ihrer  früheren  Existenzweise,  sondern  in  einer 
höheren  Daseinsform  weiterlebten. 

Wenn  aber  das  logische  Weltwesen  sich  so  bewegt,  muß  natürlich 
die  Wissenschaft,  die  ja  bloß  dessen  „Schattenbild"  ist,  sich  eben 
so  bewegen.  Das  ergibl  sich  unmittelbar  aus  dem  Parallelismus  der 
Welt-  und  der  Mensobenlogik,  die  ja  im  Grunde  eins  sind.  Und  so 
wird  nun  diese  dialektische  Methode  zur  wissenschaftlichen  üniversal- 
methöde,  zu  der  Form,  in  ^rr  später  Hegel  alle  seine  Ausführungen 
einkleidete.  Ein  allgemein  bekanntes  gutes  Beispiel  hierfür  ist  die 
Definition  drr  Strafe  als  „der  Negation  der  Negation  <h^  Hechts": 
Das  Recht  ist  die  Thesis,  das  dieses  negierende  Unrecht  ist  die  Anti- 
thesis,  und  dessen  Negierung  in  der  Strafe  endlich  ist  die  Synthesis. 


170  Münch, 

Es  braucht  wohl  kaum  bemerkt  zu  werden,  daß  diese  Methode  nur 
Einkleidungsform:  die  genialen  sachlichen  Einsichten  Hegels  hat  er 
nicht  durch,  sondern  trotz  dieser  Methode  gewonnen.  In  noch  höherem 
Grade  als  von  Kant  gilt  darum  von  Hegel: 

Wenn  die  Glock'  soll  auferstehn, 
muß  die  Form  in  Stücke  gehn. 

Wir  brauchen  auf  diese  Trias  hier  nicht  noch  näher  einzugehen. 
Hegel  sagt  selbst  auf  Seite  32,  daß  „ihre  eigentliche  Darstellung  nicht 
der  Phänomenologie,  sondern  der  Logik  angehört,  oder  vielmehr  diese 
selbst  ist".  Und  ferner  auf  Seite  39,  daß  ,,die  Natur  dieser  Methode 
in  der  spekulativen  Philosophie,  d.  h.  in  der  Logik,  ihre  eigentliche 
Darstellung  habe".  Erwähnt  sei  bloß  noch,  weil  es  von  Bedeutung 
für  das  Verständnis  der  Phänomenologie  ist,  daß  sich  gemäß  diesem 
Dreitakt  die  gesamte  Wirklichkeit  unter  transzendentalem  Aspekt 
(wie  ihn  Hegel  versteht)  in  3  Schichten  zerlegt:  Das  A  n  -  s  i  c  h  der 
Idee  gelangt  über  das  Für-sich  (Anderssein)  der  Natur  zu 
dem  An-und-Für-sich  („Beisichselbstsein")  des  Geistes. 

Im  Anschluß  hieran  seien  noch  kurz  zwei  Begriffe  erörtert,  die 
Hegel  sich  gegenüber  stellt :  Räsonnieren  und  Begreifen. 
Sie  sind  geeignet,  uns  zurückblickend  nochmals  die  Eigentümlichkeit 
der  Hegeischen  Begriffsphilosophie  zu  vergegenwärtigen.  Das  Rä- 
sonnieren ist  dasjenige  angeblich  wissenschaftliche  Denken, 
das  den  Standpunkt  Hegelscher  Einsicht  von  der  Selbstentfaltung 
des  Logos  noch  nicht  erreicht  hat.  Es  ist  die  Freiheit  von  dem  In- 
halt und  die  Eitelkeit  über  ihn;  es  besteht  in  einem  unwirklichen, 
bloß  formal-abstrakten  Hin-  undHerlaufen 
der  Gedanken,  ohne  daß  sie  sich  in  die 
Sache  versenkten.  „Es  verhält  sich  gegen  den  auf- 
gefaßten Inhalt  nur  negativ,  weiß  ihn  zu  widerlegen  und  zunichte  zu 
machen.  Daß  etwas  nicht  so  sei,  diese  Einsicht  ist  das  bloß  Negative ; 
es  ist  das  Letzte,  das  nicht  selbst  über  sich  hinaus  zu  einem  neuen  In- 
halt geht;  sondern,  um  wieder  einen  Inhalt  zu  haben,  muß  etwas  anderes 
irgendwoher  vorgenommen  werden.  Es  ist  die  Reflexion  in  das  leere 
Ich,  die  Eitelkeit  seines  Wissens."  „Diese  Eitelkeit  drückt  aber  nicht 
nur  dies  aus,  daß  der  Inhalt  eitel  sei,  sondern  auch,  daß  diese  Eitel- 
keit selbst  es  ist,  denn  es  ist  das  Negative,  das  nicht  das  Positive  in 
sich  erblickt." 

Demgegenüber  ist  das    Begreifen    das  adäquate  Verhalten 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".      171 

zur  Sache.  Es  versenkt  sich  in  diese  selbst 
und  sucht  deren  immanente  Logik  zu  er- 
fassen, ihre  reinen  Selbstbewegungen,  ,,die  man  Seelen  nennen 
könnte,  wenn  nicht  ihr  Begriff  etwas  Höheres  bezeichnete  als 
diese".  Das  Begreifen  vermag  auch  das  Nichts  anzusehen  als  ein  Re- 
sultat eines  Entwicklungsprozesses,  das  Übergangspunkt  für  eine 
neue  Entwicklung  ist.  Im  begreifenden  Denken  wird  nicht  von  dem 
als  ruhende  Basis  gedachten  Subjekt  ein  Akzidens  von  außen  her  als 
Prädikat  ausgesagt,  sondern,  „indem  der  Begriff  das  eigene  Selbst 
des  Gegenstandes  ist,  das  sich  als  sein  Werden  darstellt,  ist  es  nicht 
ein  ruhendes  Subjekt,  das  unbewegt  die  Akzidentien  trägt,  sondern 
der  sich  bewegende  und  seine  Bestimmungen  in  sich  zurücknehmende 
Begriff." 

Diesem  Sachverhalt  hat  sich  dann  auch  die  sprachliche  Formu- 
lierung anzupassen,  indem  sie  dies  begrifflich-logische  Wesen  des 
Gegenstandes  zum  Ausdruck  bringt.  Gelingt  ihr  dies,  so  erspart  sie 
sich  den  Beweis,  der  bloß  dem  „äußerlichen  Erkennen"  angehört: 
Der  Fortschritt  des  Gedankenganges  trägt  als  Abbild  der  Weltlogik 
seine  Gewißheit  in  sich  selbst,  bedarf  keines  Beweises. 

Welches  ist  nun  in  dieser  Grundanschauung  die  Aufgabe  der  Phä- 
nomenologie? Zur  Beantwortung  dieser  Frage  ist  zu  betonen,  daß 
Hegel  energisch  dagegen  protestiert,  daß  Schelling  das  Absolute  so 
ohne  weiteres,  „wie  aus  der  Pistole  geschossen"  einfach  an  die  Spitze 
seiner  Ausführungen  stellt.  Von  dieser  genialen  Intuition  des 
Wahren  will  Hegel  nichts  wissen.  Die  Wrahrheit  ist  Gegenstand 
des  Wissens ;  dann  muß  a  u  c  h  der  Weg  zu  ihr 
Gegenstand  des  Wissens  sein.  Die  Wahrheit 
ist  allen  vernünftigen  Wesen  faßbar;  darum  wird  sie  sich  wohl 
auch  erkennen  lassen  durch  eine  Betrachtung  der  Entwicklung 
dieser  vernünftigen  Menschheit.  Bevor  die  Philosophie  mit  ihren 
Deduktionen  aus  dem  obersten  Prinzip  beginnen  kann,  bedarf  sie 
daher  einer  Disziplin,  die  den  Weg  zu  diesem  obersten  Prinzip  zum 
Gegenstand  ihrer  Untersuchung  macht.  Diese  Aufgabe  will  die  Phäno- 
menologie erfüllen:  Sie  will  durch  eine  Betrachtung  des  „erscheinenden 
Wissens"  langsam  aufsteigen  von  dem  natürlichen  Bewußtsein  bis 
zur  Erfassung  von  dessen  letztem  Wesen  in  der  absoluten  Substanz  der 
logischen  Weltvernunft.  „Das  Individuum  hat  das  Recht  zu  fordern, 
daß  die  Wissenschaft,  für  die  das  reine  Selbsterkennen  im  absoluten 


172  Münch, 

Anderssein,  dieser  Äther  als  solcher,  der  Grund  und  Boden  ist,  ihm 
wenigstens  die  Leiter  zu  diesem  Standpunkte  reiche,  ihm  in  ihm 
selbst  denselben  aufzeige."  „Das  Werden  der  Wissenschaft  überhaupt 
oder  des  Wissens  ist  es,  was  die  Phänomenologie  des  Geistes  darstellt."' 
„Die  Keine  seiner  Gestaltungen,  welche  das  Bewußtsein  auf  diesem 
Wege  durchläuft,  ist  die  ausführliche  Geschichte  der  Bildung  des  Be- 
wußtseins selbst  zur  Wissenschaft."  Daß  aber  die  Beschäftigung 
hiermit,  mit  dem  bloß  erscheinenden  Wissen,  selbst  Wissenschaft  in 
prägnantem  Sinne  ist,  ergibt  sich  daraus,  daß  sich  dieser  Weg  als. 
ein  von  innerer  logischer  Notwendigkeit  beherrschter  herausstellt, 
dessen  Erfassung  also,  gemäß  dem  erkenntnistheoretischen  Grund- 
prinzip, selbst  auch  Logik,  also  Wissen  sein  muß.  Die  Aufgabe  ist 
also  in  der  Phänomenologie  des  Geistes  nicht  die,  eine  statisch-kritische 
Transzendental  p  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  ,  als  System,  sondern  die,  eine 
dynamisch-genetische  Transzendental  psychologie  als  Geschichte 
der  Wissenschaft  zu  schreiben,  wobei  aber  das  Wort  „Wissenschaft" 
in  dem  umfassenden  Sinne  Hegels  gemeint  ist,  wo  es  die  ge- 
samte    Menschheitskultur     in     sich     „begreif  t". 

Es  handelt  sich  also  darum,  bei  jeder  Station  des  Gesamtentwick- 
lungsprozesses des  menschlichen  Bewußtseins,  sowohl  des  Einzel- 
bewußtseins als  des  Menschheitsbewußtseins,  zuzuschauen,  was  daran 
Vernunft  ist,  um  so,  nach  Durchlaufung  der  gesamten  sogenannten 
Geistesgeschichte,  das  vernünftige  Grundwesen  des  gesamten  Pro- 
zesses und  in  diesem  das  letzte  treibende  Prinzip  des  Weltgeschehens 
überhaupt  zu  erfassen. 

Wie  Sie  sehen,  m.  D.  u.  H.,  eine  ungeheure  Aufgabe;  in  dieser 
Ungeheuerlichkeit  gründet  es,  daß  das  Verständnis  der  Phänomeno- 
logie Hegels  in  all  ihren  Einzelheiten  so  ungemein  schwer  ist.  Denn 
es  wird  keine  Geschichte  erzählt,  sondern  diese  als  bekannt  voraus- 
gesetzt, und  nur  jeweils  —  ohne  zu  sagen,  welche  historischen  Phäno- 
mene gemeint  sind  —  deren  Vernunftgehalt  im  Zusammenhang  des 
Ganzen  herausgestellt.  Diese  Schwierigkeit  des  Verständnisses  wird 
dann  noch  weiter  gesteigert  dadurch,  daß  Hegel  bei  seinem  Versuche, 
hinter  die  transzendentalen  Kulissen  der  Geistesentwicklung  zu  blicken, 
gar  nicht  scheidet  zwischen  individuellem  und  allgemeinem  Bewußt- 
sein. In  Vorausnahme  des  „biogenetischen  Grundgesetzes",  in  trans- 
zendentaler Vertiefung  der  Korrespondenz  von  „0  n  t  o  g  e  n  i  e 
und    P  h  y  1  o  g  e  n  i  e"  (hier  natürlich  vom  Leben  des  Geistes 


Die  Problemstellung  von  Hegels  „Phänomenologie  des  Geistes".       173 

gemeint)  wird  jeweils  immer  das  eine  an  dem  andern  gegenseitig 
veranschaulicht  und  gestützt,  so  daß  also  Psychologie,  Erkenntnis- 
theorie, Philosophiegeschichte  und  Kulturgeschichte  fortwährend  in- 
einandergreift, bald  aus  diesem,  bald  aus  jenem  Gebiete  argumentiert 
und  exemplifiziert  wird. 

So  begreift  es  sich,  wie  ein  so  geistreicher  und  scharfsinniger 
Beurteiler,  wie  Rudolf  Haym,  zu  dem  Resultat  kommen  kann:  Hegels 
Phänomenologie  sei  das  konfuseste  Werk,  das  je  geschrieben  worden 
sei,  in  dem  alles  und  jedes  durcheinander  gehe.9)  Aber  dem  steht  das 
Urteil  eines  ebenso  kompetenten  Richters  gegenüber,  Eduard  Zellers, 
der  das  Buch  als  eines  der  genialsten  Werte  der  gesamten  Weltliteratur 
bezeichnet,  vergleichbar  nur  mit  „Faust  II.  Teil",  oder  mit  Dantes 
„Göttlicher  Komödie".  Die  drei  bedeutendsten  Historiker  der  neueren 
Philosophiegeschichte:  Johann  Eduard  Erdmann,  Kuno  Fischer  und 
Wilhelm  Windelband  urteilen  wie  Zeller. 


9)  Vgl.  R.  Haym    „Hegel  und  steine  Zeit"  S.  232  ff.,  besonders  S.  243. 


X. 

Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants  als  Be- 
weis für  den  idealen  Charakter  seiner  Philosophie. 

Von 
Dr.  Emil  Raff. 

I. 

Überblicken  wir  die  Gesamtlehre  Kants,  so  finden  wir,  daß  in 
seinen  drei  Hauptwerken  eine  für  die  Eigentümlichkeit  des  Stand- 
ortes seiner  Philosophie  charakteristische  Dreiteilung  ausgesprochen 
wird.  Während  nämlich  die  Kritik  der  reinen  Vernunft,  indem  sie 
logische,  psychologische  und  metaphysische  Probleme  in  sich  befaßt, 
das  ganze  Feld  des  Erkenntnisvermögens  begrenzt,  und  durch 
zwei  wichtige  Grenzbegriffe,  einerseits  den  der  Erscheinung,  als 
dem  gegenüber  dem  Bereiche  der  Erfahrungswelt  unmittelbarsten  Er- 
kenntniselemente,  andererseits  den  der  transzendentalen  Apperzeption, 
als  dem  letzten  subjektiven  Aktivitätsprinzip  unserer  Bewußtseins- 
sphäre gegenüber  dem  transzendentalen  Bereiche  der  geistigen  Phäno- 
mene, das  weite  Gebiet  der  Subjektivität  eingeengt,  überschreitet 
die  Kritik  der  praktischen  Vernunft  diese  Grenzen  durch  Affirmation 
der  Realität  absoluter  Vernunftelemente  in  uns,  als  dem  Ausdrucke 
ethischer  Apriorität.  Als  vermittelnde  Lehre  zwischen  beiden,  viel- 
fach diese  erst  einem  genaueren  Verständnisse  zugänglich  machend, 
tritt  die  Urteilskraft  als  die  Summe  und  der  Inbegriff  desjenigen 
Geistesbereiches  hinzu,  der  die  Brücke  zwischen  Vernunftideen  und 
den  formalistischen  Prinzipien  der  Facultates  ac  actiones  mentis 
herzustellen  hat. 

Betrachten  wir  zuvörderst  das  Gebiet  der  ,, reinen  Vernunft" 
in  seiner  Totalität  von  der  sich  uns  darbietenden  „Erscheinung"  als 
der  empirischen  Polarität  bis  zur  absoluten  Vernunftidee  in  ihrer 
immer  mehr  des  Charakters  der  Bedingtheit  sich  entledigenden  Form 
(transzendentale  Polarität),  so  ist  ohne  weiteres  klar,  daß  der  Komplex 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  175 

der  seitens  Kant  aufgestellten  kritischen  Lehrmeinungen  sich  in 
aufsteigender  Linie  bewegt,  welche  mit  dem  Phänomenon  beginnend, 
ohne  Bedachtnahme  seiner  Beziehung  zum  Dinge  an  sich,  bis  zur 
Kategorie  fortschreitet  (psychologischer  Dynamismus).  Die  Dialektik 
ist  demzufolge  dem  immanten  psychologischen  Entwickelungsgange 
eine  dynamische,  welchen  Standpunkt  Kant  jedoch  nicht  konse- 
quenterweise beibehielt,  was  1.)  die  Undeutlichkeit  und  schwere 
Verständlichkeit  seines  Systems  bedinget,  andrerseits  2.)  auch  dazu 
führen  mußte,  daß  die  in  seinem  Hauptwerke  zu  Tage  tretenden 
zahlreichen  Widersprüche  die  Nachkantianer  und  viele  andere  kri- 
tische Forscher  dahin  bringen  mußte,  die  verschiedensten  Inter- 
pretationen seinen  Lehrsätzen  beilegen  zu  müssen. 

Zum  zweifelsfrei  klärendem  Verständnisse  ist  es  daher  erforderlich, 
ein  Resume  der  Hauptpunkte  mit  beigefügter  kritischer  Erläuterung 
zu  geben,  welche  Hauptpunkte  in  jenen  Abschnitten  behandelt  werden, 
in  denen  die  wichtigsten  erkenntnismäßigen  Elemente  als  reale 
Faktoren,  wie  der  Erscheinung,  Vorstellung,  Begriff,  synthetische 
Einheit  der  Apperzeption  und  Kategorie  in  ihren  wesentlichen  qualita- 
tiven Bestimmtheit,  als  auch  in  ihrer  gegenseitigen  Wechselbeziehung 
besprochen  werden,  das  ist  in  der  Lehre  von  der  Deduktion  der  reinen 
Verstandesbegriffe  und  dem  Abschnitte  von  den  Kategorien,  den 
Phänomen izis  und  Numenis.  Und  hier  ist  einschlägig  gleich  zu  be- 
merken, daß  Kant  auf  das  zweite  Moment  dieses  Forschungsbereiches 
mehr  Augenmerk  verwendet  hat,  nämlich,  daß  er  nur  die  eigentliche 
psychologische  Seite  der  Denkelemente  mehr  in  ihrer  gegenseitigen 
Relativität  einer  Untersuchung  unterzogen  hat. 

Aus  obiger  Nomination  Kantischer  Lehrelemente  ist  ersichtlich, 
daß  mit  dem  Progresse  zu  den  jeweilig  höheren,  psychologischen 
Faktoren  des  Gesamtbewußtseins,  bis  zur  Näherung  an  die  trans- 
zendentale Idee,  das  Denkelement  immer  mehr  von  der  Bedingtheit 
verliert,  welche  ihm  in  der  Erscheinungsform  noch  immanent  an- 
haftet, in  den  weiteren  Weseneinheiten  jedoch  nur  noch  als  Accidens 
zuzusprechen  ist,  dergestalt,  daß  das  erkenntnismäßig  früheste  Element 
der  Phänomenalität  am  meisten  bedingt,  die  reine  Vernunftidee 
als  der  Einheitsbegriff  der  rationalen  Sphäre  sowohl  an  sich  die  ab- 
solute Unbedingtheit  zur  Manifestation  bringt,  als  auch  gleichzeitig 
die  Totalität  aller  Bedingungen  in  objektiv  einheitlicher  Form  unter 
sich   begreift:    mithin    im   Entwicklungsgange   der   Erkenntnismodi 


176  Raff, 

die  Einzeldarbietimg  der  Sinnenwelt  sich  in  der  subjektiven  Sphäre 
immer  mehr  der  ihr,  —  ob  an  sich  oder  durch  andere  Umstände  herbei- 
geführt —  zukommenden  Eigenart,  der  Individuation  entlediget, 
um  im  Felde  des  Bewußtseins  aufwärts  schreitend,  zur  Selbstdiremtion 
im  Generativen  und  Abstraktiven  der  Idee  zu  gelangen. 

So  bewegt  sich  auf  obig  beschriebene  Weise  die  Dialektik  nur 
in  Gemäßheit  einer  durchaus  rationalistischen  Beweisführung;  denn 
der  einzelnen  in  der  Sinneswelt  uns  sich  darbietenden  Form  ist  damit 
das  Moment  absoluter  Selbständigkeit  genommen  und  ihre  Position 
vom  Bewußtsein  abhängig  gemacht;  sie  wird  als  ens  rationis  hin- 
gestellt, wodurch  der  Schwerpunkt  der  kritischen  Wissenschaft  trotz 
der  besonderen  Betonung  der  Anwendung  der  Kategorien  nur  auf 
mögliche  Erfahrung  in  die  Tätigkeit  der  Kogitation  verlegt  wird, 
welche  Auffassung  außerdem  noch  gestützt  wird  durch  die  Lehre 
von  der  Apriorität  räumlicher  Anschauung  und  der  objektiven  Realität 
der  Kategorien.  Dadurch  ist  der  idealistische  Charakter  der  Vernunft- 
kritik unbeschadet  ihrer  im  historischen  Verfolge  sich  darbietenden 
Veränderungen  fixiert. 

Gleichzeitig  geht  aus  mannigfachen  Ausführungen  deutlich 
hervor,  daß  auch  die  qualitative  Wesenheit  der  einzelnen  Elemente 
verschiedenartig  ist.  Sie  ist  nämlich  bis  zum  real-formalistischen 
Prinzipe  der  Kategorie  durchaus  materiale  Perzeption  (in  ihrer  Gänze 
der  Inbegriff  des  empilischen  Bewußtseins),  von  da  ab,  die  Katego  ien 
miteinbezogen,  wesentlich  elementologisch  generativer  und  abstrakter 
Faktor  des  zu  einer  Einheit  strebenden  Verstandes.  Die  Synthese 
selbst  ist  Aktualität,  Ausdruck  der  Tätigkeit  eines  unbekannten 
transzendenten  Subjektes,  die  Kategorie  formalistisches,  selbständiges 
Einzelelement,  als  Teilprinzip  der  gesamten  Subjektivität  mit  Gültig- 
keit und  Anwendung  nur  auf  mögliche  Erfahrung:  Die  Richtungs- 
linie von  der  Erscheinung  bis  zu  der  bewußten  Erkenntnis  durch 
die  Kategorien  ist  festgelegt  durch  die  drei  aktual-psychologischen 
Momente  der  Synthesis  apprehensionis,  reproductionis  und  recog- 
nitionis.  Mit  den  Kategorien  endigt  der  deskriptiv-psychologische 
und  positive  Teil  der  Vernunftkritik,  während  darüber  hinaus,  zu- 
gänglich und  im  Bewußtsein  vorhanden,  durch  transzendentalen 
Paralogismus  der  reinen  Vernunft  sich  das  Gebiet  der  Vernunftideen 
befindet;  ihre  Abhandlung  stellt  dar  den  negativ-kritischen  Teil 
seiner  Lehre. 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  177 

Nur  durch  sinngemäße,  wissenschaftliche  Darstellung  und  klare 
"Übersichtlichkeit  über  den  Zusammenhang  der  einzelnen  Prinzipien 
ist  es  möglich,  das  Gesamtgebiet  des  positiven  Teiles  des  Systemes 
zu  überschauen,  und  die  Relationen  ordnend,  die  sich  zwischen  den 
einzelnen  Denkformen  und  Denktätigkeiten  manifestieren,  zur  Dar- 
bietung zu  bringen.  Unter  diese  gehört  in  erster  Linie  das  Verhältnis 
der  Erscheinung  zum  Dinge  an  sich. 

!  IL 

Nichts  bietet  im  ganzen  Gebiete  der  Vernunftkritik  der  Forschung 
derartige  Schwierigkeiten,  wie  die  Frage  nach  dem  Wesen  des  Dinges 
an  sich.  Um  die  dahin  bezügliche  Interpretation  eindeutig  gestalten 
zu  können,  müssen  alle  jene  Hindernisse,  die  sich  der  Durchdringung 
des  psychischen  Prozesses  bis  zu  einer  gültigen  Vorstellung  von  dem- 
selben und  Darstellung  derselben  entgegenstellen,  systematisch  und 
in  logischer  Sukzession  aus  dem  Wege  geräumt  werden.  Einerseits 
ergeben  sich  Schwierigkeiten  im  Verfolge  der  Nachforschung  infolge 
der  undeutlichen,  nicht  genügend  demonstrierten  Position  des  Dinges 
an  sich ;  teils  bedingt  durch  die  nicht  genügend  umschriebene  Fixierung 
desselben  als  eines  Prinzipes,  das  völlig  unabhängig,  in  absoluter 
Selbständigkeit  vom'  Erkenntnis-Subjekt  sein  Dasein  behauptet. 
Im  Gegensatz  hinzu  käme  ihm  eine  in  den  Bereich  des  Ich  teilweise 
oder  mit  ihm  ganz  zusammenfallende  Stellung  zu.  Durch  diese  proble- 
matische Position  wird  insgesamt  die  Frage  nach  der  empiristischen 
oder  nach  der  rationalistischen  Form  dieses  Prinzipes  offen  gelassen 
und  da  mit  der  entscheidenden  Antwort  darauf  für  die  Bestimmung 
besagter  Position  auf  deren  beiden  möglichen  Seiten  gleichzeitig 
in  der  Entfernung  der  Lehrauffassung  das  ganze  System  Kants  sich 
charakterisiert,  ob  Empirismus  oder  Idealismus  das  Fundament 
seiner  Lehre  gewesen,  so  ist  die  Aufhellung  dieser  Streitfrage  gleich- 
zeitig für  die  Bezeichnung  seines  ganzen  Systemes  von  Bedeutung 
und  bestimmender  Wichtigkeit.  Als  weitere  Punkte  der  Forschung 
gehören  dann  hierher  die  einschlagigen  Streitpunkte  bezüglich  der 
doppelten  Affektion  des  transzendentalen  Subjektes,  und  auch  das 
Urteil  in  Hinsicht  der  dualistischen  oder  monistischen  Eigenschaft- 
lichkeit  seiner  Philosophie.  Endgiltig  kann  auch  schließlich  von 
besagtem  Gesichtspunkte  aus  die  Frage,  ob  die  Vernunftkritik  end- 


178  Raff, 

gültig  in  Pantheismus  oder  auch  in  Illusionismus  auslaufe,  mit  ge- 
nügender Befriedigung  einer  Lösung  zugeführt  werden. 

Der  Wichtigkeit  obiger  Entscheidungen  durchaus  entsprechend 
ist  der  Gang  der  Forschung  bis  zum  Ding  an  sich,  mit  strengster 
methodischer    Konsequenz   vorgezeichnet.     Denn   die    Dialektik   in 
Hinsicht  des  Dinges  an  sich,  hat  sich  erstens  mit  der  Essentialität 
und  mit  der  qualitativen  Wesensart  desselben  zu  beschäftigen.   Unter 
Erscheinung  ist  das  durch  die  sinnliche  Erfahrung  als  vollendetes 
Prinzip  sich  darbietende  Bild  zu  definieren.   Nur  ist  diese  in  Hinsicht 
ihrer  Darbietung  etwas  Einheitliches,  in  Wirklichkeit  aus  verschiede- 
nen  Prinzipien    objektiver    und    subjektiver  Accidenzen    sich  Zu- 
sammensetzendes.   Die  Qualität  dieser  Erscheinung  ist  teils  durch 
die  rational-psychischen  Aktus  und  Fakultates,  mit  Inbegriff  der 
Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit,  teils  durch  die  von  diesen  völlig 
unabhängigen,  dem  Objekte  zugehörigen  Elemente  bedingt.    Durch 
Durchdringung  und  gegenseitige  Ergänzung  und  Limitation,  wobei 
die  positive  Seite  dem  Objekt  (transzendentales  Objekt)  die  negative 
(einschränkende)  dem  Subjekt  (transzendentales  Subjekt)  angehört, 
wird  erst  mit  ganz  bestimmter,  naturmäßig  gesetzter  Bestimmtheit 
diese  Wirkung  erzielt,  welche  die  Erscheinung  als  Fertiges,  erfahrungs- 
mäßig Gesetztes  bedingt.  Erst  die  Untersuchung  beider  Beteiligungen 
an  sich,  die  Eigenschaf tlichkeit  des  transzendenten  Objektes  und 
transzendenten  Subjektes  für  sich  betrachtet,  in  weiterer  Folge  die 
Wirkungen  des  Objektes  als  auch  die  Tätigkeit  des  Subjektes  mit 
Einschluß  der  Aufklärung  der  restlos  einsehbaren  Verhältnisse  der 
diese  begleitenden  elementologischen  Beziehungen  (Kategorienlehre) 
lassen  dann  mit  Verbindung  beider  das  letzte,  als  subsistierendes 
Prinzip,  als  Ding  an  sich  interpretieren.    Beginnen  wir  der  Einfach- 
heit wegen  mit  dem  Objekte  selbst  und  verfolgen  wir  in  aszendierender 
Dialektik  den  Fortgang  der  Untersuchung  bis  zum  transzendenten 
Subjekte.  An  der  Erscheinung  ist  außer  ihrer  räumlichen  Ausdehnung, 
(Materialität),  noch  die  Gestalt,  (Form),  und  die  Farbe  zu  bemerken. 
Erstere  als  räumliches  Empfinden  ist  Folge  der  Apriorität  des  Raumes, 
die  Farbe  ist  bedingt  durch  die  Tätigkeit  des  optischen  Sinnes  und 
die   Form   (inkl.   der  Dimensionalität)   kann  nur  durch  vereinigte 
Aktivität  der  Sinne  und  durch  Präformation  des  Raumes  im  Sinne 
der  Kantischen  Lehre  gedeutet  werden.    Es  bleibt  daher  von  der 
Erscheinung  nur  die  Materialität  der  Materie  übrig  und  diese  ist  es, 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  179 

die  die  vom  Subjekt  völlig  unabhängige,  eine  Eigenexistenz  besitzende, 
in   ihrer    qualitativen  Besonderheit    unerforschliche,    eine  Polarität 
des  Seins  in  sich  befaßt  und  die  man  dem  transzendentalen  Objekt 
gleichsetzen  kann.   Jedoch  ist  dies  kein  bloß  passives  Prinzip,  denn 
verschiedene  Stellen  der  Vernunftkritik  lassen  mit  zweifelsfrei  deut- 
licher Bestimmtheit  erkennen,   daß  Kant   diesem  Seinprinzip   eine 
gewisse  positive  Aktivität  zuerkannt  wissen  wollte.    Die  darauf  be- 
züglichen Stellen  vereinigen  sich  in  dem  Lehrsatze  (These)  von  der 
Affektion  durch  das  transzendente  Objekt,  und  ihre  Wirkung  ist 
der  durch  Affektibilität  des  inneren  Sinnes  (in  weiterer  Folge  des 
transzendenten    Subjektes)    sich   manifestierende    Effekt,     Also    im 
ersten  Stadium  ein  durch  Aktivität  des  Objektes  sich  vorbereitender 
psychischer  Vorgang  (I.  Stadium  der  Erscheinungsbildung).    Dieses 
erste,  reinste  und  unvermischteste  Stadium  in  der  vorläufig  nur  die 
der  Gesetztheit  der  Materialität  entsprechende  Wirkung  des  trans- 
zendenten  Objektes   auf   die   geistige   Substanzialität   zur   Geltung 
kommt,  ist  das  Stadium  irritationis(a).    Welcher  Art  diese  Irritation 
ist,  welcher  Eigenschaftlichkeit  des  gesetzten  objektiven  Prinzipes 
sie  entspricht,  entzieht  sich  jeder  wie  immer  gearteten  Forschung. 
Sie  ist  die  stille  Anteposition,  der  Grundpfeiler  für  Kants  Lehre  vom 
Verhältnisse  der  Erscheinung  und  der  psychischen  Aktualität.    Die 
Wirkung  geschieht   jedoch   nicht   auf   das   Totale   der   psychischen 
Substanz,  sondern  nur  auf  einen  Teil  derselben,  der  noch  nicht  durch 
die  zunächst  höheren,  vereinheitlichten  Facultates  psychicae  berührt 
wird,  noch  außerhalb  der  Wirkung  der  Apperzeption,  Apprehension, 
Rekognition  und  Reproduktion  steht.    Dieser  Teil  der  psychischen 
Sphäre  stellt  das  dar,  was  wir  das  Unterbewußtsein  nennen,  dem 
eine  eigentliche  primäre  Aktivität  nach   Kant  nicht  zugesprochen 
werden  kann,  und  der  erst  durch  die  Reaktion  auf  die  Affektion, 
also   durch   das   zweite   Stadium   der   Erscheinungsbildung   sich   zu 
höherer    Psychoaktivität    erhebt.     Indem    nämlich    die    psychische 
Sphäre,  soweit  es  die  dem  Objekte  zunächststehende  Seite  betrifft, 
auf  die  Affektion  antwortet,  entsteht  die  erste  Tätigkeit  des  dem 
Unterbewußtsein   zunächst  gerückten   Teiles  des   Bewußtseins   und 
jenes  des  von  Kant  als  empirischen  Bewußtsein  gedeuteten  Teiles 
der  Psyche.    Und  dieses  Moment,  das  in  Hinsicht  der  Eut wickeln ng 
des  Erscheinungsbildes  das  zweite  Stadium  vorstellt  (1>),  in  Hinsicht 
der  Aktualität  von  Seiten  des  Subjektes,  das  diesem  zugehörige  erste 


180  Raff, 

Stadium  ist,  äußert  seine  limitierende  (weil  die  Materialität  als  solche 
einschränkende  Wirkung)  in  der  Anschauung  des  Gegenstandes  des 
Objektes  als  einer  Form.  Die  reine  Form  hat  jedoch  noch  nichts 
mit  der  räumlichen  Anschauung  zu  tun.  Um  zu  letzterer  zu  gelangen, 
bedarf  es  noch  der  Verknüpfung  von  Materialität  und  Form  zu  einem 
Element  und  Anschauung  derselben  unter  der  Bedingung  der  Apriorität 
des  Raumes  als  dem  obersten  Prinzipe  des  sinnlichen  Bewußtseins. 
In  diesem  Stadium  kommt  daher  zuerst  die  Anwendung  subjektiv-* 
präformierter  Prinzipien,  die  ihren  Ausdruck  in  der  transzendental- 
idealen Apriorität,  zur  Geltung.  Und  wenn  auch  diese  als  konstitutive 
und  regulative  Prinzipien  des  Subjektes  in  ihrer  Anwendung  auf  die 
empirische  Realität  des  gegebenen  Objektes  einen  höheren  psychischen 
Geltungswert  hatten,  als  das  Unterbewußtsein,  ist  dennoch  seine  Ein- 
reihung in  das  Bereich  des  empirischen  Bewußtseins  gerechtfertigt  und 
erfährt  seine  Bestätigung  und  wissenschaftliche  Sicherheit  noch  durch  die 
Tatsache,  daß  jenes  Stadium  des  Entwicklungsganges  des  Erscheinungs- 
bildes (pereeptio  intuitiva)  als  Element  für  sich  auch  in  jenen  Zu- 
ständen sich  findet,  in  denen  das  Oberbewußtsein  ausgeschaltet 
ist  (pathologische  Zustände,  Traumvorstellungen).  Das  Räumliche 
an  sich,  ohne  Beiziehung  des  Inbegriffes  des  Raumes  als  dem  Raum- 
begriffe, dessen  Lokalisation  ins  Oberbewußtsein  zu  setzen  ist,  be- 
weißt diese  Tatsache  und  geben  der  Zweiteilung  des  Aprioritäts- 
wesens,  sowohl  in  Hinsicht  der  -Zeit  und  des  Raumes,  als  auch  in 
Hinsicht  der  transzendenten  Idealität  und  empirischen  Realität 
des  Raumes  selbst,  als  auch  zuletzt  die  verschiedene  Position  des 
Prinzipes  der  Einzelraumvorstellung,  als  des  abstrakten  allgemeinen 
Rauminbegriffes,  bereits  interpretative  Zustimmung. 

Was  nun  das  Wesen  der  Apriorität  selbst  anlanget,  das  schon 
teils  durch  die  ungenügende  Aufklärung  Kants,  teils  durch  andere 
Momente  so  viel  Mißverständnisse  hervorgerufen  hat,  ja  das  sogar 
von  einigen  (Fichte)  für  identisch  mit  der  Subjektivität  angesprochen 
wurde,  glaube  ich  durch  obige  Erläuterungen  vollkommen  eindeutig, 
wissenschaftlich  bewiesen  zu  haben,  daß  der  Apriorität  nur  als  einem 
formalen  Prinzip  des  Subjektes  der  Rang  eine  Teilbetätigung  (eines 
actus  singularis)  zukommen  kann.  Bei  Antezipation  einer  materialen 
Substanz  ist  sie  in  der  physiologisch-biologischen  Eigenschaftlichkeit 
des  Denkorgancs  begründet,  (physiologische  Apriorität),  und  dies 
kann  wieder  Folge  biologischer  Entwicklung  (Biomechanische,  biovita- 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  181 

listische  Apriorität)  entstehen  oder  immanent  jedem  höheren  Organismus 
(immanent-vitale  Apriorität)  zukommen.     Letztere  Apriorität  wurde 
scheinbar  schon  widerlegt  durch  den  Sensualismus  und  zwar  durch 
das  Fehlen  des  reinen,  Ich- Bewußtseins  in  den  ersten  Jahren  der  Lebens- 
entwicklung- und  auch  durch  die  Hypothese,  daß  allgemeine  (generelle, 
abstrakte)    Begriffe    (conceptus)    erst    durch    permanent-empirische 
Erwerbung    im    infantilen    Lebensalter    zur    Erscheinung    gelangen. 
Dem  ist  jedoch  nich  so,  und  wir  müssen  sowohl  einerseits  die  ein- 
seitige sensualistische,  als  auch  die  Nativitäts-These  ablehnen,   da 
es  viel  wahrscheinlicher  ist  (was  sich  auch  durch  Tatsachen  erhärten 
läßt),  daß  trotz  dieser  Fakta  (sukzessive  Entwicklung  des  Selbst- 
bewußtseins  und  auch      zeitliches   Prius   der  reinen  Vorstellungen 
gegenüber  den  später  sich  bildenden  Begriffen)  nur  die  rein  materiale 
Seite  des  Denkorganes  getroffen  wird,  nicht  aber  seine  aktual-forma- 
listische  Seite.  Und  diese  ist  es,  die  (nach  Kant)  mit  den  präformierten 
Schemata  (die  jeder  Erfahrung  antezedieren)  und  die  der  Erfüllung 
durch  den  gegebenen  Stoff  harren,  um  zur  Einheit  des  selbständigen 
Begriffes  sich  zu  formen.    Die  Apriorität  ist  daher  bloß  die  gültige 
bestehende  Disposition,  die  Facultas    functionis,  das    Subjekt  (der 
Träger),  der  auf  das  Gegebene  der  Anschauung  gerichteten  formalen 
Tätigkeit.    Und  wenn  schon  bezüglich  der  Raumbegriffserklärung 
hier  einige  Zweifel  obwalten  könnten,  bezüglich  der  Apriorität,  in 
Hinsicht  des  inneren  Sinnes,  ist  Kants  Lehre  unwiderleglich.    Denn 
es  ist  eine  exakte,  absolut  sichere,  durch  Sclbstanschauung  gegebene 
Tal sache,  daß  die  Sukzession  der  psychischen  Elemente,  die  Erkenn- 
barkeit der  formalen  Abwicklung  der  Elementa  cogitandi  auf  einer 
außerhalb   jeder   Erfahrung  stehender,   in   uns   gelegener  Fälligkeit 
der  Psyche  ruhen  muß,  da  sie  eben  aller  steigenden  Bewußtheit  ante- 
zediert.    Wird  nun  die  Duplizität  der  Ontogenese  gelehrt,  dann  ist 
die   Apriorität  nichts   anderes  als  die   Affirmation   der     Beziehung 
zwischen.  Psychoaktualitäl  und  der  sich  darbietenden  Materie,    hie 
oben    bereits    aufgestellte     Wissenschaftsthese,    daß    die    Apriorität 
des   Kauines  dem   Unterbewußtsein  zugehörl  und  dabei  gleichzeitig 
einen  Grenzbegriff  darstellt,  ist  in  Hinsicht  obiger  Dialektik  zu  be- 
jahen.   Scheinbar  stellt  damit  die  psychologische  Tatsache,  daß  alles 
der  Erfahrung  vorausgehende,  dem  höheren   Bewußtsein  angehöre, 
im    Widerspruche.    Jedoch  diese  Ansicht    ist  längst   verlassen,   indem 
mau  bedenkt,  daß  auch  die  Sphäre  des  Unterbewußtseins  jene  Ele- 

Arcliiv   tüi-  (:<!S(-.hirlitt<   <  1 .  r   I  'li  i  li  .-nphie.     XXVI,  2.  jo 


182  Raff, 

mente  enthält,  welche  im  Verlaufe  der  biologischen  und  physiologischen 
Entwickelung  schon  früher  dem  Oberbewußtsein  angehörten,  dann 
aber  als  immanente  Qualitäten,  als  Eigenschaftlichkeit  intuitiver 
Denkzonen,  sich  manifestieren.  Hier  hinein  gehört  die  Vererbung 
erworbener  Eigenschaften  des  physischen  und  psychischen  Organismus 
und  zu  gleicher  Zeit  die  Wesensart  der  menschlichen  Imagination. 
Und  hier  zeigt  sich  gleichzeitig  der  Wert  Kantischen  Denkens,  durch 
seine  Aufwerfung  mehrerer  neuer  Probleme  fruchtbringend  auf  die 
Forschung  der  Psychologie  gewirkt  zu  haben.  Gehen  wir  wieder 
zurück  zum  Räume,  so  ist  einleuchtend,  daß  wir  zwischen  Einzel- 
raumvorstellung, Raumempfindung  und  allgemeinem  Raumbegriff 
differieren  müssen.  Erstere  ist  die  einzelnen  äußeren  Gegenständen 
correspondierende  psychische  Darbietung,  die  Empfindung  ist  teils  Folge 
der  Affektion  durch  die  Materialität,  im  weiteren  Folge  sinnenphysiolo- 
gischer Qualitäten  und  psychischer,  reaktiver  Aktualität.  Beiihristdie 
Annahme  der  Apriorität  nicht  absolut  notwendig.  Auch  ist  die 
Empfindung  des  Raumes  als  der  Ausdruck  seiner  empirischen  Realität 
anzusprechen.  So  bleibt  für  die  Apriorität  nur  mehr  die  Perceptio 
und  der  conceptus  des  Raumes  übrig  und  diese  ist  nach  Kant  als  jeder 
Erfahrung  vorausgehend  anzusehen.  Es  zeigt  sich  daher,  daß  die 
Interpretation  des  Raumes  in  psychologischer  Beziehung  viel  kom- 
plizierter ist,  als  dies  die  metaphysische  Seite  dieses  Problemes 
von  vorneherein  erscheinen  läßt. 

Fassen  wir  daher  in  Kürze  das  Wesen  der  Apriorität  zusammen, 
so  können  wir  sagen,  daß  durch  die  Relation  zu  Raum 
und  Zeit  der  Umkreis  derselben  vollständig  umschrieben  ist;  sie 
ist  derjenige  Teil  der  Totalzone  eines  tätigen  Bewußtseins,  als  dem 
Träger  aller  psychischen  Akte,  der  nur  Anwendung  auf  diese  zwei 
Kategorien  hat;  sie  hat  als  gültiges  Prinzip  ihre  scharfe  Begrenzung 
einerseits  gegen  die  Materialität,  andererseits  gegenüber  den  Kate- 
gorien als  den  reinen  Verstandesbegriffen.  In  bezug  auf  die  Zeit 
ist  sie  nur  von  sekundärer  Bedeutung;  in  Hinsicht  auf  die  Räumlich- 
keit ist  sie  jedoch  in  der  zeitlichen  Sukzession  der  Formalprinzipien 
das  Primäre,  da  doch  an  dem  uns  bekannten  Teile  des  Dinges  an 
sich  die  Raumerfüllung  das  erste,  bestimmte  und  bestimmbare  an 
dem  Wesen  der  Materialität  ausmacht.  In  diesem  Grenzbegriffe 
birgt  sich  das  Problem,  ob  mit  dem  Hinübergreifen  der  subjektiven 
Tätigkeit    (als   Apriorität),   das   erste   Moment   der  Phänomenalität 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  183 

als  Element  sich  bilden  muß,  weshalb  wir  mit  der  Erledigung  ihres 
Wesens  jenen  Punkt  im  Progresse  der  Entwicklung  des  Phänomenes 
erreicht  haben,  jenseits  dessen  bereits  alle  weiteren  Geschehnisse 
partiell  mit  Bewußtheit  und  der  Anteilnahme  des  transzendentalen 
Subjektes  beginnen. 

Wir  kamen  hiemit  zu  jenem  Stadium  der  Erscheinungs- 
entwicklung, bei  dem  die  Wirkung  des  transzendentalen  Subjektes 
noch  nicht  zur  Durchdringung  gelangte.  Die  nun  folgenden  Bezie- 
hungen desselben  lassen  eine  übersichtliche  Darstellung  aus  dem 
Grunde  leicht  zu,  weil  alle  auf  eine  einzige  Formel  zurückführbar 
sind;  es  ist  die  durchgängige  superiore  Wirkung  des  Subjektes  über 
das  Objekt,  des  o  r  g  a  n  u  m  meditaris  über  die  data  experientiae 
objectivae.  Diese  Tätigkeit  des  Subjekts  ist  gleichzeitig  nur  der 
Ausfluß  seines  Wesens  als  eines  durchgängigen  Einheitsprinzipes 
und  seine  Actus  ist  identisch  mit  Vereinheitlichung  des  im  obigen 
Stadium  gegebenen.  Da  jedoch  das  transzendentale  Subjekt  etwas 
völlig  unbekanntes  ist,  das  reine  Ich  nach  der  Kantischen  Lehr- 
auffassung  jedoch  nichts  Substantielles,  sondern  ein  bloßes  negatives 
Prinzip,  ein  bloßes  Bewußtsein,  wie  wir  später  noch  ausführen  werden, 
so  mußte  Kant  durch  Einschiebung  der  synthetischen  Einheit  der 
Apperzeption  als  dem  eigentlichen,  konkreten  Ausgangspunkt  der 
vereinheitlichenden  Tätigkeit,  dieser  die  oberste  und  wichtigste  psycho- 
aktuale  Tätigkeit  zuschreiben,  als  der  von  dem  transzendentalen 
Subjekte  am  unmittelbarsten,  ausgehenden  Causa  efficiens  für  die 
drei  Akte  der  psychischen  Synthese.  Wir  können  daher  sagen,  daß 
der  fertige  Akt  der  Bewußtheit  gegenüber  dem  Objekte  erst  mit 
dem  Eintreffen  der  Beziehung  aller  Stadien  mit  der  synthetischen 
Apperzeption  zusammentrifft. 

Die  zur  Synthesis  der  Apperzeption  in  Beziehung  tretenden 
einheitlich  verknüpfenden  Manifestationen  des  Bewußtseins  sind 
dreifacher  Natur  und  als  Synthesis  apprehcnsionis,  reproductionis 
und  recognitionjs  anzusprechen.  Es  ist  klar,  daß  diese  drei  Tätig- 
keiten des  Geistes,  zu  einer  Einheit  verbunden,  auf  ein.  weiteres  zu- 
sammengefaßtes, vorgebildetes  Prinzip  bezogen  werden  mußten, 
bevor  sie  zur  Einheit  der  Apperzeption  in  direkte,  unvermittelbare 
Beziehung  traten.  Die  Form  dazu,  in  der  der  angegebene  Inhalt 
nunmehr  sich  ergoß,  sind  die  Kategorien,  als  höchstes,  noch  selb- 
ständiges   Prinzip,    ihrer  Genese   nach  subjektiv,   ihrer   Anwendung 

12* 


184  Raff, 

nach  jedoch  nur  empirisch.    Die  drei  Akte  der  Synthesis  beziehen 
sich  zunächst  auf    das  Manngfaltige  an  der  Erscheinung.    Und  ihre 
Einordnung  und  Unterordnung  unter  diese  Aktualität  der  Appre- 
hension  bringt  sie  in  eine  gesetzmäßige  Folge,    sodaß  sie  dann  nichts 
in  der  empirischen  Gegebenheit  bietet,  als  das  Wesen  der  Einheit; 
daher  ist,  da  wir  in  den  Erscheinungen  des  Denkens  sie  vorfinden, 
nur  die   Annahme    einer  subjektiven   Genese   der  Einheitstatsache 
notwendig.    Die  Apprehension  ist  auch  zeitlich  der  erste  Akt  des 
Selbstbewußtseins.   Ist  durch  sie  eine  bestimmte  Perzeption  zur  Auf- 
fassung gelangt  und  befindet  sich  in  dem  empirischen  Geschehen 
eine  bestimmte   zweite   Perzeption,    wobei    der    kausal-notwendige 
Konnexus  beider  gleichgültig  ist  (teleogisches  und  mechanisches  Ge- 
schehen), so  wird  bei  Ablauf  der  bestimmten  Perzeptionen  (auch 
in    Abwesenheit    des    entsprechenden    Perzeptionsobjektes),    herbei- 
geführt  durch  die   Imagination,   dieselbe   Reihe   der  Vorstellungen 
im   Bewußtsein   sich   manifestieren,    die    Regularität   im   Erzeugen 
korrespondierender   Perzeption   setzt   wieder   einen    Aktus    voraus, 
dessen  Transzendalität  keines  weiteren  Beweises  bedarf,   und  dies 
ist  nach  Kant  die  Synthesis  der  Reproduktion,  Apprehension  und 
Reproduktion  sind  korrespondierende,   sich  gegenseitig  bedingende 
Tätigkeiten  der  Psyche.  Die  erstere,  als  frühere,  und  von  der  Apper- 
zeption   entferntere,    bezieht   sich   auf   die   räumliche    Anschauung, 
die  letztere  in  Hinsicht  ihrer  Position  zur  Apperzeption   auf    das 
Geschehen  in   der   Zeit.    Die   erstere   projiziert   das   Mannigfaltige, 
erscheinungsmäßig  differente   des  Phänomenes  in  eine  Darstellung 
(sie  ist  daher  der  konzeptualen  Begriffsbildung  schon  nahe  gerückt), 
die  Reproduktion  projiziert  die  sukzedierende  Reihe  derselben. 

]^och  ist  jedoch  die  Wirkung  durch  beide  eine  solche,  daß  in- 
folge des  relativ  geringen  Intensitätsgrades  derselben  eine  klare  Be- 
ziehung zu  den  Kategorien  und  durch  diese  zum  Selbstbewußtsein 
nicht  hervorgebracht  wird.  Erst  durch  Rekognition  erhebt  sich 
die  Aktivität  bis  zur  Intensität  der  Bewußtheit,  indem  durch  die 
Synthesis  der  letzteren  eine  Relation  zum  numerisch-identischen 
Selbst  hervorgerufen  wird.  Sie  können  wir  schon  als  konzeptuale 
Funktion  des  Bewußtseins  definieren,  und  die  also  als  Produkt  aller 
drei  Funktionen  entstandenen  Erkenntnisse  geben  nunmehr  das  sub- 
stratum  materiale  für  die  formal-objektiven  Kategorien  ab.  Und  erst 
durch  diese  wird  das  vorher  apprehendierte,  der  reproduetio,  als  re- 


Die  Deduktion«-  und  Kategorienlehre  Kants.  185 

cognitio  unterworfene,  in  eine  Relation  zum  transzendentalen  Subjekte 
als  dein  Träger  der  Apperzeption  (an  dem  Ichbewußtsein)  gebracht; 
zum  klaren,  reproduzierbaren,  zirkumskripten  Bewußtsein  als  eines 
außer  uns  statthabenden  Geschehens,  mit  Beziehung  auf  eine 
unteilbare  Einheit  in  uns,  kommt  es  durch  die  Natur  der  Kategorien; 
und  sie  führt  zur  unwiderleglichen  Konklusion,  daß  der  Träger  all 
dieser  einheitlich-verknüpfenden  Tätigkeiten  auch  ein  reales  Sein 
für  sich  in  Anspruch  nehmen  muß.  Dieser  unterwirft  alles  zufällig 
Gegebene  der  Phänomenalität  durch  identische  Tat  der  Gesetz- 
mäßigkeit des  Denkens. 

So  hatte  Kant  in  seiner  Deduktionslehre  durch  Progreß  von  den 
Phänomenen  bis  zur  Kategorie  die  wichtigsten  erkenntnismäßigen 
Punkte  sowohl  als  Prinzipien  aktualer  Natur,  als  solche  formaler 
Wesenheit  erforscht  und  als  durchaus  subjektive  Quellen  des  Erkennens 
demonstriert.  Nunmehr  mußte  aber  zur  Erprobung  des  Experimentes 
der  Versuch  gemacht  werden,  ob  auch  der  nun  rückschreitende  Weg 
vom  Subjekt  zur  Erscheinung  diese  Fakta  bestätigen  konnte.  Als 
solche  Erkenntnisquellen,  die  als  Vermögen  nach  jeweilg  geordneten 
Regeln  Erkenntnistätigkeiten  in  synthetischer  Richtung  ausüben, 
bezeichnet  er  den  Sinn,  die  Einbildungskraft  und  die  Apperzeption, 
so  daß  der  Übersichtlichkeit  und  des  klaren  Verständnisses  halber 
folgende  Tabelle  dafür  passend  erscheint. 

I.  Fakultates  (Vermögen)  IL  Aktus  (Tätigkeiten). 

a)  Sinn  (sensus)  Synthesis  der  Apprehension. 

b)  Einbildungskraft  (imaginatio)  -  -    Reproduktion. 

c)  Apperzeption  -  -    Rekognition. 

Diese  Tabelle  lehrt  in  konkreter  Weise,  daß  der  Sinn  durch  die 
Apprehension,  die  Imagination  durch  ihre  Fähigkeit  der  Reproduktion 
und  die  Apperzeption  durch  ihre  Rekognition  das  qualitative  Wesen 
der  Perzeptionen  beeinflußt. 

1.  Affektion  durch  das  Ding  an  sich. 

2.  Reaktion  des  empirischen  Bewußtseins, 
.'».  Akzidenz  der  Apriorität. 

1.  Synthesis  der  Apprehension, 
B.  '  2.  Synthesis  der  Reproduktion, 

3.  Synthesis  der  Rekognition. 


186  R  a  f  t, 

In  A  ist  a)  sowohl  die  Mitbeteiligung  des  transzendenten  Ob- 
jektes noch  mitzunehmen,  b)  beginnt  der  empirische  Charakter  der 
Kantischen  Philosophie. 

In  B  ist  die  Superiorität  des  Subjektes  ausgesprochen,  der  ideal- 
transzendentale Charakter  das  Vorherrschende. 

Wir  kommen  nunmehr  zu  jenem  Stadium  des  Entwicklungs- 
ganges der  Erscheinung,  das  das  schwierige  Problem  der  Kantischen 
Philosophie  überhaupt  in  sich  birgt,  nämlich  zur  Einordnung  des 
Phänomens   in  die  Kategorie. 

Wenn  wir  die  Lehre  Kants  von  den  Kategorien  uns  vor  Augen 
halten,  nach  welcher  dieselben  genetisch  als  durchaus  subjektive 
Prinzipien  zu  deuten  sind,  deren  Dasein  in  gar  keiner  Relation  und 
Abhängigkeit  zur  Phänomenalität  steht,  ist  es  schwer  einzusehen, 
wieso  selbst  bei  Antezipation  der  psychischen  Möglichkeit  eines  zwei- 
fachen Bewußtseins  (Rezeptivität  durch  Materialität  und  Aktualität 
durch  Subjektivität)  die  Vereinigung  eines  mechanischen  Prinzipes 
mit  einem  organischen,  eines  wirklichen  und  möglichen,  eines  zufälligen 
(akzidentellen)  und  gesetzmäßigen  (kausalen)  zu  einem  bestimmten 
Einheitsbilde  (Kategoriale  Einheit)  statthaben  könne ;  dies  führte  uns 
zu  einem  psychophysischen  Parallelismus,  der  durchaus  nicht  den 
Sinn  der  Kantschen  Lehrmeinungen  ausmachen  könnte.  Aber  auch 
die  stufenweise  gradatün  fortschreitende  Vermitteltheit  des  Allge- 
meinen mit  dem  Individuationsprinzipe  erscheint  dem  logischen 
Denken  kongruent  dem  Sinne  der  Vernunftkritik  unmöglich. 

Am  besten  hat  diesen  Hauptmangel  der  ganzen  Kantischen  Lehre 
J.  PI.  Fichte  erkannt,  indem  er  ausführt:  1.  wie  paßten  äußerlich 
die  Formen  der  Sinnlichkeit  und  des  Verstandes  zu  einander  (Rezep- 
tivität und  Synthese  sind  durchweg,  als  in  einem  Bewußtsein  gedacht, 
unmöglich)  und  2.  wie  ist  innerlich  logisch  ihre  Vereinigung,  gerade 
zu  jener  bestimmten  Einheit  der  Erscheinung  denkbar.  Nehmen  wir 
das  Gesamtbild  der  Phänomene  als  in  seinem  Verlaufe  selbständig 
an,  soweit  sich  diese  auf  das  Substrat  stofflicher  Prinzipien  aufbauet, 
und  ist  dieses  Substrat  die  causa  efficiens  der  Rezeptibilität  des 
Gemütes,  so  ist  das  durchaus  Zufällige  an  dieser  Polarität  der  Erschei- 
nungen dargetan.  Zu  diesem  regellosen  Wesen  des  Mannigfaltigen 
der  Objektivität,  welches  also  einen  Aktus  des  Bewußtseins  auslöst, 
kommt  die  spontane  Aktivität  des  Gesamtbewußtseins  hinzu. 
Die  Sinnlichkeit  der  Erscheinungen  bewirkt  das    Hervortreten   der 


Die  Deduktion«-  und  Kategorienlehre  Kants.  187 

potenziellen  Erkenntnisquellen  (Apperzeption).  Und  diese  legt  die 
Art  ihrer  Wirkung  als  eine  gesetzmäßige  in  das  Zufällige  der  Er- 
nungen  hinein,  um  gerade  durch  Vermittelung  der  Kategorien  das 
Einzelding  zu  erzeugen.  Wollte  man  nicht  eine  hinter  beiden  causae 
effieientes  stehende  gemeinsame  Wurzel  annehmen,  so  ist  die  Un- 
möglichkeit eines  Einzelbildes  vollkommen  einleuchtend.  Eine  ähn- 
liche Vorstellung,  jedoch  dieses  Problem  einfacher  auffassend,  findet 
sich  bei  Aristoteles  in  seiner  Erklärung  des  övvolov  (aus  vh]  und  sldoq 
bestehend),  und  bei  einzelnen  Scholastikern. 

Die  Kategorien  bedürfen  einer  Bestimmung  in  der  Zeit.  Hierin 
sieht  Fichte  einen  Widerspruch  mit  der  Lehre  der  subjektiven  Genese 
des  Zeitbegriffes.  Und  mit  völligem  Rechte:  denn  die  Auslegung 
der  Kategorienlehre  macht  den  empirischen  Charakter  des  Zeit- 
begriffes zur  notwendigen  Voraussetzung,  widerspricht  daher  den 
Ausführungen  des  einleitenden  Teiles  der  Vernunftkritik.  Auch 
ist  nach  Fichte  nicht  einzusehen,  warum  ausschließlich  die  Zeit  und 
nicht  auch  der  Raum,  von  Kant  zum  Aufbaue  des  Schematismus 
herangezogen  wurde.  In  seinen  diesbezüglichen,  hochbedeutsamen 
kritischen  Ausführungen  findet  er,  daß  durch  die  alleinige  Annahme 
der  Zeitbestimmung  das  Besondere  dem  Allgemeinen  untergeordnet 
sei.  und  dies  sei  lückenhaft,  da  ja  auch  unsere  Vorstellungen  zum 
Teile  in  einem  räumlichen  Sinne  sich  abwickeln  und  in  weiterer  Folge 
den  Kategorien  schließlich  nur  der  Rang  allgemeiner  Begriffe  zu- 
erkannt werden  müßte.  Und  da  diese  entweder  empirisch  oder  rein 
sind,  so  stellen  die  Kategorien  nichts  anderes  vor,  als  die  reinen  gene- 
rellen Begriffe.  Fichte  deklariert  daher  zum  Schlüsse  dieser  kritischen 
Ausführungen,  daß  durch  die  Kategorien  die  Einheit  von  Verstand 
und  Sinnlichkeit  wieder  hergestellt  werde  und  daß  behufs  restloser 
Vermittelung  der  an  sich  konträren  Wesenheit  eines  allgemeinen 
Begriffes  und  eine  sinnliche  Anschauung  ein  Drittes  hinzukommen, 
müßte  welches  die  Allgemeingültigkeit  der  abstrakten  Begriffe  in 
Hinsicht  sinnlicher  Anschauung  darböte  (als  ein  der  Vernunft- 
allgemeinheit zugehöriges  selbständiges  Prinzip),  womit  nichts  anderes 
demonstrieret  wird  als  die  Theorie,  daß  dem  gegebenen  Einzeldinge 
materiales  Substrat  und  formales  Element  azzedieren  müsse. 


188  Raff, 


III. 


Welches  ist  nunmehr  das  letzte  Stadium,  das  zur  fertigen,  zur 
wirklichen  Erkenntnis  führt?    Es  ist  die  Beziehung  aller  Erschei- 
nungen zu  einem  im  Wechsel  des  äußeren  und  inneren  Geschehens 
beharrenden  Prinzip,  dem  Selbstbewußtsein  oder  dem  Ich.     Urteils- 
mäßig formuliert,  findet  sich  die  Anerkennung  seines  eigenen  Daseins 
als  eines  konstanten  Prinzips   in  dem  Satze:    Ich  denke.    Während 
ähnlich  schon  bei  Vorgängern  Kants  die  Bedeutung  des  Ich  hervor- 
getreten ist,   wurde   jedoch  immer  nur  apriori  die   Substantialität 
des   denkenden   Subjektes   prämittiert.     In  der  Vernunftkritik   wird 
jedoch  mehr  auf  die  logisch-formale  Seite  dieses  Problemes  Beziehung 
genommen,  ja  in  erweiterter  Dialektik  überhaupt  das  Dasein  eines 
solchen,  als  eines  substantiellen  Prinzips  bestritten.      Es  ist  eben 
gerade  so  Erscheinung,  wie  wir  es  auch  in  der  objektiven  Sphäre 
nur  mit  Phänomenen  zu  tun  hatten.    Um  die  äußerst  schwierigen 
Darlegungen  in  Hinsicht  des  höchsten  Einheitsbegriffes  in  uns  bei 
Kant  verstehen  zu  können,  sind  folgende  Erörterungen  notwendig, 
welche  deutlich  dokumentieren,  daß  wir  es  dabei  nur  mit  einem 
Grenzbegriffe  zu  tun  haben.    Dem  faktischen  Sein  nach  sowohl  als 
ein  Ding  an  sich  selbst  oder  als  Erscheinung  (Phänomenon)  aller- 
dings vollkommen  einheitlicher  Natur,  ist  dialektisch  eine  Teilung 
des  Ich-Begriffes  durchaus  notwendig,   um  nach   solcher  Art  vor- 
genommener   Untersuchung    darzutun,    daß    die    in    der   rationalen 
Psychologie    vorzufindenden    Eigenschaften    unseres     Ich     gänzlich 
hinwegzufallen    haben.     Diese    Bestimmungen    an   der   scheinbaren 
Substantialität  des  Ich,  wie  Personalität,  Inkorruptilität,  Simplizität, 
Idealität  und  Immortalität  sind  dann  nur  Prädikate  (Azzidenzen) 
an  einem  unbekannten  Träger  als  dem  transzendentalen  Subjekte. 
Nun  ist   im  Ich  zweifellos  die  Tatsache  der  Fähigkeit  des  Setzens 
der  auf   die   Außenwelt  bezüglichen  Vorstellungen  gegeben;    diese 
Tätigkeit  hat,  insoferne  sie  den  ganzen  Bereich  der  Phänomene  um- 
faßt, auch  sich  selbst  mitzunehmen,  und  so  wäre  auch  die  Vorstellung 
vom  Ich  (das  objektive  Ich)  nur  der  Ausdruck  der  Tätigkeit  eines 
unbekannten  Subjektes.   Es  rückt  mithin  jede  dem  Selbstbewußtsein 
noch  so  nahestehende  Azzidentalität,  selbst  in  unmittelbarster  Form, 
immer  wieder  dasselbe  außer  dem  Bereich  möglicher  Einsicht  und 
Erkenntnis.     Wenn    wir   jedoch    obig   aufgeführte    Qualitäten    dem 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  189 

Selbst  zuschreiben  wollen,  so  wenden  wir  einfach  die  Kategorien 
auf  die  Sphäre  der  Ideen  und  des  Ich  an,  während  doch  nach  Kants 
Lehre  dieselben  nur  eine  Anwendung  auf  die  mögliche  Erfahrung 
gestatten.  Es  ist  dies  daher  ein  Paralogismus  der  reinen  Vernunft 
und  wir  erhalten  einen  transzendentalen  Schein.  So  wie  nämlich 
diese  Elemente  des  Denkens  in  einem  anderen  als  empirischen  Ge- 
brauche sich  befinden,  entsteht  ein  Paralogismus.  Da  nun  der  Begriff 
des  Einheitsbewußtseins  in  keinem  Bereiche  der  empirischen  Welt 
sich  vorfindet,  deren  Prinzipien  und  Elemente  wir  bereits  besprochen 
und  solcher  Art  das  Gesamtfeld  des  empirischen  Bewußtseins  sinn- 
gemäß den  Kantschen  Lehrmeinungen  und  Thesen  ausgemessen 
haben,  so  ist  es  nur  eine  logische  Folge,  daß  die  Faktizität  des  Daseins 
eines  numerisch-identischen  Selbsts,  anderen  Ursprungs  sein  muß. 
Die  dahin  gerichtete  Untersuchung,  die  Relation  des  Ich  zum  em- 
pirischen Bewußtsein,  zur  Synthesis  der  Apperzeption,  zu  den  Kate- 
gorien, und  zuletzt  zu  den  Vernunftideen  aufzuklären,  den  Schein 
einer  Personalität,  Simplizität  und  der  anderen  Azzidenzen  am  Ich 
dialektisch  zu  zerstören,  gehört  ins  Gebiet  der  rationalen  Psychologie. 
Ausgehend  von  der  realen  Existenz  der  Vernunftsideen,  als  höchsten 
1  )enkelementen  ohne  konkrete  adäquat-objektive  Bestimmung,  deren 
Wirklichkeit  einfach  aus  der  Notwendigkeit  ihres  Geschehens  dia- 
lektisch deduzierbar  ist,  die  aber  keine  empirische  Voraussetzungen 
haben  können,  für  deren  Objektivität  keine  konkrete  Basis  auf- 
findbar ist,  die  aber  dennoch  zu  immer  weiterer  Abstraktion  fort- 
leiten, (woraus  wir  die  Realität  ableiten  müssen)  bespricht  Kant 
entsprechend  der  Dreiklassigkeit  der  Ideen,  die  daraus  resultierenden 
drei  sophistikatorischen  Konklusionen,  von  denen  hier  nur  der  auf 
das  Ich  bezüglichen  Erwähnung  getan  wurde,  und  eine  solche  Kon- 
klusion, bei  der  von  der  bloßen  nicht  näher  determinierten  Gegeben- 
heit des  Ich  auf  die  scheinbare  Beharrung  und  einheitliche  Realität 
desselben  geschlossen  wird,  ist  ein  Paralogismus  der  reinen  Vernunft. 
Kant  unterschied  strenge  zwischen  Verstandes-  und  Vernunfttätigkeit. 
Sowie  erstere  die  Regeln  angibt  für  den  Gebrauch  der  Erkenntnis 
möglicher  Erfahrung,  so  ist  die  Idee  in  höherem,  dem  konkreten 
Empirismus  entrückterem  Bereiche  die  transzendentäre  Bedingung 
für  dn\  Verstandesgebrauch. 

Während  jedoch  die  Elemente    der  Intellekt  ualsphäre  der  Er- 
kenntnis   als    vereinzelte,    selbständige    Prinzipien    zugänglich    sind, 


190  Raff, 

ist  das  Objekt  der  Vernunftideen  etwas  abstraktes,  nämlich  die  Ein- 
ordnung des  Verstandesinhaltes  in  die  Synthesis  der  Bedingungen, 
aszendierend  bis  zur  absoluten,  unbedingten  Einheit  selbst.  Und 
diese  Einheit  selbst  ist  dreiklassig,  d.  h.  unter  keinerlei  Bedingung 
gehört  das  transzendentale  Subjekt,  das  transzendentale  Objekt 
als  Gesamtheit  und  die  Totalität  aller  Erscheinungen  als  absolut 
höchste  Idee.  Während  die  zwei  letzten  Prinzipien  den  Inhalt  der 
Kosmologie  und  Ontologie  ausmachen,  beschäftigt  sich  mit  dem 
Subjekt  die  rationale  Psychologie.  Wir  können  daher  die  Summe 
aller  Tätigkeiten  des  erkennenden,  reflektierenden  Denkvermögens 
als  Prädikate  ansprechen,  die  sich  insgesamt  auf  ein  Subjekt  als  den 
Träger  und  Ausgangspunkt  beziehen.  Und  da  dieses  infolge  der 
Unmöglichkeit  der  Erkenntnis  transzendentaler  Prinzipien  (infolge 
des  empirischen  Gebrauches  der  Kategorien),  und  dann  in  Anbetracht 
des  Umstandes,  daß  die  elementa  rationis  (die  Ideen)  nur  in  ihrem 
Dasein  als  wirklich  erschließlich,  in  ihrer  Form  und  Reinhaltung 
jedoch  nicht  faßbar  sind  (infolge  der  Impossibilität  der  Anschauung 
und  Vergegenwärtigung  der  transzendentalen  Prinzipien),  ist  die  Er- 
kenntnis, bezüglich  der  Realität  des  Ichs  als  des  transzendentalen 
Subjekts  zu  af firmieren,  seine  qualitativen  Bestimmungen  absolut 
unerforschlich.  In  dem  weiten  Felde  des  rationalen  und  intellektualen 
Bereiches  ist  jedoch  etwas  zu  finden,  das  wenigstens  in  seiner  Phäno- 
menalität  durchaus  als  konstantes  sich  darbietet,  das  ist  das  Phäno- 
menon  eines  Einzelnen,  einer  realen  Einheit,  auf  das  alle  data  ex- 
perientiae  (als  Erscheinungen)  und  Reflexionen,  als  auf  ein  numerisch- 
identisches, in  der  Sukzession  der  Zeit,  konstante  Beharrung  zeigendes, 
sich  gleichbleibendes,  Beziehung  haben  und  dies  ist  eben  die  Er- 
scheinung des  Ich. 

Die  Ausschließung  allgemeiner  Bestimmungen  bedingen  die 
Annahme,  daß  auch  der  Träger  des  Selbstbewußtseins  für  uns  nur 
ein  Phänomen  ist,  das  Ich  selbst  ein  unbekanntes  Ding  an  sich  und 
in  dieser  Hinsicht  das  von  Hartmann  also  aufgefaßte  transzendente 
Subjekt.  Nun  bezeichnet  Kant  das  Ich  als  Erscheinung  mit  voll- 
ständig negativen  Bestimmungen,  ähnlich  wie  er  es  mit  den  Numenon 
tut.  Es  ist  weder  Vorstellung,  noch  Begriff,  sondern  bloßes  Bewußt- 
sein (also  eine  logische  Form)  und  da  es  die  Kategorien  nach  oben 
hin  einheitlich  abschließt,  eine  bloße  Grenze  zwischen  der  obersten 
Sphäre  des  Denkens  (dem  Subjekte  der  synthetischen  Apperzeption) 


Die  Deduktions-  und  Kategorienielire  Kants.  191 


^e 


und  dem  transzendentalen  Subjekte.  Damit  ist  die  substantielle 
Wirklichkeit  eines  Individual-Ichs  geleugnet  und  mit  der  durch  nichts 
gerechtfertigten  Annahme  einer  dualistischen  Auffassung  der  Vernunft- 
kritik fällt  der  Begriff  des  reinen  Selbstbewußtseins  in  Nichts  zu- 
sammen. Was  noch  übrig  bleibt  für  die  Möglichkeit  der  Einbeziehung 
alles  Erscheinungsmäßig-Empirischen  auf  Einheit  des  Denkens  ist 
die  Apperzeption  und  mit  Annahme  eines  Dynamismus  der  Kant- 
schen  Psychologie  das  empirische  Bewußtsein  als  der  Ausdruck  der 
nach  unten  reichenden  verknüpfenden  Aktualität  desselben.  Es 
ist  dieselbe  Auffassung  vom  Ich  wie  in  der  modernen  Lehre  von  diesem 
nur  bei  Kant  von  einem  rational-idealistischen  dort  von  einem  physio- 
logischen Standpunkte  heraus.  Denn  heute  sieht  man  im  Selbstbewußt- 
sein nur  die  stufenweise  Entwicklung  (biologische  und  individuelle)  der 
psychischen  Fähigkeiten  bis  zur  Anerkennung  eines  Selbsts.  Die 
Sensibilität  der  zentripetalen  Nervenstämme  vermittelt  die  sinnliche 
Beziehung  zu  den  Dingen  und  bringt  dieselben  mit  den  Zentren 
unseres  Denkorganes  (cerebrum)  in  Beziehung.  Dort  werden  die- 
selben entsprechend  der  Topik  des  Gehirns  und  associativ  geordnet 
und  stellen  die  Summe  der  Eindrücke  in  Hinsicht  der  uns  inne- 
wohnenden Fähigkeiten  zu  apperzipieren.  das  Gesamtbewußtsein 
her.  So  wie  bei  Kant  ist  auch  hier  die  schlechthinnige  Ausschaltung 
eines  substantiellen  Ich  durchaus  nicht  geeignet  dem  Probleme  der 
Personalität  näher  zu  kommen.  Die  Widersprüche  und  schwierige 
Vennittelbarkeit  zwischen  Vielheit  der  Erscheinung  und  Einheit 
des  Denkens  kann  auf  diese 'Weise  nicht  gelöst  werden. 

So  wäre  durch  obige  Ausführungen  die  Phänomenalität  des 
Ich  ausgesprochen.  Und  dieses  Ich  als  Erscheinung  ist  ein  rein 
formales  Prinzip,  keine  Vorstellung,  kein  Begriff,  sondern  ein  bloßes 
Bewußtsein.  Es  stellt  kein  reines  Dasein,  sondern  nur  eine  Möglich- 
keit dar.  Es  ist  daher  nicht  an  sich  in  reinster  absoluter  Form  als 
das  bestimmende  Objekt  der  Selbstanschauung,  sondern  es  ist  nur 
das  bestimmbare  Selbstaxiom  und  unbedingter  Grundsatz,  der  keines 
weiteren  Beweises  bedarf  und  keinen  weiteren  auch  zugänglich 
erscheint. 

IV. 

Ziehen  wir  nun  aus  obigen  Darlegungen  den  Schluß,  so  können 
wir  füglich  sagen,  daß  es  gerade  die  Deduktionslehre  Kants  gewesen, 


192  .       •  Raff, 

die  eine  eindeutige  Antwort  auf  die  vielumstrittene  Frage  nach  der 
Wesenart  seiner  Lehre,  ob  Empirismus  oder  Idealismus,  uns  in  voll- 
kommen klarer  Hinsicht  gestattet,  und  für  die  sich  trotz  scheinbarer 
Widersprüche  in  seinen  Ausführungen  verschiedene  unterstützende 
Sätze  aus  seinem  Hauptwerke  anführen  lassen.  Sind  doch,  diese 
Antithesen  hauptsächlich  deshalb  behauptet  worden,  weil  erstens 
dem  Aufbau  seiner  Lehre  die  stützende  Einheitlichkeit  des  Funda- 
mentes fehlt,  da  er  seine  Untersuchungen  in  einigermaßen  regelloser 
Weise  und  Form  unternahm,  und  da  zweitens  als  Folge  dieses,  je- 
weilig bald  die  Superiorität  empirischer  Eigenschaftlichkeit  seines 
Seinsprinzipes,  bald  eine  solche  rationalistische  Wesensart  desselben 
zum  Vorschein  gelangte  und  da  drittens  nicht  zum  mindesten  mehr 
die  psychologische  als  die  metaphysische  und  ontologische  Seite 
von  ihm  einer  Demonstration  unterzogen  wurde.  Dazu  gesellt  sich 
die  bei  keinem  Philosophen  so  deutlich  und  prägnant  hervortretende 
Eigentümlichkeit  dort  wo  es  einer  zur  Klarlegung  einer  mehr  dog- 
matischen These  bedürfte,  sich  auf  die  negative-kritische  Hypothese 
zurückzuziehen.  So  kann  mit  Einbeziehung  der  Tatsache,  daß  Kant 
nachdem  er  dem  Denken  und  seiner  möglichen  Anwendungsweise 
genaue  Grenzen  gezogen,  nur  innerhalb  des  so  entstandenen  Geistes- 
bereiches die  Struktur  und  den  Gang  der  Denkelemente  (in  psycho- 
logischer und  nicht  in  logischer  Hinsicht)  genau  untersuchte,  seine 
Lehre  eher  als  eine  Psychologie  denn  als  eine  Metaphysik  inter- 
pretiert werden,  wie  er  denn  überhaupt  Metaphysik  als  Wissenschaft 
negieret  hat.  Und  in  ersterer  Hinsicht  hat  er  teils  durch  genaue  Dar- 
legung der  einzelnen  Funktionen,  die  auf  Erfahrung  sich  bezogen, 
teils  positives  geschaffen,  teils  durch  die  Aufwerfung  neuer  Probleme 
für  die  spätere  Forschung  anregend  und  belebend  gewirkt.  Welches 
sind  nun  die  Fundamente,  auf  denen  die  Suppositionen  eines  materialen 
(realen)  Seinsprinzipes  mit  selbständiger  Existenz,  dem  Denksubjekte 
anteponiert,  beruhet:  a)  die  Lehre  von  der  Affektion  des  Geistes 
durch  das  transzendentale  Objekt,  als  welches  nur  die  in  ihrer  Wesens- 
art unerkennbare,  in  ihrem  Dasein  jedoch  zu  affirmierende  Materialität 
aufgefaßt  werden  muß  und  b)  die  Lehre  von  der  empirischen  Realität 
des  Raumes.  Für  die  ideale  Auffassung  spricht  die  ganze  Lehre  von 
der  Apriorität  des  Raumes  und  der  Zeit,  von  denactiones  et  func- 
tiones  mentis,  dem  Wesen  der  Kategorien,  und  der  Einheit  der 
Apperzeption.    So  stehen  sich  zwei  selbständige  ontologische  Prin- 


Die  Deduktions-  und  Kategorienlehre  Kants.  193 

zipien  in  durchaus  voneinander  getrennter,  von  einander  in  ihrer 
höchsten  Polarität  unabhängigen  Selbständigkeit  entgegen  und  lassen 
den  Grundsatz  aussprechen,  daß  Kants  Philosophie  eine  rationalistische 
gewesen  ist.  Und  da  trotz  der  zwischen  und  in  beiden  Daseins- 
prinzipien  wirkenden  Einheit  und  durch  zweifellose  Überordnung  des 
psychischen  über  das  materielle,  die  Affirmation  der  idealen  Inter- 
pretation sich  ausspricht,  so  können  wir  doch  nur  zu  dem  einen  Schluß 
gelangen,  daß  die  Philosophie  Kants  ein  Idealismus  gewesen  ist, 
da  das  Produkt  des  Phänomenes  unbeschadet  der  jeweilig  durch 
Azzidentalität  der  Materialität  des  Bildes,  doch  als  transzendentales 
Prinzip  sich  manifestiert.  Hiermit  fallen  alle  entgegengesetzten 
Hypothesen  zusammen  und  müssen  wir  Kants  Philosophie  als  Sub- 
jektivismus ansprechen. 

Resümieren  wir  nun  schließlich  obiges,  und  knüpfen  daran  all- 
gemeine Konklusionen  betreffs  der  Eigenart  der  Kantischen  Philo- 
sophie, so  ist  zu  sagen,  daß  nach  der  eigentlich  deskriptiv-psycholo- 
gischer  Weise   seiner  Lehre,   betrachtet,    nach    oben    dargestellten 
Richtungslinien,  es  keinem  Zweifel  unterliegen  kann,  daß  ungeachtet 
aller  bedeutenden  und  neuartigen  Erweisungen  der  Charakter  seiner 
Philosophie  eher  ein  analytischer  als  ein  synthetischer  gewesen  ist. 
Denn  in  dem  gesamten  Natur-  und  Denkgeschehen  manifestiert  sich, 
wenn  auch  nicht  eine  doppelte  Substanzialität,  dennoch  eine  zwei- 
fache  Polarität   (Materialität   und   Spiritualität).    Wenn   wir   auch 
die    stufenweise    verfolgbaren    Zusammenhänge    beider    gleichgültig 
der  Antezipation  der  einen,  konzedieren  müssen,  die  Konstanz  einer 
Polarität  wird  immer  durchbrochen  und  zwar  im  Grenzbereiche  der 
Organisiertheit  und  der  Materialität,  wie  auch  im  Bereiche  der  un- 
bewußten Vitalität  und  der  selbstbewußten  Intellegibilität.    Mit  dem 
Versuche,  in  fortschreitendem  Progresse  eine  Seite  der  allgemeinen 
Seins-Polarität  in  die  zweite  Polarität  hinüberzuleiten,  wie  dies  durch 
hypothetische  Annahme  anorganischer  Elemente  (Atome),  belebter 
Einheiten  (Monaden)  oder  organischer  Bestandteile  (Zellen)  geschieht, 
gelingt   es  niemals,   das   wissenschaftliche   Bedürfnis,   nach   Lösung 
und  einheitlicher  Klärung  der  höchsten  Probleme  restlos  zu  befriedigen. 
Auch  der  psych ophysische  Parallelismus   hilft  über  diese  Schwierig- 
keiten nicht  hinwög.  Was  tat  nun  Kant,  um  sich  in  diesem  Labyrinthe 
zurecht  zu  finden?    Er  ging  überhaupt  von  vorneherein   über  die 
Frage    doppelter   Polarität    hinweg,    indem   er    die    Erkennbarkeit 


194  Raff, 

des  Dinges  an  sich  leugnete  (negativer  Charakter  seines  Lehrbegriffes). 
Er  projizierte  die  Materialität  auf  das  transzendentale  Objekt,  während 
er  das  Selbstbewußtsein  als  ein  Phänomenon,  als  einen  Schein  hin- 
stellte. Dadurch  schuf  er  zwei  Grenzbegriffe,  die  Erscheinung  und 
die  transzendentale  Apperzeption,  innerhalb  derer  sich  die  ganze 
Möglichkeit  positiver  Wissenschaft  befinde,  jenseits  derer  jedoch 
bestimmte  Thesen  nicht  aufgestellt  werden  können. 


XL 

Wiederentgegnung. 

Die  Ausführungen  des  Herrn  Husik  im  Beiheft  zu  Heft  3  des 
Archivs  für  Geschichte  der  Philosophie  Bd.  XXV  unter  dem  Titel 
„Matter  and  Form  in  Aristotle"  veranlaßten  mich,  die  Frage  der 
Aristoteles-Interpretation  in  einer  besonderen  Schrift  wiederauf- 
zunehmen, die  im  Verlag  von  Georg  Reimer-Berlin,  als  Anhang 
zum  Kapitel  „Materie  und  Form  bei  Aristoteles"  im  ersten  Bande 
meiner  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie,  erscheint. 

In  diesem  Anhang  wird  folgendes  nachgewiesen: 

1.  In  meiner  Erwiderung  in  den  Nrn.  3  u.  4  des  Archivs  für  G.  d. 
Philosophie  Bd.  XXIV  habe  ich  mich  darauf  beschränkt,  H.s  „Kritik" 
der  Wahrheit  gemäß  zu  charakterisieren. 

2.  Die  vielen  griechischen  und  lateinischen  Zitate,  die  H.  bei- 
bringt, zeugen  nur  von  seiner  vollständigen  Unkenntnis  des  Gegen- 
stands und  der  literarischen  Erfordernisse  der  Situation. 

3.  H.  hat  die  Autoren,  die  er  jetzt  zitiert,  während  der  Abfassung 
seiner  „Kritik"  nicht  gekannt,  wie  er  überhaupt  von  den  involvierten 
Problemen  keine  Ahnung  hatte. 

4.  Viele  der  von  ihm  zitierten  Stellen  versteht  H.  überhaupt 
nicht,  in  andere  trägt  er  fälschlich  das  Gegenteil  von  dem  hinein, 
was  sie  besagen,  und  so  zitiert  er  Stellen  gegen  mich,  die  in  Wahrheit 
für  mich  sprechen. 

5.  In  manchen  Fällen  konstruiert  H.,  um  seine  unglaublichen, 
äußerst  kompromittierenden  Schnitzer  zu  decken,  eine  Kontroverse 
zwischen  den  Interpreten,  wo  in  Wahrheit  keine  besteht,  und  meine 
Interpretation  durch  alle  Autoritäten  gedeckt  ist. 

6.  Wo  H.  keinen  andern  Rat  mehr  weiß,  da  w  e  c  h  s  e  1 1  er  ein- 
fach den  Gegenstand  der  Kontroverse,  indem  er  den  ursprüng- 
lichen Streitpunkt  fallen  läßt  und  etwas  ganz  anderes  behandelt. 


196  Neumark, 

0 

7.  Eine  nähere  Prüfung  der  Ausführungen  H.s  ergibt,  daß, 
während  er  versichert,  nichts  von  seiner  ursprünglichen  „Kritik" 
zurückzunehmen,  er  in  Wahrheit  alles  zurücknimmt:  Von 
der  Wucht  der  von  mir  in  meiner  Erwiderung  angeführten  Tatsachen 
und  Argumenten  gezwungen,  nimmt  H.  die  wichtigsten  Punkte  direkt 
zurück,  andere,  indem  er,  konfuserweise,  J  a  und  Nein  in  einem 
Zuge  sagt. 

8.  Oft  verwechselt  H.  Mein  und  Dein  und  bringt  so  die  wunder- 
lichsten Kombinationen  von  Elementen  zustande,  die  zu  prinzipiell 
entgegengesetzten  Standpunkten  gehören. 

9.  Hier  handelt  es  sich  um  die  wichtigste  Leistung  dieses  An- 
hangs: Es  war  für  H.  ein  leichtes,  an  Stellen,  wo  ich  ausdrücklich 
hervorhebe,  daß  ich  von  den  Interpreten  abweiche,  diese  gegen  mich 
zu  zitieren.  Ich  benutze  nun  diese  Gelegenheit,  mich  (nicht  mit  H., 
der  in  der  Regel  gar  nicht  weiß,  worum  es  sich  handelt,  sondern)  mit 
den  Interpreten  auseinanderzusetzen.  Entgegen  dem  unzulässigen 
Verfahren  H.s,  die  Stellen  wild  durcheinander  zu  werfen,  um  so  im 
Trüben  zu  fischen,  gehe  ich  auf  die  Ausführungen  Aristoteles  in  deren 
systematischem  Zusammenhang  ein.  Dadurch  gelingt  es  mir,  in  ge- 
drängter Kürze  ein  systematisches  Bild  der  aristotelischen  Metaphysik 
zu  entwickeln  und  den  Nachweis  zu  führen,  daß  meine  Interpretation 
des  Aristoteles  die  einzige  ist,  die  alle  Schwierigkeiten  und  Wider- 
sprüche behett,  und  in  der  die  sonst  trivial,  unzusammenhängend 
und  bedeutungslos  erscheinenden  Ausführungen  Aristoteles  systema- 
tischen Sinn  und  philosophische  Bedeutsamkeit  gewinnen. 

David   Neumark. 


XII. 

Gregor  Skovoroda,  ein  Philosoph  der  Ukraine. 

(1722—1794.) 

Von 
Dr.  Marie  von  Besobrasof  in  St.  Petersburg. 

„Die  Welt  hat  mich  fangen  wollen  und  nicht  gefangen".  (In- 
schrift auf  dem  Grabmal). 

Glückselig  sind  diejenigen,  denen  es  zu  viel  wird  an  dem  vielen 
Leben  —  seiner  Mannigfaltigkeit  und  Pracht  —  teilzunehmen,  die  es 
verstehen  sich  Grenzen  zu  stellen  und  das  Leben  in  seiner  Tiefe  auf- 
fassen. Glückselig  die  wahren  Philosophen,  zu  denen  unzweifelhaft 
der  ukrainische  Weise  Skovoroda  gehört.  Es  muß  auch  das  oft  ver- 
gessene Wort  hervorgehoben  werden  —  nicht  Alles  ist  aus  Einflüssen 
zu  erklären  und  die  feinen  Fäden  zwischen  den  Denkern  gesponnen 
verblassen  da,  wo  eine  neue  Macht  zutage  tritt.  Diese  ist  das  Originelle, 
nie  als  Erzeugtes  zu  verstehen.  Originell  und  elementar  steht  vor  uns 
der  Glaubensphilosoph  Skovoroda,  Lehrer  des  Naturgemäßen  und 
des  Ewigen,  der  schroffste  Dualist,  der  je  existiert  hat,  dessen  Dualismus 
ein  verfeinerter  Spiritualismus  ist.  Ein  tiefer  Abgrund  teilt,  seiner 
Meinung  nach,  das  Zeitliche,  Vergängliche,  Dunkle,  den  Schatten, 
Körper,  Lüge,  Schwanz  oder  Ferse  von  dem  Ewigen,  Wahren,  Hellen, 
der  Seele,  dem  Herzen,  Haupte.  Die  Wahrheit  ist  ewig,  weil  unsicht- 
bar und  unsichtbar,  weil  ewig.  Aus  dem  Wesen  des  Ewigen  und  des 
Naturgemäßen  entquillt  der  extreme  Optimismus  seiner  Ethik.  Das 
Zeitliche,  Sterbliche  faßt  er  nicht  minder  extrem  pessimistisch  auf. 

Originell  gestaltete  sich  das  Leben  des  schlichten  Kosakensohnes, 
der  zur  wandernden  Akademie  und  Universität  der  Ukraina  wurde. 
10  Jahre  nach  dem  Tode  Skovorodas  gründete  Karasin  die  Harkowsche 
Hochschule,  und  werden  zu  diesem  Zwecke  618.000  R.  nicht  ohne 
Kinfluß  desjenigen  gegeben,  der  es  verstanden  hatte  die* Liebe  zur 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  2.  iq 


198  Marie   von   Besobrasof, 

Wissenschaft  zu  wecken.  Das  Geld  wurde  von  Freunden  und 
Bekannten  des  wandernden  Philosophen  geopfert.  Er  kannte  nur 
fremde  Dächer  —  große  und  kleine,  hielt  sich  am  liebsten  in  Bienen- 
stöcken auf,  hing  leidenschaftlich  an  der  schönen  Dniepr-Heimat 
und  machte  keinen  Unterschied  zwischen  reich  und  arm. 

„Das  Volk  schläft  tief,  wird  aber  erwachen",  meinte  ein  Freund 
Sk.,  der  sich  selbst  Bauernpeitsche  nnd  seine  Reden  Bauerngewebe 
nannte. 

„Meine  Flöte  und  ein  Lamm  (fremdes)  gehen  mir  über  alle  Zaren- 
kronen, lautete  seine  Antwort  auf  die  Einladung  der  großen  Catharina 
nach  Petersburg  zu  kommen,  und  er  blieb  seiner  Armut  treu.  Zu 
den  2  Hemden,  Heften,  Korb,  Stock  und  paar  Bücher  paßte  die 
Tagesordnung:  4  Stunden  Schlaf,  langes  Gebet  um  Mitternacht,, 
kurze  einzige  Mahlzeit  ohne  Fleisch. 

Als  Jüngling  hatte  Skovoroda  in  der  Hauptstadt  gelebt,  war 
als  Chorsänger  am  Hofe  Elisabeths  angestellt.  Das  Studium  in  einer 
geistlichen  Schule  Kievs  gab  ihm  tüchtige  Kenntnisse  der  hebräischen, 
griechischen,  lateinischen  und  deutschen  Sprachen.  Sokrates,  Plato, 
Aristoteles,  Epicur,  Philo,  Cicero,  Plutarch,  Marc  Aurelius,  Dionysius 
v.  Areopagita,  Clemens  und  Origenes  sind  seine  Gewährsmänner. 
Eine  Reise  durch  Wien,  Ofen,  Preßburg  und  die  Schweiz  bringt 
ihn  unter  anderen  in  Verkehr  mit  Daniel  Meinhardt  in  Lausanne 
(1775).  Derselbe  wurde  1773  von  dem  beliebtesten  Schüler  Sko- 
vorodas  Kovalinski  besucht  und  schien  in  seinem  Äußeren,  Manieren,, 
Redeart  eine  große  Ähnlichkeit  mit  dem  Meister  zu  haben.  Es  gibt 
eine  Schrift  Skovorodas  (Dialog  über  die  alte  Welt),  wo  die  Vorrede, 
ein  Brief  an  Kovalinski,  „Daniel  Meinhardt"  zur  Unterschrift  hat. 
Näheres  über  diesen  Verkehr  zu  ermitteln,  wie  auch  über  den  Be- 
such bei  Kant  zu  erfahren,  ist  mir  nicht  gelungen.  Möglich  ist 
es,  daß  während  dieser  Reise  Skovoroda  die  Rationalisten  des 
XVIII.  Jahrhunderts  kennen  lernte  und  Reimarus  las.  Als  origi- 
neller Strich  erscheint  das  warme  Verhältnis  zu  Deutschland  und 
sein  Franzosenhaß.  Die  französischen  Lehrer  in  Rußland  regen 
den  gläubigen  Skovoroda  unangenehm  an. 

Kurze  Zeit  bekleidet  er  die  Ämter  eines  Lehrers  der  Poetik  und 
später  der  Moral  an  dem  Harkovschen  geistlichen  Seminar  und  der 
Poetik  an  dem  Pereiasliawlschen.  Die  letzte  Stelle  verliert  er,  weil 
der  Bischof  seine  Poetik  verwirft,  und  mit  dem  scharfen  Wort  an 


( iregor  Skovoroda.  JM9 

denselben  gerichtet:  „alias  res  spectrum,  alia  plectra",  geht  er. 
Zweimal  nimmt  er  seinen  Abschied,  weil  ihm  die  Mönchskutte  geboten 
wird.  Mönche  sind  seiner  Meinung  nach  Pharisäer  oder  Affen  der 
wahren  Heiligkeit. 

Skovoroda  hat  21  philosophisch-theologische  Werke  verfaßt, 
meist  in  dialogischer  Form  (er  selbst  ist  eine  der  Personen),  100  Briefe, 
teilweise    lateinisch,    30  Fabeln  (anständige    Spielzeuge.      Ein 

weises  Spielzeug;  ist  eine  Kraft;  nichts  ist  lächerlicher  als  ein  kluges 
Äußere  und  leeres  Innere,  nichts  angenehmer  als  ein  komisches  Ge- 
sicht und  innerer  Ernst);  2  Parabeln,  30  Gedichte  (Garten  göttlicher 
Lieder)  und  7  Übersetzungen  (Plutarch,  Cicero,  Sidronii  Hosii,  Über 
die  Einsamkeit).  Nichts  ist  von  ihm  gedruckt  —  dazu  war  er  zu  arm 
und  zu  bescheiden.  Vieles  wurde  von  seinen  Anhängern  abge- 
schrieben, einiges  ist  verloren  gegangen,  wieder  anderes  fälschlich 
unter  seinem  Namen  verbreitet.  Die  erste  Ausgabe  seiner  Werke 
erschien  1861  in  Petersburg  (Lissenkov).  Die  zweite,  vollständigere 
ist  von  Prof.  Bagalei  (Harkov,  1894)  besorgt  und  mit  einer  inhalt- 
reichen Vorrede  versehen. 

Die  Lebensbeschreibung  Kovalinski,  1796  verfaßt,  wurde  nur 
1883  veröffentlicht.  Sie  ist  authentischer  als  vieles  Andere,  so  die 
Biographien  Heß  de  Calve  und  Vernet  (1817),  Snegirefs  (1823), 
Hijdeus  (1835).  —  11  Fragmente  aus  „Gregor  Skovorodas  Lebens- 
wandel und  Wirkungskreis  oder  historisch-kritische  Würdigung  seiner 
Schriften  als  Beitrag  zu  einer  Geschichte  der  slavischen  Volksweisheit 
in  Briefen  an  Joh.  Jos.  Görres,  Professor  an  der  Universität  zu  Mün- 
chen" (deutsch).  Ob  diese  Schrift  gedruckt  ist,  bleibt  ungewiß. 
Hijdeu  hat  solche  Schriften  Skovorodas  gekannt,  die  allen  übrigen 
Forschern  unbekannt  geblieben,  und  es  kann  Zweifel  erregen, 
ob  dieselben  echt  sind.  Es  wird  selbst  von  einer  absichtlichen 
Fälschung  erwähnt,  dieses  ist  aber  tatsächlich  nicht  erwiesen.  Wohl 
aber  ist  es  Prof.  Bagalei  gelungen  darzulegen,  daß  Gavriil  (Geschichte 
der   Philosophie   in    Rußland)   Hijdeu    abgeschrieben   hat. 

In  den  40er  Jahren  des  XIX.  Jahrhunderts  sind  zu  erwähnen 
Sresnevski,  in  den  50er  Askochenski,  nach  1861  Danilevski,  Kosto- 
marof,  Sumzof,  Potebnia,  Efinicnko.  Das  Verhältnis  Skovorodas  zu 
Sokrates,  Plato,  Aristoteles,  der  Stoa  und  Philo  ist  von  Professor 
Zelenogorski  aufgeklärt ]). 

J)  Voprossi    plii]os(.|)liii   i  psychologii.     1894,  3  u.  4. 

13* 


200  Marie   von   Besobrasof, 

Skovoroda  wird  mit  Diogenes,  Sokrates,  Spinoza,  Rousseau, 
Lomonossof,  Novikof  verglichen  und  zum  Manichäer,  Skeptiker, 
Freimaurer,  Pessimisten  und  Rationalisten  pur  sang  getauft.  Alle  diese 
Vergleiche  und  Benennungen  charakterisieren  nicht  die  Weltanschauung 
des  Philosophen  und  wurzeln  in  einer  flüchtigen  Bekanntschaft 
mit  seinen  Werken. 

Als  neu  stellt  sich  die  Definition  der  Philosophie 2)  —  als  des 
Fundaments  der  allgemeinen  Bildung. 

„Was  ist  die  Philosophie?  Das  Hauptziel  des  menschlichen 
Lebens.  Das  Haupt  der  menschlichen  Taten  ist  sein  Geist,  Gedanke 
und  Herz.  Jedermann  hat  ein  Lebensziel,  aber  nicht  jeder  ein  Haupt- 
ziel, d.  h.  nicht  jeder  bekümmert  sich  um  das  Haupt  des  Lebens. 
Der  eine  um  den  Leib  (Magen),  der  andere  um  die  Augen,  Haare, 
Beine  oder  irgendwelche  Organe  des  Körpers,  ein  anderer  um  Kleider 
oder  leblose  Dinge.  Als  das  Haupt  des  Ganzen  bestrebt  sich  die 
Philosophie  dem  Geist  Leben  zu  geben,  dem  Herzen  Adel,  dem  Ge- 
danken Klarheit. 

Das  Leben  des  Geistes  ist  Erkennen  der  Wahrheit.  Hieraus 
entquillt  die  Fröhlichkeit  des  Herzens  und  der  Seelenfriede.,  Plato 
sagt,  es  gibt  nichts  Süßeres  als  die  Wahrheit.  Sie  ist  anfanglos,  ewig, 
und  wir  sind  in  ihr,  wie  der  Apfelbaum  in  seinem  Kern. 

Vernunft  sondert  den  Menschen  von  den  übrigen  Geschöpfen 
ab;  deswegen  muß  er,  um  sein  Lebensziel  zu  erfüllen,  die  Wahrheit 
erkennen.  Dank  seiner  Weisheit  und  Gnade  hat  der  Schöpfer  ihm 
die  Wahrheit  nicht  offenbart  und  bloß  Streben  gegeben  (lessinginisches 
Motiv  —  Bagalei).  Darin  besteht  das  wahre  Leben.  Suchen  und 
Staunen  sind  identisch. 

Eine  solche  Tätigkeit  belebt  und  erfreut  die  Seele.  Läge  aber  die 
Wahrheit  offen,  so  gäbe  es  kein  Staunen.  Der  Appetit  würde  ab- 
nehmen, die  Übersättigung  folgen,  dann  Langeweile  und  Verzagtheit. 
Philosophie  ist  die  einzige  Wissenschaft,  die  es  nicht  gestattet  Gott 
zu  gleichen  oder  tierähnlich  zu  werden.  Das  Höchste,  was  es  für  den 
Menschen  gibt,  ist  Mensch  zu  sein.  Der  heilige  Augustin  kennt  diese 
Wissenschaft.  Ihr  gemäß  ist  der  größte  Mensch  nur  ein  Punkt.  „Ich 
belernte  mich  der  Tugend  und  lernte  in  der  Bibel",  sagt  Skovoroda 
von  seinem  Studium,  das  er  mit  30  Jahren  begann.     Neu  erscheint 


2)  Nach  Zelenogorski  im   Sinne  Plato's. 


Gregor  Skovoroda.  201 

seine  Deutung  der  Bibel,  als  einer  der  3  Welten.  Es  gibt  einen  Tempel 
oder  die  große  Welt  —  den  Makrokosmos,  in  dem  wir  leben,  und  in 
demselben  2  kleine  Welten  —  den  Mikrokosmos  —  Mensch  und  die 
symbolische  Welt  —  die  Bibel.  „Ich  glaube  und  weiß,  daß  alles, 
was  in  der  großen  Welt  existiert,  auch  in  der  kleinen  ist,  was  in  der 
kleinen  möglich,  auch  in  der  großen,  dank  ihrer  Übereinstimmung 
und  der  Einheit  des  Geistes,  der  sie  erfüllt.  Auch  der  Geist  ist  einfach." 
Die  Welt  ist  der  Bauch  der  Ewigkeit,  die  Bibel  ihre  Wege.  Sie  ist 
Gottes  Hospital,  Apotheke,  ein  Sphynx.  In  der  Gottheit  können 
drei  in  einem  und  einer  in  dreien  sein,  —  nach  unseren  menschlichen 
Begriffen  ist  dies  unmöglich.  Wie  die  Kochbücher  es  lehren  den 
Magen  zu  befriedigen,  die  Modebücher  sich  schön  zu  kleiden,  so  lehrt 
die  Bibel  das  menschliche  Herz  zu  veredeln.  Theologie  ist  Ausrottung 
böser  Gedanken. 

Mensch  und  Bibel  haben  zwei  Naturen  oder  zwei  Körper  —  einen 
irdenen,  sichtbaren,  geschaffenen,  sterblichen,  sklavischen,  und 
einen  geistigen,  unsichtbaren,  ewigen,  freien,  grenzenlosen,  toten 
und  lebendigen  Baum.  „Deine  Hand  wird  nicht  faulen,  sondern  ist 
ewig  in  Gott.  Es  vergeht  der  Schatten,  nicht  die  wahre  Hand."  Es 
gibt  zwei  Intellekte,  zwei  Willen,  zwei  Herzen.  Zwei  sind  eins  in 
der  Bibel  —  Geist  und  Körper,  Gott  und  Schlange.  Das  Zeitliche, 
Körperliche  sind  in  der  Bibel  die  Wunder,  das  Ewige  der  Sinn,  das 
yvwfti  oeavzov.  Diese  ägyptische  Weisheit  ist  zur  hebräischen 
Theologie  geworden.  Daß  der  buchstäbliche  Sinn  der  Bibel  zum 
Atheismus  führt,  war  Skovoroda  klar.  Ewigkeit  und  Zeit  haben 
denselben  Bau,  sind  aber  nicht  dasselbe.  Die  alte  Welt  ist  Schatten 
der  neuen  —  christlichen.  „Man  verleumdet  mich,  weil  ich  das  alte 
und  neue  Testament  ablehne,  —  ich  vernichte  nichts,  sondern  ergänze 
nur."  Wie  der  Körper  ohne  Seele  leer  ist,  so  die  heilige  Schrift  ohne 
Glaube.    Es  ist  aber  nicht  Rede  vom  Glauben  an  den  Buchstaben. 

Das  fromme  Herz  geht  den  geraden  Weg  zu  dem  göttlichen  Berg, 
sinkt  nicht  ein  in  die  Sümpfe  des  Aberglaubens  —  diesen  Sklaven 
der  Leidenschaften  —  und  vermeidet  die  rasende  Gottlosigkeit.  Aus 
dem  Aberglauben,  der  von  Skovoroda  mehr  als  der  Atheismus  be- 
kämpft wird,  entstehen  Furcht,  Hader,  Hand-  und  Wortgefechte, 
Sekten.  Jede  Sekte  trachtet  nach  eigenem  Besitz,  und  wo  es  Eigentum 
gibt,  wird  das  Hauptziel  nicht  erreicht.  Weisheil  kennt  kein»'  Sekten. 
Nicht  ohne  Grund  urteilt  Plutarch,  daß  der  Aberglaube  schlimmer 


202  Marie   von   Besobrascf, 

sei  als  die  Gottlosigkeit:  lieber  sage,  es  hat  keinen  Plato  gegeben, 
als  er  war  undankbar,  unverschämt  usw.  Es  gibt  nichts  Galligeres  und 
Grausameres  als  den  Aberglauben  —  der  Vernunft  bar.  Besser  nicht 
lesen  und  hören,  als  ohne  Augen  lesen  und  ohne  Ohren  lauschen. 

Der  Mensch,  der  keinen  Glauben  hat,  ist  ein  giftiges  Tier.  Wahres 
Auge  und  Glaube  sind  identisch.  Schwer  der  Unglaube.  Was  auf 
dem  Schiff  der  Kompaß  ist,  dasjenige  im  Menschen  Gott  —  Mittel- 
punkt, Kreis,  die  höchste  Ursache  der  Ursachen.  Nichts  ist  unser, 
alles  kann  vernichtet  werden,  selbst  unsere  eigenen  Götterbilder 3)  — 
diese  Schatten  der  wahren  Menschen  — ,  ewig  sind  nur  unsere  Ge- 
danken oder  die  Wahrheit,  und  wir  sind  in  ihr  versteckt,  wie  der 
Apfelbaum  in  seinem  Kern.  Das  Licht  der  Weisheit  hat  nur  dann 
in  den  Menschen  Eingang,  wenn  er  seine  zwei  Naturen  erkennt, 
daß  zwei  in  einem  und  eins  in  zweien  ist,  unteilbar,  nicht  zusammen- 
fließend, wie  der  Apfelbaum  und  sein  Schatten. 

Ist  Skovoroda  ein  völlig  konsequenter  Denker,  wie  dies  von 
Prof.  Zelenogorski  angenommen  wird4)? 

Das  Verhältnis  von  Seele  und  Körper  flößt  gewisse  Bedenken  ein. 

Das  Notwendigste  im  Menschen  ist  am  spätesten  geschaffen, 
so  das  Herz.  Jeder  ist  das,  was  sein  Herz  ist,  z.  B.  der  Wolf,  der  Biber 
usw.  —  das  Gesicht  kann  aber  ein  anderes  sein. 

Der  Gedanke  (Intellekt)  ist  auch  Hauptpunkt.  Mens  cujusque 
is  est  quisque  (Cicero).  Bei  den  Teutonen  Mensch  =  mens,  bei  den 
Griechen  cpog  oder  Licht.  Mens  oder  Herz  ist  Äußeres,  Schatten,  Ferne. 
Herz  oder  Seele  ist  die  Essenz,  Kraft,  der  Kern  des  Menschen,  die 
,,ista",  worin  nur  das  Leben  besteht.  Ohne  die  ista  sind  wir  tote 
Schatten,  wenn  auch  Herrscher  aller  kopernikalischen  Welten. 

Was  ist  die  Seele,  wenn  nicht  der  Abgrund  der  Gedanken?  Was 
ist  Gedanke,  wenn  nicht  Wurzel,  Same  und  Kern  unseres  Körpers? 

Es  ist  unmöglich  die  Seele  mit  dem  Körper  zu  vereinigen.  Die 
Seele  kann  unabhängig  vom  Körper  leben,  aber  nicht  ohne  im  Ver- 
hältnis zu  Gott  zu  bestehen. 


3)  Mein  Körperchen  ist  ein  kleiner  Haufen  und  dieser  langweilt  mich. 

4)  Prof.  Zel.  widerspricht  sich  selbst,  denn  an  einer  anderen  Stelle 
behauptet  er,  daß  die  Widersprüche  Sk.  ihre  Erklärung  in  dem  Einflüsse 
auf  ihn  der  alten  Philosophie  haben,  so  hauptsächlich  des  philosophischen 
Synkretismus. 


Gregor  Skövoroda.  203 

Die  Tätigkeit  der  Seele  offenbart  sich  allmählich,  je  nachdem 
der  Körper  kräftiger  wird;  sie  paßt  sich  immer  an  denselben  an  — 
in  der  Kindheit  scherzt  sie,  lernt  in  der  Jugend,  urteilt  im  Mannesalter 
und  ruht  im  Alter.  Seele  ist  Herrscherin  der  Sinne,  ihr  Minister. 
Nur  die  Wahrheit  ist  die  wahre  Seligkeit  und  nur  sie  belebt  das  Herz, 
welches  in  der  Gewalt  des  Körpers  steht.  „Wenn  du  etwas  im  Geiste 
erkennen  willst,  mußt  du  es  zuvörderst  im  Körper  oder  Angesicht 
■erkennen."    Die  Vereinigung  erscheint  eng  und  wunderbar  zugleich. 

Es  ist  nicht  schwer,  hier  einen  Widerspruch  zu  bemerken  und 
über  das  Verhältnis  von  Seele  und  Körper  nicht  im  Klaren  zu  sein. 

Dagegen  kann  eingesehen  werden,  daß  der  innere  Verkehr  der 
Seele  mit  sich  selbst  dieselbe  vom  Körper  absondert.  Dieser  Verkehr 
ist  das  yvwd-i  asavzov.  Skövoroda  spricht  gegen  die  Verehrung 
des  Körpers  bei  den  Ägyptern.  Das  Leben  ist  nicht  mit  dem  Arshin 
(3/4  Meter)  der  Jahre  zu  messen,  sondern  durch  Taten.  Die  Regel 
des  Weisen  lautet:  , .wenige  Jahre  zu  leben,  lange  Jahre  tätig  zu  sein." 
Das  yvoi&i  osaviov  bei  den  Ägyptern  vorhanden,  wird  von  Sokrates 
aufgenommen. 

Ob  die  Schrift,  worin  Skövoroda  sich  mit  Sokrates  vergleicht, 
authentisch  ist,  bleibt  ungewiß.     Es  heißt  dort: 

„Wie  blind  wir  da  sind,  wo  wir  es  nicht  sein  müssen.  Viele  wollen 
in  Rußland  die  Piatos,  Aristoteles,  Zenons,  Epicure  sein  und  bedenken 
nicht,  daß  die  Akademie,  dasLyceum  und  derPorticus  aus  der  Wissen- 
schaft des  Sokrates  entsprossen  sind,  gleich  dem  wie  das  Hühnchen 
sich  aus  dem  Ei  entwickelt.  Bis  wir  nicht  unseren  eigenen  Sokrates 
besitzen,  können  wir  keinen  Plato  und  irgend  einen  anderen  Philo- 
sophen haben.  Vater,  der  du  bist  im  Himmel!  Wirst  du  uns  bald 
«inen  Sokrates  schicken,  der  uns  zuvörderst  der  Erkenntnis  unserer 
selbst  lehren  wird,  und  nachdem  wir  uns  erkannt  haben,  werden  wir 
diejenige  Wissenschaft  entwickeln,  welche  unsere  eigene,  natürliche, 
sein  wird.  Es  sei  dein  Name  heilig  in  dem  Gedanken  deines  Sklaven, 
der  es  gedenkt  und  ein  Sokrates  in  Rußland  sein  will.  Aber  das  russische 
Land  ist  größer  als  Griechenland,  und  nicht  so  leicht  wird  es  deshalb, 
dies  Land  mit  der  Predigt  zu  durchdringen.  Es  komme  dein  Reich, 
und  der  Same  soll  keimen.  Es  werde  dein  Wille  und  meinem  Urteil 
gemäß  soll  das  Wissen  nicht  nur  den  Priestern  der  Wissenschaft 
gehören,  die  essen  und  sich  äbersättigen,  sondern  dem  ganzen  Volke." 


204  Marie  von   Besobrasof, 

Dieses  zu  erfüllen  fühlte  sich  Skovoroda  berufen  und  diese  Tätigkeit 
machte  ihn  selig. 

Außerdem  schreibt  ihm  Hijdeu  dreifache  Erkenntnis  zu  —  eine 
individuelle,  bürgerliche  und  göttliche  —  ich  erkenne  mich  als 
Johann,  Russe  und  Gottes  Ebenbild.  Er  soll  Sokrates  vorwerfen,  daß 
dieser  nur  die  Erkenntnis  erster  Art  kannte,  wie  Solon  der  zweiten 
und  Christus  der  dritten. 

Die  Welt  ist  eine  Bühne,  wo  alle  Gegenstände  Masken  tragen. 
Mögen  wir,  so  viel  wir  wollen,  die  Gegenstände,  welche  uns  umringen, 
tasten,  wir  fühlen  nur  eine  undurchdringliche  Fläche;  umsonst  kommt 
uns  der  Mikroskop  zur  Hilfe.  Die  Berührung  der  Intellekte  hingegen 
elektrisiert  sie  und  läßt  Funken  sprühen.  In  der  tiefen  Einsamkeit 
können  die  Begriffe  dunkler  werden  und  die  Menschen  zu  Feinden 
des  Menschen.  Viele  verstehen  es  nicht  in  der  Einsamkeit  mit  sich 
selbst  zu  verkehren,  —  sie  tun  es  mitten  in  der  Welt.  Es  gibt  kein 
einziges  Insekt,  welches  nicht  voll  Wunder  wäre.  Das  vom  Fuß 
zertretene  Gras  besitzt  wunderbare  Schönheit.  Was  uns  verächtlich 
scheint,   könnte  nach  der  Ursache  unseres  Verachtens  fragen. 

Aber  um  dieses  zu  begreifen  muß  der  Mensch  mit  seiner  Seele 
verkehren.  „Ich  bin  dann  mitten  in  einer  Welt,  die  spricht  und  mich 
belehrt."  Dank  dem  Verkehr  mit  der  Seele  fühlen  wir  in  uns  eine 
Welt  gleich  der,  in  welcher  wir  leben.  Diese  Welt  ist  voll  Freuden. 
Dieser  Verkehr  hat  zum  Resultat  die  Betrachtung  selbst,  wie  auch 
derjenigen  Gegenstände,  die  uns  umringen,  in  weiser  Vorsehung  der 
Handlungen  und  Vorgänge.  Nur  durch  diesen  Verkehr  entkommt 
der  Mensch  dem  Chaos  der  Zweifel  und  des  Ungewissen  —  diesem 
Grab  der  Welt. 

Der  nachdenkende  Mensch  eilt  mit  zitternden  Füßen  zu  sich 
selbst  um  die  Wahrheit  zu  erlangen,  welche  die  Menschen  verloren 
haben. 

Der  Verkehr  mit  sich  selbst  gibt  Sieg  über  den  Tod.  Das  Gegen- 
teil des  Verkehrs  bilden  die  Zerstreuungen,  welche  den  Menschen 
aus  der  inneren  Welt  in  die  äußere  führen. 

Wenn  wir  nachdenken,  wissen  wir,  daß  unsere  Seele  uns  näher 
ist  als  alles  übrige.  Unsere  Seele  ist  etwas  uns  sehr  Nahes  und  wiederum 
Entferntes  —  nahe,  weil  sie  unser  bester  Teil  ist,  entfernt,  weil  wir 
mit  ihr  nicht  verkehren  wollen.  Alexander  der  Große  kannte  seine 
Seele  nicht.    Viele  Philosophen  haben  nur  aus  Selbstliebe  gearbeitet. 


Gregor  Skoyoroda.  20o 

Wo  kann  man  die  Seele  besser  fühlen  als  in  der  tiefen  Nacht? 
Ist  es  nicht  richtig  zu  sagen,  die  Seele  ist  mein  einziges  Gut  —  es  gibt 
kein  Naturereignis,  welches  mich  derselben  berauben  kann. 

Vernichten  wir  die  Liebe  zu  den  Kleinigkeiten  des  Lebens  und 
haben  wir  die  Seele  allein  im  Auge.  Wie  viele  Freunde  würden  wir 
in  diesem  Falle  verachten.  Es  gibt  aber  nichts  köstlicheres,  süßeres 
und  nützlicheres  als  Freundschaft,  „Habe  nicht  100  Rubel,  sondern 
einen  Freund",   sagt   ein  kleinrussisches  Sprichwort. 

Lieben,  fühlen  und  erkennen  sind  die  einzigen  Fähigkeiten,  die 
Freude  geben.  Die  Wissenschaft  pflegt  diese  Fähigkeiten,  schafft 
sie  aber  nicht. 

Warum  lieben  viele  Sterblichen  nicht  ihre   Seele? 

Weil  sie  die  Tugenden  und  Fähigkeiten  nicht  ehren,  sondern 
nur  Reichtum  verfolgen  und  Armut  scheuen. 

Die  Erkenntnis  ist  der  rechte  Flügel,  die  Tugend  der  linke. 
Mutter  aller  Tugenden  ist  reines  Herz;  die  erste  die  Dankbarkeit; 
Mutter  aller  Leidenschaften  der  Neid.  Weisheit  und  Tugend  sind 
zwei  Brüder  —  ein  Blinder  und  Lahmer  — ,  und  ihre  Vereinigung 
gibt  Glückseligkeit.  Dazu  gehören  ein  reines  Herz,  Heiterkeit,  Seelen- 
stärke und  Seelenfrieden. 

Der  Mensch  besitzt  drei  Mittel  glücklich  zu  sein  —  wahre  Ge- 
danken, Erinnerung  an  wahre  Gedanken  und  Hoffnung  solche  zu 
haben.  Das  wahre  Glück  ist  ein  Seelenzustand,  den  alle  erreichen 
können,  —  dazu  gehört  nichts  vom  Menschen  Unabhängiges. 

Prof.  Zelenogorski  betont  mit  Recht  den  Moralismus  Skovorodas, 
was  von  Efimenko  bestritten  wird. 

Liebe  zur  Tugend  ist  ein  brennendes  Licht,  Liebe  zum  Laster 
ein  gelöschtes. 

„Was  macht  Skovoroda  im  Leben?  Wie  zerstreut  er  sich? 
Ich  freue  mich  in  Gott.  Oblectatio,  öiarqißri  ist  die  Höhe,  die 
Blüte  und  der  Kern  des  menschlichen  Lebens,  sein  Zentrum".  Die 
körperliche  Sättigung  macht  nicht  heiter.  In  diesem  Sinne  lehrt 
Epikur  die  Heiterkeit  des  Herzens  sei  dasjenige,  was  dem  Menschen 
das  Leben  gäbe.     Auch  Horatius,  Seneca  —  vive  hodie. 

Je  mehr  Eintracht  und  Friede  mit  Gott,  desto  seliger  und  fried- 
licher das  Leben;  desto  weiter  rückt  der  Schatten  zurück  und  heller 
wird  es. 


206  Marie   von   Besobrasof, 

Die  "Welt  ist  voll  Heuchelei.  Rede  und  "Wahrheit  sind  nie 
identisch.    Die  "Welt  preist  das.  was  verachtet  sein  muß. 

..Fliehe  die  Meinung  der  "Welt,  suche  die  Einsamkeit  auf,  schließe 
Freundschaft  mit  der  Geduld,  lebe  mit  Demut,  sei  eifrig  bei  Gott 
dem  Allmächtigen." 

Liebe  zum  Nächsten  ist  nicht  nur  zuträglich,  sondern  süß,  wenn 
du  dazu  geboren  bist.    Liebe  ist  Form  Gottes  selbst.    Gott  ist  Liebe. 

Gottes  Willen  sich  ergeben  heißt  mit  anderen  "Worten  der  Natur 
gemäß  leben,  nicht  aber  der  blinden  Natur,  sondern  der  göttlichen, 
seligen,  ewigen  in  uns.  Neigung,  Lust,  Natur,  Gottes  Kraft.  Gott 
sind  identisch.  Naturgesetz  =  eine  Notwendigkeit  für  die  Seligkeit 
der  Menschen  ist  allgemein,  eingeprägt  in  jedem  Herzen,  dem  letzten 
Sandkorn  anheim. 

Die  Arbeit  ist  nützlich,  wenn  man  Lust  dazu  hat.  Ein  kleines 
Gefäß  kann  ebenso  voll  sein,  wie  ein  großes,  denn  Gott  hat  jedem 
das  Seine  gegeben.  In  diesem  Sinne  lautet  die  Antwort  Skovorodas 
an  den  Gouverneur  Tscherbinin,  der  ihm  nützlich  sein  will: 

„Ich  kann  auf  der  "Weltbühne  keine  andere  Rolle  spielen,  als 
diejenige,  welche  ich  gewählt  habe  —  sie  ist  schlicht  und  sorgenfrei. 
Fühlte  ich  mich  dazu  geboren  die  Türken  zu  schlagen,  würde  ich 
mich  mit  dem  Säbel  umgürten  und  wegziehen." 

Die  Natur  rächt  sich  an  dem,  der  eine  fremde  Rolle  spielt  —  die 
Resultate  sind  Unzufriedenheit.  Langeweile,  Gram.  Die  Eltern  sollen 
die  Fälligkeiten  des  Kindes  genau  betrachten  und  dieselben  ent- 
wickeln, nicht  aber  ihm  etwas  Fremdes  aufbürden.  Der  Lehrer  ist  bloß 
Diener  der  Natur.  Bist  du  zum  Studenten  geboren,  siehe  ob  es  sich 
so  zuträft?  Du  bist  vielleicht  ein  "Würmchen  und  unecht.  Aus  solchen 
werden  Drohnen  geboren.  Horche  zu  dir  selbst  auf,  prüfe  dich  mit 
Gefahr,  schaue  dich  recht  um.  wenn  es  sich  aber  wirklich  so  verhält 
und  nicht  Eitelkeit  im  Spiele  ist.  Gott  selbst  dich  anruft  und  du  Liebe 
zu  der  Tätigkeit  hast,  die  dir  angeboren  ist,  folge  Gott  und  laß 
alles  Übrige  liegen." 

Im  ..Alphabet  des  Friedens-  heißt  es: 

Similem  ad  similem  ducit  Dens,  seine  Gnade  und  geheimes  Gesetz 
—  Natur  und  Verwandtschaft  (Affinität)  ist  und  deswegen  sind  ihm 
drei  Dinge  zuwider: 

A.  Einen  Beruf  der  Natur  zuwider  haben. 

B.  Das  lernen,  wozu  wir  nicht  geboren  sind. 


Tregor  Skovoroda.  207 

C.  Mit  denen  befreundet  sein,  mit  denen  man  keine  Verwandt- 
schaft hat. 

Diese  drei  Dinge  machen  zum  Feind  Gottes  und  dem  Freund 
des  Teufels.  Der  Teufel  sagt  das  Reich  Gottes  sei  schwer  zu  erreichen. 
Bonitas  gravissima,  malitia  levissima,  die  größte  Strafe  für  Böses 
ist  Böses  zu  tun,  wie  Lohn  für  Gutes  Gutes  zu  schaffen. 

Es  ist  im  Gegenteil  leicht  selig  zu  sein  und  schwer  böse.  Dank 
dem  seligen  Gott,  der  das  Notwendige  nicht  schwer  gemacht  hat 
und  das  Schwierige  unnötig  (Epikur).  Der  Wille  der  Menschen  ist 
frei  und  er  wählt  das  wahre  Naturgemäße,  was  das  Tier  nicht  kann. 

Was  ist  das  Leben? 

Wir  finden  folgende  vier  Definitionen,  die  den  materiellen  Pessi- 
mismus und  geistigen  Optimismus  Sk.  zur  Genüge  charakterisieren. 

1.  Der  Schlaf  eines  Türken  von  Opium  betrunken,  schrecklicher 
Traum,  —  der  Kopf  ist  schwer,  das  Herz  stöhnt. 

2.  Eine  Pilgerschaft.  Ich  gehe  ohne  den  Weg  zu  kennen,  wohin 
und  wozu. 

3.  Das  vergängliche  Leben  ist  der  Schlaf  unserer  denkenden 
Kraft.  Es  kommt  die  Stunde,  wo  der  Schlaf  ein  Ende  nimmt  und 
die  Denkkraft  erwacht.  Unser  Geist  kommt  in  den  Kreis  des  Seins. 
Aus  ihm  herausgerissen  ist  es  das  Kind  der  Mutter  beraubt. 

4.  Süße  Freude  des  Herzens,  welche  das  Streben  zur  Wahrheit 
gibt.     Unius  interitus  est.  alterius  generatio. 

Das  Leben  des  ukrainischen  Philosophen  war  die  Verwirk- 
lichung seiner  Lehre,  kein  Schatten  und  Samen,  sondern  der  Apfel- 
baum selbst,  wenn  man  sein  Steckenpferd  paraphrasiert. 


XIII 

Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen  auf 
Grund  der  Marbeschen  Beziehungslehre.1) 

Von 
Heinrich  Schüßler. 

I.   Die   logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen. 
§   1.    Die    Duplizität    des    Beziehungsproblems. 

Wie  so  manches  andere  philosophische  Problem  läßt  sich  das- 
jenige der  Beziehungen  sowohl  vonseiten  der  Psychologie, 
als  auch  von  seiten  der  Logik  behandeln.  Werden  die  psychischen 
Vorgänge,  die  sich  im  Bewußtsein  bei  der  Herstellung  von  Be- 
ziehungen abspielen,  festgestellt  und  analysiert,  so  haben  wir  die 
psychologische  Seite,  fragen  wir  hingegen,  unbekümmert 
um  die  Qualität  dieser  Vorgänge,  nur  nach  ihrem  Sinn,  nach  ihrer 
Bedeutung,  so  haben  wir  die  logische  Seite  des  Problems. 

Diese  Duplizität  des  Beziehungsproblems  wurde  nicht  immer 
scharf  auseinander  gehalten.  Man  hat  inmitten  logischer  Er- 
örterungen die  Beziehungen  auch  von  ihrer  psychologischen 
Seite  betrachtet  und  so  beide  Seiten  miteinander  vermengt.  Ich 
erwähne  hier  nur  kurz  John  Stuart  M  i  1 1 ,  der  in  seinem 
„SystemderdeduktivenundinduktivenLogi  k"2) 
seine  einfachen  und  zusammengesetzten  Relationen  von  der  logi- 
schen, seine  einfachsten  Relationen  aber  von  der  psych  o- 
logischen  Seite  aus  behandelt  hat.  Ausführlicher  soll  davon 
noch  in  den  letzten  Paragraphen  dieser  Arbeit  die  Rede  sein. 


a)  Karl  Marbe,  „Die  logische  Theorie  der  Beziehung  und  die  Auf- 
gabe der  Logik".  Vierteljahrsschrift  f.  wiss.  Philos.  u.  Soziologie,  Bd.  XXXIV, 
S.  1,  Leipzig  1910. 

2)  Ges.  Werke  v.  Gomperz.    1872,  Bd.  II,  S.  56  ff. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  209 

§2.  Übersicht  über  die  einzelnen  Beziehungen. 
Was  für  einzelne  Arten  von  Beziehungen  lassen  sich  bilden? 

Man  spricht  von  Raum-  und  Zeitbeziehungen,  wie 
z.  B.  „Der  Tisch  steht  in  dem  Zimmer"  und  „Mein  Bruder  ist  vor 
mir  geboren  worden". 

Man  bildet  Größenbeziehungen.  Ich  erinnere  an  die 
arithmetischen  Ausdrücke  „a+b";  „a — b"  oder  „a+b=c".  Auch 
Beziehungen  wie  „Das  Königreich  Bayern  ist  ein  Teil  des  Deutschen 
Reiches"  gehören  hierher. 

Sodann  läßt  sich  eine  ganze  Gruppe  von  Abhängigkeits- 
oder  Funktionsbeziehungen  herstellen.  Man  kann  hierbei 
konditionale,  kausale,  teleologische  und  eine 
Reihe  anderer  Beziehungen  unterscheiden.  Eine  konditionale 
Beziehung  hegt  vor  in  dem  Satze  „Wenn  das  Getreide  reif  ist,  wird 
es  gemäht".  Der  Satz  „Die  Wärme  dehnt  die  Körper  aus"  enthält 
eine  kausale  Beziehung.  Eine  teleologische  Beziehung 
ist  vorhanden,  wenn  wir  sagen:  „Um  den  Zug  noch  zu  erreichen, 
eilte  er  fort."  Andere  zu  den  Abhängigkeits-  oder  Funktionsbeziehungen 
gehörige  Beziehungen  sind  z.  B.  die  der  W  e  c  h  s  e  1  w  i  r  k  u  n  g. 
Eine  solche  enthält  der  folgende  Satz:  „Gesetz  und  Sitte  beein- 
flussen einander." 

Eine  andere  Art  von  Beziehungen  sind  die  Ähnlichkeits- 
und  Kontrastbeziehungen.  „Der  neue  Rathausturm  ist 
dem  alten  Festimgsturm  ähnlich"  und  „Das  Bild  ist  schön,  aber  der 
Rahmen  ist  häßlich"  sind  Beispiele  für  solche  Beziehungen. 

Beziehungen  ganz  besonderer  Art  sind  die  Merkmalsbe- 
ziehungen. Sie  entstehen,  wenn  einem  Gegenstand  ein  Merkmal 
als  zugehörig  beigelegt  wird,  z.  B.  „Die  Rose  ist  rot"  oder  „Mein  Freund 
ist  tugendhaft".  Hierzu  sind  auch  die  Urteilsbeziehungen 
zu  rechnen,  die  bei  jedem  Urteil  zwischen  Urteilserlebnis  und  Urteils- 
gegenstand  hergestellt  werden3). 

Die  vorliegende  Übersicht  über  die  einzelnen  Beziehungen  macht 
keineswegs  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit.  Sie  wollte  nur  die 
geläufigsten  und  gebräuchlichsten  von  ihnen  zusammenstellen.  Es 
lassen  sich  sicherlich  noch  eine  ganze  Reihe  anderer  Beziehungen 
bilden.       So    viele    Gesichtspunkte    es    gibt,    unter 


3)  Siehe  S.  222. 


210  Schuß  ler, 

denen  man  irgend  zwei  Gegenstände  betrachten 
kann,  so  viele  Beziehungen  sind  auch  möglich. 
Auffallen  mag,  daß  bei  unserer  Übersicht  ganz  geläufige  Be- 
ziehungen wie  „groß",  „klein",  „Vater",  „Sohn"  usw.  nicht  genannt 
worden  sind.  Sie  wurden  mit  Absicht  unberücksichtigt  gelassen, 
weil  sie  vom  Standpunkte  der  M  a  r  b  e  sehen  Beziehungstheorie 
nicht  zu  den  Beziehungen  gehören.  Die  Marbe  sehe  Beziehungs- 
theorie, von  der  aus  die  einzelnen  Beziehungen  in  dieser  Arbeit  be- 
trachtet werden  sollen,  wird  im  §  3  kurz  dargestellt  werden. 

„Vater",  „Sohn"  und  ähnliche  andere  Ausdrücke  sind,  vom 
Marbe  sehen  Standpunkte  aus  betrachtet,  keine  Beziehungen, 
sondern  Gegenstände. 

Auch  „groß",  „klein",  „dick",  „dünn"  usw.  sind  nach  Marbe 
keine  Beziehungen,  sondern  Beziehungsmerkmale. 

Eine  kurze  Darlegung  soll  diese  Auffassung  erläutern.  Unter 
Gegenstand4)  versteht  Marbe  alles,  was  irgendwie  bezeichnet, 
ja  alles, was  irgendwie  Objekt  werden  kann.  Zur  Herstellung 
einer  Beziehung  ist  aber  das  Betrachten  zweier  Gegenstände 
unter  einem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  erforderlich.  Alle  Be- 
ziehungen lassen  sich  daher  wohl  als  Gegenstände,  aber  niemals  läßt 
sich  ein  einzelner  Gegenstand  als  Beziehung  auffassen. 

Aus  demselben  Grunde  geht  auch  schon  hervor,  daß  „groß", 
„klein"  usw.  keine  Beziehungen  sein  können.  Sie  gehören  nach 
Marbe  zu  den  Merkmalen,  und  zwar  zu  den  Beziehungs- 
merkmalen. Merkmale  sind  Unterschiede  zwischen  Gegenständen5). 
Die  Merkmale  teilt  M  a  r  b  e  in  zwei  große  Klassen  ein,  in  E  i  g  e  n  - 
merkmale  und  in  Beziehungsmerkmale.  Eigenmerk- 
male kommen  einem  Gegenstande  an  und  für  sich  zu,  z.  B.  „Der  Würfel 
ist  hölzern".  Hölzern  kommt  dem  Würfel  an  und  für  sich  zu.  Be- 
ziehungsmerkmale  kommen  einem  Gegenstand  nicht  an  und  für 
sich  zu,  sondern  nur  in  Beziehung  auf  einen  dritten  Gegenstand, 
z.  B.  „Der  Würfel  ist  groß".  Groß  ist  genau  so  wie  hölzern  ein  Merk- 
mal für  den  Würfel.  Es  kommt  ihm  aber  nicht  an  und  für  sich  zu 
wie  etwa  hölzern,  sondern  nur  in  Beziehung  auf  einen  dritten  Gegen- 
stand, den  Beziehungsgegenstand,  der  in  diesem  Falle  ein  Würfel 


4)  A.  a.  0.,  S.  1,  u.  Vierteljahrsschrift  Bd.  XXX,  S.  465  ff.  Leipzig  1906. 
6)  Vierteljahrsschrift  Bd.  XXX,  S.  468,  469.    Leipzig  1906. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  211 

oder  ein  beliebiger  anderer  Gegenstand  sein  kann,  der  eben  kleiner 
ist  als  unser  Würfel.  Die  Beziehungsmerkmale  sind  ursprünglich 
an  der  Hand  von  Beziehungen  gewonnen  worden.  Aber  sie  sind  zu 
Merkmalen  und  zwar  zu  Beziehungsmerkmalen  herabgesunken. 

§  3.   Marbes   Beziehungslehre ,;). 

Zur  Herstellung  einer  Beziehung  gehören  mindestens  zwei  Gegen- 
stände und  ein  beziehendes  Subjekt.     Wir  stellen  eine  Be- 
ziehung zwischen  zwei  Gegenständen  h e  r ,  w  e  n n 
wir     sie     unter     einem    gemeinsamen     Gesichts- 
punkte, d.  h.  als  Gegenstände  eines  bestimmten 
oder       mehrerer        bestimmter       koordinierter 
Merkmale     betrachten.       Je     nach     den    verschiedenen 
Gesichtspunkten,    unter   denen   wir    zwei   Gegenstände    betrachten, 
stellen   wir   verschiedene    Beziehungen    zwischen   ihnen   her.      Die 
einzelnen    Beziehungen     können     indessen     sinnvoll     und     sinnlos 
sein.      Eine    Beziehung    ist    sinnlos,    wenn    das    charakteristische 
Merkmal   auf   beide   Gegenstände   prinzipiell   nicht   anwendbar   ist, 
d.  h.  wenn  kein  koordinierter  Gegenstand  bekannt  oder  denkbar  ist, 
dem   das  Merkmal  zukommt.      Ist  das  charakteristische  Merkmal 
aber  auf  beide  Gegenstände  prinzipiell  anwendbar,  so  hegen  sinnvolle 
Beziehungen  vor.     Die  sinnvollen  Beziehungen  sind  entweder  gültig 
oder  ungültig.    Sie  sind  gültig,  wenn  das  charakteristische  Merkmal 
den  Gegenständen  tatsächlich  zukommt,  aber  ungültig,  wenn  es  ihnen 
nur  im  Prinzip,  nicht  aber  in  Wirklichkeit  zukommt.     Die  Frage, 
ob  eine  Beziehung  gültig  ist,  läßt  sich  teilweise  von  der  Erfahrung, 
teilweise   aber   auch  unabhängig   von   der   Erfahrung  beantworten, 
allerdings  unter  Voraussetzung  anderer  gültiger  Beziehungen.     Eine 
Beziehung  ist  nämlich  auch  dann  gültig,  wenn  sie  aus  andern  gültigen 
Beziehungen  abgeleitet  werden  kann.    Urteile,  welche  die  Gültigkeit 
oder  Ungültigkeit  von  Beziehungen  ausdrücken,  bezeichnet  Marbe 
als  Beziehungs  urteile.      Richtige  Beziehungsurteile  heißen 
Wahrheiten. 


6)  Karl  Marbe,  „Die  logische  Theorie  der  Beziehung  und  die  Auf- 
gabe der  Logik".  Vierteljahrsschrift  f.  wiss.  Philos.  u.  Soziologie  Bd.  XXXIV, 
S.  1.     Leipzig  1910. 


212  Sc  büß  ler, 

§  4.    Subjektive     und     objektive     Beziehungen. 

Wir  stellen  eine  Beziehung  zwischen  zwei 
Gegenständen  her,  wenn  wir  sie  unter  einem 
gemeinsamen  Gesichtspunkte  betrachten.  Es 
gibt  Gesichtspunkte,  die  sich  nur  auf  ganz  spezielle  Gegenstände 
anwenden  lassen,  z.  B.  der  Gesichtspunkt  der  K  a  u  s  a  1  i  t  ä  t.  Es 
lassen  sich  eine  ganze  Reihe  von  Gegenständen  namhaft  machen, 
die  nie  in  einem  Kausalitätsverhältnis  stehen  können,  die  daher 
nie  _  wenn  es  überhaupt  noch  einen  Sinn  haben  soll  —  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Kausalität  betrachtet  werden  können.  Ich  nenne 
solche  Gegenstände:  mathematischer  Punkt  und  Tugend,  das  Meer 
und  die  Zahl  jr,  der  Montblanc  und  Friedrich  der  Große  usw.  Die- 
jenigen Gegenstände,  "die  sich  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Kausalität 
auffassen  lassen,  sind  ganz  spezielle,  mag  ihre  Zahl  auch  noch 
so  groß  sein.  Die  Betrachtung  unter  diesem  Gesichtspunkte  erfordert 
von  den  Gegenständen  eine  ganz  bestimmte  Beschaffenheit,  die  der 
Gesamtheit  aller  Gegenstände  nicht  zukommt.  Es  sind  ganz  bestimmte 
objektive  Tatsachenverhältnisse,  wie  die  Erfahrung  uns  lehrt, 
die  die  Kausalität  bedingen.  Weisen  zwei  Gegenstände  diese  Beschaffen- 
heiten nicht  auf  und  werden  sie  trotzdem  in  Kausalitätsbeziehung 
gebracht,  so  wird  die  Beziehung  ungültig  oder  gar  sinnlos. 

Alle  im  §  2  aufgezählten  Beziehungen  sind  solcher  Art.  Bei 
ihrer  Herstellung  kommen  samt  und  sonders  nur  spezielle  Ge- 
sichtspunkte in  Betracht. 

Anderseits  gibt  es  aber  Gesichtspunkte,  unter  welchen  sich  alle 
Gegenstände  ohne  Ausnahme  betrachten  lassen,  die  also  im  Hinblick 
auf  die  speziellen  Gesichtspunkte  von  genereller  Natur 
sind.  Alle  Gegenstände  lassen  sich  z.  B.  durch  die  Konjunktion  „und" 
als  Glieder  irgend  eines  einheitlichen  Ganzen  auffassen.  Kein  Gegen- 
stand kann  sich  der  Zusammenfassung  mit  irgend  einem  andern  Gegen- 
stand, wie  sie  durch  die  Konjunktion  „und"  ausgedrückt  wird,  ent- 
ziehen, z.  B.  „Mein  Tintenfaß  und  Piatos  Ideenlehre  sind  Gegenstände 
im  Sinne  philosophischen  Denkens".  Daher  sind  solche  Beziehungen, 
sobald  sie  von  einem  beziehenden  Subjekt  hergestellt  worden  sind, 
immer  sinnvoll. 

Während  also,    wie   wir  gesehen  haben,   die   Beziehungen  der 
speziellen  Gesichtspunkte  von  erfahrungsmäßigen  o  b  - 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  213 

jektiven  Tatsachenverhältnissen  abhängig  sind,  sind  die  Be- 
ziehungen der  generellen  Gesichtspunkte  nur  vom 
beziehenden  Subjekt  abhängig. 

Die  Beziehungen  lassen  sich  hiernach  einteilen  in  objektive 
und  s  u  b  j  e  k  t  i  v  e  Beziehungen. 

Objektive  Beziehungen  sind  solche,  bei 
deren  Herstellung  spezielle,  subjektive  Be- 
ziehungen sind  solche,  bei  deren  Her- 
stellung generelle  Gesichtspunkte  in  Be- 
tracht  kommen. 

§  5.    Untersuchung   der   Subjektivität   und 
Objektivität    einzelner    Beziehungen. 

Als  Beispiel  für  die  subjektiven  Beziehungen  war 
im  vorhergehenden  Paragraphen  die  „u  n  d  -  B  e  z  i  e  h  u  n  g"  ge- 
nannt worden.  Um  Mißverständnisse  zu  vermeiden,  sei  hier  hervor- 
gehoben, daß  unter  diesem  Begriff  niemals  „S  u  m  m  e  n  beziehungen" 
wie  3+4  verstanden  werden  sollen,  die  durch  „plus",  aber  auch  durch 
„und"  ausgedrückt  werden  können.  Unter  ,,und-Beziehungen' 
sind  Beziehungen  ganz  eigner  Art  gemeint,  wie  beispielsweise  „Vater 
und  Sohn",  „Hof  und  Herd",  „Mann  und  Maus",  „Kind  und  Kegel" 
usf.  Während  bei  der  „Summenbeziehung"  der  gemeinsame  Ge- 
sichtspunkt der  ist,  daß  die  beiden  Gegenstände  eine  Summe  i  m 
arithmetischen  Sinne  bilden  sollen,  ist  es  bei  der  „und-Be- 
ziehung"  derjenige,  daß  die  beiden  Gegenstände  in  gewisse  m 
Sinne  ein  einheitliches  Ganze  bilden.  Unter 
diesem  Gesichtspunkte  sind,  wie  schon  hervorgehoben  wurde,  alle 
Gegenstände  ohne  Ausnahme  zusammenfaßbar.  Der  Gesichtspunkt 
ist  also  generell  und  die  Beziehung  daher  subjekti  v. 

Andere  subjektiv  e  Beziehungen  werden  ausgedrückt  durch 
„o  d  e  r"  und  ,,v  o  n  —  b  i  s".  Der  gemeinsame  Gesichtspunkt  bei 
der  „o  d  e  r  -  B  e  z  i  e  h  u  n  g"  ist  der,  daß  jeder  der  beiden  Gegenstände 
an  die  Stelle  dr<  andern  treten  kann,  daß  es  aber  gleichzeitig  dahin- 
gestellt bleibt,  ob  es  einer  tatsächlich  tut  oder  nicht.  Alle  Gegen- 
stände lassen  sich  durch  „oder"  mit  einander  verbinden,  wie  folgende 
Beispiele  zeigen  werden: 

Auf  die  Frage:   „Sagen  Sie  einmal,  womit  beschäftigt  sich  Herr 
X.?"  kann  ich  antworten:  „Ich  weiß  nicht,  beschäftigl  er  sich  mit 

Archiv  iür  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  -'.  jj. 


214  Schuß  ler, 

dem  Perpetuum  mobile  oder  mit  Herbarts  Metaphysik."  Ich  könnte 
auch  sagen:  „Er  beschäftigt  sich  mit  der  Definition  von  „und"  oder 
mit  der  Konstruktion  einer  neuen  Flugmaschine."  Ähnliche  Bei- 
spiele lassen  sich  massenhaft  bilden. 

Eine  dritte  subjektive  Beziehung  soll  ausgedrückt  werden  durch 
„von  —  b  i  s".  Die  verschiedensten  Gegenstände  lassen  sich  als 
Endglieder  irgend  einer  Reihe  zu  einander  in  Beziehung  setzen.  Es 
ist  ganz  dem  Beheben  eines  Subjekts  anheimgestellt,  irgend  welche 
Gegenstände  zu  irgend  welcher  Reihe  zu  vereinbaren.  Werden  zwei 
Gegenstände  als  solche  Endglieder  einer  Reihe  betrachtet,  so  entsteht 
die  „von  —  bis  —  Beziehung".    Einige  Beispiele  mögen  dies  zeigen: 

„Von  der  Existenz  Gottes  bis  zum  Wörtchen  „und"  ist  schon 
alles  Gegenstand  des  Philosophierens  gewesen."  „Vom  Nirwana  der 
Buddhisten  bis  zur  Verständigung  mit  den  Marsbewohnern  sind  noch 
unzählige  Rätsel  dem  Menschengeist  zur  Lösung  aufgegeben".  „Von 
meinen  Freunden  bis  zu  meinen  Eltern  hat  mich  alles  betrogen." 

Eines  hat  die  Betrachtung  der  subjektiven  Beziehungen  wohl 
gleichzeitig  mit  gezeigt,  ich  meine  den  geringen  Grad  von 
Selbständigkeit  gegenüber  den  objektiven 
Beziehungen.  Sie  vermögen  sich  —  für  sich  allein  —  gar  nicht 
zu  behaupten.  Sie  sind,  wie  eine  Betrachtung  unserer  Beispiele  zeigt, 
stets  in  eine  objektive  Beziehung  eingeschlossen.  Sie  sind  —  obwohl 
gleichzeitig  an  sich  Beziehungen  —  nur  der  eine  oder  andere  Gegen- 
stand von  einer  andern,  von  einer  objektiven  Beziehung. 

„Mein  Tintenfaß  und  Piatos  Ideenlehre"  ist  unser  Musterbeispiel 
für  die  „und-Beziehung".  An  und  für  sich  besagt  es  nicht  viel. 
Es  fehlt  noch  etwas.  Es  muß  noch  hinzukommen:  „sind  Gegenstände 
usw."  Die  „und-Beziehung"  finden  wir  eingegliedert  in  eine  Merk- 
malsbeziehung. 

Die  „oder-Beziehung"  „die  Definition  des  Wörtchens  „und" 
oder  das  Perpetuum  mobile"  zeigt  denselben  Charakter  der  Unselbst- 
ständigkeit.  Es  fehlt,  um  bei  unserem  Beispiele  zu  bleiben,  der  Mensch, 
der  sich  mit  ihnen  beschäftigt.  Also  auch  hier  muß  die  subjektive  Be- 
ziehung ein  Teil  einer  objektiven  Beziehung,  einer  Funktionsbeziehung, 

sein. 

Genau  so  ist  es  bei  der  „von  —  bis  —  Beziehung".  Was  heißt: 
„Vom  Nirwana  der  Buddhisten  bis  zur  Verständigung  mit  den  Mars- 
bewohnern"?    Ein  Mensch,  der  nur  diese  Worte  ausspricht,  wird 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  215 

mehr  noch  sagen  müssen,  um  verstanden  zu  werden.  Er  muß  diese 
subjektive  Beziehung  in  eine  objektive,  sei  es  eine  Merkmalsbeziehung 
oder  eine  andere,  eingliedern. 

Zusammenfassend  können  wir  sagen :  Die  subjektiven 
Beziehungen  müssen  als  Gegenstand  in  einer 
objektiven    Beziehung    enthalten    sein. 

Wir  wenden  uns  jetzt  zu  den  objektiven  Beziehungen. 
Alle  im  §  2  aufgezählten  Beziehungen,  sagten  wir,  sind  objektiver 
Natur.  Bei  dem  Nachweis  dieser  Behauptung  wird  es  sich  einmal  dar- 
um handeln,  den  speziellen  Gesichtspunkt  nachzuweisen  und, 
was  damit  eigentlich  schon  gegeben  ist,  die  Möglichkeit  ,daß  sie  sich 
in  sinnvolle  und  sinnlose,  gültige  und  ungültige  Beziehungen  einteilen 
lassen.  Da  das  Kriterium  für  die  Einteilung  in  sinnvolle  und  sinnlose 
Beziehungen  der  Nachweis  oder  Nichtnachweis  von  koordinier  ten 
Gegenständen  ist,  zwischen  denen  die  Beziehung  wirklich  stattfindet, 
so  empfiehlt  es  sich,  zunächst  einmal  den  Begriff  der  Koordina- 
tion ins  Auge  zu  fassen. 

Wann  ist  ein  Gegenstand  „a"  einem  Gegenstande  „b"  koordiniert? 
Der  Gegenstand  „a"  ist  dem  Gegenstand  „b"  koordiniert,  wenn  er 
unter  den  nächst  höheren  Begriff  von„bu,  wenn  er  unter  das  genus 
proximum  von  „b"  fällt. 

Wann  stellen  wir  eine  R  a  u  m  b  e  z  i  e  h  u  n  g  zwischen  zwei 
Gegenständen  her?  Wir  stellen  eine  Raumbeziehung  zwischen  zwei 
Gegenständen  her,  wenn  wir  sie  unter  dem  gemeinsamen  Gesichts- 
punkte ihrer  räumlichen  Ausdehnung  betrachten.  Ist  dieser  Gesichts- 
punkt von  spezieller  Art?  Ja,  denn  er  läßt  sich  nicht  in  sinngemäßer 
Weise  auf  alle  Gegenstände  anwenden,  wie  dies  unsere  Beispiele  zeigen 
werden.  Es  gibt  sinnlose  und  ungültige,  neben  sinnvollen  Raumbe- 
ziehungen. „Wo  die  Alpenflora  herrscht,  gedeihen  keine  Laubbäume 
mehr"  ist  eine  sinnvolle  und  gültige  Beziehung.  Behaupte  ich  aber, 
„Wo  die  Alpenflora  herrscht,  da  gedeihen  keine  Blumen  mehr", 
so  ist  diese  Beziehung  falsch  oder  ungültig.  Denn  die  Alpenflora 
weist  eine  ganze  Reihe  von  Blumen  auf.  Aber  sie  ist  noch  sinnvoll. 
Denn  es  gibt  koordinierte  Gegenstände  zu  der  Alpenfloraregion,  wie 
die  Steinregion  und  die  Region  des  ewigen  Schnees,  wo  tatsächlich 
keine  Blumen  mehr  gedeihen.  In  dem  Satze  „WTo  die  Alpenflora 
herrscht,  gedeiht  die  Zahl  %  nicht  mehr"  ist  die  Raumbeziehung 
sinnlos  geworden.    Es  geht  prinzipiell  nicht  an,  diese  beiden  Gegen* 

14* 


216  S  c  h  ü  ß  1  e  r, 

stände  unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  der  Raumausdehnung 
zu  betrachten.  Dieser  Gesichtspunkt  ist  folglich  speziell  und  die 
Raumbeziehimg  objektiv. 

Zu  den  Raumbeziehungen  im  weiteren  Sinne  gehören  auch  die 
Ortsbeziehungen.  Eine  Ortsbeziehung  liegt  vor,  wenn 
wir  zwei  Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  ihrer 
örtlichen  Lage  betrachten.  In  dem  Satze  „Berlin  liegt  in  Preußen" 
drücken  wir  eine  gültige  sinnvolle  Ortsbeziehung  aus.  In  dem  Satze 
„Berlin  hegt  in  Baden"  stellen  wir  eine  ungültige  sinnvolle  Orts- 
beziehung her.  Behaupten  wir  aber  „Berlin  liegt  im  Pythagoräischen 
Lehrsatz",  so  wird  die  Beziehung  sinnlos.  Daher  gehört  auch  die 
Ortsbeziehung  zu  den  objektiven  Beziehungen,  weil  ihr  Gesichts- 
punkt spezieller  Natur  ist. 

Betrachten  wir  zwei  Gegenstände  unter  zeitlichem  Gesichts- 
punkte, so  haben  wir  eine  Zeitbeziehung.  Zeitbeziehungen 
werden  häufig  durch  die  Partikeln  „wenn  —  so"  eingeleitet.  „Wenn 
der  Winter  beginnt,  so  hört  der  Herbst  auf"  ist  eine  sinnvolle  und 
gültige  Beziehung.  Die  Beziehung  „Wenn  der  Winter  beginnt,  so 
hört  der  Frühling  auf"  ist  zwar  noch  sinnvoll,  aber  doch  schon  un- 
gültig. Denn  sie  trifft  tatsächlich  nicht  mehr  zu.  Wohl  aber  gibt  es 
koordinierte  Gegenstände,  die  mit  dem  einen  oder  dem  andern  der 
beiden  Gegenstände  gültige  Zeitbeziehungen  bilden  können,  z.  B. 
„Wenn  der  Sommer  beginnt,  so  hört  der  Frühling  auf".  Sinnlos  ist 
die  Zeitbeziehung  in  unserem  letzten  Satze  „Wenn  der  Winter 
beginnt,  so  hört  die  Winkelfunktion  im  Dreieck  auf".  Prinzipiell 
geht  es  nicht  an,  diese  beiden  Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen 
Gesichtspunkte  der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  zu  betrachten.  Auch 
die  Zeitbeziehimg  hat  sich  hiernach  als  objektiv  erwiesen. 

Wir  kommen  zu  der  zweiten  Gruppe  unserer  Übersicht,  zu  den 
Größen beziehungen.  Zu  ihnen  wollen  wir  zunächst  Größen- 
beziehungen  arithmetischer  Art,  wie  die  Beziehungen  der  Summe, 
der  Differenz,  des  Produktes,  des  Quotienten,  der 
Gleichheit  rechnen,  sodann  aber  auch  Beziehungen  allgemeinerer 
Art,  wie  z.  B.  die  „Ganzes-  und  -  T  e  i  1  -  B  e  z  i  e  h  u  n  g  e  n". 

Arithmetische  Größenbeziehungen  sind,  wenn  sie  sinnvoll  sein 
sollen,  nur  zwischen  Zahlengrößen  möglich.  Die  Zahlen  können  aber 
benannt  und  unbenannt  sein.  Betrachten  wir  zwei  Zahlen  unter  dem 
Gesichtspunkte    der   Summe,    so    haben    wir   eine    S  u  m menbe- 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  217 

ziehung,  z.  B.  9+6;  3  Äpfel  +  2  Äpfel.  Diese  Beziehungen  sind 
sinnvoll.  Bei  den  benannten  Zahlen  lassen  sich  auch  sinnvolle  un- 
gültige Summenbeziehungen  herstellen.  Äpfel  und  Birnen  sind 
koordinierte  Gegenstände.  Sagen  wir  daher  „3  Äpfel  +  2  Birnen", 
so  haben  wir  eine  sinnvolle  aber  ungültige  Summenbeziehung  herge- 
stellt. Denn  einmal  lassen  sich  3  Äpfel  und  2  Birnen  nicht  tatsächlich 
zusammenzählen,  die  Summenbeziehung  trifft  also  nicht  in  Wirklich- 
keit zu,  anderseits  läßt  sich  aber  zu  3  Äpfeln  ein  koordinierter  Gegen- 
stand 3  Birnen  denken,  der  mit  dem  andern  Gegenstand  2  Birnen 
eine  sinnvolle  gültige  Summenbeziehung  bildet.  Eine  sinnlose  Summen- 
beziehung  liegt  jedesmal  dann  vor,  wenn  statt  einer  oder  statt  beider 
Zahlengrößen  Nicht  zahlengrößen  als  Gegenstände  der  Summen- 
beziehung in  Betracht  kommen,  wie  z.  B.  „Gott  +  5"  oder  „Der 
Main  +  die  Juraformation". 

Genau  aus  denselben  Gründen  lassen  sich  sinnvolle  und  sinnlose, 
gültige  und  ungültige  Differenzbeziehungen  bilden.  Eine 
Differenzbeziehung  hegt  dann  vor,  wenn  wir  zwei  Gegenstände  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  Differenz  betrachten.  Die  bei  der  Summen- 
beziehung genannten  Beispiele  lassen  sich  durch  Verwandlung  des 
Plus-  in  ein  Minuszeichen  ohne  weiteres  zu  den  entsprechenden  Bei- 
spielen der  Differenzbeziehung  abändern. 

Wesentlich  anders  hegen  die  Verhältnisse  bei  der  Produkten- 
und  Quotientenbeziehung.  Solche  Beziehungen  entstehen, 
wenn  zwei  Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  des 
Produktes  oder  des  Quotienten  betrachtet  werden.  Der  Multiplikator 
eines  Produktes  und  der  Divisor  eines  Quotienten  im  arithmetischen 
Sinne  müssen  notwendigerweise  unbenannte  Zahlen  sein,  während 
Multiplikand  und  Dividend  benannt  sein  können.  Sind  Multiplikator 
und  Divisor  unbenannt,  so  sind  die  entsprechenden  Beziehungen  immer 
sinnvoll  und  gültig,  sind  sie  aber  benannt,  so  sind  die  Beziehungen 
immer  sinnlos.  3x4  oder  3x1  Tisch;  9:3  oder  12  Nüsse  :3  sind 
sinnvolle  Beziehungen.  Aber  3  Tische  x  4  oder  3  Tische  x  4  Bänke 
und  9:  3  Stühle  oder  12  Bänke  :  3  Stühle  sind  sinnlose  Beziehungen. 
Sinnlos  sind  natürlich  auch  alle  diejenigen  Produkten-  und  Quotientcn- 
beziehungen,  die  zwischen  N  i  c  h  t  zahlengrößen  hergestellt  werden, 
z.  B.  „Die  Seele  x  blau"  oder  „Gott:  Elefant".  Sinnvolle  aber  un- 
gültige Produkten-  und  Quotientenbeziehungen  sind  daher  nicht  au  t- 
zeigbar. 


218  Seh  ü  ß  1  e  r, 

Betrachten  wir  schließlich  zwei  Gegenstände,  unter  dem  gemein- 
samen Gesichtspunkte  der  Gleichheit,  so  haben  wir  eine  Gleich- 
heitsbeziehung.  7  x  8  =  56  ist  eine  sinnvolle  gültige  Gleich- 
heitsbeziehung, hergestellt  zwischen  dem  Gegenstand  7x8,  der 
selbst  schon  eine  Produktenbeziehung  ist,  und  dem  Gegenstande  56. 
7x8;  3x8;  9x8  sind  ohne  Zweifel  koordinierte  Gegenstände.  Bilden 
wir  nun  die  Gleichheitsbeziehung  3x8=56,  so  haben  wir  sicherlich 
eine  sinnvolle  Beziehung  hergestellt,  denn  ein  koordinierter  Gegen- 
stand 7x8  bildet  mit  56  eine  gültige  Beziehung.  Sie  selbst  ist  aber 
ungültig,  denn  sie  trifft  tatsächlich  nicht  zu.  Tritt  aber  an  die  Stelle 
der  einen  Zahl  in  unserem  Beispiel  eine  Nicht  zahl,  so  wird  die  Be- 
ziehung sinnlos.  „7x8=  einem  Eichhörnchen"  hat  keinen  Sinn. 
Es  läßt  sich  kein  koordinierter  Gegenstand  zu  Eichhörnchen  auf- 
zeigen, der  mit  7x8  eine  gültige  Gleichheitsbeziehung  bilden  kann. 

Zu  den  Größenbeziehungen  gehören  auch  die  ,,G  a  n  z  e  s  -  u  n  d  - 
Teil-Beziehungen".  Eine  solche  Beziehung  wird  zwischen 
zwei  Gegenständen  hergestellt,  wenn  sie  unter  dem  Gesichtspunkte 
betrachtet  werden,  daß  der  eine  einen  Teil  von  dem  andern  bildet. 
„Sachsenhausen  bildet  einen  Teil  von  Frankfurt  a.  M."  ist  eine  sinn- 
volle Ganzes-  und  -Teil -Beziehung.  Es  gibt  unzählige  Städte, 
deren  Stadtteile  besonders  benannt  sind,  also  koordinierte  Gegenstände 
genug  mit  gültigen  derartigen  Beziehungen.  Unser  Beispiel  selbst 
ist  gültig,  weil  es  tatsächlich  einen  Stadtteil  von  Frankfurt  a.  M.  gibt, 
der  Sachsenhausen  heißt.  Sage  ich  aber:  „Sachsenhausen  bildet  einen 
Teil  von  Hanau",  so  stimmt  diese  Beziehung  mit  der  "Wirklichkeit 
nicht  mehr  überein.  Sie  ist  ungültig  geworden.  Trotzdem  ist  sie 
noch  sinnvoll,  weil  es  einen  koordinierten  Gegenstand  —  Frankfurt 
am  Main  —  gibt,  bei  dem  sie  tatsächlich  zutrifft.  Sinnlos  wird  die 
Beziehung,  wenn  ich  zwei  Gegenstände,  die  niemals  Teil  und  Ganzes 
sein  können,  unter  diesem  Gesichtspunkte  betrachte,  z.  B.  „Sachsen- 
hausen bildet  einen  Teil  vom  1.  Kongruenzsatz".  Alle  Größenbe- 
ziehungen zeigen  somit  spezielle  Gesichtspunkte  auf  und  sind  daher 
objektiv. 

Die  dritte  Gruppe  soll  dieAbhängigkeits-oderFunk- 
tionsbeziehungen  umfassen.  Wir  stellen  derartige  Beziehungen 
zwischen  zwei  Gegenständen  her,  wenn  wir  sie  unter  dem  gemeinsamen 
Gesichtspunkte  der  Abhängigkeit  oder  überhaupt  einer  Funktion 
betrachten.  Nach  der  besonderen  Art  dieses  Gesichtspunktes  lassen  sich 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  219 

konditionale,  kausale,  teleologische  und  eine  Reihe 
anderer  Abhängigkeitsbeziehungen  bilden. 

Eine  konditionale  Beziehung  liegt  vor  in  dem  Satze 
„Die  Bestäubung  des  Wiesenklees  (Trifolium  pratense)  ist  von  den 
Hummeln  abhängig".  Sie  ist  sinnvoll  und  gültig.  Keine  andern 
Insekten  als  die  langrüsseligen  Hummeln  können  den  Wiesenklee 
bestäuben.  Setze  ich  in  dieses  Beispiel  für  Hummeln  den  koordinierten 
Gegenstand  „Bienen"  ein,  die  den  Wiesenklee  ihres  kurzen  Rüssels 
wegen  überhaupt  nicht  bestäuben  können,  so  erhalte  ich  eine  zwar 
sinnvolle  aber  ungültige  Abhängigkeitsbeziehung.  Behaupte  ich 
schließlich  die  Abhängigkeit  der  Bestäubung  des  Wiesenklees  von  einem 
Gegenstand,  der  nirgends  in  der  Natur  jemals  eine  Rolle  bei  der  Be- 
stäubung von  Pflanzen  gespielt  hat,  so  daß  sich  kein  koordinierter 
Gegenstand  finden  oder  denken  läßt,  dem  unsere  Abhängigkeits- 
beziehung in  Wirklichkeit  zukommt,  so  ist  die  Beziehung  sinnlos: 
z.  B.  „Die  Bestäubung  des  Wiesenklees  ist  von  der  städtischen  Straßen- 
bahn abhängig". 

Zu  den  konditionalen  Beziehungen  läßt  sich  in  gewissem  Sinne 
auch  die  Grundbeziehung  rechnen. 

Wir  erhalten  eine  Beziehung  des  Grundes,  wenn  wir  zwei  Gegen- 
stände unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  des  logischen  Grundes 
betrachten.  Sie  wird  ausgedrückt  durch  die  Konjunktion  „weil". 
„Das  Zimmer  wird  geheizt,  weil  es  kalt  ist"  enthält  eine  sinnvolle 
und  gültige  Grundbeziehung.  „Das  Zimmer  wird  geheizt,  weil  es 
heiß  ist"  ist  eine  sinnvolle  aber  ungültige  Grundbeziehung.  Sie  ist 
ungültig,  weil  sie  in  Wirklichkeit  nicht  zutrifft.  Es  wird  keinem 
Menschen  einfallen,  ein  Zimmer  aus  dem  Grunde  zu  heizen,  weil  es 
heiß  ist.  Sie  ist  aber  sinnvoll,  weil  es  koordinierte  Gegenstände  gibt 
-  z.  B.  „Das  Zimmer  wird  gekühlt"  — ,  die  mit  dem  andern  Gegenstand 
eine  gültige  Grundbeziehung  bilden  können.  „Das  Zimmer  wird 
geheizt,  weil  1  +  1  =2  ist"  ist  eine  sinnlose  Grundbeziehung,  weil  es 
prinzipiell  nicht  angängig  ist,  diese  beiden  Gegenstände  unter  dem 
Gesichtspunkte  dr^  logischen  Grundes  zu  betrachten. 

Kausalbezi  e  h  u  n  g  e  n  sind  dann  vorhanden,  wenn  wir  zwei 
Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  von  Ursache 
und  Wirkung  betrachten.  „Der  Druck  der  atmosphärischen  Luft 
bewegt  die  Quecksilbersäule  im  Barometer"  ist  eine  solche  Kausal- 
beziehung.   Sie  ist  sinnvoll  und  gültig.    Setze  ich  in  diese  Beziehung 


220  Schuß  ler, 

statt  "Barometer"  den  koordinierten  Gegenstand  „Thermometer", 
so  erhalte  ich  die  sinnvolle  Beziehung  „Der  Druck  der  atmosphärischen 
Luft  bewegt  die  Quecksilbersäule  im  Thermometer".  Sie  ist  aber 
ungültig,  weil  sie  in  Wirklichkeit  nicht  zutrifft.  Sage  ich  schließlich 
„Der  Druck  der  atmospärischen  Luft  bewegt  die  Zeiger  meiner  Uhr", 
so  ist  diese  Kausalbeziehung  aus  den  bekannten  Gründen  sinnlos. 

Eine  teleologische  oder  Z  w  e  c  k  b  c  z  i  e  h  u  n  g  kommt 
dann  zustande,  wenn  wir  zwei  Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen 
Gesichtspunkte  des  Zweckes  betrachten.  „Winkelried  opferte  sich 
in  der  Schlacht  bei  Sempach,  um  die  Schweiz  zu  retten"  ist  eine 
sinnvolle  und  gültige  Zweckbeziehung.  „Winkelried  opferte  sich  in 
der  Schlacht  bei  Sempach,  um  England  zu  retten"  ist  eine  sinnvolle 
aber  ungültige  Zweckbeziehung.  „Winkelried  opferte  sich  in  der 
Schlacht  bei  Sempach,  um  das  Einmaleins  zu  lernen"  ist  eine  sinn- 
lose Zweckbeziehung.  Es  erübrigt  sich  wohl,  die  immer  wiederkehrenden 
Gründe  aufs  neue  aufzuzeigen. 

Von  den  andern  Abhängigkeits-  oder  Funktionsbeziehnngen,  die 
sich  noch  bilden  lassen,  soll  die  Beziehung  d  e  r  W  e  c  h  s  e  1  - 
w  i  r  k  u  n  g  besprochen  werden. 

Wir  stellen  die  Beziehung  der  Wechselwirkung  zwischen  zwei  Gegen- 
ständenher, wenn  wir  sie  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Wechselwirkung 
betrachten,  z.  B.  „Magnetische  und  elektrische  Wellen  verstärken  sich 
gegenseitig'1.  Diese  Beziehung  stimmt  mit  der  Wirklichkeit  überein,  sie 
ist  daher  sinnvoll  und  gültig.  Treten  in  diese  Beziehung  für  die  „elek- 
trischen Wellen"  die  koordinierten  „Ätherwellen"  ein,  so  verwandelt 
sich  die  sinnvolle  gültige  in  eine  sinnvolle  ungültige  Beziehung.  Be- 
hauptet man  gar  „Magnetische  Wellen  und  mathematische  Punkte 
verstärken  sich  gegenseitig",  so  ist  die  Beziehung  aus  den  bekannten 
Gründen  sinnlos  geworden.  Überblicken  wir  sämtliche  Abhängig- 
keitsbeziehungen noch  einmal,  so  finden  wir  bei  allen  spezielle  Ge- 
sichtspunkte; sie  sind  daher  sämtlich   objektiver  Natur. 

Als  eine  besondere  Gruppe  haben  wir  in  unserer  Übersicht  die 
Ähnlichkeitsbeziehungen  aufgefaßt.  Ähnlichkeits- 
beziehungen kommen  zustande,  wenn  zwei  Gegenstände  unter  dem 
gemeinsamen  Gesichtspunkte  der  Ähnlichkeit  betrachtet  werden. 
Wenn  ich  sage  „Der  Hügel,  auf  dem  Montabaur  liegt,  ist  dem  Mons 
Tabor  in  Palästina  ähnlich",  so  betrachte  ich  beide  Bodenerhebungen 
unter  dem  gemeinsamen  Gesichtspunkte  der  Ähnlichkeit.     Weil  es 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  221 

einen  Sinn  hat.  zwei  Berge  hinsichtlich  ihrer  Ähnlichkeit  zu  vergleichen, 
ist  unsere  Beziehung  sinnvoll.  Weil  die  Ähnlichkeit  ferner  tatsächlich 
vorhanden  ist,  ist  sie  gültig.  Setze  ich  aber  zwei  Berge  in  Ähnlich- 
keitsbeziehung zu  einander,  die  absolut  keine  Ähnlichkeit  haben, 
so  ist  diese  Beziehung  ans  dem  soeben  angeführten  Grunde  immer 
noch  sinnvoll  —  es  ist  vielleicht  ein  anderer  Berg  vorhanden,  der  die 
geforderte  Ähnlichkeit  hat,  zum  mindesten  ist  ein  solcher  Berg  denk- 
bar — ,  aber  sie  selbst  ist  ungültig,  weil  sie  in  Wirklichkeit  nicht  zu- 
trifft. Vollständig  ungleichartige  Gegenstände  —  wie  der  Montabaurer 
Hügel  und  die  Tugend  —  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Ähnlichkeit 
betrachtet,  ergeben  sinnlose  Beziehungen,  weil  kein  koordinierter 
Gegenstand  bekannt  oder  denkbar  ist,  dem  das  Merkmal  „ähnlich" 
in  Wirklichkeit  zukommt. 

Die  K  o  n  t  r  a  s  t  b  e  z  i  e  h  u  n  g  ,  die  wir  zu  den  Ähnlichkeits- 
beziehunoen  im  weiteren  Sinne  rechnen  wollen    entsteht  durch  die 

o 

Betrachtung  zweier  Gegenstände  unter  dem  gemeinsamen  Gesichts- 
punkte des  Gegensatzes.  Sie  wird  ausgedrückt,  durch  das  Bindewort 
„aber";  z.  B.  „Eisen  ist  kein  edles  Metall,  aber  es  ist  nützlicher  als 
Gold."  Diese  Beziehung  ist  sinnvoll  und  gültig.  Die  Kontrastbeziehimg 
aber  „Kobalt  ist  kein  edles  Metall,  aber  es  ist  nützlicher  als  Gold" 
ist  zwar  noch  sinnvoll,  weil  „Kobalt"  und  „Eisen"  als  unedle  Metalle 
koordinierte  Gegenstände  sind,  sie  ist  aber  ungültig,  weil  in  Wirklich- 
keit Gold  nützlicher  ist,  als  Kobalt,  das  für  uns  fast  gar  keine  Be- 
deutung hat.  Wie  ganz  ungleichartige  Gegenstände  unter  dem  Gesichts- 
punkte der  Ähnlichkeit  betrachtet,  sinnlose  Ähnlichkeitsbeziehungen 
ergaben,  so  ergeben  dieselben  Gegenstände  unter  dem  Gesichtspunkte 
des  Kontrastes  betrachtet,  sinnlose  Kontrastbeziehungen,  z.  B.  „Das 
Eisen  ist  kein  edles  Metall,  aber  der  Himmel  ist  blau".  Auch  die 
Ähnlichkeitsbeziehungen  haben  somit  spezielle  Gesichtspunkte  und 
gehören  daher  zu  den  objektiven  Beziehungen. 

Die  letzte  Gruppe  unserer  Aufzählung  wird  von  den  M  e  r  k  m  a  1  s  - 
beziehungen  gebildet.  Merkmalsbeziehungen  linden  nur  statt 
zwischen  einem  Gegenstand  einerseits  und  einem  Merkmal  anderseits. 
Legen  wir  einem  Gegenstande  —  beispielsweise  „Gold"  --  das  Merk- 
mal „gelb"  zu,  oder  betrachten  wir  beide  Gegenstände  „Gold"  und 
„gelb"  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Zugehörigkeit,  so  haben  wir 
eine  gültige  sinnvolle  Merkmalsbeziemmg  hergestellt.  Sagen  wir 
aber  „Gold  ist  weiß",  so  ist  die  Merkmalsbez.iehung  ungültig  geworden. 


222  Schuß  ler, 

Immerhin  ist  sie  noch  sinnvoll.  Denn  es  gibt  einen  „Gold"  koordi- 
nierten Gegenstand  „Silber",  dem  das  Merkmal  tatsächlich  zukommt. 
Bilden  wir  die  Merkmalsbeziehung  „Gold  ist  tugendhaft",  so  ist  diese 
Beziehung  sinnlos.  Denn  es  hat  keinen  Sinn,  Gegenstände  wie  „Gold" 
und  „tugendhaft"  unter  dem  Gesichtspunkte  der  „Zugehörigkeit" 
zu  betrachten.  Es  läßt  sich  kein  „Gold"  koordinierter  Gegenstand 
denken,  noch  viel  weniger  aufzeigen,  dem  das  Merkmal  „tugendhaft" 
in  Wirklichkeit  zukommt. 

Zu  den  Merkmalsbeziehungen  rechneten  wir  auch  die  „U  r  t  e  i  1  s  - 
beziehunge n".  Was  darunter  verstanden  werden  soll,  läßt  sich 
am  besten  der  M  a  r  b  e  sehen  Urteilsdefinition  entnehmen.  Diese 
lautet : 

„Urteile  sind  diejenigen  Erlebnisse,  die  nach  der  Absicht  des 
Erlebenden  direkt  oder  ihrer  Bedeutung  nach  mit  den  Gegenständen 
übereinstimmen  sollen,  auf  die  sie  sich  beziehen7)." 

Bei  jedem  Urteil  wird  hiernach  eine  Beziehung  herge- 
stellt zwischen  dem  Urteilserlebnis  (an  sich  oder  in  seiner 
Bedeutung)  und  dem  Urteilsgegenstand.  Ich  möchte  daher 
für  sie  den  Namen  „U  r  t  e  i  1  s  b  e  z  i  e  h  u  n  g"  in  Vorschlag  bringen. 

Früher  haben  wir  Beziehungen  hergestellt,  deren  beide  Gegen- 
stände Dinge  der  Außenwelt  waren,  z.  B.  „Sachsenhausen  ist  ein  Teil 
von  Frankfurt  a.  M.".  Bei  der  Urteilsbeziehung  ist  der  eine  Gegenstand 
immer  das  „Urteilserlebnis",  der  andere,  der  „Urteilsgegenstand", 
kann  beliebig  variieren.  Bei  unserem  Musterbeispiel  im  folgenden 
ist  er  ein  Ding  der  Außenwelt. 

Zeige  ich  auf  die  Frage  „Wo  liegt  das  Frankfurter  Opernhaus"? 
mit  dem  Finger  nach  der  Richtung  ,in  der  das  Opernhaus  liegt,  so 
habe  ich  zunächst  nach  Marbe  ein  Urteil  gefällt.  Ich  habe  aber 
gleichzeitig  nach  unserer  obigen  Auseinandersetzung  eine  Beziehung 
hergestellt  zwischen  dem  Urteilsgegenstand  —  dem  Opernhaus  — 
und  dem  Urteilserlebnis  —  meinem  Fingerzeig. 

Nach  der  Marbe  sehen  Beziehungsdefinition  werden  bei  der 
Herstellung  einer  Beziehung  zwei  Gegenstände  unter  einem  gemein- 
samen Gesichtspunkte  betrachtet.  Die  beiden  Gegenstände  sind  bei 
der  Urteilsbeziehung  das  Urteilserlebnis  (an  sich  oder  in  seiner  Be- 
deutung) und  der  Urteilsgegenstand. 


')  Karl    Marbe,    „Experimentell-psychologische    Untersuchungen 
über  das  Urteil".   Leipzig  1901.   S.  48  u.  52. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  223 

Was  ist  aber  der  gemeinsame  Gesichtspunkt?  Offenbar  der  Um- 
stand, daß  sie  zusammen  ein  Urteil  bilden  sollen. 

Ist  dieser  Gesichtspunkt  speziell  und  die  Beziehung  objektiv? 
Läßt  sich  die  Urteilsbeziehung  in  sinnlose  und  sinnvolle,  gültige  und 
ungültige  Beziehungen  einteilen? 

Auf  die  Frage  „Wo  Hegt  das  Frankfurter  Opernhaus?"  zeige 
ich  nach  dem  Mond.  Ich  erhalte  dadurch  eine  sinnlose  Beziehung. 
Es  hat  keinen  Sinn,  das  Frankfurter  Opernhaus  auf  dem  Mond  zu 
suchen. 

Zeige  ich  aber  dahin,  wo  das  Opernhaus  tatsächlich  hegt,  so 
habe  ich  eine  sinnvolle  und  gültige  Beziehung  hergestellt. 

Zeige  ich  irrtümlicherweise  nach  einer  falschen  Richtung,  z.  B. 
nach  Nordwesten  statt  nach  Osten,  so  ist  es  zwar  eine  sinnvolle  Be- 
ziehung, aber  sie  ist  ungültig. 

Somit  gehören  auch  die  Merkmalsbeziehungen  samt  den  Urteils- 
beziehungen zu  den  objektiven  Beziehungen,  weil  ihre  Gesichtspunkte 
spezieller  Natur  sind. 

§  6.    Weitere    Untersuchungen    der    im    §    5    abge- 
handelten    Beziehungen     nach     den     Gesichts- 
punkten   der    Mar  besehen    Beziehungslehre. 

Wir  haben  im  §5  gesehen,  daß  alle  objektiven  Beziehungen 
sich  der  Marbe  sehen  Einteilung,  die  an  der  Hand  von  Merk- 
malsbeziehungen  aufgestellt  worden  ist,  einordnen  ließen, 
während  die  subjektiven  Beziehungen  dieser  Einteilung  un- 
zugänglich waren.    Wie  ist  dieser  Unterschied  zu  erklären? 

Er  erklärt  sich  einmal  aus  der  Natur  der  generellen  und  der 
speziellen  Gesichtspunkte,  sodann  dadurch,  daß  alle  ob- 
jektiven Beziehungen  zugleich  Merkmals- 
beziehungen sind.  Letzteres  sei  an  den  einzelnen  objektiven 
Beziehungen  nachgewiesen. 

In  dem  Satze  „Wo  die  Alpenflora  herrscht,  gedeihen  keine 
Laubbäume  mehr"  stellten  wir,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  Rau  m  - 
beziehung  her,  indem  wir  die  beiden  Gegenstände  „Alpenflora" 
und  „Laubbäume"  unter  dem  Gesichtspunkte  der  „räumlichen  Aus- 
dehnung" betrachteten.  Gleichzeitig  enthält  aber  der  Satz  auch  eine 
Yh 'rkmalsbezichung.     Wir  konstatieren  doch,  daß  dem  Gegenstande 


224  Schüßler, 

„Alpenflora"  das  Merkmal  „keine  Laubbäume  mehr  habend"  zu- 
kommt. 

Unsere  Ortsbeziehung  hieß:  „Berlin  hegt  in  Preußen." 
Weil  wir  in  diesem  Satze  dem  Gegenstand  „Berlin"  das  Merkmal  „in 
Preußen  liegend"  zuerkennen,  ist  die  Ortsbeziehung  zugleich  eine 
Merkmalsbeziehung. 

In  der  Zeitbeziehung  „Wenn  der  Winter  beginnt,  hört 
der  Herbst  auf"  wird  zugleich  ausgedrückt,  daß  dem  Gegenstand 
„Winters  Anfang"  das  Merkmal  „den  Herbst  beendigend"  zukommt. 
Auch  die  Zeitbeziehung  enthält  somit  eine  Merkmalsbeziehung. 

Ist  die  Summenbeziehung  „a+b"  auch  eine  Merkmals- 
beziehung?  Wenn  wir  sie  ihrer  arithmetischen  Formulierung  ent- 
kleiden, die  ihrem  Wesen  nach  doch  weiter  nichts  als  eine  Abkürzung 
ist,  und  sie  in  einem  Satze  ausdrücken,  etwa  in  folgendem:  Die  Gegen- 
stände a  und  b  bilden  eine  Summe,  ■ —  die  Formel  „a+b"  besagt  doch 
genau  dasselbe  — ,  so  ist  klar,  daß  den  Gegenständen  a  und  b  das 
Merkmal  „eine  Summe  bildend"  zugelegt  wird.  Wir  haben  also  auch 
bei  der  Summenbeziehung  eine  Merkmalsbeziehung.  Bei  den  andern 
arithmetischen  Beziehungen  ist  dasselbe  der  Fall.  Es  dürfte  sich  da- 
her erübrigen,  den  Nachweis  im  einzelnen  zu  bringen. 

Unsere  Ganzes-  und  -Teil-Beziehung  lautete: 
„Sachsenhausen  bildet  einen  Teil  von  Frankfurt  a.  M."  Weil  hierbei 
dem  Gegenstand  „Sachsenhausen"  das  Merkmal  „einen  Teil  von 
Frankfurt  a.  M.  bildend"  zugelegt  wird,  haben  wir  gleichzeitig  eine 
Merkmalsbeziehung  hergestellt. 

Ebenso  wird  in  der  konditionalen  Abhängigkeits- 
beziehung „Die  Bestäubung  des  Wiesenklees  ist  von  den  Hummeln 
abhängig"  dem  Gegenstand  „Bestäubung  des  Wiesenklees"  das 
Merkmal  „von  den  Hummeln  abhängig"  als  zugehörig  zuerkannt. 

Bei  der  Grundbeziehung  „Weil  es  kalt  ist,  wird  das 
Zimmer  geheizt"  wird  gleichzeitig  eine  Merkmalsbeziehung  her- 
gestellt, indem  dem  Gegenstand  „Kalt  sein"  das  Merkmal  „das 
Zimmer  heizen  veranlassend"  zugelegt  wird. 

Auch  die  Kausalbeziehung  „Der  Druck  der  atmo- 
sphärischen Luft  bewegt  die  Quecksilbersäule  im  Barometer"  ist 
eine  Merkmalsbeziehung.  Denn  es  wird  dem  „atmosphärischen  Luft- 
druck" als  Gegenstand  das  Merkmal  „die  Quecksilbersäule  des  Baro- 
meters bewegend"  zugelegt. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  2  25 

Die  teleologische  Beziehung  „Winkelried  opferte 
sein  Leben,  um  die  Schweiz  zu  retten"  ist  zugleich  eine  Merkmals- 
beziehung zwischen  dem  Gegenstand  „Winkelrieds  Opfertod"  und 
dem  Merkmal  „die  Schweiz  retten  wollend". 

Auch  die  B  e  z  i  e  h  u  n  g  der  Wechselwirkung  „Mag- 
netische und  elektrische  Wellen  verstärken  sich  gegenseitig"  läßt 
sich  als  Merkmalsbeziehung  betrachten,  indem  dem  Gegenstand 
„magnetische  und  elektrische  Wellen"  das  Merkmal  „des  sich  gegen- 
seitigen Verstärkens"  zugelegt  wird. 

Dasselbe  ist  bei  den  Ähnlich  keits-  und  Kontrast- 
beziehungen  der  Fall.  In  der  Ähnlichkeitsbeziehung  „Der 
Montabaurer  Hügel  ist  dem  Mons  Tabor  ähnlich"  wird  dem  Gegen- 
stand „Montabaurer  Hügel"  das  Merkmal  „dem  Mons  Tabor  ähnlich 
seiend"  zugelegt,  und  in  der  Kontrastbeziehung  „Eisen  ist  kein  edles 
Metall,  aber  es  ist  nützlicher  als  Gold"  wird  dem  Gegenstand  „Eisen" 
das  Merkmal  „nützlicher  als  Gold  seiend"  zugelegt. 

Lassen  sich  die  Urteils  beziehungen  auch  als  Merkmals- 
beziehungen auffassen?  Wird  der  Urteilsgegenstand  durch  das  Ur- 
teilserlebnis „bemerkmalt"?  Ich  glaube,  daß  dieser  Auffassung  nichts 
im  Wege  steht.  Merkmale  sind  Unterschiede  zwischen  Gegenständen. 
Eine  Bemerkmalung  des  Gegenstandes  „Opernhaus"  in  unserem 
Beispiel  findet  auch  durch  meinen  Fingerzeig  statt.  Logisch  ist  der 
Fingerzeig  gleichbedeutend  mit  Worten.  Jede  Sprache  ist  nichts 
weiter  als  ein  Zeichensystem.  Ob  die  Zeichen  in  Gebärden  oder  in 
Worten  bestehen,  ist  für  die  Logik  gleichgültig.  Wird  daher  die  Ur- 
teilsbeziehung als  Merkmalsbeziehung  aufgefaßt,  so  ist  der  Urteils- 
gegenstand der  Gegenstand  und  das  Urteilserlebnis  (direkt  oder  seiner 
Bedeutung  nach)  das  Merkmal  für  die  Merkmalsbeziehung. 

In  den  soeben  besprochenen  Beispielen  war  die  objektive  Be- 
ziehung gültig  und  sinnvoll,  daher  war  es  auch  die  Merkmalsbeziehung. 
Wäre  jene  ungültig  oder  gar  sinnlos  gewesen,  so  wäre  es  auch  die 
Merkmalsbeziehung  gewesen.  Der  Sinn  oder  die  Sinn- 
losigkeit, die  Gültigkeit  oder  die  Ungültig- 
keit einer  Merkmals beziehung  hängt  demnach 
von  der  entsprechenden  Beschaffenheit  der 
in  ihr  enthaltenen  objektiven  Beziehung  ab. 
Damit  soll  aber  nicht  behauptet  sein,  daß  jede  Merkmals- 
beziehung  in  ihrem  Sinne  oder  in  ihrer  Gültigkeit  von  andern  objek- 


226  Schüßler, 

tiven  Beziehungen  abhängig  ist.  Es  gibt  auch  Merkmalsbeziehungen, 
die  davon  unabhängig  sind,  z.  B.  „Die  Rose  ist  schön".  In  den  a  n  a 
lytischen  Beziehungen,  wie  z.  B.  „Alle  Körper  sind  aus- 
gedehnt", behaupten  wir  sogar  die  Gültigkeit  einer  Beziehung  un- 
abhängig von  der  Erfahrung. 

"Wie  es  Beziehungen  gibt,  in  welchen  die  Gültigkeit  oder  der  Sinn 
der  Beziehung  behauptet  wird,  so  gibt  es  auch  Beziehungen,  in  denen 
es  dahingestellt  bleibt,  ob  die  Beziehung  gültig,  ungültig  oder  sinnlos 
ist.  Solcher  Art  sind  die  problematischen  Beziehungen 
und  die  Beziehungen,  die  in  Fragen  enthalten  sind.  Bei  den  pro- 
blematischen Beziehungen  („Der  Weg  ist  vielleicht  beschwerlich.") 
lassen  wir  es  dahingestellt,  ob  die  Beziehung  gültig,  ungültig  oder 
sinnlos  ist.  Bei  den  in  Fragen  enthaltenen  Beziehungen  („Ist  der 
Himmel  blau"?)  fragen  wir  erst  nach  dem  Sinn  und  der  Gültigkeit. 
Beide  Beziehungen  können  also  in  diesem  Falle  nicht  behauptet 
werden. 

Werden  aber  Merkmalsbeziehungen,  die,  wie  wir 
gesehen  haben,  alle  objektiven  Beziehungen  umfassen, 
als  gültig  oder  ungültig  oder  sinnlos  hingestellt,  so  sind  es  U  r  t  e  i  1  e 
im  Sinne  von  M  a  r  b  e  s  Urteilsdefinitionen8).  M  a  r  b  e  nennt  sie 
im  Gegensatz  zu  den  Urteilen,  welchen  keine  Beziehungen  als  Urteils- 
gegenstände zugrunde  hegen,  also  im  Gegensatz  zu  den  Urteilssach- 
vorstellungen, Beziehungsurteile. 

Umfassen  die  M  a  r  b  e  sehen  Beziehungsurteile  alle 
gewöhnlichen  Urteile?  Wenn  wir  für  den  Nachweis  die  Kant  sehe 
Urteilstafel  zugrunde  legen,  so  erhalten  wir  folgende  zwölf  Definitionen 
des  Urteils: 

A.    Urteile   der   Quantität. 

1.  Allgemeine  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen,  deren 
Gegenstand  ein  Gattungsbegriff  nach  seinem  ganzen  Umfange  ist. 
(Alle  Raubtiere  fressen  Fleisch.) 

2.  Besondere  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen,  deren 
Gegenstand  ein  Gattungsbegriff  nach  einem  Teil  seines  Umfanges 
ist.     (Viele  Raubtiere  sind  schädlich.) 

3.  Einzelne  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen,  deren 
Gegenstand  ein  Individuum  ist.    (Der  Main  ist  ein  Fluß.) 


8)  A.  a.  O.,  S.  9  und  S.  48  u.  52. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  227 

B.  Urteile    der    Qualität. 

4.  Bejahende  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen,  die 
behauptet  werden.     (Die  Kose  ist  rot.) 

5.  Verneinende  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen, 
die  abgelehnt  werden.     (Die  Rose  ist  nicht  rot.) 

6.  Unendliche  U  r  t  ei  1  e  sind  Merkmalsbeziehungen,  deren 
Gegenstand  ein  negatives  Merkmal  in  bejahender  Form  zugelegt  wird. 
(Die  Seele  ist  unsterblich.) 

C.  Urteile   der   Relation. 

7.  Kategorische  Urteile  sind  gültige  Merkmalsbezie- 
hungen.   (Der  Main  ist  über  seine  Ufer  getreten.) 

8.  Hypothetische  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen, 
deren  Gültigkeit  von  einer  Bedingung  abhängig  gemacht  wird.  (Wenn 
das  Tauwetter  anhält,  tritt  der  Main  über  seine  Ufer.) 

9.  Disjunktive  Urteile  schließen  von  zwei  gültigen 
Merkmalsbeziehungen  die  eine  durch  die  andere  aus.  (Die  Länder 
leiden  entweder  unter  der  Tyrannei  oder  unter  der  Anarchie.) 

D.  Urteile   der   Modalität. 

10.  Problematische  Urteile  sind  Merkmalsbeziehungen, 
welche  die  Möglichkeit  der  Gültigkeit  der  Beziehung  offen  lassen. 
(Mein  Freund  ist  vielleicht  krank.)  Man  könnte  auch  kurz  sagen: 
Problematische  Urteile  sind  problematische  Merkmalsbeziehungen. 

11.  Assertorische  Urteile  sind  gültige  Merkmals- 
beziehungen.   (Gold  ist  gelb.) 

12.  Apodiktische  Urteile  sind  gültige  Merkmals- 
beziehungen, deren  Gültigkeit  mit  Notwendigkeit  behauptet  wird. 
(Jeder  Mensch  muß  sterben.) 

Während  auf  alle  Urteile  die  Prädikate  richtig  und  falsch  eine 
sinngemäße  Anwendung  finden,  läßt  sich  das  Prädikat  wahr  nur 
auf  die  richtigen  Bezichungsurteile  anwenden.  Wahrheiten 
sind   richtige   Beziehungs  urteile. 

Gültige  Beziehungen  lassen  sich  nur  an  der  Hand  von  Erfah- 
rungen aufstellen.  Sind  aber  solche  Beziehungen  gegeben,  so  lassen 
sich  andere  daraus  unabhängig  von  der  Erfahrung  ableiten.  Das  ge- 
schieht bei  den  rein  1  o  gi  s  c  h  e  n  Schlüssen,  bei  der  1)  e  d  u  k  t  i  o  n 
und  vollständigen    I  n  d  u  k  t  i  o  n. 


228  S  c  h  ü  ß  1  e  r, 

Nicht  rein  logische  Schlüsse  liegen  vor  bei  der  unvollständigen 
Induktion.  Es  wird  dabei  nicht  mit  logischer  Stringenz  geschlossen. 
Gestützt  auf  die  Erfahrung,  sei  sie  empirisch  oder  außerempirisch, 
wie  K  a  n  t  die  Mathematik  auffaßt,  beanspruchen  wir  die  Gültigkeit 
von  Merkmalsbeziehungen,  die  in  einer  Anzahl  von  Fällen  zutraf, 
auch  für  andere  Fälle. 

II.     Die    Beziehungslehre    in    der    neueren    logi- 
schen   Literatur. 

§  1.    Verschiedene  neuere   Beziehungslehren. 

Unter  den  Logikern  des  19.  Jahrhunderts,  die  sich  mit  dem  Pro- 
blem der  Beziehung  befassen,  sei  zuerst  M  i  1 1 9)  genannt.  Er  betrachtet 
die  Beziehungen  als  Attribute  eines  Gegenstandes,  die  nicht  nur  durch 
den  Gegenstand,  dem  das  Attribut  zukommt,  und  das  wahrneh- 
mende Subjekt  allein,  sondern  noch  durch  andere  Gegenstände  bedingt 
sind. 

In  jeder  Relation  ist  eine  Tatsache  oder  Erscheinung  vorhanden 
(war  vorhanden  oder  wird  vorhanden  sein),  an  der  die  beiden  Dinge, 
zwischen  denen  die  Relation  stattfinden  soll,  beteiligt  sind.  Diese 
gemeinsame  Tatsache  oder  Erscheinung  ist  das  fundamentum  re- 
lationis. 

Läßt  sich  eine  Größe  in  den  Raum  einer  andern  einschließen, 
ohne  ihn  ganz  auszufüllen,  so  ist  diese  Tatsache  für  die  Relation 
„groß  und  klein"  das  Fundament.  In  dem  Falle  eines  Rechtsverhält- 
nisses wie  Schuldner  und  Gläubiger,  Auftraggeber  und  Beauftragter, 
Vormund  und  Mündel  besteht  das  Fundament  der  Relation  ganz  und 
gar  aus  Gedanken,  Gefühlen  und  Willensakten  entweder  der  betreffen- 
den oder  anderer  daran  beteiligter  Personen,  wie  z.  B.  der  Richter. 

Ist  das  Fundament  einfach  (wie  bei  dem  Beispiel  „groß  und  klein"), 
so  ist  auch  die  darauf  gegründete  Relation  einfach,  ist  es  aber  ver- 
wickelt (wie  bei  den  angeführten  „Rechtsverhältnissen"),  so  ist  auch 
die  Relation  verwickelt.     M  i  1 1  unterscheidet  also 
einfache   und 

verwickelte    Relationen.     Die  verwickelten  lassen  sich  in 
einfache   zerlegen.     „Aus  welch  einer  ungeheuren  Menge  von  Teil- 


9)  „System  der  deduktiven  und  induktiven  Logik".      Ges.   Werke  v. 
Gomperz.     1872.     Bd.  II,  S.  56  ff. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  220 

ähnlichkeiten  muß  die  Ähnlichkeit  zusammengesetzt  sein,  die  uns  dazu 
bringt,  von  einem  Porträt  oder  einem  Landschaftsbild  zu  sauen, 
daß  es  dem  Urbild  gleiche!" 

Die  einfachsten  aller  Relationen  sind  diejenigen,  in  denen 
das  fundamentum  relationis  keine  von  den  Dingen  verschiedene  Tat- 
sache oder  Erscheinung  ist,  sondern  bei  denen  es  i  n  den  Dingen 
selbst  hegt.  Es  sind  die  Relationen  der  Aufeinanderfolge, 
Ähnlichkeit  und  Unähnlichkeit.  Als  charakteristische 
Beispiele  nennt  Mi  11  die  dem  Sonnenaufgang  vorausgehende  Dämme- 
rung, einen  Menschen,  der  zwei  Schwarz-Empfindungen  und  einen 
Menschen,  der  eine  Schwarz-  und  eine  Weiß-Empfindung  hat.  Bei 
diesen  Relationen  lassen  sich  nur  zwei  Gegenstände,  aber  keine  Funda- 
mente feststellen.  Es  ließe  sich  zwar  beim  ersten  Beispiel  die  Auf- 
einanderfolge als  ein  Drittes  und  somit  als  fundamentum  relationis 
und  bei  den  andern  Beispielen  che  Bewußtseinslagen  (M  i  1 1  nennt 
sie  Gefühle)  der  Ähnlichkeit  und  Unähnlichkeit  als  Drittes,  als  Funda- 
ment auffassen.  M  i  1 1  lehnt  jedoch  diese  Auffassung  als  zu  weit- 
gehend ab  und  vereinigt  die  genannten  Relationen  zu  der  Gruppe 
der  einfachsten,  in  denen  das  fundamentum  relationis  in  den 
Dingen  selbst  hege. 

John    Stuart    M  i  1 1  kennt  demnach 

1.  einfachste, 

2.  einfache  und 

3.  verwickelte  Relationen. 

Nach  Moritz  Wilhelm  D  robisch  10),  dem  bedeutend- 
sten Logiker  aus  der  Schule  Herbarts,  gibt  es  zwei  Arten  syn- 
thetischer Begriffsformen;  solche  mit  innerem  Zusammenhang  der 
Begriffe  (connexus),  z.  B.  die  Zusammenfassung  der  Begriffe  Mann 
und  Frau  zu  dem  Begriff  Ehe,  und  solche  mit  bloß  äußerlicher  Zu- 
sammenfassung (comprehensio),  z.  B.  die  Zusammenfassung  der 
Buchstaben  a,  m,  o  und  r  zu  dem  Worte  amor.  Die  äußerliche  Syn- 
these „besteht  einzig  und  allein  in  der  K  o  m  b  i  n  a  t  i  o  n  unterscheid- 
barer Element  e". 

Nur  die  innerliche  Synthese  liefert  Begriffe,  die  im  eigentlichen 
Sinne  des  Wortes  Beziehungen  (rclationes)  genannt  werden  dürfen. 


10)  „Neue  Darstellung  der  Logik  nach  ihren  einfachsten  Verhältnissen, 
4.   Aufl.     Leipzig  1875.     S.   32,  34  ff. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVI.  2.  j;, 


230  Schuß  ler, 

Zu  ihrer  Herstellung  gehören  mindestens  zwei  selbständige  Begriffe, 
welche  Glieder  oder  Elemente  der  Beziehung  heißen.  Ihre  im  Denken 
vollzogene    Synthese    ist    die    Beziehung. 

D  r  o  b  i  s  c  h  faßt  also  die  Beziehungen  auf  als  synthetische 
Begriffe,  die  inneren  Zusammenhang  haben  und  aus  der  Synthese 
zweier  selbständiger  Begriffe  entstanden  sind. 

D  r  o  b  i  s  c  h  unterscheidet  einfache  und  zusammen- 
gesetzte   Beziehungen. 

Die  einfachen  Beziehungen,  bestehen  zwischen  nur  zwei  Begriffen. 
So  besteht  die  Beziehung  Ehe  zwischen  den  Elementen  Mann  und 
Frau,  die  Beziehung  Krieg  zwischen  Angreifer  und  Verteidiger. 

Die  zusammengesetzten  Beziehungen  bestehen  zwischen  mehreren 
einfachen  Beziehungen,  die  selbst  wieder  untereinander  in  Beziehung 
stehen.  So  zerfällt  die  zusammengesetzte  Beziehung  Familie  in 
mehrere  einfache  Beziehungen  zwischen  ihren  Gliedern,  des  Gatten 
zur  Gattin,  des  Vaters  und  der  Mutter  zu  den  Söhnen  und  Töchtern, 
dieser  untereinander  als  Brüder  und  Schwestern. 

Jede  Beziehung  drückt  entweder  nur  ein  Verhältnis  zwischen 
den  Beschaffenheiten  ihrer  Elemente  oder  auch  noch  ein  Verhältnis 
zwischen  ihrer  Setzung  aus. 

Beziehungen  der  ersten  Art  sind  alle  quantitativen  und  quali- 
tativen Bestimmungen,  wie  groß,  klein,  dick,  dünn  und  durchsichtig, 
verbrennbar,  schmelzbar,  wärmeleitend. 

Beziehungen,  die  neben  den  Beschaffenheitsverhältnissen  auch 
noch  auf  Verhältnissen  der  Setzung  beruhen,  sind  die  Beziehungen, 
welche  die  Mathematik  an  den  Zahlen,  Figuren  und  Funktionen  nach- 
weist. 

Bei  Christoph  S  ig  wart11)  sind  die  Beziehungen  Vor- 
stellungen, welche  die  Vorstellungen  von  Dingen  voraussetzen  und 
einen  Inhalt  haben,  der  durch  die  beziehende  Tätigkeit  des  Subjekts 
erzeugt  ist. 

Er  unterscheidet 

1.  räumliche    und    zeitliche, 

2.  logische, 

3.  kausale    und 

4.  modale    Beziehungen. 


")  „Logik",  Bd.  I,  S.  32  ff.     Tübingen  1904. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  231 

Die  r  ä  u  m  liehen  (wie  rechts,  links,  oben,  unten)  und  zeit- 
lichen Beziehungen  (wie  vorher  und  nachher)  entstehen  durch 
die  subjektive  Tätigkeit  des  Hin-  und  Hergehens,  des  „Linienziehens", 
zwischen  den  in  räumlicher  und  zeitlicher  Ausbreitung  angeschauten 
Dingen.      Das  ist  zugleich   ihr   Inhalt. 

Auf  die  räumlichen  Verhältnisse  geht  ursprünglich  die  Relation 
des  G  anzen  und  der  Teile  zurück.  Sie  entsteht  durch  die 
Zerlegung  eines  Ganzen  in  seine  Teile  und  deren  nachheriges  Zusammen- 
fassen zum  Ganzen.  (Bsp. :  Körper  =  Kopf  +  Übriges,  Hand  = 
Finger  -f  Handfläche.) 

Diese  Relationsvorstellung  ist  die  Voraussetzung  aller  Vorstellung 
von  Groß  e.  (A  ist  größer  als  B,  wenn  B  als  Teil  von  A  betrachtet 
werden  kann.) 

Die  logischen  Beziehungen  (Identität,  Gleichheit, 
Unterschied)  entstehen  durch  die  mit  Bewußtsein  vollzogene  Tätig- 
keit des  Unterscheidens  und  Vergleichens. 

Aus  solchen  Denkprozessen  entspringen  die  Zahle  n.  Die  Zahl 
ist  nicht  dadurch  gegeben,  daß  drei  Dinge  anders  aussehen  als  zwei 
und  ein  Ding;  sondern  dadurch,  daß  ich  zähle,  d.  h.  mit  Bewußtsein 
von  einer  Einheit  zur  andern  fortschreite,  erhalte  ich  die  Vorstellung 
der  Zahl  3. 

Der  Inhalt  der  kausale  n  Beziehungen  besteht  in  der  Vor- 
stellung des  Wirkens.  Wirken  ist  kein  Tun.  Tun  ist  eine  Ver- 
änderung des  eigenen  Zustandes  oder  eine  Bewegung  und  dergleichen. 
Wirken  sagt,  daß  das  Tun  des  einen  Gegenstandes  das  des  andern 
hervorruft.  Das  Tun  ist  in  der  Anschauung  gegeben.  Das  Wirken 
ist  hinzugedacht.    Es  ist  das  Produkt  des  verknüpfenden  Denkens. 

Die  modalen  Beziehungen  (sehen,  hören,  gut,  wahr,  falsch) 
bestehen  in  der  Beziehung  der  Objekte  unseres  subjektiven  Tuns 
zu  uns  selbst  als  dem  Subjekte  geistiger  Tätigkeit.  Wenn  ich  etwas 
als  seiend  denke,  so  steht  das  Gedachte  zu  mir  als  dem  Denkenden 
in  einer  Beziehung.  Es  ist  aber  keine  Beziehung  des  Wirkens.  Das 
Seiende  wird  nicht  durch  mein  Denken  hervorgebracht.  Es  geschieht 
ihm  auch  nichts,  wenn  ich  es  denke.  Es  ist  aber  auch  kein  Tun; 
denn  die  Beziehung  erstreckt  sich  auf  ein  vom  Subjekt  Verschiedenes. 
Sie  bilden  eben  eine  besondere  Klasse.  Es  gehören  dazu  diejenigen 
Beziehungen,  in  welchen  vorgestellte  Objekte  von  uns  begehrt,  ge- 
wünscht oder  in  ihrem  Wette  für  uns  beurteilt  werden. 

J5 


232  Schuß  ler, 

Nach  Wilhelm  Wundt12)  entstehen  die  Beziehungsbegriffe 
durch  die  Tätigkeit  des  vergleichenden  Denkens,  das  durch  ent- 
gegengesetzte Erfahrungsinhalte  angeregt  worden  ist.  (Durch  über- 
einstimmende Erfahrungsinhalte  angeregt,  entstehen  durch  dieselbe 
Tätigkeit  Gattungsbegriffe.) 

Die  entgegengesetzten  Erfahrungsinhalte  kommen  als  Gegen- 
standsbegriffe für  die  Beziehung  in  Betracht.  Wundt  sucht  zu 
beweisen,  daß  die  Beziehung  nur  durch  Vergleichen  von  Gegenstands- 
begriffen entstehen  kann. 

Der  Begriffsvergleichung  zugänglich  sind  nur  Begriffe  derselben 
Kategorie.  Weil  jede  Vergleichung  ein  Urteil  erzeugt,  das  Subjekt 
eines  jeden  Urteils  aber  ein  Gegenstandsbegriff  ist,  so  ist  eine  Ver- 
gleichung nur  zwischen  Gegenstandsbegriffen  möglich.  Andere  Be- 
griffe müssen  daher  in  Gegenstandsbegriffe  umgewandelt  werden. 

Wir  tun  dies,  wenn  wir  sie  behandeln,  als  wenn  sie  Objekte 
wären.  (Rot  ist  eine  Farbe.  Empfinden  ist  eine  Seelentätigkeit.) 
Zusammenfassend  können  wir  sagen: 

Eine  Relation  entsteht  nach  W  undt  durch  die  Vergleichung 
von  Gegenstandsbegriffen  entgegengesetzten  Inhalts. 

Er  unterscheidet  sechs   Klassen  von  Relationen: 

1.  die    Relation    der    Identität, 

2.  d  e  r    Über-    und    Unterordnung, 

3.  der    Nebenordnu  n  g  , 

4.  der  Abhängigkeit  und  Wechselbestimmung, 

5.  die    positiven    und    negativen    Begriffe  und 

6.  die    dis  paraten    Begriffe. 

Die  Identitätsrelation  besteht  zwischen  zwei  Begriffen, 
wenn  sie  sich  vollkommen  decken  (z.  B.  A  =  A),  oder  wenn  infolge 
von  Abstraktion  der  Verschiedenheiten  sie  als  gleich  gesetzt  werden 
dürfen.  (Bsp.:  Der  Lehrer  Alexanders  des  Großen  —  der  Philosoph 
aus  Stagira.  Beide  Begriffe  heben  verschiedene  Seiten  der- 
selben Person  hervor,  von  denen  wir  jedoch  absehen,  wenn  wir  sie 
als  identisch  setzen.) 

Die  Relation  der  Ü  b  e  r  -  und  Unterordnung  erstreckt 
sich  ausschließlich  auf  das  Umfangsverhältnis  der  Begriffe.    Zwei  Be- 


12)  „Allgemeine     Logik     und     Erkenntnistheorie".      Stuttgart      1906. 
S.  110  ff. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  233 

griffe  stehen  in  dem  Verhältnis  der  Über-  und  Unterordnung,  wenn 
der  eine  einen  engeren  Umfang  als  der  andere  hat,  der  in  diesem  voll- 
ständig enthalten  ist.  (Bsp.:  Die  Katze  ist  ein  Säugetier.  Karl  ist 
verreist.  Verreist  ist  in  diesem  Falle  ein  Gegenstandsbegriff  geworden : 
die  verreisten  Menschen.) 

Die  Relation  der  Nebenor  d  n  u  n  g  bezieht  sich  wiederum 
auf  den  Begriffsumfang.  Nebengeordnet  kann  nur  sein,  was  in  dem 
Umfange  eines  allgemeineren  Begriffes  enthalten  ist.  (Bsp.:  Rot- 
Blau  [Farbe];  Klang-Geräusch  [Schall];  Mann— Frau  [Menschen]). 
W  u  n  d  t  unterscheidet  fünf  Einzelfälle  der  Nebenordnung  (dis- 
junkte,  korrelate,  konträre,  kontigente  und  interferierende  Begriffe), 
auf  die  wir  aber  nicht  näher  eingehen  wollen. 

Ist  von  zwei  Begriffen  eines  allgemeineren  Begriffssystems  nur 
der  eine  vom  andern  abhängig  (wie  die  Bewegung  vom  Räume,  die 
Handlung  von  der  Gesinnung,  die  Strafe  von  dem  Verbrechen),  so 
haben  wir  eine  einseitige  Beziehung  der  Abhängigkeit,  ist 
ein  jeder  vom  andern  abhängig  (wie  Denken  und  Wollen,  Gesetz 
und  Sitte,  Verkehr  und  Lohn),  so  haben  wir  eine  wechselseitige  Be- 
ziehung der  Abhängigkeit  oder  eine  Wechselbestimmung. 

Die  positiven  und  negativen  Begriffe  sind  disjunktive 
Begriffe.  Der  negative  Begriff  fällt  mit  dem  positiven,  den  er  negiert, 
unter  einen  übergeordneten  Begriff,  der  beide  als  disjunktive  Glieder 
enthält.  (Diese  Wand  ist  nicht  rot,  heißt  nicht,  sie  ist  hoch  oder  niedrig, 
dick  oder  dünn;  sie  ist  anders  gefärbt.) 

D  i  s  p  a  r  a  t  oder  unvergleichbar  sind  zwei  Begriffe,  wenn  sie 
völlig  verschiedenen  Begriffsgebieten  angehören  und  daher  in  kein 
Verhältnis  gebracht  werden  können.  (Bsp. :  Tugend— Viereck,  blau- 
redlich.) 

Nach  AI exi u  s  M ein  o  ng  13)  entstehen  die  Beziehungen 
durch  die  psychische  Tätigkeit  des  Vergleichens.  Man  kann  nur  ver- 
gleichen, was  man  vorstellt.  Daher  gibt  es  nur  subjektive  Beziehungen. 

Stellt  man  eine  Verschiedenheit  zwischen  Fuß  und  Meter  fest, 
so  kann  diese  Relation  nur  auf  die  Vorstellungen  von  Fuß  und  Meter 
gegründet  sein.  Es  gibt  also  nicht  ein,  sondern  zwei  fundamenta 
relationis,  die  nichts  anderes  sind  als  die  verglichenen  Vorstellungs- 
inhalte  selbst. 


18)  „Humestudien",    II.    Teil.      Zur   Relationstheorie.    Sitzungsber.    d. 
Wiener  Akademie,  Philos.-histor.  Klasse.    Wien  1882.     Bd.  100,  S.  573  ff. 


234 


Schüßler, 


Meinong  unterscheidet  zwei  Hauptklassen  von  Relationen: 

1.  Idealrelationen   und 

2.  Realrelationen. 

Idealrelationen  sind  Relationen  zwischen  Vorstellungsobjekten. 

Realrelationen  sind  Relationen  zwischen  „wirklichen  Dingen". 
Darunter  sind  aber  keine  Relationen  zwischen  außerpsychischen 
Dingen  zu  verstehen,  sondern  Relationen  zwischen  dem  Vorstellen 
und  dem  Inhalte,  auf  den  es  gerichtet  ist,  zwischen  Urteilen,  Fühlen, 
Wollen  einerseits  und  dem,  was  beurteilt,  gefühlt,  gewollt  wird, 
anderseits. 

Näher  beschäftigt  hat  sich  Meinon  g  in  seinen  „Humestudienu 
nur  mit  den  Idealrelationen. 

Bei  ihnen  unterscheidet  er  einfache  und  zusa  m  m  en- 
gesetzte   Relationen. 

Die  einfachen  teilt  er  ein  in 

1.  Vergleichungsrelationen   und 

2.  Verträglichkeitsrelationen. 
Vergleichungsrelationen  entstehen  durch  die  Vergleichung  zweier 

Attribute  hinsichtlich  ihrer  selbst. 

Verträglichkeitsrelationen  entstehen  durch  die  Vergleichung 
zweier  Attribute  hinsichtlich  ihrer  Zeit-  und  Ortsbestimmung. 

Die  Vergleich ungsrelationen  zerfallen  in  Relationen 

der  Gleichheit  und 

der  Verschiedenheit.  Bei  diesen  unterscheidet  er  wieder 
Relationen  der  Ähnlichkeit    und  Unähnlichkeit. 

Eine  Vergleichung  kann  keine  andern  Ergebnisse  haben  als 
Gleichheit  einerseits  und  Ungleichheit  oder  Verschiedenheit  ander- 
seits. Was  gleich  ist,  ist  vollkommen  gleich,  oder  es  ist  überhaupt 
nicht  gleich,  d.  h.  es  ist  verschieden.  Ein  Drittes  gibt  es  nicht.  Sind 
bei  der  Verschiedenheit  übereinstimmende  Bestandteile  vorhanden, 
so  reden  wir  von  Ähnlichkeit,  sind  keine  vorhanden,  von  Unähnlich- 
keit. 

Die  Verträglichkeitsrelationen  zerfallen  in  Re- 
lationen 

der  Verträglichkeit  und 

der  Unverträglichkeit. 

Verträglich  ist,  was  zusammen  bestehen  kann  (Der  runde  Tisch 
ist  poliert),  unverträglich,  was  nicht  zusammenbestehen  kann  (Der 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  235 


V°1'"V  -m^^ii^         «VI  WWUW1JUU         .l^UlWlllUg 


runde  Tisch  ist  viereckig).  Die  „evidente  Negation"  —  eine  nicht 
näher  beschreibbare  Art  von  Gefühl  — ,  die  sich  alsobald  aufdrängt, 
sofern  zwei  Attribute  hinsichtlich  der  Gleichzeitigkeit  und  Gleich- 
artigkeit miteinander  verglichen  werden,  macht  das  Wesen  der  Un- 
verträglichkeitsrelationen aus.  Tritt  die  Negation  nicht  ein,  so  haben 
wir  eine  VerträgHchkeitsrelation. 


■o* 


Zu  den  zusammengesetzten  Relationen  oder 
Komplikationen  zählt  M  e  i  n  o  n  g  die  Kausalität  und  Iden- 
tität, Sie  sind  nichts  als  Komplikationen  der  aufgezählten  einfachen 
Relationen.  Die  Kausalität  ist  die  Vereinigung  bestimmter  Ver- 
gleichungs-  und  Verträglichkeitsfälle.  Die  Identität  ist  die  Eigenschaft 
eines  Dinges,  Fundament  mehrerer  Relationen  zu  sein. 

Meinongs  Schüler  haben  wiederholt  in  den  „Untersuchungen 
zur  Gegenstandstheorie  und  Psychologie"  14)  die  Relationen  behandelt. 
Wir  skizzieren  zunächst  M  a  1 1  y  s  Darlegungen  über  die  Relationen. 

Ernst   Mally  15)  sagt: 

Eine  Qualität,  die  nicht  an  einem  Gegenstand,  sondern  zwischen 
Gegenständen  besteht,  ist  eine  Relation. 

Den  Gegenstand  definiert  Mally  folgendermaßen16): 

„Alles,  was  etwas  ist,  heißt  ein  Gegenstand.  —  Das  Gebiet  der 
Gegenstände  umfaßt  also  schlechthin  alles,  ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  es  gedacht  oder  nicht  gedacht,  oder  ob  es  überhaupt  denkbar  ist." 

Unter  einer  Qualität  versteht  er  jede  implizite  Eigenschaft, 
die  kein  Objektiv  ist 17). 

Jeder  Gegenstand  ist  irgendwie  beschaffen.  Diese  Beschaffenheit 
oder  diese  Bestimmung  oder  dieses  „Sosein",  wie  Mally  sich  auch 
ausdrückt,  ist  eine  Eigenschaft  des  Gegenstandes,  der  dadurch 
bestimmt  wird.  Ist  die  Eigenschaft  tatsächlich  an  dem  Gegenstand 
so  ist  sie  eine  implizite  Eigenschaft. 

Jeder  Gegenstand  hat  zwar  ein  „Sosein",  aber  nicht  jeder  ein 
„Sein".  So  hat  ein  allwissender  Mensch  ein  Sosein  (er  ist  eben  all- 
wissend), aber  er  hat  kein  Sein  (ein  allwissender  Mensch  existiert 
nicht).     „Sein"  und  „Sosein"  werden  von  M  e  i  n  o  n  g  und  seinen 


14)  Herausgegeben  von  A.  M  e  i  n  o  n  g.     Leipzig  1904. 

15)  „Untersuchungen  zur  Gegenstandstheorie  des  Messens".    III.  Auf- 
satz in  Meinongs  Unters.    Leipzig  1904.     S.  141,  142. 

16)  A.  a.  0.,  S.  126. 

17)  A.  a.  O.,  S.  141. 


236  S  c  h  ü  ß  1  e  r, 

Schülern  „Objektive"  genannt  und  allen  andern  Gegenständen, 
die  dann  Objekte  heißen,  gegenüber  gestellt. 

A  ist  verschieden  von  B.  Verschieden  sein  ist  eine  Relation,  d.  h. 
eine  Qualität  nicht  an  A  und  nicht  an  B,  sondern  zwischen  A 
und  B.  Sie  ist  tatsächlich  vorhanden,  also  implizit.  Sie  ist  aber  kein 
„Sosein"  von  A  und  kein  „Sosein"  von  B,  sie  ist  auch  kein  „Sein" 
von  A  und  B.    Daher  ist  sie  kein  „Objektiv". 

An  einzelnen  Relationen  führt  M  a  1 1  y  die  von  Meinong  her 
bekannten  Relationen  der  Ähnlichkeit,  Gleichheit,  Verschiedenheit 
und  Verträglichkeit  auf. 

Rudolf  Ameseder,  ein  anderer  Meinong  schüler, 
stimmt  mit  M  a  1 1  y  nicht  überein.  Er  betrachtet  die  Relationen  als 
Soseinsobjektive  und  stellt  sich  damit  zu  M a  1 1  y  in  Gegen- 
satz, der  doch  von  den  Relationen  als  Qualitäten  behauptet,  daß 
sie  keine  Objektive  sind.     Ameseder  schreibt18): 

„Ist  a  und  b  in  der  Verschiedenheit  v,  so  ist  dieses  Verschieden- 
sein ein  Sosein;  gleichzeitig  ist  es  das,  was  unter  der  Bezeichnung 
Relation  gemeint  ist," 

Theodor  Lippsw)  erklärt  die  Relation  als  das  Zusammen- 
sein von  Gegenständen  in  ihrer  durch  die  apperzeptive  Zusammen- 
fassung entstandenen  Einheit  des  Bewußtseins. 

Nach  der  Art  dieses  Beisammenseins  unterscheidet  L  i  p  p  s 

1.  numerische    Relationen, 

2.  Verweb  ungsrelationen  oder  „Verhält- 
nisse", 

3.  Verknüpfungsrelationen  oder  „B  e  z  i  e  - 
h  u  n  g  e  n". 

Jede  Zusammenfassung  setzt  einen  Boden  oder  ein  Medium 
voraus,  auf  oder  in  welchem  die  zusammengefaßten  Gegenstände 
sich  treffen.    Dieses  Medium  kann  sein 

a)  das  Bewußtsein, 

b)  ein  Gegenstand. 

Ist  das  Medium  das  B  e  w  u  ß  t  s  e  i  n  und  erleiden  die  zusammen- 
gefaßten   Gegenstände    keine     qualitative     Änderung, 


18)  „Beiträge  zur  Grundlegung  der  Gegenstandstheorie".    IL  Aufsatz 
in  Meinongs  Unters.     Leipzig  1904.    §  12.    S.   75. 

19)  „Leitfaden   der  Psychologie".     Leipzig   1906.      S.    125. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  237 

d.  h.  bleiben  sie  trotz  der  Zusammenfassung  selbständig  nebenein- 
ander bestellen,  genau  so  selbständig  wie  vor  der  Zusammenfassung, 
so  haben  wir  eine  numerische  Relation.  Sie  ist  die  Relation 
des  „und"  oder  des  „+". 

Ist  das  Medium  wiederum  das  Bewußtsein,  erleiden  die 
Gegenstände  aber  eine  qualitative  Änderung,  d.  h.  ver- 
lieren sie,  ohne  sich  an  und  für  sich  zu  ändern,  durch  die  Zusammen- 
fassung an  Selbständigkeit,  wird  überhaupt  ihr  „Dasein  im  Geiste-1 
ein  anderes,  so  haben  wir  eine  Verwebungsrelation  oder 
ein  Verhältnis.  (Die  qualitative  Änderung  ist  keine  objektive, 
sie  bezieht  sich  nur  auf  das  Dasein  im  Geiste.)  Eine  Verwebungs- 
relation liegt  vor  bei  der  Verwebimg  von  Tönen  zu  dem  Gesamt- 
gegenstand „Melodie". 

Die  Verwebungsrelationen  oder  Verhältnisse  sind  einerseits 
die  Verhältnisse  der  Identität  und  Verschiedenheit, 
der  Gleichheit  und  Ungleichheit,  der  Ähnlichkeit 
und  Unähnlichkeit  usw.  und  anderseits  die  Relationen  der 
Verwandtschaft,  z.  B.  der  Tonverwandtschaft,  der  Rhythmen- 
verwandschaft  usw.  Es  sind  mit  einem  Worte  die  „Relationen  des 
Mehr  oder  Minder  der  Übereinstimmung'". 

Geschieht  drittens  die  Zusammenfassung  in  einem  gegen- 
ständ 1 :  c  hen  M  e  d  i  u  m  ,  d.  h.  werden  die  verknüpften  Gegen- 
stände als  in  Etwas  seiend  gedacht,  so  haben  wir  eine  Ver- 
knüpf u  n  g  s  r  e  1  a  t  i  o  n  oder  eine  Beziehung. 

Nach  der  Art  dieses  gegenständlichen  Mediums  unterscheidet 
L  i  p  p  s  sodann  bei  den  Verknüpfungsrelationen 

a )  r  ä  u  m  liehe, 

b)  zeitliche, 

e )  inhaltliche    B  e  z  i  e  h  u  n  g  e  n. 

Bei  den  räumlichen  und  zeitlichen  Beziehungen  sind  die  Medien 
Raum  und  Zeit,  bei  den  inhaltlichen  Beziehungen  ist  das  Medium 
ein  einziger  Empfindungsinhalt.  So  ist  z.  B.  das  Zusammensein  von 
Tonhöhe  und  Tonstärke  im  Ton  eine  inhaltliche  Beziehung. 

Verknüpfungs-  und  Verwebungsrelationen  kommen  nicht  Hin- 
get rennt,  sondern  auch  vereint  vor.  Im  letzteren  Falle  haben  wir  eine 
Komplexion.  Denke  ich  mir  jetzt  eine  Melodie  aus,  so  setze 
ich   Töne   in  zeitliche  „Beziehung",    „verknüpfe"   sie   also.     Gleich- 


238  Schuß  ler, 

zeitig  stehen  die  Töne  in  den  Verhältnissen  der  Ähnlichkeit  usw., 
sind  also  „verwoben". 

L  i  p  p  s  Einteilung  der  Relationen  können  wir  also  in  folgendem 
Schema  zusammenfassen : 

1.  Numerische  Relationen. 

2.  Verwebungsrelationen  oder  Verhältnisse: 

a)  die  Verhältnisse  der  Identität  und  Verschiedenheit,  der  Gleich- 
heit und  Ungleichheit  usw. 

b)  die  Verwandtschaftsrelationen. 

3.  Verknüpfungsrelationen  oder  Beziehungen: 

a)  räumliche, 

b)  zeitliche, 

c)  inhaltliche  Beziehungen. 

4.  Verwebungs-  und  Verknüpfungsrelationen  (Komplexionen). 

In  den  „Grundzügen  der  Logik"  von  L  i  p  p  s  (Auflage  vom  Jahre 
1893)  sind  nur  die  räumlichen  und  zeitlichen  Beziehungen  erwähnt20), 
als  Akzidenzien  nicht  des  einen  oder  des  andern  der  in  Relation  stehen- 
den Dinge,  sondern  des  Z  u  s  a  m  men  der  beiden.  Das  „Znsammen" 
der  Dinge  ist  eine  durch  mein  Denken  geschaffene  Einheit.  Es  ist 
für  die  Relation  e  i  n  Ding. 

Nach  Benno  Erdmann 21)  ist  eine  Beziehung  bewußtes 
Beisammensein  von  mindestens  zwei  Gegenständen. 

Unter  Gegenständen,  die  zueinander  in  Beziehung  treten  können, 
versteht  Erdmann  nicht  nur  Dinge,  Eigenschaften  und  Vorgänge, 
sondern  auch  selbst  wieder  Beziehungen. 

Nach  obiger  Definition  müssen  bei  einer  Beziehung  die  Gegen- 
stände also 

1.  im  Bewußtsein  beisammen  sein, 

2.  dieses  Beisammensein  im  Bewußtsein  muß  selbst  bewußt  sein. 

Das  Bewußtsein  des  Beisammenseins  ist  vorhanden,  wenn  wir 
unsere  Aufmerksamkeit  vergleichend  und  unterscheidend  von  dem 
einen  der  zusammen  befindlichen  Gegenstände  zum  andern  wenden. 
Dieses  bewußte  Beisammensein  im  Bewußt- 
sein   ist   die   Beziehung. 


20)  A.  a.  0.,  S.  90. 

21)  „Logik".  Bd.  I,  S.  97  ff.    Halle  a.  S.  1907. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  239 

Weil  die  Gegenstände  als  Beziehungspunkte  nur  mit  der  Beziehung 
zugleich  vorgestellt  werden  können,  sind  alle  Beziehungen  w  e  c  h  s  e  1- 
s  e  i  t  i  g  oder  Korrelationen.  (Bsp. :  Ich— Nicht-ich;  Subjekt- 
Prädikat;   größer— kleiner  usw.) 

Alle  Beziehungen  sind  umkehrbar,  d.  h.  wir  können  eine  jede 
Beziehung  infolge  ihrer  Wechselseitigkeit  von  jedem  Beziehungs- 
punkte aus  entwickeln. 

E  r  d  m  a  n  n  teilt  die  Beziehungen  ein  in 

1.  ideale    und 

2.  reale    Beziehungen. 
Ideale     Beziehungen   sind   solche,    deren    Wirklichkeit 

lediglich  in  ihrem  Gedachtwerden  besteht. 

Reale  Beziehungen  sind  solche,  die  als  unabhängig 
von  unserem  Vorstellen  wirklich  vorausgesetzt  werden. 

Zu  den  idealen  Beziehungen  rechnet  E  r  d  m  a  n  n 

1.  die  logischen  (wie  Gleichheit  und  Verschiedenheit  mit 
ihren  Folgebestimmungen), 

2.  die  grammatischen  (wie  Wort  und  Bedeutung,  Subjekt 
und  Prädikat), 

3.  die   mathematischen  (wie  Größe  und  Lage), 

4.  die  teleologischen  oder  Z  w  e  c  k  b  e  s  t  i  m  - 
m  u  n  g  e  n. 

Die  realen  Beziehungen  sind 

1.  die  formalen  (Nebeneinander  im  Räume,  Nacheinander 
in  der  Zeit), 

2.  die  kausalen  der  Wechselwirkung  und 
Inhären  z. 

Zwecks  Gliederung  der  Aussagen  in  Real-  und  Idealurteile  ordnet 
Erdman  n  die  Beziehungen  folgendermaßen22): 

1.  Ideale  Beziehungen: 

a)  die  grammatischen, 

b)  die  Ähnlichkeits-, 

c)  die  normativen  Beziehungen. 

2.  Reale  Beziehungen: 

a)  die  formalen  des  Zugleich-,  Neben-  und  Nachcinanderseins, 

b)  die   Iiihärenzbestimnuingen  von  Ding  und  Eigenschaft, 


J)  A.  a.  O.,  &  43Ü. 


240  Schüßler, 

c)  die  im  engeren  Sinne  kausalen  Beziehungen  des  Verhältnisses 
von  Ursache  und  Wirkung. 

§  2.  Vergleich  zwischen  der  Marbeschen 
und   den   neueren    Beziehungslehren. 

Wenn  wir  die  Beziehungslehren  aus  der  neueren  logischen  Lite- 
ratur mit  der  Beziehungslehre  M  a  r  b  e  s  vergleichen,  so  finden  wir 
zwei  Hauptunterschiede. 

Einmal  haben  fast  alle  genannten  Autoren  Beziehungen  auf- 
gezählt und  besprochen  wie  groß,  klein,  lang,  kurz,  dick,  dünn,  Ur- 
sache, Wirkung,  Zweck  u.  dergl.,  die  bei  Marb  e  vollständig  fehlen. 
Sie  gehören  seiner  Theorie  nach  zu  den  Beziehungsmerkmalen. 

Rechnet  man  aber  eine  Reihe  von  Beziehungs merkmalen, 
die  aus  der  Literatur  her  geläufig  sind,  zu  den  Beziehungen, 
so  muß  man  —  will  man  konsequent  sein  —  alle  Beziehungsmerk- 
male zu  den  Beziehungen  rechnen.  Das  führte  aber  sicherlich  nicht 
zu  einer  Klärung,  sondern  wahrscheinlich  zu  einer  Verwirrung  der 
Lehre  von  den  Beziehungen,  die  nirgends  willkommen  sein  dürfte23). 

Der  zweite  große  Unterschied  besteht  darin,  daß  sich  bei  allen 
Autoren  —  mit  Ausnahme  von  M  a  1 1  y  und  Ameseder  —  eine 
mehr  oder  weniger  psychologisierende  Betrachtung  der 
logischen  Seite   der  Beziehungen  vorfindet. 

Ich  erinnere  nur  an  Mills  einfachste  Relationen, 
die  er  durch  Analysierung  der  Bewußtseinsvorgänge  fand,  an  D  r  o  - 
b  i  s  c  h  s  Auffassung  der  Beziehungen  als  synthetische  Be- 
griffsformen, die  inneren  Zusammenhang  haben,  an  S  i  g  - 
w  a  r  t  s  Beziehungsvorstellungen,  die  durch  die  be- 
ziehende Tätigkeit  des  Subjekts  aus  zwei  andern  Vorstellungen  ge- 
wonnen werden.  Auch  Wundt,  der  ein  Gegner  des  „Psycholo- 
gismus" ist,  legt  bei  seinen  Beziehungsbegriffen  dar,  wie 
sie  psychologisch  entstehen.  Meinong  läßt  die  Beziehungen  ent- 
stehen durch  die  psychische  Tätigkeit  des  Ver- 
gleich e  n  s.  Sein  Kriterium  für  die  Verträglichkeits-  und  Unver- 
träglichkeitsrelationen ist  ein  Gefühl,  die  „evidente  Negation". 
L  i  p  p  s  erklärt  die  Relationen  als  das  Zusammensein  von  Gegen- 
ständen inderapperzeptiven   Einheit   des   Bewußt- 


23)  Vierteljahrsschrift  Bd.  30,  S.  478,  479.     Leipzig  1906. 


Die  logische  Theorie  der  einzelnen  Beziehungen.  241 

|e  i  n  s  21),  und  nach  E  r  d  m  a  n  n  ist  die  Kelation  bewußtes 
Beisammensein  von  Gegenständen  im  Bewußtsei  n. 

Eine  Ausnahme  machen  wie  schon  gesagt  —  nur  Mally 
.md  A  meseder,  welche  die  Beziehungen  als  Qualitäten 
bzw.  als  Soseinsobjektive  auffassen. 

Der  Vergleich  lehrt  fernerhin,  daß  fast  alle  Autoren  nur  M  a  r  b  e  s 
ȟltige  Beziehungen  in  den  Kreis  ihrer  Betrachtungen  gezogen 
haben.  Marbes  sinnlose  und  ungültige  Beziehungen 
hat  nur  M  e  i  n  o  n  g  in  seinen  Unverträglichkeitsrela- 
tionen. Marbes  Urteilsbeziehung  findet  sich  auch 
nur  bei  M  e  i  n  o  n  g  in  Gestalt  seiner  Realrelationen.  Während 
L  i  p  p  s  in  seinen  numerischen  Relationen  einen  Teil  der  sub- 
jektiven Beziehungen  Marbes,  nämlich  die  „und-beziehung", 
betrachtet  hat. 

Nur  eine  Relation,  S  i  g  w  a  r  t  s  modale  Relation, 
läßt  sich  in  Marbes  System  nicht  unterbringen.  Sie  ist  nach  Marb  e 
überhaupt  keine  Relation. 


24)  In  seinen  „Grundzügen  der  Logik"  hat  L  i  p  p  s  die  räumlichen  und 
zeitlichen    Beziehungen   mehr   logisch   betrachtet.     Siehe  S.  238. 


XIV. 

Grillparzer  und  Kant. 

Von 
Wilhelm  Börner. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  oft  und  wie  gründlich  die  Beziehungen 
Schillers  und  Goethes  zu  Kant  zum  Gegenstand  der  Unter- 
suchung gemacht  worden  sind  r),  dann  muß  man  sich  wundern,  daß 
Grillparzers  Verhältnis  zum  Königsberger  Weisen  bisher  noch  gar 
nicht  behandelt  worden  ist.  In  den  „Kant-Studien"  ist  kein  einziges 
Mal  auch  nur  andeutungsweise  davon  die  Rede  gewesen.  Max 
Ortner  bricht  seine  Abhandlung  über  „Kant  in  Österreich" 2) 
absichtlich  bei  Grillparzer  ab.  J  o  d  1  hatte  keine  Veranlassung,  bei 
Behandlung  des  Problems  „Grillparzer  und  die  Philosophie"3)  mehr 
zu  tun  als  das  Thema  zu  streifen.  Bei  Schiller  ist  es  freilich  ein 
aanz  anderer  Fall:  er  ist  in  vielfacher  Hinsicht  direkter  Schüler 
Kants  und  ladet  schon  deshalb  zur  Klarstellung  seiner  Abhängigkeit 
von  seinem  Meister  ein.  Nicht  so  aber  bei  Goethe.  Dessen 
Beziehungen  zu  Kant  sind  kaum  intimer  zu  nennen  als  diejenigen 
Grillparzers.  Deshalb  wird  es  wohl  gerechtfertigt  sein,  die  Stellung 
des  größten  deutschen  Dichters  der  nachklassischen  Zeit  zu  Kant 
zu  beleuchten.  An  gelegentlichen  Äußerungen  hierüber  fehlt  es  aller- 
dings in  Monographien  über  Grillparzer  nicht.  Im  folgenden  soll 
jedoch  ausführlicher  an  der  Hand  aller  Äußerungen  des  Dichters  über 
Kant  sein  Verhältnis  zu  ihm  dargelegt  werden.  — 


x)  Man  vgl.  das  wertvolle  Buch  von  K.  Vorländer:  Kant  —  Schiller 
—  Goethe.  Leipzig  1907.  Hier  findet  sich  auch  eine  Übersicht  über  die 
einschlägige  Literatur. 

2)  Jahrbuch  der  Grillparzer-Gesellschaft,  14.  Jahrg.,  S.   1  ff. 

3)  Jahrbuch  der  Grillparzer-Gesellschaft,  8.  Jahrg.,  S.  1  ff. 


Grillparzer  und  Kant.  243 

I. 

Entsprechend  der  damaligen  österreichischen  Studienordnung, 
besuchte  Grillparzer  ab  1804,  nach  Absolvierung  des  Gymnasiums,  einen 
zweijährigen  philosophischen  Kurs,  der  die  Einleitung,  den  Übergang, 

zum  eigentlichen  Universitätsstudium  bildete.  Zu  diesem  Zeitpunkte 
kam  der  Dichter  zuerst  mit  der  Philosophie  überhaupt  in  Berührung, 
und  zwar  in  einer  Weise,  die  dem  Verständnisse  Kants  nichts  weniger 
als  günstig  gewesen  ist.  Der  Professor  für  Philosophie  war  der  L  e  ib  - 
uiz-Wolff-  Anhänger  Franz  Samuel  K  a  r  p  e  (geb.  1741  zu 
Laibach,  gest.  1806  zu  Wien),  der  wohl  überhaupt  nur  mehr  durch 
Grillparzers  Selbstbiographie  der  Nachwelt  bekannt  ist  4).  Er  schrieb 
eine  „Darstellung  der  Philosophie  ohne  Beinamen"  (1802/4),  ferner 
„Institutiones  philosophiae  dogmaticae"  (1804)  und  endlich  „Institu- 
te mes  philosophiae  moralis"  (1805)  durchwegs  vergessene,  ja 
verschollene  Werke.  K  a  r  p  e  war  ein  verbissener  Kant- Hasser, 
wie  in  Grillparzers  humorvoller  Schilderung  dieses  Mannes  drastisch 
dargetan  wird.  „In  dem  Professor  für  Philosophie",  so  berichtet 
der  Dichter,  „hatten  wir  einen  Pedanten,  aber  nicht  nur  im  gewöhn- 
lichen Sinne,  sondern  als  eigentliche  Lustspielfigur,  als  ob  der  Dottore 
aus  der  italienischen  comedia  dellarte  sich  in  ihm  verkörpert  hätte. 
Er  hatte  eine  „Philosophie  ohne  Beinamen"  als  Vorlesebuch  ge- 
schrieben und  hielt  sich  für  ganz  selbständig,  bloß  weil  er  die  Neue- 
rungen Kants  von  sich  stieß,  indes  sein  System  nichts  als  der  bare 
Wolffianisnius  war.  Oft,  erinnere  ich  mich,  rief  er  während  der  Vor- 
lesung aus:  Komm  her,  o  Kant,  und  widerlege  mir  diesen  Beweis !"  5) 
Auch  später  noch  macht  sich  der  Dichter  über  seinen  ehemaligen 
Philosophie-Lehrer  lustig6).  Es  ist  klar,  daß  auf  diese  Weise  das 
Interesse  für  die  kritische  Philosophie  nicht  geweckt  werden  konnte. 
Überhaupt  sollen  die  Wiener  Dichter  keinerlei  Verständnis  für  sie 
aufgebracht  haben  '•). 


')  Vergl.  H.  Eisler:  Philosophen-Lexikon.  Berlin  1912,  S.  354.  Im 
IVlirrweg-Heinzeschen  „Grundriß"  ist  er  gar  nicht  namhaft  gemacht. 

•')  Grillparzer,  Sämtl.  Werke  (herausgeg.  von  A.  Sauer),  5.  Aufl..  XIX. Bd., 
B.  31.    Nach  dieser  Ausgabe  wird  im  folgenden  stets  zitiert. 

6)  (irillparzers  Tagebücher  (herausgeg.  von  C.  G  1  o  s  s  y  und  A.  Sa  u  e  r), 
Stuttgart,  S.  38. 

T)  a.  a.  O.  S.  270.   Vgl.  auch  die  erwähnte  Abhandlung  von  M.  Ortner. 


244  Born  er, 

Grillparzers  Beschäftigung  mit  Kant  setzte  erst  ein,  als  er  schon 
Jurisprudenz  zu  studieren  begann  und  mit  dem  Sohne  des  Hof- 
sekretärs Fr.  A.  v  o  n  W  o  h  1  g  e  m  u  t  h  Freundschaft  schloß.  Dieser 
junge  Mann  hatte  für  die  neue  Richtung  in  der  Philosophie  großes 
Interesse,  besaß  auch  viele  Streitschriften  und  Kommentare  über  sie 
und  so  wurden  zahlreiche  Stunden  der  Diskussion  Kantscher  Ge- 
danken gewidmet.  Freilich  mögen  die  jungen  Leute  nicht  allzu  tief 
in  diese  schwierige  Gedankenwelt  eingedrungen  sein,  denn  Grill- 
parzer  selbst  berichtet,  daß  er  erst  um  die  20  er  Jahre  mit  ihr  wirk- 
lich bekannt  geworden  sei  (XIX.  S.  100).  Nun  aber  hat  er  sich  mit 
größtem  Fleiße  und  starker  innerer  Anteilnahme  in  sie  versenkt  und 
im  Jahre  1832  lesen  wir  in  den  Tagebüchern  anläßlich  des  Studiums 
von  Hegels  Logik  den  Satz:  „Alles,  was  ich  Philosophisches  lese, 
vermehrt  meine  Achtung  für  Kant."  (Tagebücher,  S.  108.)  Dieser 
Achtung  und  Wertschätzung  für  den  großen  Königsberger  Denker 
blieb  Grillparzer  sein  ganzes  Leben  hindurch  treu;  wie  sehr  er  die 
Werke  in  sich  aufgenommen  hat,  kann  man  auch  aus  wiederholten 
gelegentlichen  Bezugnahmen  auf  Kantsche  Anschauungen  erkennen 
(z.  B.  XIX.  S.  153,  Tagebücher,  S.  41).  Wie  E  h  r  h  a  r  d  richtig  be- 
merkt, war  Kant  der  einzige  deutsche  Philosoph,  den  Grillparzer 
bewunderte  und  verehrte 8).  Diese  Anerkennung  ist  umso  höher  zu 
veranschlagen,  als  Grillparzers  allgemeine  Denkrichtimg  von  der- 
jenigen Kants  so  weit  abhegt,  daß  J  o  d  1  zu  ihrer  Charakterisierung 
treffend  Feuerbachs  Philosophie  heranzieht 9).  Seine  Ab- 
weichung ersieht  man  deutlich,  wenn  man  Grillparzers  Kritik  der 
Auffassungen  und  Lehren  Kants  etwas  näher  betrachtet. 

O 

IL 

Will  man  den  Geistestypus  des  Dichters  kurz  kennzeichnen,  so 
muß  man  Grillparzer  einen  Sensualisten  nennen.  An  unzähligen  Stellen 
und  in  den  verschiedensten  Wendungen  spricht  er  sich  dahin  aus,  daß 
die  Sinne  die  primäre  und  eigentliche  Erkenntnisquelle  seien 10). 
Es  ist  deshalb  leicht  verständlich  und  erklärlich,  daß  die  meisten  seiner 


8)  A.  Ehrhard  (M.  Necker):  Fr.  Grillparzer.  München  1902,  S.  132. 

9)  Jodl,  a.a.O.,  S.  10  f. 

10)  Vgl.  auch  W.  Jerusalem:  Grillparzers  Welt-  u.  Lebensanschauungen. 
Wien  1891.  Jetzt  leicht  zugänglich  in  dem  Buche:  , Gedanken  und  Denker'. 
Wien  1905. 


Grillparzer  und  Kant.  245 

Äußerungen  über  Kants  theoretische  Philosophie  sich  auf  dessen 
Kategorienlehre  und  che  Lehre  vom  „Ding  an  sich"  beziehen. 

Über  Kants  Stellung  zu  Aristoteles  im  Hinblick  auf  die 
Kategorienlehre  u)  meint  Grillparzer,  daß  letzterer  sie  keineswegs  zu 
einem  transzendentalen,  sondern  zu  einem  rein  logischen  Zweck  auf- 
gestellt habe  und  deshalb  Kants  Polemik  nicht  verdiene.  „Sie  sprechen 
ihm  (Aristoteles)  die  Form  der  Prädikate  in  allen  möglichen  Urteilen 
aus,  ohne  daß  er  sich  um  ihre  Herstammung  besonders  bekümmerte. 
Ja,  selbst  die  Genauigkeit  der  Einteilung  hegt  ihm  nicht  gar  so  sehr 
am  Herzen.  Er  will  lieber  ein  Einteilungsglied  zweimal  in  zwei  Gat- 
tungen aufführen,  als  daß  es  der  Schüler  vermissen  sollte;  wie  er  es 
selbst  bei  Erwähnung  jener  Grenzlinien  ausspricht,  wo  die  jcqogtl 
und  die  jcoicc   zusammenlaufen."    (XIV.  S.  25.) 

Die  Unterscheidung  Kants  zwischen  „Ding  an  sich"  und 
Phänomen  findet  der  Dichter  schon  bei  P 1  a  t  o  —  va  ovxa  und 
r«  yr/roi/era  —  und  ebenso  auch  die  Auffassung,  daß  das  Gesetz  der 
Kausalität  nur  auf  die  letzteren  anwendbar  sei,  im  Dialog  Timaios 
deutlich  ausgesprochen.  Da  die  ovra  keine  yivsaig  haben  (sonst 
wären  sie  yiyvofisva),  so  werden  sie,  meint  Grillparzer,  von  selbst 
von  dem  Kausalitätsnexus  ausgeschlossen  (XIV.  S.  25).  Noch  eine 
andere  historische  Bemerkung  findet  sich  bei  Grillparzer  hinsichtlich 
des  „Ding  an  sich"-Begriffes.  „Es  ist  falsch"  —  so  schreibt  er  — 
„daß  die  Vor-Kantsche  Philosophie  das  Ding-an-sich  nicht  gekannt 
habe.  Wenn  S  p  i  n  o  z  a  an  die  Spitze  seines  Systems  den  Satz  stellt: 
Gott  ist  die  Substanz,  bestehend  aus  unendlichen  Attributen,  von 
denen  uns  aber  nur  zwei,  das  Denken  und  die  Ausdehnung,  be- 
kannt sind,  so  gibt  er  ja  stillschweigend  zu,  daß  eine  unendliche 
Modifikation  dieser  unendlichen  uns  unbekannten  Attribute  gar  nicht 
in  unsere  menschliche  Vorstellung  fallen,  ja  es  hindert  nichts,  daß  selbst 
in  jenem  Kreis,  den  wir  vorstellen,  Bestandteile  jener  uns  unfaßbaren, 
göttlichen  Wesenheiten  enthalten  sind,  die  eben  daher  von  uns  uner- 
kannt bleiben  und  so  das  eigentliche  Ding-an-sich  bilden,  nicht  allein 
unserem  Vorstellen,  sondern  selbst  unserem  Denken  unerreicht." 
(XIV.  S.  26  f.) 

Der  Dichter  verteidigt  jedoch  Kant  gegen  Schopenhauer, 
indem  er  schreibt:  „Wenn  Kant  sagt:  das  Ding  an  sich,  das  wir  nicht 

X1)  Kants  Werke,  Akad.-Ausg.  III.  Bd.  (Berlin  1904),  S.  92  ff.    (Kritik 
der  reinen  Vernunft  II.  Teil,  1.  Abt.,  §  10.) 

Archiv  tür  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  2.  ig 


246  Born  er, 

kennen,  so  schließt  er  dadurch  ein  Analogem  der  Materie  nicht  aus,, 
allenfalls  ein  uns  unerforschliches  Drittes,  das  sich  in  Kraft  und  Stoff 
dirimiert.  Nenne  ich  aber  das  Ding  an  sich  Wille  und  weiß  letzteren 
nicht  anders  zu  bezeichnen,  denn  als  nimmer  ruhendes  Streben,  so 
habe  ich  nur  ein  anderes  Wort  für  das  Wort  Kraft,  das  zu  allen  Zeiten 
die  Verzweiflung  der  Denker  war."    (XIV.  S.  33.) 

Und  ebenso  lehnt  er  Trendelenburgs  Widerlegung  durch 
Aufstellung  des  Prinzips  der  Bewegung  ab.  „Wie  aber"  —  fragt 
Grillparzer  —  „wenn  die  Bewegung  allerdings  die  primitive  wesen- 
hafte  Eigenschaft  der  Dinge  wäre,  den  Geist  gleichfalls  als  Ding(ens) 
genommen,  könnten  dann  nicht  Zeit  und  Raum  noch  immer  die 
Form  sein,  in  der  sie  der  Vorstellung  erscheinen?  Überhaupt,  wenn 
Kant  gemeint  hätte,  daß  Zeit  und  Raum  nur  Formen  der  Anschauung 
seien,  so  hätte  er  dadurch  indirekt  erklärt,  daß  er  das  Ding  an  sich 
kenne,  was  er  immer  geleugnet."   (XIV.  S.  29.) 

Grillparzer  war,  soviel  man  aus  seinen  zahlreichen  philosophischen 
Reflexionen  ersehen  kann,  kritischer  Realist  und  dürfte  der  Auffassung 
Herbert  Spencers  von  einem  „unknowable"  nicht  ferne  gestanden 
sein.  Von  einer  Verflüchtigung  des  „Ding  an  sich",  des  objektiven 
oder  transsubjektiven  Faktors  in  der  Welt  und  beim  Zustande- 
kommen der  Erkenntnis,  im  Sinne  F  i  c  h  t  e  s  (oder  neuerdings 
eines  Schuppe  oder  Mach)  wollte  der  Dichter  nichts  wissen 
und  war  fest  überzeugt  davon,  daß  eine  solche  Auffassung  auch 
nicht  der  Kantschen  entspricht.  Dieser  Überzeugung  gibt  er  in  den 
humorvollen  Versen  Ausdruck: 

„Laß,  ehrlicher  Kant,  sie  reden, 

Sie  kommen  schon  noch  auf  dich, 

Die  Leugner  des  Dinges  an  sich 

Sind  Denker  außer  sich."  (III.  S.  145.) 
Freilich  war  Grillparzer  mit  Kant  der  Anschauung,  daß  sich 
über  das  Ding  an  sich  nichts  aussagen  lasse  und  rechnete  es  ihm 
zum  Verdienste  an,  die  Grenzen  menschlichen  Erkennens  abgesteckt 
zu  haben.  „Kants  Philosophie",  sagt  er  einmal,  „ist  die  wissenschaftliche 
Anerkennung  der  menschlichen  Beschränktheit."  (XVI.  S.  IC.) 
Und  anläßlich  einer  Charakteristik  des  Verfassers  der  bekannte«: 
„Diätetik  der  Seele",  Ernst  von  Feuchterslebens,  der  ein 
warmer  Verehrer  Kants  gewesen,  bezeichnet  Grillparzer  die  kritische 
Philosophie  als  die  „Philosophie  der  Bescheidenheit,  die  das  demütige 


Grillparzer  und  Kant.  247 

,Ich  weiß  nicht'  an  die  Spitze  des  Systems  stellt,  das  Gegebene,  als 
eines  Beweises  ebensowenig  fähig  als  bedürftig,  zum  Ausgangspunkte 
nimmt,  völlig  zufrieden,  wenn  sie  das  logisch  Richtige,  Würdige  und 
allen  Förderliche  damit  in  Übereinstimmung  bringen  kann;  die, 
gerade  weil  sie  dem  Denken  seine  Grenzen  setzt,  der  Ahnung  und 
Empfindung  möglich  macht,  die  leergewordenen  Räume  als  Religion 
und  Kunst  auszufüllen." 

III. 
Hinsichtlich  des  religiösen  Kardinalproblems,  des  Gottesbegriffes, 
verficht  Grillparzer  mit  der  größten  Entschiedenheit  die  Überzeugung 
von  der  Unmöglichkeit  einer  theoretischen  Erkenntnis  Gottes.  Darin 
stimmt  der  Dichter  mit  Kant  vollkommen  überein,  daß  Gott  niemals 
ein  Postulat  der  theoretischen  Vernunft  sein  könne.  Eine  solche  An- 
nahme nennt  er  direkt  „lächerlich".  Er  weicht  aber  darin  vom  Königs- 
berger Weisen  ab,  daß  er  Gott  auch  als  praktisches  Postulat  nicht 
gelten  läßt.  Dieses  nennt  er  „überflüssig,  da  das  Sittengesetz  mensch- 
lich so  begründet  ist,  daß  es  einer  göttlichen  Herleitung  gar  nicht 
bedarf."  (XIV.  S.  31.)  Man  ersieht  aus  diesem  Satze,  wie  positivistisch 
Grillparzer  auch  auf  ethischem  Gebiete  dachte.  In  dem  Gedichte 
„Gottlose !  ihr  sucht  einen  Gott",  findet  diese  Auffassung  poetischen 
Ausdruck.     Die  Verse  lauten: 

Gottlose!  ihr  sucht  einen  Gott! 
Er  fehlt  und  ist  euch  doch  vonnöten. 
Dem  Sünder  tut  ja  auch  ein  Scherge  not, 
Soll  er  nicht  fälschen,  rauben,  töten. 

Euch  wäre  fremd  des  Rechts  Bereich, 
Wenn's  ein  Gesetz  nicht  scharf  umschrieben? 
Unschuldig  ist  das  Mädchen  euch, 
Das  leiblich  unberührt  geblieben. 

Euch  hebt  sich  nicht  die  dürre  Brust, 
Wenn  menschlich  Hohes  aus  sich  kündet; 
Die  Lust,  sie  dünkt  euch  dann  noch  Lust, 
Wenn  sie  auf  fremdes  Weh  sich  gründet. 


s* 


Euch  ist,  was  war  und  ist  und  wird, 
Nicht  Glied  derselben,  Einer  Kette; 

16* 


248  Born  er, 

Der  Lohn,  den  Rechttun  selbst  gebiert, 
Ihr  wollt  ihn  bar  auf  einem  Brette. 

Was  in  der  Brust,  im  Geiste  lebt, 
Gilt  euch  für  wesenlose  Träume; 
Damit  ihr  Wirklichkeit  ihm  gebt, 
Muß  Ort  erfüllen  es  und  Räume.  " 

So  ballt  denn,  was  lebendig  quillt, 
Nehmt  einen  Götzen  euch  zum  Schilde, 
Und  wie  er  euch  nach  seinem  Bild, 
So  schaffet  ihn  nach  eurem  Bilde. 

Wenn  euer  Aug  kein  Großes  faßt, 

So  schließt  ihn  ein  in  enge  Rahmen; 

Nehmt  einen  Gott,  der  liebt  und  haßt, 

Und  hebt  und  haßt  in  seinem  Namen.    (IL  S.  198.) 

Es  bleibt  demnach  nur  das  Gefühl  als  Postulat  Gottes  übrig.  Gefühls- 
mäßig mag  Gott  annehmen,  meint  Grillparzer,  „der  sich  dazu  ge- 
drungen fühlt,  wo  dann  mit  der  Allgemeinheit  der  Aufforderung  auch 
ihre  Gültigkeit  wegfällt."  (XIV.  S.  31.)  Mit  Recht  nennt  Jodl 
diesen   Standpunkt   des   Dichters   denjenigen   des   „Agnostizismus". 

IV. 

Naheliegenderweise  hat  sich  Grillparzer  von  allen  philosophischen 
Disziplinen  am  meisten  mit  der  Ästhetik  beschäftigt 12)  und  deshalb 
auch  der  „Kritik  der  Urteilskraft"  das  größte  Interesse  entgegen- 
gebracht. Das  äußert  sich  in  der  Ausdehnung  seiner  Notizen,  die  sich 
auf  dieses  Gebiet  der  kritischen  Philosophie  beziehen.  Im  allgemeinen 
stellt  Grillparzer  Kant  das  Zeugnis  aus,  daß  niemals  ein  Philosoph 
„aneignender  über  die  Vorfragen  der  Kunst  gesprochen"  habe  als  er. 
(XV.  S.  79.)  Den  Angelpunkt  der  Kantschen  Ästhetik  scheint  Grill- 
parzer in  der  Theorie  von  der  Zweckmäßigkeit  ohne  Zweck  erblickt 
zu  haben,  weil  er  zu  wiederholtenmalen  speziell  auf  sie  zu  sprechen 
kommt  und  sie  als  besonders  gelungen  bezeichnet.    Freilich  erkennt 


12)  Siehe  E.Reich:  Grillparzers  Kunstphilosophie.  Wienl890;  Fr.  Jodl: 
Grillparzers  Ideen  zur  Ästhetik  (Jahrb.  d.  Grillparzer-Gesellschaft  10.  Jahrg., 
S.  45  ff.;  Fr.  Stich:  Grillparzers  Ästhetik.     Leipzig  1905. 


Grillparzer  und  Kant.  249 

man  auch  hier  wieder  deutlieh  die  psychologisch-realistische  Inter- 
pretation, die  dem  Dichter  sich  aufdrängt,  Er  schreibt:  „Ich  stelle 
mir  die  Sache  so  vor:  Der  Mittelpunkt  des  menschlichen  Wesens, 
sinnlichen  und  geistigen,  ist  die  Seele.  In  ihr  liegt  alles  vereinigt 
und  aufbewahrt:  Erfahrenes,  Erlebtes,  Gedachtes,  Gefühltes.  Dieser 
Zuwachs  ist,  was  man  Bildung  nennt.  Er  ändert  in  einem  gewissen 
Grade  selbst  die  Substanz  der  Seele  und  durch  ihn  ist  der  Mensch 
im  vierzigsten  Jahre  ein  anderer  als  im  vierten.  Den  Gesamtausdruck 
der  Seele,  insofern  ihr  Streben  nicht  nach  außen  geht,  nenne  ich  die 
Empfindung.  Die  Empfindung12)  ist  nicht  ohne  Unterscheidung,  weil 
das  Geistige  eben  auch  in  ihr  liegt,  Wird  die  Empfindung  durch  starke 
Eindrücke  angeregt,  so  verliert  sich  diese  Unterscheidung  und  sie 
wird  Gefühl,  so  wie  anderseits  durch  gemäßigte  Anlässe  die  Unter- 
scheidung vom  Geiste  aus  sich  mehr  und  mehr  Platz  macht  und  das 
entsteht,  was  Kants  Urteilskraft  ist,  ein  anschauender  Ver- 
stand, der  die  Regel  aus  dem  Geiste  und  die  Teile  aus  dem  sich  gliedern- 
den, unermeßlichen  Vorrate  von  aufbewahrten  Eindrücken  nimmt. 
Diese  Urteilskraft  liegt  dem  gesunden  Menschenverstand  zugrunde. 
Im  vollständigen  Auseinandertreten  verfällt  die  Empfindung  einer- 
seits dem  sinnlichen  Bedürfnis,  anderseits  verfeinert  sie  sich  zum 
Verstände  oder  Vernunft  oder  Geiste,  wie  man  es  eben  nennen  will. 
Der  Sitz  der  Kunst  ist  in  der  Empfindung,  die  einerseits  den  Unter- 
scheidungen der  Urteilskraft  nahe  steht,  anderseits  aber  durch  ihr 
Hineinreichen  in  den  ganzen  Menschen  eine  ungeheure  Verknüpfung 
—  Ideenassoziation  —  anregt,  deren  Vorstellungen  ihrem  Ursprung 
von  außen  nach  sich  zu  Bildern  verkörpern  und  als  Phantasie  die 
natürliche  Auffassung  des  Menschen  nachahmen,  die  sinnlichen 
Eindrücke  mit  Gedanken  verbindet,  nur  daß  hier  die  Bilder  sich 
schon  nach  einem  Gesichtspunkte  einstellen,  indes  die  äußeren 
Eindrücke  zufällig  und  unvermittelt  überraschen."  (XV.  S.  28.) 
Viele  Jahre  vorher  hatte  er  sich  zum  selben  Problem  wie  folgt. 
geäußert:  „Kants  Zweckmäßigkeit  ohne  Zweck  und  Zusammen- 
Stimmung  zur  Erkenntnis,  überhaupt  ohne  Begriff,  in  seiner 
Erklärung  der  Schönheit,  verstehe  ich  ungefähr  so:  Außer  der 
objektiven    Beschaffenheit    eines    Gegenstandes,    die    vor   allem    dem 


1  )  Grillparzer  gebraucht  dieses  Wort  für  „Gefühl"    nach    der    heute 
üblichen  psychologischen  Terminologie. 


250  B  ö  r  n  e  r, 

Begriff  zugrunde  liegt,  und  den  subjektiven  Beziehungen,  die  am 
vorherrschendsten  in  der  Empfindung  des  Angenehmen  walten,  kann 
es  ja  noch  einen  dritten  Bezug  geben,  das  Dasein,  z.  B.  eines  gemein- 
samen Bandes,  das,  aus  einem  gemeinschaftlichen  Urheber  hervor- 
gehend, den  Betrachtenden  und  das  Betrachtete  umschlingt  und  sich 
gegenseitig  nähert.  Vielleicht  oder  vielmehr  wahrscheinlich  liegt  der 
im  Geschmacksurteil  gefühlten  Zustimmung  ein  solches  Drittes  zu- 
grunde, welches  das  Wort  des  Rätsels,  den  wirklichen  Begriff  des 
Zweckes  zur  anerkannten  bloßen  Form  der  Zweckmäßigkeit  enthält; 
dies  Dritte  kommt  aber  nicht  in  unser  deutliches  Bewußtsein  und  wir 
müssen  es  daher  beim  Denken  über  das  Schöne  außer  der  Rechnung 
lassen."  (XV.  S.  22.) 

Kants  Definition  des  Schönen  als  uninteressiertes  Wohl- 
gefallen findet  Grillparzers  uneingeschränkte  Zustimmung  und  er 
verdeutlicht  sie  in  nachstehender  Weise:  „Aller  Poesie  hegt  die 
Idee  einer  höheren  Weltordnung  zugrunde,  die  sich  aber  vom  Ver- 
stände nie  im  ganzen  auffassen,  daher  nie  realisieren  läßt  und  von 
welcher  nur  dem  Gefühl  vergönnt  ist,  dem  Gleichverborgenen  in 
der  Menschenbrust,  je  und  dann  einen  Teil  ahnend  zu  erfassen.  Zweck- 
mäßigkeit ohne  Zweck  hat  es  Kant  ausgedrückt,  tiefer  schauend, 
als  vor  ihm  und  nach  ihm  irgend  ein  Philosoph."   (XV.  S.  57.) 

Außer  diesen  Äußerungen  Grillparzers,  welche  wesentliche  Punkte 
der  Kantschen  Ästhetik  betreffen,  findet  sich  noch  eine  Bemerkung, 
die  hier  nicht  unterdrückt  werden  soll,  obwohl  sie  von  untergeordneterer 
Bedeutung  ist.  „Was  von  der  bildenden  Kunst  gilt"  —  so  schreibt  er  — 
„gilt  in  noch  viel  höherem  Grade  von  der  Musik.  Ihre  erste  unmittel- 
bare Wirkung  ist  Sinn-  und  Nervenreiz;  weshalb  ihr  auch  Kant  (für 
jeden  Fall  nach  seinen  Voraussetzungen  richtig)  den  Platz  viel  tiefer 
als  den  übrigen  schönen  Künsten  anweist;  weil  nämlich  ihre  Wirkung 
so  überwiegend  physisch  ist,  daß  der  Verstand,  dessen  mögliche  regu- 
lative Mitwirkung  Kant  als  das  Kriterium  jeder  schönen  Kunst  be- 
trachtet, nur  einen  höchst  untergeordneten  Einfluß  auf  das  Gefühl  der 
Lust  und  Unlust  dabei  nehmen  kann.  Wenn  nun  auch  Kant  hierin 
zu  weit  gegangen  ist,  so  bleiben  doch  die  Tatsachen  richtig,  von  denen 
er  ausging."  (XV.  S.  126  f.) 14). 


")  A.  Ehrhard  ist  nach  dieser  Erklärung  Grillparzers  wohl  im 
Irrtum,  wenn  er  meint,  der  Dichter  hätte  sich  seine  hohe  Wertung  der  Musik 
von  Kant  angeeignet,    (a.  a.  0.,  S.  145  f.) 


Grillparzer  und  Kant.  251 

V. 

Im  Voranstehenden  wurden  die  Äußerungen  Grillparzers  über 
Kant,  soweit  sie  sich  auf  einzelne  Gebiete  der  kritischen  Philosophie 
beziehen,  ihrem  Inhalte  nach  übersichtlich  zusammengestellt.  Zum 
Schlüsse  sollen  nun  noch  zwei  Aufzeichnungen  des  Dichters  Platz 
finden,  die  seine  allgemeine  Einschätzung  des  „Alleszermalmers" 
zum  Ausdrucke  bringen.  Psychologisch  sehr  fein  sagt  die  eine:  „Gerade 
bei  Menschen,  bei  denen  das  Gemüt  vorherrscht,  sind  Kants  Schriften 
höchst  nützlich.  Da  sie  von  dem  ihrigen  da  anzustücken  vermögen, 
wo  Kant  aufhört,  indes  er  ihnen  Ordnung  machen  hilft  in  der  Sphäre, 
die  in  seinem  Bereich  liegt.  Trockene  Verstandesmenschen  müssen  durch 
Kants  Philosophie  notwendig  ganz  austrocknen."  (XIV.  S.  29.) 
Nicht  weniger  beachtenswert  ist  die  andere  Bemerkung:  „Jeder,  der 
sich  der  Literatur,  wenn  auch  bloß  der  schönen,  widmen  will,  sollte 
Kants  Werke  studieren,  und  zwar,  abgesehen  vom  Inhalt,  schon 
bloß  wegen  ihrer  strenglogischen  Form.  Nichts  ist  mehr  geeignet, 
an  Deutlichkeit,  Sonderung  und  Präzision  der  Begriffe  zu  gewöhnen 
als  dieses  Studium  und  wie  notwendig  diese  Eigenschaften  selbst  dem 
Dichter  sind,  leuchtet  wohl  ein."  (XIV.  S.  28  f.)  Diese  letzteren 
Sätze,  aus  der  Feder  eines  echten  und  großen  Dichters,  sind  an  sich 
bedeutungsvoll;  umsomehr  aber  vom  Dichter  der  Tragödie  „Ein 
treuer  Diener  seines  Herrn",  welche  Reich  sehr  treffend  „die  drama- 
tische Verkündigung  des  kategorischen  Imperativs  Kants"  nennen 
konnte  u '■). 


lä)  E.  Reich:  Fr.  Grillparzers  Dramen.  (3.  Aufl.)  Dresden  1909,  S.  163. 


XV. 

Die  Grundlehre  Spinozas  im  Lichte  der  kritischen 

Philosophie. 

Von 
Otto  Samuel. 

Jedes  Grundprinzip  eines  philosophischen  Systems  ist  ursprüng- 
lich irgendwie  Bestandteil  der  Masse  von  Ansichten,  Gedanken  und 
Anschauungen,  die  zur  Verfolgung  der  Zwecke  und  Aufgaben  des  prak- 
tischen Lebens  erforderlich  sind  und  die  man  unter  dem  Namen  des 
naiven,  gesunden  Menschenverstandes  zusammenfaßt.  Als  System- 
prinzip erfährt  dann  der  Bestandteil  des  natürlichen  Systems  des 
gemeinen  Verstandes  eine  wesentliche  Umbildung,  eine  Reinigung* 
von  den  in  ihm  liegenden  Widersprüchen  und  eine  spekulative  Ver- 
tiefung seiner  ideellen  Momente.  Allerdings  findet  auch  der  umge- 
kehrte Vorgang  statt:  das  System  des  naiven  Verstandes  ist  einer 
immerwährenden  Entwicklung  unterworfen;  fortwährend  gehen  Be- 
standteile der  Kunstsysteme  in  das  „Zeitbewußtsein"  über,  sodaß 
das  Verhältnis  zwischen  beiden  das  einer  befruchtenden  Wechsel- 
wirkung ist.  So  kommt  z.  B.  ein  besonders  großer  Anteil  an  der  Ge- 
staltung unseres  heutigen  Bewußtseins  auf  das  System  des  Aristoteles. 

Die  andere  Seite  des  erwähnten  Wechselverhältnisses  zeigt  sich 
besonders  an  demjenigen  Systemprinzip,  das  wir  hier  näher  betrachten 
wollen,  dem  Substanzbegriff  Spinozas,  der  dem  ursprünglichen  Be- 
wußtsein zuerst  als  das  Beharrliche  in  den  Einzeldingen  erscheint, 
als  dasjenige,  was  bleibt,  während  diese  sich  verändern.  Dies  ist  ein 
Begriff,  der  zur  verstandesmäßigen  Auffassung  von  „Etwas,  das  sich 
verändert",  wozu  das  naive  Bewußtsein  tausendfach  genötigt  wird, 
schon  vorausgesetzt  werden  muß.  Das  alltägliche  Erlebnis  eines 
sich  verändernden  Einzeldings  führt  zwar  erst,  da  der  Anschauende 
ursprünglich    noch    gar    kein    ausgebildetes    Gegenstandsbewußtsein 


Die  Grundlehre  Spinozas.  253 

besitzt,  sondern  nur  den  "Wechsel  von  Zuständen  erlebt,  zur  An- 
nahme eines  Beharrlichen,  aber  —  mit  der  Ausbildung  des  Verstandes 
—  auch  zur  Voraussetzung  desselben,  wenn  auch  dieser  Begriff  sich 
zunächst  noch  nicht  klar  und  deutlich  von  andern  im  Bewußtsein 
abhebt. 

Aber  selbst,  wenn  das  geschehen  ist,  so  ist  doch  das  Bewußtsein 
noch  weit  davon  entfernt,  nur  eine,  wenn  auch  noch  ganz  körperlich 
aufgefaßte  Substanz  in  der  Erfahrungswelt  anzunehmen  —  diese 
Auffassung  ist  vielmehr  schon  echt  spekulativ  —  sondern  jedes 
empirische  Einzelding  ist,  sofern  es  beharrt,  Substanz.  Es  gibt  ver- 
schiedene Substanzen.  Das  naive  Bewußtsein  hat  eben  noch  keine 
Ahnung  von  der  Notwendigkeit,  die  zur  Verneinung  dieses  Satzes 
drängt. 

Um  aber  diejenigen  Züge  herauszustellen,  durch  die  der  Substanz- 
begriff erst  zum  Grundprinzip  des  Systems  Spinozas  erhoben  wird, 
dürfen  wir  uns  nicht  an  die  Darstellung,  die  er  in  der  Ethik  gewählt 
hat,  eine  Nachahmung  der  geometrischen  Methode,  binden;  wir 
dürfen  nicht  etwa  den  Weg  einschlagen,  erst  die  Definitionen  auf  ihre 
Richtigkeit  hin  zu  prüfen,  dann  zu  entscheiden,  ob  die  Grundsätze 
annehmbar  sind,  oder  nicht;  endlich  die  einzelnen,  hier  in  Betracht 
kommenden  Beweisgänge  der  Lehrsätze  zu  verfolgen  usw.  Es  ist 
nämlich  darauf  zu  achten,  daß  Spinoza  sein  System  ganz  anders 
erlebt  als  dargestellt  hat.  Aus  seiner  Grundkonzeption  der  Substanz 
haben  sich  ihm  erst  die  dazu  passenden  Definitionen  und  Grund- 
sätze und  die  darauf  fußenden  Beweise  ergeben.  Diese  Grundauf- 
fassung, ja  dieses  ursprüngliche  Erlebnis  seines  Substanzbegriffs,  aus 
dem  das  ganze  System  herfließt,  müssen  wir  unabhängig  von  dem 
Wüste  seines  ganz  unzulänglichen  Beweisverfahrens  darzustellen 
versuchen.  Ja,  wir  dürfen  uns  sogar  einige  Freiheit  in  der  Begründung 
seiner  Anschauungen,  die  manchmal  ganz  äußerlich  ist,  erlauben,  wenn 
uns  hierdurch  das  Eigenartige  derselben  besser  hervortritt.  Auf  dieses 
allein  haben  wir  es  abgesehen.  Hielten  wir  uns  eng  an  seine  Darstellung, 
so  würden  wir  wohl  das  Gegenteil  unserer  Wünsche  erreichen.  Um 
aber  diese  Darlegung  zu  rechtfertigen,  wollen  wir  erst  noch  das  Un- 
geeignete der  geometrischen  Methode  für  die  Philosophie  ins  rechte 
Licht  setzen. 

Auf  die  schwierige  Frage  nach  dem  Wesen  der  mathematischen 
Erkenntnis  können  wir  hier  aber  nicht  eingehen.    Es  ist  nur  auf  das 


254  Samuel, 

Verhältnis,  das  zwischen  Philosophie  und  Mathematik  besteht,  kurz 
hinzuweisen.  Vieles  ist  ja  hierüber  schon  bemerkt  worden,  das  beste 
von  Kant.  Es  bestehen  nun  aber  nicht  allein  wesentliche  Unterschiede, 
sondern  auch  eigenartige  Berührungspunkte  zwischen  der  philoso- 
phischen und  mathematischen  Erkenntnis.  Bei  beiden  findet  nämlich 
ein  Unterschied  zwischen  der  ersten  Konzeption,  dem  ursprüng- 
lichen Erleben  einer  neuen  Erkenntnis,  und  ihrer  späteren  Darstellung 
statt;  auch  in  der  Mathematik,  besonders  in  der  Geometrie,  hat  das 
„Sollte  es  nicht  so  sein?",  die  durch  die  Analogie  geleitete  Vermutung 
als  heuristisches  Prinzip  seine  Stelle.  Auch  hier  ist  das  Gedanken- 
experimentieren und  -probieren  nicht  ausgeschlossen,  aber  es  hat  für 
die  endliche  Gestaltung  dieser  Wissenschaft  eine  viel  mehr  unter- 
geordnete Bedeutung  als  für  die  der  Philosophie.  Hiermit  kommen 
wir  auf  die  wesentlichen  Unterschiede  zwischen  beiden  zu  sprechen. 
Die  Mathematik  bedarf  nämlich  der  fortwährenden  Bestätigung 
und  Bekräftigung  der  Ergebnisse  ihrer  begrifflichen  Verstandes- 
arbeit durch  die  Anschauung;  bleibt  diese  einmal  aus,  dann  stockt 
das  ganze  Unternehmen.  Das  fehlt  aber  der  Philosophie.  Sie  beweist 
durch  Begriffe,  verwendet  dagegen  nicht  Anschauungen  als  Normen. 
Auch  sie  hat  auf  Schritt  und  Tritt  das  Bedürfnis,  ihren  Begriffen 
Anschauung  zu  geben,  aber  diese  Konstruktionen  —  Schemata  durch 
die  Einbildungskraft  nennt  sie  Kant  —  sind  von  denen  der  Mathematik 
wesentlich  unterschieden:  es  sind  nämlich  nur  Veranschaulichungen, 
die  selbst  der  fortwährenden  Bestätigung  bedürfen,  selbst  aber  keine 
sind.  Hierdurch  werden  einem  Begriffe  schematisch  Gegenstände 
gegeben,  die  aber  den  Begriff  nie  adäquat  repräsentieren.  Zum  Begriff 
des  Dreiecks  läßt  sich  gar  kein  adäquater  Einzelgegenstand  geben; 
denn  jener  geht  sowohl  auf  spitz-,  als  auf  stumpf-,  als  auf  recht- 
winklige Dreiecke.  Ein  gegebenes  Dreieck  muß  aber  immer  eins  von 
diesen  dreien  sein.  Das  Schema  eines  Begriffs,  aus  dem  Anschauungs- 
bedürfnis  der  Philosophie  heraus  geboren,  ist  also  immer  eine 
inadäquate  Vergegenständlichung,  sehr  zum  Unterschiede  der 
Konstruktionen  der  Mathematik.  Diese  dagegen  zeigt  etwas  immer 
nur  von  konstruierten  Einzeldingen;  sie  geht  z.  B.  die  Glieder  der 
erwähnten  Disjunktion  durch  und  beweist  von  allen  drei  Arten  von 
Dreiecken,  daß  ihre  Winkel  zwei  rechte  betragen.  Dann  gelangt 
sie  zu  der  Aufstellung,  es  liege  im  Begriff  des  Dreiecks,  diese  Winkel- 
summe zu  haben.    In  der  Mathematik  gehen  Anschauungen  normativ 


Die  Grundlehre  Spinozas.  255 

den  Begriffsbildungen  vorher;  in  der  Philosophie  dagegen  folgen  die 
Schemata  der  Einbildungskraft  den  Begriffen  nach. 

Die  Mathematik  schränkt  ihren  Blick  auf  das  weite  Reich  der 
Quantitäten  ein,  als  das  anschaulich  Bestimmbare.  Nur  der  Begriffs- 
gegenstand hat  Quantität,  nicht  der  reine  Begriff.  Also  ist  die  Haupt- 
kategorie, die  in  dem  Gebiete  des  Anschaulichgegenständlichen  An- 
wendung findet,  die  Quantität.  Das  wird  man  aus  dem  vorigen  ohne 
weiteres  verstehen:  war  doch  ausführlich  von  der  gegenständlichen 
Unbestimmtheit  des  Begriffs  die  Rede.  Indessen  bedarf  der  Satz, 
daß  sich  die  Mathematik  mit  Quantitäten,  den  reinen  Raumgrößen 
und  Zahlen,  beschäftige,  einer  Richtigstellung:  Quantität  und  Qualität 
sind  nämlich  zwei  sich  ausschließende  Kategorien,  aber  nicht  das 
Quantitative  (Quantum)  und  das  Qualitative.  Am  Quantitativen  ist 
nämlich  ein  qualitatives  Moment  und  umgekehrt 1).  Deswegen  ist 
es  nicht  richtig  zu  sagen,  daß  die  Mathematik  dadurch,  daß  sie  auf 
Quanta  reflektiert  (ein  wahrer  Satz),  von  aller  Qualität  abstrahiere. 
Die  Mathematik  sucht  vielmehr  vom  Quantitativen  aus  das  Qualitative 
zu  erreichen,  und  ihre  erstaunliche  Fruchtbarkeit  und  Anwendbarkeit 
auf  Erfahrungsinhalte  beruht  zum  guten  Teil  auf  dieser  quantitativen 
Konstruktion  des  Qualitativen.  Aber  auch  hier  wird  sie  dem  oben 
geschilderten  Verfahren  nicht  untreu,  d.  h.  sie  konstruiert  rein  mit 
gleichartigen  Größen. 

Deshalb  führt  also  in  der  Philosophie  eine  ganz  andere  Methode 
zum  Ziel  als  in  der  Mathematik,  und  sehr  zu  Unrecht  haben  viele 
Philosophen  in  dem  Verfahren  der  Mathematik,  deren  Vorteile  aus 
ihrer  Eingeschränktheit  stammen,  ein  in  der  Philosophie  zu  erstreben- 
des methodisches  Ideal  erblickt. 

Schließlich  gibt  es  auch  noch  einen  ganz  speziellen  Grund,  der 
die  geometrische  Methode  gerade  für  das  System  Spinozas  noch  be- 
sonders ungeeignet  macht:  Die  Geometrie  abstrahiert  nämlich  bei 
ihren  Konstruktionen,  die  zur  Erzeugung  von  reinen  Raumgrößen 
führen,  von  aller  empirischen  Substanz.  Was  soll  nun  also  ein  Denken 
mit  dieser  Methode  anfangen,  das  gerade  umgekehrt  auf  diese  empirische 


J)  Kant  sieht  in  dem  Grundsatze  des  reinen  Verstandes,  daß  alle  Er- 
scheinung intensive  Größe  habe,  eine  Erkenntnis,  dadurch  wir  etwas  vom 
Erfahrungsinhalt  selbst  apriori  antizipieren  und  kann  sich  nicht  genug  übet 
diese  Erscheinung  wundern. 


256  Samuel, 

Substanz  reflektiert,  um  sie  durch  spekulative  Umbildung  zum  Prinzip 
eines  philosophischen  Systems  zu  machen! 

Was  nun  die  Darstellung  des  Substanzprinzips  Spinozas  betrifft, 
so  werden  wir  zuerst  über  den  Begriff  der  Substanz  handeln,  sodann 
über  ihre  Eigenschaften  (was  sie  ist),  endlich  über  die  Art  der  Gesetz- 
lichkeit ihrer  Natur  (wie  sie  wirkt).  Auf  die  Darstellung  sollte  die 
Kritik  folgen;  diese  fügen  wir  aber,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden, 
an  den  geeigneten  Stellen  ein. 

Es  existiert  eine  Substanz,  deren  wesentliche  Bestimmungen 
der  Verstand  als  Attribute  erkennt.  Aber  diese  faßt  von  den  Inhalten 
nur  zweier  Attribute  etwas  auf,  die  Denken  und  Ausdehnung  heißen; 
im  übrigen  aber  weiß  er  nur.  daß  die  Substanz  unendlich  viele  Attribute 
besitzen  müsse.  Denn  sie  muß  als  ein  Wesen  von  höchster  Realität 
gedacht  werden,  und  je  mehr  Wesenheit  eine  Substanz  hat,  desto 
mehr  Realität  besitzt  sie.  Deshalb  kann  auch  nicht  eine  zweite  Substanz 
außer  ihr  gedacht  werden,  denn  das  Attribut,  durch  das  sie  dem  Ver- 
stände als  ein  in  sich  Bestehendes  und  ein  durch  sich  selbst  zu  Be- 
greifendes erscheint,  müßte  ja  schon  in  der  Substanz  von  unendlich 
vielen  Attributen  enthalten  sein,  dann  existierte  aber  jene  in  dieser. 
Denn  wohl  kann  eine  Substanz  mehrere  Attribute  haben,  nicht  aber 
können  zwei  Substanzen  dasselbe  Attribut  besitzen,  weil  sie  dann 
nichts  hätten,  wodurch  der  Begriff  der  einen  vom  Begriff  der  andern 
verschieden  wäre.  Die  Substanz,  unter  dem  Attribut  der  Ausdehnung 
betrachtet,  die  Welt,  ist  also  ganz  in  der  Substanz  von  unendlich 
vielen  Attributen,  in  Gott,  aber  umgekehrt  ist  Gott  nur  teilweise 
in  der  Welt. 

Jede  Substanz  ist  unteilbar,  auch  die  körperliche;  oder  besser 
ausgedrückt,  auch  unter  dem  Attribut  der  Ausdehnung,  des  Teilbaren 
selbst,  betrachtet,  ist  die  eine  Substanz,  die  es  ja  nur  gibt,  unteilbar. 
Das  endliche  teilbare  Ding  ist  also  nur  eine  Modifikation  des  Attributs 
der  Ausdehnung,  also  eine  rein  räumliche  Synthese.  Hier  erkennt 
man  den  Einfluß  Descartes.  Die  Teilbarkeit  betrifft  deshalb  nicht  die 
Substanz  selbst.  Ebenso  ist  die  Substanz  als  solche  ewig,  unendlich, 
frei  von  jeglicher  Bewegung  und  Veränderung,  das  Eine  des  Parmenides, 
auch  unter  dem  Attribut  der  Ausdehnung  betrachtet.  Denn  alle 
gegenteiligen  Prädikate  betreffen  nur  dieses  Attribut  (und  die  andern 
Attribute)  und  seine  Modifikationen.  So  ist  sie  beispielsweise  unend- 
lich; denn  wäre  sie  endlich,  so  müßte  es  nach  Definition  2  des  ersten 


Die  Grundlehre  Spinozas.  257 

Teiles  etwas  geben,  was  sie  begrenzte.  Dann  wäre  aber  nicht  dieses 
Endliche  die  Substanz,  sondern  dasjenige,  was  ihm  und  dem  Begrenzen- 
den zugrunde  läge.  Der  regressus  in  infinitum,  der  hier  entsteht, 
hat  den  Begriff  der  unendlichen  Substanz  zur  Grenze;  ihr  kann  keine 
teilweise  Verneinung  zukommen.  Das  Wasser,  als  dieser  bestimmte 
Körper,  ist  endlich,  teilbar,  vergänglich  und  veränderlich.  Als  Substanz 
aber  ist  das  Wasser  dasselbe,  was  jeder  andere  Körper  ist,  dasselbe 
auch,  was  dasjenige  ist,  welches  beharrt,  während  das  Wasser  ent- 
steht und  vergeht,  woraus  es  entsteht  und  worin  es  vergeht;  dieses 
also  entsteht  und  vergeht  nicht,  ist  ewig  unvergänglich.  Auch  teilbar 
ist  das  Wasser,  aber  nur  als  Wasser.  Denn  dem  geteilten  Wasser 
liegt  dasselbe  zugrunde,  wie  dem  ungeteilten,  dieses  ist  also  nicht  ge- 
teilt, sondern  unteilbar.  In  alles  endliche  Vergängliche  so  die  wahren 
Prädikate  der  Substanz  hineinzuschauen  —  darin  besteht  die  Be- 
trachtung aller  Dinge  sub  specie  aeternitatis. 

Halten  wir  hier  einen  Augenblick  inne.  Zunächst  sehen  wir, 
daß  wir  es  hier  mit  einer  ganz  und  gar  transzendenten  Konstruktion 
in  Begriffen  der  spekulativen  Vernunft  zu  tun  haben.  Die  Frage, 
wie  der  Verstand  etwas  derartiges  überhaupt  von  Substanzen  wissen 
kann,  hat  sich  Spinoza  weder  aufgeworfen,  noch  aufwerfen  können. 
Denn  von  seinem  Standpunkt  aus  ist  sie  wesentlich  unbeantwortbar. 
Hier  stoßen  wir  auf  den  Fehler,  der  dem  System  Spinozas  notwendig 
als  einer  vorkantischen  Spekulation  anhaftet. 

Kant  hat  zuerst  die  Frage  nach  dem  Verhältnis  von  Sein  und 
Erkennen  auf  eine  neue  Grundlage  gestellt 2),  er  hat  den  Lehrsatz 


2)  Dieser  Ausspruch  soll  nur  eine  allgemeine,  abstrakte  Formel  sein. 
Von  hier  bis  zur  im  Einzelnen  haltbaren  Ausführung  des  Gedankens  ist  noch 
ein  weiter  Weg.  Mit  der  ersten  Aufstellung  dieses  neuen  Standpunktes  ist 
noch  lange  nicht  eine  befriedigende,  allseitige,  in  sich  konsequente  Durch- 
führung desselben  gegeben,  und  nicht  nur  hat  die  Kantsche  Position  in  halben 
Köpfen,  den  „Kantianern",  von  denen  Reinhold  noch  der  beste  unter  den 
schlechten  ist,  erbärmliche  kritisch-dogmatische  Zwittergebilde  erzeugt, 
gegen  die  der  schlechte  und  rechte  Dogmatismus  noch  etwas  Erträgliches  dar- 
stellt, sondern  auch  der  große  Urheber  dieses  Standpunktes  ist  selbstverständ- 
lich nicht  in  allen  Einzelheiten  der  Durchführung  des  neu  Erkannten  glücklich 
gewesen.  Es  sei  nur  an  den  Streit  ums  Ding  an  sich  erinnert.  Aber  daß  Kant 
zuerst  den  Mut  gehabt  hat,  in  der  Erkenntnisfrage  eine  kopernikanische  Um- 
kehrung herbeizuführen,  bleibt  sein  ewiges  Verdienst  und  auch  der  sicherste 
Stützpunkt,  an  dem  die  heutigen  systemat isclien  Bemühungen  der  Philosophie 
neu  anknüpfen  können. 


258  Samuel, 

Spinozas,  daß  der  Verstand  nicht  zur  naturenden,  sondern  zur  gena- 
usten Natur  zu  rechnen  sei,  umgekehrt.  Raum  und  Zeit  als  An- 
schauungen, die  Kategorien  als  Begriffe,  die  Grundsätze  als  das 
zwischen  beiden  Vermittelnde,  endlich  die  eine  höchste  Einheit  der 
Erkenntnis  anstrebenden,  wenn  auch  nicht  erreichenden  Ideen  der 
Vernunft  hat  Kant  zuerst  in  umfassender  Weise  als  die  Bausteine  der 
ganzen  Erfahrungswelt  nachgewiesen.  Die  Bedingungen  der  Erfahrung 
als  Erkenntnis  sind  zugleich  die  Bedingungen  der  Gegenstände  dieser 
Erfahrung.  Nicht  mehr  sind  alle  Erkenntnisgebilde  bloße  Wirkungen 
von  transzendent  außer  uns  bestehenden  Dingen  an  sich  (welches 
„Außer  uns"  eine  Unbegreiflichkeit  einschließt,  wie  Berkeley  einsah) 
auf  ein  passiv  hinnehmendes  Subjekt,  sondern  die  Spontaneität  des 
Geistes  beteiligt  sich  selbst  an  dem  Aufbau  der  Welt  der  Objekte, 
die  allerdings  keine  Dinge  an  sich,  sondern  nur  Erscheinungen  ent- 
hält; dies  ist  die  Machtverengerung,  die  die  Erkenntniskraft  gewisser- 
maßen als  Ausgleich  jener  Machterweiterung  erfährt,  nämlich  auf  die 
Leistung  in  der  Erscheinungswelt  eingeschränkt  zu  sein  und  nichts 
außerhalb  der  Grenzen  unserer  Erfahrung  an  selbständiger,  stoff- 
freier Erkenntnis  schaffen  zu  können. 

Offenbar  fällt  nun  auch  Spinozas  transzendente  Substanzkon- 
struktion dem  Spruch  der  Kantschen  Kritik  anheim,  der  verbietet, 
ein  den  Verstand  überragendes  an  sich  Seiendes,  auf  das  die  Form  des 
Verstandes  zwar  Anweisung  gibt,  als  ein  erforschbares  Reales  zu 
setzen.  Tut  er  das  doch,  dann  ist  alles  scheinbar  von  dem  transzen- 
denten Gegenstande,  von  dem  Ding  an  sich  Erforschte  nichts  als 
Erschleichung,  deren  Inhalt  aus  der  Erscheinungswelt  stammt.  Die 
Substanz  mit  unendlich  vielen  Attributen  ist  nun  das  Ding  an  sich 
Spinozas.  Das  sicherste  Anzeichen,  daß  wir  hier  eine  unreale  Begriffs- 
konstruktion vor  uns  haben,  besteht  darin,  daß,  wenn  eine  so  be- 
schaffene Substanz  überhaupt  existiert,  das,  was  Spinoza  von  ihr 
ausmacht,  ja  wahr  sein  könnte,  daß  aber  durch  seine  Begriffs- 
entwicklung gar  nicht  bewiesen  wird,  ob  überhaupt  so  etwas  wie  eine 
Substanz  von  unendlich  vielen  Attributen  existiert,  sobald  man  die 
Existenz  ursprünglich  nicht  als  Prädikat,  sondern  der  Wahrheit 
entsprechend,  als  absolute  Position  auffaßt. 

Deshalb  hatte  Kant  seine  synthetische  Beziehung  auf  mögliche 
Erfahrung  nötig.  Der  Dogmatismus  allerdings  ersetzt  diese  Lücke 
durch   einen   ontologischen   Beweis   der   Existenz   der   Gegenstände 


Die  Grundlehre  Spinozas.  259 

seiner  Begriffskonstruktionen,  was  bei  Spinoza  im  7.  Lehrsatz  des 
ersten  Teils  geschieht.  Aber  dieser  Beweis  ist  allemal  ein  offenbares 
Sophisma.  Nach  seinen  Begriffen  könnte  sein  Gegenstand  ebenso  gut 
sein  wie  nicht  sein.  Gerade  dadurch,  daß  der  Dogmatismus  die  Er- 
kenntnis des  Seienden  an  sich  erstrebt,  verstrickt  er  sich  in  leere 
Begriffsdichtung  3). 

Aber  nicht  nur  ein  dem  Spinozistisehen  System  mit  andern  seiner 
Zeit  notwendig  gemeinsamer  Fehler  wird  durch  die  Anwendung 
Kantscher  Kritik  auf  jenes  klargestellt,  sondern  auch  die  ihm  eigen- 
tümlichen Unwahrheiten.  Sein  Substanzbegriff  nötigte  ihn,  unendlich 
viele  Attribute  anzunehmen,  aus  denen  unendlich  vieles  folge,  ohne 
aber  daß  eine  Modifikation  eines  Attributs  auf  die  Modifikation  eines 
andern  Attributs  einzuwirken  vermöchte,  denn  das  Bindende  der 
Attribute  sollte  nur  die  Substanz  sein.  Da  aber  die  Modifikationen 
der  verschiedenen  Attribute  an  sich  ein  und  dasselbe  Ding  4),  eben  die 


3)  Sollen  wir  den  Substanzbegriff  aufgeben,  dessen  Fassung  mit  solchen 
Schwierigkeiten  verbunden  ist?  Das  wäre  eine  Lehre,  die  die  Philosophie 
Spinozas  der  heutigen  zu  geben  vermöchte.  In  der  Tat  besteht  eine  Richtung 
des  Neukantianismus,  die  den  Relationsbegriff  an  die  Stelle  des  Substanz- 
begriffs setzen  will.  Hierzu  gehört  auch  das  Werk  Cassirers  über  das  Erkennt- 
nisproblem in  der  Philosophie  und  Wissenschaft  der  neueren  Zeit,  über  dessen 
ersten  Band  eine  Besprechung  von  mir  in  der  Zeitschrift  für  Philosophie  und 
philosophische  Kritik  erschienen  ist.  Dort  habe  ich  darauf  hingewiesen, 
daß  gar  keine  Notwendigkeit  für  diesen  Ersatz  eines  Substanzbegriffs  für  eine 
nachkantische  Philosophie  besteht. 

4)  Man  hat  die  Frage  aufgeworfen,  ob  die  Attribute  nur  verschieden 
vom  Standpunkt  der  Betrachtungsweise  des  endlichen  Verstandes,  oder  real 
in  Gott  verschieden  und  unterschieden  seien.  Diese  Frage  ist  aber  durch  die 
Mittel  des  Systems  Spinozas  ganz  und  gar  nicht  beantwortbar.  Daraus,  daß 
wir  selbst  ein  Modus  des  Attributs  des  Denkens  in  Gott  sind,  dieses  Attribut 
unmittelbar  durch  unsere  Selbstheit  von  andern  unterscheiden,  folgt  nicht, 
daß  auch  die  Wesenheiten  in  Gott  nur  getrennt  existieren  können  und  daraus, 
daß  wir  alles  von  unserem  subjektiven  Standpunkt  aus  betrachten,  nicht,  daß 
mit  ihm  auch  die  Unterschiede  zwischen  den  Attributen  verschwinden,  da 
auch  dann,  wenn  jenes  stattfand,  die  Wesenheiten  getrennt  in  Gott  bestehen 
können.  Entscheidet  man  sich  für  die  erste  Auffassung,  dann  kann  man  die 
Gründe  nur  aus  der  Erseheinungswelt  hernehmen,  indem  man  etwa  sagt,  jede 
Einheit  setze  eine  Vielheit  voraus,  an  der  sie  ihre  Funktion  erst  vollziehe. 
Die  andere  Annahme,  die  Verschiedenheit  der  Attribute  sei  nur  ein  Schein, 
der  die  Modifikation  des  göttlichen  Denkens,  die  wir  nur  sind,  täusche,  un- 
abhängig von   unserer  Betrachtungsweise  existiere  nur  ein  unterschiedloses 


260  Samuel, 

Substanz  sein  sollten,  so  mußte  er,  mit  gleichzeitiger  Berücksichtigung 
jener  Wirkungslosigkeit  der  Attribute  aufeinander,  in  den  Substanz- 
attributen einen  durchgängigen  Parallelismus  annehmen.  Die  Ord- 
nung und  Verknüpfung  der  idealen  Dinge  ist  dieselbe  wie  die  Ordnung 
und  Verknüpfung  der  realen  Dinge.  Mit  der  wirklichen  Durchführung 
dieses  Satzes  und  Parallelismus  sah  es  aber  schlimm  aus,  und  es  konnte 
gar  nicht  anders  kommen,  als  daß  bei  der  unendlichen  Verschieden- 
artigkeit der  beiden  Gebiete  des  objektiv  Seienden  und  der  Welt  des 
Geistes  zwar  einiges  gefunden  wurde,  was  in  ein  System  des  Parallelis- 
mus  zu  passen  schien  —  und  dies  fand  in  der  naiven  Auffassung  der 
Wahrheit  als  der  Übereinstimmung  eines  Begriffes  mit  seinem  Gegen- 
stande seinen  Stützpunkt  —  anderseits  aber  auch  vieles,  was  gar  nicht 
zu  einander  stimmen  wollte.  Es  blieb  dann  nichts  weiter  übrig,  dieses 
als  Schein  zu  erklären,  oder  umzudeuten.  Soweit  dies  aber  nicht  ge- 
lang, entstanden  innere  Widersprüche  und  eine  Erscheinung,  die 
man  mit  Begriffswechsel  bezeichnen  kann.  Endlich  konnte  Spinoza 
sich  auf  jene  Grundauffassung  von  dem  Verhältnis  der  Attribute 
nur  da  berufen,  wo  es  für  seine  Auffassung  ersprießlich  war,  das  übrige 
aber,  was  aus  der  Annahme  eines  Parallelismus  zwischen  Geistigem 
und  Objektivem  ebenso  notwendig  folgt,  im  Dunkeln  lassen,  was 
umso  eher  gelingen  konnte,  als  Spinoza  gar  kein  methodologisches 
Regulativ  für  die  Anwendung  seines  Grundsatzes  aufstellt. 

Aus  dem  hier  Dargelegten  sind  wie  aus  einem  Keime  die  haupt- 
sächlichsten Fehler  des  Systems  Spinozas  zu  entwickeln.  In  eigen- 
artiger Weise  werden  sich  uns  mit  dieser  Darlegung  die  Resultate 
der  Kantschen  Kritik  verbinden.  Zu  demjenigen,  was  Spinoza,  um 
die  Attribute  des  Denkens  und  der  Ausdehnung  in  Parallele  setzen 


Eines,  hat  auch  ihre  Schwierigkeit.  Denn  dann  läßt  sich  die  Möglichkeit,  wie 
es  zu  einem  solchen  Schein  kommen  könne,  gar  nicht  ausmachen.  Man  sieht 
leicht,  daß  derartige  Unbestimmtheiten  dem  transzendenten  Dogmatismus 
notwendig  anhaften ;  denn  woher  sollten  auch  die  Mittel  genommen  werden,  sie 
abzustellen  ?  Von  der  Art,  wie  die  Substanz,  insofern  sie  Substanz  ist,  die 
Attribute  in  sich  enthält,  können  wir  überhaupt  nichts  wissen.  Läßt  man 
aber  mit  Kant  nur  eine  transzendentale  Einheit  der  Apperzeption  als  höchste 
zu,  so  verschwindet  die  Unbestimmtheit  augenblicklich.  Denn  die  Frage,  ob 
die  Vielheit  des  reinen  Mannigfaltigen  real  in  ihr  unterschieden  sei,  fällt,  da 
die  Einheit  der  transzendentalen  Apperzeption  eine  Erkenntniseinheit  ist, 
mit  der  andern,  ob  dieser  Unterschied  nur  vom  subjektiven  Standpunkt  aus 
bestehe,  zusammen. 


Die  Grundlehre  »Spinozas.  261 

zu  können,  so  daß  alles,  was  in  dem  einen  enthalten  ist,  in  dem  andern 
auffindbar  ist,  als  Schein  erklären  mußte,  gehört  die  Realität  der 
Begriffe  des  Zweckes,  der  Schönheit,  des  Guten  und  Bösen  und  ähn- 
licher. Im  Attribut  der  Ausdehnung,  der  rein  materiellen  Welt,  sind 
derartige  Postulate  nicht  auffindbar;  also  wäre  mit  ihrer  sich  auf 
die  geistige  AVeit  beschränkenden  Realität  der  Parallelismus  verletzt. 
Also  existieren  jene  Begriffe  gar  nicht  in  Gott.  Aber  sie  sind  doch 
auch  Modifikationen  des  Attributs  des  Denkens  und  heischen  als 
solche  dieselbe  Berücksichtigung  wie  der  Kausalbegriff ,  der  in  Spinozas 
System  eine  ganz  andere  Stelle  einnimmt.  Des  ganzen  Reichtums 
an  unmittelbarem  Besitz  des  Geistes,  den  die  neuere  Philosophie 
als  apriorische  Elemente  gerade  in  jenen  Begriffen  nachwies,  muß 
sich  also  Spinoza  begeben.  Den  begrifflichen  Inhalt,  der  ihm  für 
die  Erforschung  seines  transzendenten  Gegenstandes  zur  Verfügung 
stand,  benutzte  er  also  nur  teilweise.  Die  köstlichen  Blüten,  die  ganz 
dem  Garten  des  Geistes  angehören,  trugen  ihm  keine  Früchte.  Er 
mußte  sie  wie  Unkraut  ausjäten,  damit  Geist  und  Natur  einander 
angeglichen  und  sein  Parallelismus  möglich  würde.  Daher  kommen 
diese  naturalistischen  Züge  in  sein  System  hinein,  das  doch  der  ur- 
sprünglichen Anlage  nach  das  gerade  Gegenteil  des  Naturalismus 
ist,  Akosmismus,  wie  Hegel  treffend  die  Kehrseite  des  Pantheismus 
benennt 5). 

Gegen  diejenigen,  die  nur  einen  äußeren  Zweck  kennen,  und  alles 
nach  dem  engen  Gesichtspunkte  des  Nutzens  für  ihre  Einzelpersönlich- 
keit  betrachten,  ist  Spinoza  mit  seiner  Einwendung  gegen  den  Zweck- 
begriff vollständig  im  Recht,  Diese  wollen  aber  auch  den  Zweckbegriff 
in  einer  Sphäre  zur  Anwendung  bringen,  wo  der  Kausalbegriff  fast 


5)  Ein  anderer  falscher  Abstraktismus  Spinozas  zeigt  sich  in  seiner 
Verwechslung  des  kontret  und  abstrakt  Gemeinschaftlichen.  Jenes  kann  nur 
die  Substanz  sein,  das  alles  in  sich  Fassende;  dieses  dagegen,  wodurch  die 
adäquate  Erkenntnis  in  Begriffen  möglich  wird,  ist  das  Gemeinschaftliche 
von  Attributmodifikationen.  Das  beiderseitige  Vorkommen  des  Merkmals  des 
Gemeinschaftlichen  bildet  für  Spinoza  nun  den  Mittelbegriff  zum  Schluß  auf 
die  adäquate  Erkenntnis,  die  wir  von  Gott  haben  sollen.  Aber  dieses  Merkma  I 
kommt  in  zwei  ganz  verschiedenen  Begriffen  vor,  Spinoza  begeht  also  den 
Felder  der  quaternio  terminorum,  und  diese  Abstraktion  einer  Abstraktion 
ist  weit  davon  entfernt,  eine  adäquate  Erkenntnis  Gottes  sein  zu  können. 
Die  Spuren  des  Weges,  der  zur  Abstellung  dieses  .Mangels  führt,  halten  in  dvr 
neueren  Zeit  nicht  Kant,  sondern  Hegel  und  VA.  v.  Hartmann  verfolgt. 
Archiv  tür  Geschieht*-  der  Philosophie.    XXVI.  2.  17 


262  Samuel, 

alleiniges  Recht  hat.  Spinoza  verfällt  aber  in  den  umgekehrten  Fehler, 
mit  dem  Begriff  des  Zwecks  überhaupt  auch  den  höheren  Begriff 
des  inneren  Zwecks  als  Scheinbildung  zu  verwerfen.  Es  bliebe  dann 
nichts  anderes  übrig,  als  da  den  Kausalbegriff  einzuführen,  wo  der 
Zweckbegriff  fehlerfreie  Anwendung  findet:  in  den  Geisteswissen- 
schaften. In  der  Geschichte  z.  B.  wird  die  Kategorie  des  Zweckes 
fortwährend  angewandt  und  ohne  sie  wäre  jene  gar  nicht  möglich. 

Der  erste  Fehler,  der  Spinoza  eigentümlich  ist,  besteht  also  in  der 
Einschränkung  des  Geistes,  Ideellen  auf  das  Naturhafte  6).  Dieser 
Fehler  ist  aber  mit  dem  andern  notwendig  verknüpft,  daß  als  Maß- 
stab, nach  dem  die  Art  der  Gesetzlichkeit  der  Substanz  oder  Gottes  zu 
begreifen  ist,  die  reine  Naturgesetzlichkeit,  d.  h.  das  Kausalgesetz, 
angenommen  wird.  In  diesem  Sinne  wird  dann  die  Natur  Gottes 
verstanden.  Das  Kausalgesetz  erkennt  Spinoza  ganz  an:  Alle  Modi- 
fikationen der  Ausdehnung,  alle  endlichen  Einzeldinge  weisen  auf 
eine  unendliche  Reihe  von  Ursachen  hin,  durch  die  sie  hervorgebracht 
sind.  Im  Attribut  des  Denkens  muß  nach  dem  Prinzip  des  Parallelis- 
mus etwas  Entsprechendes  aufzufinden  sein:  es  ist  das  Gesetz  von 
Grund  und  Folge,  nach  welchem  die  Einzelgedanken  ebenso  not- 
wendig auseinander  folgen  wie  die  Einzeldinge  nach  dem  Kausalgesetz.. 
Der  letzte  Grund  aller  dieser  Modifikationen  endlich  ist  nicht  das 
Attribut,  sondern  die  Substanz,  Gott,  aus  dessen  Natur  alles  not- 
wendig folgt.  Hieraus  ergibt  sich  zunächst  die  Unfreiheit  des 
menschlichen  Willens,  der  mit  dem  Verstände  identisch  ist:  und 
dieser  ist  ja  nichts  anderes  als  eine  endliche  Modifikation  des 
Attributs  des  Denkens. 

Ferner  ist  Gott  zwar  in  dem  Sinne  frei,  als  nichts  außer  ihm 
Wirkendes  existiert;   aber  diese  Art  von  Freiheit  können  wir  auch 


6)  Der  Philosoph,  der  diesen  Mangel  vermeidet,  der  aber  mit  der  ent- 
gegengesetzten Einseitigkeit  den  Inhalt  des  Geistes  für  sein  System  verwertet, 
ist  Hegel.  Sein  Prinzip  ist  die  Idee,  der  Geist,  dessen  Wesen  ihm  in  der  Freiheit 
besteht.  Trotz  dieses  verschiedenartigen  Systemgefüges  haben  beide  das  Ge- 
meinsame, daß  ihnen  das  Problem  der  objektiven  Existenz  ungelöst  bleibt. 
Spinoza  kommt  zu  einer  bloßen  Konstruktion  in  Begriffen  über  das  Seiende, 
von  dem  es  aber  zweifelhaft  bleibt,  ob  es  so  existiert.  Bei  Hegel  bleibt  diese 
Existenz  nur  eine  Bestimmtheit  des  Geistes,  der  ,,sich  zur  Natur,  seinem 
Andern,  entläßt",  es  aber,  wie  wir  hinzufügen  können,  nie  erreicht.  Der  Grund 
dieser  Übereinstimmung  liegt  darin,  daß  beide  transzendent  spekulieren. 


Die  Grundlehre  Spinozas.  263 

der  Natur  zuschreiben,  wenn  wir  sie  als  unabhängig  Wirkendes  denken. 
Das  entspricht  aber  nicht  dem  Begriff,  den  wir  uns  von  echter  Willens- 
freiheit machen.  Gehört  auch  zu  ihr,  soweit  wir  sie  im  Besitz  von 
Menschen  denken,  nicht  das  Vermögen,  logisch  und  real  Unmögliches 
ausführen  zu  können,  so  doch  im  Reiche  desjenigen,  was  ebensogut 
sein  könnte  wie  nicht  sein  könnte,  d.  h.  was  möglich  ist,  eine 
Freiheit  der  Wahl  zu  besitzen.  Das  sprechen  wir  der  Natur  ab, 
und  Spinoza  muß  es  seinem  Gotte  absprechen.  Dann  besitzt  aber 
Gott  noch  nicht  einmal  Willensfreiheit  im  menschlichen  Sinne. 

Erst  nachdem  Spinoza  das  eigentümliche  des  Geistes  seiner 
unterscheidenden  Bestimmungen  beraubt  hat,  das  Kausalgesetz  zum 
Maßstab  der  Wirkungsart  Gottes  angenommen  hat,  ist  sein  Parallelis- 
mus, wie  er  ihn  willkürlich  faßt  —  denn  es  hätten  ebenso  gut  andere 
Bestandteile  der  Natur  oder  des  Geistes  unter  besserer  Wahrung  der 
Eigentümlichkeiten  des  letzteren  in  Parallele  gesetzt  werden  können 
—  möglich.  Dieser  Parallelismus  stammt  ursprünglich,  wie  schon 
bemerkt,  aus  dem  naiven  Realismus.  Was  aber  die  Bedeutung  seiner 
Spinoza  eigentümlichen  Umbildung  ist,  haben  wir  jetzt  einzusehen. 

Das  kausale  Folgen  des  einen  aus  dem  andern  betrifft  nur  die 
endlichen  Modifikationen  der  Attribute,  nicht  aber  diese  letzteren; 
das  eine  Attribut  wirkt  nicht  auf  das  andere.  Sie  sind  nur  durch 
das  Substanzsein  miteinander  verbunden.  Das  ist  so,  weil  jedes 
Attribut  die  Wesenheit  eines  und  desselben  Dinges,  der  Substanz, 
ist.  Gott  ist  also  der  Grund  eines  ausgedehnten  Einzeldings,  nicht 
insoferne  er  das  Ding  erkennt,  insofern  in  ihm  eine  Idee  des  Dinges 
existiert,  sondern  insofern  ihm  das  Attribut  der  Ausdehnung  zu- 
kommt, aus  dem  unendlich  vieles  auf  unendlich  viele  Weise  folgt. 

Eine  vollständige  Durchbrechung  des  Prinzips  liegt  aber  darin, 
Ideen  von  nicht  existierenden  Dingen  zugeben  zu  müssen.  Die  Möglich- 
keit von  falschen  Ideen  läßt  sich  nach  den  psychologischen  Auf- 
fassungen, die  aus  Spinozas  Grundkonzeption  der  Substanz  folgen, 
auf  die  wir  aber  nicht  näher  einzugehen  brauchen,  noch  dahin  er- 
klären, daß  wir  in  uns  nur  Ideen  von  Affektionen  unseres  Körpers 
haben,  während  wir  mehr  zu  haben  glauben;  ähnlich  die  Möglichkeit 
inadäquater  Ideen  dadurch,  daß  in  Gott  Ideen  sein  können  derartig, 
daß  davon  nur  ein  Teil  unser  ganzes  Denken  füllt.  Aber  bei  dem  Ver- 
such, die  Möglichkeit  von  Ideen  nicht  existierender  Dinge  einzusehen, 
versagen  alle  Hilfsmittel,  die  der  Parallelismus  gewährt.    Zwar  ver- 

17* 


264  Samuel, 

wertet  Spinoza  die  Tatsache  als  Analogie,  daß  es  einen  Komplex 
von  als  bloß  möglich  bestimmten  Existenzen  im  Räume  gibt,  wie 
z.  B.  im  Kreise  die  Rechtecke  aus  den  Schnittstücken  je  zweier  Sehnen 
nur  der  Möglichkeit  nach  existieren,  solange  dieses  Sehnenpaar  noch 
nicht  gezogen  ist.  So  sollen  auch  die  Ideen  von  nichtexistierenden 
Dingen  im  Denken  existieren.  Hierauf  ist  zu  sagen,  daß  die  Erschei- 
nung eines  Komplexes  bloß  möglicher  Existenzen  im  Räume  nur  da- 
durch möglich  wird,  daß  der  Raum  selbst  schon  eine  Erkenntnisart, 
und  zwar  eine  Anschauung  ist.  Das  Spinozistische  Attribut  der  Aus- 
dehnung —  der  reine  Raum  —  gehört  also  selbst,  wie  Kant  nachge- 
wiesen hat,  zum  Attribut  des  Denkens  im  weiteren  Sinne,  reicht 
gar  nicht  an  das  Sein  an  sich  heran ;  und  nur  hierdurch  ist  der  Parallelis- 
mus  Spinozas,  soweit  er  überhaupt  gelingt,  möglich.  Soweit  er  aber 
nicht  gelingt,  deutet  er  auf  die  ungeheure  Verschiedenheit  von  Begriff 
und  Anschauung  hin,  und  aus  dieser  läßt  sich  sehr  genau  jenes  Miß- 
lingen deduzieren.  Wir  kommen  also  zu  dem  überraschenden  Resultat, 
daß  der  Parallelismus  Spinozas,  durch  den  er  das  Denken  und  das 
Sein  der  Objekte  in  Beziehung  setzen  will,  gerade  nur  soweit  gelingt, 
als  eine  solche  Beziehung  gar  nicht  vorhanden  ist,  als  aus  dem  Attribut 
des  Denkens  gar  nicht  herausgetreten  wird,  als  dieses  jenes  vielmehr 
konstituiert. 

Aber  wir  wollen  das  jetzt  Widerlegte  Spinoza  einmal  zugeben. 
Dann  zeigt  sich  noch  Eigentümlicheres.  Zugegeben  also,  daß  der 
bloß  möglichen  Existenz,  der  Existenz  eines  Dinges,  insofern  es  bloß  in 
dem  Attribut  der  Ausdehnung  einbegriffen  ist,  nicht  aber  Dauer 
besitzt,  die  ebenfalls  bloß  mögliche,  nur  in  dem  Attribut  des 
Denkens  enthaltene  Existenz  der  Idee  entspricht  und  der  wirk- 
lichen Existenz  eine  wirkliche  Idee,  die  aber  außerdem  natürlich 
die  Existenz  ihres  Gegenstandes,  weil  er  existiert,  als  begriffliches 
Merkmal  enthält,  dann  ist  bis  jetzt  der  Parallelismus  allerdings 
streng  gewahrt.  Nun  ist  aber  auch  eine  wirkliche  Idee  möglich, 
ohne  daß  sie  die  Existenz  ihres  Gegenstandes  einschließt;  diese  Be- 
schaffenheit hat  nämlich  jede  wirkliche,  einzeln  im  Geiste  existierende 
Idee  eines  nichtexistierenden  Gegenstandes;  diese  Erscheinung  durch- 
bricht auf  alle  Fälle  den  Parallelismus. 

Sagten  wir  aber  nicht,  daß  die  Existenz  gar  nicht  Merkmal  eines 
Begriffs,  sondern  Position  sei?  Natürlich  handelte  es  sich  damals 
um  das,  was  die  Existenz  ursprünglich  ist:  absolute  Position;  über 


Die  Grundlehre  Spinozas.  265 

diese  können  wir  selbstverständlich  auch  einen  Begriff  bilden, 
der  in  einem  andern  Begriff  von  irgendeinem  Gegenstand  enthalten 
sein  kann.  Aber  weil  eben  der  Begriff,  den  wir  uns  von  der  Existenz 
als  absoluter  Position  machten,  die  Wahrheiten  zur  Folge  hat,  erstens 
daß  aus  dem  Enthaltensein  dieses  Merkmals  niemals  auf  die  Existenz 
geschlossen  werden  kann,  da  dann  die  Folge  zum  Grunde  gemacht 
würde,  daß  zweitens  ein  Begriff  wohl  die  Existenz  eines  andern 
Gegenstandes,  niemals  aber  seine  eigene  enthalten  kann,  ist  er  der 
einzig  mögliche. 

Nach  der  naiven  Auffassung  bringt  ein  Gegenstand  seine  Vor- 
stellung im  Subjekt  hervor;  ein  sonderbares  Verhältnis:  denn  dann 
ist  der  Gegenstand  Ursache  der  Existenz  der  Vorstellung,  die  ihrer- 
seits wieder  die  Existenz  des  Gegenstandes,  wenn  auch  nur  als  Folge, 
begrifflich  enthält!  Mit  dem  Gegenstande  ist  also  die  Vorstellung 
zwar  gesetzt,  aber  nicht  ist  sie  umgekehrt  nüt  ihm  aufgehoben.  Aber 
auch  das  Gegenstück  dieser  ganzen  Auffassung  besitzt  die  naive 
Reflexion:  mit  der  Vorstellung  ist  ihr  nicht  notwendig  das  Objekt 
aufgehoben,  sie  kennt  unabhängig  von  allen  Vorstellungen  existierende 
Dinge.  Aber  welch  ein  Unterschied  besteht  zwischen  diesen  beiden 
Aussprüchen!  Gegen  diesen  richten  sich  die  stärksten  und  berech- 
tigsten .Zweifel  der  Philosophen,  auch  Spinozas.  Auch  er  kennt  keine 
unabhängig  existierenden  Objekte,  sondern  von  jedem  gibt  es  not- 
wendig eine  Idee  in  Gott.  Hierin  liegt  sogar  das  innerste  Motiv  zur 
Aufstellung  eines  Parallelismus,  der,  soweit  er  sich  hierin  gründet, 
vollauf  berechtigt  ist.  Aber  der  andere  Ausspruch  der  naiven  Reflexion 
von  der  Möglichkeit  der  Vorstellungen  nicht  existierender  Dinge  ist 
von  unbezweifelbarer  Wahrheit,  und  er  macht  die  Lösung  des  er- 
wähnten Problems  durch  einen  exakten  Parallelismus  unmöglich. 
Will  man  trotzdem  an  ihm  festhalten,  dann  wird  er  so  kompliziert 
und  widerspruchsvoll,  daß  sein  Lösungswert  für  unsere  Frage  nicht 
größer  ist  als  der  der  naiven  Auffassung,  während  er  doch  nur  der 
Versuch  ist,  die  Annahmen  derselben,  die  sich  in  dem  Zustande  einer 
verborgenen,  aber  heftigen  Spannung  befinden,  zu  vereinbaren.  Eine 
Bestätigung  dieser  Darlegung,  wie  die  Systeme  der  neueren  Philosophie 
aus  dem  Gegenstandsproblem  der  naiven  Reflexion  geboren  werden, 
besteht  darin,  daß  dem  Spinoza  mit  der  Aufgreifung  seines  Parallelis- 
mus, eines  immerhin  höheren  Denkmittels  zum  Versuch  der  Lösung 
jener  Frage,  sofort  die  Kausalität  des  Gegenstandes  in  bezug  auf  die 


266  Samuel, 

Vorstellung  zweifelhaft  wird.  Dieses  drückt  sich  in  seiner  Unter- 
scheidung von  Vorstellung  und  Idee  aus:  jene  ist  ihm  eine  bloße 
Wirkung  der  Einbildungskraft,  wobei  die  Dinge  Ursachen  sind;  diese 
wird  ihm  unabhängig  von  den  Objekten  rein  innerlich  erzeugt.  Des- 
halb verwenden  wir  auch  das  Wort  in  diesem  Sinne  in  unserer  Ab- 
handlung. 

Wollte  aber  auch  Spinoza  in  dem  begrifflichen  Nichteingeschlossen- 
sein   der  Existenz   des   Gegenstandes   das   Entsprechende   der  bloß 
möglichen  objektiven  Existenz  erblicken  (wodurch  er  sich  aber  mit 
seiner  vorigen  Auffassung  in  Widerspruch  setzte),  so  bliebe  dann 
eben  das  Verschwinden  der  Idee  als  Einzelnes  im  Denken  und  ihre 
bloß  mögliche  Existenz  in  ihm  übrig,  dem  dann  nichts  im  Attribut 
der  Ausdehnung  entspräche  7).  Auf  alle  Fälle  ist  also  der  Parallelismus 
verletzt.  Dann  käme  aber  noch  das  Wunderbare  hinzu,  daß  dem  Fort- 
fall der  dauernden  Existenz  im  Ausgedehnten  gar  nicht    ein  Gleiches 
im  Denken  entspräche,  sondern  nur  der  Fortfall  des  begriffsinhaltlichen 
Merkmals  in  der  nach  wie  vor  existierenden  Einzelidee.    Das  Gebiet 
der  Begriffe  erweist  sich  eben  wieder  hier  als  viel  beziehungsreicher  als 
das  der  Anschauung  und  des  objektiv  Seienden,  und  da  ist  es  eben 
nicht  möglich,  dieses  Mehr  an  eigentümlichen  Phänomenen  einfach  zu 
vernachlässigen  und  Denken  und  Sein  über  einen  Kamm  zu  scheren. 
Nun  müssen  wir  einige  Einwände  besprechen,  die  sich  im  Sinne 
Spinozas  hiergegen  erheben  lassen.    Das  Haben  der  Idee  eines  nicht- 
existierenden  Dinges  könnte  auf  das  Haben  gewisser  Körperaffektionen 
zurückgeführt  werden,  und  dann  entspräche  auch  dieser  ein  Gegen- 
stand im  Attribut  der  Ausdehnung.  Aber  was  ist  das  frei  Hinzugefügte, 
das  ich  mehr  habe,  wenn  jene  Idee  in  mir  ist?  Auf  diese  Frage  läßt  sich 
im  Sinne  des  Einwandes  keine  Antwort  geben.    Habe  ich  eine  bloße 
Körperaffektion  und  glaube  ich  die  Idee  des  Dinges  zu  haben,  mit  der 
sie  in  Wirkungszusammenhang  stand,  dann  irre  ich  mich,  habe  aber 
nicht  eine  wahre  Idee  eines  nicht  existierenden  Dinges,  die  ein  Be- 
wußtsein darüber,  daß  das  Ding  nicht  vorhanden  ist,  einschließt. 


7)  Die  einzelnen  Attributmodifikationen  folgen  kausal  in  jedem  Attribut 
für  sich  auseinander,  was  ein  reines  Entsprechen  der  Modifikationen  ver- 
schiedener Attribute  mit  begründet.  Wird  deshalb  in  einem  Attribute 
etwas  aufgewiesen,  dem  in  einem  andern  nichts  entspricht,  so  ist  diese  Art  der 
Gesetzlichkeit,  dieses  Zusammen  von  reinem  Entsprechen  und  kausalen  Folgen, 
unmöglich  geworden. 


Die  Grundlehre  Spinozas.  267 

Die  von  innen  nacherzeugte  Körperaffektion  ist  wohl  die  psychologische 
Bedingung  der  betrachteten  Erscheinung,  die  conditio,  sine  qua  non, 
aber  nicht  die  Sache  selbst :  der  Gedanke  an  das  Ding,  das  nicht 
existiert. 

Ein  zweiter  Einwand,  den  einer  erheben  könnte,  wäre:  Aber 
Spinoza  will  ja  die  bekämpfte  Auffassung  nur  als  eine  inadäquate 
Veranschaulichung  gelten  lassen,  denn  er  sagt  (nach  der  Übersetzung 
von  Baensch):  „Sollte  jemand  zur  ausführlicheren  Erläuterung  des 
eben  Gesagten  ein  Beispiel  wünschen,  so  werde  ich  allerdings  kein? 
geben  können,  das  die  Sache,  von  der  ich  hier  rede  und  die  nun  einmal 
einzigartig  ist,  adäquat  erläutert;  doch  werde  ich  mich  bestreben, 
die  Sache,  so  gut  es  geht,  anschaulich  zu  machen."  Ja,  wenn  das  nur 
wahr  wäre !  Aber  man  sollte  gerade  das  Gegenteil  erwarten :  denn  es 
handelt  sich  um  das  Verhältnis  der  Existenzweisen  von  Einzeldingen 
als  Modifikationen  des  Attributs  der  Ausdehnung  und  der  Ideen 
derselben.  In  demjenigen,  was  dem  Zitat  folgt,  hat  es  aber  Spinoza 
genau  mit  demselben  zu  tun:  sogar  mit  rein  mathematischen  Modifi- 
kationen des  Attributs  der  Ausdehnung  und  der  Ideen  hierüber.  Gerade 
in  seinem  Sinne  redet  er  also  von  der  Sache  selbst  und  gar  nicht  in- 
adäquat. Daß  dies  eine  bloße  Veranschaulichung  sein  sollte,  kann  ich 
nicht  gelten  lassen.  Sollte  Spinoza  etwas  von  der  Schwierigkeit  seiner 
Auffassung  gemerkt  haben? 

Auch  daß  Spinoza  seinen  Parallelismussatz  auf  die  Ideen  als 
Objekte  von  andern  Ideen  anwendet,  ist  eine  Durchbrechung  seines 
Prinzips,  da  ja  dieser  Vorgang  der  Vergegenständlichung  der  Ideen 
für  einander  sich  ganz  in  dem  einen  Attribut  des  Denkens  abspielt. 
Bezeichnenderweise  ist  diese  Durchbrechung  mit  einer  Anerkennung 
des  größeren  Reichstums  des  Geistes  verbunden:  wer  etwas  weiß, 
weiß  auch,  daß  er  dies  weiß,  und  so  fort  ins  Unendliche,  so  daß  jedes 
Wissen  die  vollendete  Unendlichkeit  eines  Reihensystems  von  Ideen 
und  Gegenständen  ist,  derartig,  daß  jede  Idee  in  ihm  zweimal  vor- 
kommt, einmal  als  Idee,  dann  als  Gegenstand  der  nächst  höheren. 
Die  Anwendung  des  Parallelismussatzes  erlaubt  hier  der  Umstand, 
daß  die  Idee  das  mit  den  ausgedehnten  Dingen  gemeinsam  hat,  zur 
Ursache  werden,  das  Attribut  des  Denkens  zu  einer  andern  Idee 
affizieren  zu  können.  Allein  Spinoza  berücksichtigt  nicht,  daß  nach 
der  ursprünglichen  Anlage  seiner  Auffassung  das  reine  Entsprechen  nur 
das  Verhältnis  zwischen  Denken  und  Ausdehnung  bestimmt.    Da  mit 


268  Samuel, 

dieser  Festsetzung  die  Frage  nach  der  Subjekt-Objekt-Beziehung 
mehr  abgeschnitten  als  gelöst  ist,  wie  wir  noch  sehen  werden,  so  ist 
allerdings  auch  die  Tatsache,  daß  eine  Idee  für  eine  andere  vergegen- 
ständlicht werden  kann,  erst  recht  unbegreiflich  geworden.  Im  Denken 
soll  sich  zwar  dieselbe  Verknüpfung  finden  wie  im  Ausgedehnten. 
Daß  aber  das  Verhältnis,  in  dem  beide  Attribute  zueinander  stehen, 
im  einen  noch  einmal  zur  Anwendung  kommt,  ist  ein  entschiedener, 
aber  notwendiger  Widerspruch  des  Systems  des  Parallelismus. 

Jetzt  können  wir  seine  wahre  Bedeutung  erkennen  und  den  Zu- 
sammenhang des  Urteils,  das  wir  über  ihn  fällen,  mit  der  Kantschen 
Philosophie.  Die  naive  Reflexion  stellt  im  Wahrheitsbegriff  schon 
einen  Parallelismus  des  Entsprechens  der  Gegenstände  mit  wahren 
Begriffen  auf,  durchbricht  ihn  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  in  doppelter 
Weise.  Einerseits  dadurch,  daß  sie  den  größeren  Reichtum  der  einen 
Seite  mit  Recht  nicht  antastet,  dann  aber,  daß  sie  mit  ihm  den  frucht- 
baren Begriff  des  Bedingens  in  der  Weise  verbindet,  daß  sie  die  Gegen- 
stände, denen  doch  die  Begriffe,  sofern  sie  wahr  sind,  rein  entsprechen 
sollen,  zu  Ursachen  eben  dieser  Begriffe  als  Vorstellungen  stempelt. 
Ein  Philosoph,  der  sich  durch  die  Einsicht  des  Problematischen,  der 
widerspruchsvollen  Bestandteile,  die  dieser  Standpunkt  benutzt,  zu 
einer  höheren  und  gefestigteren  Ansicht  erheben  wollte,  könnte  das 
z.  B.  dadurch  versuchen,  daß  er  den  Begriff  des  Bedingens,  wie  er 
hier  verwandt  wird,  beiseite  setzte,  und  die  Vorstellung  des  Parallelismus 
rein  herauszuarbeiten  strebte.  Das  hat  nun  Spinoza  getan.  Zu  diesem 
Zweck  mußte  er  aber  auch  den  Reichtum  der  einen  Seite  nivellieren. 
Auf  diese  Weise  gelangte  er  zu  einer  sehr  exakten  Vorstellung  des 
Parallelismus,  aber  hierdurch  noch  lange  nicht  zu  einer  glücklichen 
Lösung  der  Probleme,  die  die  naive  Reflexion  darbietet.  Der  größere 
Reichtum  der  einen  Seite  darf  nämlich  in  seiner  Eigentümlichkeit 
nicht  gestört  werden,  und  ferner  können  wir  auch  nicht  auf  den  außer- 
ordentlich fruchtbaren  Begriff  des  Bedingens  verzichten  und  den 
Unterschied  zwischen  dem  Bedingenden  und  Bedingten  durch  den 
Begriff  des  reinen  Entsprechens  aufheben,  der  nur  ein  Trümmerstück 
dieses  Begriffspaares  ist.  Dergleichen  durch  eine  Nivellierung  begriff- 
licher Problembestandteile  zustande  kommenden  Lösungen  stellen 
eine  besondere  Klasse  dar.  Weil  sie  sich  von  der  gewöhnlichen  An- 
sicht sehr  weit  entfernen,  sind  sie  sehr  schwer  auszuführen  und  stellen 
an  die  geniale  Denkkraft  ihrer  Urheber  die  größten  Anforderungen. 


Die  Grundlehre  Spinozas.  269 

Wenn  man  nun  auch  Spinoza  zugestehen  muß,  daß  er  in  dieser  Hin- 
sicht das  Menschenmögliche  geleistet  hat,  so  ist  damit  doch  nicht 
gesagt,  daß  das  Schwerste  auch  immer  das  Richtigste  ist.  Wenn  nun 
die  naive  Reflexion  im  Gebrauch  des  Begriffs  des  Bedingens  im  Recht 
ist  und  nur  die  Art,  wie  sie  ihn  verwendet,  falsch  ist,  dann  gilt  die 
Frage:  Da  der  Gegenstand  nicht  die  Erkenntnis  bedingt,  welches 
Verhältnis  des  Bedingens  findet  denn  dann  hier  wahrheitsgemäß 
statt?  Hier  setzt  nun  die  großartige  Leistung  Kants  mit  seiner  Ant- 
wort ein:  Gerade  das  umgekehrte.  Die  Erkenntnis  bedingt  den  Gegen- 
stand durch  die  apriorischen  Elemente,  die  sie  enthält.  Der  Verstand 
ist  der  Gesetzgeber  der  Natur.  Die  nähere  Ausführung  dieser  Idee 
in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  hat,  obgleich  sie  in  gewissen  Punkten 
verbesserungsbedürftig  ist,  den  Beweis  erbracht,  daß  dabei  der  eigen- 
tümliche Reichtum  des  Geistes  im  Vergleich  mit  der  Welt  der  Objekte 
nicht  nivelliert,  sondern  gerade  im  Gegenteil  recht  plastisch  heraus- 
gearbeitet wird  (und  dies  ist  die  zweite  Art,  mit  den  Problemen 
der  naiven  Reflexion  fertig  zu  werden),  daß  ferner  der  fruchtbare 
Begriff  des  Bedingens  und  Bedingtseins  die  ihm  zukommende  Stelle 
im  System  der  Vernunft  erhält.  Hierdurch  kommt  so  recht  zum 
Bewußtsein,  daß  eine  Lösung,  die  jenen  Begriff  antastet,  nichts  ist. 
Falls  sich  das  aber  so  verhält,  dann  müssen  die  Mängel  einer  hiervon 
abweichenden  Lösung  des  Problems  sich  auch  durch  immanente 
Kritik  finden  lassen,  was  oben  durch  Aufdeckung  der  Schwierigkeit, 
den  Parallelismus  wirklich  rein  durchzuführen,  zu  leisten  versucht 
worden  ist. 

Zum  Schluß  noch  ein  Wort  über  die  Bedeutung  des  Spinozistischen 
Parallelismus  für  die  heutige  Philosophie.  In  der  Gegenwart  erleben 
wir  den  höchst  interessanten  Vorgang  der  Lostrennung  einer  Einzel- 
wissenschaft von  dem  Mutterboden  der  Philosophie:  der  Psychologie. 
Sie  geschieht  nun  wesentlich  mit  Hilfe  des  Spinozistischen  Parallelismus, 
der  natürlich  als  eine  metaphysische  Theorie  eine  Umbildung  ins 
Empirische  als  psychophysischer  Parallelismus  erfahren  muß.  Auch 
bei  Wundt  findet  sich  ein  Hinweis  auf  diesen  Zusammenhang.  So 
erlebt  Spinoza  heute  eine  ganz  andersartige  Wiederauflebung  als  zur 
Zeit  Lessings.  Mit  unserer  Kritik  ist  nun  auch  zum  größten  Teil  die 
Kritik  dieser  speziellen  Ausbildung  des  Parallelismus  gegeben.  Es 
geht  aus  ihr  vor  allen  Dingen  hervor,  daß  die  Psychologie  als  Einzel- 
wissenschaft das  Schicksal  anderer  physischer  Einzelwissenschaften 


270  Samuel, 

teilt,  auf  sehr  anfechtbaren  Grundvorstellungen  aufgebaut  zu  sein. 
Man  denkt  hier  unwillkürlich  an  den  Atomismus.  Es  sieht  beinahe 
so  aus,  als  ob  eine  Einzelwissenschaft  nicht  anders  als  auf  Grund 
solcher  trümmerhaften  Begriffe,  die  auf  ihre  Eingeschränktheit  Rück- 
sicht nehmen,  möglich  wäre.  Aber  als  Arbeitshypothese  mag  der 
psychophysische  Parallelismus  seine  guten  Dienste  für  die  Psychologie 
leisten.  Man  muß  von  ihm  nur  nicht  verlangen,  eine  Lösung  für  die 
letzten  Fragen  der  Philosophie  zu  geben.  In  diesen  natürlichen  Fehler 
ist  aber  schon  Fechner  verfallen.  Das  kann  nur  die  Philosophie  durch 
eine  begriff  liehe  Durchforschung  derjenigen  Gedankengebiete  zu 
leisten  versuchen,  aus  denen  die  Grundvorstellungen  der  Einzel- 
wissenschaften überhaupt  hervorgehen,  nämlich  der  Erkenntnisse 
a  priori. 


Rezensionen. 

Große    Denker.    Herausgegeben  von  E.  v.  Aste  r.    Quelle  &  Meyer, 
Leipzig  1912.     2  Bände,  384  und  380  S.     (Br.  14  Mk.,   gebd.  16  Mk.) 

Es  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  daß  ein  Werk  wie  das  vorliegende  eine 
ganz  eigenartige  Bedeutung  und  einen  besonderen  Reiz  hat.  Es  scheint  mir 
ein  sehr  glücklicher  Gedanke  zu  sein,  gewissermaßen  eine  Geschichte  der 
Philosophie  zu  geben  durch  eingehende  Charakterisierung  der  bedeutendsten 
philosophischen  Systeme.  Und  ebenso  fruchtbar  erweist  sich  hierbei  das 
Prinzip,  für  jedes  der  dargestellten  Gedankensysteme  einen  eigenen  Inter- 
preten zu  Worte  kommen  zu  lassen.  Dadurch  bekommt  das  Ganze  eine  Frische 
und  Lebendigkeit,  wie  sie  ein  Einzelner  bei  der  Wiedergabe  einander  so  ent- 
gegengesetzter Standpunkte  wohl  kaum  erreichen  dürfte.  Allerdings  sind 
auch  gewisse  Nachteile,  die  diese  Darstellungsweise  mit  sich  bringt,  nicht 
zu  verkennen,  die  mangelnde  Einheitlichkeit  der  Auffassung,  die  durchaus 
verschiedene  Behandlung  des  jeweiligen  Stoffes  und  schließlich  sogar  gewisse 
Widersprüche  zwischen  den  einzelnen  Darstellungen.  Auf  einen  davon,  viel- 
leicht den  charakteristischsten  und  auffallendsten  werden  wir  nachher  noch 
zu  sprechen  kommen.  Zunächst  lasse  ich  eine  Übersicht  über  das  Gebotene 
folgen.     Es  haben  behandelt: 

A.  Fischer,  München:  Die  Grundlehren  der  vorsokratischen  Philosophie. 

R.  Richter,  Leipzig:  Sokrates  und  die  Sophisten. 

P.  Xatorp,  Marburg:  Piaton. 

F.  Brentano,  Florenz:  Aristoteles. 

A.  Schmekel,  Greifswald:  Die  hellenistisch-römische  Philosophie. 

M.  Baumgartner,  Breslau:  Augustinus. 

Derselbe:  Thomas  von  Aquin. 

R.  Hönigswald,  Berlin:  Giordano  Bruno. 

M.  Frischeisen-Köhler,  Berlin:  Descartes. 

O.  Baensch,  Straßburg:  Spinoza. 

W.  Kinkel,  Gießen:  Leibnitz. 

E.  v.  Aster,  München:  Locke-Hume. 
P.  Menzer,  Halle:  Kant. 

F.  Medikus,  Zürich:  Fichte. 

H.  Falkenheim.  München:  Hegel. 
O.  Braun,  München:  Scbelling. 
R.  Lehmann,  Posen:  Schopenhauer. 
Derselbe :   Herbart. 
A.  Pfänder,  München:   Nietzsche. 

W.  Windelband,  Heidelberg:  Die  philosopbischen  Richtungen  der  Gegen- 
wart. 


272  Rezensionen. 

Es  scheint  mir  ganz  unzweifelhaft,  daß  der  Herausgeber  ein  großes  Ge- 
schick in  der  Auswahl  seiner  einzelnen  Mitarbeiter  bewiesen  hat,  denn  wer 
auch   nur   einen   oberflächlichen   Überblick   über  die   Arbeitsgebiete   der   bei 
diesem    Werke    beteiligten    Gelehrten    hat,    wird   von    vornherein    erkennen, 
daß  hier  jeder  der  großen  Denker  einen  Darsteller  gefunden  hat,  der  gerade 
der  Eigenart  dieses  Philosophen  oder  dieser  Zeit  ein  besonderes  Verständnis 
entgegenbrachte.    Und  in  der  Tat  finden  sich  unter  all  diesen  Darstellungen 
vielleicht  nur  ein  oder  zwei,  die  man  nicht  als  gelungen  ansprechen  dürfte. 
Wir  können  natürlich  nicht  auf  alle  hier  näher  eingehen.     Über  einige  aber  I 
möchte  ich  —  ohne  jedoch  die  nichterwähnten  dadurch  irgendwie  zurück- 
stellen zu  wollen  —  ein  paar  Worte  sagen.    Gleich  die  erste  Arbeit,  die  Dar- 
stellung  der  Vorsokratiker   durch   Fischer,   einer   der  umfangreichsten   Auf- 
sätze dieses  Werkes,    bietet  nach   Stil  und  Inhalt  eine    außergewöhnliche 
Leistung.      Hier  finden  wir  nicht  jene  trockene  systematisch  abhandelnde 
Art,  die  wir  sonst  bei  Darstellungen  der  altgriechischen  Philosophie  gewohnt 
sind.     Fischer  hat  es  nicht  genügt,  die  Systeme  dieser  Denker  nur  darzu- 
stellen, sondern  er  versteht  es  auch  ihren  Gründen  nachzuspüren,  die  dunklen 
Worte  faßlich  zu  machen  und  uns  so  diese  Männer  wirklich  näher  zu  bringen, 
so  daß  wir  ihre  Probleme  in  den  unseren  wiedererkennen,  ohne  doch  den  Unter- 
schied zwischen  ihrer  noch  selbstsicheren  monumentalen  Fragestellung  und 
der  unseren,  die  durch  den  Skeptizismus  gesiebt  eine  viel  vorsichtigere,  aber 
auch  minutiösere  geworden  ist,  zu  vergessen.    Sodann  scheinen  mir  die  beiden 
Baumgartnerschen  Aufsätze  einer  besonderen  Beachtung  wert,  schon  allein 
um  dessent willen,  weil  die  mittelalterlichen  Denker  im  Großen  und  Ganzen 
sich  für  die  Gegenwart  in  eine  viel  nebelhaftere  Ferne  verlieren,  als  die  an- 
tiken;  sei  es  nun,  daß  das  Interesse  sich  dieser  Epoche  nur  selten  zuwendet, 
sei  es  daß  die  Darstellungen  dieses  Zeitabschnittes  besonders  zu  wünschen 
übrig  lassen.     Vielleicht  auch  aus  beiden  Gründen.     Der  Verfasser  hat  für 
seine    Darstellung    der    beiden    einander   so    entgegengesetzten    Systeme   des 
Augustin  und  des  Thomas  von  Aquino  eine  außerordentliche  übersichtliche 
Gliederung  gefunden,  deren  besonderer  Vorzug  es  ist,  daß  sie  wie  von  selbst 
zu  einem  Vergleich  dieser  beiden  Philosophen  herausfordert  und  den  Ver- 
gleich fast  durchführt.     Allerdings  scheinen  mir  im  Bilde  Augustins  wesent- 
liche Züge  zu  fehlen,  die,  wenn  sie  auch  in  erster  Linie  für  seine  kirchliche 
Lehre  von  Bedeutung  sind,  in  einer  Darstellung  seiner  Philosophie  doch  nicht 
übergangen   werden  dürfen.      Als   einen   besonderen   Vorzug   der  Asterschen 
Darstellung  von  Locke  und  Hume  möchte  ich  seine  hervorragende"  Klarheit 
und  Faßlichkeit  hervorheben,  die  diesen  Abschnitt  wohl  auch  dem  philo- 
sophisch gar  nicht  Vorgebildeten  zugänglich  machen  dürfte.     Eine  durchaus 
eigenartige  Leistung  ist  die  Pfändersche  Nietzsche-Darstellung.     Wo  bisher 
über  Nietzsches  Philosophie  geschrieben  worden  ist,  da  ist  es  meist  in  einem 
Stil  und  einer  Form  geschehen,  die  es  uns  allmählich  fast  unmöglich  gemacht 
haben,  Nietzsches  eigentliche  Gedanken  und  ihren  systematischen  Zusammen- 
hang noch  zu  finden.    Seine  Darsteller  pflegen  ihn  mit  Begeisterung  zu  über- 
schütten oder  mit  Unverständnis  zu  erdrücken.    Nur  gerecht  werden  sie  ihm 
nicht.  So  ist  man  denn  zunächst  ganz  überrascht,  hier  eine  gründliche,  syste- 


Rezensionen.  273 

niatische  Darstellung  zu  finden,  die  von  jeder  Phrase,  ja  von  jedem  über- 
flüssigen Wort  so  weit  entfernt  ist,  daß  man  sie  fast  trocken  nennen  möchte, 
wäre  sie  nicht  der  einzige  Weg,  um  uns  einmal  recht  deutlich  zum  Bewußt- 
sein zu  bringen,  daß  Nietzsche  nicht  nur  als  Dichter,  sondern  auch  als  Philo- 
soph Beachtung  verdient,  und  daß  der  gedankliche  Gehalt  seiner  Werke 
doch  das  ist,  worauf  es  ihm  in  erster  Linie  ankam.  Besonders  das  Nietzscke- 
sche  Wort  vom  Übermenschen  ist  als  Schlagwort  so  gründlich  mißbraucht 
worden,  daß  es  schon  einiger  Anstrengung  bedarf,  um  seinen  Sinn  wieder 
zurechtzurücken.  Möchten  doch  alle  diejenigen,  die  sich  über  Nietzsche 
zu  reden  oder  zu  schreiben  bemüßigt  fühlen  — ■  und  derer  gibt  es  heute  gar 
viele  — ,  es  nicht  unterlassen,  sich  mit  dieser  Darstellung  seiner  Lehre  be- 
kannt zu  machen.  Den  Abschluß  des  ganzen  Werkes  bildet  die  Windelband- 
sche  Abhandlung  über  die  philosophischen  Richtungen  der  Gegenwart.  Bei 
dieser  Gelegenheit  muß  ich  auf  den  oben  erwähnten  merkwürdigen  Wider- 
spruch zurückkommen.  Wer  dieses  Buch  etwa  hintereinander  durchliest, 
der  hat  soeben  in  dem  Pfänderschen  Aufsatz  den  wesentlichen  philosophischen 
Gehalt  von  Nietzsches  Lehre  in  gedanklicher  Klarheit  dargestellt  gefunden. 
Dreht  er  jetzt  eine  Seite  um,  so  findet  er  bei  Windelband  gleich  auf  der  ersten 
Seite  den  Satz:  „Aus  solchen  Stimmungen  ist  es  zu  begreifen,  daß  man  einen 
Dichter  wie  Nietzsche  für  einen  Denker  genommen  hat",  und  im  Anschluß 
daran  noch  ein  paar  Worte,  die  beabsichtigen,  ihn  weder  ganz  in  das  belle- 
tristische Licht  zu  rücken.  Im  übrigen  hat  sich  Windelband  leider  nicht  die 
Aufgabe  gestellt,  wirklich  die  Gegenwart  zu  behandeln,  sondern  er  stellt 
die  jüngste  Vergangenheit  dar,  diese  allerdings  mit  der  Meisterschaft,  die 
aus  den  Windelbandschen  Werken  zur  Geschichte  der  Philosophie  hinreichend 
bekannt  ist.  Schade  ist  es  aber  doch,  daß  er  nicht  wirklich  die  Gegenwart 
behandelt  hat,  denn  das  wäre  ein  Thema  gewesen,  das  noch  niemand  gründ- 
lich behandelt  hat,  und  nur  wenige  darzustellen  in  der  Lage  wären 
und  von  diesen  wenigen  wäre  Windelband  vielleicht  der  berufenste  gewesen. 

Wir  wollen  jetzt  noch  einen  abschließenden  Blick  auf  das  Ganze  des 
Werkes  werfen.  Nach  dem  Vorwort  des  Herausgebers  verfolgt  es  den  Zweck, 
nicht  Philosophie,  sondern  philosophieren  zu  lehren.  Und  für  diesen  Zweck 
macht  es  die  Mitarbeit  so  vieler  voneinander  in  Darstellungsweise,  Auffassung 
und  Grundüberzeugung  verschiedener  Gelehrter  gewiß  besonders  geeignet. 
Seiner  ganzen  Art  nach  wendet  es  sich  nicht  nur  an  den  Fachphilosophen, 
sondern  an  den  weiten  Kreis  philosophisch  Orientierter  und  Interessierter. 
Trotz  der  monographischen  Behandlung  der  einzelnen  Philosophen  haben 
es  die  meisten  Verfasser  mit  glücklicher  Hand  verstanden,  die  geschichtlichen 
und  Zeitbeziehungen  der  Gedankensysteme  zur  Geltung  zu  bringen.  Nur 
das  biographische  Moment  ist  leider  in  einzelnen  Darstellungen  bedeutend 
zu  kurz  gekommen. 

Was  das  Äußere  des  Werkes  betrifft,  so  hat  sich  der  Verlag  bemüht,  durch 
gute  Bilderbeigaben,  einen  klaren  und  schönen  Druck  dem  Inhalt  des  Buches 
einen  würdigen  Rahmen  zu  schaffen.  Allerdings  läßt  an  einigen  Stellen  die 
Sauberkeit  des  Satzes  zu  wünschen  übrig.  Der  Einband  ist  von  ungleichem 
künstlerischen  Wert.    Während  der  Deckel  in  seiner  klaren  Einfachheit  kaum 


274  Rezensionen. 

besser  hätte  entworfen  werden  können,  scheint  der  Rücken  mit  verzierenden 
goldenen  Linien  etwas  überladen  und  läßt  die  stilistische  Einfachheit,  die 
der  Deckel  zeigt  und  die  einem  solchen  Werke  auch  angemessen  erscheint, 
vermissen.  Immerhin  sind  das  einzelne  Ausstellungen,  die  den  Gesamtcharakter 
der  Ausstattung  nicht  wesentlich  zu  beeinträchtigen  vermögen. 

So  dürfen  wir  unser  Urteil  wohl  abschließend  dahin  zusammenfassen: 
Das  Werk  ist  eine  hervorragende  Leistung  in  jeder  Hinsicht  und  wir  wünschen 
ihm  den  Erfolg,  den  es  verdient.  W.  Bloch,  München. 

Messer,    A. :    Geschichte   der   Philosophie   im    Altertum   und   Mittelalter. 

Wissenschaft  und   Bildung   Bd.    107.     Verlag   von   Quelle    &    Meyer, 

Leipzig  1912.  VII  und  136  S.  gebd.  1,25  Mk. 
Dieses  Büchlein  ist  nicht  für  den  Fachphilosophen  geschrieben,  wie 
ja  schon  daraus  hervorgeht,  daß  es  in  einer  Sammlung  populär-wissenschaft- 
licher Darstellungen  (im  guten  Sinne)  erscheint,  sondern  es  stellt  sich  die 
Aufgabe,  denjenigen  Kreisen,  die  keine  besondere  philosophische  Vorbildung 
besitzen,  einen  Einblick  in  die  Geschichte  der  Philosophie  zu  verschaffen, 
deren  Kenntnis  ja  zum  Verständnis  vieler  anderer  geschichtlicher  und  kultu- 
reller Erscheinungen  unentbehrlich  ist.  Es  ist  dem  Verfasser  gut  gelungen, 
auf  engem  Raum  die  schwierigen  Fragen  klar,  anschaulich  und  fesselnd  dar- 
zustellen. Besonders  erfreulich  ist  es,  daß  in  dieser  Darstellung  auch  die 
mittelalterliche  Philosophie,  die  in  vielen  populären  Darstellungen  kaum  er- 
wähnt wird,  den  ihr  gebührenden  Platz  findet.  In  Fußnoten  macht  der  Ver- 
fasser häufig  Bemerkungen,  die  die  Beziehung  zur  gegenwärtigen  Kultur- 
lage herstellen.  Außer  einem  Verzeichnis  der  behandelten  Philosophen  findet 
sich  auch  ein  Verzeichnis  der  Stellen,  wo  wichtige  philosophische  Begriffe 
erklärt  sind.  Kurzum  das  Büchlein  scheint  mir  in  jeder  Hinsicht  seinen  Zweck 
zu  erfüllen  und  ich  möchte  es  daher  der  Beachtung  empfehlen. 

Bloch,  München. 

Stadler,  August:  Kants  Teleologie  und  ihre  erkenntnis theoretische 
Bedeutung.  Unveränderte  Neuausgabe  der  1.  Auflage.  Ferd. 
Dümmler.     Berlin   1912.     155  S.     3,60  Mk. 

„Solange  man  die  Werke  Kants  studieren  und  auf  ihren  Wortlaut  unter- 
suchen wird,  um  ihren  historisch  ewigen  Sinn  zu  erforschen,  solange  wird 
man  auch  die  Kantbücher  August  Stadlers  studieren  und  würdigen."  Wir 
können,  wenn  wir  auf  den  Wert  des  vorliegenden  Buches  und  das  Verdienst, 
das  sich  der  Verlag  mit  der  Neuausgabe  erworben  hat,  hinweisen  wollen, 
nichts  Besseres  tun,  als  uns  auf  diese  Worte  Hermann  Cohens  zu  beziehen. 

Kant  hat  die  Ästhetik  in  das  System  der  Philosophie  eingeordnet.  In 
diesem  Zusammenhange  mit  dem  Ganzen  des  Systems  behandelt  Stadler 
das  Prinzip  der  Zweckmäßigkeit.  Dieser  Terminus  entspringt  bei  Kant  aus 
rein  erkenntnistheoretischen  Untersuchungen.  Er  stellt  in  letzter  Hinsicht 
die  Hypothese  von  der  Begreiflich  keit  der  Natur  dar,  aber  der  neuen  Natur 
der  Vernunftkritik  als  des  Inbegriffs  der  Erfahrung  und  ihrer  Bedingungen. 


Rezensionen.  275 

Die  Kritik  der  Urteilskraft  enthält  nicht  nur  die  Begründung  der  Ästhetik, 
sondern  auch  die  Begründung  der  beschreibenden  Naturwissenschaft  der 
Organismen.  Gerade  hier  hat  der  Gedanke  der  Zweckmäßigkeit  seine  eigent- 
liche Stätte.  Und  hier  wird  die  (gemeinhin  verkannte,  sogar  von  0.  Lieb- 
mann) systematische  Bedeutung  des  ,, Dinges  an  sich"  als  eines  Grenzbegriffes 
erst  klar  verständlich.  Wer  sich  mit  den  Problemen  der  modernen  Entwick- 
lungslehre oder  den  Problemen  der  Ästhetik  befaßt,  wird  sich  notwendig  bei 
Kant  Orientierung  suchen  müssen.  Dabei  werden  ihm  die  gründlichen  und 
lichtvollen  Ausführungen  Stadlers  gute  Führerdienste  leisten. 

Dr.  G.  Falte  r. 

Hans  Baer,  Dr.  phil.,  Beobachtungen  über  das  Verhältnis  von  Herders 
Kalligone   zu   Kants   Kritik  der  Urteilskraft.      Heidelberg. 

Eine  philologisch  sorgfältig  durchgeführte  Studie.  Bedenken  muß  es 
erregen,  wenn  B.  aus  der  Kalligone  allein,  ohne  Heranziehung  und  Vergleichung 
mit  dem  Reise-Journal,  die  Herdersche  Ästhetik  erschließen  und  mit  der  Kants 
in  Vergleich  bringen  will.  B.  zitiert  Bleuke,  Schlapp ;  aus  unerfindlichen  Gründen 
bezieht  er  sich  nicht  ein  einziges  Mal  auf  die  grundlegende  Arbeit  über  Kants 
Ästhetik,  H.  Cohens:  Kants  Begründung  der  Ästhetik.  Er  hätte  darin  viel 
Wertvolles  für  seine  Arbeit  nicht  nur  in  bezug  auf  Kant,  sondern  auch  hin- 
sichtlich Herders  gefunden. 

Der  beste  Teil  dieser  Arbeit  —  eines  ohne  Zweifel  geistreichen  Mannes 
—  ist  das  1.  Kapitel  des  2.  Teils,  in  welchem  die  ästhetische  Idee  als  innere 
Form  betrachtet  wird. 

Gießen.  Dr.  G.  Falter. 

Horst  Engert,   Dr.,   Das  historische  Denken  Max   Stirners.      Leipzig, 
Otto  W  i  g  a  n  d  ,  1911.     66  S.     1,80  M. 

In  dieser  recht  lesenswerten  Abhandlung  wird  der  Beweis  \  ersucht, 
Stirner  sei  aicht,  wie  man  gemeinhin  annimmt,  Solipsist  gewesen.  Stirner 
leugne  nicht,  daß  es  Probleme  im  Denken  gebe,  aber  sie  seien  freiwillig  auf- 
gesuchte. Die  Beweisführung  des  Verf.  scheint  mir  nicht  überzeugend.  Denn 
die  Stellen,  auf  die  er  sich  stützt,  sprechen  doch  ohne  Zweifel  für  die  Auf- 
lassung des  Solipsismus.  „Wahrheit  erwartet  und  empfängt  alles  von  dir 
und  ist  selbst  nur  durch  dich;  denn  sie  existiert  nur  —  in  deinem  Kopfe". 
,, Durch  meinen  Willen  erhält  sie  Wert.  Ich  bin  das  Kriterium  der  Wahrheit." 
Daraus  kann  nur  geschlossen  werden,  daß  Stirner  doch  an  der  Klippe  des 
Solipsismus  gescheitert  ist. 

Interessant  ist  der  Nachweis,  daß  Stirner  in  seiner  Auffassung  der  Ent- 
wicklung des  Einzelnen  wie  der  <  Jesellschaft  von  Hegels  dialektischem  Schema 
abhängig  ist.  Wie  im  Egoismus  des  Mannes  der  Realismus  des  Knaben  und 
der  Idealismus  des  Jünglings  aufgehoben  sei,  erfolge  im  humanen  Liberalismus 
die  Aufhebung  des  politischen  und  des  sozialen  Liberalismus. 

Marburg  a.  L.  Dr.   G.   F  alter. 


276  Rezensionen. 

T  i  1 1  i  c  h,  Lic.  theol.  Dr.  Paul:  Mystik  und  Schuldbewußtsein  in  Schellings 
philosophischer  Entwicklung. 

Ich  zweifle  nicht,  daß  die  breiten  Darlegungen,  die  nach  ausdrücklichem 
Geständnis  des  Verfassers  einer  „historisch-dialektischen"  Methode  folgen, 
für  Theologen  großes  Interesse  darbieten  werden,  besonders  für  diejenigen, 
die  sich  mit  dogmengeschichtlichen  Untersuchungen  befassen. 

Den  Philosophen  könnte  höchstens  die  Einleitung,  die  die  Methode  der 
Forschung  begründet,  zu  eingehender  Stellungnahme  veranlassen.  Der  Ver- 
fasser versucht  eine  Reduktion  der  sieben  Perioden  in  der  Entwicklung 
Schellings  auf  zwei.  „Vor  der  , Freiheitslehre'  liegt  der  große  Umschwung 
in  Schellings  Denken."  „Der  Übergang  ist  aber  nicht  äußerlich,  sondern 
dialektisch."  Der  Verfasser  meint,  „daß  Schelling  durch  den  inneren  Fort- 
schritt seiner  Entwicklung  in  die  Nähe  jener  Philosophen  (Spinoza,  Plato. 
Böhme  usf.)  geführt  wurde  und  er  sich,  sobald  ihm  die  Verwandtschaft  zum 
Bewußtsein  kam,  die  ihm  homogenen  Elemente  des  verwandten  Systems 
aneignete".  Er  will  Schelling  zwar  durchaus  historisch  aus  seiner  Zeit  usf. 
begreifen,  allein  er  zieht  für  die  vorgeführten  Probleme  eine  immanente  dialek- 
tische Behandlung  der  systematischen  Zusammenhänge  vor. 

Der  Verfasser  legt  sich  mithin  selber  Beschränkungen  auf,  die  nach  seiner 
eigenen  weiteren  und  tieferen  Ansicht  nicht  berechtigt  erscheinen.  Die  prak- 
tische Durchführung  der  methodischen  Grundsätze  zeigt  in  der  Tat,  daß  der 
Verfasser  sogleich  ganz  ins  theologische  und  speziell  dogmatische  Fahrwasser 
gerät.  Ich  glaube  nicht,  daß  die  Untersuchung,  so  fleißig  und  sorgfältig  sie 
angelegt  sein  mag,  für  die  philosophiegeschichtliche  Forschung  einen  för- 
dernden Beitrag  bedeutet.  Immerhin  ist  der  Versuch  des  Verfassers  an  sich 
anzuerkennen  und  für  die  Theologie  ohne  Frage  wertvoll,  weil  er  die  Auf- 
merksamkeit auf  wenig  beachtete  Probleme  lenkt. 

Dr.  Bruno    Jordan,    Hannover. 

Wilni,  Emil  Carl:  The  Philosophy  of  Schiller  in  its  historical  relations. 
Der  Verfasser  will,  gestützt  auf  die  bekannten  Werke  von  Überweg, 
Tomaschek  und  Kuno  Fischer  und  die  moderne  Forschung,  nichtphilosophischen 
englischen  Lesern  einen  Überblick  über  Schillers  Philosophie  geben,  soweit 
ihr  Verständnis  aus  allgemeinen  literargeschichtlichen  Gründen  notwendig 
erscheint.  Der  Versuch  ist  ihm  innerhalb  der  selbst  gezogenen  Grenzen  treff- 
lich gelungen;  sein  Buch  wird  ohne  Zweifel  in  Amerika  und  England  viele 
Leser  finden.  Da  es  die  neueren  Forschungen  nach  Kräften  berücksichtigt, 
klar  und  elegant  geschrieben  ist,  kann  es  trotz  mancher  Mängel  und  Uneben- 
heiten im  einzelnen  auch  deutschen  Lesern  empfohlen  werden. 

Dr.  Bruno    Jordan,  Hannover. 


>n 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.    Deutsche    Literatur. 
Averroes,  Metaphysik.    Hrsg.  von  Horten.    Halle,  Niemeyer. 
Berkeley,     Versuch   einer   neuen   Theorie    der   Gesichtswahrnehmung.      Hrsg. 

von  Schmidt  und  Barth.     Leipzig,  Meiner. 
Diels,  H.,  Fragmente  der  Vorsokratiker.    3.  Aufl.    Beilin,  Weidmann. 
Eucken,  R.,  Die  Lebensanschauungen  der  großen  Denker.    10.  Aufl.    Leipzig, 

Veit. 
Frehn,   J.,   Nietzsche   und   das   Problem   der   Moral.      Neubabelsberg-Berlin, 

Akademische  Verlagsgesellschaft. 
Gomperz,  Th.,  Griechische  Denker.    IL  Bd.    3.  Aufl.    Leipzig,  Veit. 
Herbart.  Einleitung  in  die  Philosophie.    4.  Aufl.    Hrsg.  v.  Häntsch.    Leipzig, 

Meiner. 
Hochfeld,   S.,   Das   Künstlerische  in   der   Sprache   Schopenhauers.      Leipzig, 

Veit. 
Ihringer,    B.,    Der    Schuldbegriff    bei    den    Mystikern    der    Reformationszeit. 

Berner  Studien.     Bern,  Francke. 
Koltan,   J.,   Die   Gedankenwelt   berühmter   Biologen.      München,    Reinhardt. 
Lotze,  H.,  System  der  Philosophie.    Hrsg.  v.  Misch.    Leipzig,  Meiner. 
Maimon,  S.,  Versuch  einer  neuen  Logik    oder  Theorie    des  Denkens.     Hrsg. 

v.  B.  Engel.     Berlin,   Reuther. 
Mootz,  H.,  Die  chinesische  Weltanschauung.     Straßburg,  Trübner. 
Raab.  F.,  Die  Philosophie  von  R.  Avenarius.     Leipzig,  Meiner. 
Rehmke,  J.,   Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie.      2.   Aufl.      Leipzig, 

Quelle        Mayer. 
Sickel,  P.,  Hebbels  Welt-  und  Lebonsanschauung.     Hamburg,  Voß. 
Slonimsky,  iL,  Heraklit  und  Parmenides.     Gießen,  Töpelmann. 
Stadler,  A.,  Kant.    Akademische  Vorlesungen.    Leipzig,  Barth. 
Walther,  II.,  Herbaits  Charakter  und  Pädagogik  in  ihrer  Entwicklung.    Stutt- 
gart, Kohlhammei. 
Windelband,  \\\,  Lehrbuch  der  Geschiohte  der  Philosophie.   ii.  Aufl.  Tübingen] 

Mohr. 

B.    Englische    und    amerikanische    Lite  r  a  t  u  r. 
Brett   Sydney,  History  of   Psychology  ancient  and  patristic.     London.   Allen. 

Boutroux,  E.,  Historical  Studies  in  Philosophy.     I Ion.  Macmillan. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  -J.  |g 


278  Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Holt,  E.  etc.,  The  New  Realism.     New  York,  Macmillan. 
Hall,  S.,  Founders  of  modern  Psychology.     London,  Appleton. 
James,  W.,  Essays  in  radical  empiricism.     London,  Longmans. 
Keller,  The  Problem  of  Exil  in  Plotinus.    Cambridge. 
Schiller,  F.,  Studies  in  Humanism.     London,  Macmillan. 

C.  Französische    und    belgische    Literatur. 
Andler,  Ch.,  Basch,  Benrubi,  etc.     La  Philosophie  allemande  au  XIX  siecle. 

Paris,  Alcan. 
Bonet,  P.,  Bossuet  moraliste.     Paris,  Lethiellex. 
Meyer,  E.,  Histoire  de  l'antiquite.     T.  1.    Introduction  ä  l'etude  des  societes 

anciennes.     Paris,  Geuthner. 
Palante,  Les  Antinomies  entre  l'Individu  et  la  Societe.    Paris,  Alcan. 

D.  Italienische    und    spanische    Literatur. 

Gemelli,  A.,  Recenti  scoperte  e  recenti  teoiie  nelle  studio  dell'  origine  dell' 

nomo.     Firenze. 
Rutkiewicz,  B.,  II  psicomonismo  o  monismo  psicobiologico.     Firenze. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Viertel jahrsheft  für  wissenschaftliche  Philosophie  und  Sociologie.  Bd.  XXXVI. 
H.  3.     Kuntze,  Natur-  und  Geschichtsphilosophie. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  Bd.  148.  H.  2.  Ferber, 
Platos  Polemik  gegen  die  Lustlehre. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Bd.  XXV.  H.  4.  Teixidor,  B*e  universalibus  inxta 
Suarez.     Schindele,  Friedrich  der  Große  über  Rousseau. 

Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Bd.  XXV.  H.  3  u.  4.  Anschütz,  Tendenzen 
im  psychologischen  Empirismus  der  Gegenwart.  Eine  Erwiderung  auf 
O.  Külpes  Ausführungen  „Psychologie  und  Medizin"  und  ,,Über  die  Be- 
deutung   der    modernen    Denkpsychologie". 

Revue  philosophique.  An.  37.  Nr.  11.  Foucolt,  Les  revues  allemandes  de 
Psychologie  en  1911.  —  Nr.  12.  Robet,  La  signification  et  la  valeur 
du  pragmatisme.     Peres,  Vers  une  nouvelle  conception  du  temps. 

Revue  de  philosophie.  An.  12.  Nr.  9—10.  Dom  Quentin,  La  vie  religieuse  de 
l'anachorete,  du  cenobite  et  du  moine  Benedictin.  Maiie-Joseph  du 
Sacre-Coeur,  Sainte  Therese  et  le  Carmel.  Marechal,  Sur  quelques  traits 
distinctifs  de  la  mystique  chretienne.  Pinaid,  L'experience,  la  raison, 
les  normes  exterieures  dans  le  catholicisme. 
—  Nr.   11.     Serol,  La  iin  de  l'homme  selon  W.  James. 

Revue  de  Metaphysik  et  de  Morale.  An.  20.  Nr.  5.  Le  Savoureux,  L'entiepise 
philosophique    de    Renouvier.       Mamelet,    La    philosophie    de    Simmel. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke.  279 

Lechalas,  Une  definition  genetique  du  plan  et  de  la  ligne  droite  d'apres 

Leibniz  et  Lobatschevsky.     Koyre,  Sur  Ies  nornbres  de  Russell. 
Revue  Neo-Scolastique.    An.  XIX.    Nr.  76.    Lebrun,  Neo-Darwinisme  et  Neo- 

Lamarckisrne.      Gemelli,    Une  orientation  nouvelle    de    la  scolastique. 

De  Wulf,  Le  mouvement  neo-scolastique.  —  L.  de  Lantsheere. 
The  philosophical  Review.     Vol.  XXI.     Nr.  6.     Calkins,  Bergson  Personalist. 
The  American  Journal  of  Psychology.    Vol.  XXIII.    Nr.  4.    Bentley  etc.,  New 

Apparatus  for  acoustical  experiments.      Ruckmich,    The  History  and 

Status  of  Psychology  in  America.  Titchenei  and  Poster,  Bibliography  of 

the  Scientific  Writings  of  W.  Wundt. 
The  Monist.  Vol.  XXII.  Nr.  4.  Bostwick,  Atomic  Theories  of  Energy.  Jacoby, 

Pragmatism  and  Schopenhauer.  Edmunds,  Buddhist  Loans  to  Christianity. 

Schoff,  A  Postscript  to  Indo-Roman  Relations  in  the  first  Century. 
The  Hibberl  Journal.   Vol.  XL   Nr.  1.   Lobstein,  Modernism  and  the  protestant 

consciousness.     Scott,  The  Pessimism  of  Bergson.     Strong,  Quintilian, 

A  Study  in  ancient  and  modern  methods  of  education.     Glover,    The 

dämon  environment  of  the  primitive  Christian.     Landa.  The  future  of 

Judaism  in  England. 
The  Journal  of  Philosophy,  Psychology  and  scientific  Methods.   Vol.  IX.   Nr.  25. 

Lovejoy,     Present     Philosophical   Tendencies.      Mc   Clure,    A    Point   of 

Difference  between  American  and  English  Realism. 
Rivisla  di  Filosofia.   An.  IV.    Fase.  IV.    Calcagno,   Bergson  e  la  eultura  con- 

temporanea.     Calosso,  L'autonomia  scientifica  della  storia  dell'  arte. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.    Deutsche    Literatur. 
Bacharach,  A.,  Shaftesburys  Optimismus  und  sein  Verhältnis  zum  Leibnizschen. 

(Diss.)    Straßburg. 
Caffi,  E.,  Nietzsches  Stellung  zu  Machiavellis  Lehre.     Wien,  Selbstverlag. 
Eucken,  R.,  Erkennen  und  Leben.     Leipzig.  Quelle  &  Meyer. 
Franzian,    E.,    N.    K.   Michailowsky    als   Soziologe   und    Philosoph.      Beilin. 

Mayer  &  Müller. 
Geijer,  R.,  Die  Situation  auf  dem  psychologischen  Arbeitsfeld.    Berlin,  Simion 

Nf. 
Grundriß  der  Geschichtswissenschaften.      Hrsg.   von   Aloys  Meistei.     Bd.   I. 

Abt.  6.     Leipzig,  Toubner. 
Harnack,  A.,  Dio  Benutzung  der  Königlichen  Bibliothek  und  die  deutsche 

Nationalbibliothek.     Berlin,  Springer. 
Hensel,  I'.,  Hauptprobleme  der  Ethik.     Leipzig,  Teubner. 
Hörter,  F.  H.,  Die  Methode  in  Erich  Wasmanns  Tierpsychologie.    Paderborn, 

Ferd.  Schöningh. 


280  Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

Jahrbuch  der  Philosophischen  Gesellschaft  an  dei  Universität  zu  Wien  1912. 
Leipzig,  J.  A.  Barth. 

Jaskowski,    Friedrich,    Philosophie    des    Vegetarismus.       Berlin,    Otto    Salle. 

Jodl,  Priedr.,  Geschichte  der  Ethik  als  philosophischer  Wissenschaft.  IL  Bd. 
Kant  und  die  Ethik  im  19.  Jahrhundert.    2.  Aufl.,  Stuttgart,  Gotta  Nfg. 

Kant,  J.,  Anthropologie.     Hrsg.  von  K.  Vorländer.    Leipzig,  F.  Meiner. 

Kiewer,  M.,  Grundlagen  einer  organischen  Weltanschauung.   Berlin,  Simion  Xt. 

Külpe,  O.,  Die  Realisierung.    Bd.  I.    Leipzig,  Hirzel. 

Messer,  A.,  Geschichte  der  Philosophie.     Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 

Monzel,  A.,  Die  Lehre  vom  inneren  Sinn  bei  Kant.    Bonn,  Georgi. 

Nietzsche,  Friedrich,   Werke  Bd.  XIX,  Philologica.    Bd.  III.    Leipzig,  Kiöner. 

Ostwald,  Wilh.,  Die  Philosophie  der  Weite.     Leipzig,  Ebd. 

Rawitz,  B.,  Der  Mensch.  Eine  fundamental-philosophische  Untersuchung. 
Berlin,  Simion  Nf. 

Rehmke,  J.,  Grundriß  der  Gesohiohte  der  Philosophie.  2.  Aufl.  Leipzig, 
Quelle  &  Meyer. 

Schrecker,  P.,  Henri  Bergsons  Philosophie  der  Persönlichkeit.  München. 
Reinhardt. 

Schwieder,  F.  P.,  Nichts  ist  unmöglich.    Straßbuig,  Singer. 

Slonimsky,  H.,  Heraklit  und  Parmenides.    Gießen,  Töpelmann. 

Stieglitz,  O.,  Einfühlung  in  die  Musikästhetik.    Stuttgart,  Gotta  Nfg. 

Teubners,  B.  G.,  Veilagskatalog  auf  dem  Gebiete  der  Mathematik,  Naturwissen- 
schaften und  Technik.     Leipzig. 

Westermann,  E.,  Grundlinien  der  Welt-  und  Lebensanschauung  Rudolf  Hilde- 
brands.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 

Wild,  0.  C,  Das  Christentum  im  Lichte  der  modernen  Wissenschaft.  St.  Galle  i, 
Selbstverlag. 

Willmann,  O.,  Aus  der  Werkstatt  der  Philosophia  perennis.    Freiburg,  Herder. 

Ziehen,  Th.,  Erkenntnistheorie.     Jena,  G.  Fischer. 

B.    Französische    Literatur. 
Dumesnil,  G.,  La  Sophistique  contemporaine.    Paris,  G.  Beauchesne. 
Renouvier,  Ch.,  Essais  de  Critique  Generale.     Deuxieme    Essai.     Traite    de 

Psychologie  Rationelle.     2  Bde.     Paris,  A.  Colin. 
Roland-Gosselin,  Les  Methodes  de  la  Definition  d'apres  Aristote.    Kain. 

C.    Englische    L  i  t  e  r  a  t  u  r. 
Chatterton-Hill,  The  Philosophy  of  Nietzsche.     London,  John   Ouseley  Ltd. 

Festskrift  tillequad  Edvard  Westermarck.     Helsingfors. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XIX.  Band,   3.  Heft. 


XVI. 

Kants  Beweis  für  die  transzendentale  Synthesis  der 

Einbildungskraft. 

(Kr.  d.  r.  V.   Kehrbach  S.  116/118,  130/134.) 

Von 
Friedrich  Maywald. 

Inhaltsübersicht  (die  Zahlen  beziehen  sich   auf  die  Absätze). 

Aufstellung  des  Themas  1. 

I.  Das  erste  Glied  des  Beweises  2 — 11.   Der  Begriff  der  Reproduktion  3 — 4. 
Reproduktion  und  Assoziation  ohne  Regeln  und  Wiederholungen  der 
Erscheinungen  möglich  5 — 7.     Assoziabilitat  oder  Affinität  8.     Regel 
und  Folge  9—10.     Ergebnis  des  1.  Teils  11. 
II.  Ein  formeller  Fehler  des  Beweises  12. 

III.  Die  den  Nerv  des  Beweises  bildende  Parallele  zwischen  empirischer 
und  transzendentaler  Reproduktion  13 — 21.  Vertauschung  der  Be- 
griffe Assoziation  und  Reproduktion  13 — 14.  Vereinbarkeit  zu  einer 
„ganzen  Vorstellung"  als  Erfordernis  der  Assoziation  15 — 16.  Er- 
fordernis von  mindestens  zwei  Gliedern  bei  der  Assoziation  17.  Prüfung 
der  ,, reinen"  Beispiele  bezüglich  dieser  Erfordernisse  18 — 20.  Ver- 
schiedener Sinn  des  Begriffes  Reproduktion  bei  der  empirischen  und 
transzendentalen  Synthesis  21. 

IV.  Eine  Linie  an  sich  usw.  als  Erfordernis  der  Parallele  22. 

V.  Affinität  als  Folge  der  Synthesis  der  Einbildungskraft  betrachtet  23. 
Dann  der  Beweis  überflüssig  24.    Empirisch  und  transzendental,  ohne 
Beweis  vorausgesetzte  Begriffe  25. 
VI.  Ein  formeller  Widerspruch  des  Beweises  26. 
VII.  Ein  Zirkelschluß  des  Beweises  27.     Ergebnis  28. 


"■&"- 


i  Kant  sucht  in  seiner  Deduktion  der  Kategorien  u.  a.  das  Vorhanden- 
sein und  die  Wirksamkeit  einer  produktiven  bzw.  reproduktiven 
Einbildungskraft  darzulegen.     Tu  der  ersten  Auflage  der  Kritik  der 

\ivhi\   für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  3.  nj 


282  Friedrich   Maywald, 

reinen  Vernunft  finden  sich  die  darauf  bezüglichen  Ausführungen 
besonders  auf  S.  116/118  und  130/134  (Ausgabe  Kehrbach-Reclam). 
Hier  wird  der  Versuch  gemacht,  durch  ein  vom  „Empirischen"  (130) 
ausgehendes  Beweis  verfahren  zu  zeigen,  daß  „man"  eine  reine  trans- 
zendentale Synthesis"  „der  Einbildungskraft"  „annehmen  müsse" 
(117).  Ich  glaube,  daß  auf  S.  130/134  im  wesentlichen  nur  eine  breitere 
Ausführung  der  auf  S.  116/118  dargelegten  Gedanken  zu  finden  ist, 
und  daß  der  Gedankengang  hier  durch  Hereinziehung  der  „ursprüng- 
lichen Apperzeption"  (131  f.)  gestört  wird.  Eine  Kritik  des  Beweises 
für  die  Annahme  einer  „transzendentalen  Funktion  der  Einbildungs- 
kraft" (132)  kann  sich  also  auf  die  Darlegungen  auf  S.  116/118  be- 
schränken. Da  sich  eine  solche  Kritik  auch  bei  H.  Vaihinger  („Die 
transzendentale  Deduktion  der  Kategorien",  Halle  1902)  nicht  findet, 
—  er  beschränkt  sich  auf  die  Bemerkung,  daß  dieser  „Nachweis" 
„sehr  gesucht  und  geschraubt"  sei  (S.  17/39)  — ,  so  will  ich  versuchen, 
eine  eingehende  (Kritik  S.  9)  Analyse  der  Gedanken  Kants  zu  geben. 

2  Das  erste  Glied  des  Beweises  besteht  in  der  Behauptung,  das 
„empirische  Gesetz"  der  „Reproduktion"  „setze  voraus",  „daß  die 
Erscheinungen  selbst  wirklich  einer  .  .  .  Regel  unterworfen  seien" 
und  zwar  „von  selbst"  (116  Nr.  2,  Z.  7—16,  2-^5  v.  u.),  oder  daß 
„eine  notwendige  synthetische  Einheit"  in  ihnen  vorhanden  sei. 
Die  Regelmäßigkeit  oder  Einheit  der  Erscheinungen  bzw.  ihr  „Grund" 
(117)  ist  also  unmittelbar  genommen  als  „etwas",  „was  selbst  diese 
Reproduktion  der  Erscheinungen  möglich  macht"  (116/117,  119, 
3—5  v.  u.).  „Ohne  das"  (116  Mitte),  d.  h.  ohne  Regelmäßigkeit, 
„Affinität"  (125/26.  132),  Assoziabilität  (131/132),  „Reproduzibilität" 
(117, 121  u.)  oder  „synthetische  Einheit"  (117)  gäbe  es  keine  Reproduk- 
tion, mit  andern  Worten:  Reproduktion  ist  nur  möglich,  wenn  die 
Erscheinungen  Regeln  unterworfen  sind;  nun  findet  Reproduktion 
wirklich  statt,  sie  ist  ein  empirisches  Faktum,  also  müssen  auch  die 
Erscheinungen  Regeln  unterworfen  sein. 

3  Daß  die  Reproduktion  ohne  Regelmäßigkeit  der  Erscheinungen 
unmöglich  sei,  ist  aber  eine  Behauptung  Kants,  die  den  Tatsachen 
widerspricht,  wie  sich  aus  einer  näheren  Betrachtung  des  Begriffs 
Reproduktion  ergibt.  Man  kann  vom  realistischen  Standpunkte 
aus  oder  nach  der  sogenannten  „Abbildstheorie"  auch  diejenige 
Tätigkeit  der  Seele,  welche  ein  Bild  eines  realen  Gegenstandes  ins 
Bewußtsein   hineinproduziert,   reproduktiv   nennen,   weil   es   sich   ja 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.    283 

um  ein  bloßes  Nach  seh  äffen,  um  eine  Wiederholung  dessen  handelt, 
was  in  der  realen  Wirklichkeit  als  Urbild  gesetzt  ist.  Betrachtet 
man  das  im  Bewußtsein  befindliche  Bild  aber  isoliert  und  losgelöst 
von  seiner  Beziehung  zum  realen  Gegenstande,  so  muß  die  Tätigkeit 
der  Seele  als  p  r  o  d  u  k  t  i  v  bezeichnet  werden,  weil  tatsächlich 
ja  etwas  Neues,  zu  dem  realen  Gegenstande  als  zweites  Hinzu- 
kommendes, von  ihm  „Unterschiedenes"  (119  oben),  weil  in  der 
imaginären,  reell  unräumlichen  Dimension  des  Bewußtseinsraumes 
Gelegenes  erzeugt  wird,  wie  Farben  und  Töne  beweisen.  „Emp- 
findungen" und  die  daraus  „gestalteten"  „Wahrnehmungen"  sind 
eben  durchaus  „ein  inneres  Erzeugnis  der  Seele"  (Ostermann- 
Wegener,  Pädagogik  I,  S.  37/40,  12.  Aufl.  1902),  und  in  diesem  Sinne 
bezeichnet  auch  Kant  die  „produktive"  (128/29)  „Einbildungskraft" 
als  „ein  notwendiges  Ingredienz  der  Wahrnehmung  selbst",  weil 
sie  aus  den  durch  die  „Sinne"  „gelieferten"  „Eindrücken"  „Bilder 
der  Gegenstände"  „zusammensetzen"  müsse  (130  Anm.). 
i  Es  hegt  auf  der  Hand,  daß  auch  bei  der  Reproduktion  von  Wahr- 
nehmungen oder  bei  Erinnerungsvorstellungen  dieses  produktive 
Vermögen  der  Seele  in  Kraft  treten  muß;  denn  was  von  einer  Wahr- 
nehmung zurückbleibt,  kann  nichts  weiter  sein  als  die  Spur  des  ersten 
Eindrucks  im  Nervenorgan.  Ähnlich  wie  die  im  Phonographen  fest- 
gehaltenen Eindrücke  nicht  von  selbst  die  Töne  reproduzieren  können, 
sondern  wie  hier  bzw.  im  Grammophon  eine  bewegendeKraft  hinzu- 
kommen muß,  die  den  Stift  über  die  Schallspuren  leitet  und  dadurch 
die  früheren  Schwingungen  neu  erzeugt,  so  muß  auch  die  produktive 
Einbildungskraft  auf  die  im  Hirn  zurückgebliebenen  Spuren  aufs 
neue  reagieren  und  dadurch  die  Erinnerungsvorstellungen  neu  er- 
zeugen. Man  nennt  diese  Tätigkeit  der  Seele  aber  reproduktiv,  weil 
das  Hauptinteresse  sich  hier  auf  die  Erinnerung  richtet,  also  den 
Umstand,  daß  die  Vorstellung  bereits  früher  schon  mindestens  ein- 
mal in  demselben  Bewußtsein  aufgetreten  war,  und  als  Wiederholung 
erkannt  wird. 

5  Pur  diese  Reproduktion  ist  es  aber  unmittelbar  genommen  völlig 
gleichgültig,  ob  die  Vorstellungen  früher  nur  ein  einziges  Mal  oder 
öfter  dagewesen  sind,  ob  sie  „sich  oft"  oder  gar  nicht  „gefolgt  oder 
begleitet  haben"  (116),  d.  h.  ob  sie  als  isolierte  Einzelvorstellung 
oder  als  Vorstellungsfolge  oder  Vorstellungskomplex  ins  Bewußtsein 
getreten  sind.     „Reproduzibel"  überhaupt  sind  alle  Vorstellungen, 

19* 


284  Friedrich   Maywald, 

gleichgültig,  ob  sie  durch  einen  Gegenstand  erzeugt  oder  erdichtet, 
ob  die  Vorstellungen  in  sich  harmonisch  oder  regellos  und  willkür- 
lich verbundene  Konglomerate  waren.  Diese  Rücksichten  sind  neben 
andern  Umständen  nur  von  Bedeutung  für  die  Leichtigkeit  und  den 
Umfang  der  Reproduktion. 

r.  Danach  ist  es  also  falsch,  daß  die  Fähigkeit  zur  Reproduktion, 
die  von  Kant  als  „empirische  Einbildungskraft"  (116)  anstatt  als 
Gedächtnis  bezeichnet  wird,  nur  dann  etwas  „zu  tun  bekommen" 
würde,  wenn  die  Erscheinungen  gewissen  „Regeln"  „von  selbst" 
„unterworfen  seien",  oder  daß  mehrere  Erscheinungen  oder  Vor- 
stellungen sich  „oft"  oder  überhaupt  „folgen"  oder  „begleiten" 
müssen  (116),  um  reproduziert  werden  zu  können.  Es  kann  auch  eine 
in  sich  einfache  Vorstellung,  wie  eine  einfache  Farbe  oder  ein  einfacher 
Ton,  nach  einmaligem  früheren  Erscheinen  im  Bewußtsein  wieder 
reproduziert  werden,  und  Kant  gibt  selbst  schon  auf  der  nächsten 
Seite  (117)  in  den  Teilen  der  Linie,  den  Zahl-  und  Zeiteinheiten  Bei- 
spiele einfacher  Vorstellungen,  bei  denen  mindestens  für  die  erste 
nach  einmaligem  Auftreten  eine  „Reproduktion  stattfindet",  wenn 
auch  keine  „Synthesis  der  Reproduktion"  (116  u.),  denn  an  einer 
einfachen  Einheit  ist  nichts  mehr  zusammenzusetzen.  Die  Tatsache 
bzw.  die  Fähigkeit  zur  Reproduktion  würde  also  nicht  dadurch  auf- 
gehoben, obgleich  natürlich  beeinträchtigt,  wenn  in  den  Erscheinungen 
keine  Regel  wäre  oder  die  Dinge  sich  fortwährend  änderten.  Das 
kommt  daher,  daß  der  „subjektive  Grund"  (131)  für  diese  Reproduk- 
tion zunächst  gar  nichts  mit  der  Regelmäßigkeit  der  Erscheinungen 
zu  tun  hat,  sondern  allein  in  „einem  reproduktiven  Vermögen 
der  Einbildungskraft",  d.  h.  in  der  Gedächtniskraft,  welche  frühere 
„Wahrnehmungen"  in  die  Erinnerung  zurückzurufen  vermag  (131, 
Z.  1 — 5).  Die  Regelmäßigkeit  oder  öftere  Wiederholung  bzw.  Folge 
von  Erscheinungen  oder  Vorstellungen  ist  also  nur  insofern  von  Be- 
deutung für  mre  Reproduktion,  als  hier  die  empirische  Beobachtung 
oder  Regel  gilt,  daß  die  Reproduktion  umso  leichter  erfolgt,  je  öfter 
derselbe  Eindruck,  der  auch  ein  ganz  einfacher,  isolierter  sein  kann, 
sich  wiederholt  hat,  also  je  tiefer  er  seine  Spur  in  das  materielle 
Organ  des  Gedächtnisses,  das  Hirn,  eingedrückt  hat. 
7  In  ähnlicher  Weise  spielt  die  Wiederholung  eine  Rolle  bei  der 
Einprägung  mehrerer  Einzelvorsteilungen  zu  einem  Komplex  oder 
bei   der   Bildung   von   Assoziationsvorstellungen,   nur   daß   hier   die 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   285 

Wiederholung  als  öftere  Begleitung  oder  Aufeinanderfolge  erscheint. 
Das  ist  das  „empirische  Gesetz",  worauf  Kant  S.  116  hinweist,  das 
er  aber  in  ein  „Gesetz  der  Reproduktion"  und  eine  „empirische  Syn- 
thesis der  Reproduktion"  umtauft.  Bei  der  Assoziation  handelt  es 
sich  um  die  Verknüpfung  oder  Vergesellschaftung  mindestens  zweier 
selbständiger  oder  als  selbständig  möglicher  Vorstellungen,  und  das 
ist  das  Moment,  das  bei  der  Assoziation  zur  Reproduktion  neu  hinzu- 
tritt. Diese  Verknüpfung  oder  Assoziation  wird  um  so  fester  und  sie 
taucht,  wenn  ein  Glied  derselben  gegeben  ist,  um  so  leichter  ganz 
oder  teilweise  aus  der  Erinnerung  auf,  wird  also  reproduziert,  — 
aber  als  ganzer  oder  teilweiser  Assoziationskomplex  — ,  je  „öfter" 
sich  die  beiden  Vorstellungen  „gefolgt  oder  begleitet"  (116)  haben. 
Es  scheint,  zunächst  hier  noch  plausibler  als  bei  der  bloßen  Reproduk- 
tion einfacher  Vorstellungen  als  Grund  für  die  im  Gedächtnis  sich 
bildende  Verknüpfung  „eine,  gewissen  Regeln  gemäße  Begleitung 
oder  Folge"  der  Erscheinungen  „vorauszusetzen"  (116).  Der  Schluß 
auf  diese  Voraussetzung  wäre  aber  nur  dann  unanfechtbar,  wenn 
dieses  „empirische  Gesetz"  der  öfteren  Wiederholung  von  Vorstellungen 
die  conditio  sine  qua  non  zur  Bildung  von  Assoziationen  wäre.  Aber 
auch  hier  beweist  die  Tatsache  des  guten  Gedächtnisses  vieler  Menschen, 
daß  eine  einmalige  Folge  oder  der  einmalige  Eindruck  zweier  gleich- 
zeitiger, sich  „begleitender"  Vorstellungen,  deren  Verbindung  oder 
Folge  eine  „beständige  Regel"  nicht  zu  enthalten  braucht,  ausreicht, 
um  sehr  enge  und  feste  Assoziationen  herzustellen.  Es  genügt  also  auch 
hier  vollständig  der  „subjektive"  Faktor  allein,  „das  Vermögen", 
Wahrnehmungen  zu  assoziiren"  (131,3)  oder  die  Fähigkeit  der  Seele, 
mindestens  zwei  Einzelvorstellungen  gleichzeitig  oder  unmittelbar 
nacheinander  aufzufassen  oder  zu  „apprehendieren"  (115,  132,1), 
um  sie  im  Gedächtnis  mit  einander  verbunden  festzuhalten.  Das 
Gedächtnis  als  grundlegender  Faktor  bei  der  Bildung  von  Assoziationen 
aus  Folgeerscheinungen  wird  von  Kant  bei  den  transzendentalen 
Beispielen  (117)  und  bei  der  „Rekognition  im  Begriff"  (118)  erwähnt, 
dagegen  dort,  wo  es  die  ausschlaggebende  Rolle  spielt,  in  seinem 
empirischen  Beispiel  (116)  übergangen  bzw.  als  „empirische  Ein- 
bildungskraft" bezeichnet,  was  um  so  merkwürdiger  ist,  als  er  gerade 
auf  die  Reproduktion,  wenigstens  den  Worten  nach,  den  Schwerpunkt 
legt.  Denn  wenn  hier  die  Vorstellung  der  „roten  Farbe"  „einen 
Übergang  des  Gemüts"  zur  Vorstellung  des  „schweren  Zinnobers"  (116) 


86  F  r  i  e  d  r  i  c  h    M  a  y  w  a  1  d  , 

„hervorbringt",  so  ist  zwar  die  früher  gebildete  Assoziation  der  beiden 
Vorstellungen  der  Gelegenheitsanlaß  zur  Reproduktion  und  der 
Grund  dafür,  daß  die  „eine  Vorstellung  vielmehr  mit  dieser,  als  einer 
andern  in  der  Einbildungskraft  in  Verbindung  tritt"  (131,  2).  Aber 
der  eigentliche  Grund  dieser  wie  jeder  Reproduktion  kann  nur  in 
der  Gedächtniskraft,  in  dem  „subjektiven",  „reproduktiven 
Vermögen  der  Einbildungskraft"  (131,  1)  gesucht  werden. 
8  Daneben  erscheint  der  „objektive  Grund"  (131,  3), 
die  „Reproduzibilität"  (117),  besser  Assoziabilität  oder  Affinität 
(125,  131,  2),  die  objektive  Beschaffenheit  der  Vorstellungen  zunächst 
völlig  gleichgültig.  Darauf  macht  Kant  selbst  durch  das  Beispiel 
S.  116,  Z.  5—7  v.  u.  aufmerksam,  die  Assoziation  von  Wort-  und 
Sachvorstellungen;  das  Bewußtsein  kann,  wie  dieses  Beispiel  zeigt, 
alle  möglichen  Vorstellungen  mit  einander  assoziieren,  ohne  auf  ihre 
Affinität  oder  ihre  objektive  Folge  nach  „Regeln"  (116)  Rücksicht 
zu  nehmen.  „Assoziabel"  (131,  3)  sind  unmittelbar  genommen  alle 
Vorstellungen;  es  bleibt  nur  in  vielen  Fällen  „unbestimmt  und  zu- 
fällig" (131,  3),  welche  oder  ob  überhaupt  Assoziationen  sich  bilden. 
Solche  zufälligen,  willkürlichen  Assoziationen  sind  im  Grunde  ge- 
nommen die  Worte  der  verschiedenen  Sprachen  für  dieselbe  Sach- 
vorstellung (116,  5 — 7  v.  u.),  ebenso  wie  die  stenographischen  Sigel 
willkürliche  Assoziationen  willkürlicher  Zeichen  mit  bestimmten 
Wortvorstellungen  sind.  Jedenfalls  hegt  in  der  Verbindung  eines 
bestimmten  Wortes  oder  Lautkomplexes  mit  einer  bestimmten  Sach- 
vorstellung keine  solche  Notwendigkeit  oder  Regel,  wie  sie  die  Ver- 
bindung der  roten  Farbe  mit  dem  schweren  Zinnober  oder  der  be- 
stimmten Gestalt  mit  einem  bestimmten  Tiere  oder  Menschen  zeigt  (116). 
Selbst  aus  einer  Folge  von  Erscheinungen,  in  welcher  der  absolute 
Zufall  herrschte,  könnte  sich  das  „Vermögen",  „Wahrnehmungen 
zu  assozieren  (131,  3),  bestimmte,  durch  ihr  zufälliges  „Zusammen- 
geraten" (131,  2)  nahegelegte  Vorstellungsverbindungen  heraus- 
greifen und  ihre  Verbindung  im  Gedächtnis  feshtalten.  Derartige 
Verbindungen  sind  z.  B.  die  „unmöglichen  Gegenstände"  Meinongs 
(Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik,  Bd.  129  (1906) 
S.  54 — 66),  d.  h.  sie  sind  nichts  weiter  als  willkürliche  Zusammen- 
stellungen bloßer  Worte,  z.  B.  rundes  Viereck  (flatus  vocis).  Hier 
ergibt  die  Assoziation  keine  „ganze  Vorstellung"  (117  u.)  mit  „not- 
wendiger synthetischer  Einheit"  (117  oben),  auf  die  es  Kant  ankommt, 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   287 

und  man  dürfte  danach  in  Kants  Sinne  nur  solche  Vorstellungen 
„assoziabel"  (131,  3)  nennen,  welche  durch  die  „empirische  Regel 
der  Assoziation"  (125),  bzw.  ihr  Korrelat,  die  „im  Objekt  hegende" 
„Affinität",  also  durch  ein  „Gesetz  der  Natur"  oder  durch  die  Logik 
als  „assoziabel"  und  verknüpf  bar  erwiesen  werden.  Die  Beschränkung 
des  Begriffs  Assoziation  auf  Assoziabilität  in  Kants  Sinne  wäre  aber 
ganz  willkürlich  und  würde  gerade  das  in  ihn  hineinlegen,  was  Kant 
erst  als  die  „Voraussetzung"  (116)  oder  als  den  „Grund  a  priori"  (117) 
für  diesen  Begriff,  ja  sogar  für  den  bloßen  Begriff  der  Reproduktion 
aufzeigen  will,  nämlich  eine  bestimmte  Beschaffenheit  der  Erschei- 
nungen, ihre  Affinität  oder  Reprocluzibilität. 

o  Selbst  wenn  man  die  öftere  Wiederholung  oder  Folge  als  conditio 
sine  qua  non  für  die  Bildung  von  Assoziationen  einräumen  wollte, 
so  wäre  der  Schluß  auf  die  „Regel"  und  „synthetische  Einheit" 
(116/17)  der  Erscheinungen  noch  immer  nicht  zulässig  und  jedenfalls 
nicht  von  „apodiktischer  Gewißheit"  (7);  denn  es  ist  von  vorn  herein 
(a  priori)  unwahrscheinlich,  daß  selbst  in  einer  Folge  von  Erschei- 
nungen, in  welcher  der  absolute  Zufall  herrschte,  wie  sie  Kant  S.  116 
schildert,  in  dem  ewigen  Wechsel  nicht  auch  solche  Umstands- 
kombinationen  auftreten  sollten,  die  eine  mehrfache  Wiederholung 
oder  eine  öftere  Folge  der  gleichen  Erscheinungen  bieten.  Hat  doch 
Hume  den  Kausalitätsbegriff  auf  die  Assoziation  des  „geAvohnten 
Nacheinander"  solcher  öfters  ohne  Regel  wiederholten  Umstands- 
kombinationen  zurückführen  wollen. 

io  Das  Ergebnis  ist  also,  daß  sowohl  die  Assoziation  als  die  Re- 
produktion von  Vorstellungen  möglich  ist,  ohne  daß  in  den  Erschei- 
nungen selbst  eine  „beständige  Regel"  (116)  oder  „ein  beständiges 
Gesetz"  (125)  oder  „notwendige  synthetische  Einheit"  (117)  herrscht; 
ja  selbst  eine  „oft"  wiederholte  „Folge"  ist  dazu  nicht  erforderlich. 
Es  wäre  nun  allerdings  möglich,  daß  die  Erscheinungen  „von  selbst" 
(116,  3 — 4  v.  u.),  ohne  sich  um  ihre  Assoziation  oder  Reproduktion 
durch  irgend  welche  Einbildungskraft  zu  kümmern,  unter  Regeln 
und  Gesetzen  ständen.  Wenn  man  aber,  wie  Kant  die  Seele  und  d;is 
Ding  an  sich  zwar  der  Existenz  nach  nicht  leugnet,  aber  zu  einem 
einflußlosen,  aber  gelegentlich  doch  „affizierenden"  bzw.  affiziert 
werdenden  X,  zu  einem  „Grenzbegrüf"  verflüchtigt  hat  (Benno 
Erdmann,  Prolegomena,  Einleitung,  Leipzig  1878,  S.  41—79,  99—105 
bes.  65/66,  103),  so  bleibt  nichts  übrig,  als  in  den  „Erscheinungen" 


288  Friedrich  Maywald, 

„das  bloße  Spiel  unserer  Vorstellungen"  (117)  zu  sehen,  ebenso  wie 
Hume  infolge  der  Ausschaltung  des  Substanzbegriffes  und  der  Selbst- 
beschränkung auf  den  bloßen  Bewußtseinsinhalt  die  reine  Erfahrung 
„konsequent"  (111  Anm.)  zu  einer  bloßen  Kette  von  Eindrücken 
und  Ideen,  „die  ohne  angebbare  Gründe  und  in  grundloser  Reihen- 
folge bald  in  das  Bewußtsein  eintreten,  bald  aus  ihm  austreten" 
(E.  v.  Hartmann,  Gesch.  der  Metaphysik  T,  532,  550),  Kants  „ganzen 
Reihen"  (131,  1)  gemacht  hatte.  Hume  war  auch  konsequent  genug 
zuzugeben,  daß  in  dieser  Kette  kein  notwendiges  Kausalitätsgesetz 
zu  finden  sei,  und  darin  hatte  er  durchaus  Recht,  wie  der  Mißerfolg 
aller  Versuche  gezeigt  hat,  auf  parallelistischer  Grundlage  eine  der 
physischen  realen  Kausalität  parallele  geschlossene  psychische 
Kausalität  aufzuzeigen,  deren  Geschlossenheit  schon  an  der  Tat- 
sache des  traumlosen  Schlafes  scheitert.  Diese  Tatsache  wird  neuer- 
dings vom  konsequenten  Parallelismus  bestritten  und  sogar  das 
Gegenteil  als  „experimentell"  gesichert  behauptet,  um  zu  beweisen, 
daß  auch  die  psychische  Kette  nirgends  abreiße,  womit  die  „Paralleli- 
tät" aber  immer  noch  lange  nicht  bewiesen  wäre.  Wie  aber  an  sich 
klar  ist  und  wie  Eduard  von  Hartmann  in  seinen  erkenntnistheoreti- 
schen Arbeiten  un widerlegt  dargetan  und  Johannes  Volkelt  in  seinen 
„Quellen  der  menschlichen  Gewißheit"  (München  1906)  gezeigt  hat, 
bleibt  uns  in  der  bloßen  „Welt  als  Vorstellung  "nur  ein  „wüstes" 
sinnloses  „Traumwirrsal"  übrig,  in  dem  keinerlei  Gesetze,  am  aller- 
wenigsten Naturgesetze  herrschen,  in  dem  vielmehr  nur  psychische 
Gesetze  herrschen  könnten. 

u  Selbst  wenn  also  das  erste  Glied  des  Kantschen  Beweises,  der 
Schluß  von  der  Möglichkeit  der  Reproduktion  oder  Assoziation  auf 
die  Regelmäßigkeit  der  Erscheinungen  —  diese  als  „bloßes  Spiel  der 
Vorstellungen"  (117)  genommen  —  richtig  wäre,  so  würde  er  durch 
diese  Tatsache  als  hier  nicht  anwendbar  erwiesen.  Damit  ist  aber 
auch  der  ganze  auf  die  Regelmäßigkeit  der  Erscheinungen  gegründete 
Beweis  abgetan. 

12  Er  fällt  aber  auch  schon  durch  einen  formellen  Fehler.  Kant 
fährt  nämlich  in  seinem  Beweise  fort:  „Es  muß  also  etwas  sein,  was 
selbst  diese  Reproduktion"  (soll  heißen  „Reproduzibilität"  (117) 
oder  „Affinität"  (125)  der  Erscheinungen  möglich  macht,  dadurch, 
daß  es  der  Grund  a  priori  einer  notwendigen  synthetischen  Einheit 
derselben  ist"  (116/117).     Dieser  Grund  könne  nur  in  einer  „reinen 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   289 

transzendentalen  Synthesis  der  „Einbildungskraft"  gesucht  werden, 
die  „vor  aller  Erfahrung  auf  Prinzipien  a  priori  gegründet"  sei,  und 
die  man  deshalb  „annehmen"  müsse  (117,  12 — 15).  Es  ist  also  die 
Aufgabe  des  Beweises,  die  Berechtigung  dieser  „Annahme"  einer 
Einbildungskraft,  und  zwar  einer  „transzendentalen"  oder  „pro- 
duktiven" zu  zeigen,  welche  allein  „a  priori"  stattfindet;  denn  die 
„reproduktive  beruht  auf  Bedingungen  der  Erfahrung"  (128/129), 
ist  also  a  posteriori  und  wurde  von  Kant  in  der  2.  Auflage  (S.  673) 
als  in  die  Psychologie  gehörig  aus  der  Transzendentalphilosophie 
überhaupt  hinausgewiesen  (Vaihinger,  a.  a.  0.  97/98).  Daß  Kant 
die  Absicht  hatte,  die  „produktive  Einbildungskraft"  als 
„transzendentale  Handlung  des  Gemüts"  (117)  zu  erweisen,  zeigen 
auch  die  Schlußworte  des  Alischnitts  Nr.  2  (S.  118),  wonach  die 
„Einbildungskraft",  und  nicht  die  „Synthesis  der  Reproduktion"  (117) 
als  ein  „transzendentales  Vermögen"  nachgewiesen  erscheint.  Nun 
ist  aber  nach  dem  Beweise  selbst  und  sogar  nach  Kants  eigenen  in 
demselben  Schlußabsatz  enthaltenen  Worten  nur  die  „Synthesis 
der  Reproduktion"  als  „transzendentale  Handlung  des  Gemüts"  (117) 
erwiesen  Der  Beweis  hat  also  nach  Kants  eigenen  Worten  sein  Ziel 
verfehlt,  denn  er  kann  nur  für  die  reproduktive  und  nicht  für  die 
produktive  Einbildungskraft  Geltung  beanspruchen,  und  ist  daher 
schon  aus  diesem  Grunde  abzulehnen.  Daß  Kants  Beweis  auf  die 
produktive  Einbildungskraft  abzielte,  dafür  spricht  auch  der  Um- 
stand, daß  nur  an  dieser  einen  Stelle  die  reproduktive  Einbildungs- 
kraft als  transzendentale  Funktion  gilt,  sonst  aber  überall  nur  als 
empirisch,  während  das  Prädikat  transzendental  nur  der  produktiven 
zuerteilt  wird  (Vaihinger,  a.a.O.  S.  5/27;  18/40). 
13  Weil  Kant  aber  wohl  fühlte,  daß  er  in  der  produktiven  Ein- 
bildungskraft einen  ganz  unentbehrlichen  Faktor  gefunden  hatte, 
der  „ein  nothwendiges  Ingredienz  der  Wahrnehmung  selbst  sei" 
(Anm.  1)30),  in  der  sogar  der  Kardinal  begriff  der  Zukunft,  die  unbe- 
wußte Geistestätigkeit  steckte  (95  2;  145,  658  Z.  7— 8),  so  hielt  er 
mit  Zähigkeit  an  ihm  fest,  und  schreckte  selbst  vor  solch  groben 
formellen  Fehlern,  ja  direkten  Widersprüchen  und  Sophistereien 
nicht  zurück,  um  den  Schein  eines  Beweises,  sei  es  auch  nur  „für  die 
Synthesis  der  Reproduktion"  als  „transzendentaler  Handlung  des 
Gemüt  bs"  (117)  zu  erzielen.  Der  Beweis  ist  nun  aber  auch  für  diese 
Synthesis  der  Reproduktion  nicht  geführt,  weil  die  iWn  Nerv  des 


290  Friedrich   Maywald, 

Beweises  bildende  Parallele  zwischen  empirischer  und  transzendentaler 
Reproduktion  (116/117)  auf  einen  Widerspruch  und  einen  Zirkel- 
schluß gegründet  ist,  Um  für  diese  Parallele  zunächst  gleiches  Terrain 
zu  schaffen,  und  Erscheinungen  in  beiden  Fällen  nicht  als  Dinge  an 
sich  selbst,  sondern  als  „bloßes  Spiel  der  Vorstellungen"  behandeln 
zu  können,  muß  in  dem  transzendentalen  Beispiel  die  Linie  nur  „in 
Gedanken1"  gezogen  (117)  und  in  dem  empirischen  Beispiel  vom 
roten  Zinnober  die  „Gegenwart  des  Gegenstandes"  (116),  d.  h.  des 
realen  Dinges  an  sich  ausgeschaltet  oder  doch  wenigstens  die  Auf- 
merksamkeit in  sophistischer  Weise  von  ihm  abgelenkt  werden. 
Das  erreicht  Kant  durch  den  einfachen  Kunstgriff,  daß  er  hier  zuerst 
und  von  vornherein  von  Vorstellungen  spricht,  „die  sich  oft  gefolgt 
oder  begleitet  haben"  (116),  daß  er  also  mit  der  Entstehung  und 
Bildung  der  Vorstellungs-  Assoziation  anfängt  während  das 
erste  liier  der  Gegenstand  ist  und  sein  müßte  in  dem  nicht 
Vorstellungen,  sondern  die  ihnen  „korrespondierenden"  (119  oben) 
Eigenschaften  in  einer  ursprünglichen  Verknüpfung,  Vergesell- 
schaftung oder  Assoziation  bzw.  Affinität  stehen,  „ohne  die  Gegen- 
wart der  Vorstellung",  und  ganz  gleichgültig  dagegen,  ob  auch  die 
Vorstellungen  von  diesen  realen  Eigenschaften  sich  mit  einander 
„vergesellschaften"  (116)  und  dadurch  ein  Abbild  der  im  Gegenstand 
bereits  bestehend  e  n  ,  ursprünglichen  Verknüpf  u  n  g 
liefern  oder  nicht.  Da  die  beabsichtigte  Parallele  aber  nur  für  die 
R  e  p  r  o  d  u  k  t  i  o  n  paßt,  so  muß  auch  die  in  dem  empirischen 
Beispiel  doch  tatsächlich  vorliegende  Assoziation  in  den  Hintergrund 
geschoben  werden,  und  das  wird  dadurch  erreicht,  daß  nur  eine  ganz 
bestimmte  Seite  der  Assoziation  bzw.  die  aus  einer  bestehenden  Vor- 
stellungs-Assoziation resultierende  Folgeerscheinung  in  den  Mittel- 
punkt der  Aufmerksamkeit  gerückt  wird,  nämlich  der  Umstand,  daß 
sich  diese  Verknüpfung  dann  bemerklich  macht,  wenn  nur  eine  Vor- 
stellung gegeben  ist,  und  diese  „einen  Übergang  des  Gemüts  zu  der 
andern  ...  hervorbringt"  (116).  Dieser  Übergang  des  Gemüts  wäre 
hier  ganz  unmöglich,  wenn  die  zweite  Vorstellung  nicht  aus  dem 
Gedächtnis  hervorgeholt  und  reproduziert  würde,  und  da- 
durch wird  es  unauffällig  und  erhält  sogar  einen  Schein  des  Rechts, 
wenn  Kant  hier  von  einem  „Gesetz  der  Reproduktion"  spricht, 
Trotzdem  liegt  aber  sachlich  in  dem  empirischen  Beispiel  der  Schwer- 
punkt nicht  auf  der  Reproduktion,  sondern  auf  dem  Übergang, 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Syntliesis  der  Einbildungskraft.    291 

welcher  der  „gewissen  Regeln  gemäßen  . . .  Folge"  (116)  korrespon- 
diert; sonst  könnte  nicht  auf  die  „Regel"  geschlossen  werden,  welcher 
die  Erscheinungen  schon  „von  selbst"  unterworfen  sind  (116).  Es 
zeigt  sich  also,  daß  das  erste  Argument  des  Beweises  auf  die  Regel- 
mäßigkeit der  Erscheinungen  abzielt,  dafür  sich  aber  scheinbar  nur 
auf  die  empirisch  festgestellte  Tatsache  der  Reproduktion  stützen 
will,  was  nicht  angängig  ist,  daß  dagegen  das  Beispiel,  der  Einzel- 
fall, der  für  diese  Tatsache  angeführt  wird,  die  Reproduktion  nur  als 
untergeordnetes  Moment  enthält,  in  der  Hauptsache  aber  beweisend 
ist  bzw.  nur  als  Beleg  dienen  kann  für  eine  Synthesis  der  Assoziation 
und  nicht  für  eine  solche  der  Reproduktion.  Den  Unterschied  beider 
sucht  Kant  daher  hier  zu  verwischen  und  beide  als  gleichwertig  zu 
behandeln. 

i4  Er  vertauscht  sogar  beide  Begriffe  —  Reproduktion  und  Assozia- 
tion —  miteinander  und  an  dieser  mit  Rücksicht  auf  das  empirische 
Beispiel  scheinbar  ganz  harmlosen  Vertauschung  hängt  wie  an  einem 
dünnen  Faden  die  ganze  Parallele  zwischen  empirischem  und  trans- 
zendentalem Beispiel  und  damit  auch  der  Beweis.  Geht  man  durch 
Einsetzen  der  richtigen  Begriffe  den  Konsequenzen  dieser  Parallele 
gcnauei-  nach,  so  zeigt  sich  sofort  ihre  Unhaltbarkeit  und  damit  die 
Verfehltheit  des  Beweises,  trotzdem  die  Parallele  auf  den  ersten  Blick 
ganz  plausibel  erscheint.  Denn  ähnlich  wie  in  dem  transzendentalen 
Beispiel  keine  „ganze  Vorstellung"  der  Linie  „entspringen  könnte, 
wenn  nicht  die  „vorhergehenden  Teile"  immer  „reproduziert"  (117) 
würden,  so  würde  auch  in  dem  empirischen  Beispiel  die  „ganze  Vor- 
stellung" vom  roten  und  schweren  Zinnober  nicht  „erzeugt"  (116  oben) 
werden  (hier  allerdings  nur  wiedererzeugt  werden),  wenn  die  zweite 
Vorstellung  nicht  reproduziert  würde.  Die  Reproduktion  erscheint 
also  in  beiden  Fällen  in  gleicher  Weise  als  die  unmittelbare  Ursache 
der  Verknüpfung  oder  Assoziation  der  Teilvorstellungen  zu  den 
„ganzen  Vorstellungen". 

i5  Das  scheint  besonders  beim  empirischen  Beispiel  ganz  einleuch- 
tend. Hier  handelt  es  sich  aber  zunächst  darum,  zu  erklären,  warn  ni 
überhaupt  eine  Reproduktion  erfolgt,  und  wenn 
sie  erfolgt,  warum  „vielmehr"  „diese  als  eine  andere"'  (131,  2)  Vor- 
stellung reproduziert  wird,  und  warum  es  möglich  ist,  sie  zu  einer 
ganzen  Vorstellung  zu  vereinigen.  Dafür  liegt  der  „subjektive  und 
empirische  Grund"  in  der  „Assoziation  der  Vorstellungen"  (131,  2). 


292  Friedrich   Maywald, 

natürlich  in  der  bereits  bestehenden,  früher  gebildeten  Assoziation, 
die  im  Gedächtnis  aufbewahrt  ist,  nicht  in  der  durch  die  Reproduktion 
erst  zustande  kommende  Wiederholung  der  Assoziation;  denn  sonst 
würde  man  die  Ursache  durch  ihre  Wirkung  erklären  und  in  einen 
Zirkel  geraten.  Zur  Erklärung  der  bei  dieser  Wiederholung  einer 
Assoziation  wiederum  erfolgenden  Verknüpfung  zweier  Vorstellungen 
zu  einer  ganzen  Vorstellung  reicht  also  die  bloße  Reproduktion 
nicht  hin,  obgleich  sie  conditio  sine  qua  non  ist.  Vielmehr  ergibt  sich 
daraus,  daß  Kant  an  diesen  Stellen  (116, 131)  den  Begriff  der  Assoziation 
auf  die  Fälle  einschränkt,  wo  die  zu  assozierende  Vorstellung  zu 
einer  „ganzen  Vorstellung"  (117)  vereinigt  werden  können, 
die  Forderung,  die  beim  Begriff  der  Assoziation  als  solcher  in  ihrer 
Reinheit  genommen  abzulehnen  war,  nämlich  daß  die  Vorstellungen 
auch  „assoziabel"  (131,  3)  sind;  denn  sonst  müßten  sie  ohne  „be- 
stimmten Zusammenhang"  als  „regellose  Haufen"  (131,  2),  „zerstreut 
und  einzeln"  „im  Gemüthe  . . .  angetroffen  werden"  (130).  etwa  wie 
in  Meinongsunmöglichem  Gegenstande  „rundes  Viereck"  die  Vor- 
stellungen rund  und  viereckig,  oder  wie  eine  Reihe  gleichzeitiger 
Empfindungen  verschiedener  Sinne,  z.  B.  der  Geschmack  eines  Apfels, 
das  Rasseln  eines  vorüberrollenden  Wagens,  die  Glätte  der  Tisch- 
platte und  der  Eindruck  eines  an  der  Wand  hängenden  Bildes  (Anm.). 
Etwas  derartiges  scheint  Kant  S.  131,  Abs.  3  im  Sinne  zu  haben, 
denn  anders  ist  wohl  diese  sehr  „dunkle"  (115  oben)  Stelle  kaum  zu 
verstehen,  wenn  man  nicht  eine  Andeutung  des  „relativ  Unbewußten" 
darin  erkennen  will.  Immerhin  würde  das  bei  der  Unklarheit  der 
Kantschen  Ausführungen  —  infolge  der  „Verwerfung"  mehrerer 
„Schichten"  (vgl.  Vaihingers  bereits  zitierte  Schrift  über  die  Deduktion 
der  Kategorien)  auch  noch  schwer  sein,  um  so  mehr  als  Kant  selbst 
diese  „ganze  Sinnlichkeit,  ...  in  welcher  viel  empirisches  Bewußt- 
sein anzutreffen  wäre,  aber  getrennt,  und  ohne  daß  es  zu  einem 
Bewußtsein  meiner  selbst  gehörete",  für  „unmöglich",  für  eine 
Blktion  erklärt.  (Anm.  Damit  ist  wohl  das  vielfarbige  . , .  Selbst 
von  S.  661  zusammenzustellen.) 

16  In  dem  empirischen  Beispiel  ist  nun  diese  Forderung,  die  Asso- 
ziabilität  der  beiden  Vorstellungen  erfüllt,  was  durch  ihre  „Affinität" 
oder  ihr  reales  Beisammensein  im  realen  Gegenstande  bewiesen  ist, 
und  infolgedessen  ergibt  auch  ihre  Wiedervereinigung  in  der  Vor- 
stellung sowohl  als  in  der  Erinnerung  an  diese  ursprünglich  gebildete 
Vorstellung  eine  eindeutige  „ganze  Vorstellung". 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   293 

17  Bei  dem  transzendentalen  Beispiel  liegt  die  Sache  aber  nicht  so 
einfach.  Hier  muß  nämlich  auf  etwas  aufmerksam  gemacht  werden, 
was  so  selbstverständlich  ist,  daß  eine  besondere  Betonung  lächerlich 
erscheinen  könnte.  Zu  einer  Assoziation  gehören  nämlich  mindestens 
zwei  Einzelvorstellungen,  wie  aus  dem  Begriffe  socius  mit  Evidenz 
(analytisch)  hervorgeht,  und  diese  Forderung  ist  zwar  beim  empirischen, 
nicht  aber  bei  dem  Linienbeispiel  erfüllt.  Denn  bei  der  ersten  der 
„nach  einander  vorgestellten  Einheiten"  ist  im  Augenblick  der  Re- 
produktion dieses  ersten  Teils  nichts  weiter  vorhanden  als  dieser  eine 
Teil,  der  unmöglich  mit  sich  selber  assoziiert  werden,  sondern  eben 
nur  reproduziert  werden  kann.  Von  Assoziation  läßt  sich  hier  erst 
dann  sprechen,  wenn  mindestens  noch  ein  zweiter  Linienteil  „in  die 
Gedanken"  hinzugekommen  ist. 

i8  Und  auch  die  Reproduktion  erscheint  hier  sehr  merkwürdig  und 
unmotiviert,  weshalb  Kant  ihre  Notwendigkeit  durch  ein  schnell 
eingeschobenes:  würde  ich  diese  Vorstellung  immer  „aus  den  Gedanken 
verlieren"  (117)  — ,  begründet.  Von  dieser  Notwendigkeit,  eine  bereits 
im  Bewußtsein  befindliche  Vorstellung  immer  wieder  neu  zu  re- 
produzieren, weil  sie  sonst  aus  den  Gedanken  verloren  würde,  ist  bei 
dem  empirischen  Beispiel  aber  gar  nichts  gesagt,  sondern  es  erscheint 
dort  als  selbstverständlich,  daß  (he  erste  Vorstellung  von  der  roten 
Farbe  solange  in  den  Gedanken  oder  im  Bewußtsein  bleibt,  bis  die 
zweite  Vorstellung  vom  schweren  Zinnober  reproduziert  und  mit  der 
ersten  vereinigt  oder  assoziiert  ist. 

L9  Während  hier  also  der  Begriff  Assoziation  zutrifft,  ist  er  beim 
transzendentalen  Beispiel  wenigstens  bei  der  Reproduktion  der  ersten 
Einheit  ganz  unanwendbar,  und  er  trifft  auch  für  die  Verknüpfung 
der  übrigen  Einheiten  nicht  zu,  wenn  man  ihn,  wie  es  nach  S.  116  ge- 
schehen muß,  auf  die  Fälle  der  Vergesellschaftung  auf  Grund  „oft" 
wiederholte!-  „Begleitung  oder  Folge"  beschränkt.  Davon  kann  hier 
gar  keine  Rede  sein,  und  hier  haben  wir  offenbar  den  Grund  dafür, 
daß  Kant  in  dem  empirischen  Beispiel  nur  von  einem  „Gesetz  der 
Reproduktion"  spricht,  auch  in  der  Überschrift  dieses  Abschnitts 
nur  die  Reproduktion  und  nicht  die  Assoziation  erwähnt  und  zur 
Bildung  von  Wortungeheuern  wie  „Reproduzibilität"  (117)  greift, 
während  ihm  für  den  gemeinten  Begriff  an  anderer  Stelle  das  Wort 
„Affinität"  sofort  bei  der  Hand  ist.  Jedenfalls  erwartet  man  an  dieser 
Stelle  (116)   nach   den   vorausgegangenen   Gedanken   unbedingl   ein 


294  Friedrich   May  w  a  1  d  , 

„Gesetz  der  Assoziation".  Kant  mußte  eben,  um  wenigstens  den 
notdürftigen  Schein  einer  Parallele  zu  erzielen,  zu  der  Vertausehung 
zweier  ganz  landläufiger  Begriffe  seine  Zuflucht  nehmen,  deren  Unter- 
schiede auf  der  Hand  liegen. 

20  Die  Assoziabilität  oder  Verknüpfbarkeit  der  Linienteile  (im 
euklidischen  Raum)  ist  zwar  nicht  zu  bezweifeln,  dagegen  ist  ihre 
eindeutige  Verknüpfung  zu  einer  „synthetischen  Einheit"  oder 
einer  „ganzen  Vorstellung'  (117),  die  im  empirischen  Beispiel  durch 
den  realen  Gegenstand  vorgebildet  und  gewährleistet  ist,  sehr  an- 
fechtbar. Es  ist  nicht  einzusehen,  warum  die  Teile  sich  gerade  zu 
einer  Linie  und  nicht  zu  irgend  einer  andern  Figur  verbinden  sollten, 
und  es  ist  ferner  die  Möglichkeit  nicht  zu  bestreiten,  daß  sie  trotz  ihrer 
Assoziabilität  oder  Affinität  „zerstreut  und  einzeln"  „imGemüth"  (130) 
verharren  und  sieh  gar  nicht  verbinden,  während  im  empirischen  Bei- 
spiel die  in  der  Erinnerung  festgehaltene  Verbindung  der  beiden 
Vorstellungen  den  Anlaß  zu  der  Wiederholung  der  Assoziation  bietet, 
ja  diese  Wiederholung  durch  einen  gewissen  Zwang  notwendig  macht, 
als  Abbild  der  im  realen  Gegenstande  vorliegenden  notwendigen 
Verbindung  der  beiden  Eigenschaften. 

21  Wenn  also  die  im  empirischen  Beispiel  vorliegenden  Verhältnisse 
durch  ein  Analogon  transzendentaler  erklärt  werden  sollten,  hätte 
Kant  die  Parallele  auf  die  Gegenüberstellung  einer  empirischen  und 
transzendentalen  Synthesis  der  Assoziation  gründen  müssen, 
und  nicht  auf  die  Synthesis  der  Reproduktion.  Aber  auch  in  der 
Beschränkung  auf  diese  läßt  sie  sich  nicht  durchführen.  Der 
Begriff  Reproduktion  ist  nämlich  in  beiden  Fällen  in  ganz  verschiedenem 
Sinne  angewendet,  was  schon  berührt  wurde.  Ja  er  ist  in  dem  einen 
Falle  überhaupt  unzulässig,  und  deswegen  ist  auch  der  ganze  Beweis 
selbst  in  seiner  Beschränkung  auf  die  Reproduktion  nicht  haltbar, 
in  dem  empirischen  Beispiel  ist  es  die  hinzutretende,  hervorgerufene 
Vorstellung,  welche  reproduziert  wird,  und  diese  Vorstellung  wird 
mit  Recht  als  r  e  produziert  bezeichnet,  weil  sie  früher  mindestens 
schon  einmal  dageAvesen  ist.  Hier  ist  die  im  Gedächtnis  festgehaltene 
und  somit  bereits  bestehende  „Assoziation"  „der  sub- 
jektive und  empirische  Grund"  (131,  2),  besser  die  Gelegenheits- 
ursache oder  der  Anlaß  zur  Reproduktion,  deren  eigentliche  Ursache 
in  der  Gedächtniskraft  liegt,  Das  eine  gegebene  Glied  dieser  Ver- 
bindum»-  wirkt  hier  als  h  e  r  v  o  r  r  u  f  e  n  d  e  Vorstellung,  und  nachdem 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   295 

die  h  e  r  v  o  r  gern  f  e  n  e  Vorstellung  sich  mit  dieser  verbunden 
hat,  haben  wir  nur  eine  W  i  e  d  e  r  h  o  1  u  n  g  einer  früher  erfolgten 
oder  im  Gedächtnis  bzw.  im  realen  Gegenstande  bereits  be- 
stehenden Verknüpfung.  Bei  dem  Beispiel  der  transzendentalen 
Synthese  z.  B.  einer  Linie  aus  selbst  nur  zwei  Teilen  liegt  alles  ganz 
anders.  Hier  müssen  immer  die  „vorhergehenden"  Teile,  also  z.  B. 
der  erste  Linienteil  reproduziert  werden,  der  aber  der  hervor- 
rufenden Vorstellung  im  empirischen  Beispiel  entspricht,  von  deren 
Reproduktion  gar  nicht  die  Rede  war.  Wie  sich  Kant  ganz  von  selbst 
in  die  Feder  drängt,  liegt  auch  hier  gar  keine  Reproduktion,  sondern 
ein  bloßes  „nicht  aus  den  Gedanken  verlieren"  (117)  vor.  Bezeichnet 
man  aber  das  bloße  Festhalten  der  hervorrufenden  Vorstellung  als 
Reproduktion  bzw.  ist  man  der  Meinung,  daß  dieses  Festhalten  nur 
durch  dauernde  Reproduktion  möglich  sei,  so  müßte  auch  in  dem 
empirischen  Beispiel  dieses  Festhalten  der  hervorrufenden  Vorstellung 
als  Reproduktion  bezeichnet  werden,  wobei  dann  aber  der  Unter- 
schied gegen  die  Reproduktion  der  hervorgerufenen  Vorstellung 
sofort  aufgefallen  wäre,  oder  die  Reproduktion  sich  auf  beide  Teil- 
vorstellungen erstrecken  würde,  was  wieder  auf  das  transzendentale 
Beispiel  gar  nicht  paßt.  Die  „vorhergehenden  Teile"  können  hier 
auch  in  keiner  Weise  als  hervorrufende  Vorstellungen  aufgefaßt 
werden,  sondern  die  „Einheiten"  werden  einfach  „nacheinander  vor- 
gestellt" oder  „eine  . . .  nach  der  anderen  in  Gedanken  gefaßt"  (117). 
Demnach  sind  die  hinzutretenden  Einheiten  auch  nicht  als  hervor- 
gerufene anzusehen,  und  es  ist  gerade  bei  ihnen  ganz  ausgeschlossen, 
den  Begriff  der  Reproduktion  anzuwenden,  während  es  die  Parallele 
zum  empirischen  Beispiel  gerade  hier  unbedingt  fordern  würde. 
Vielmehr  sind  die  hinzukommenden  Einheiten,  was  besonders  wohl 
bei  hohen  Zahlen  deutlich  wird,  funkelnagelneue,  man  weiß  nicht 
woher  „entsprungene"  Vorstellungen,  und  sie  ..geraten"  mit  den 
„vorhergehenden"  das  erste  Mal  in  ihrem  Dasein  „zusammen"  (131,  2), 
sie  bilden  zusammen  eine  ganz  neue  Erscheinung,  die  früher  „nie- 
mals" (117)  existiert  hat,  weil  nach  Kants  eigenen  Worten  die  „ganze 
Vorstellung""  oder  „Anschauung"'  (119  u.)  z.  B.  einer  Linie  erst  „ent- 
springen" (117),  oder  „erzeugt"  werden  (116  oben,  L18,  Abs.  2  u.  •">) 
oder  „hervorgebracht"  (119  u.)  werden  muß,  ebenso  wie  die  „reinsten 
und  ersten  Giundvorstellungen  von  Kaum  und  Zeit"  (117  u.)  -  im 
Widerspruch  zur  Ästhetik  (S.  52  53).   Dadurch  ist  aber  auch  eine  früher 


296  Friedrich   Maywald, 

„oft"   erfolgte   „Begleitung"   und   „Folge"   ausgeschlossen,   und   es 
fehlt  die  Parallele  zu  der  „Regel"  im  empirischen  Beispiele  ganz. 
Es  bleibt  auch  ganz  unklar,  Avarum  überhaupt  neue  Linienteile  in 
die  Gedanken  kommen,  wenn  man  sich  nicht  dabei  beruhigt,  daß  sie 
einfach  „im  Gemüte   . . .  angetroffen"  (130)  oder  „nacheinander  vor- 
gestellt" (117)  werden,  oder  daß  „ich  eine  Linie  in  Gedanken  ziehe", 
während  im  empirischen  Beispiel  gerade  dieses  unwillkürliche  Auf- 
tauchen der  zweiten  Vorstellung  durch  die  früher  gebildete  Assoziation 
und  als  bloße  Wiederholung  dieser  einwandfrei  erklärt  ist. 
22        Die  „ganze  Vorstellung"  der  Linie  ist  also  weder  eine  Wieder- 
holung einer  früheren  „ganzen  Vorstellung",  noch  einer  im  Gedächtnis 
aufbewahrten  oder  etwa  in  einer  „Linie  an  sich"  bestehenden  Ver- 
bindung ihrer  Teile,  wie  bei  der  Zinnobervorstellung.   Letzteres  müßte 
aber  der  Fall  sein,  wenn  die  Parallele  zu  dem  empirischen  Beispiel 
stimmen  sollte.   Man  müßte  also  als  Parallele  zu  dem  realen  Zinnober 
z.  B.  eine  „Linie  an  sich"  annehmen;  dann  wäre  die  durch  Repro- 
duktion  der   Teile   „erzeugte"   „ganze   Vorstellung"   der  Linie    ein 
„empirisches  Produkt"  (114,  2)  der  „r  e  produktiven  Synthesis  der 
Einbildungskraft"  (117  u.)  und  die  Verknüpfung  bzw.  Verknüpfbarkeit 
ihrer  Teile  eine  „bloße"  empirische  Folge"  einer  „transzendentalen 
Affinität"  (125/26)  oder  Verknüpfbarkeit,    weil  die  Linie  an  sich  als 
„ganze"    die    „transzendentale  Affinität"    und    Assoziabilität    der 
Linienteile  begründen  würde.    Wenn  man  nun  auch  im  empirischen 
Falle  einen  „Gegenstand",  den  realen  Zinnober  als  Ursache  der  Ver- 
knüpfbarkeit der  beiden  Vorstellungen  rot  und  schwer  gelten  läßt, 
dann  wäre  die  Parallele  in  gewisser  Beziehung  vorhanden,  weil  in 
diesem  realen  Gegenstande  die  Eigenschaften  auch  in  „transzendentaler 
Affinität"  stehen  würden.    Es  müßte  dann  aber  mindestens  eine  ein- 
malige Gesamtanschauung  der  „ganzen"  Linie  an   sich   ebenso  wie 
beim  roten  Zinnober  vorhergegangen  sein,  um  die  Assoziation  der 
Teilvorstellungen  im  Gedächtnis  niederzulegen.     Eine  solche  frühere 
„reine"  Gesamtanschauung  könnte  man  sich  aber  wohl  nur  als  ein 
Schauen  der  Ideen  durch  die  Seele  „vor  aller  Erfahrung"  denken. 
Dann  ließe  sich  die  Verbindung  der  Linienteile  zu  einer  Linie  genau 
so  wie  bei  der  Zinnobervorstellung  durch  eine  Erinnerung  an  die 
früher  gehabte   „ganze  Vorstellung"   oder  an  den  Gegenstand,   die 
Linie  an  sich,  erklären,  und  man  könnte  diese  Erinnerung  zum  Unter- 
schiede von  der  gewöhnlichen  empirischen  auch  mit  Plato  „Anamnesis" 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   297 

nennen;  jedenfalls  wäre  dann  das  Auftauchen  des  zweiten  und  aller 
folgenden  Linienteile  bei  Gegebensein  des  ersten  eine  Folge  der  im 
Gedächtnis  haftenden  Assoziation  und  des  „reproduktiven  Ver- 
mögens der  Einbildungskraft"  genau  wie  bei  der  Zinnobervorstellung. 
Das  würde  auch  zu  dem  Satze  S.  117,  Z.  7—11  stimmen,  wo  Kant 
sagt,  daß  die  „r  einen  Anschauungen"  die  Verbindung  des  Mannig- 
faltigen bereits  „enthalten"  sollen.  Dann  wären  aber  die  „e  r  z  e  u  g  - 
t  e  n"  Vorstellungen,  sowohl  die  der  Linie  als  die  von  Raum  und  Zeit, 
die  ja  auf  gleiche  Weise  „entspringen"  sollen  (117,  116  o.,  119  u.), 
nicht  „rein",  sondern  „empirisch",  gerade  so  wie  die  Zinnobervor- 
stellung, und  es  würden  ferner  „Gegenstände"  zur  Erklärung  der 
„synthetischen  Einheit"  (117  o.)  der  Vorstellungen  angenommen, 
während  Kant  als  „Grund  a  priori"  dafür  gerade  die  reine  produk- 
tive Einbildungskraft  erweisen  will. 

2:5  Man  muß  also  nicht  nur  ohne  die  „Gegenwart"  des  Gegenstandes, 
sondern  überhaupt  ohne  ihn  auszukommen  suchen,  und  alle 
„Affinität"  als  eine  „nothwendige  Folge"  aus  „einer  Synthesis  in  der 
Einbildungskraft"  (132,  2)  ableiten.  Dann  müßten  aber  auch  in 
dem  empirischen  Beispiel  die  beiden  Vorstellungen  rote  Farbe  und 
schwerer  Zinnober  schon  bei  ihrem  ersten  Auftreten  durch  eine 
„Synthesis"  der  „produktiven  Einbildungskraft"  a  priori  „erzeugt" 
(116  0.)  worden  sein,  und  es  müßte  der  „Grund  a  priori"  der  „not- 
wendigen synthetischen  Einheit"  (117)  dieser  empirischen  Vorstellungen 
und  der  Grund  der  „Regeln",  denen  alle  „Erscheinungen  schon  von 
selbst  unterworfen  sind"  (116),  in  der  reinen  Synthesis  der  Einbildungs- 
kraft gesucht  werden,  weil  alle  Synthesis  oder  „die  Synthesis  über- 
haupt", damit  aber  auch  alle  „synthetische  Einheit"  und  die  aus 
solcher  fließenden  „Regeln"  (116/117;  119  u.  121,  3;  125/126)  die 
„bloße  Wirkung  der  Einbildungskraft"  (95,2;  132  u.)  wären.  Die 
Assoziation  solcher  empirischer  Vorstellungen  würde  sich  nur  des- 
halb bilden,  weil  die  produktive  Einbildungskraft  sie  beide  mindestens 
einmal  oder  öfter  gleichzeitig  oder  als  einander  begleitend  oder  folgend 
(116)  ins  Bewußtsein  hineinproduziert  und  sie  damit  „reproduzibel" 
(121  u.),  soll  heißen  „assoziabel"  (131,  3)  gemacht  oder  ihnen  .KV- 
produzibilität"  (117),  d.  h.  Affinität  (125/26,  132)  verliehen  halle. 
Hier  läge  nur  die  Schwierigkeit  vor,  daß,  wenn  man  die  durch  die 
Einbildungskraft  „erzeugte"  Linie  eine  „reine"  Anschauung  nenn!, 
man  die  auf  gleiche  Weise  produziert»'  Vorstellung  vom  roten  Zinnober, 

Vrohiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    \.\V1.:;.  ..,, 


298  Friedrich   Maywald, 

mindestens  beim  erstmaligen  Auftreten,  als  reine  Anschauung  gelten 
lassen  müßte.  Nun  ist  aber  nach  S.  114,  2  „alle  Erfahrung"  ein  „em- 
pirisches Produkt  des  Verstandes",  und  da  die  beiden  Vorstellungen 
auch  bei  ihrem  ersten  Auftreten  unzweifelhaft  eine  Erfahrung  aus- 
machen, so  müßte  die  Zinnobervorstellung  unbedingt  als  empirisch 
bezeichnet  werden.  Dann  würde  aber  die  Vorstellung  der  aus  Teilen 
erzeugten  Linie  dem  gleichen  Schicksal  verfallen  und  selbst  die  „reinsten 
Grundvorstellungen  von  Raum  und  Zeit"  nur  als  „empirisches  Pro- 
dukt des  Verstandes"  bzw.  der  Einbildungskraft  gelten  können. 
Die  „transzendentale  Affinität"  könnte  dann  nur  noch  als  potentielle 
in  der  Einbildungskraft  oder  im  Verstände  hegen. 

24  Jedenfalls  verliert  die  Parallele  und  der  ganze  Beweis  seinen 
Sinn,  wenn  die  Gegenüberstellung  beider  Fälle  als  empirischer  oder 
transzendentaler  nicht  möglich  ist,  sondern  vielmehr  beide  als  gleich- 
wertig zu  betrachten  sind,  entweder  als  empirisch,  was  nach  114,  2 
eigentlich  allein  möglich  ist,  oder  als  transzendental.  Im  letzteren 
Falle  wird  der  Beweis  überflüssig,  weil  dann  auch  von  der  Zinnober- 
vorstellung als  einer  reinen  ebenso  gut  wie  von  jeder  andern  direkt 
auf  das  Vorhandensein  der  reinen  Einbildungskraft  geschlossen 
werden  kann,  ohne  den  Umweg  über  Assoziation  und  Reproduktion 
und  die  transzendentalen  Vorstellungen  von  Linien-  und  Zeitein- 
heiten usw.  zu  machen. 

25  Man  muß  also  unbesehen  die  Zinnobervorstellung  als  empirisch 
und  die  einer  Linie  als  transzendental  gelten  lassen,  um  überhaupt 
die  Grundlage  für  eine  Parallele  zu  erhalten.  Trotzdem  bleibt  sie 
immer  noch  mit  dem  Mangel  behaftet,  daß  sie  nur  dann,  und  auch 
nur  ungefähr,  paßt,  wenn  man  beim  Zinnoberbeispiel  nicht  die  erst- 
malige Entstehung,  sondern  die  Wiederholung  der  Assoziation  zum 
Vergleich  heranzieht,  Bei  dieser  Beschränkung  wären  die  Teilvor- 
stellungen in  beiden  Fällen  von  der  Einbildungskraft  erzeugt  resp. 
wiedererzeugt  und  ihre  Affinität,  —  einmal  die  empirische,  das  andere 
Mal  die  transzendentale  —  könnte  als  „Folge  der  Einbildungskraft" 
(132)  aufgefaßt  Averden.  Wie  hier  der  erste  Linienteil,  so  darf  dort 
die  rote  Farbe  nicht  aus  den  Gedanken  verloren  werden,  wenn  eine 
„ganze  Vorstellung"  entspringen  soll.  Die  „Rekognition",  die  für 
das  transzendentale  Beispiel  118,  2  als  erforderlich  nachgewiesen 
wird,  wäre  beim  empirischen  Beispiel  zur  Bildung  der  ganzen  Vor- 
stellung allerdings  nicht  notwendig,  vorausgesetzt,  daß  die  im  „jetzigen 


Kants  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   299 

Zustande"  als  „neu"  erscheinende  Vorstellung  der  roten  Farbe  quali- 
tativ genau  so  gleichartig  wäre,  wie  z.  B.  die  Zahleinheiten. 
26        Damit  wäre,  wenn  auch  nicht  das  eigentliche,  so  doch  ein  ge- 
wisses Ziel  des  Beweises  erreicht;  und  die  „r  e  produktive  Synthesis 
der  Einbildungskraft"  als  „transzendentale  Handlung  des  Gemüts" 
(117  u.)  erwiesen.     Immerhin  würde  die  Übertragung  von  dem  em- 
pirischen auf  den  transzendentalen  Fall,  und  damit  der  ganze  Beweis 
nur  auf  einem  Analogieschluß  beruhen.   Nun  schlägt  Kant  aber  weder 
den  einen  noch  den  andern  Weg,  der  hier  zur  Herstellung  einer  Parallele 
versucht  wurde,  wirklich  ein,  sondern  hält  die  „Annahme"  (117,  Z.  15) 
oder  „Voraussetzung"  (116,  2,  Z.  8)  einer  reinen  Einbildungskraft 
für  gesichert,   wenn  er  „dartun  könne,  daß  selbst  unsere  reinsten 
Anschauungen  . .  .  eine  solche  Verbindung  des  Mannigfaltigen   ent- 
halten,   die  eine  durchgängige  Synthesis  der  Reproduktion  mög- 
lich macht"  (117,  7 — 12).    Der  Umstand,  daß  die  Reproduktion  mög- 
lich gemacht  wird,  ist  hier  das  tertium  comparationis,  auf  das  Kant 
hinaus  will,  und  dieses  Möglichmachen  soll  parallel  zu  der  „syntheti- 
schen Einheit"  und  der  „Regel"  der  Erscheinungen  hier  von  der 
in  den  reinen  Anschauungen   „enthaltenen"  Verbindung  ausgehen. 
Kant  versteht  nun  aber  hier  unter  diesen  reinen  Anschauungen  nicht, 
wie  S.  52/53,   die  als   „gegebenes   Ganze  vorgestellten"  reinen 
Anschauungen,  oder  z.  B.  eine  Linie  an  sich,  sondern  die  durch  die 
Synthesis  der  Reproduktion  erst  „entspringenden"  (117)  Anschau- 
ungen, also  z.  B.  die  einer  aus  Teilen  zusammengefügten  Linie.    Nun 
kann  aber  eine  Verbindung  nicht  in  etwas  enthalten  sein,  was  erst 
„erzeugt"  werden  soll,  was  vorläufig  noch  gar  nichts  oder  überhaupt 
nicht  ist,  was  „niemals"  (117  u.)  zu  einem  etwas  werden  und  „ent- 
springen" könnte,  wenn  „ich"  die  Teile  „immer  aus  den  Gedanken 
verlieren  und  nicht  reproduzieren"  würde  (117  u.).     Es  ist  ein  auf 
der  Hand  liegender  Widerspruch,  eine  Verbindung  in  etwas  enthalten 
sein  zu  lassen,  was  erst  durch  die  Verbindung  reproduzierter  Teile 
zustande  kommen  soll. 

27  Ferner  entsteht  hier  ein  ganz  offenbarer  Zirkelschluß. 
Die  Reproduktion  wird  nämlich  nach  Kants  Schilderung  dw  Ent- 
stehung einer  reinen  Anschauung  zum  erzeugenden  Prinzip,  sie  ist 
es,  welche  die  „ganze  Vorstellung"  möglich  macht,  „entspringen" 
läßt  (117),  „erzeugt"  (116,  o.;  118.  2  u.  3)  oder  „hervorbringt"  (119  tu) 
und  die  dann  in  i\w  „ganzen  Vorstellung"  sieh   zeigende  oder  „ent- 

•20* 


300  Friedrich   Maywaid, 

haltene"  Verbindung  ist  die  Folge,  das  Ergebnis  oder  die  "Wirkung 
der  Reproduktion  nach  dem  hier  vorliegenden  klaren  Wortlaut  Kants 
(117,  Z.  18 — 31).  Nun  ist  aber  gerade  die  Reproduktion  dasjenige, 
was  „möglich  gemacht"  werden  sollte,  für  dessen  Möglichkeit  der 
Grund  gesucht  wird  (116  Mitte;  Z.  3—5  v.  u.;  116/117;  117,  Z.  11—12 
und  die  in  den  reinen  Anschauungen  enthaltene  Verbindung 
soll  den  Erklärungsgrund  für  die  Reproduktion  abgeben,  soll  die 
durchgängige  Synthesis  der  Reproduktion  möglich  machen  (117, 
Z.  9 — 18).  Die  Reproduktion  soll  also  die  Folge,  die  Wirkung,  das 
Ergebnis  des  Möglich  machens  sein,  und  die  in  den  reinen  Anschauungen 
enthaltene  Verbindung  ist  in  aktiver  Konstruktion  das  grammatische 
Subjekt,  in  passiver  der  Grund  oder  die  Ursache  des  Möglich  machens. 
Es  liegt  also  der  Zirkel  vor,  daß  zuerst  die  Verbindung  als  Subjekt 
die  Reproduktion  als  Objekt  ermöglicht  (117  Z.  8 — 12),  und  dann 
umgekehrt  die  Reproduktion  als  Subjekt  ,  die  Verbindung  als  Objekt 
hervorbringt  (117  Z.  18—31).  Dieser  Zirkel  wird  von  Kant  nicht 
nur  einmal  vorgetragen,  sondern  auch  S.  130/131,  hier  sogar  bezüglich 
der  Assoziation  und  Reproduktion  zusammen  wiederholt.  Es  scheint 
dort,  wie  wir  bereits  sahen,  sehr  angemessen,  daß  neben  dem  eigent- 
lichen subjektiven  „Grunde"  der  Reproduktion,  d.  h.  dem  „reproduk- 
tiven Vermögen  der  Einbildungskraft"  (131,  1),  also  neben  der  Ge- 
dächtniskraft auch  noch  als  zweiter  „subjektiver  und  empirischer 
Grund"  „die  Assoziation  der  Vorstellungen"  (131,  2)  auftritt,  welch 
letzterer  Grund  als  Gelegenheitsursache  oder  Anlaß  der  Reproduk- 
tion erscheint,  und  zugleich  als  Grund  dafür,  warum  „eine  Vorstellung 
vielmehr  mit  dieser,  als  einer  andern  in  der  Einbildungskraft  in  Ver- 
bindung tritt"  (131,  2).  Dieser  Satz  würde  also  eine  Hindeutung 
auf  das  Zinnoberbeispiel  S.  116  enthalten,  und  er  würde  dieses  „Ver- 
mögen der  Einbildungskraft  hier  „n  u  r  auf  Reproduktionen  ein- 
schränken" (130  Anm.),  weil  es  sich  dann  wie  bei  dem  Zinnoberbeispiel 
nur  um  die  Wiederholung  früher  gebildeter  Assoziationen 
handelte,  weshalb  Kant  die  „Assoziation"  den  „subjektiven  und 
empirischen  Grund  der  Reproduktion"  nennt.  Nun  beabsichtigt 
Kant  aber,  auf  S.  130/132,  die  ursprüngliche  Zusammenfügung  der 
„Eindrücke"  zu  „Bildern"  zu  erklären,  dadurch,  daß  das  „r  e  pro- 
duktive Vermögen  der  Einbildungskraft"  als  „subjektiver  Grund" 
„eine  Wahrnehmung,  von  welcher  das  Gemüt  zu  einer  andern  über- 
gegangen,   zu    den    nachfolgenden    herüberzurufen,    und  so    ganze 


Kant«  Beweis  für  die  transzendent.  Synthesis  der  Einbildungskraft.   301 

Reihen  derselben  darzustellen"  (131,  1)  vermag.  Kant  will  also 
die  ursprüngliche  Entstehung  von  „Bildern"  oder  die  „Verbindung" 
(131,  2)  bestimmter  Vorstellungen  miteinander,  wie  die  der  roten 
Farbe  und  des  schweren  Zinnobers  usw.  (116)  in  gleicher  Weise  er- 
klären wie  die  Entstehung  einer  Linie  nach  seiner  Schilderung  S.  117. 
Dann  ist  aber  der  „Zusammenhang"  dieser  „ganzen  Reihen"  oder 
ihre  „Assoziation"  (130/131)  ebenso  wie  bei  dem  Linienbeispiel  das 
Ergebnis  oder  die  Wirkung  und  nicht  der  „Grund  der  Reproduktion" 
(131,  2),  und  wenn  Kant  trotzdem  die  Assoziation  als  „subjektiven 
und  empirischen  Grund  der  Reproduktion"  (131,  2)  bezeichnet,  so 
ist  der  Zirkel  wieder  da.  Man  könnte  hier  dem  Widerspruch  dadurch 
auszuweichen  suchen,  daß  man  von  der  in  der  Reproduktion  und 
Assoziation  vorliegenden  Tätigkeit  des  erkennenden  Subjekts,  die 
sich  auf  die  Vorstellungen  als  ihre  Objekte  bezieht,  überspringt  auf 
ihr  „Korrelat"  (Vaihinger,  a.  a.  0.  19/41),  auf  die  objektive 
Beschaffenheit  der  Vorstellungen,  ihre  „Affinität"  (132,  125/126) 
oder  „Assoziabilität  (131/132),  so  daß  unter  Assoziation  hier  im  zweiten 
Falle  (131,  Abs.  2).  diese  Begriffe  zu  verstehen  wären.  Dieser  Aus- 
weg wäre  wegen  des  Doppelsinns  des  Begriffs  Assoziation  sehr  be- 
denklich, Kant  schlägt  ihn  aber  bezüglich  der  Reproduktion  auf 
S.  117  ein,  indem  er  die  Affinität  der  Erscheinungen  ihre  „Reprodu- 
zibilität"  nennt.  Diesen  Ausweg  schneidet  er  sich  aber  auf  S.  130  L32 
ab,  indem  er  hier  den  Unterschied  zwischen  subjektiver  Funktion 
und  „objektivem  Grunde"  der  Reproduktion  bzw.  Assoziation  (125, 
131/132)  klar  durchführt,  so  daß  er  tue  als  „subjektiven  Grund"  be- 
zeichnete Assoziation  und  Reproduktion  nicht  zugleich  zum  „ob- 
jektiven Grunde",  zur  Assoziabilität  oder  Reproduzibilität  machen 
kann. 

28  Kant  hatte  also  zwar  durchaus  Recht,  daß  die  „Einbildungs- 
kraft" (als  produktive  und  unbewußte,  vergl.  Vaihinger  a.  a.  0. 
43/44,  65/66,  Windelband,  Gesch.  d.  n.  Phil.  115  (1911),  S.  73/74, 
224/225)  „ein  notwendiges  Ingredienz  di'v  Wahrnehmung  selbst  sei" 
(130  Anm.),  aber  sein  vom  Empirischen  ausgehender  Beweis  für 
die  Berechtigung  ihrer  Annahme  ist  in  allen  Punkten  verfehlt.  Damit 
ist  in  der  Hauptsache  auch  der  „von  unten"  (130)  ausgehende  zweite 
Weg  der  Deduktion  als  ungangbar  erwiesen. 


XVII. 

Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft  und  dem 

Entwicklungsgedanken. 

Von 
Richard  Noll. 

Es  ist  immer  eine  mißliche  Sache,  wenn  Facharbeiter  irgend 
einer  Wissenschaft  über  die  Leistungen  anderer  Menschen  Unter- 
suchungen anstellen,  die  für  diese  nur  von  persönlicher  Bedeutung 
sind,  weil  sie  einmal  von  ihrem  naturgegebenen  Lebenswege  abbogen 
und  auf  den  Feldern  ihrer  Nachbarn  pflügten.  Die  Untersucher 
geraten  gar  zu  leicht  in  die  Gefahr,  den  andern  entweder  einen  un- 
bequemen Eindringling  zu  schelten,  oder  ihm,  wenn  er  bei  seiner 
Arbeit  ein  wertvolles  Gut  gefördert  hat,  die  Ehren  der  Fachgenossen- 
schaft in  besonderem  Maße  zu  erweisen.  Die  Untersucher  vergessen 
meist  die  ganz  besondere  Art  jenes  Fremdlings,  der  mit  völlig  ver- 
schiedenen Voraussetzungen  und  Mitteln  die  gleiche  Aufgabe  zu 
lösen  sucht.  Sie  sehen  nur  das  Endergebnis  und  achten  nicht  darauf, 
wie  es  geworden,  sie  postulieren  sogar  hintennach,  ein  gleiches  Ding 
könne  nur  einerlei  Entstehung  sein. 

Einen  derartigen  Eindruck  gewinnt  man,  wenn  man  die  Fach- 
naturwissenschaftler über  den  Naturwissenschaftler  Herder  reden 
hört.  Weil  Herder  von  Entwicklung  spricht,  wird  er  ohne  viel  Feder- 
lesens als  Kronzeuge  für  die  Entwicklungslehre  angerufen,  und  für 
den  Darwinisten  ist  er  natürlich  Vertreter  der  darwinistischen,  für 
den  Lama rckisten  Vertreter  der  Lamarckschen  Lehre.  Jeder  pflückt 
aus  seinen  Werken  soviel  heraus,  als  ihm  zum  Erweis  seiner  Ansicht 
dient,  der  eine  die  Sätze,  der  andere  jene,  und  am  Ende  meint  jeder, 
das  rechte  gefunden  zu  haben.  Widerstrebende  Gedanken  werden 
mit  dem  Bemerken  erledigt,  daß  natürlich  niemand  vor  Darwin  klar 
gefaßte  Anschauungen  über  Entwicklung  habe  bilden  können,  und 
daß  darum  Unbestimmtheiten  zu  entschuldigen  sind.  Geht  man 
dann,  getrübt  durch  die  Aber  und  Wider  der  Ausleger  zu  dem  Meister 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  303 

selber,  so  schwankt  man  anfänglich  zwischen  den  Gegensätzen  einher, 
gibt  hier  dem  einen,  da  dem  andern  Kecht,  und  kommt  wohl  gar  — 
bei  nicht  vertieftem  Eindringen  —  zu  dem  Schlüsse,  daß  die  Wahr- 
heit zwischen  beider  Mitte  stehe.  Nur  befriedigt  am  Ende  die  Lösung 
nicht,  man  möchte  scharfe  Grenzen,  und  man  hält  nur  Halbheiten 
in  Händen.  Darum  sucht  vor  allem  die  nachfolgende  Untersuchung 
der  Gefahr  zu  entgehen,  einen  neuen  „Mittelweg"  zum  Verständnis 
Herders  ausfindig  zu  machen,  vielmehr  den  Versuch  zu  unternehmen, 
aus  eingehendem  Befassen  mit  dem  Gesamtschaffen  einen  Standort 
zu  gewinnen,  von  dem  aus  die  vielverzweigten  Gedankengänge  klar 
zu  überschauen  und  widerspruchslos  zu  ordnen  sind.  Denn  nur  wenn 
wir  perspektivisch  blicken,  d.  h.  wenn  wir  das  Verhältnis  der  einzelnen 
Gedanken  nach  ihrer  Bedeutung  hintereinander  stellen,  haben  wir 
ein  rechtes  Bild  von  Herders  Denken;  unterlassen  wir  dies,  —  wie 
es  manche  Naturwissenschaftler  getan  haben  —  so  bekommen  wir 
Verzerrungen  und  Entstellungen. 

Herders  Name  verknüpft  sich  in  erster  Linie  mit  dem  Dichter 
und  Kulturphilosophen.  Während  ihm  aber  seine  kritische  Ver- 
anlagung grundlegende  Gedanken  über  die  Werke  anderer  eingab, 
ist  seine  eigene  dichterische  Schöpfungskraft  nicht  zu  großem  empor- 
gewachsen. Doch  von  beiden,  der  Eingebung  und  dem  Verstände 
spüren  wir  etwas  in  allen  seinen  Schriften,  ja  in  ihnen  liegt,  wie  wir 
sehen  werden,  zum  großen  Teil  seine  Art  die  Welt  zu  betrachten, 
beschlossen.  Zweifellos  ist  Herder  als  Kulturphilosoph  einer  der 
Großen,  weil  einer  der  Wenigen,  die  den  Begriff  und  die  Aufgabe 
dieses  Menschheitsproblems  klar  gesehen  und  in  eigener  Weise  ge- 
löst haben.  Schon  ungemein  früh  trat  diese  Frage  in  sein  Bewußt- 
sein und  im  Wachsen  seiner  Anschauungen  verzweigte  sie  sich  nach 
allen  Seiten.  Helle  Begeisterung  hält  den  erst  Fünfundzwanzig  jährigen 
in  Bann,  wenn  er  sich  die  unendliche  Aufgabe  „den  Bildungsgang 
der  Gesamtmenschheit"  darzustellen  vergegenwärtigt.  Wie  wäre 
es  auch  sonst  möglich,  daß  er  auf  Naturwissenschaft  gestoßen  wäre, 
da  er  doch  sein  Leben  lang  Theologe  von  Beruf  und  philosophischer 
Grübler  als  Mensch  gewesen  ist?  Nur  auf  seinen)  Wege  zur  Kultur- 
philosophie begeli  1  er  auch  Strecken  reiner  Naturwissenschaft;  aber 
wir  haben  kein  Kecht,  ihn  darum  einen  Naturwissenschaftler  zu  nennen. 
Denn  innerhalb  ihrer  Grenzen  leistete  er  keine  „Facharbeit-  (wie 
etwa  Goethe),  sondern  er  raffte  die  Ergebnisse  des  damaligen  Wissens- 


304  Richard   Noll, 

Standes  zusammen  und  machte  sie  seinen  Absichten  nutzbar.    Immer 
stand  ihm  seine  Weltanschauung,  sein  Geschichtsproblem  im  Mittel- 
punkt; alles  andere  ordnete  sich  diesem  Blickpunkte  unter.    Darum 
sind  wir  außerstande,  seine  Anschauungen  —  aus  welchem  Wissens- 
gebiete sie  auch  seien  —  in  ihrer  Bedeutung  für  ihn  zu  würdigen, 
und  eindeutig  zu  bestimmen,  falls  wir  diese  nicht  in  ihren  Haupt- 
zügen kennen,  sie  allein  kann  uns  Wegweiser  sein  aus  dem  oftmals 
vielverschlungenen   Labyrinthe   seiner   Ideen,   sie   allein   macht  uns 
zugleich   psychologisch   manche   Behauptungen   verständlich,    denen 
wir   ohne   ihre    Kenntnis    kopfschüttelnd   gegenüberständen.       Nun 
ist  Weltanschauung  dem  Menschen  weder  ursprünglich  eingeboren, 
noch  wird  sie  ihm  mit  allen  ihren  Verzweigungen  urplötzlich  ein- 
gegeben: langsam  wächst  sie  und  entfaltet  sich  von  Jugend  an.    Wir 
scheinen  daher  in  arge  Bedrängnis  zu  geraten,  den  ganzen  Werde- 
prozeß in  Breite  und  Tiefe  zu  beleuchten  —  es  würde  Seiten  und  Bogen 
füllen.     Aber  schließlich  müßte  auch  dieses  geleistet  werden,  wenn 
nicht  Herder  selbst  uns  das  Mittel  zur  Vereinfachung  an  die  Hand 
gegeben  hätte.     Die  Schrift  nämlich,  in  der  er  seine  kulturphiloso- 
phischen -  -  und  naturwissenschaftlichen  —  Anschauungen  entwickelt, 
zeigt  zugleich  seine  abgeschlossene  und  vollausgereifte  Weltanschauung : 
es  ist  sein  weltumspannendes  Werk:    „Ideen  zur  Philosophie   der 
Geschichte  der  Menschheit."     Seine  besondere  Stellung  in  Herders 
Gesamtschaffen  gibt  der  Beschränkung  eine  starke  innere   Stütze. 
Wohl  selten  ist  es  einem  Schriftsteller  in  so  einzigartiger  Weise  ge- 
lungen, e  i  n  Werk  in  den  Mittelpunkt  seines  Lebens  zu  stellen,  wie 
es  Herder  mit  seinen  „Ideen"  tat.    Alles  was  er  dachte,  ist  hier  zur 
Einheit  zusammengeschmolzen,  alles  was  er  später  schrieb,  ist  nur 
eine  Fortführung  und  Verzweigung  desselben.  Allein  in  seinen  „Ideen" 
breitet  er  die  ungeheure  Menge  seines  zusammengetragenen  Wissens 
geordnet  vor  uns  aus.     Der  spätere  Herder  rückt  mehr  und  mehr 
von  der  Wissenschaft  ab  und  beginnt  im  Bereich  reiner  Philosophie 
den  wenig  glücklichen  Kampf  mit  Kant.    Nur  von  dem  weltanschau- 
lichen Hintergrund  seiner  „Ideen"  hebt  sich  mit  aller  Klarheit  seine 
Stellung  zu  den   Einzelwissenschaften  ab,  die  wir  s  o  durchaus  in 
seinem  Sinne  als  Glieder  seiner  Kulturphilosophie  sehen1). 


x)  Es  fiele  nun  gänzlich  aus  dem  Rahmen  dieser  Untersuchung,  im  ein- 
zelnen Herders  gedankliche  Abhängigkeit  von  dem  einen  oder  andern  nach- 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  305 

Herders  Weltanschauung  ist  eine  monistisch-idealistische.  Die 
großen  Denker  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  waren  seine  Vorbilder, 
vor  allem  waren  es  die  Systeme  von  Leibniz  und  Spinoza,  die  tief- 
gehende Spuren  in  seiner  gedanklichen  Ausbildung  hinterlassen 
haben.  Monistisch  ist  bei  Herder  die  Art  und  Weise,  wie  er  die  Stellung 
von  Materie  und  Geist  faßt;  beide  stehen  sich  nicht  als  einander  aus- 
schließende Wesenheiten  gegenüber,  sondern  die  Verschiedenheit 
ihrer  Seinsformen  findet  in  einem  höheren  Orte  ihre  Lösung,  indem 
sie  als  die  Modalitäten  einer  Substanz  gedacht  wird.  „Einen  Geist, 
der  ohne  und  außer  alle  Materie  wirkt,  kennen  wir  nicht,  und  in  dieser 
sehen  wir  so  viele  geistähnliche  Kräfte,  daß  mir  ein  völliger  Gegensatz 
und  Widerspruch  dieser  beiden  allerdings  sehr  verschiedenen  Wesen 
des  Geistes  und  der  Materie,  wo  nicht  selbst  widersprechend,  so  doch 
wenigstens  ganz  unerwiesen  scheinet.  Wie  können  zwei  Wesen  ge- 
meinschaftlich und  innig  harmonisch  wirken,  die,  völlig  ungleichartig 
einander  wesentlich  entgegen  wären"?  2)  Die  trennende  Schranke, 
die  Eigengesetzlichkeit  der  beiden  Erscheinungsreihen  im  Körper- 
lichen und  Geistigen  reißt  er  nieder,  indem  er  sie  einem  einheitlichen, 
beide  beherrschendem  Gesetze  unterwirft.  „Die  Kraft,  die  in  mir 
denkt,  und  wirkt,  ist  ihrer  Natur  nach  eine  so  ewige  Kraft,  als  jene, 
die  Sonne  und  Sterne  zusammenhält:  ihr  Werkzeug  kann  sich  ab- 
reiben, die  Sphäre  ihrer  Wirkung  kann  sich  ändern,  die  Gesetze  aber, 
durch  die  sie  da  ist,  und  in  andern  Erscheinungen  wiederkommt, 
ändern  sich  nie,  Ihre  Natur  ist  ewig,  wie  der  Verstand  Gottes,  und 
die  Stützen  meines  Daseyns  (nicht  meiner  körperlichen  Erscheinung) 
sind  so  vest,  als  die  Pfeiler  des  Weltalls.  Denn  alles  Daseyn  ist  sich 
gleich,  sowohl  im  kleinsten  als  im  größten  auf  Einerley  Gesetze  ge- 
gründet. Den  Bau  des  Weltgebäudes  sichert  also  den  Kern  meines 
Daseyns,  mein  inneres  Leben  auf  Ewigkeiten  hin"  3).  „Zwar  geht  er 
hier  und  da  noch  weiter  in  der  Vergeistigung  der  Materie:  die  wirken- 


zuweisen. Uns  kommt  es  allein  darauf  an,  die  Leitlinien  seines  Weltbildes 
zu  zeichnen,  ohne  im  geringsten  den  Versuch  zu  unternehmen,  sowohl  histo- 
rischen Beziehungen  als  auch  inneren  Widersprüchen  nachzuspüren;  aus 
Gründen  größerer  Sachlichkeit  lassen  wir  Herder  so  oft  als  möglich  selbst 
reden. 

-)  Herders  Sämtliche  Werke  in  33  Bdn.,  herausgegeben  von  B.  Suphan, 
Bd.  XIII,  172. 

:!)  a.  a.  ü.  XIII,  16. 


306  Richard  No  11, 

den  „Kräfte"  sind  ihm  in  „höherem"  Maße  wirklich,  als  der  leblose 
Stoff;  er  macht  aber  noch  nicht  den  letzten  Schritt  —  wie  es  später 
die  idealistische  Philosophie  tat  —  den  Geist  als  das  schlechthin 
einzig  Seiende  zu  erklären.  „Alles,  was  wir  Materie  nennen,  ist  also 
mehr  oder  minder  selbst  belebt;  es  ist  ein  Reich  wirkender  Kräfte, 
die  nicht  nur  unseren  Sinnen  in  der  Erscheinung,  sondern  ihrer  Natur 
und  ihrer  Verbindung  nach  ein  Ganzes  bilden." 4)  In  eigener  Weise 
deutet  er  dabei  die  prästabilierte  Harmonie  um:  „Das  System  der 
Harmonie  ist  wahr,  aber  unvollständig,  es  erklärt  nicht,  was  es  er- 
klären soll.  Nicht  der  Philosoph,  der  sich  seines  Systems  bewußt 
war,  nahm  dazu  die  Zuflucht,  sondern  der  witzige  Kopf,  der  bei 
dem  Phänomenon  stehen  blieb,  und  im  Drange  der  Not  das  Gleichnis 
von  den  zwo  Uhren  zu  Hilfe  rief,  das  hier  garnicht  paßet.  Weder 
Seele  noch  Körper  ist  eine  solche  für  sich  gehende  mechanische  Uhr. 
Die  Seele  hat  bei  ihrer  göttlichen  Natur,  da  sie  eingeschränkt  ist, 
Sinne  nötig,  die  ihr  das  Weltall  ihrer  göttlichen  Natur  gemäß  vor- 
spiegeln. Der  Körper, ist  in  Absicht  der  Seele  kein  Körper:  ist  ihr 
Reich :  ein  Aggregat  vieler  dunkel  vorstellender  Kräfte,  aus  denen  sie 
ihr  Bild,  den  deutlichen  Gedanken,  sammelt.  Sie  sind  also  wirklich 
von  einander  abhängig  und  für  einander  zusammengeordnet.  Den 
Grund  des  Aggregats  vom  Körper  finde  ich  nicht  anders  als  in  der 
Seele  und  im  Körper  den  Grund,  warum  die  Seele  aus  solchen  und 
diesen  Formeln  sich  das  reine  Weltall,  das  in  ihr  liegt,  wecket". 
Später  lehnt  er  ausdrücklich  das  Mißverständnis  ab,  als  baue  sich 
die  Vernunft  ihren  Körper.  „Man  würde  mich  unrecht  verstehen, 
wenn  man  mir  die  Meinung  zuschriebe,  als  ob,  wie  einige  sich  aus- 
gedrückt haben,  unsere  vernünftige  Seele  sich  ihren  Körper  in  Mutter- 
leib, und  zwar  durch  Vernunft  gebauet  habe.  Wir  haben  gesehen, 
wie  spät  die  Gabe  der  Vernunft  in  uns  angebauet  werde,  und  daß 
wir  zwar  fähig  zu  ihr  auf  der  Welt  erscheinen,  sie  aber  weder  eigen- 
mächtig besitzen  noch  erobern  mögen .  .  .  Nicht  unsere  Vernunft 
wars,  die  den  Leib  bildete,  sondern  der  Finger  Gottes,  organische 
Kräfte"  5).  Die  Überlegung  nun,  auf  welche  Art  die  „Seele,  das  Welt- 
all, das  in  ihr  liegt,  wecket",  führt  ihn  gleich  Leibniz  zur  Annahme 
einer  stufenförmigen  zweckbeherrschten  Entwicklung.    Er  geht  aller- 


4)  a.  a.  0.  XVI,  545. 

5)  a.  a.  0.  XIII,  174. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  307 

dings  einen  gänzlich  verschiedenen  Weg:  während  Leibniz  rein  meta- 
physisch aus  der  Vorstellungskraft  der  Monade  selbst  seine  Theorie 
aufbaute,  will  Herder  aus  der  Empirie  seine  Begründung  holen.    Da 
Leib  und  Seele  im  innersten  zusammenhängen,  müssen  wir  zum  Ver- 
ständnis des  „höheren"  Seelenlebens  auch  die  niedere  noch  tierische 
Natur  im  Menschen  kennen.     Wegweiser  sind  uns  hier  Psychologie 
und  deren  Grundlage  die  Physiologie.     Die  elementarste  und  allem 
zugrundeliegende   Seelenkraft   ist   der   Reiz,    „das   erste   glimmende 
Fünklein  zur  Empfindung,  zu  dem  sich  die  Materie  durch  viele  Gänge 
und  Stuffen  des  Mechanismus  und  der  Organisation  hinaufgeläutert 
hat"  6).     Dieses  Reich  der  dunkelsten,  weil  unbewußten  Erfahrung, 
wird  geordnet  und  damit  auf  eine  höhere  Stufe  hinaufgehoben  durch 
die  Sinne.    Sie  sind  das  notwendige  Mittel  der  Erkenntnis.    „Betrügt 
mich  der  Schein,  das  Licht,  der  Duft,  die  Würze,  ist  mein  Sinn  falsch, 
oder  habe  ich  ihn  nur  falsch  zu  brauchen  mich  gewöhnt,  so  bin  ich 
mit  aller  meiner  Känntnis  und  Specnlation  verloren  .  .  .  Innig  wissen 
wir  außer  uns  nichts:  ohne  Sinne  wäre  uns  das  Weltgebäude  ein  zu- 
sammengeflochtener   Knäuel    dunkler    Reize:    der    Schöpfer    mußte 
scheiden,  trennen,  für  und  in  uns  buchstabieren" "').     Jeder  dieser 
Sinne  nimmt  nun  von  der  Außenwelt  einen  bestimmten  Ausschnitt 
heraus,  so  daß  hierdurch  die  Erfahrung  zergliedert  wird.    Zusammen- 
gefaßt   werden    diese   Einzelbeobachtungen   durch    die   Einbildungs- 
kraft: aber  Einheit  und  Ordnung  in  dieses  Reich  der  sinnlichen  Ge- 
gebenheiten bringt  erst  das  „Nervengebäude".      „Es  ist  wiederum 
das  Medium,  welche  die  mannigfaltigen  sinnlichen  Tata  dein  lebendigen 
Geiste,  der  in  den  Nerven  lebt,  also  der  im  engeren  Sinne  so  genannten 
Seele,  zubereitet,  d.  h.,  in  seine  geistige  Natur  verwandelt.    Erst  so 
wird  der  sinnliche  Eindruck  zur  Empfindung.     Alle  Empfindungen 
nun,  die  zu  einer  gewissen  Helle  steigen,  werden  Apperception,  Ge- 
dünke.   Die  Seele  erkennt  jetzt,  daß  sie  empfindet,  sie  ist  sich  dessen 
bewußt.     In  dem  Gedanken  schafft  sie  sich    aus  vielem  ein    lichtes 
I^ins  und  bezieht  dieses  reflexiv  auf  sich  zurück,  begleitet  es  gleich- 
sam beständig  mit  dem  Gefühl  des  Selbstbewußtseins,  der  Selbst- 
thätigkeit"8).  Mankönnte  diese  Darlegungen  die  HerderscheErkenntnis- 


6)  a.  a,  O.  XIII,  171. 
-)  a.  a.  0.  VIII,  187. 
8)  M.  Kronenberg,  Herders  Philosophie  S.  59. 


•308  Richard    Null, 

tjieorie  nennen,  denn  es  wird  der  Versuch  unternommen,  das  Problem 
des  Ursprungs  und  der  Art  und  "Weise  der  Erkenntnis  zu  lösen.  Wir 
sehen  eine  Entwicklung  vom  chaotischen  Reiz  durch  mancherlei 
Stufen  bis  zur  klaren  Vernunft.  Aber  dieses  Hinaufstreben  ist  nicht 
empirisch-historisch,  sondern  metaphysisch-dynamisch  zu  verstehen. 
Es  ist  jener  eigentümliche  Leibnizische  Finalismus,  daß  die  Monade, 
die  „Urkeimzelle"  —  weil  schon  Abbild  des  Weltalls  —  Ursache  und 
Zweck  in  sich  trage.  Denn  die  Ursache  der  Entfaltung  ist  zugleich 
das  Ziel:  das  uranfänglich  unbewußte  Weltall  in  der  höchsten  Ver- 
nunft zur  Selbstdarstellung  zu  bringen.  Auffallend  ist  hierbei  — 
zumal  für  seine  sonst  vorwiegend  idealistische  Weltauffassung  —  der 
starke  Einschlag  empirischer  Tatsachen  der  Psychologie  und  Sinnes- 
physiologie. Was  Herder  zu  solch  seltsamer  Verquickung  von  Meta- 
physik und  Erfahrung  verleitete,  war  vor  allem  sein  Haß  gegen  jede 
„Begriffsmetaphysik".  Er  haßt  sie,  er  poltert  gegen  sie  als  Tollhaus- 
schwärmerei ;  von  der  Erfahrung  ausgehend  möchte  er  seine  Schlüsse 
auf  festgegründeten  Boden  stellen;  aber  es  ist  seltsam  zu  sehen,  wie 
bald  er  sich,  ohne  daß  es  ihm  bewußt  geworden  sei,  mit  metaphysischen 
Schwingen  vom  Boden  hinweghebt. 

Die  bedeutendste  und  fruchtbarste  Erweiterung  seiner  Welt- 
anschauung verdankt  Herder  dem  Gedanken  Spinozas  von  der  Allein- 
heit Gottes.  Damit  macht  er  den  Endschritt  zu  einer  einheitlichen 
Weltauffassung:  er  lernt  von  jenem  die  Gesamtheit  alles  Lebens,  aller 
Dinge  in  Gott  zusammenfassen  als  dem  wahrhaft  Seienden  und  Wirken- 
den. In  dieser  Gotteinigkeit  findet  der  ganze  Mensch  Herder  seine 
volle  Befriedigung,  weil  Religion  und  Weltanschauung  ihm  zusammen- 
schmelzen zur  allesumfassenden  Einheit:  sein  intellektuelles  Bedürfnis 
wird  befriedigt  durch  den  strengen  Monismus,  der  ihn  die  Welt  von 
„Einerley  Gesetzen"  der  Schönheit  und  Ordnung  geleitet  sehen  läßt, 
sein  religiöses  durch  das  Alldasein  Gottes,  der  durch  jede  Erscheinung 
lebt  und  wirkt.  Denn  Gott  und  Welt  sind  weder  nebeneinander,  noch 
in  einander,  sondern  durch  einander;  es  gibt  nur  eins:  Gott  — 
und  dieser  Gott  lebt  und  schafft  in  jeglicher  Erscheinung,  macht  ihr 
Wesen  aus.  Diese  Gedanken  bilden  den  krönenden  Beschluß  des 
Herderschen  Weltbildes:  alle  Begriffe,  die  sonst  so  leicht  einen  An- 
klang von  kalter  Logik  haben,  bekommen  nun,  getaucht  in  die  Glut 
des  religiösen  Erlebnisses,  Leben  und  Gefühlswerte.  Urgrund  der 
Welt  ist  Gott;  als  Träger  der  höchsten  Vernunft  wird  er  zugleich 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  309 

als  Kraft  der  Schönheit,  Ordnung  und  Harmonie  gedacht.  „Raum 
und  Zeit  sind  nur  Maßstäbe  eines  eingeschränkten  Verstandes,  der 
Dinge  nach  und  neben  einander  sich  bekannt  machen  muß;  vor  Gott 
ist  weder  Zeit  noch  Raum.  In  der  Ewigkeit  Gottes  gibts  keine  Augen- 
blicke, und  der  wesentlich  Wirksame  ruhte  nie.  Wir  endliche  Wesen,  mit 
Raum  und  Zeit  umfangen,  die  wir  uns  alles  nur  unter  ihrem  Maaß 
denken,  wir  könen  von  der  höchsten  Ursache  nur  sagen:  sie  ist,  sie 
wirkt;  aber  mit  diesem  Wort  sagen  wir  alles.  Es  besteht  alles  in  ihm, 
die  AVeit  ist  eine  Darstellung  der  Wirklichkeit  seiner  ewig  thätigen 
Kräfte.  Jedes  der  göttlichen  Gesetze  ist  das  Wesen  der  Dinge  selbst, 
ihnen  nicht  willkürlich  angehängt,  sondern  eins  mit  ihnen"9). 
Höchste  Gesetzmäßigkeit  waltet  in  der  Welt,  denn  jede  Gesetz- 
losigkeit müßte  die  Harmonie  zerstören.  Die  Kraft  als  die  unmittel- 
barste Betätigung  Gottes  kann  ebenso  wenig  wie  dieser  selbst  zu- 
grunde gehen.  „Keine  Kraft  kann  untergehen;  denn  was  hieße  es: 
eine  Kraft  gehe  unter?  Wir  haben  in  der  Natur  davon  kein  Beispiel, 
ja  in  unsrer  Seele  nicht  einmal  einen  Begrif.  Ist  es  Widerspruch, 
daß  Etwas  Nichts  sei  oder  werde:  so  ist  es  noch  mehr  Widerspruch, 
daß  ein  lebendiges,  wirkendes  Etwas,  in  dem  der  Schöpfer  selbst 
gegenwärtig  ist,  in  dem  sich  seine  Gotteskraft  einwohnend  offenbaret, 
sich  in  ein  Nichts  verkehre.  Das  Werkzeug  kann  durch  äußerliche 
Umstände  zerrüttet  werden.  So  wenig  aber  auch  in  diesem  sich  nur 
ein  Atom  vernichtet  oder  verlieret,  um  so  weniger  die  unsichtbare 
Kraft,  die  auch  in  diesem  Atom  wirket"  lü). 

Dieser  Abriß  Herderscher  Weltanschauung  mag  für  das  vor- 
hegende Ziel  genügen.  Als  höchste  Aufgabe,  die  Herder  in  (.kn  „Ideen" 
zu  lösen  sucht,  schwebt  ihm  vor:  aus  Natur  und  Geschichte  das 
ewige  Walten  der  Gottheit  nachzuweisen,  das  sich  hier  wie  dort  offen- 
bart „Gang  Gottes  in  der  Natur,  die  Gedanken,  die  der  Ewige  uns 
in  der  Reihe  seiner  Werke  thätlieh  dargelegt  hat:  sie  sind  das  heilige 
Buch,  an  dessen  Charakteren  ich  zwar  minder  als  ein  Lehrling  aber 
wenigstens  mit  Treue  und  Eifer  buchstabirt  habe  und  buchstabiren 
werde.  Wäre  ieli  so  glücklich,  nur  Einem  meiner  Leser  etwas  von  dein 
süßen  Eindruck  milzut  heilen,  den  ich  über  die  ewige  Weisheit  und  Güte 
des  unerforschten   Schöpfers  in  seinen    Werken   mit  einem   Zutrauen 


*)  a.  a.  O.  XIII. 
"')  a.  ;>.   O.    XIII,    170. 


310  Richard   Noll, 

empfunden  habe,  dem  ich  keinen  Namen  weiß:  so  wäre  dieser  Ein- 
druck von  Zuversicht  das  sichere  Band,  mit  welchem  wir  uns  im 
Verfolg  des  Werks  auch  in  die  Labyrinthe  der  Menschengeschichte 
wagen  könnten"  11).  Zentralbegriff  seines  Werkes  ist  die  Menschheit 
selber;  ihre  Geschichte  ist  im  engeren  und  eigentlichen  Sinne  der 
Stoff  seiner  Untersuchung.  Da  er  die  Natur,  „als  ein  System  über- 
geordneter Kräfte"  energetisch  faßt,  gelingt  es  ihm,  sich  ein  inneres 
Recht  zu  erweisen,  den  Menschen  zugleich  naturwissenschaftlich 
und  historisch  zu  betrachten:  denn  einmal  ist  er  eine  Bildung  der 
Natur  „denn  der  Mensch  ist  ja,  wie  alles  andere,  ein  Zögling  der  Luft 
und  im  ganzen  Kreise  seines  Daseyns  aller  Erdorganisationen 
Bruder" 12),  andermal  sind  die  Gesetze  seines  Kulturzusammen- 
schlusses, seiner  Geschichte  höhere  Naturgesetze,  die  zu  Ende  geführte 
Ausbildung  der  in  der  Natur  schlummernden  Triebe.  „Da  Geist  und 
¥foralität  auch  Physik  sind  und  denselben  Gesetzen,  die  doch  zuletzt 
alle  vom  Sonnensysteme  abhangen,  nur  in  einer  höheren  Ordnung 
dienen  ..."  13).  Darum  ist  es  notwendig,  das  Menschengeschlecht 
rückwärts  zu  verfolgen,  seine  Naturbedingtheit  zu  ergründen,  um 
den  Entwicklungsgang  seiner  Kultur  zu  begreifen.  Die  Geschichte 
aller  Stämme  und  Völker  will  er  in  seinen  Kreis  hineinziehen,  um  auf 
dieser  breitesten  Grundlage  der  Erfahrung  nachzuweisen,  daß  Harmonie, 
Ordnung,  Planmäßigkeit  nicht  Erzeugnisse  des  Menschenhirns,  sondern 
greifbar  wirklich  in  ihrem  Ablauf  dargestellt  seien;  daß  sich  Dasein 
und  Wirken  der  Gottheit  an  der  menschlichen  Geschichte  kundtue. 
„Der  Gott,  der  in  der  Natur  Alles  nach  Maaß,  Zahl  und  Gewicht  ge- 
ordnet, der  darnach  das  Wesen  der  Dinge,  ihre  Gestalt  und  Ver- 
knüpfung, ihren  Lauf  und  ihre  Erhaltung  eingerichtet  hat,  so  daß 
vom  großen  Weltgebäude  bis  zum  Staubkorn,  von  der  Kraft,  die 
Erden  und  Sonnen  hält,  bis  zum  Faden  eines  Spinngewebes  nur  Eine 
Weisheit,  Güte  und  Macht  herrschet,  Er  ,der  auch  im  menschlichen 
Körper  und  in  den  Kräften  der  menschlichen  Seele  alles  so  wunderbar 
und  göttlich  überdacht  hat  .  .  .  wie  sprach  ich  zu  mir,  dieser  Gott 
sollte  in  der  Bestimmung  und  Einrichtung  unseres  Geschlechts  im 
Ganzen  von  seiner  Weisheit  und  Güte  ablassen  und  liier  keinen  Plan 


")  a.  a.  O.  XIII,  9. 
'-)  a.  a.  O.  XIII,  31. 


13 


)  a.  a.  O.   XIII,  2(1. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  Sil 

haben?"  14)  Man  kann  sagen,  daß  zur  Beantwortung  dieser  Frage 
das  Riesenwerk  geschrieben  worden  sei:  alle  Ergebnisse  der  Einzel- 
untersuchimg laufen  wie  die  Radien  eines  Kreises  in  diesem  Mittel- 
punkt zusammen. 

Es  ist  begreiflich,  daß  ein  Mensch,  der  das  gesamte  Weltgebäude 
als  einen  lebendigen  Organismus  auffaßt,  geleitet  von  Gott  als  der 
höchsten  Vernunft,    notwendigerweise    alles  als    im  höchsten  Sinne 
zweckmäßig  ansehen  wird;  es   hieße   Gott   die  Vollkommenheit 
rauben,  gäbe  es  eins,  das  diesem  „Kosmos"  zuwiderlief e.  Notgedrungen 
kommt  da  in  Herders  Betrachtungsweise  ein  stark  teleologischer  Zug ; 
er  setzt  jede  Erscheinung  in   Beziehung  zu  diesem  höchsten   Sein 
und  findet  Zweck  und  Absicht  in  ihr.    Damit  ist  von  vornherein  die 
Möglichkeit  einer  streng  wissenschaftlichen  Behandlung  benommen, 
indem   gleich    außergegenständliche    und   dem   Ziel    der   Forschung 
zuwiderlaufende   Beziehungen  in  den  Mittelpunkt  der   Betrachtung 
gerückt  werden.    Die  Frage  nach  dem  Z  w  e  c  k  des  Dinges  stellt  sich 
ihm  zuerst,  ist  ihm  wertvoller  als  die  nach  der  Ursache.    Der  Zweck- 
mittelpunkt :   Gott  ist  ihm  gegeben  und  von  hier  blickt  er  die  Welt  an 
—  mehr  wertend  als   forschend,   mehr  behauptend  als  beweisend. 
Wenn  er  die  Natur  als  „gebärende  Mutter"  bezeichnet,  so  ist  ihm 
das  mehr  als  ein  schönes  Bild:    wie  er  in  seinem  starken  religiösen 
Erlebnis   eine   unmittelbare   fast  greifbare   Gottnähe   fühlt,   so   ver- 
lebendigt ihm  sein  Gefühl  die  Natur  derart,  daß  er  sie  menschlich 
schaffend  am  Werke  sieht.    Sie  ist  ihm  nicht  wie   uns  das  bewußt- 
seinslose Wesen,  das  nach  immanenten  Gesetzen  sich  entfaltet,  sondern 
ein  solches,  das  mit  Selbstbewußtsein  denkt  und  handelt.     Diese 
Personifikation  der  Natur  ist  ihm  aber  gar  oft  ein  bequemes  Mittel, 
sich  über  die  Schwierigkeiten  der  Probleme  hinwegzusetzen :   er  gleitet 
lastend  über  sie  hinweg  und  faßt  sie  nirgends  in  ihrer  Ganzheit;  und 
da  er  sie  dazu  in  einseitiger,  wohl  schiefer  Weise  beleuchtet,  entdeckt 
er  Schlagschatten,  die  ihn  wie  uns  überraschen.  Aber  wenn  wir  solchen 
Sätzen  das   Rampenlicht   und   den   Esprit  genommen  haben,    bleibl 
als  Rest  eine  schöne  Redewendung,  die  uns  gelallt:  die  uns  aber  über  das 
wissenschaftliche  Erfahrbare  des  Dinges  kaum  eine  Andeutung  gibt, 
„Der  Krystall   schießt  fertiger  und   regelmäßiger  zusammen,  als  die 
Biene  bauet  und  als  die  Spinne  webet.    In  jenem  ist  es  um-  noch  orga- 


1 1 


)  a.  a.   ().    XIII,   7. 


312  Richard   Noll, 

nischer  blinder  Trieb,  der  nie  fehlen  kann  15)'\  „Das  Gewebe  der 
Spinne,  was  ists  anders  als  der  Spinne  verlängertes  Selbst,  ihren  Raub 
zu  erhalten?  Wie  der  Polyp  die  Arme  ausstreckt,  ihn  zu  fassen:  wie 
sie  die  Krallen  bekam,  ihn  vest  zu  halten:  so  erhielt  sie  auch  die  Warzen, 
zwischen  welchen  sie  das  Gespinnst  hervorzieht,  den  Raub  zu  erjagen. 
Sie  bekam  diesen  Saft  ungefähr  zu  so  vielen  Gespinnsten,  als  auf  ihr 
Leben  hinreichen,  und  ist  sie  darin  unglücklich,  so  muß  sie  entweder 
zu  gewaltsamen  Mitteln  Zuflucht  nehmen  oder  sterben".16)  „Bei  Thieren 
edlerer  Art  legte  die  Natur  die  Werkzeuge  der  Fortpflanzung,  als  ob 
sie  sich  ihrer  zu  schämen  anfingen,  tiefer  hinab"  17).  „Die  Natur 
verschonte  diese  leichten  fluchtigen  Geschöpfe,  ihre  Jungen  bis  zur 
lebendigen  Geburt  zu  tragen,  wie  sie  sie  auch  mit  der  Mühe  des  Säugens 
verschonte.  .  .  .  Sobald  das  Meerthier  warmes  Blut  und  Organisation 
genug  hat,  ein  Lebendiges  zu  gebähren,  ward  ihm  auch  die  Mühe 
aufgelegt,  es  zu  säugen"  18).  Die  Sätze  zeigen  deutlich,  daß  Herder 
vor  der  wissenschaftlichen  Aufgabe  stehen  geblieben  ist:  er  sinnt  nicht 
nach  den  Gründen  dieser  Gegebenheiten,  sondern  er  beschreibt 
teleologisch.  Wenn  diese  Art  der  Naturbetrachtimg  auch 
nicht  die  Regel  ist,  so  tritt  sie  doch  immerhin  in  einer  Häufigkeit 
auf,  die  den  Wissenschaftler  Herder  fast  zur  Unmöglichkeit  macht. 
In  besonders  greller  Weise  tritt  diese  teleologische  Beschreibung 
hervor,  als  es  gilt,  die  Geburt  „des"  Menschen  zu  schildern.  Hier, 
bei  dieser  weltbedeutsamen  Schöpfung  läßt  sich  Herder  vom  breiten 
Strome  teleologischer  Gedanken  treiben;  man  merkt  es  ordentlich, 
mit  welch  innerer  Freude  er  daran  geht,  zum  Lob  und  Preis  dieses 
höchsten  Erdengeschöpfs  seine  Stimme  zu  erheben;  alle  Dämme 
nüchterner  Verstandesbeengung  werden  durchbrochen,  um  für  den 
vollen  Fluß  des  Gefühls  und  der  Phantasie  Raum  zu  schaffen.  Der 
Dichter  spricht  hier  am  meisten  und  liebsten,  weniger  der  Philosoph, 
und  der  Naturwissenschaftler  darf  nur  hin  und  wieder  ein  Wort  da- 
zwischen werfen.  „Als  die  bildende  Mutter  ihre  Werke  vollbracht  und 
alle  Formen  erschöpft  hatte,  die  auf  dieser  Erde  möglich  waren, 
stand  sie  still  und  übersann  ihre  Werke;  und  als  sie  sah,  daß  bei  ihnen 
allen  der  Erde  noch  üire  vornehmste  Zierde,  ihr  Regent  und  zweiter 


15)  a.  a.  O.  XIII,  102. 

16)  a.  a.  O.  XIII,  101. 

17)  a.  a.  O.  XIII,  75. 

18)  a.  a.  O.  XIII,  80. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  313 

Schöpfer  fehlte:  siehe  da  ging  sie  mit  sich  zu  Rat,  drängte  die  Gestalten 
zusammen  und  formte  aus  allen  ihr  Hauptgebilde,  die  menschliche 
Schönheit.  Mütterlich  bot  sie  ihrem  letzten  künstlichen  Geschöpf 
die  Hand  und  sprach :  steh  auf  von  der  Erde !  Dir  selbst  überlassen, 
wärest  du  Thier,  wie  andre  Thiere ;  aber  durch  meine  besondre  Huld 
und  Liebe  gehe  aufrecht  und  werde  der  Gott  der  Thiere'' 19).  Die  Stelle 
zeigt  deutlich  wie  gern  Herder  künstlerische  Einschläge  in  seine  Dar- 
stellung verwoben  hat;  seine  Sprache  ist  voll  von  Bildern,  ein  oft 
deutlich  spürbarer  Rhythmus  erhöhen  den  dichterischen  Eindruck. 
Aber  wenn  wir  sein  Pathos  auf  uns  haben  wirken  lassen,  fühlen  wir 
doch  bald  ein  Mißbehagen,  denn  hinter  all  den  schwungvollen  Worten 
findet  der  kritische  Beschauer  zu  wenig  Greifbares  in  üinen,  das  ihn 
in  seiner  Erkenntnis  fördern  könnte.  Man  darf  solche  Stellen  eigent- 
lich nur  formal  genießen,  d.  h.,  wir  müssen  von  dem  buchstäblichen 
Inhalt  absehen  und  nur  die  allgemeine  Wahrheit  dieser  Worte  in 
uns  lebendig  werden  lassen.  Man  mag  ja  vielleicht  weitherziger  sein, 
sogar  mit  Entschiedenheit  behaupten,  teleologische  Gedanken  hätten 
da,  wo  der  Mensch  als  wertendes  Glied  in  die  Kette  der  Erscheinung 
tritt,  ihr  volles  Recht;  gewiß:  im  Augenblick  wenn  wir  dies  tun, 
verlassen  wir  den  Boden  strenger  Wissenschaft  und  begeben  uns  auf 
Wissensgebiete,  die  mit  gänzlich  verschiedenen  Zielen  auch  anders 
geartete  Methoden  fordern.  Der  Versuch  aber  gegensätzliches  zu  ver- 
einen, fordert  zur  Kritik  heraus. 

In  hohem  Maße  bezeichnend  und  klärend  für  Herders  Stellung 
zur  Naturwissenschaft  will  uns  die  Art  und  Weise  sein,  nach  der  ei- 
serne Stoffgebiete  ausgewählt  hat.  Ein  Wissenschaftler  muß  einen 
kleineren  oder  größeren  Teil  aus  der  Unendlichkeit  der  Außenwelt 
herausschneiden  und  diesen  verstandesgemäß  zu  ergründen  suchen. 
Was  tut  nun  Herder?  Wohl  beschäftigt  ihn  nur  ein  kleiner  Teil  des 
Naturganzen,  aber  nicht  einer  Naturwissenschaft,  sondern  d  e  r  Natur- 
wissenschaft. Er  sieht  nur  die  schmale  Grenzzone,  die  den  Menschen 
mit  der  Natur  verknüpft,  nur  die  Beziehungen  und  gegenseitigen  Be- 
wirkungen  reizen  seine  Aufmerksamkeit.  Herders  gesamte  Natiu- 
betrachtung  ist  auf  dieses  Ziel  bei  der  Sichtung  und  Auswahl  des 
Stoffs  eingestellt:  all  das,  was  dieser  Absicht  nicht  gefügig  ist,  wird 
ruhigen  Gewissens   beiseite  geschoben;   es   wäre   ja   unnötige   Zutat, 


19)  a.  a.  O.  XIII,  114. 

Archiv  für  (ujttchichte  der   l'liilnsopliin.    XXVI.  ::.  .>i 


314  Richard   No  11, 

störende  Belastung  seines  Gesamtwerkes.  Fragen  innerhalb  der 
Grenzen  der  Naturwissenschaft  sind  ihm  reichlich  gleichgültig;  er 
drängt  nur  auf  Zusammenordnung  dieser  mit  Fragen  der  Philosophie 
oder  Geschichte.  Die  weitgehendste  Beschränkung  des  —  auch  schon 
zu  seiner  Zeit  verhältnismäßig  reichlich  —  erarbeiteten  Stoffs  macht 
sich  geltend;  aus  vielen  Spezialforschungen  rafft  er  sich  die  Sätze 
zusammen  und  sucht  sie  mit  der  Aufgabe  zu  verknüpfen,  deren  Lösung 
Zweck  seiner  Arbeit  ist.  Er  mag  ein  Ding  zur  Hand  nehmen,  welches 
es  auch  sei,  mag  Gesetze  der  Sonne  und  Sternen  erörtern  —  immer 
findet  der  prüfende  Blick  die  deutlich  aufzuweisenden  Pfade,  die  zum 
Menschen  oder  zur  Menschheit  hinleiten.  Er  beginnt  seine  Erörterung 
mit  der  Besprechung  der  Erde  als  Planet.  Denn:  „Vom  Himmel  muß 
unsre  Philosophie  der  Geschichte  des  menschlichen  Geschlechts  anfangen, 
wenn  sie  einigermaßen  diesen  Namen  verdienen  soll"  20).  Er  durch- 
läuft die  einzelnen  Erdperioden:  nur  nebenbei  bekümmern  ihn  die 
Gesetze  der  Gestaltsveränderung  —  ihm  genügt  die  bloße  Frage- 
stellung und  der  Wunsch  auf  baldige  Klärung,  —  sein  Hauptinteresse 
ruht  immer  auf  den  Wandlungen  der  Erdoberfläche  und  ihrer  Bedeutung 
für  die  Geschichte;  nicht  Geolog,  sondern  Geograph  ist  er  hier.  Er 
kommt  zu  den  Pflanzen,  von  diesen  zu  den  Tieren  —  aber  wir  erfahren 
nichts  von  Botanik  und  Zoologie,  sondern,  wie  er  es  uns  selbst  deutlich 
sagt,  will  er  behandeln:  „Das  Pflanzenreich  unsrer  Erde  in  Beziehung 
auf  die  Mensch  engeschichte."'  „Das  Reich  der  Thiere  in  Beziehung  auf 
die  Mensch  engeschichte."  So  durcheilt  er  die  ganze  Naturwissenschaft, 
ohne  uns  innerhalb  der  Wissenschaft  irgendwo  genaueres  mitzu- 
teilen.    Einen  Naturwissenschaftler  Herder  gibt  es  nicht. 

Seltsam  muß  es  nun  auf  den  ersten  Blick  erscheinen,  wie  es  Herder 
möglich  war,  die  Prinzipien  zweier  so  wesenverschiedener  Gebiete 
menschlicher  Betätigung,  wie  Geistes-  und  Naturwissenschaft,  zu 
vereinen.  Es  stellt  sich  die  Frage:  nach  welchen  methodischen  Grund- 
sätzen hat  Herder  überhaupt  gearbeitet;  sie  spitzt  sich  zu:  Wie 
stellt  sich  Herder  zur  Induktion?  Ehe  wir  dies  beantworten  können, 
müssen  wir  eine  Vorfrage  stellen:  Besitzt  Herder  methodische  Klar- 
heit und  hat  er  demgemäß  nach  scharfumschriebenen  und  feststehen- 
den Prinzipien  gehandelt?  Bereits  oben  war  Gelegenheit,  mit  aller 
Deutlichkeit  auf  die  dichterischen  Zwischenläufe  in  seinen  Beweis- 


en 


)  a.  a.  O.  XIII. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  315 

führungen  hinzuweisen,  und  schon  aus  den  wenigen  Andeutungen 
scheint  eine  Bejahung  kaum  möglich.    Wer  vollends  Herders  Gesamt- 
schaffen kennt,  noch  mehr  wer  Herders  Charakter  kennt,  wird  es 
verneinen.     Wie  hätte  es  sein  „Feuergeist",  der  mit  Schnelligkeit 
und  Leidenschaftlichkeit  dachte,   ertragen,  sich  mit  einem  starren 
Denkgerüst  zu  bannen;  in  Strömen  flössen  ihm  die  Gedanken,  aber 
nur  zu  selten  mochte  er  in  gleicher  Weise  einen  kühlen  Kritizismus 
spielen  lassen.    „Sein  Genie  ist  ihm  statt  aller  geschulten  Methode", 
sagt  Haym  von  ihm  21).    Nicht  also  nach  einer  Methode  im  Sinne 
einer  Forschungsmaxime  dürfen  wir  bei  Herder  suchen,  sondern  es  muß 
uns  genügen,  zu  wissen,  welche  Art  zu  denken  er  am  häufigsten 
anwandte.     Ein  Mensch,  der  uns  von  Jugend  an  überrascht  durch 
seine   Fähigkeit    zwischen    Weitentlegenem   Zusammenhänge   aufzu- 
spüren, der  es  über  alles  hebt,  Beziehungen  zwischen  den  Dingen 
zu  knüpfen,  vermag  ein  solches  Bedürfnis  am  ehesten  zu  stillen,  wenn 
er  analogisch  denkt.     Er  sieht  zwei  Erscheinungen,  findet  in  beiden 
ähnliche  Züge,  —  zunächst  einerlei,  ob  innerer  oder  äußerer  Art  — 
und   erschließt   daraufhin   Wesensbeziehunoen.      Dererlei    Analogien 
können  nun  erlaubt  oder  nicht  erlaubt  sein,  d.  h.   die  behauptete 
Beziehung  kann  von  beiden  Gliedern  Wesentliches  aussagen  oder  sie 
kann  bei  einem  oder  bei  allen  zweien  nur  Nebensächliches  treffen. 
Über  die  Möglichkeit  solcher  Trugschlüsse  scheint  Herder  sich  nicht 
im  klaren  gewesen  zu  sein;    in  der  tatsächlichen  Anwendung    wird 
ihm  wohl  meist  sein  Gefühl  den  richtigen  Weg  gewiesen  haben;  aus 
seinen  eigenen  Worten  ist  es  zu  entnehmen.    „Was  wir  wissen,  wissen 
wir  nur  aus  Analogie,  von  der  Kreatur  zu   uns,   und  von   uns   zum 
Schöpfer  .  .  .  Syllogismen  können  mich  nichts  lehren,  wo  es  aufs 
erste  Empfängnis  der  Wahrheit  ankommt,  die  ja  nur  jene  entwickeln, 
nachdem  sie  empfangen  ist;  mithin  ist  das  Geschwätz  von  Wort- 
erklärnngen  und   Beweisen  meist  mir  ein  Brettspiel,  das  auf  ange- 
nommenen  Regeln  und  Hypothesen  ruhet.     Die  stille  Ähnlichkeit, 
die  ich  im  Ganzen  meiner  Schöpfung,  meiner  Seele  und  meines  Lebens 
empfinde  und  ahnde:  der  große  Geist  der  mich  anwehet  und  mir  im 
Kleinen  und  Großen,  in  der  sichtbaren  und  unsichtbaren  Welt  Einen 
Gang,  Einerley  Gesetze  zeiget:  der  ist  mein  Siegel  der  Wahrheit"-). 

21)  A.  Haym:  Herder,  Nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken  dargestellt. 
II,  221. 

--)  a.  a.  O.   XIII,   170. 

i'l' 


316  Richard   Noll, 

Was  ihn  dazu  trieb,  sich  an  der  Natur  zu  orientieren,  war  —  wie  wir 
oben  erfahren  haben  —  der  Haß  gegen  alle  reine  Metaphysik,  der  ihm 
seine  Erkenntnis  nicht  zu  erweitern  vermochte.  „Wir  setzen  also 
Metaphysik  beiseite  und  halten  uns  an  Physiologie  und  Erfahrung"23). 
Stattdessen  will  er  die  Natur  befragen  und  aus  ihr  die  Begriffe  sich 
bilden;  aber  er  wahrt  seinen  „geistigen"  Standpunkt  dadurch,  daß 
er  der  Erfahrung  keinen  Selbstzweck  beilegt  und  sie  zum  alleinigen 
Träger  seines  Wissens  macht,  sondern  sie  ist  ihm  nur  Hilfsmittel 
und  Beweisstück  seiner  vorgefaßten  Gedanken.  Sein  Gefühl  wird 
etwa  dies  gewesen  sein:  Weltanschauung  —  in  seiner  religiösen  Auf- 
fassung —  ist  ein  Stück  erlebbaren  Wissens,  das,  wie  alles  Wissen, 
um  so  gewisser  wird,  je  öfter  es  sich  durch  die  Erfahrung  bestätigen 
läßt;  da  sich  nun  Gott  als  rein  Ideelles  aus  der  Natur  —  als  Phäno- 
menen —  nicht  darstellen  läßt,  ist  er  per  analogim  aus  ihr  zu 
„erfühlen".  So  kommt  er  zu  dem  fast  schlagwörtlich  oft  wiederholten 
Wort:  „Analogie  der  Natur."  Erst  wenn  er  diese  gefunden,  fühlt  er 
Beruhigung  wegen  der  Richtigkeit  seiner  Behauptung.  „Überall 
hat  mich  die  große  Analogie  der  Natur  auf  Wahrheiten  der  Religion 
geführt,  die  ich  nur  mit  Mühe  unterdrücken  mußte,  weil  ich  sie  mir 
selbst  nicht  zum  voraus  rauben,  und  Schritt  vor  Schritt  nur  dem 
Licht  treu  bleiben  wollte,  das  mir  von  der  verborgenen  Gegenwart 
des  Urhebers  in  seinen  Werken  allenthalben  zustralet"  21).  Es  gibt 
wohl  kaum  einen  Gedanken  von  einiger  Bedeutung,  zu  dem  er  nicht 
in  der  Natur  das  Analogon  gefunden  hätte  —  über  den  Wert  und  die 
Beweiskraft  dieser  Schlußfolgen  sind  wir  zwar  mit  Herder  nicht  einerlei 
Meinung.   Den  Grundirrtum,  der  ihm  hier  unterlaufen  ist,  sah  er  nicht, 

Die  kritische  Erörterung  über  die  Verwendbarkeit  von  Analogie- 
schlüssen führt  uns  unmittelbar  hinüber  zur  eigentlich  wichtigen 
Frage  für  die  Wissenschaftlichkeit  Herders:  Wie  stellt  er  sich  zur 
Induktion?  Wenn  Herder  von  „Analogie  der  Natur"  redet,  macht 
er  eine  stillschweigende  Voraussetzung:  er  parallelisiert  nicht  einen 
Begriff  mit  einem  einmalig  gegebenen  Vorgang  in  der  Natur,  sondern 
mit  einem  Gesetz  des  Naturgeschehens.  Woher  nimmt  er  aber  das 
Gesetz,  wie  gelangt  er  zu  ihm?  Zwei  Wege  öffnen  sich  ihm  da,  ein 
uns  schon  bekannter:  der  Analogie,  ein  anderer,  echt  naturwissen- 


-3)  a.  a.  O.  XIII,  110. 
-4)  a.  a.  ü.  XIII,  9. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  317 

schaftlicher,  der  Induktion.  Im  ersteren  scheint  eine  Tautologie  zu 
stecken:  er  erschließt  die  „Analogie  der  Natur"  durch  Analogie. 
Wir  haben  es  so  zu  verstehen :  der  Natur  gegenüber  sind  zwei  Betrach- 
tungsweisen möglich,  die  wir  kurz  die  naturwissenschaftliche  und  philo- 
sophische nennen  wollen.  Seine  theoretische  Weltanschauung  hat 
sich  bestimmte  Begriffe  erarbeitet;  diese  fühlt  er  nun  in  die  Natur 
hinein  und  postuliert  sie  dann  —  gewissermaßen  rückwärts  schauend 
—  als  „Analogie  der  Natur".  Man  kann  auch  sagen:  eine  Analogie 
vollzieht  sein  erlebnismäßig  geweitetes  Alleinsgefühl  mit  der  Allgott- 
heit, die  andere  der  Intellekt,  aber  wir  wollen  nicht  künstlich  scheiden, 
am  wenigsten  bei  intuitiven  Menschen  wie  Herder.  Nehmen  wir  ein 
Beispiel:  in  seinem  Weltbild  erscheint  die  Welt  als  vollendetster 
Kosmos;  die  Erscheinung  Gottes  ist  sie  höchste  Ordnung  und  Har- 
monie; die  gleichen  Prädikate  findet  er  auch  für  die  uns  umgebende 
Natur.  „Dysteleologien",  die  man  ihm  entgegenhält,  läßt  er  nicht 
gelten;  schlimmstenfalls  rettet  ihn  die  Entgegnung:  unser  Menschen- 
verstand sei  zu  engbegrenzt,  um  die  höhere  Absicht  Gottes  nach- 
denken zu  können. 

So  hilft  ihm  also  hier  die  eine  Denkmöglichkeit  zu  Naturgesetzen 
zu  gelangen,  die  Analogie;  die  Zahl  der  hiermit  gefundenen  Sätze 
ist  bei  seiner  vorherrschenden  philosophisch-geschichtlichen  Be- 
trachtung die  häufigere.  Demgegenüber  findet  sich  aber  noch  eine 
ganze  Reihe  von  Erörterungen,  welche  die  allein  zulässige  Methode 
zur  Ergründung  neuer  Gesetzmäßigkeiten  befolgen:  die  Induktion. 
Bezeichnenderweise  tritt  sie  vor  allem  da  mit  Deutlichkeit  hervor, 
wo  Herder  sich  ein  wenig  in  eine  Fachwissenschaft  vertieft  und  in 
diesem  begrenzten  Teilgebiet  arbeitet,  Ursache  dieser  Behandlung 
wird  besonders  der  Umstand  gewesen  sein,  daß  mit  der  Aufnahme 
des  erstaunlich  umfangreichen  zusammengetragenen  Stoffs  auch  die 
Methode  der  Verarbeitung  in  sein  Blut  geflossen  ist;  ihm  ist  mit  den 
Begriffen,  die  andere  induktiv  gegründet  haben,  auch  das  Gesetz 
eingegangen,  das  sie  entwickelt  und  geformt  hat.  Zwar  was  uns  Herder 
über  die  Induktion  selbst  sagt,  läßt  begrifflich  methodische  Klarheit 
vermissen;  ihm  fehlt  die  Einsicht  in  deren  Bedeutung  und  Tragweite 
für  die  empirischen  Wissenschaften.  Überhaupt  verblaßt  das  Wort 
Induktion  bei  ihm  derart,  daß  man  oft  den  Eindruck  hat,  er  schreibe 
es  hin,  um  einen  umständlicheren  Ausdruck  zu  verkürzen.  So  sagt 
er,  nachdem  er  genauer  von  organischen  Kräften  gesprochen  hat: 


318  Richard   Noll. 

„Dürfen  wir  aus  diesen  Induktionen,  die  noch  viel  mehr  ins  Einzelne 
geleitet  werden  könnten,   einige  Resultate  sammeln".  .  . 25). 

Und  doch  —  nichts  wäre  törichter  und  schlimmer  als  die  Be- 
hauptung, Herder  hätte  keinen  Sinn  für  Induktion  gehabt,  weil  er 
es  uns  nicht  mit  wünschenswerter  Genauigkeit  hinschreibt.  Was 
uns  Herder  nicht  mit  dem  Verstände  ausdrückt,  das  vermittelt  uns 
sein  genialischer  Instinkt,  —  man  könnte  -den  Satz  geradezu  als 
Formel  aufstellen.  Wer  nur  Worte  in  engster  Wortbedeutung  nimmt, 
der  findet  bei  Herder  überraschend  viel  Dürftigkeit  und  Oberfläch- 
lichkeit, er  ahnt  nichts  von  dem  inwendig  treibenden  Gesetz,  das  alles 
formt  und  schafft.  Nicht  nur  den  logisch  gefaßten  „Sinn"  seiner 
Worte  müssen  wir  aufspüren,  sondern  auch  die  Beziehungen  auf- 
decken, die  diese  mit  dem  Menschen  verknüpfen.  Blicken  wir  aber 
in  das  Triebwerk  seiner  Seele,  so  sehen  wir  noch  andere  Kräfte  als 
Analogie  an  der  Arbeit:  in  fast  gleicher  Stärke  wie  diese  die  Induktion. 
Früh  keimte  und  entfaltete  sich  diese  Kraft;  sie  äußerte  sich  zuerst 
in  einem  Haß  gegen  jede  Metaphysik  und  einer  starken  Zuneigung 
zum  Erfahrungswissen.  Das  heißt  aber  der  Induktion  das  Wort 
predigen;  wohl  mittelbar,  denn  nicht  zwar  sinnt  er  über  den  Weg, 
wie  wir  die  Erfahrung  bilden,  sondern  er  pflückt  sie  als  fertige  Frucht, 
ohne  zu  fragen,  wie  sie  entstanden.  Er  schilt  alle  sogenannte  „reine 
Philosophie",  weil  sie  deduziere  und  sich  dadurch  ins  traumhaft  Un- 
gewisse verlöre.  „Alles  sogenannte  reine  Denken  in  die  Gottheit 
hinein  ist  Trug  und  Spiel,  die  ärgste  Schwärmerei,  die  sich  nur  selbst 
nicht  dafür  erkenne.  All  unser  Denken  ist  aus  und  durch  Empfindung 
entstanden,  trägt  auch  trotz  aller  Destillation  davon  noch  reiche 
Spuren.  Die  sogenannten  reinen  Begriffe  sind  meistens  reine  Ziffern 
und  Zeros  von  der  mathematischen  Tafel,  und  haben,  platt  und  plump 
auf  Naturdinge  unsrer  so  zusammengesetzten  Menschheit  ange- 
wandt, auch  Ziffemwerth  . . .  Unsterblichkeit  einer  metaphysischen 
Monas  ist  nichts,  als  metaphysische  Unsterblichkeit,  deren  Physisches 
mich  nicht  überzeuget . . .  Wir  wickeln  in  Worte  ein,  was  wir  her- 
auswickeln wollen,  setzen  voraus,  was  kein  Mensch  erweisen  kann, 
oder  auch  nur  begreift  oder  versteht,  und  kann  sodann,  was  man 
will,  folgern"  26).  Sein  Kampf  gegen  die  Metaphysik  wurzelt  schlechter- 


25)  a.  a.  0.  XIII,  91. 
-6)  a.  a.  0.  VIII,  233. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  310 

dings  in  nichts  anderm  als  dem  Trieb,  den  Schlüssen  von  „oben  herab", 
aus  der  „Urzelle"  den  Garaus  zu  machen  und  durch  Beweise  der 
breiten  Empirie  von  „unten  herauf"  zu  ersetzen.  Liegt  nicht  selbst 
in  den  „Analogien  der  Natur"  ein  induktiver  Keim  geschlossen? 
Er  will  die  „Wahrheiten  der  Religion"  durch  eine  möglichst  hohe  Zahl 
von  beweiskräftigen  Tatsachen  der  Erfahrung  stützen;  oder  um  die 
Planmäßigkeit  in  der  menschlichen  Geschichte  zu  zeigen,  untersucht 
er  die  Völker  und  Völkchen  aller  Zeiten  und  Erdteile  —  nicht  genug, 
aus  belebter  und  unbelebter  Natur  sammelt  er  Beispiele,  die  seine 
These  kräftigen  sollen.  Ein  paar  Sätze  aus  seiner  Frühzeit  bekunden, 
wie  weit  er  damals  in  der  induktiven  Zergliederung  sogar  von  ab- 
strakten Begriffen  gegangen  ist.  „Alle  Gesetze  der  Attraction  sind 
nichts  als  bemerkte  Eigenschaften,  die  wir  untereinander  ordnen, 
bis  ein  Hauptgrundsatz  wird.  Die  Gesetze  der  Metaphysik  sinds  noch 
sichtbarer.  Alle  Gesetze  und  Regeln,  wornach  Gott,  die  Welt,  die 
Seele  würken  soll,  sind  Bemerkungen,  wie  sie  würkt  oder  würken 
könne;  es  sind  abgezogene  Bemerkungen  von  Eigenschaften  ihres 
Wesens.  Je  mehr  wir  diese  untereinander  ordnen  können,  desto 
weniger  und  einfacher  werden  die  Gesetze,  desto  näher  kommen  wir 
Einem  Begriff,  dem  Hauptbegriff  des  Wesens"  27).  Umgekehrt  heißt 
das:  wir  gelangen  zu  allgemeinen  Begriffen  dadurch,  daß  wir  einzelne 
Bemerkungen  zusammenordnen  und  somit  induktiv  aufsteigen. 

Immerhin  ist  es  zweierlei  —  und  das  wollen  wir  nicht  vergessen  — : 
methodische  Prinzipien  und  psychologische  Triebe.  Unzweideutig 
liegt  es  vor  uns:  allgemeine  Begriffe  werden  durch  analogisierte  In- 
duktionen gestützt  und  belebt.  Seit  wir  den  Begriff  einer  „induktiven 
Metaphysik"  geprägt  haben,  ist  uns  ein  solches  Verfahren,  wie  es 
Herder  anwandte,  nicht  mehr  so  unbegreiflich.  Aber  es  ist  doch 
nicht  das  gleiche,  aus  der  Erfahrung  aufsteigend  Begriffe  immer 
reiner  und  weiter  zu  fassen  und  schließlich  metaphysisch  zu  postulieren, 
oder  —  wie  Herder  —  sich  ein  Gedankengerüst  zurecht  zu  zimmern 
und  dann  zu  versuchen,  wo  es  gerade  angängig  ist,  an  dieser  oder 
jener  Ecke  in  der  Erfahrung  zu  verankern.  Es  ist  ja  ungemein  schwer, 
in  vielem  ganz  unmöglich  zu  sagen,  dies  stamme  aus  der  Erfahrung 
und  jenes  aus  der  Spekulation.  Es  scheint  uns  aber  der  Nachweis 
zu   genügen,   daß   Herder   methodisch   mehrdeutig   vorgegangen   ist 


■J7 


)  a.  a.  O.  IV,  4G5. 


320  Richard   Noll, 

und  in  seiner  Stellung  geschwankt  hat,  je  nachdem  es  ihm  gerade 
zufloß,  um  seine  Art  von  Erfahrungsmetaphysik  zu  richten.  Als 
reiner  Wissenschaftler  würde  er  heute  vielleicht  mehr  als  je  mit  seiner 
immerwährend  starken  Betonung  sich  auf  das  Nur-Erfahrungsgemäße 
zu  beschränken,  ein  zahlreiches  Echo  wecken.  Denn  alles,  was  über 
das  objektiv  Nachprüfbare  hinausgeht,  muß  aus  ihrem  Bereich  gebannt 
sein  —  es  ist  offene  oder  versteckte  Metaphysik.  Dieser  Satz,  den 
Herder  mit  abgewandeltem  Wortlaut  wohl  dutzendemal  geschrieben 
hat,  wird  aber  nun  sein  eigenes  Richtschwert.  Denn  prüfen  wir, 
wie  oft  Herder  innerhalb  der  Grenzen  der  Naturwissenschaft  gebheben 
ist,  wie  unzähligemal  oft  er  aber  mit  metaphysischen  Flügeln  aus  ihr 
enteilt  ist,  trotz  des  wahnvollen  Glaubens,  auf  festgegründetem  Boden 
zu  verharren,  so  schmerzt  uns  ein  Bedauern  über  den  nutzlosen  Auf- 
wand irregeleiteter  Geisteskraft.  Er  verirrt  sich  in  seiner  Blindheit, 
weil  er  nicht  sah,  wie  ihn  seine  religiösen  Vorstellungen,  mit  denen 
er  an  die  Wirklichkeit  herantrat,  von  vornherein  auf  gänzlich  un- 
wissenschaftlichen Boden  stellten;  er  war  verblendet  genug  zu  meinen, 
daß  die  Gesetzmäßigkeiten,  die  er  aufstellte,  den  Dingen  selbst  ureigen 
wären.  Die  Realität  seiner  letzten  und  tiefsten  Begriffe  glaubte  er 
durch  die  Natur  begründet  und  zugleich  geoffenbart;  er  spürte  nichts 
von  der  Voreingenommenheit  seiner  „Beweise",  die  das  zu  Beweisende 
schon  als  Voraussetzung  hatten.  An  vielen  Stellen  lesen  wir  bei  ihm, 
daß  er  sich  glücklich  fühlt,  einen  nicht  zu  überbietenden  Trumpf  in 
Händen  zu  halten,  daß  sein  Weltbild  eine  Wirklichkeit  zeichne,  welches 
die  erfahrungsgemäße  Nachprüfbarkeit  nicht  zu  scheuen  brauche. 
Kant  merkte  diesen  grundlegenden  Irrtum  und  er  stellte  ihn  klar 
heraus  in  seiner  Besprechung  der  „Ideen".  „Was  nun  aber  jenes  un- 
sichtbare Reich  wirksamer  und  selbständiger  Kräfte  anlangt,  so  ist 
es  nicht  wohl  abzusehen,  warum  der  Verfasser,  nachdem  er  geglaubt 
hat,  aus  den  organischen  Erzeugnissen  auf  dessen  Existenz  sicher 
schließen  zu  können,  nicht  lieber  das  denkende  Princip  im  Menschen 
dahin  unmittelbar,  als  bloß  geistige  Natur,  übergehen  ließ,  ohne 
solches  durch  das  Bauwerk  der  Organisation  aus  dem  Chaos  heraus- 
zuheben ;  es  müßte  denn  seyn,  daß  er  diese  geistigen  Kräfte  für  ganz 
etwas  anderes  als  die  menschliche  Seele  hielt,  und  diese  nicht  als 
besondere  Substanz,  sondern  bloß  als  Effect  einer  auf  Materie  ein- 
wirkenden und  sie  belebenden  unsichtbaren  allgemeinen  Natur  an- 
sähe, welche  Meynung  wir  doch  ihm  beizulegen  billig  Bedenken  tragen. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft  321 

Allein  was  soll  man  überhaupt  von  der  Hypothese  unsichtbarer,  die 
Organisation  bewirkender  Kräfte,  mithin  von  dem  Anschlage,  das, 
was  man  nicht  begreift,  aus  demjenigen  erklären  zu  wollen,  was  man 
noch  weniger  begreift,  denken?  Von  jenem  können  wir  doch  wenigstens 
die  Gesetze  durch  Erfahrung  kennen  lernen,  obgleich  freylich  die 
Ursachen  derselben  unbekannt  bleiben;  von  diesen  ist  uns  sogar 
alle  Erfahrung  genommen  und,  was  kann  der  Philosoph  nun  hier 
zur  Rechtfertigung  seines  Vorgehens  anführen,  als  die  bloße  Ver- 
zweiflung den  Aufschluß  in  irgend  einer  Kenntnis  der  Natur  zu 
finden  und  den  abgedrungenen  Entschluß,  sie  im  fruchtbaren  Felde 
der  Dichtungskraft  zu  finden.  Auch  ist  dieses  immer  Metaphysik, 
ja  sogar  sehr  dogmatische,  so  sehr  sie  auch  unser  Schriftsteller,  weil 
es  die  Mode  so  will,  von  sich  ablehnt"28).  Herder  sah  sich  durch  diese 
Kritik  in  den  Grundfesten  seines  Denkens  erschüttert,  er  wollte  und 
konnte  nicht  begreifen,  daß  all  das,  was  er  über  die  Natur  gesagt 
hatte,  leere  Worte  waren.  .  .  Metaphysik  —  gerade  das,  was  er  so  sehr 
haßte.  Den  Grad  seiner  Erregung  kennzeichnen  aufs  deutlichste 
die  Briefe  an  seine  Freunde  über  Kants  Urteil:  Gezeter  und  Schimpf- 
worte wirbeln  durcheinander.  Zu  einer  eigentlichen  Reform  seiner 
Gedanken  vermochte  er  sich  nicht  zu  entschließen:  das  hätte  ja  auch 
von  Grund  auf  neu  zu  bauen  geheißen;  nur  in  wenigen  Fragen  zeigte 
sich  Kants  Einfluß:  so  findet  er  für  das  Recht  teleologischer  Be- 
trachtungsweise eine  neue  klare  Begründung.  „Kein  edleres  Geschäft 
kennt  unser  Geist,  als  in  denen  uns  gegebenen  Symbolen  der  Wirk- 
lichkeit, der  Ordnung  zu  folgen,  die  im  Verstände  des  Ewigen  war, 
ist  und  sein  wird.  Das  thut  der  Naturforscher,  der  von  den  sogenannten 
Absichten  des  Teleologcn  absieht,  allen  Trugschlüssen  entgeht  er, 
indem  er  uns  nicht  zwar  particulare  Willensmeinungen  aus  der  Kammer 
des  göttlichen  Rats  verkündigt,  aber  dafür  die  Beschaffenheit  der 
Dinge  selbst  untersucht.  Er  sucht  und  findet,  indem  er  die  Absichten 
Gottes  zu  vergessen  scheint,  in  jedem  Punkt  der  Schöpfung  den  ganzen 
Gott,  d.  h.  in  jedem  Dinge  eine  ihm  wesentliche  Wahrheit,  auf  welcher 
seine  Existenz  mit  einer  zwar  bedingten,  aber  in  ihrer  Art  ebenso 
wesentliche  Nothwendigkeit  gegründet  sieht,  als  auf  welcher  unbe- 
dingt und  ewig  das  Dasein  Gottes  ruht  Z9)'\    Jedoch  ist  diese  feine 


28)  Allgemeine  Literaturzeitung,  1785,  Nr.  4,  8.  21/22. 

29)  a.  a.  0.  XV. 


Richard   Noll, 

Unterscheidung  von  mensch-  und  gottgewollter  Zweckmäßigkeit  der 
Welt  bei  Herder  nicht  als  die  bloße  Aufnahme  eines  kantischen  Ge- 
dankens zu  verstehen:  nur  die  schärfere  Formulierung  ist  durch  Kant 
bedingt;  inhaltlich  folgt  dieser  unmittelbar  auch  seiner  Weltanschau- 
ung. Aber  von  hier  aus  begreift  sich  leichter  die  nicht  hinwegzuleug- 
nende Tatsache,  daß  Herder  oftmals  —  wie  früher  methodisch  neben 
Analogie  =  auch  Induktionsschlüsse  zog  —  so  auch  hier  die  teleolo- 
gische Betrachtung  durch  die  rein  kausale  ersetzte.  Es  liegt  ja  im 
Grunde  bei  ihm  die  enge  Berührung,  ja  sogar  Verschmelzung  dieser 
beiden  an  sich  widersprechenden  Methoden  nahe:  einmal  ist  der 
Endzweck  kein  behebiger,  von  menschlichen  Launen  bestimmbarer, 
sondern  die  Gottheit  selber;  dadurch  wird  die  „schlechte"  Teleologie 
gleich  beiseite  geschoben,  die  aus  der  Natur  für  den  Menschen  Zwecke 
aufstellt;  andermal  wird,  da  die  Gottheit  als  vollkommenstes  Wesen 
höchste  Vernunft  ist,  die  strenge  Gesetzmäßigkeit  im  ganzen  Kosmos 
behauptet.  Damit  ist  unbedenklich  die  Möglichkeit  rein  kausaler 
Forschung  gegeben,  deren  Ergebnisse  aber  wiederum  teleologisch 
als  Beweise  für  die  Gottheit  umgedeutet  werden  können.  Ein  deut- 
liches Beispiel  hierfür  ist  folgendes:  „Und  alle  dies30)  nicht  etwa 
nach  der  Willkür  einer  täglich  geänderten  unerklärlichen  Fügung, 
sondern  nach  offenbaren  Naturgesetzen,  die  im  Bau  der  Geschöpfe, 
d.  h.  im  Verhältnis  aller  der  organischen  Kräfte  lagen,  die  sich  auf 
unserm  Planeten  beseelten  und  erhielten.  Solange  das  Naturgesetz 
dieses  Baues  und  Verhältnisses  dauert,  wird  auch  seine  Folge  dauern: 
harmonische  Ordnung  nämlich  zwischen  den  belebten  und  unbelebten 
Teilen  unserer  Schöpfung,  die,  wie  das  Innere  der  Erde  zeigt,  nur  durch 
den  Untergang  von  Millionen  bewirkt  werden  konnte"  3l).  Es  ist 
das  Gesetz,  der  Korrelation  der  Teile,  das  diesen  Sätzen  zugrunde 
liegt  —  jedenfalls  ein  offenbares  Zeugnis  für  den  wissenschaftlichen 
Spürsinn  Herders.  Dieses  Gesetz,  das  die  Abhängigkeit  der  einzelnen 
Naturdinge  voneinander  behauptet,  stellt  zweifelsohne  einen  Gipfel 
Herderschen  kausalen  Denkens  dar.  Mit  kleinen  Umdeutungen 
wendet  er  es  auf  fast  alle  Gegebenheiten  natürlichen  und  menschlichen 
Daseins  an;  der  ganze  Kosmos  ist  ja  ein  System  „abgewogener" 
Kräfte,  die  belebte  und  unbelebte  Natur  steht  in  einem  festen  Ver- 


30)  Die  harmonische  Zuordnung  der  Geschöpfe. 

31)  a.  a.  O.  XIV,  214/15. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  323 

hältnis  harmonischen  Ausgleichs,  Schönheit  findet  sich  da,  wo  das 
höchste  Maß  aufeinander  abgestimmter  Kräfte  waltet  —  hier  wie  in 
zahlreichen  Einzelstellen  deckt  er  das  Gelten  der  Korrelation  auf. 
Seine  Bedeutung  für  Herder  liegt  vor  allem  darin,  daß  wir  erkennen, 
wie  nahe  er  auch  oft  methodisch  der  Wissenschaft  gekommen  ist. 
Ein  kleiner  Schritt  trennte  ihn  von  der  nur  —  kausalen  Weltbetrach- 
tung —  er  machte  ihn  manchesmal,  aber  seine  vorgefaßte  Metaphysik 
zerrte  ihn  zurück:  sie  verdarb  den  reinen  Wissenschaftler,  und  sich 
selbst  entzog  sie  die  logische  Grundlegung.  Weil  er  die  Grenze  des 
Transzendenten  im  Erlebnis  zerbrach,  und  im  Endlichen  das  Un- 
endliche zu  schauen  wähnte,  —  dabei  aber  den  Ort  dieses  Religiösen 
ins  Außerpersönliche,  Objektive  verlegte  — ,  so  entzog  er  sich  den 
Boden  der  Erfahrung,  und  beschwerte  doch  wieder  mit  ihr  die  Meta- 
physik. Man  könnte  zwar  einwenden,  daß  die  Wissenschaft  zu  allen 
Zeiten  in  ihren  Grundbegriffen  im  Außerwissensehaftlichen,  in  der 
Philosophie,  wurzele,  und  daß  darum  ihr  ganzes  Gebäude  auf  mehr 
oder  minder  transzendentem  Grund  ruhe.  Dem  ist  jedoch  zu  er- 
widern, daß  diese  Grundbegriffe  als  Grenzbegriffe  zu  fassen  sind, 
die  der  einen  Seite,  der  Wissenschaft,  als  fraglose  Größen  gegeben 
sind,  während  sie  der  andern,  der  Philosophie  im  höchsten  Sinne 
als  Probleme  erscheinen.  Kein  Wissenschaftler  hat  das  Recht  —  ist 
überhaupt  imstande  —  auf  Grund  seiner  Erfahrungen  irgend  etwas 
über  Raum,  Zeit  und  Kausalität  auszusagen.  Das  bleibt  unveräußer- 
liches Gut  der  Philosophie.  Herders  Einheitsstreben  ging  aber  so 
weit,  daß  er  auch  grundsätzlich  Getrenntes  zusammenzuknüpfen 
suchte,  und  ihm  dadurch  das  Bewußtsein  entschwand,  wo  er  eigent- 
lich stehe,  und  wie  weit  er  auf  diesem  Boden  überhaupt  gehen  könne. 
Ob  er  über  Sonnenbewegung  oder  Tierseele,  Erdrevolutionen  oder 
Unsterblichkeit  des  Menschen  grübelt  —  in  alles  fügt  sich  sein  nach- 
giebiger Geist  ohne  Besinnen;  seine  weite  Einfühlungsgabe  läßt  ihn 
verständnisvolle  Synthesen  finden;  aber  vielen  Schlüssen  fehlt  die 
befriedigende  Überzeugungskraft,  weil  wir  nicht  sehen,  wie  sie  stetig 
auf  fest  gegründeten  Voraussetzungen  emporwachsen.  Wir  schwanken 
hin  zwischen  freudiger  Zusage  und  kühler  Ablehnung,  weil  seinen 
Worten  das  Gesetz  der  unmittelbaren  Notwendigkeit  für  ihre  Wahr- 
haftigkeit fehlt.    „Und  das  Gesetz  nur  macht  uns  frei." 


324  Richard   Noll, 

Die  Lösung  des  andern  Teils  unserer  Aufgabe,  Herders  Stellung 
zum  Entwicklungsgedanken,  kann  nichts  mehr  sein  als  eine  Schluß- 
folge aus  dem  schon  Gesagten.  Herders  Naturbetrachtung  im  all- 
gemeinen haben  wir  kennen  gelernt  als  eine  Mischung  von  Metaphysik 
und  Erfahrung.  Entwicklung  —  als  das  umfassendste  Gesetz  der 
Natur  wurzelt  auch  darum  in  der  Spekulation  und  wird  dann  empirisch 
gefestigt.  In  seinem  Weltbild  ist  eine  Entwicklung  schon  vorgezeichnet: 
wie  oben  dargelegt  war,  besteht  sie  in  der  stufenförmigen  Empor- 
läuterung des  Reizes  zur  selbstbewußten  Vernunft.  Auf  dem  Wege, 
diesen  an  sich  spekulativen  Satz  empirisch-psychologisch  zu  be- 
gründen, kommt  er  auch  zur  Naturwissenschaft,  indem  er  die  einzelnen 
Stufen  der  Ausbildung,  die  ihm  introspektiv  gegeben  sind,  in  der 
belebten  Natur  aufweist.  Im  Grunde  ist  die  Triebfeder  zum  Verfolg 
seines  Entwicklungsgedankens  ein  ganz  unnaturwissenschaf tücher : 
„. .  .  es  wird  ein  Stufengang  sichtbar  vom  Menschen,  der  zunächst  ans 
Thier  gränzt,  bis  zum  reinsten  Genius  im  Menschenbilde.  Wir  dürfen 
uns  auch  hierüber  nicht  wundern,  da  wir  die  große  Gradation  der 
Thiere  unter  uns  sehen,  und  welch  einen  langen  Weg  die  Natur  nehmen 
mußte,  um  die  kleine  aufsprossende  Blüte  von  Vernunft  und  Freiheit 
in  uns  organisierend  vorzubereiten"  32).  Um  nun  der  Richtigkeit 
der  Herleitung  dieser  „vorbereitenden  Organisierungen"  möglichst 
sicher  zu  sein,  treibt  ihn  sein  induktives  Bedürfnis  dazu,  die  breiteste 
Tatsächlichkeit  um  Rat  zu  fragen.  So  durchläuft  er  die  ganze  un- 
belebte und  belebte  Natur  und  ordnet  ihre  Erscheinungen  in  eine 
stufenförmige  Folge  —  einmal  schon  vorgefundene  Gesetzmäßigkeiten 
in  seiner  Absicht  umdeutend,  andermal  solche  zwischen  den  Stoff  hin- 
eindeutend. Eine  solche  Art  ist  ja  nun  gerade  bei  der  Durchführung 
einer  Entwicklung  methodisch  nicht  so  ohne  weiteres  zu  beanstanden, 
da  doch  auch  die  Naturwissenschaft  von  heute  wissen  muß,  daß  sie 
eine  Abstammung  voneinander  nie  „beweisen"  kann,  daß  vielmehr  alle 
Erfahrung  nur  imstande  ist,  eine  größere  Wahrscheinlichkeit  für 
dieselbe  darzutun;  ja  daß  alle  Schlüsse,  die  aus  Vererbungs-  und 
Variationsversuchen  gezogen  werden,  nur  den  Wert  eines  Analogie- 
schlusses besitzen,  der  von  äußeren  engumgrenzten  Geschehnissen  auf 
innere  Wandlungen  übertragen  wird.  Denn  wir  müssen  uns  dessen 
bewußt  bleiben  —  und  die  Naturwissenschaft  fehlt  darin  manchmal 


32 


)  a.  a.  0.  XIII,  147. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  325 

—  daß  all  unser  Erfahrungswissen  doch  nur  die  eine  Seite  der  Welt 
begreift,  die  nämlich,  die  wir  sehen  und  tasten.  Nur  die  Außenschale 
des  Naturgeschöpfs  ergründen  wir,  zerspalten  sie  in  ungezählte  Teile 
und  lassen  jeder  Wissenschaft  den  ihren,  damit  sie  das  ihr  zugemessene 
Stück  nach  Bildung  und  Gesetz  erforsche.  Grenze  unseres  Wissens 
setzt  uns  das  Ding  selber;  denn  bei  jeglichem  kommen  wir  an  eine 
Stelle,  an  der  wir  ein  gewisses  Ende  fühlen,  und  wir  uns  rückwärts- 
schauend vergegenwärtigen,  daß  wir  die  Versuchsmöglichkeiten  an 
ihm  erschöpft,  daß  wir  es  von  allen  Seiten  beleuchtet  und  durchdrungen 
hätten.  Und  doch  bleibt  uns  noch  ein  übriges:  wir  haben  das  Ding 
vor  unsern  Augen  klar  zerlegt  und  bis  ins  einzelne  die  Mannigfaltigkeit 
seiner  Bedingungen  aufgespürt  —  und  doch  sehen  wir,  daß  der  letzte 
Grund  seines  Daseins  uns  verborgen  bleibt.  Die  tiefe  Frage  des  Kinder- 
munds nach  dem  Woher  und  Warum  drängt  sich  hier  in  gleicher 
Weise  dem  entwickeisten  Geiste  wieder  auf.  Aber  jede  Antwort  wird  hier 
eigenstes  Bekenntnis,  die  Grenze  nachprüfbarer  Richtigkeit  ist  über- 
schritten, und  die  Zone  objektiver  Sicherheit  verlassen:  wir  sind  im 
Unendlichkeitsreiche  der  Metaphysik.  Metaphysisch  seinem  Wesen 
nach  ist  aber  auch  der  Entwicklungsgedanke  der  empirischsten 
modernen  Naturwissenschaft.  Denn  durch  keine  Beobachtung  ist 
uns  unmittelbar  die  Sicherheit  geboten,  daß  die  Beziehung,  die  wir 
zwischen  den  verschiedenen  Wesen  behaupten,  auch  wirklich  so 
sein  müsse  oder  nicht  anders  sein  könne ;  vielmehr  sehen  wir,  daß  die 
nach  einem  einheitlich  geordneten  Zusammenschluß  drängende  Wissen- 
schaft bemüht  ist  —  wie  sie  es  auch  nie  anders  getan  hat  —  alle  Er- 
scheinungen dem  einen  großen  Zeitgesetze  anzugleichen,  das  da  grade 
herrscht.  Seit  einem  halben  Jahrhundert  stehen  nun  fast  alle  Wissen- 
schaften unter  dem  leitenden  Einfluß  des  Entwicklungsgedankens, 
und  jede  bemüht  sich  auf  ihre  Weise  seine  Geltung  in  ihrem  Bereiche 
darzutun.  Wir  sehen  einfach  jede  Erscheinung  entwieklungsgemäß, 
forden]  vor  allem  die  Gesetze  ihres  Werdens  zu  erarbeiten,  und  diese 
Betrachtungsweise  ist  uns  so  sehr  ins  Blut  geflossen,  daß  wir  zunächsl 
nicht  fassen  wollen,  es  könnten  auch  noch  andere  Blickinögiichkcitcn 
vorhanden  sein.  Den  Geistern,  mit  denen  Herder  in  Beziehung  stand, 
war  wohl  auch  der  Entwicklungsgedanke  nicht  fremd,  aber  lediglich 
in  seiner  ursprünglichen  Bedeutung:  der  nur  metaphysischen.  Und 
wo  er  in  das  Erfahrungsgemäße  hinübergespiell  wurde,  verflüchtigte 
er  sich  in  phantastische  Spielereien.    Uns  soll  sich  in  folgendem  zeigen, 


326  Richard   N  o  1 1  , 

wie  Herder  sich  zu  der  Entwicklungslehre,  welche  die  Wissenschaft 
seit  den  letztvergangenen  Jahrzehnten  gefaßt  hat,  stellt;  denn  einige 
seiner  Ausleger  bezeichnen  ihn  als  wesentlichen  Vorläufer  dieser  Lehre. 
Hat  sich  Herder  zu  ihr  bekannt,  so  muß  er  auch  wenigstens  in  den 
wichtigsten  Fragen  mit  ihr  übereinstimmen.  Als  wesentlich  für  unsere 
Vorstellung  der  Entwicklungslehre  betrachten  wir  einmal  die  ver- 
wandtschaftliche Abhängigkeit  der  einzelnen  Pflanzen-  oder  Tier- 
gruppen, ferner  die  u  n  u  n  t  e  r  b  r  o  c  h  e  n  e  Fortbildung  der  Arten 33). 
Je  nach  der  Beantwortung  dieser  Fragen  ergibt  sich  seine  Stellung  zur 
Entwicklungslehre  überhaupt.  Wie  oben  gesagt  war,  bestand  Herders 
Aufgabe  „die  aufsteigende  Empfindungskette"  in  der  Natur  zu  er- 
weisen. So  lange  dieser  Gedanke  bei  ihm  noch  den  Bezug  zur  Meta- 
physik hat,  ist  bei  jenem  „Aufsteigen"  noch  nichts  von  einer  zeitlich 
und  genetisch  zusammenhängenden  Abfolge  zu  merken;  er  ist  rein 
dynamisch  gemeint.  Der  menschliche  Verstand,  der  „den  Gang 
Gottes  in  der  Natur  nachdenkt",  erkennt  jenen  dem  Weltprozesse 
immanenten  Stufenbau  des  Reizes,  Triebes,  Empfindung,  Gedanken, 
deren  Einzelglieder  nicht  eine  Verschiedenwertigkeit  besitzen,  sondern 
die  im  Wesen  gleich,  nur  eine  verschieden  geartete  Ausbildung  dar- 
stellen. Denn  die  Kraft  wandelt  sich  nur,  entwickelt  sich,  verändert 
sich  aber  nicht,  „Alles  bleibt  in  der  Natur,  was  es  ist:  meine  mensch- 
liche Substanz  wird  wieder  ein  menschliches  Phänomenon,  oder, 
wenn  wir  Platonisch  reden  wollen,  meine  Seele  baut  sich  wieder  einen 
Körper.  Der  Beweis,  daß  fortgehende  Entwicklung  unsere  Be- 
stimmung sei,  beweist  nichts  dawider;  denn  jede  Kraft  entwickelt 
sich  nur  bis  zu  einer  bestimmten  Stufe,  macht  dann  einer  andern 
Platz ...  Ich  sehe  bei  keinem  Geschöpf  und  Menschen  ein  Auf- 
steigen: ich  sehe  ein  Wechseln,  einen  Kreislauf,  der  sich  verzehrt, 
der  in  sich  selbst  zurückfließt . . .  Entwicklung  ist  lediglich  Veränderung 
des  Formellen,  Akzidentellen,  einzig  auf  diesen  bestimmten  Zustand 
bezogen;  dieser  bestimmte  Zustand  hinweggenommen,  bleibt  nichts 
als  das  Substantielle,  das  pure  Wesen  unserer  Seele"  34).  Diese  durch- 
aus klar  gedachte  dynamische  Entfaltung  der  Leibnizisch  gefärbten 
Monade  wird  nun  mehr  und  mehr  getrübt  als  Herder  in  das  Gebiet 


33)  Daß  gerade  diese  beiden  Kriterien  zum  Entscheid  gewählt  sind,  hängt 
vor  allem  von  Herder  selbst  ab:  hierüber  hat  er  sich  weitläufiger  geäußert, 
so  daß  er  da  eher  eindeutig  zu  fassen  ist. 

:t4)  Brief  an  Mendelssohn,  aus  Haym  a.  a.  O.  I,  296. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  327 

der  Naturwissenschaften  hineingerät.  Da  gibt  es  Aussagen,  bei  denen 
man  sich  mit  unbehaglichem  Zweifel  fragt,  ob  die  Entwicklung  als 
kontinuierliche  Fortbildung  oder  als  eine  Reihe  getrennter  Schöpfungs- 
akte zu  denken  sei;  da  stoßen  sich  in  der  Tat  die  Sätze  einander 
hart:  solche,  die  das  eine  bestärken,  andere  deren  Gegenteil.  Nur 
durch  eine  umsichtige  Zusammenstellung  aller  Einzelbehauptungen 
vermag  man  zu  einem  annehmbaren  Endergebnis  vorzudringen, 
indem  man  dort  den  Sinn  des  weiteren  Abschnitts  erkundet,  dort 
wieder  die  Gründe  aufzuzeigen  sucht,  die  den  Verfasser  zur  Gegen- 
meinung verleitet  haben.  Den  bisherigen  naturwissenschaftlichen 
Auslegern  erschien  es  so,  als  sei  die  Entwicklung  einwandfrei  als 
lückenloses  Aufwärtsstreben  zu  verstehen,  wreil  Herder  an  vielen 
Stellen  davon  spricht,  daß  die  unbewohnte  Erde  vor  den  Pflanzen, 
diese  vor  den  Tieren,  diese  wiederum  vor  dem  Menschen  dagewesen 
seien.  Das  deckt  sich  mit  den  modernsten  Anschauungen,  weil  jedes 
folgende  Glied  Teile  des  voraufgehenden  in  sich  begreift  und  bruchlos 
sich  aus  ihnen  folgert.  Die  einzelnen  Geschöpfe  scheinen  sich  in  Fäden 
einzureihen,  die  in  ihrer  Gesamtheit  einen  ununterbrochenen  Ver- 
wandtschaftszyklus darstellen;  die  einzelne  Art  ist  nicht  ein  in  sich 
abgeschlossenes  Ganze,  sondern  als  gewordene  verknüpfen  sie  bestimmte 
Eigentümlichkeiten  mit  dieser  oder  jener  andern  Art,  Diese  Labilität, 
welche  die  moderne  Entwicklungslehre  behauptet  und  auch  voraus- 
setzen muß,  wehrt  aber  Herder  nachdrücklichst  von  sich  ab.  „Warum 
z.  B.  sonderte  die  schaffende  Mutter  Gattungen  ab?  Zu  keinem  andern 
Zweck,  als  daß  sie  den  Typus  ihrer  Bildung  desto  vollkommener 
machen  und  erhalten  könne.  Wir  wissen  nicht,  wie  manche  unserer 
jetzigen  Tiergattungen  in  einem  früheren  Zustande  der  Erde  näher 
aneinander  gegangen  sein  mögen;  aber  das  sehen  wir,  ihre  Grenzen 
sind  jetzt  genetisch  geschieden"  :J5).  „Kein  Geschöpf,  das  wir  kennen, 
ist  aus  seiner  ursprünglichen  Organisation  gegangen  und  hat  sich 
ihr  zuwider  eine  andere  bereitet;  da  es  ja  nur  mit  den  Kräften  wirkte, 
die  in  seiner  Organisation  lagen,  und  die  Natur  Wege  gnug  wußte, 
ein  jedes  der  Lebendigen  auf  dem  Standpunkt  vestzuhalten,  den 
sie  ihm  anwies""  36).  Wie  kann  aber  Herder  gegenüber  diesen  Worten 
die  wirklich  einen  Zweifel  an  der  Stetigkeit  der  Art  nicht  zulassen, 


:ir')  a.  a.  0.  XIII,  282. 
3«)  a.  a.  ü.  XIII,  114. 


328  Richard   Noll, 

Sätze  wie  die  folgenden  schreiben:  „Überhaupt  ist  in  der  Natur  nichts 
geschieden,  alles  fließt  durch  unmerkliche  Übergänge  auf-  und  in- 
einander; und  gewiß,  was  Leben  in  der  Schöpfung  ist,  ist  in  allen 
Gestalten,  Formen  und  Kanälen  nur  Ein  Geist,  eine  Flamme"  37). 
Oder  solche,  die  das  Problem  viel  gründlicher  anrühren:  „Es  erhellet 
also  von  selbst,  daß,  da  diese  Hauptform  nach  Geschlechtern,  Arten, 
Bestimmungen,  Elementen  immer  variirt  werden  mußte,  Ein  Exem- 
plar das  andere  erkläre.  Was  die  Natur  bei  diesem  Geschöpf  als  Neben- 
werk hinwarf,  führte  sie  bei  dem  andern  gleichsam  als  Hauptwerk 
aus:  sie  setzte  es  ins  Licht,  vergrößerte  es,  ließ  die  andern  Theile,  ob- 
wohl immer  noch  in  der  überdachtesten  Harmonie,  diesem  Teile  jetzt 
dienen...  Wer  studieren  will,  muß  Eins  im  Andern  studiren;  wo 
dieser  Theil  verhüllt  und  vernachlässigt  erscheinet,  weiset  er  auf  ein 
andres  Geschöpf,  wo  ihn  die  Natur  ausgebildet  und  offen  darlegte"  38). 
Wenn  „Ein  Exemplar  das  andere  erklären  soll",  dann  scheint  das 
keine  andere  Deutung  zuzulassen,  als  diese,  daß  da,  wo  eine  beliebige 
Summe  von  Eigenarten  in  verschiedener  Weise  auf  eine  Anzahl  von 
Individuen  verteilt  ist,  diese  durch  den  Besitz  eines  dieser  die  ver- 
wandtschaftliche Beziehung  zueinander  bekunden.  Es  ist  die  Methode 
der  Vergleichung,  mit  der  wir  besonders  seit  Darwin  all  unsere  Er- 
kenntnisse erarbeitet  haben.  Aber  trotzdem  dürfen  wir  Herder  nicht 
eine  Wandelbarkeit  der  Art  unterschieben;  das  Widersprechende  der 
Behauptung  löst  sich  gleich,  wenn  wir  einen  der  wichtigsten  Leitsätze 
seiner  Naturerkenntnis  ins  rechte  Licht  gerückt  haben.  Aus  seiner 
Weltanschauung  kennen  wir  den  Satz,  daß  die  „Eine  Gotteskraft"  das 
Universum  durchflutet;  sie  lebt  in  jedem  Ding  und  macht  sein  Wesen 
aus.  Dieser  geistige  Urgrund  ist  zugleich  das  formgebende  Prinzip 
in  der  Welt:  die  „Eine  Kraft"  wird  darum  zugleich  „Eine  Haupt- 
form", die  der  Erscheinung  zugrunde  liegt;  jedes  Geschöpf  ist  nur 
eine  durch  die  Umstände  zufällig  gefügte  Abwandlungsform,  in  der 
sich  die  „Eine  Hauptform"  offenbart,  Dieser  Satz  gewinnt  nun  hier 
seine  volle  Tragweite.  „Eine  Form  verändert  sich  in  allen  irdischen 
Wesen.  Wo  Bildung  anfängt,  von  der  Schneeflocke  und  dem  Krystall 
an,  durch  alle  Gebilde  und  Pflanzen  hinauf,  scheint  nur  ein  und  der- 
selbe Prototyp  vorzuliegen"  39).     „Nun  ist  unläugbar,  daß  bei  aller 


37)  a.  a.  O.  VIII,  178. 

38)  a.  a.  O.  XIII,  67. 


39 


)  a.  a.  O.  XIV,  693. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  329 

Verschiedenheit  der  lebendigen  Erdwesen  überall  eine  gewisse  Ein- 
förmigkeit des  Baues  und  gleichsam  Eine  Hauptform  zu  herrschen 
scheine,  die  in  der  reichsten  Verschiedenheit  wechselt"  40).    Die  Ver- 
wandtschaft  der   Lebewesen,   die   wir  heute   empirisch-naturwissen- 
schaftlich  behaupten,   ist   für   Herder  nur   eine   metaphysische   Ge- 
bundenheit, ein  Zusammenschließen  aller  Einzelleben  in  dem  Alleben 
der  göttlich  gedachten  Substanz.      Zwei  Faktoren  bestimmen  also 
die  Ausbildung  jedes  Naturwesens  —  dadurch,  daß  sie  in  ihm  zur 
harmonischen    Ausgeglichenheit    kommen    — :    innere    Formgebung 
und  äußere  Bedingtheiten.     Die  Hauptform,  das  Typische  wird  ge- 
wahrt, indem  die  Natur  von  innen  nach  außen  schafft.    „Im  Innern 
liegt  der  Grund  des  Äußern,  weil  durch  organische  Kräfte  alles  von 
innen  heraus  gebildet  ward  und  jedes  Geschöpf  eine  so  ganze  Form 
der  Natur  ist,  als  ob  sie  nichts  anders  geschaffen  hätte"  41).  Zu  diesem 
tritt  verändernd  aber  noch  eine  Gruppe  von  äußeren  Ursachen,  die 
Herder  als  „Klima"  zusammenfaßt:  „Das  Klima  ist  ein  Chaos  von 
Ursachen,  die  einander  sehr  ungleich,  also  auch  langsam  und  ver- 
schiedenartig wirken,  bis  sie  etwa  zuletzt  in  das  Innere  eindringen 
und  dieses  durch  Gewohnheit  und  Genesis  selbst  ändern;  die  lebendige 
Kraft  widersteht  lange,  stark,  einartig  und  nur  ihr  selbst  gleich; 
da  sie  indessen  doch  nicht  unabhängig  von  äußern  Leidenschaften 
ist,  so  muß  sie  sich  ihnen  mit  der  Zeit  bequemen"  42).    Nun  wissen 
wir  auch  ohne  Fehl,  was  es  heißt,  „Ein  Exemplar  erkläre  das  andere": 
nicht    Blutsverwandtschaft,    sondern    Seinseinheit    ist   hier   Voraus- 
setzung.    Im  Innersten  hängen  alle  zusammen,  und  nur  das  Hinzu- 
tretende, „Accidentelle"  wandelt  sich.    Den  Grad  der  Abwandlungen 
bestimmt  das  Maß  der  Einflüsse,  er  ist  darum  bei  jedem  einzelnen 
verschieden;  und  durch  die  vergleichende  Zusammenstellung  vieler 
vermögen  wir  sehr  wohl  die  Breite  der  Abweichung  ermessen,  wobei 
uns  der  Grad  der  Ähnlichkeit  Leitfaden  bei  der  Untersuchung  sein 
kann.     Daß  in  der  Tat  Herder  nicht  eine  Blutsverwandtschaft  der 
Lebewesen  gekannt  hat,  ergeht  aus  einer  mittelbaren  aber  nicht  weniger 
beweiskräftigen  Tatsache  hervor.    Kant  hatte  in  seiner  Besprechung 
der  „Ideen"   die  Vorstellung  einer  Verwandtschaft  als  unvollziehbar 


4Ü)  a.  a.  ü.  XIII,  66. 
41)  a.  a.  O.  XIII,  129. 
4i)  a.  a.  O.  XIII,  284. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  8.  ■_>•> 


330  Richard   N  oll, 

bezeichnet:  „Was  indessen  die  Stufenleiter  der  Organisationen  betrifft, 
so  darf  man  es  üim  nicht  so  sehr  zum  Vorwurf  anrechnen,  wenn  sie 
zu  seiner  weit  über  diese  Welt  hinausreichenden  Absicht  nicht  hat 
zulangen  wollen;  denn  ihr  Gebrauch  in  Ansehung  der  Naturreiche 
hier  auf  Erden  führt  ebensowohl  auf  nichts.  Die  Kleinheit  der  Unter- 
schiede, wenn  man  die  Gattungen,  ihrer  Ähnlichkeit  nach  aneinander 
paßt,  ist,  bey  so  großer  Mannigfaltigkeit  eine  nothwendige  Folge  eben 
dieser  Mannigfaltigkeit.  Nur  eine  Verwandtschaft  unter  ihnen, 
da  entweder  eine  Gattung  aus  der  andern,  und  alle  aus  einer  einzigen 
Originalgattung  oder  etwa  aus  einem  einzigen  erzeugenden  Mutter- 
schoße  entsprungen  wäre,  würde  auf  Ideen  führen,  die  aber  so  un- 
geheuer sind,  daß  die  Vernunft  vor  ihnen  zurückbebt,  dergleichen 
man  unserm  Verfasser,  ohne  ungerecht  zu  seyn,  nicht  beymessen 
darf."  Hätte  aber  Herder  wirklich  an  eine  Verwandtschaft  gedacht, 
so  wäre  ihm  dieser  starke  und  ironische  Hinweis  Grund  genug  gewesen, 
mit  Kant  darüber  zu  polemisieren;  dann  müßten  sich  in  den  nach- 
folgenden Briefen  und  Schriften  Stellen  finden,  die  mit  aller  Deut- 
lichkeit die  Gegenmeinung  entwickelten.  Stattdessen  lesen  wir  nur 
vage  Andeutungen  und  hören  nichts  von  scharfumrisseren  Beweisen. 
So  ist  Herder  in  dieser  Frage  nicht  als  Deszendenztheoretiker 
hinzustellen;  es  bleibt  noch  die  zweite  nach  der  ununterbrochenen 
zeitlichen  Entwicklung.  Die  Stellung  zu  diesem  Problem  muß  selbst 
dem  flüchtiger  Blickenden  kaum  fragwürdig  erscheinen;  denn  Herder 
spricht  an  nicht  wenig  Stellen  von  „Revolutionen",  die  gewaltsam 
hereinbrechen,  und  die  eine  stetige  Weiterbildung  der  Arten  zunichte 
machen.  „Vielmehr  ist  alles,  was  sie  43)  redet,  dafür,  daß  unsere 
Erde  aus  ihrem  Chaos  von  Materien  und  Kräften  unter  der  belebenden 
Wärme  des  schaffenden  Geistes  sich  zu  einem  eignen  und  ursprüng- 
lichen Ganzen  durch  eine  Reihe  zubereitender  Revolutionen  gebildet 
habe"  44).  „Unsre  Erde  ist  vielerley  Revolutionen  durchgegangen, 
bis  sie  das,  was  sie  jetzt  ist,  worden  .  . .  Das  Wasser  hat  überschwemmt, 
und  Erdlagen,  Berge,  Thäler  gebildet:  das  Feuer  hat  gewütet,  Erd- 
rinden zersprengt,  Berge  emporgehoben  und  die  geschmolzenen  Ein- 
geweide des  Innern  hervorgeschüttet:  die  Luft,  in  der  Erde  einge- 
schlossen, hat  Höhlen  gewölbt  und  den  Ausbruch  jener  mächtigen 


43)  sie  =  Erdgeschichte. 
J1)  a.  a.  ().  XIII,  98/99. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  331 

Elemente  befördert:  Winde  haben  auf  ihrer  Oberfläche  getobt  und 
eine  noch  mächtigere  Ursache  hat  sogar  ihre  Zonen  verändert .  .  . 
Viele  dieser  Revolutionen  gehen  eine  schon  gebildete  Erde  an  und 
können  also  vielleicht  als  zufällig  betrachtet  werden,  andre  scheinen 
der  Erde  wesentlich  zu  seyn  und  haben  sie  ursprünglich  gebildet"  45). 
„. . .  da  sollte  die  gebährende,  die  in  ihrer  jungfräulichen  Jugend  an 
Samen  aller  Wesen  und  Gestalten  so  reiche  Mutter,  die  wie  der  Bau 
der  Erde  zeigt,  Millionen  lebendiger  Geschöpfe  in  einer  Revolution 
aufopfern  konnte  .  . .  ihr  wildes  Labyrinth  voll  Leben  . . .  vollendet 
haben?"46) 

Bei  der  Annahme  so  vernichtender  Katastrophen  mag  wohl 
Herder  mehrfach  der  Zweifel  geplagt  haben,  wie  sich  denn  dies  mit 
der  göttlichen  Weltharmonie  zusammenreime;  auch  über  dies  hilft 
ihm  sein  weltanschaulicher  Optimismus  hinweg:  „Wenn  Feuer  und 
Wasser,  Luft  und  Wind,  die  unsere  Erde  bewohnbar  und  fruchtbar 
gemacht  haben,  in  ihrem  Laufe  fortgehen  und  sie  zerstören  .  .  .  was 
geschähe  anders,  als  was  nach  ewigen  Gesetzen  der  Weisheit  und 
Ordnung  geschehen  müßte"  47).  So  sind  ihm  die  Revolutionen  nicht 
etwa  bedeutungslose  Zufälligkeiten  wie  in  der  Erdgeschichte  die 
Sternschnuppen  am  Himmel,  sondern  notwendige  Begebenheiten 
in  dem  Fortbildungsgange  der  Natur.  Weil  die  „Art"  aus  ihren  ein- 
geborenen Grenzen  nicht  herausdrängen  kann,  so  müssen  ungezählte 
Geschöpfe  umkommen  durch  gewaltsamen  Tod,  damit  die  schaffende 
Natur  wieder  Stoff  und  freie  Kräfte  zur  Bildung  bekommt,  die  sie 
„emporläutern"  kann.  Nur  diesen  Gebärzeiten  entstammen  die 
Keime  zu  neugearteten  Lebewesen.  Was  da  nicht  angelegt  ist,  das 
bringt  später  keine  noch  so  lange  „Entwicklung"  zum  Aufsprossen. 
„Noch  jetzt  scheinet  die  Sonne,  wie  sie  im  Anfang  der  Schöpfung 
schien;  sie  erweckt  und  organisiert  aber  keine  neuen  Geschlechter: 
denn  auch  aus  der  Fäulnis  würde  die  Wärme  nicht  das  kleinste  Leben- 
dige entwickeln,  wenn  die  Kraft  seiner  Schöpfung  nicht  schon  zum 
nächsten  Übergange  daselbst  bereit  läge" 48).  „Die  rege  Wärme. 
mit  der  der  brütende  Geist  über  den  Wassern  der  Schöpfung  schwebte 
und  die  sich  schon  in  den  unterirdischen  frühen]  Gebilden,  ja  in  ihnen 


■•••)  a.  a.  0.  XIII,  21. 
4«)  a.  a.  O.  XIII,  400. 
47)  a.  a.  O.  XIII,  24. 
,s)  a.  a.  O.  XIII,  423. 


332  Richard   Noll, 

mit  einer  Fülle  und  Kraft  offenbart,  mit  der  jetzt  weder  Meer  noch 
Erde  etwas  hervorzubringen  vermögen,  diese  Urwärme  der  Schöpfung 
sage  ich,  ohne  welche  damals  sich  so  wenig  etwas  organisiren  konnte, 
als  sich  jetzt  ohne  genetische  Wärme  etwas  organisiret,  sie  hatte 
sich  allen  Ausgeburten,  die  wirklich  wurden,  mitgetheilt  und  ist  noch 
jetzt  die  Triebfeder  ihres  Wesens  ...  Da  nun  die  Masse,  die  der  Aus- 
bildung unsrer  Erde  bestimmt  war,  ihre  Zahl,  ihr  Maß,  ihr  Gewicht 
hatte:  so  mußte  auch  die  innere,  sie  durchwirkende  Triebfeder  ihren 
Kreis  finden.  Die  ganze  Schöpfung  lebt  jetzt  voneinander:  das  Rad 
der  Geschöpfe  läuft  umher,  ohne  daß  es  hinzutue:  es  zerstört  und 
bauet  in  den  genetischen  Schranken,  in  die  es  der  erste  schaffende 
Zeitraum  gesetzt  hat . .  .  Daß  nun  aber  ein  solches  Kunstwerk  nicht 
ewig  bestehen  könne,  daß  der  Kreislauf,  der  einen  Anfang  gehabt 
hat,  noth wendig  auch  ein  Ende  haben  müsse,  ist  Natur  der  Sache. 
Die  schöne  Schöpfung  arbeitet  sich  zum  Chaos,  wie  sie  aus  einem 
Chaos  sich  herausarbeitete:  ihre  Formen  nützen  sich  ab:  jeder  Organis- 
mus verfeint  sich  und  ah  .  Auch  der  große  Organismus  der  Erde 
muß  also  sein  Grab  finden,  aus  dem  er,  wenn  seine  Zeit  kommt,  zu 
einer  neuen  Gestalt  emporsteigt"  49).  So  ist  alle  Schöpfung  auf  der 
Welt  in  ewigem  Kreislauf  begriffen:  Keim,  Entfaltung,  Blüte,  Tod 
umschließt  den  Ring  des  Einzeldaseins,  von  Generationen,  ganzer 
Völker,  ja  der  Erde  selbst.  Dieser  in  sich  geschlossene  Ablauf  tritt 
nun  als  Glied  in  eine  Kette  höherer  Zusammenordnung  ein,  der 
immanenten  Zielstrebigkeit,  die  ihr  Ende  in  der  Allgottheit  selber 
findet.  Das  Weltgeschehen  stellt  sich  dar  als  ein  stetes  Hinaufstreben 
zu  Gott,  das  sich  stufenweise  manifestiert  in  den  abgeschlossenen 
Kräftezyklen  der  Individualgemeinschaften.  Nicht  das  langsame 
Hinübergleiten  einer  Fo^m  zur  andern  —  höheren  —  macht  für  Herder 
das  Wesen  der  Entwicklung  aus,  sondern  gerade  die  Zerspaltung  des 
ganzen  Ablaufs  in  eine  unbestimmte  Reihe  von  Schöpfungsakten. 
Was  die  nachfolgende  Wissenschaft  —  namentlich  unter  dem  Voran- 
tritt  Cuviers  —  auf  ihren  Schild  erhob,  die  Katastrophentheorie, 
findet  in  Herder  einen  wankellosen  Vorkämpfer.  Uns  aber,  die  wir 
derartige  Gewaltsamkeiten  ins  Märchenland  gewiesen  haben,  kann 
darum  Herder  nicht  mehr  als  Vorkämpfer  eines  Entwicklungsgedan- 
kens hingestellt  werden,  dessen  eine  Denkmöglichkeit  in  der  Un- 


is 


)  a.  a.  0.  XIII,  426. 


Herder«  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  .'i.'i.'J 

Zerrissenheit  des  Bildimgsprozesses  begründet  liegt.  Mit  diesem 
Gedanken  hat  er  Lamarck  und  Darwin  weder  vorgedacht  noch  vor- 
gearbeitet. 

Obwohl  die  eigentliche  Aufgabe  erledigt  ist,  möge  hier  noch  eine 
kurze  Auseinandersetzung  mit  den  bisherigen  Auslegern  beigefügt 
sein,  die  mehr  der  Abrundung  der  Arbeit  als  der  Möglichkeit  weiterer 
Feststellungen  über  Herder  dient.  Was  er  seinen  Zeitgenossen  an 
neuen  Aufgaben  gestellt  und  an  Anregungen  gegeben  hat,  müssen 
wir  hier  übergehen.  Der  aufmerksame  Leser  findet  Spuren  Herder- 
scher Gedanken  allenthalben  bei  den  Großen  und  Kleinen  der  nach- 
folgenden Generation.  Sie  waren  nicht  seine  Ausleger  und  Erläuterer 
—  und  diesen  allein  gilt  unsere  Aufmerksamkeit. 

Den  ersten  Versuch,  Herders  Bedeutung  für  die  Entwicklungs- 
lehre darzutun,  unternimmt  Bären  b  ach  in  seiner  Schrift:  „Herder 
als  Vorgänger  Darwins  und  der  modernen  Naturphilosophie."  1877. 
Die  Jahreszahl  ist  bedeutsam:  es  ist  die  Zeit,  da  unter  Haeckels  Führung 
die  Darwinschen  Gedanken  ihren  Siegeslauf  antreten;  die  breite 
Öffentlichkeit  ist  durch  sie  in  Erregung  versetzt.  Unser  Verfasser, 
ein  in  der  Naturwissenschaft  kundiger  Laie  (er  selbst  sagt,  er  habe 
mit  Freude  Darwin  und  Haeckel  studiert)  ist  ein  begeisterter  Ver- 
fechter der  neuen  Lehre;  so  ist  es  begreiflich,  daß  er  Herder  als  über- 
zeugten Darwinisten  sieht.  Er  glaubt  den  Beweis  zu  erbringen, 
indem  er  einen  grundlegenden  Gedanken  Darwins  auch  bei  Herder 
aufweist :  die  Bedeutung  des  Kampfes  ums  Dasein.  Wir  lesen  nämlich 
manche  Sätze  in  den  „Ideen",  die  einen  darwinistischen  Klang  haben. 
„Verließe  Sie  50)  ein  Geschöpf,  wer  sollte  sich  sein  annehmen?  da  die 
ganze  Schöpfung  in  einem  Kriege  ist  und  die  entgegengesetztesten 
Kräfte  einander  so  naheliegen.  Der  gottgleiche  Mensch  wird  hier  von 
Schlangen,  dort  von  Ungeziefer  verfolgt;  hier  vom  Tiger,  dort  vom 
Haifisch  verschlungen.  Alles  ist  im  Streit  gegeneinander,  weil  alles 
selbst  bedrängt  ist;  es  muß  sich  seiner  Haut  wehren,  für  sein  Leben 
sorgen.  Warum  tat  die  Natur  dies?  Warum  drängte  sie  so  die  Ge- 
schöpfe aufeinander?  Weil  sie  im  kleinsten  Kaum  die  größestc  und 
vielfachste  Anzahl  dw  Lebenden  schaffen  wollte,  wo  also  auch  eins 
das  andere  überwältigt  und  mir  durch  das  Gleichgewicht  der  Kräfte 
Friede  wird  in  der  Schöpfung.     Jede  Gattung  sorgt  für  sich,  als  ob 


so 


)  sie  =  Nal  ii  r. 


334  Richard    Noll, 

sie  die  Einige  wäre;  ihr  zur  Seite  steht  aber  eine  andere  da,  die  sie 
einschränkt  und  nur  in  diesem  Verhältnis  entgegengesetzter  Arten 
fand  die  Schöpfung  das  Mittel  zur  Erhaltung  des  Ganzen"  51).  Solche 
Worte  (deren  ähnliche  sich  genugsam  zusammenstehen  lassen)  ver- 
führen unseren  Verfasser,  Herder  als  Darwinisten  zu  begrüßen.  Nichts 
ist  verfehlter  als  das;  der  Sinn  ist  bei  beiden  ein  gänzlich  verschiedener: 
das  Wesentliche  bei  Darwin  ist  die  Tilgung  des  Schwachen  und  die 
Erhaltung  des  Stärkeren  und  deren  artbildende  Bedeutung.  Herder 
ist  aber  der  gegenseitige  Kampf  nichts  mehr  als  Voraussetzung  zur 
Harmonie  der  Natur  durch  das  „Maximum"  des  Kräfteausgieichs. 
—  Es  würde  zu  weit  führen,  das  an  Irrtümern  nicht  arme  Schriftchen 
im  einzelnen  zu  besprechen:  es  genügt  zu  sagen,  daß  es  Bärenbach 
an  der  fachnaturwissenschaftlichen  Schulung  gebricht,  und  ferner, 
daß  ihn  sein  Eifer,  für  Darwin  ein  Zeugnis  abzulegen,  ihm  für  jede 
Sachkritik  die  Augen  trübt.  So  kommt  es,  daß  er  trotz  „jahrelangen 
redlichen  Studiums"  kaum  einen  scharftreffenden  Satz  über  Herder 
aussagt.  Ihm  bleibt  nur  das  Verdienst,  als  erster  auf  ihn  hingewiesen 
zu  haben.  Philosophischerseits  wurde  die  Bärenbachsche  Schrift 
von  L.  Weis  beurteilt 52).  Er  weist  vor  allem  auf  den  grundsätzlichen 
Gegensatz  von  Herders  und  Darwins  Weltbild  hin,  das  er  mit  Recht 
als  idealistisch  und  realistisch  gegenüberstellt;  wahrend  ferner  Herder 
die  Natur  Einheit  und  Kosmos  ist,  denkt  sie  Darwin  als  die  Summe 
der  chemisch-physikalischen  Kräfte,  deren  zufälliges  Zusammentreffen 
den  Naturprozeß  bestimmt.  Weis  trifft  auch  ganz  das  Rechte  in 
der  Beurteilung  des  Herderschen  „Kampfes  ums  Dasein":  „Von 
diesem  eigentlichen  Darwinismus  war  Herder  kein  Vorgänger.  Er 
spricht  zwar  oft,  wie  die  idealistische  Philosophie  überhaupt,  von  einem 
Streite  aller  einzelnen,  weil  jeder  seiner  Haut  sich  wehren,  für  sein 
Dasein  sorgen  muß,  aber  dies  ist  nicht  der  Kampf  ums  Dasein  .  . ., 
denn  dort  gilt  der  Streit  nur  der  Selbsterhaltung,  hier  aber  der  fort- 
schreitenden Verbesserung." 

Die  nächste  Arbeit,  nun  einmal  von  einem  Fachnaturwissen- 
schaftler, liegt  einige  Jahrzehnte  weiter.  Der  Rausch,  der  von  Darwin 
ausgegangen   war,  hatte   sich   verflogen,   und  die   Gegenseite  erhob 


51)  a.  a.  O.  XIII,  60. 

52)  in:  Philosoph.  Monatshefte  1878,  14.  Band:  „Herder  und  die  moderne 
Naturphilosophie." 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  .'S.'l.j 

laut  ihre  Stimme.  Es  waren  die  Jahre  des  überraschend  allseitigen 
Vordringens  des  Neo-Lamarckismus.  Man  erkannte  die  Schwächen 
und  ungelösten  Fragwürdigkeiten  Darwins;  aus  den  Schwierigkeiten 
wurden  Unmöglichkeiten,  aus  der  Ablehnung  von  Einzeltatsachen 
die  Verneinung  der  ganzen  Lehre.  Von  diesen  einer  ist  Götz,  der 
Verfasser  eines  Aufsatzes  über  Herder:  „War  Herder  ein  Vorgänger 
Darwins?"53)  Auch  er  geht  von  Bärenbach  aus,  dessen  Widerlegung 
ihm  wenig  Schwierigkeiten  macht;  im  übrigen  bespricht  er  sehr  viele 
Einzelheiten,  die  hier  unerörtert  bleiben  können.  Der  Arbeit  ist 
unbedenklich  zuzugeben,  daß  sie  mit  guter  Kenntnis  Herders  ge- 
schrieben ist;  wo  der  Verfasser  irrt,  sind  es  teils  Mißverständnisse, 
die  aus  Herders  schmiegsamer  Ausdrucksart  herzuleiten  sind,  teils 
der  nicht  hinwegzuleugnende  Einfluß  seiner  lamarekistischen  Natur- 
auffassung.  Es  ist  nun  ohne  weiteres  klar,  daß  Herder  der  Lehre 
Lamarcks  ungleich  näher  steht,  als  der  Darwins;  schon  allein  die  An- 
wendung teleologischer  Beweisführungen  stellt  ihn  zu  den  ersteren, 
nicht  weniger  auch  die  Tatsache,  daß  er  oft  von  Bedürfnissen  spricht, 
deren  Befriedigung  bestimmte  Formen  schafft,  überhaupt  seine  Art, 
Tieren,  Pflanzen,  ja  dem  Kristall  Trieb  und  Wille  beizulegen,  schließlich 
in  allem  ein  Geistiges  aufzuspüren,  eine  Seele,  deren  forschungs- 
methodische Ausrottung  gerade  das  Hauptverdienst  Darwins  bleiben 
wird.  Durch  die  klare  Betonung  von  allem  diesen  kommt  die  Dar- 
stellung Götzes  der  Eigenart  Herders  recht  nahe,  obwohl  ihm  die 
Grundfrage  noch  nicht  aufgegangen  ist,  ob  denn  der  Philosoph  Herder 
ohne  weiteres  naturwissenschaftlich  zu  betrachten  sei. 

Auf  gleicher  Linie  liegt  noch  eine  Arbeit  von  dem  Botaniker 
Hansen54);  er  schrieb  sie  als  Nebenleistung  seines  Goethewerks. 
Man  merkt,  er  kennt  die  damalige  Philosophie  und  Wissenschaft  — 
er  selbst  sieht  in  einer  Zeit,  da  der  hitzige  Kampf  zwischen  Darwin 
und  Lamarck  zu  einem  vorläufigen  Stillstand  gekommen  ist,  so  daß 
er  nicht  wie  jene  von  dem  geheimen  Wunsche  geleitet  ist,  irgend  einer 
Lehre  Vorspann  zu  leisten.  So  liegt  der  Fortschritt  gegenüber  den 
früheren  Untersuchungen  vor  allem  darin,  daß  er  Herders  Stellung 
zur  Naturwissenschaft  richtiger  darstellt.     Er  ist  der  erste,  der  ihn 


:,:|)  in:    Viertcljiiln-sscliril'l  für  Wissenseli.  PJiilos.  um\  Soziologie,  26.  Jhrg. 
L902,  4.  Heft. 


33G  Richard   Noll, 

mehr  von  der  außernaturwissenschaftlichen  Seite  her  zu  fassen  sucht; 
er  ist  sich  des  philosophischen  Grundzuges  der  „Ideen"  bewußt  und 
sieht  von  hier  aus  Herders  eigenartige  Stellung  zur  Naturwissenschaft ; 
auch  spürt  er  die  mangelnde  Methodik  bei  ihm.  Wenn  Hansen  zwar 
meint,  die  nachfolgende  Wissenschaft  habe  Herder  Kant  gegenüber 
Recht  gegeben,  der  jenes  „Reich  unsichtbarer  Kräfte"  aus  der  Wissen- 
schaft als  unfruchtbar  entfernt  wissen  wollte,  so  irrt  er  unseres  Er- 
achtens.  Die  Kräfte,  mit  denen  wir  arbeiten,  sind  sehr  reale  Größen 
und  haben  mit  denen  Herders  nur  den  Namen  gemein.  Dieser  selbst 
scheint  den  Vorwurf  gefürchtet  zu  haben,  denn  nicht  ohne  Peinlichkeit 
setzt  er  die  Worte  in  die  Vorrede;  man  möge  die  „Kräfte"  nicht  als 
„qualitates  occultas"  ansehen.  Aber  sie  sind  es  in  der  Tat:  meta- 
physische Postulate  mit  empirischer  Schminke.  Ferner  trifft  Hansen 
nicht  das  Richtige,  wenn  er  meint,  Herder  habe  eine  kontinuierliche 
Entwicklung  behauptet,  er  schließt  das  daraus,  daß  jener  von  einer 
„Reihe  der  Entwicklungen  spricht  und  aus  dessen  Ansicht,  daß  nach 
der  ersten  Entstehung  der  Lebeformen  keine  neuen  Gestalten  mehr 
sich  bildeten,  sondern  alles  nur  Umwandlung  war.  Hansen  ist 
vielleicht  zu  dieser  Ansicht  verleitet  worden,  weil  er  weiß,  daß  bei 
Herder  nicht  jede  „Revolution"  Katastrophe  bedeutet,  daß  es  auch 
„ruhige"  Revolutionen  gibt.  Wie  sehr  aber  Herder  im  Grunde  von 
gewaltsamen  Vernichtungen  (als  Auftakt  der  neuen  Schöpfung)  über- 
zeugt war,  haben  wir  oben  des  weiteren  dargelegt. 

Die  zweifellos  reifste  Arbeit  über  Herder  ist  die  von  Grundmann : 
„Die  geographischen  und  völkerkundlichen  Quellen  und  Anschau- 
ungen in  Herders  Ideen."  Berlin  1900.  Er  sieht  Herder  von  vorn- 
herein von  der  einzig  möglichen  Seite,  der  philosophischen.  Er  leitet 
daraus  kurz  und  klar  die  vorhandenen  Unstimmigkeiten  in  dessen 
Naturbetrachtung  her;  bündig  spricht  er  ihm  den  Vorgedanken  der 
modernen  Entwicklungslehre  ab:  „Für  ihn  war  die  Welt  ein  System 
wirkender  Kräfte,  die  eine  Kontinuität  bilden.  Diese  kontinuier- 
lichen Formen  sind  aber  nicht  auseinander  hervorgegangen,  sondern 
von  Ewigkeit  her  so  gewesen"  55).  „Es  ist  nicht  Herders  letzte  Ab- 
sicht, Übergänge  und  Abstammungen  verschiedener  Organisationen 
anzuzeigen,  sondern  er  will  darlegen,  daß  kein  Geschöpf  ohne  Ver- 
bindung mit  dem  Weltganzen  stehe"  56).    Auch  für  Grundmann  sind 


55)  a.  a.  0.  S.  5.  «•)  a.  a,  0.  S.  6. 


Herders  Verhältnis  zur  Naturwissenschaft.  .">.'17 

die  Herderschen  Naturkräfte  qualitates  occultae:  „Die  Naturkräfte 
sind  für  Herder  wie  für  Leibniz  Zweckkräfte,  Entelechieen,  daher  auch 
die  mancherlei  physiko-teleologischen  Sätze"  57).  Nur  seine  Bemerkung, 
Herder  habe  keine  rechte  Befriedigung  an  seiner  Katastrophenlehre 
gefunden,  möchten  wir  nicht  so  ohne  weiteres  hinnehmen.  Gewiß 
sagt  er  einmal  bedauernd,  es  gäbe  noch  keine  hinreichende  Hypothese 
hierüber.  Aber  daß  er  am  Ende  doch  nicht  ohne  gewaltsame  Schöpfungs- 
akte auskommen  könne,  scheint  uns  aus  seiner  Weltanschauung  zu 
folgen.  Um  die  Monade  die  Stufenleiter  hinaufläutern  zu  können, 
bedarf  es  der  Haltepunkte,  über  die  hinaus  sie  keine  Entwicklung 
führen  kann;  so  harrt  sie  in  diesem  Zustand,  bis  sie  die  Gottheit  um- 
gestaltet. Diese  Einschnitte,  die  den  Werdegang  unterbrechen,  sind 
zwar  metaphysisch  gedacht,  aber  bei  Herders  Analogieschlußver- 
fahren auf  die  Natur  angewandt,  heißen  sie  zunächst,  daß  deren 
Bildungsgang  unterbrochen  sei:  Vernichtung  aber  muß  es  darum 
sein,  weil  eine  Schöpfung  neben  einer  bestehenden  voraussetze,  daß 
etwas  aus  dem  Nichts  sich  formen  lasse  —  ein  Gedankenunding, 
wie  es  Herder  selbst  sagt. 

Was  sonst  noch  von  naturwissenschaftlicher  Seite  an  Literatur 
vorliegt,  kommt  hier  nicht  in  Frage.  Dacque  58)  erwähnt  Herder 
einmal  mit  dem  richtigen  Bemerken:  „Ebensowenig  wie  bei  Kant, 
hat  etwa  bei  Lessing  und  Herder  ...  die  scheinbar  ausgeprägte  Ideen- 
kongruenz mit  der  Darwinschen  Schule  positiv  bestanden."  Im 
übrigen  stützt  er  sich  auf  Bärenbachs  Arbeit.  R.  Burckhardt  zollt 
Herder  neben  Goethe  das  Lob,  „die  Umwandlung  von  der  logischen 
in  die  genealogische  Betrachtung  der  Tiergruppen  vorbereitet  zu 
haben"  59)1  An  einer  andern  Stelle  ist  ihm  Herder  „der  älteste  und 
anregendste  der  deutschen  Genetiker  und  Kosmologen"  60).  In  Absicht 
der  Naturwissenschaft  ist  es  nicht  vonnöten,  die  literarhistorische  und 
philosophische  Literatur  zu  besprechen.  Neben  dem  groß  angelegten 
Werke  von  Haym  61),  das  jeder,  der  Zuverlässiges  über  Herder  er- 
fahren will,  zur  Hand  nehmen  wird,  sind  es  vor  allem  die  Arbeiten 


57)  s.  11. 

58)  E.  Dacquo,  Der  Deszendenzgedanke  und  seine  Geschichte  1903. 
VJ)  in  Verhandl.  der  Naturf.  Gesellschaft,  Basel  1903,  S.  428. 

6Ü)  Zoolog.  Annalen  1905,  S.  372. 

fll)  A.  Haym:  Herder  nach  seinem  Leben  und  seinen  Werken  dargestellt. 
2  Bände. 


338  R  i  c  h  a  r  d  N  o  1 1 , 

von  Kühnemann,  die  durch  ihre  tiefgehende  Psychoanalyse  manch 
Wertvolles  zutage  gefördert  haben;  diese  beiden  überragen  das,  was 
sonst  über  Herder  geschrieben  ist 62). 


Wir  sind  am  Ende  der  Untersuchung.  Was  bleibt  uns  nun  von 
Herder?  Wir  haben  ihm  den  Naturwissenschaftler  versagt  und  an 
dem  Philosophen  arg  gepflückt;  es  scheint,  als  habe  er  der  Welt  nichts 
mehr  zu  sagen,  als  sei  er  ein  zu  Grabe  Getragener.  Es  wäre  schänd- 
liche Verleumdung,  wäre  dies  das  letzte  Wort.  Was  Herder  in  der 
Tat  in  seinen  „Ideen"  ans  Licht  gefördert  hat,  welch  neue  Wege 
er  den  Einzelwissenschaften  gewiesen,  wie  sehr  er  der  Aufnahme 
der  nachfolgenden  Philosophie  vorgearbeitet,  war  hier  nicht  Aufgabe 
zu  erweisen.  Überall  spürt  der  historisch  Erfahrene  geheimen  oder 
offenen  Einfluß  Herderschen  Denkens.  Die  Beziehungen,  die  er  im 
einzelnen  geknüpft  hat,  wirken  als  stiller  Besitz  oder  als  laute  Fragen 
noch  heute  in  der  Welt  weiter.  Ja  es  scheint,  daß  unsere  Zeit,  die 
die  idealistische  Philosophie  jener  Tage  zu  neuem  Leben  zu  erwecken 
sucht,  freudiger  als  je  auch  zu  Herder  zurückgreifen  wird;  denn  durch 
ihn  geht  ein  gut  Teil  der  Entwicklungsfädeu  hindurch  und  gerade 
in  seinen  „Ideen"  verknüpfte  er  sie  zu  einem  zwar  nicht  makellosen, 
aber  wundervoll  gefügten  Ganzen.  Wer  zu  ihm  kommt,  kehrt  nicht 
mit  leeren  Händen  zurück:  die  Fülle  seines  Wissens  und  der  Reich- 
tum seiner  Gedanken  lassen  jedem  eine  volle  Ernte.  Denn  hinter 
allem  steht  bei  ihm  ein  leidenschaftliches  Wollen,  eine  Glut  des  Er- 
lebnisses, das  seine  Worte  weit  über  das  Alltägliche  emporträgt.  Und 
willig  lassen  wir  uns  von  diesem  Strome  in  die  Unendlichkeit  hinaus- 
fahren: denn  uns  führt  ein  großer  und  starker  Mensch. 


62)  Durch  eine  seltsame  Tücke  des  Geschicks  entging  mir  das  schöne 
Buch  von  Siegel:  Herder  als  Philosoph,  das  auch  den  Deszendenztheoretiker 
Herder  ablehnt. 


XVIII. 

Nietzsche  und  der  Pragmatismus. 

Von 
Richard  Müller-Freienfels  (Berlin-Halensee). 

I. 

Man  mag  den  Pragmatismus,  wie  er  uns  aus  Amerika  zugekommen 
ist,  annehmen  oder  ablehnen:  eins  wird  man  ihm  auf  jeden  Fall  zu- 
geben müssen:  nämlich,  daß  das  Wort  „Pragmatismus"  eine  vorzüg- 
liche Bezeichnung  einer  Denkrichtung  ist,  die  sich  im  Leben  wie 
in  der  Wissenschaft  seit  alter  Zeit  geltend  gemacht  hat 1).  Auch  in 
der  Philosophie  in  neuester  Zeit  hat  sie  allenthalben  an  Boden  ge- 
wonnen.2) Und  wenn  man  auch  gegen  die  Form,  die  der  Pragmatismus 
in  Amerika  angenommen  hat,  sehr  kritisch  sich  stellen  mag,  das 
wird  nicht  hindern,  daß  die  Geschichte  der  Philosophie  diesen  brauch- 
baren Begriff  festhalten  wird,  wie  er  sich  bereits  auch  in  Europa 
überall  eingebürgert  hat,  obwohl  sich  z.  B.  William  James,  ursprüng- 
lich sein  feurigster  Propagator,  selber  sehr  kritisch  geäußert  hat 
zu  diesem  Sirgeslauf.  Indessen,  es  liegt  sicherlich  ein  Verdienst  im 
Prägen  dieses  brauchbaren  Begriffs.  Und  Nietzsche,  über  dessen 
Pragmatismus  ich  hier  zu  sprechen  denke,  obwohl  er  den  Terminus 
noch  nicht  kannte,  hat  sich  einmal  ganz  allgemein  über  den  Wert 
der  Namcngcbung  geäußert.  Er  beantwortet  nämlich  die  Frage, 
„was  ist  Originalität":  „Etwas  sehen,  das  noch  keinen  Namen  trägt, 


*)  Das  ist,  bedeutend  ausführlicher  noch,  als  von  den  Pragmatisten 
selber,  besonders  durch  L.  Stein  nachgewiesen  worden.  Philos.  Strömungen 
der  Gegenwart.  1908.  S.  33  ff.  Vgl.  dazu:  Archiv  für  System.  Philos.  XIV. 
143 — 155.  Auf  Nietzsche  selber  verweist  ein  kleiner  Aufsatz  Steins,  der 
genau  zur  selben  Zeit  im  Drucke  erschien,  als  diese  Abhandlung  abge- 
schlossen war.     (Archiv  für  syst.  Phil.   1912,  Heft  IV.) 

'-)  Vgl.  besonders  die  Schriften  von  R.  Avenarius,  E.  Mach,  W.  Ostwald, 
W.  Jerusalem  usw. 


340  Richard  Müller-Freienfels, 

noch  nicht  genannt  werden  kann,  ob  es  gleich  vor  aller  Augen  liegt. 
Wie  die  Menschen  gewöhnlich  sind,  macht  ihnen  erst  der  Name  ein 
Ding  überhaupt  sichtbar.  —  Die  Originalen  sind  zumeist  auch  die 
Namengeber  gewesen."  3) 

Jedenfalls  aber  ist  durch  die  amerikanische  Pragmatismus- 
bewegung ein  Problem  in  den  Mittelpunkt  der  Diskussion  geschoben 
worden,  das  bisher  niemals  so  zentrales  Interesse  erregt  hat:  die  Frage 
nach  dem  Wesen  der  Wahrheit. 

Nun  hat  man  neuerdings  von  drei  verschiedenen  Seiten  dieses 
Problem  angefaßt.  Alle  diese  Forscher  kommen  darin  überein,  daß 
die  logischen  Werte  als  biologische  anzusehen  sind.  Ich  will 
die  drei  verschiedenen  Auffassungen  des  Wahrheitsproblems  als  die 
pragmatistische  (im  engeren  Sinne),  die  humanistische 
und  die  ,,d  e  s    A  1  s  -  0  b"  bezeichnen. 

Die  pragmatistische  Wahrheitstheorie  (im  engeren  Sinne) 
lehrt,  daß  das  einzige  Kriterium  für  den  Wahrheitswert  einer  Theorie 
ihre  Brauchbarkeit  ist 4).  Damit  ist  nun  nicht  der  grobe 
Utilitarismus  im  Sinne  des  Geldverdienens  gemeint,  wie  es  Gegner 
oft  ausgelegt  haben,  nein  gerade  auf  das,  was  Mach  „die  Anpassung 
der  Gedanken  aneinander"  nennt,  legt  James  den  größten  Nach- 
druck, und  Brauchbarkeit  ist  ihm  neben  der  Bedeutung  für  die  biolo- 
gische Erhaltung  auch  vor  allem  die  innere  Harmonie  der  Gedanken- 
welt. Fügt  in  diese  sich  eine  Theorie  klärend  und  erweiternd  ein, 
so  ist  sie  wahr;  tut  sie  das  nicht,  so  muß  eine  Revision  vorgenommen 
werden,  eine  Anpassung,  als  deren  Endzweck  die  Stabilität  eintritt, 
die  als  „Wahrheit"  bewertet  wird.  Wahrheit  ist  also  nach  dieser 
Lehre  ein  biologischer  Wert,  der  der  Erhaltung 
und    inneren    Harmonie    des    Subjektes    dient. 

Die  humanistische  Wahrheitstheorie,  wie  sie  speziell 
von  dem  Jamesschüler  F.  C.  S.  Schiller  5)  ausgebaut  wurde,  betont 


3)  Nietzsche:  Die  fröhliche  Wissenschaft,  Aph.  261. 

4)  Vgl.  besonders  W.  James:  Pragmatism,  1907  (deutsch  von 
Jerusalem),  The  Meaning  of  Truth,  1909,  und  andere  Schriften 
desselben  Verfassers.  Dazu  meinen  Aufsatz:  Will.  James  und  der  Prag- 
matismus.    (Phil.  Wochenschr.   1908.) 

5)  F.  C.  S.  S  c  h  i  1 1  e  r:  Humanism,  1904,  und  New  Studie« 
in  Humanism,  1907,  deutsch  in  Auswahl  als  ,,H  u  m  a  n  i  s  m  u  s". 
L.  1911. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  341 

nur  eine  andere  Seite  der  pragmatistischen.  Sie  stimmt  dieser  voll- 
kommen zu,  hebt  nur  statt  der  objektiven,  utilitarischen  Seite  mehr 
die  subjektive-teleologische  Seite  hervor.  Sie  betont 
vor  allem  den  „menschlichen",  d.  h.  von  Trieben  und  Gefühlen  durch- 
tränkten Charakter  jeder  Wahrheit  und  bekämpft  leidenschaftlich 
das  Abstrakte  in  der  reinen  Logik. 

Was  ich  oben  als  eine  dritte  Fassung  des  Wahrheitsproblems 
angeführt  habe,  hängt  historisch  nur  lose  mit  den  beiden  früheren 
zusammen  und  ist  doch  aus  derselben  Wurzel,  einer  biologischen  Auf- 
fassung unseres  Erkenntnisvermögens  entsprungen.  Die  Philo- 
sophie des  A  1  s  -  0  b  6)  ist  etwas  durchaus  Selbständiges  und 
betont  die  große  Wichtigkeit,  die  für  unser  Leben  bewußt-falsche 
Theorien  haben  können.  So  berührt  sie  sich,  obwohl  sie  in  manchem 
fast  das  Gegenteil  aussagt,  mit  dem  Pragmatismus,  ohne  indes  den 
Begriff  „Wahrheit"  auf  die  bewußten  Fiktionen  auszudehnen. 

Das  Ziel  der  vorliegenden  Untersuchungen  wird  es  nun  sein, 
zu  zeigen,  wie  sich  die  drei  verschiedenen  Seiten  des 
Wahrheitsproblems  in  den  Schriften  Friedr.  Nietzsches7) 
völlig  klar  erfaßt  und  formuliert  nebeneinander  finden  und  wie  sie 
in  den  verschiedenen  Stadien  seiner  Entwicklung  sich  gestalten. 
Dabei  ist  zu  bemerken,  daß  für  das  Problem  des  Als-Ob  bereits 
Vaihinger  selber  in  gründlichster  Weise  den  Parallelismus  aufgedeckt 
hat,  in  dem  sich  die  Gedanken  Nietzsches  zu  seinen  eigenen  bewegl 
haben.  Es  bleiben  also  vor  allem  die  pragmatistische  und  humanisti- 
sche Seite  und  auf  diese  werde  ich  hier  den  Hauptnachdruck  legen. 
Es  hat  zwar  schon  ein  französischer  Gelehrter  (ebenso  wie  ich  selber 
früherbereits  wiederholt  diese  Übereinstimmung  betont  habe)  den  Prag- 
matismus Nietzsches  dargestellt.  Indessen  ist  seine  Wiedergabe  der  Ge- 
danken Nietzsches  zu  wonig  systematisch,  auch  sind  die  historischen 
Wandlungen  nicht  gründlich  behandelt,  was  allerdings  auch  nicht 
in  der  Absicht  des  Verf.  lag,  dem  es  mehr  darauf  ankam,  die  Wurzeln 


6)  H.  Vaihingen    Die  Philosophie  des  Als-Ob.     Berlin  1911. 

7)  Ich  zitiere  in  der  Hauptsache  so,  daß  man  nach  meinen  Angaben 
sich  in  der  großen  Ausgabe  wie  in  der  Taschenausgabe  orientieren  kann.  Für 
den  Nachlaß  zitiere  ich  ausschließlich  Bd.  IX — XIV  der  großen  Ausgabe, 
für  den  , AVillen  zur  Macht"  indessen  nicht  Bd.  XV  der  großen,  sondern  Bd.  1  X 
und  X  der  Taschenausgabe  (TA.),  da  diese  jetzt  die  Inste  und  reichhaltigste 
Ausgabe  für  dieses  Werk  ist. 


342  Richard   Müller-Freienfels, 

nachzuweisen,  aus  denen  Nietzsches  Anschauung  erwachsen  ist.  Meine 
Untersuchungen  werden  daher  einen  ganz  andern  Weg  gehen.  Was 
übrigens  die  Resultate  Berthelots  anlangt,  daß  Nietzsches  Pragmatis- 
mus einmal  der  deutschen  Romantik,  anderseits  dem  modernen, 
naturwissenschaftlich  orientierten  Utilitarismus  entstammt, 
so  ist  dem  im  großen  und  ganzen  zuzustimmen,  wenn  auch  die  letzteren 
Einflüsse  weit  weniger  ins  Gewicht  fallen  und  mehr  als  willkom- 
mene Bestätigung  für  bereits  vorhandene  Tendenzen  denn 
als  wirkliche  Anreger  von  Nietzsche  aufgenommen  wurden.  Der  Be- 
griff Romantik  anderseits,  in  dem  weiten  Sinne,  wie  ihn  die  Franzosen 
im  Gegensatz  zum  deutschen  Gebrauch  verwenden,  ist  so  vage,  daß  eine 
wirklich  klare  Erkenntnis  daraus  nicht  zu  gewinnen  ist.  Es  werden 
damit  zu  gleicher  Zeit  Emerson  wie  Hölderlin,  Schopenhauer  wie  Wagner 
umspannt.  Ich  ziehe  es  vor,  im  folgenden  die  ästhetische, 
oder  wie  Nietzsche  selber  sagt,  dionysische  Gesamtstimmung 
seines  Wesens  hervorzukehren,  die  ihn  von  früh  an  auf  rauschartige 
Lebenssteigerung,  Zurückdrängung  des  logischen  Denkens  auf  Kosten 
einer  Erhöhung  des  gesamten  Lebensgefühls  gerichtet  sein  ließ  und 
der  ihn  von  jeher  das  rein  Intellektuelle  dem  biologisch  Wertvollen 
unterordnen  ließ. 

Dieser  letztere  Grundzug  des  ganzen  Menschen  Nietzsche  tritt 
schon  in  seinen  frühesten  Schriften  ganz  deutlich  hervor;  er  wird 
dann  etwas  zurückgedrängt,  obwohl  er  unter  der  positivistisch- 
intellektualistischen  Oberfläche  deutlich  erkennbar  weiter  besteht, 
wie  ich  nachweisen  werde;  endlich  in  der  dritten  und  entscheidenden 
Periode  ringt  sich  das  echte  pragmatistisch-voluntaristisch  gerichtete 
Temperament  in  aller  Klarheit  wieder  durch,  und  es  wird  ein  Pra- 
gmatismus von  höchster  Konsequenz  und  detaillierter  Durchbildung 
verkündet  bereits  zu  einer  Zeit,  als  in  Amerika  erst  die  ersten  leisen 
Vorboten  sich  hervorwagten. 

Dabei  ist  von  vornherein  festzustellen,  daß  irgend  welche  direkte 
oder  nachweisbare  indirekte  Beziehungen  zwischen  Nietzsche  und 
Amerika  nicht  bestehen.  Die  wichtigsten  Arbeiten  Nietzsches  sind 
erst  in  seinem  Nachlaß  ans  Licht  gekommen,  während  in  den  zu  Leb- 
zeiten   veröffentlichten    Schriften    mehr   gelegentlich    und    nirgends 


8)  R.  Berthelot:    Sur  le  Pragmatisme  de  Nietzsche.    Rev.  de  Meta- 
physique  et  de  Morale.      1908,   403—447. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  343 

systematisch  das  Wahrheitsproblem  gestreift  ist.  Es  ist  im  Interesse 
der  Kenntnis  vom  echten  Wesen  dieses  reichen  Philosophengeistes 
überhaupt  sehr  zu  bedauern,  daß  er  selber  nur  die  Schriften  mehr 
negativ-polemischen  Charakters  veröffentlicht  hat,  während  er  seine 
positiv-systembildenden  Schriften  —  wenigstens  auf  erkenntnis- 
theoretischem Gebiete  —  nicht  mehr  hat  veröffentlichen  können, 
obwohl  der  Nachlaß  ein  ziemlich  geschlossenes  Bild  seines  Denkens 
auch  nach  dieser  Seite  hin  gibt. 

So  konnte  James  in  der  Zeit,  als  er  seinen  Pragmatismus  aus- 
bildete, Nietzsches  diesbezügliche  Arbeiten  noch  nicht  kennen.  Wahr- 
scheinlich hätte  er  dann  in  anderem  Tone  von  Nietzsche  gesprochen, 
den  er  nur  gelegentlich  mitleidsvoll  „poor  Nietzsche"  nennt.  Denn 
in  diesem  Nachlaß  ist  bereits  im  Jahre  1873  der  ganze  Pragmatismus 
explicite  enthalten,  während  die  erste  Arbeit  von  Peirce,  der  der 
Richtung  den  Namen  gab,  im  Jahre  1878  erschien,  in  einer  amerikani- 
schen Revue  versteckt.  Und  während  James  seine  noch  recht  un- 
entschiedenen Essays  über:  „The  Will  to  Believe" 9)  ausarbeitete, 
hatte  Nietzsche  bereits  ein  völlig  ausgearbeitetes  System  dieser  Ge- 
danken, die  in  James  20  Jahre  später  erst  ganz  ausreiften.  — 

Es  ist  eine  Pflicht  der  historischen  Gerechtigkeit  das  festzustellen. 
Zugleich  aber  läßt  sich  gerade  an  Nietzsches  Stellung  zum  Wahrheits- 
problem am  deutlichsten  dartun,  wie  merkwürdig  konstant  dieser 
fälschlich  für  sprunghaft  gehaltene  Philosoph  in  seinem  Denken 
war.  -  Gewiß  hat  er  später  oft  in  heftigsten  Ausdrücken  frühere 
eigne  Ansichten  bekämpft,  Aber  wir  haben  hier  innerhalb  des 
Individuums  denselben  Fall,  den  das  Leben  so  oft  zwischen  ver- 
schiedenen Individuen  zeigt:  daß  nämlich  der  Streit  um  kleine 
Nuancen,  bei  sonstiger  Gemeinschaft  viel  gehässiger  und  erbitterter 
geführt  zu  werden  pflegt,  als  der  Kampf  bei  völliger  Verschieden- 
heit der  Ausgangspunkte. 

II. 

Bereits  in  der  „G  e  b  u  r  1  d  e  r  T  r  a  g  ö  d  i  e",  dieser  Schrift, 
die  ein  seltsam  frühes  Programm  für  alle  späteren  Hauptgedanken 
Nietzsches  ist,  finden  sich  auch  die  Keime  des  Nietzscliescheii  Pra- 
gmatismus.    Tritt  dies   auch  gemäß  dem  ästhetisch-dithyrambischen 

9)  Später  gesammeil  und  übersetzt  als:  „Der  Wille  zu  m  Gl  au  ben." 

.Stuttgart. 


344  Richard   Müller-Freienfels, 

Gesamtcharal^ter  der  Schrift  mehr  in  der  Stimmung,  der  all- 
gemeinen Tendenz  als  in  klaren  logischen  Formulierungen  heraus, 
so  springt  doch  klar  bereits  jetzt  in  die  Augen,  wie  Nietzsche  den 
theoretischen  Menschen,  als  dessen  Typen  Euripides  und 
Sokrates  gelten,  gering  schätzt  gegenüber  dem  künstlerischen, 
der  auf  Steigerung  des  Lebens  ausgeht,  nicht  auf  „Verständnis"  wie 
jener.  „Wenn  nämlich  der  Künstler  bei  jeder  Enthüllung  der  Wahrheit 
immer  nur  mit  verzückten  Blicken  an  dem  hängen  bleibt,  was  auch 
jetzt  nach  der  Enthüllung  noch  Hülle  bleibt,  genießt  und  befriedigt 
sich  der  theoretische  Mensch  an  der  abgeworfenen  Hülle  und  hat 
sein  höchstes  Lustziel  in  dem  Prozeß  einer  immer  glücklichen,  durch 
eigene  Kraft  gelingenden  Enthüllung". 10)  Welchem  von  beiden 
Typen  die  Sympathie  des  Verfassers  gehört,  kann  nicht  zweifel- 
haft sein  und  schon  könnte  als  Motto  über  dem  ganzen  das  Leitwort 
stehen,  was  er  später  so  oft  angewandt  hat:  Fiat  vita,  pereat  veritas. 

Dieselbe  Wertung  durchzieht  alle  Schriften  dieser  Epoche,  be- 
sonders z.  B.  das  Nachlaßfragment:  „Die  Philosophie  im  tragischen 
Zeitalter  der  Griechen.u  (1873.)  Auch  hier  gilt  die  ganze  Sympathie 
des  Verfassers  den  Vorsokratikern,  „die  die  Wahrheit  in  Intuitionen 
erfaßten  und  nicht  an  der  Strickleiter  der  Logik  erkletterten"  n). 
Besonders  die  Planskizzen  zu  der  nicht  ausgeführten  Fortsetzung 
sind  interessant,  denn  sie  deuten  an,  wie  der  junge  Nietzsche  den 
Kampf  gegen  Sokrates  und  den  Intellektualismus  zu  führen  dachte. 
Da  heißt  es  bündig:  „An  Sokrates  alles  Fabeln;  die  Begriffe  sind 
nicht  fest,  auch  nicht  wichtig".  12)  Und  weiter  heißt  es  da:  „Das 
Erkennen  hat  für  das  Wohl  des  Menschen  nicht  soviel  Bedeutung 
wie  das  Glauben.  Selbst  bei  dem  Finden  einer  Wahrheit,  z.  B.  einer 
mathematischen,  ist  die  Freude  das  Produkt  seines  unbedingten 
Vertrauens,  er  kann  darauf  bauen.  Wenn  man  den  Glauben  hat, 
so  kann  man  die  Wahrheit  entbehren  13).  Man  sieht,  wie  klar  schon 
der  junge  Nietzsche  erkannte,  daß  keine  „absolute  Wahrheit"  mög- 
lich ist,  eine  Erkenntnis,  die  ihn  niemals  verlassen  hat. 

Ganz  besonders  interessant  aber  ist  für  die  erkeimtnistheoretische 
Entwicklung  das  kleine  Fragment  aus  dem  Sommer  1873:  „Über 


10)  Geburt  der  Tragödie,  Kap.  XV, 
")  W.  Bd.  X  S.  47. 
12)  Ebd.  S.  103. 
la)  Ebd.  Aph.  11. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  345 

Wahrheit  und  Lüge  im  außermoralischen 
Sinn  e",  das  eine,  wenn  auch  nicht  abgeschlossene,  so  doch  zu- 
sammenhängende Darstellung  bringt,  zu  der  ferner  noch  eine  ganze 
Sammlung  kleinerer  Fragmente  kommt,  die  teils  voraufgehen,  teils 
die  Fortsetzung  skizzieren. 

Der  Intellekt  wird  als  ein  Hilfsmittel,  und  zwar  ein  recht 
dürftiges,  hingestellt,  das  dem  Menschen  zur  Selbsterhaltung 
dient.  Die  „Wahrheit"  ist  ein  soziales  Produkt,  das  erfunden 
ist,  um  eine  „gleichmäßig  gültige  und  verbindliche  Bezeichnung  der 
Dinge"  zu  hefern  14).  Wahrheit  ist  jedoch  nichts  Absolutes,  nichts, 
was  uns  das  Wesen  der  Dinge  erkennen  lehrt,  sondern  ist  „ein  be- 
wegliches Heer  von  Metaphern,  Metonymien,  Anthropomorphismen, 
kurz,  eine  Summe  von  menschlichen  Relationen,  die,  poetisch  und 
rhetorisch  gesteigert,  übertragen,  geschmückt  wurden,  und  die  nach 
langem  Gebrauch  in  einem  Volke  fest,  kanonisch  und  verbindlich 
dünken:  die  Wahrheiten  sind  Illusionen,  von  denen  man  vergessen 
hat,  daß  sie  welche  sind  — "  15).  Nur  durch  dieses  Vergessen  aber 
gelangt  der  Mensch  zum  Gefühl  der  Wahrheit.  „Es  ist  uns  nichts 
an  sich  bekannt,  sondern  nur  in  seinen  Wirkungen,  d.  h.  in  seinen 
Relationen  zu  andern  Naturgesetzen,  die  uns  wieder  nur  als  Summen 
von  Relationen  bekannt  sind.  Also  verweisen  alle  diese  Relationen 
immer  nur  wieder  aufeinander  und  sind  uns  ihrem  Wesen  nach  un- 
verständlich durch  und  durch;  nur  das,  was  wir  hinzubringen,  die 
Zeit,  der  Raum,  also  Sukzessionsverhältnisse  und  Zahlen,  sind  uns 
wirklich  daran  bekannt.  —  Alle  Gesetzmäßigkeit,  die  uns  am  Sternen- 
lauf und  im  chemischen  Prozeß  so  imponiert,  fällt  im  Grunde  mit 
jenen  Eigenschaften  zusammen,  die  wir  selbst  an  die  Dinge  heran- 
bringen, so  daß  wir  damit  uns  selber  imponieren".  l6) 

Deutlich  also  treten  in  dieser  frühen  Schrift  bereits  die  p  r  a  - 
gmatistische  wie  die  humanistische  Seite  des  Wahr- 
heitsproblems zutage.  Allerdings  sind  die  erkenntnistheoretischen 
Probleme  trotz  der  entgegengesetzten  Behauptung  des  Titels  noch 
stark  vermischt  mit  moralische  n.  Vielleicht  hätte  Nietzsche 
das  bei  genauerer  Durcharbeitung  des  Fragmentes  selber  noch  erkannt. 


11 )  W.  X  S.  192. 
15)  Ebd.  8.  196. 
")  Ebd.  S.  201  f. 

Archiv  für  Geschichte  rler  Philosophie.     XXVI. 


346  Richard    M  ü  1 1  e  r  -  F  r*e  i  e  n  f  e  1  s  , 


Denn  es  tritt  deutlich  zutage,  daß  sich  ihm  in  die  logische  Gegenüber- 
stellung: Wahrheit  und  Irrtum  beständig  jene  andere 
von  ihm  hier  m  o  r  a  1  i  s  c  h  gefaßte  Wahrheit  und  Lüge 
hineinmengt.  Gewiß  hat  auch  diese  Antithese  im  Sinne  des  Als-Ob, 
der  bewußten  Fiktion,  ihre  große  erkenntnistheoretische  Bedeutung. 
Nietzsche  jedoch,  der  z.  B.  den  nächsten  Nutzen  des  Erkenntnis- 
vermögens in  der  Verstellung  sieht,  faßt  also  das  Problem  doch  von 
der  moralischen  Seite.  Daneben  allerdings  ist  dem  Verfasser  der 
„Geburt  der  Tragödie"  auch  das  Ästhetische  klar  bewußt  und  so  stellt 
er  zuletzt  dem  „vernünftigen",  d.  h.  durch  Logik  geleiteten 
Menschen  den  „intuitiven"  Menschen  gegenüber,  der  nicht  in 
vertrockneten  Metaphern  und  Abstraktionen  denkt,  sondern  aus 
seinen  Intuitionen  eine  beständig  „entströmende  Erhellung,  Auf- 
heiterung, Erlösung  erfährt,  und  er  kommt  damit  auf  einen  Haupt- 
gedanken der  „Geburt  der  Tragödie"  zurück. 

Es  ist  besonders  bedauerlich,  daß  diese  wichtige  Schrift  nicht 
zu  Ende  geführt  ist.  Der  Wahrheitsbegriff  hätte  in  den  weiteren 
Untersuchungen  noch  wichtige  Beleuchtungen  erfahren,  wie  die 
Entwürfe  zeigen.  Vor  allem  wäre  der  bewußte  Illusionismus  stark 
betont  worden  17).  Indessen  auch  die  pragmatistische  und  humanisti- 
sche Seite  der  Wahrheitstheorie  wären  noch  weiter  durchgedacht 
worden.  So  wäre  die  Abhängigkeit  der  Logik  von  der  S p r  a ch  e  nach- 
gewiesen worden.  Der  Gedanke,  daß  der  Mensch  das  Maß  aller  Dinge 
sei,  wird  erweitert  dahin,  daß  es  notwendig  ist,  ihn  sich  dann  als  hart 
und  festgeworden  zu  denken,  weil  sonst  die  Strenge  der  Naturgesetze 
aufhörte.  Denn  diese  sind  lauter  Relationen  zueinander  und  zum 
Menschen.  Und  ferner  wäre  da  der  Gedanke  ausgeführt  worden, 
daß  es  keinen  Trieb  nach  Erkenntnis  und  Wahrheit,  sondern  nur  einen 
Trieb  nach  Glauben  an  die  Wahrheit  gäbe.  „Solange  man  Wahr- 
heit in  der  Welt  sucht,  steht  man  unter  der  Herrschaft  des  Triebes: 
der  aber  will  Lust  und  nicht  Wahrheit,  er  will  den  Glauben  an  die 
Wahrheit,  also  die  Lustwirkungen  dieses  Glaubens."  18) 

Indessen  es  sind  damit  die  Anregungen  Nietzsches  zum  Wahr- 
heitsproblem längst  nicht  erschöpft.  Nur  eine  Anzahl  von  Aphorismen 
seien  noch  angeführt,  die  alle  diese  Probleme  berühren.     Zunächst 


17)  Dazu  Vaihingen    Philosophie  des  Als-Ob  S.  773  f. 

18)  W.  X  8k  125. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  \ 34  i 

sind  eine  ganze  Reihe  der  pragmatistischen  Seite  des  Wahrheits- 
problems  gewidmet.  Da  wird  ausgeführt,  daß  die  „Wahrheiten" 
sich  durch  ihre  Wirkungen  beweisen,  nicht  durch  logische  Beweise, 
und  daß  das  Wahrheitsstreben  durch  den  Kampf  um  eine  heilige 
Überzeugung  in  die  Welt  gekommen  ist 19).  Über  Entstehung  und 
soziale  Bedeutung  der  Wahrheit  handelt  eine  weitere  Stelle  20).  Der 
metaphorische  Charakter  und  die  Relativität  unseres  Erkennens 
werden  ebenfalls  weiter  ausgeführt 21),  ferner  die  Frage  nach  dem 
Zweck  und  der  Entstehung  der  Erkenntnis 22). 

Ebenso  wird  auch  die  humanistische  Seite  des  Wahr- 
heitsproblems noch  weiter  berührt,  So  läßt  sich  z.  B.  der  anthropo- 
morphische  Charakter  aller  Weltkonstruktionen  beweisen 23). 
Das  Erkennen  wird  als  ein  Messen  an  einem  Maßstab  dargestellt 21), 
der  Konsensus  der  Menschen  rührt  von  der  Gleichartigkeit  ihres 
Perzeptionsapparates  her 25).  Das  Weltbild  ist  nur  eine  Wieder- 
spiegelung und  es  gibt  ein  Streben,  den  Spiegel  immer  adäquater  zu 
machen.  So  läßt  sich  eine  allmähliche  Befreiung  vom  alten  Anthro- 
pomorphischen  erkennen  26),  so  läßt  sich  das  Streben  des  Philosophen 
als  eine  Assimilation,  als  eine  Metamorphose  der  Welt  in  den  Menschen 
beschreiben  27). 

Alle  diese  Erkenntnisse  standen  bereits  ausgearbeitet  hinter 
dem  jungen  Nietzsche,  als  er  seine  „Unzeitgemäßen  Be- 
trachtungen" schrieb.  Naturgemäß  gaben  diese,  auf  ein  breiteres 
Publikum  berechneten  Essays  weniger  Gelegenheit  zu  logisch-fach- 
männischen Betrachtungen,  trotzdem  ist  es  derselbe  Geist,  der  be- 
sonders aus  der  zweiten  und  dritten  „Unzeitgemäßen"  spricht.  Es 
ist  dieselbe  dionysische,  auf  höchste  Lebenssteigerung  gerichtete 
Stimmung,  die  wir  schon  früher  fanden  und  die  alle  Erkenntnis 
nur  als   ein  Mittel  zur  Lebenserhaltung,   oder  besser   zur   Lebens- 


19)  X  S.  139. 

20)  X  S.  171  ff. 

21)  X  S.  161. 

22)  X  8.  146. 

23)  X  S.  152. 

24)  X  S.  153. 

25)  Ebd.  S.  153. 
28)  X  S.  172. 

27)  Vom  Nutzen  und  Nachteil  der  Historie  für  das  Leben,  besonders 
Kap.  I  und  II. 


348  Richard   Müller-Freienfels, 

Steigerung  ansehen  lehrt.  Darum  wendet  Nietzsche  sich  gegen  den 
historischen-überhistorischen  Betrieb  der  Wissenschaften  und  fordert, 
daß  Historie  zum  Zwecke  des  Lebens  getrieben  werde.  Nicht 
anders  tritt  uns  Nietzsche  in  „Schopenhauer  als  Erzieher"  entgegen,  wo 
er  eine  theoretische  Widerlegung  einer  Philosophie  für  etwas  Un- 
mögliches, ein  bloßes  Spiel  mit  Worten  erklärt  und  behauptet,  die 
einzige  Kritik  einer  Philosophie,  die  etwas  bewiese,  sei  der  Versuch 
danach  zu  leben  28).  Daß  er  natürlich  nicht  den  Utilitarismus 
im  banalen  Sinne  als  Beweis  für  die  Wahrheit  gelten  läßt,  wird  oft 
genug  scharf  ausgesprochen  29). 

Alles  in  allem  ist  der  Pragmatismus  Nietzsches  in  seiner  frühesten 
Periode,  so  klar  sich  darin  auch  die  fundamentalen  Sätze  aussprechen, 
doch  noch  recht  unklar  und  unkritisch.  Das  ästhetische,  dionysische 
Interesse  überwiegt  und  umnebelt  noch  den  klaren  Blick.  Darum 
mischen  sich  mit  jenen  Erkenntnissen,  die  später  wiederkehren, 
auch  solche,  die  später  für  alle  Zeiten  abgetan  werden.  So  ist  die 
Lehre  von  der  Intuition,  ja  der  Inspiration,  in  dieser  noch  von  Richard 
Wagner  stark  abhängigen  Zeit  ein  Element  der  vorwiegend  ästheti- 
schen Orientierung  dem  Leben  gegenüber,  die  später  zurücktritt. 
Es  bestehen  in  dieser  Zeit  zwei  Elemente  in  Nietzsches  Denken  neben- 
einander, das  schwärmerisch-dionysische  und  kritisch-philosophische, 
die  noch  nicht  zur  Harmonie  gekommen  sind.  Eine  Krise  war  un- 
ausbleiblich. Sie  kam  und  in  ihr  versuchte  Nietzsche  eine  gewalt- 
same Ausrottung  jenes  dionysischen  Dranges.  Es  gelang  nicht:  er 
war  zu  stark  und  vielleicht  auch  die  kritisch-intellektualistische 
Tendenz  zu  schwach.  Der  Versuch  einer  Verdrängung  mißlang  und 
so  kam  es  zuletzt  zu  einer  Versöhnung  der  beiden  Tendenzen  in  der 
dritten  Periode,  die  die  Gedanken  des  ersten  in  kritisch-geläuterter 
Form  weiter  führt. 

III. 

Nietzsches  Entwicklung  mit  ihren  drei  Perioden,  die  sich  ziem- 
lich klar  absondern,  sieht  aus  wie  ein  Musterbeispiel  der  bekannten 
Theorie  Hegels  über  die  Entwicklung.  Ist  die  erste  Periode  die  Stufe 
der  Position,  so  ist  die  zweite  die  der  Negation.  Hier  wird  die  Erkennt- 
nis, die  in  der  ersten  Zeit  dem  Willen  zum  Leben  ganz  nachgesetzt 


28)  Schopenhauer  als  Erzieher:  Kap.  VIII. 

29)  Ebd.  Kap.  VIII. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  349 


» 


worden  war,  viel  stärker  in  den  Vordergrund  gedrängt.  Die  dritte 
Periode  endlich  würde  die  Stufe  der  Synthese  darstellen,  genau  nach 
dem  Hegeischen  Schema. 

Indessen  ist  die  Verneinung  der  ersten  in  der  zweiten  Periode 
doch  nicht  so  stark,  wie  man  es  zuweilen  hingestellt  hat.  Man  pflegt 
die  zweite  Periode  die  positivistische  oder  die  intellek- 
tualistische  zu  nennen ;  indessen  wäre  es  vielleicht  exakter, 
mit  einem  abschwächenden  Komparativ  als  von  der  intellek- 
tualistischeren  zu  reden.  Denn  wie  ich  nachher  an  Bei- 
spielen dartun  werde,  Hegt  die  Sache  durchaus  nicht  etwa  so,  daß 
nun  ein  ganz  anderes  philosophierendes  Ich  erschiene,  nein,  es  bleibt 
das  alte  leidenschaftliche,  dionysische,  ästhetische  Ich,  das  sich  nur 
gewaltsam  in  intellektualistische  Bahnen  zwingen  will,  das  aber  oft 
schmerzlich  seufzt  unter  dem  harten  Joch.  In  der  Tat  ist  es  nur  der 
bewußte  Wille,  der  sich  gewendet  hat,  nicht  die  innerlichsten  Triebe 
und  Leidenschaften,  deren  Bedeutung  für  die  Philosophie  Nietzsche 
auch  in  dieser  Zeit  niemals  verkennt.  Und  wenn  er  auch  oft  in  heftigsten 
Ausdrücken  die  Vorherrschaft  des  Intellektes  proklamiert,  der  Unter- 
ton ist  doch  geblieben,  und  der  Intellektualismus  dieser  Epoche  ist 
etwas  recht  Äußerliches,  ein  Joch,  das  der  Philosoph  später  end- 
gültig wieder  abstreift.  — 

Im  Grunde  bleibt  die  Wahrheitstheorie  ganz  die  gleiche  wie 
in  der  ersten  Periode,  nur  ist  Nietzsche  skeptischer  und  kritischer 
in  der  Wertung  der  einzelnen  Wahrheiten.  Aber  vom  Glauben  an 
eine  absolute  Wahrheit  ist  er  weit  entfernt.  Deutlich  spricht  er  es 
im  Anfang  von  „Menschliches-Allzumenschliches"  aus,  daß  es  keine 
absoluten  Wahrheiten  gibt,30)  Und  ebenso  findet  sich  die  pragmatisti- 
sche  Wahrheitsdefinition  klar  und  deutlich  31).  „Die  gewohnten 
Gedanken  sind  deshalb  so  hoch  geachtet,  ja  zur  Pflicht  gemacht, 
weil  sie  eine  Art  Bewährung  haben ;  mit  ihnen  ist  der  Mensch 
nicht  zugrunde  gegangen.  Das  „Nicht-zugrunde-gehen"  gilt  als 
der  Beweis  für  die  Wahrheit  eines  Gedankens.  Wahr  heißt:  „f  ü  r 
die  Existenz  des  Menschen  zweckmäßi g".  Da 
wir  aber  die  Existenzbedingungen  des  Menschen  sehr  ungenau 
kennen,  so  ist,  streng  genommen,  auch  die  Entscheidung  über  w ahr 


30)  Men.schliches-Allzumenschliche.s:  Aph.  2. 
«)  W.  X  S.  186. 


350  Richard   Müller-Freienfels, 

und  u  n  w  a  h  r  nur  auf  den  Erfolg  zu  gründen.  Woran  i  c  h  zugrunde 
gehe,  das  ist  für  mich  nicht  wahr,  d.  h.  es  ist  eine  falsche  Relation 
meines  Wesens  zu  andern  Dingen.  Denn  es  gibt  nur  individuelle 
Wahrheiten  —  eine  absolute  Relation  ist  Unsinn  32). 

Indessen  unterscheidet  sich  doch  diese  Periode  von  der  ersten 
sehr  wesentlich,  wenn  auch  nicht  in  der  Grundanschauung,  so  doch 
in  der  Tendenz.  Und  diese  geht  auf  das  Finden  dauerhafterer, 
festerer,  soliderer  Wahrheiten.  Es  wird  ein  W e r t - 
unterschied  zwischen  den  verschiedenen  Überzeugungen  gemacht, 
nicht  etwa  bloß  nach  ihrer  ästhetischen,  lebensteigernden  Qualität, 
sondern  nach  ihrer  Aussicht '  auf  Stabilität,  darum  hat  der 
Intellekt  hier  seine  Vordergrundstellung,  weil  er  kritisch  die  dauer- 
haften Wahrheiten  von  den  Augenblickserkenntnissen  sondern  kann.32*) 
So  wird  das  Wort  „Wahrheit"  hier  in  einem  prägnanteren  Sinne 
gebraucht,  d.  h.  eine  Erkenntnis,  die  unabhängig  von  der  Augen- 
blickswirkung ist,  ja  die  sogar  Schmerzen  und  Leiden  bereiten  kann 
und  nur  insofern  ein  Wert  ist,  als  sie  für  späterhin  und  für  eine  größere 
Allgemeinheit  Nutzen  und  Sicherheit  verspricht.  Auch  diese  all- 
gemeine Wahrheit  ist  subjektiv,  auch  hier  ist  der  Mensch  das  Maß, 
aber  nicht  mehr  der  Einzelmensch  mit  seinen  Momentangefühlen, 
sondern  der  Typus  Mensch,  der  allerdings  auch  nichts  Ewiges  ist, 
aber  dennoch  gewisse  konstante  Eigenschaften,  Bedürfnisse  und 
Beziehungen  hat. 

So  wird  es  z.  B.  als  Merkmal  einer  höheren  Kultur  gepriesen, 
„die  kleinen  unscheinbaren  Wahrheiten,  welche  mit  strenger  Methode 
gefunden  werden,  höher  zu  schätzen  als  die  beglückenden  und 
blendenden  Irrtümer,  welche  metaphysischen  und  künstlerischen 
Zeitaltern  und  Menschen  entstammen.  —  Aber  das  Mühsam-Errungene, 
Gewisse,  Dauernde  und  deshalb  für  jede  weitere  Erkenntnis  noch 
Folgenreiche  ist  doch  das  Höhere  33).  Indessen,  wenn  man  den  Typus 
des  Menschen  als  Subjekt  der  Erkenntnis  annimmt,  so  darf  doch  nie 
vergessen  werden,  daß  auch  er  keine  ,aeterna  veritas'  ist  34),  sondern 
ein   höchst   wandelbares,    der   Entwicklung   unterworfenes   Wesen." 


82)  W.  III   Aph.  3. 

3-a)  Daß  hier  ein  überaus  wichtiger  Punkt  vorliegt,  der  vom  ameri- 
kanischen Pragmatismus  nicht  scharf  genug  herausgearbeitet  worden  ist, 
habe  ich  ausführlich  dargelegt  in  meinen  „Studien  zum  Pragma- 
tismus."     (Annalen  der  Naturphilosophie  Bd.  VIII.) 

8S)  Ebd.  Aph.  2.  34)  W.  X  S.  165. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  351 

Ein  wichtiger  Schritt  zum  Intellektualismus  hin  von  der  ästheti- 
sierenden  ersten  Periode  weg  ist  auch  die  Verwerfung  der  Intuition, 
die  dort  über  den  'wissenschaftlichen  Methoden  gestanden  hatte. 
„Die  .Erkenntnisse  mit  einem  Schlage',  die  , Intuitionen'  sind  keine 
Erkenntnisse,  sondern  Vorstellungen  von  hoher  Lebhaftigkeit:  so 
wenig  eine  Halluzination  Wahrheit  ist".  35)  —  „Jenes  heiße  brennende 
Gefühl  der  Verzückten:  ,dies  ist  die  Wahrheit',  dies  mit  den  Händen 
greifen  und  mit  Augen  sehen  bei  denen,  über  welche  die  Phantasie 
Herr  geworden  ist,  das  Tasten  an  der  neuen  andern  Welt  —  ist  eine 
Krankheit  des  Intellekts,  kein  Weg  der  Erkenntnis."  36) 

So  sehen  wir  Nietzsche  in  dieser  Periode  der  Absicht  nach  durch- 
aus als  Intellektualisten.  So  kann  er  sich  von  der  Wissenschaft  notieren : 
Alle  Kräfte  in  ihren  Dienst ! 37 )  —  Aber  dem  innersten  Gefühl  nach 
ist  er  nicht  intellektualistisch.  Nirgends  ist  ihm  die  Erkenntnis  ein 
Wert  an  sich.  Überall,  an  hundert  Stellen  in  dieser  Zeit  bricht  es 
heraus,  wie  er  selber  unter  der  strengen  intellektualistischen  Methode, 
die  er  sich  vorgesetzt  hat,  leidet  und  wie  er  immer  und  überall  nach 
einem  tieferen  Sinn  und  Wert  der  Erkenntnis  sucht,  die  ihn  allein 
nicht  befriedigt,  „Wir  sind  gegen  uns  fast  grausam,"  ruft  er  den 
Künstlern  als  wissenschaftlicher  Mensch  zu,  „aber  um  der  Früchte 
willen,  die  ihr  und  aUe  haben  sollt !"  38)  Er  ist  stolz  zuweilen  auf  diese 
Grausamkeit,  er  preist  sie  als  Männlichkeit.  „Allmählich  wird  nicht 
nur  der  Einzelne,  sondern  die  gesamte  Menschheit  zu  dieser  Männ- 
lichkeit emporgehoben  werden,  wenn  sie  sich  endlich  an  die  höhere 
Schätzung  der  haltbaren,  dauerhaften  Erkenntnisse  gewöhnt  und 
allen  Glauben  an  Inspiration  und  wundergleiche  Mitteilungen  von 
Wahrheiten  verloren  hat."  39)  In  dieser  „Grausamkeit  gegen  sich 
selber"  tut  Nietzsche  denn  zuweilen  gar  stolz:  „Wenn  die  Wissen- 
schaft Nutzen  und  Fordernis  bringt,  so  tut  sie  das  wie  die  Natur, 
ohne  es  gewollt  zu  haben."  Und  er  fährt  fort:  „Wem  es  aber  bei  dem 
Anhauche  einer  solchen  Betrachtungsart  gar  zu  winterlich  zumute 
wird,  der  hat  vielleicht  nur  zu  wenig  Feuer  in  sich :  er  möge  sich  indes 
umsehen  und  er  wird   Krankheiten  wahrnehmen,  in  denen  Eisum- 


35)  Ebd.  S.  164. 

36)  S.  167. 
■iT)  S.  168. 

38)  III  Aph.  3. 

39)  Ebd.  Aph.  38. 


352  Richard   Müller-Freienfels, 

schlage  nottun,  und  Menschen,  welche  so  aus  Glut  und  Geist,  zusammen- 
geknetet' sind,  daß  sie  kaum  irgendwo  die  Luft  kalt  und  schneidend 
genug  für  sich  finden."  40)  Ist  es  nicht  fast  belustigend,  daß  er  in  dem- 
selben Atem,  mit  dem  er  eben  die  Zwecklosigkeit  des  Erkennens  ge- 
predigt hat,  gerade  in  dieser  Zwecklosigkeit,  dieser  Kälte  einen  neuen 
Zweck  erkennt? 

Das  aber  ist  es,  was  aus  fast  allen  den  Stellen,  wo  er  in  dieser 
Zeit  von  der  „Wahrheit"  redet,  herausklingt:  ein  unterdrücktes 
Klagen  über  die  Kälte  des  reinen  Denkens,  ein  sich  Mut  machen  und 
ein  beständiges  Suchen  nach  neuen  Lebenswerten  in  diesem  Denken, 
das  eben  seine  alten  Lebenswerte  zerstört.  So  wird  ihm  die  Philosophie, 
wie  allen  Philosophen  vor  ihm,  zur  „Apologie  der  Erkenntnis"  41). 
Ein  neuer  Wert  wird  für  die  Philosophie  nicht  nur  im  Befriedigen 
vonBedürfnissen,  auch  im  Beseitigen  falscher  Bedürfnisse  erkannt  42). 
So  wird  die  Erkenntnis,  die  wahnzerstörende,  zu  süßester  Lockung  43). 
Wieviel  verschiedene  Lust  aus  dem  Erkennen  sprießt,  zählt  ein  langes 
Verzeichnis  auf  44).  Und  wieviel  schöne  Worte  braucht  er,  um  sich 
selbst  vom  Reize  der  Erkenntnis  zu  überzeugen !  45)  Oder  mit  wieviel 
Sophistik  muß  er  sich  vor  sich  selber  verteidigen,  daß  er  noch  nicht 
ganz  Erkenntnis  geworden  ist,  daß  sein  „Ich"  sich  noch  meldet!46) 
Freilich  ist  „der  Trieb  zur  Erkenntnis  noch  jung  und  roh  und  folglich, 
gegen  die  älteren  und  reicher  entwickelten  Triebe  gehalten,  häßlich 
und  beleidigend:  alle  sind  es  einmal  gewesen!  Aber  ich  will  ihn  als 
Passion  behandeln  und  als  etwas,  womit  die  einzelne  Seele  beiseite 
gehen  kann,  um  hilfreich  und  versöhnlich  auf  die  Welt  zurück- 
zublicken: einstweilen  tut  Weltentsagung  wieder  not,  aber  keine 
asketische !"  47)  Überall  schöpft  er  Gründe  zur  Berechtigung  und 
Verteidigung  dieses  Erkenntnistriebes48).  Und  er  tröstet  sich:  „Ich 
meinte,  das  Wissen  töte  die  Kraft,  den  Instinkt,  es  lasse  kein  Handeln 
aus  sich  wachsen.    Wahr  ist  nur,  daß  einem  neuen  Wissen  zunächst 


40)  Bd.  III  Aph.  6.    Dazu  auch  Aph.  7. 

41)  Aph.  27  auch  Aph.  251. 

42)  W.  V  Aph.  450. 

43)  W.  III  Aph.  252. 

44)  W.  III  Aph.  292. 

45)  W.  IV  Aph.  98. 

46)  W.  XI  169. 

47)  Ebd.  169  und  170. 

48)  Ebd.  S.  171. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  353 

kein  eingeübter  Mechanismus  zu  Gebote  steht,  noch  weniger  eine 
angenehme,  leidenschaftliche  Gewöhnung!  Aber  alles  das  kann 
wachsen!  Ob  es  gleich  heißt  auf  Bäume  warten,  die  eine  spätere 
Generation  abpflücken  wird  —  nicht  wir !  Das  ist  die  Resigna- 
tion des  Wissenden!  Er  ist  ärmer  und  kraftloser  geworden,  unge- 
schickter zum  Handeln,  gleichsam  seiner  Glieder  beraubt  —  er  ist 
ein  Seher  und  blind  und  taub  geworden !  49)  Heroismus  ist  es,  der 
Heroismus  der  Entsagung  gegenüber  den  schönen  Trugbildern  der 
Metaphysik  und  Religion,  den  die  Erkenntnis  fordert."  50)  — 

Liest  man  alle  diese  Stellen  (und  noch  viele  andere  Passagen 
sind  in  ähnlicher  Tonart  geschrieben),  so  wird  man  nicht  darüber 
im  Zweifel  sein,  daß  hier  nicht  ein  wirklicher  Intellektualist  redet, 
sondern  einer,  der  Intellektualist  sein  möchte,  der  im  tiefsten  Grunde 
jedoch  etwas  ganz  anderes  ist,  nämlich  ein  Pragmatist,  dem  es  nicht  so 
sehr  auf  die  Erkenntnis  selber,  sondern  auf  ihre  Folgen  ankommt. 
Mag  er  auch  noch  sehr  dagegen  wettern,  daß  man  in  den  Folgen  einer 
Theorie  einen  Beweis  für  die  Wahrheit  sieht  51),  in  Wirklichkeit  ist 
doch  für  sein  Gefühl  auch  eine  Erkenntnis  nur  gerechtfertigt,  wenn 
sie  wertvolle  Folgen  zeitigt.  Er  ist  nur  kritischer  diesen  Folgen  gegen- 
über, aber  er  stellt  doch  die  Forderung  auf:  das  Wohl  der  Menschheit 
muß  der  Grenzgesichtspunkt  im  Bereich  der  Forschung  nach  Wahr- 
heit sein  (nicht  der  leitende  Gedanke,  aber  der,  welcher  gewisse 
Grenzen  zieht) 52). 

Wir  könnten  also  diese  Periode  vielleicht  die  des  kritischen 
Pragmatismus  nennen,  indem  dem  Intellekte  die 
Oberaufsicht  zuerteilt  wird,  darüber  zu  ent- 
scheiden, ob  etwas  als  Wahrheit  anerkannt  werden 
soll  oder  nicht.  Aber  ganz  falsch  wäre  es,  nur  darum,  weil 
uns  Nietzsche  selber  fortwährend  den  Erkenntnistrieb  empfiehlt, 
ihm  zu  glauben,  er  wäre  jetzt  wirklich  ein  Intellektualist  und 
Positivist  geworden!  Im  tiefsten  Grunde  ist  er  durchaus 
Pragmatist  auch  in  dieser  Zeit,  wo  er  gegen  diese 
seine   tiefste   Natur  ankämpft. 


49)  Ebd.  S.  170  und  172. 

50)  W.  V  Aph.  87. 
«)  Ebd.  Aph.  73. 
52j  XI  S.  16. 


354  Richard    Müller -Freienfels, 

IV. 

Schon  im  Jahre  1869  hatte  Nietzsche  an  Freund  Deussen  ge- 
schrieben: „Eine  Philosophie,  die  wir  aus  reinem  Erkenntnistrieb 
annehmen,  wird  uns  nie  ganz  zu  eigen,  weil  sie  nie  unser  eigen  war. 
Die  rechte  Philosophie  jedes  einzelnen  ist  ävdfivrjöig"  — .  Er  hat's 
erlebt.  In  der  dritten  Periode  seines  Denkens  macht  er  sich  frei  von 
den  positivistischen  Einflüssen,  d.  h.  das  dionysisch-pragmatistische 
Temperament  ringt  sich  wieder  durch,  und  nur  als  dienende  Mächte 
behält  er  positivistische  Erkenntnisse  bei.  Sie  treten  ganz  in  den 
Dienst  seiner  ethischen  Ideen,  sie  sind  ihm  nur  Mittel,  um  die 
Autonomie  seines  schöpferischen  Willens  zu  rechtfertigen.  Der 
Pragmatismus  wie  der  Humanismus  sind  ihm  nie- 
mals Zwecke  in  sich,  sie  sind  nur  die  erkenntnis- 
theoretischen Fundamente  für  sein  schöpferisches 
Denken,  das  nach  neuen  Werten  sucht  und  das  darum  vor  allem 
die  Bedingtheit  und  Vergänglichkeit  der  alten  Werte  nachweisen 
muß.  Aus  diesem  Grunde  wird  die  Wahrheit  als  „pragmatistisch"  und 
„humanistisch"  erwiesen  und  der  Wert  der  Fiktionen  ins  hellste 
Licht  geschoben. 

Zunächst  das  pragmatistische  Problem :  Mit  aller  Klar- 
heit und  Schroffheit  wird  jetzt  ausgesprochen,  daß  es  keinen 
reinen  Erkenntnistrieb  gibt,  daß  „Wahrheit"  solche  Theorien 
heißen,  die  sich  nützlich  erweisen,  und  daß  infolgedessen  alle  Wahrheit 
relativ  ist,  kurz,  daß  es  keine  „W  a  h  r  h  e  i  t",  sondern  nur 
Wahrheiten  gibt.  Ich  kann  natürlich  aus  dem  überreichen 
Material  nur  einzelne  typische  Sätze  geben:  vollständig  sein,  würde 
hier  fast  bedeuten,  den  halben  Nachlaß  kopieren.  „Sinn  der  , Erkennt- 
nis' hier  ist,  wie  bei  ,gut'  oder  ,schön',  der  Begriff  streng  und 
eng  anthropozentrisch  und  biologisch  zu  nehmen.  Damit  eine  be- 
stimmte Art  sich  erhält  und  wächst  in  ihrer  Macht,  muß  sie  in  ihrer 
Konzeption  der  Realität  so  viel  Berechenbares  und  Gleichbleibendes 
erfassen,  daß  daraufhin  ein  Schema  ihres  Verhaltens  konstruiert 
werden  kann.  Die  Nützlichkeit  der  Erhaltung  — 
nicht  irgend  ein  abstrakt-theoretisches  Bedürfnis,  nicht  betrogen 
zu  werden  —  steht  als  Motiv  hinter  der  Entwicklung  der  Erkenntnis- 
organe." 53)      „Die   bestgeglaubten    apriorischen    ,  Wahrheiten'    sind 


53 


)  TA.  IX  Aph.  480. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  355 

für  mich  —  Annahmen  bis  auf  weiteres".  54)  „Das  Vertrauen  zur 
Vernunft  und  ihren  Kategorien,  zur  Dialektik,  also  die  Wert- 
schätzung der  Logik,  beweist  nur  die  durch  Erfahrung  bewiesene 
Nützlichkeit  derselben  für  das  Leben:  nicht  deren  , Wahr- 
heit'." 55)  „Es  gibt  vielerlei  Augen.  Auch  die  Sphinx  hat  Augen  — : 
und  folglich  gibt  es  vielerlei  , Wahrheiten',  und  folglich  gibt  es  keine 
Wahrheit."  56)  — Alles  das  sind  Sätze,  die  wortwörtlich  in  den  Schriften 
von  James  stehen  könnten,  teils  sogar  wirklich  stehen  und  die  mit 
aller  Bestimmtheit  bereits  den  „Pragmatismus"  formulieren. 

Freilich  geht  Nietzsche  in  seinem  Skeptizismus  noch  bedeutend 
über  James  hinaus.  Er  macht  keinen  grundsätzlichen  Unterschied 
zwischen  Wahrheit  und  Irrtum,  ja  er  betont  wiederholt,  daß  auch 
die  Täuschung  ihren  Wert  haben  kann,  ein  Satz,  der  besonders  die- 
jenigen Pragmatisten,  die  für  die  Religion  die  Jamesschen  Thesen 
in  allzuweiter  Weise  ausschlachten  wollen,  nachdenklich  stimmen 
muß.  „Die  Falschheit  eines  Urteils  ist  uns  noch  kein  Einwand  gegen 
ein  Urteil57).  , Wahrheit':  das  bezeichnet  innerhalb  meiner  Denk- 
weise nicht  notwendig  einen  Gegensatz  zum  Irrtum,  sondern  in  den 
grundsätzlichen  Fällen  nur  eine  Stellung  verschiedener  Irrtümer 
zu  einander:  etwa,  daß  der  eine  älter,  tiefer  als  der  andere  ist,  viel- 
leicht sogar  unausrottbar,  insofern  ein  organisches  Wesen  unserer 
Art  nicht  ohne  ihn  leben  könnte;  während  andere  Irrtümer  uns  nicht 
dergestalt  als  Lebensbedingungen  tyrannisieren,  vielmehr,  gemessen 
an  solchen  ,Tyrannen'  beseitigt  und  , widerlegt'  werden  können."  58)  — 

Von  dieser  Erkenntnis  aus,  daß  auch  der  Irrtum,  die  Fiktion 
lebenserhaltend  sein  kann,  kommt  Nietzsche  dann  zu  seiner  An- 
erkennung solcher  lebensfördernder  Fiktionen,  des  nützlichen  Scheines, 
was  durch  Vaihinger   bereits  ausführlich   dargestellt  worden  ist  — . 

Um  freilich  dahin  zu  gelangen,  stützt  er  sich  auch  ausführlich 
auf  jene  andere  Form  der  Wahrheitstheorie,  die  den  Namen  „Humanis- 
mus" neuerdings  erhalten  hat.  Er  wird  nicht  müde  zu  wiederholen, 
daß    nicht    ein    abstrakter   Erkenntnisdrang,    sondern  Instinkte, 


54)  Ebd.  Aph.  497. 

55)  Ebd.  Aph.  507. 

56)  Ebd.  Aph.  540. 
M)  Bd.  VIII  Aph.  4. 
58)  TA.  IX  Aph.  535. 


356  Richard   Müller-Freienfels, 

Triebe,  Bequemlichkeit,  vor  allem  aber  der  „Wille  zur 
Macht"  zu  Erkenntnissen  und  "Wahrheiten  geführt  haben. 

Auch  hier  ist  die  Auswahl  der  diesbezüglichen  Stellen  übergroß. 

„Hinter    dem   Bewußtsein   arbeiten   die   Triebe". 59)     „ Auch 

hinter  aller  Logik  und  ihrer  anscheinenden  Selbstherrlichkeit  der 
Bewegung  stehen  Wertschätzungen,  deutlicher  gesprochen,  physiolo- 
gische Forderungen  zur  Erhaltung  einer  bestimmten  Art  von  Leben".60) 
„Es  gibt  keine  unmittelbaren  Tatsachen!  Es  steht  mit  Gefühlen  und 
Gedanken  ebenso:  indem  ich  mir  ihrer  bewußt  werde,  mache  ich 
einen  Auszug,  eine  Vereinfachung,  einen  Versuch  der  Gestaltung: 
das  eben  ist  bewußt  werden:  ein  ganz  aktives  Zurecht- 
machen." 61) 

Alles  das  sind  Sätze,  die  der  Humanist  F.  C.  S.  Schiller  unter- 
schreiben wird  und  die  Kernsätze  für  seine  Philosophie  ausmachen.  — 

Nietzsche  geht  dann  noch  weiter  in  seiner  Theorie  vom  gestal- 
tenden, formenden  Intellekt.    Er  läßt  auch  die  Kategorien  aus  dem 
Bedürfnis  entstanden  sein.    „Es  handelt  sich  nicht  um  metaphysische 
Wahrheiten  bei  .Substanz',  »Subjekt',  ,Objekt',  ,Sein\  , Werden'."62)  — 
„Es  ist  das  Bedürfnis,  nicht  zu  ,erkennen',  sondern  zu  subsummieren, 
zu  schematisieren,  zum  Zwecke  der  Verständigung,  der  Berechnung."  6:i) 
Die  Art  nun,  wie  das  Denken  mit  seinem  Rohstoff  verfährt,  wird  mit 
Vorliebe    als    ein    Schematisieren,    ein    Gleichsetzen, 
ein  Simplifizieren  beschrieben.     Die  Theorie,  die  unter  dem 
Namen  der  „Denkökonomie",  wie  sie  Mach  und  R.  Avenarius  be- 
fürwortet haben,  neuerdings  soviel  von  sich  reden  gemacht  hat,  ist 
an  vielen  Stellen  bereits  deutlich  ausgesprochen  64).     Vor  allem  das 
Gleichsetzen  vom   Ungleichen   im    Begriff   ist   überaus   wichtig. 
„Wie  ein  Feldherr  von  vielen  Dingen  nichts  erfahren  will  und  erfahren 
darf,  um  nicht  die  Gesamtüberschau  zu  verlieren:  so  muß  es  auch 
in  unserem  bewußten  Geiste    vor    allem    einen    ausschlie- 
ßenden,  wegscheuchenden  Trieb  geben,  einen  auslesenden  Trieb, 
welcher  nur  gewisse  Fakta  sich  vorführen  läßt.    Das  Bewußtsein 


59)  W.  XIII  S.  25. 

fi0)  W.  Bd.  VIII  Aph.  3. 

61)  W.  XIV  S.  72. 

62)  TA.  IX  Aph.  513. 

63)  Ebd.  515. 

64)  TA.  Aph.  537  und  538,  W.  XIV  S.  44. 


Nietzsche  und  der  Pragmatismus.  357 

ist  die  Hand,  mit  der  der  Organismus  am  weitesten  um  sich  greift: 
es  muß  eine  feste  Hand  sein.  Unsere  Logik,  unser  Zeitsinn,  Raum- 
sinn sind  ungeheure  Abbreviaturfähigkeiten,  zum  Zwecke  des  Be- 
fehlens.  Ein  Begriff  ist  eine  Erfindung,  der  nichts  ganz  entspricht, 
aber  vieles  ein  wenig:  ein  solcher  Satz,  zwei  Dinge,  einem  dritten 
gleich,  sind  sich  selber  gleich'  setzt  erstens  Dinge,  zweitens  Gleich- 
heiten voraus:  Beides  gibt  es  nicht.  Aber  mit  dieser  erfundenen 
starren  Begriffs-  und  Zahlenwelt  gewinnt  der  Mensch  ein  Mittel, 
sich  ungeheurer  Mengen  von  Tatsachen  wie  mit  Zeichen  zu  bemäch- 
tigen und  seinem  Gedächtnisse  einzuschreiben.  Die  Reduktion  der 
Erfahrungen  auf  Zeichen,  und  die  immer  größere  Menge  von 
Dingen,  welche  also  gefaßt  werden  kann:  ist  seine  höchste 
Kraft."65)  — 

Man  sieht,  worauf  alles  hinaus  will:  auf  denselben  Punkt,  wohin 
auch  die  ethischen  und  kulturphilosophischen  Betrachtungen  Nietzsches 
kulminieren,  den  Willen  zur  Macht.  Und  hierin  hegt  denn 
auch  der  wesentlichste  Punkt,  wenn  er  hinausgeht  über  die  Pragma- 
tisten  und  Humanisten:  nicht  bloß  auf  Erhaltung  des  Lebens 
geht  die  Erkenntnis,  sondern  auf  Steiger  u  n  g  und  Aus- 
breitung, wofür  Nietzsche  den  nicht  unbedingt  glücklichen 
Terminus  Macht  geprägt  hat.  Und  ohne  Zweifel  ist  soviel  richtig : 
Die  bloße  Lebenserhaltung  würde  niemals  den  Fortschritt,  den 
Drang  zu  immer  neuen  Wahrheiten  erklären,  wenn  wir  nichts  als 
tiefstes  biologisches  Prinzip  die  Steigerung  und  Ausbreitung 
des  Typus  setzen.  Indessen  sind  das  Betrachtungen,  die  uns  ab- 
führen von  unserem  Thema. 

Was  ich  hier  feststellen  wollte,  ist  der  eine  Punkt  vor  allem, 
an  dem  die  Geschichte  der  Philosophie  nicht  vorüber  gehen  kann: 
daß  nämlich  sich  bei  Nietzsche  bereits  in  aller  Deutlichkeit  aus- 
gesprochen jene  Gedanken  finden,  die  sich  in  Amerika  als  Pragma- 
tismus, in  England  als  Humanismus  zum  System  ausgewachsen  haben, 
und  die  auch  in  Deutschland  vor  allem  in  der  biologischen  Erkenntnis- 
theorie von  Mach,  Avenarius,  Jerusalem,  Simmel,  Vaihinger  und 
andern  viel  Verwandte  haben.  Was  ich  zu  zeigen  versucht  habe, 
ist,  daß  es  sich  jedoch  bei  Nietzsche  nicht  etwa  um  vorübergehende 


85)  W.  XIV  S.  46,  vgl.  ebd.   S.  3-4  und  35.    TA.  IX  Aph.  511,   512, 
513  u.  a.  m. 


358  Richard    Müller-Freienfels, 

Apercus  handelt ;  vielmehr  hängt  seine  Wahrheitstheorie 
tief  mit  jenen  ethischen,  ästhetischen  und 
psychologischen  Anschauungen  zusammen.  Alles 
aber  ist  nicht  etwa  ein  glänzendes  Irrlichtern  hierhin  und  dorthin, 
wie  man  lange  gemeint  hat,  sondern  es  sind  Bausteine  zu  einem  durch- 
aus einheitlichen  Gebäude,  an  dessen  Vollendung  der  Autor  nur  durch 
ein  jähes  und  tragisches  Schicksal  gehindert  worden  ist. 

Von  seinen  erkenntnistheoretischen  Anschauungen  hat  das- 
selbe zu  gelten,  was  von  seinen  ethischen  gilt.  Wie  diese  nicht  etwa 
eine  willkürliche  subjektive  Theorie  sind,  sondern  (wenn  auch  oft 
übertrieben)  nur  die  Formulierung  einer  aristokratischen  Moral,  die 
tatsächlich  zu  allen  Zeiten,  nur  nicht  formuliert,  gegolten  hat,  so 
ist's  auch  mit  seiner  Erkenntnistheorie:  sie  ist  die  F  o  r  m  u  1  i  e  r  u  n  g 
einer  Anschauung,  die  tatsächlich  im  Leben 
wie  in  der  Wissenschaft  fast  immer  gegolten 
hat:  derjenigen,  daß  die  Wahrheit  sich  „bewähren",  d.  h. 
wirken  und  nützliche  Werte  schaffen  müsse.  —  Ob 
man  vom  philosophischen  Standpunkte  diese  Theorie  annimmt  oder 
ablehnt,  hängt  von  der  philosophischen  Stellungnahme  des  einzelnen 
ab.  Dem  Umstände,  daß  wir  es  mit  der  Formulierung  eines  unge- 
heuer wichtigen,  tatsächlichen  Denkmodus  zu  tun  haben,  tut  das 
keinen  Eintrag. 


XIX. 

Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie. 

Von 
Dr.  Roland  Schacht. 

Was  Kants  Ästhetik,  wie  sie  uns  in  seiner  Kritik  als  Urteils- 
kraft entgegentritt,  von  der  modernen  Ästhetik  scheidet,  ist  sicher 
in  erster  Linie  der  Umstand,  daß  seine  Gedankengänge  von  psycho- 
logischen Erwägungen  so  gut  wie  gänzlich  unabhängig  sind.  Er  sucht, 
wie  einer  seiner  neuesten  Erklärer,  J.  C.  Meredith,  hervorhebt,  die 
Prinzipien  des  reinen,  d.  h.  uninteressierten  Geschmacksurteils  auf, 
ohne  zu  fragen,  ob  denn  auch  dieses  Geschmacksurteil,  wenn  zwar 
möglich,  doch  überhaupt  in  Wirklichkeit  anzutreffen  sei.  Von  diesem 
idealistischen  Standpunkt  ausgehend  sucht  er  das  Problem  vorzugs- 
weise durch  Definitionen  und  logische  Schlüsse  zu  lösen,  während 
die  neuere  Ästhetik  von  beobachteten  psychologischen  Tatsachen 
ausgeht.  Dieser  Unterschied  ist  die  Ursache  davon  gewesen,  daß 
Kants  Ästhetik  bei  den  Neueren,  namentlich  den  Künstlern,  stark 
in  Mißkredit  geraten  ist.  Doch  der  Übereifer  der  Heißsporne  erweckt 
berechtigtes  Mißtrauen:  denn  mag  uns  auch  heute  der  Gedanken- 
gang des  Philosophen  schwer  zugänglich  sein,  mögen  wir  auch  die 
Methode  nicht  mehr  billigen,  es  ist  nicht  grade  wahrscheinlich,  daß 
eine  so  mächtige  Persönlichkeit  wie  Kant  in  einem  seiner  wichtigsten 
Werke  zu  völlig  falschen  Resultaten  gelangt  sei.  Um  so  bemerkens- 
werter ist  darum  ein  kürzlich  von  Seiten  der  Biologie  unternommener 
Versuch,  Kants  Resultate  durch  eigene  Gedankengänge  wiederzu- 
gewinnen und  in  biologischen  Tatsachen  sozusagen  zu  verankern. 

Ästhetik,  die  neuere  jedenfalls,  ist  ein  Janus,  nach  zwei  Seiten 
hingewandt.  Einerseits  sucht  sie  sich  über  die  Tätigkeit  des  Künstlers, 
das  Wesen  des  Kunstschaffens  klar  zu  werden,  anderseits  den  Genuß 
zu  analysieren,  den  der  Aufnehmende  (Beschauer,  Zuschauer,  Hörer) 


360  Roland   Schacht, 

von  Werken  der  Kunst  erfährt.  Gehen  wir  aus  von  der  Tätigkeit  des 
Künstlers  und  nehmen  wir  den  einfachsten  Fall,  den  der  bildenden 
Kunst.  Sie  beginnt  mit  Zierkunst,  Ornamentik.  Was  den  Töpfer 
zum  Künstler  macht,  ist  neben  der  Ebenmäßigkeit  und  Schönheit  der 
Form  die  Hinzufügung  des  Ornamentes.  Van  de  Velde  will  aller- 
dings in  seinem  neuesten  Essayband  schon  die  vollkommene  Zweck- 
mäßigkeit eines  Gegenstandes  als  etwas  Künstlerisches  angesehen 
wissen,  doch  kaum  mit  Recht.  Denn  eine  Brücke  mit  dem  geringsten 
Aufwand  von  Material  und  Arbeit  möglichst  haltbar  und  zweckmäßig 
zu  bauen,  ein  Haus  den  Bedürfnissen  des  Bewohners  entsprechend 
aufzurichten,  einen  Kahn  leicht  und  doch  möglichst  tragfähig  zu 
gestalten,  das  alles  ist  Sache  des  Handwerkers,  eine  im  Grunde  ganz 
selbstverständliche  Sache,  und  daß  Bedingungen  der  Brauchbarkeit 
und  Verwendbarkeit  erst  durch  Heranziehung  von  außerordentlichen 
Kräften,  den  sog.  Künstlern  erfüllt  werden  können,  beweist  nur, 
daß  das  Handwerk  tief  gesunken  ist.  Wollte  man  aber  diese 
Leistungen  schon  mit  Kunst  bezeichnen,  so  müßte  man  diese 
Benennung  auf  jede  Art  vollkommener  Arbeit,  welche  klare 
Vorstellung  des  Ziels  und  Zwecks  und  ökonomische  Beherrschung 
der  zur  Vollendung  nötigen  Mittel  erfordert,  Kunst  nennen,  also 
jedwede  in  Vollkommenheit  ausgeübte  Tätigkeit,  wie  Kriegführen 
und  Lokomotivenbau,  Schneidern  und  Kochen,  Lehrbücher  schreiben 
und  Straßen  pflastern,  Staatsregierung  und  Krankenheilung,  all 
dies  und  noch  viel  mehr  hieße  Kunst,  eine  Ausdehnung  des  Begriffs, 
der  die  Auslöschung  seiner  engeren,  von  uns  allen  sub intendierten,  wenn 
auch  nicht  klar  begrenzten  Bedeutung  zur  Folge  haben  würde.  In 
dem  Begriff  der  Zweckmäßigkeit,  das  Wort  im  weitesten  Sinne  ge- 
nommen, kann  das  eigentliche  Künstlerische  nicht  liegen. 

Künstlerisch  wird  die  menschliche  Tätigkeit  erst,  wenn  sie  einen 
Schritt  über  das  rein  Zweckmäßige  hinaus  tut,  ein  Satz,  den  bereits 
Ruskin  ausgesprochen  hat.  Das  Ornament  auf  einer  Tonschale  hat 
unmittelbar  nichts  zu  tun  mit  dem  Zwecke  des  Gefäßes:  Flüssig- 
keit aufzunehmen,  das  Ornament  ist  „überflüssig"  und  bei  dem 
Überflüssigen  beginnt  eigentlich  die  Kunsttätigkeit. 

Dies  Überflüssige  braucht  darum  noch  nicht  schön  zu  sein.  Es 
kann  z.  B.  bei  plastischen  Ornamenten  den  Gebrauch  des  Gefäßes 
erschweren  oder  gar  hindern  (vgl.  Lessings  Fabel  vom  schöngeschnitzten 
Bogen).    Die  Tätigkeit  der  Ornamentierenden  kann  immerhin  künst- 


Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.  361 


e>* 


lerisch  sein,  aber  das  Resultat  dieser  Tätigkeit  ergibt  etwas  Zweck- 
widriges, Unsinniges  und  alles  Unsinnige,  Widersinnige,  (wohl 
zu  unterscheiden  vom  Sinn  losen  im  Sinne  von  zwecklos,  wie  etwa 
das  Spiel),  wirkt  unangenehm,  häßlich. 

Nun  gibt  es  aber  auch  Zwischenfälle.  Es  ist  gewiß  aus  Gründen 
der  Haltbarkeit  zweckmäßig,  eine  Tür  nicht  einfach  als  ein  Loch 
in  der  Wand  zu  bauen,  sondern  zwei  Pfosten  zu  errichten  und  den 
Sturzbalken  darüber  zu  legen.  Es  ist  aber  überflüssig,  die  Pfosten  in 
der  Breite  stärker  zu  machen  als  die  Wand,  so  daß  sie  um  ein  Geringes 
vorspringen.  Der  Rahmen  der  Tür  tritt  dadurch  hervor  oder  wird, 
wie  wir  sagen,  markiert,  was  natürlich  auch  durch  gemalte  oder  ge- 
schnitzte Ornamente  geschehen  kann.  Bei  weitläufigen  Fassaden  kann 
diese  Markierung  allerdings  noch  den  Zweck  haben,  dem  Fremden 
den  Eingang  leicht  auffindbar  zu  machen,  bei  kleinen  Häusern  hat 
ein  derartiges  Raisonnement  keinen  Sinn.  Hier  also  ist  die  Hervor- 
hebung der  Tür  etwas  Überflüssiges,  somit  Künstlerisches.  Der 
einzige  Zweck,  den  diese  Hervorhebung  haben  kann,  ist  vielmehr  der, 
das  Zweckmäßige  der  Tür  zur  Anschauung  zu  bringen,  ein  Zweck, 
der  mit  der  Bestimmung  des  Gebäudes,  wie  man  leicht  einsieht, 
nichts  mehr  zu  tun  hat. 

Diese  Veranschaulichung  der  Zweckmäßigkeit  ist  also 
Kunst.  Zur  Veranschaulichung  bedarf  ich  des  Vergleichs  oder  klarer 
Bezeichnung.  Im  Grunde  ist  aber  auch  die  klare  Bezeichnung  schon 
Vergleich.  Denn  alle  Sprache  und  Sprachschöpfimg  ist,  soweit  Neu- 
schöpfimg, nicht  Ableitung  in  Betracht  kommt,  Bereicherung  der 
Anschauung  oder  des  Gefühls.  Ich  kann  den  Vogel  nach  seinem  Ge- 
schrei benennen  (Rabe,  Kuckuck),  ich  kann  einen  Gegenstand  nach 
dem  Gefühl  nennen,  das  er  mir  einflößt  (denn  viele  Wörter  sind  ur- 
sprünglich sicher  artikulierte  Interjektionen,  die  dann  nach  Analogie 
vorhandener  Wörter  ausgebildet  worden  sind,  wie  man  anderseits 
auch  Wörter  nachweisen  kann,  deren  Bedeutung  oder  Aussprache 
nach  den  Gefühlen,  die  sich  mit  dem  Objekt  assoziieren,  modifiziert 
weiden).  In  jedem  Falle  bringe  ich  zwei  Dinge  (Angeschautes  und 
Wahrgenommenes,  oder  Angeschautes  und  Gefühlsäußerung)  zu- 
sammen. Die  Fähigkeit,  dies  zu  tun,  nennen  wir  Phantasie.  Die 
Grundlage  der  Veranschaulichung  und  damit  der  Kunst  überhaupt 
ist  also  Phantasie,  die  denn  auch  vielfach  als  die  Grundlage  künst- 
lerischer Tätigkeit  angesehen  worden  ist. 

Arohiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  3.  94 


362  Roland   Schacht, 

Bezeichne  ich  nun,  zunächst  nur  sprachlich,  den  Pfosten  als 
Träger  des  Sturzbalken«,  so  habe  ich  eine  klare  Bezeichnung  ge- 
wählt. Durch  Phantasietätigkeit  habe  ich  den  Pfosten  und  eine 
gewisse  menschliche  Tätigkeit,  das  Tragen,  zusammengebracht  und 
die  Bezeichnung  der  letzteren  auf  den  Pfosten  angewandt.  Mit 
dieser  „Bezeichnung"  habe  ich  aber  auch  gleichzeitig  sein  Dasein, 
wenigstens  soweit  es  sich  in  einer  gewissen  Funktion  ausspricht, 
anschaulich  gemacht.  Also  schon  der  Bezeichnung  hegt  Anschauung 
zugrunde,  und  insofern  ist  schon  sie,  wie  alle  Sprach  Schöpfung,  künst- 
lerisch. Nun  handelt  es  sich  aber  auch  darum,  diese  Funktion  des 
Pfostens  selber,  die  auch  ohne  vorhergehende  sprachliche  Bezeichnung 
allein  durch  Einfühlung  (worüber  weiter  unten)  erfaßt  werden  kann, 
auch  für  das  Auge,  oder  wenn  man  will,  für  den  tektonischen  Sinn 
anschaulich  zu  machen.  Ich  statte  ihn  also  mit  einem  Kapital  aus, 
verleihe  ihm  durch  Verjüngung  etwas  Emporsteigendes,  Stemmendes 
und  mache  das  Tragen  noch  deutlicher,  indem  ich  dem  Sturzbalken 
durch  Ornamente  den  Eindruck  des  Entgegendrückenden,  Lastenden 
verleihe  und  nun  erst  ist  die  Funktion,  der  Sinn  des  Pfostens  als 
Träger  deutlich  zur  Anschauung  gebracht,  All  dies  hat,  ich  wieder- 
hole es,  nur  den  Zweck,  etwas  anschaulich  zu  machen,  mit  dem 
Zweck  des  Gebäudes  hat  es  nichts  zu  tun. 

Zur  größeren  Deutlichkeit  reihe  ich  andere  Beispiele  an.  Bei 
einer  Tonschale  kann  ich  Ausguß  und  Henkel,  die  wichtigsten  Punkte 
durch  Ornamente  hervorheben,  auch  hier  ist  die  Wichtigkeit  der 
betreffenden  Punkte  zur  Anschauung  gebracht.  Oder,  um  auf  die 
Dichtkunst  überzugehen,  man  kann  als  Resume  des  „Faust"  die 
Worte  des  Engelchors  bezeichnen:  „Wer  immer  strebend  sich  be- 
müht, den  können  wir  erlösen."  Man  kann  also  sagen,  im  „Faust" 
wird  ein  Satz  zur  Anschauung  gebracht.  Dies  ist  jedoch,  um  Miß- 
deutungen vorzubeugen,  sei  es  gesagt,  nicht  so  zu  verstehen,  als  sei 
der  Faust  die  Probe  aufs  Exempel,  vielmehr  ist  die  bunte  Handlung- 
unter  dem  Gesichtspunkte  dargestellt,  daß  sie  eine  Idee  zur  Anschauung 
bringt;  erst  durch  die  Anschauung  aber  wird  der  Inhalt  der  Idee 
eindrucksvoll,  faßlich  und  wirksam,  denn  ohne  Anschauung  bleibt 
jede  Sentenz  nur  eine  Reihe  von  Wörtern. 

Natürlich  wäre  es  falsch,  behaupten  zu  wollen,  daß  die  Veran- 
schaulichung der  Idee  das  Ganze,  immerhin  nicht  kleine,  künstlerische 
Verdienst  wäre.    Die  Gretchenepisode  z.  B.,  rein  für  sich  genommen, 


Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.  363 

hat  schon  künstlerische  Reize,  offenbart  künstlerische  Tätigkeit. 
Dies  führt  uns  zu  der  sog.  reinen  Kunst. 

Irgend  eine  Eigenschaft  eines  Objektes  reizt  den  Künstler  zur 
Darstellung,  sei  es  durch  Dichtung,  durch  Malerei  oder  Plastik.  Der 
Psychologe,  der  Anthropologe,  der  Photograph,  allgemein:  der  be- 
schreibende Wissenschaftler  bezeichnet  alle  Eigenschaften,  um  uns 
ein  möglichst  getreues  Abbild  des  Objektes  zu  geben,  der  Künstler  hebt 
eine  Eigenschaft,  die  ihm,  gleichviel  zunächst  einmal  aus  welchem 
Grunde,  der  Hervorhebung  würdig  erscheint,  heraus  und  stellt  sie 
am  Objekt  dar,  und  zwar  der  Deutlichkeit  halber,  auf  Kosten  der 
übrigen.  Man  nennt  diese  Tätigkeit  charakterisieren.  Je  stärker  diese 
Eigenschaften  hervorgehoben  werden,  je  deutlicher  sie  zur  Anschauung 
kommen,  desto  größer  der  Künstler,  darum  sind  die  größten  Künstler 
in  dem  einzelnen  Kunstwerk,  auch  die  einseitigsten  und  deshalb 
haben  genaue  Nachbildungen  nichts  mit  Kunst  zu  tun.  Die  Ursache, 
warum  dem  so  ist,  wird  sich  später  ergeben. 

Der  Grund,  weshalb  eine  Eigenschaft  dargestellt  wird,  ist  nun, 
unzweifelhaft  der,  daß  sie  auf  den  Künstler  besonderen  Eindruck  ge- 
macht hat,  einen  Eindruck,  den  er,  sei  es  mehr  objektiv  (Ausdruck 
der  Anschauung),  sei  es  mehr  subjektiv  (Ausdruck  des  die  An- 
schauung begleitenden  oder  durch  sie  hervorgerufenen  Gefühls) 
wiederzugeben  sucht,  Woher  nun  aber  dies  Bestreben?  Und  wie  ist 
es  möglich,  daß  derselbe  Eindruck  auch  im  Genießenden  wirklich  ent- 
steht? Das  sind  sicher  wie  schon  angedeutet,  die  Kernfragen  der 
Ästhetik. 

Bevor  wir  an  die  Beantwortung  dieser  Fragen  gehen,  schreiten 
wir  den  Kreis  der  Künste  vollends  ab,  denn  noch  haben  wir  weder 
Lyrik  noch  Musik  erwähnt.  Diese  haben  ihren  Ursprung  weder  in 
einer  Idee,  denn  auch  das  Zweckmäßige  ist  ja  eine  Idee,  noch  in 
einer  Eigenschaft  des  Objektes,  sondern,  allgemein  gesagt,  im  Gefühl. 
Sie   drücken    —   für    gewöhnlich    wenigstens  Gefühl    aus    und 

suchen  sie  andern  mitzuteilen,  und  da  Gefühle  nur  durch  Nach- 
erleben erfaßt  werden  können,  suchen  sie  dies  Gefühl  nach-  oder 
miterlebbar  zu  machen. 

Bei  all  diesen  verschiedenen  Arten  der  Künste  nun  sehen  wir, 
daß  die  künstlerische  Tätigkeit  unabhängig  vom  Zweck  dem  Boden 
des  Gefühlslebens  entspringt  und  zur  Äußerung  drängt,  die  wiederum 
zwecklos  ist,  vielmehr  ihren  Zweck  in  sich  selbst  hat.     Indessen  ist 

24* 


364  Roland   Schacht, 

mit  dieser  Feststellung  nicht  viel  gewonnen,  denn  sollen  wir  uns 
nur  mit  der  Tatsache,  daß  dieser  Drang  sich  künstlerisch  mitzuteilen, 
diese  Fähigkeit,  die  künstlerische  Mitteilung  aufzunehmen,  existieren, 
begnügen,  so  ist  für  die  Lösung  unserer  Fragen  nichts  getan,  und 
der  Spekulation  nach  wie  vor  Spielraum  gelassen,  sich  in  Abstraktionen 
mannigfacher  Art  zu  ergehen. 

Nun  aber  hat  ein  Arzt  und  forschender  Biologe,  Oskar  Kohn- 
stamm,  vor  einigen  Jahren  ein  Prinzip  gefunden,  das  wohl  im  engeren 
Kreise  der  Fachgenossen,  z.  B.  bei  R.  H.  France,  aber  leider  nicht  bei 
den  Vertretern  der  Ästhetik  die  Beachtung  gefunden  hat,  die  es  ver- 
dient haben  dürfte.  Mit  Hilfe  dieses  Prinzips  aber  gelingt  es,  die  Er- 
klärungen ästhetischer  Phänomene,  die  sich  früher  in  philosophischen, 
jetzt  in  psychologischen  Abstraktionen  zu  verlieren  drohen,  auf  dem 
Boden  der  Empirie  einzuwurzeln  und  dem  Unerklärlichen  dieser 
Tatsachen  durch  Analoga  aus  der  menschlichen  Biologie  beizukommen. 
Es  ist  dies  kurz  gesagt  das  Prinzip  der  Ausdrucks- 
tätigkeit. 

Kohnstamm  unterscheidet,  wie  er  in  seinem  Schriftchen  „Kunst 
als  Ausdruckstätigkeit.  Biologische  Voraussetzungen  der  Ästhetik" 
(München  1907)  darlegt,  zweierlei  Arten  menschlicher  Tätigkeit: 
Zwecktätigkeit  und  Ausdruckstätigkeit.  Wenn  ich  ein  vor  mir  stehen- 
des Glas  Wasser  zum  Munde  führen  will,  und  zu  diesem  Zwecke  die 
Hand  ausstrecke,  so  hat  diese  Tätigkeit  des  Ausstreckens  einen  Zweck, 
ist  zweckhabend,  zweckhaft.  Sperre  ich  aber  beim  Anblick  eines 
wunderlichen  Objektes  oder  beim  Hören  einer  überraschenden  Neuig- 
keit vor  Erstaunen  den  Mund  (und  wie  wir  übertreibend  hinzusetzen 
auch  die  Nase)  auf,  so  hat  dies  Mundaufsperren  nicht  den  geringsten 
Zweck,  die  Tätigkeit  ist  zwecklos,  ist  lediglich  ein  Ausdruck  des  Er- 
staunens, Ausdruckstätigkeit.  Ziehe  ich  jetzt  das  oben  erwähnte  Bei- 
spiel vom  Türpfosten  heran,  so  werde  ich  sagen:  das  Einstellen,  die 
Anwendung  des  Pfostens  ist  zweckhaft,  also  eine  Zwecktätigkeit; 
daß  ich  jedoch  des  Pfostens  Anwendung  als  Träger  durch  Kapital 
usw.  anschaulich  mache,  zum  Ausdruck  bringe,  ist  Ausdruckstätigkeit. 
Indessen  sind  hiermit  nur  zwei  neue  Worte  gefunden,  die  Hauptfrage 
nach  dem  Ursprung  und  Wesen  dieser  Ausdruckstätigkeit  bleibt  nach 
wie  vor  zu  bestimmen 

Nun  läßt  sich  aus  Vergleich ung  vieler  Beispiele  der  Satz  aufstellen, 
daß  alle  Ausdruckstätigkeit    ganz  allgemein    ursprünglicher  Zweck- 


Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.  365 

tätigkeit  entstammt.  Wenn  ich  jemandem  schlagen  will,  so  balle  ich 
die  Hand  zur  Faust  und  erhebe  sie,  um  den  Schlag  von  oben  herab 
mit  größerer  Wucht  niederfallen  lassen  zu  können:  Zwecktätigkeit. 
Stoße  ich  jedoch  gegen  eine  a  1)  w  e  s  e  n  d  e  Person  Drohungen  aus 
und  dies  bei  starker  Erregung  „mit  drohenden  Fäusten",  so  hat  diese 
Tätigkeit  gar  keinen  unmittelbaren  Zweck,  da  die  betreffende  Person 
ja  gar  nicht  da  ist,  die  Tätigkeit  des  Fäusteerhebens  ist  nur  ein  Aus- 
druck meiner  Gefühle.  Ähnlich  ist  das  Aufsperren  des  Mundes  etwas, 
das  bei  lauten  Geräuschen  als  Zweckbewegung  herbeigeführt  wird, 
um  den  Ausgleich  des  Luftdruckes  in  der  Paukenhöhle  des  Ohres 
zu  erleichtern.  Eine  andere  Ausdruckstätigkeit,  die  Zornesröte,  ent- 
stammt dem  wütenden  Dreinsch lagen,  bei  dem  sich,  wie  bei  allen  Körper- 
anstrengungeu,  die  Hautgefäße  zweckhaft  erweitern.  Der  Ausdruck 
des  Ekels  wehrt  Gerüche  ab  und  stellt  die  Zunge  bereit,  den  Inhalt 
des  Mundes  wieder  nach  außen  zu  befördern.  Die  expressiven  Magen- 
darmerscheinungen der  Angst  leiten  sich  von  Zweckreaktionen  ab, 
die  entstehen,  wenn  schädliche  Substanzen  in  den  Magendarmkanal 
eingebracht  werden.  In  all  diesen  Beispielen,  die  sich  noch  beträcht- 
lich vermehren  ließen,  ruft  ursprünglich  ein  physischer  Reiz,  ein 
Gefühl  und  eine  zweckmäßige  physische  Reaktion  hervor.  Durch 
jahrtausendelange  Gewöhnung,  aber  auch  durch  einmaliges  äußerst 
intensives  Erlebens,  sind  nun  Gefühl  und  Reaktion  assoziativ  so 
fest  miteinander  verbunden,  daß  auch  ohne  Auftreten  des  physischen 
Reizes,  nur  durch  etwas  Psychisches  —  sei  es  Empfindung  (ein  Anblick 
z.  B.),  sei  es  Vorstellung  —  welches  Gefühl  hervorruft,  auch  zu- 
gleich die  dazugehörige  Ausdruckstätigkeit  hervorruft.  Und  da  die 
verschiedenen  Reizreaktionen  der  Stärke  nach  zwar  sehr  nuanciert 
sein  können,  der  Zahl  nach  jedoch  immerhin  beschränkt  sind,  so 
lenken  auch  ähnliche  oder  verwandte  Gefühle  in  die  am  häufigsten 
durchlaufene  Bahn  ein,  so  daß  wir  allgemein  den  Satz  aussprechen 
können:  Ein  Gefühl  sucht  sich  als  Ausdrucksbewegung  unter  dem  vor- 
handenen Material  der  Zweckbewegungen  diejenige  aus,  die  mit  einem 
ihm  möglichst  ähnlichen  Gefühlston  verbunden  ist.  Ein  Physisches 
dient  also  zum  Ausdruck  eines  Psychischen  und  wie  wir  die  Be- 
zeichnung eines  Ideellen  durch  ein  Anschauliches,  ein  Symbol  nennen, 
so  können  wir  sagen,  daß  die  Ausdruckstätigkeiten  nicht  nur  Wir- 
kungen, sondern  auch  Symbole  der  Gefühle  sein  können.  Daher 
kommt  es,  daß  wenn  mir  jemand  etwas  Ekelhaftes  erzählt,  ich  den- 


366  Roland   Schacht, 

selben  Ausdruck  zeige,  wie  wenn  ich  etwas  Ekelhaftes  röche  oder 
kostete,  obwohl  im  ersten  Fall  meine  Tätigkeit  ganz  zwecklos  ist, 
da  es  ja  nicht  nicht  gilt,  einen  physischen  Reiz  abzuwehren.  Ich 
habe  also  reine  Ausdruckstätigkeit. 

Um  Einwänden  zu  begegnen,  sei  darauf  hingewiesen,  daß  mit 
dieser  Konstatierung  natürlich  nicht  gesagt  ist,  daß  Ausdrucks- 
tätigkeit absolut  zwecklos  ist.  Eine  Art  der  Zweckbestimmung 
leuchtet  vielmehr  sofort  ein,  wenn  wir  beispielsweise  an  die  e  r  - 
leich  ternde  Wirkung  eines  Tränenausbruches  denken,  in  welchem 
überschüssige  Menge  Nervenenergie  zur  Entladung,  übermäßige 
Spannungen  zur  Lösung  kommen.  Die  Ausdruckstätigkeit  ist  also 
gewissermaßen  ein  Sicherheitsventil  des  mensch  liehen  Organismus 
und  als  solche  zweck  mäßig,  nicht  aber  zweck  h  a  f  t.  Der  Unter- 
schied wird  sofort  einleuchten,  wenn  ich  ein  anderes  Beispiel  heran- 
ziehe. Mir  kommt  aus  Versehen  ein  Schluck  Säure  in  den  Mund.  In- 
dem ich  ihn  sofort  von  mir  gebe,  übe  ich  eine  Tätigkeit,  die  den  Zweck 
hat,  mich  des  unangenehmen  Reizes  zu  entledigen,  also  eine  Zweck- 
tätigkeit. Wenn  wir  aber  gleichzeitig  dabei  Tränen  in  die  Augen 
treten  und  den  Körper  eine  Gänsehaut  bedeckt,  so  liegt  eine  Aus- 
druckstätigkeit vor,  die  ohne  ersichtlichen  Schaden  auch  fortbleiben 
könnte. 

Diese  Gefühlsentladung  oder  -erleichterung  führt  nun  zur  Er- 
klärung  der  Künste,  die  Gefühle  darstellen  und  ausdrücken.  Lyrik 
und  Musik.  Der  Ausdruck  dieser  Gefühle  erstrebt  nichts,  hat  keinen 
Zweck,  e  r  i  s  t  Zweck,  Selbstzweck. 

Nun  erst,  auf  dieser  psychologisch-biologischen  Grundlage  wird  die 
Notwendigkeit  der  oben  vorgenommenen  Trennung  von  Zweckmäßigkeit 
und  Überflüssigkeit,  von  Handwerk  und  Kunst  einleuchtend,  wird  auch 
den  sog.  Zweckkünsten  wie  Architektur,  Ornamentik,  Dekoration  usw. 
die  richtige  Stellung  angewiesen.  Soweit  das  Gebäude  Behausung  ist, 
gehört  es  zur  Tätigkeit  des  Handwerkers,  soweit  es  diesen  Zweck 
über  das  objektiv  Konstatierbare,  im  Sinne  des  Erbauers  oder  Be- 
wohners zum  Ausdruck  bringt,  gehört  es  zur  Tätigkeit  des  Künstlers. 
Bevor  wir  aber  die  Tätigkeit  des  Künstlers  genauer  umschreiben, 
müssen  wir  noch  die  oben  gestellte  zweite  Hauptfrage  der  Ästhetik, 
wie  der  Aufnehmende  Kunst  genießt,  beantworten. 

Außer  der  Entladung  überstarker  Gefühle  läßt  sich  nämlich  der 
Ausdruckstätigkeit  noch  eine  andere  Art  von  Zweck  m  ä  ß  i  g  k  e  i  t 


Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.  367 

beilegen:  sie  dient  zur  Verständlich  mach  ung,  zur  Mitteilung  der  Ge- 
fühle. Ich  vermag  jemandem  sofort  anzusehen,  ob  er  gedrückter 
oder  freudiger  Stimmung  ist,  noch  bevor  er  sich  durch  die  Sprache 
über  seine  Gefühle  äußert.  Möglich  ist  dies  durch  die  bekannte  Tätig- 
keit, die  wir  „Einfühlung"  nennen.  Ich  nehme,  in  Gedanken 
oder  tatsächlich,  den  gleichen  Ausdruck  an  wie  der  Beobachter 
oder  ahme  seine  Bewegungen  nach,  um  sogleich,  mehr  oder 
weniger  genau,  das  Gefühl,  das  diese  Ausdruckstätigkeit  hervorruft,  in 
mir  wiederzufinden.  Daher  die  Gemeinverständlichkeit  der  Gefühls- 
symbole. Ist  also  Kunst  Ausdruckstätigkeit,  so  komme  ich  zum 
Genuß  des  Kunstwerkes  durch  „Einfühlung",  vermöge  der  Ein- 
fühlung bin  ich  imstande,  das  Kunstwerk  zu  „erleben"  und  aller 
Kunstgenuß  dürfte  letzten  Endes  auf  diese  Bereicherung  unseres 
Gefühlslebens  zurückzuführen  sein. 

Nun  können  wir  aber,  wie  Kohnstamm  richtig  betont  hat,  zweierlei 
Arten  der  Einfühlung  unterscheiden.  Jene,  des  Beschauers  Art, 
sich  einzufühlen  nennt  er  die  rezeptive,  die  des  Künstlers  die  pro- 
jektive. Erstere  kommt  überall  zur  Anwendung,  wo  ein  Gefühlsaus- 
druck bereits  vorhanden  ist,  sei  es  beim  Mitmenschen  oder  im  Kunst- 
werk, also  überall  da,  wro  es  gilt,  einen  Ausdruck  verstehend 
zu  erfassen.  Projektive  Einfühlung  dagegen  findet  statt,  wro 
es  gilt,  die  unbelebte  Natur  zu  beseelen.  Wenn  ich 
von  dem  trotzigen  Charakter  eines  Felsens  spreche,  so  beseele  ich 
den  Felsen  mit  dem  Gefühl,  das  seine  Kontur,  seine  Oberfläche,  Härte 
usw.  in  mir  anregen,  ich  projiziere  dies  Gefühl  in  den  unbelebten  Fels 
hinein  und  fasse  nun  sein  Aussehen  als  Ausdruck  dieses  Gefühls  auf. 
Male  ich  ihn  nun,  so  werde  ich  den  Eindruck  hervorzurufen  suchen, 
als  sei  er  lebendig  und  äußere  sich  in  einer  bestimmten  Weise.  Das 
heißt  die  Natur  beseelen.  Aber  im  Grunde  drückt  der  Künstler  doch 
sein  eigenes  Gefühl  aus,  die  äußere  Form  des  Felsens,  oder  der  Land- 
schaft überhaupt,  gebraucht  er  nur,  um  dies  Gefühl  auszudrücken 
oder  anders  gesagt,  das  Gefühl  ist  der  Inhalt,  das  dargestellte  Objekt 
die  Form.  Und  wie  Inhalt  und  Form  nicht  begrifflich  zu  trennen 
sind,  vielmehr  aufs  lebendigste  miteinander  in  Verbindung  stehen, 
wird  aufs  neue  durch  diesen  Gedankengang  dargetan:  Das  Gefühl 
des  Künstlers  wählt  sich  in  Technik,  Farbe,  Linie,  Form  usw.  den 
ihm  verbundenen  Ausdruck,  welcher  wiederum  durch  die  Gemein- 
verständlichkeit der  Ausdruckssymbole,   die  —  ihrerseits   durch  die 


368  Roland   Schacht, 

Gemeinsamkeit  der  Assoziationen  von  Gefühl  und  Ausdruck  bedingt 
—  vermittelst  der  rezeptiven  Einfühlung,  als  ein  solcher  verständlich 
und  erfaßt  wird. 

Daß  wir  nun  einen  Naturgegen  stand  schön  nennen,  dazu  gehört 
zunächst,  daß  seine  Wahrnehmung  in  uns  ein  angenehmes  Gefühl 
hervorruft,  anderseits  aber,  daß  wir  ihn  vermittelst  der  projektiven 
Einfühlung,  die  jedem  Menschen  in  allerdings  der  Stärke  und  der 
Art  des  Gegenstandes  nach  ungeheuer  verschiedenem  Maße  möglich 
ist,  für  fähig  halten,  der  Träger  dieses  unseres  in  ihn  projizierten 
Gefühls  zu  sein,  und  dies  leicht  und  restlos,  d.  h.  es  darf  an  ihm  keine 
Eigenschaft  bemerkbar  sein,  welche  die  Projizierung  resp.  den  Aus- 
druck dieses  Gefühls  hindert  oder  abschwächt,  und  die  ausdrücken- 
den Qualitäten  müssen  stark  genug  sein,  das  Gefühl  restlos  aufzu- 
nehmen, ohne  daß  etwas  in  uns  übrig  bleibt.  Einen  Gegenstand  so 
anschauen,  heißt  ihn  ästhetisch  anschauen,  und  ist  der  erste  Akt 
des  künstlerischen  Schaffensprozesses.  Der  zweite  ist,  das  Geschaute 
auch  andern  schaubar  zu  machen.  Dies  gelingt,  wenn  das  aus  der  An- 
schauung entstandene  Gefühl  so  stark  wird,  daß  es  nach  Ausdruck 
verlangt x).  Vermöge  der  projektiven  Einfühlung  wird  dann  das 
Objekt  zum  Träger  dieses  Gefühls  gemacht  und  damit  es  dieser 
Träger  sein  kann,  werden  gewisse  Eigenschaften,  die  den  Ausdruck 
hindern,  weggelassen,  (Auswahl,  Stilisierung)  andre  soweit  gesteigert, 
daß  sie  das  Gefühl  stark  wiedergeben  (Steigerung).  Je  naiver  diese 
Auswahl  und  Steigerung  sich  vollziehen,  desto  größer  der  Künstler, 
denn  sowie  sich  zwischen  das  Gefühl  und  die  Äußerung  des  Gefühls 
ein  Willensakt  einschleicht,  erscheint  uns  das  Kunstwerk  „gewollt, 
gedacht,  gekünstelt."  Werden  aber  Eigenschaften  bei  der  Stilisierung 
oder  Steigerung  gar  zu  sehr  von  der  objektiven  Wahrheit  entfernt 
so  daß  sie  unorganisch  wirken  und  die  rezeptive  Einfühlung  durch 
die  Ungewöhnlich keit  uns  nur  noch  schwer  oder  gar  nicht  mehr  mög- 
lich ist,  so  sprechen  wir  von  Manier.  Wir  nennen  also  ein 
Kunstwerk  schön  wenn  wir  es  als  den  restlosen  und  spon- 


x)  Es  sei  übrigens  kurz  darauf  hingewiesen,  daß  es  auch  eine  Art 
von  Malerei  gibt,  (die  man  die  lyrische  nennen  könnte),  welche  nicht  von 
Anschauungen,  sondern  von  Gefühlen  ausgehend,  sich  zu  diesen  Gefühlen 
die  zur  Darstellung  fähigen  Objekte  sucht.  Hierher  dürften,  um  nur  ein 
Beispiel  zu  nennen,  gewisse  Darstellungen  Gustav  Klimts  gehören,  der  oft 
schwierig  zu  analysierenden  Grenzfälle  aber  gibt  es  unzählig  viele. 


Kants  Ästhetik  und  die  neuere  Biologie.  369 

tanen,  also  nicht  gewollten,  also  auch  nicht  zweckhaften  Ausdruck 
eines  starken  Gefühls  empfinden. 

Erst  mit  Hilfe  dieses  neuen  Prinzipes  der  Ausdruckstätigkeit  ge- 
langen demnach  wir  zu  sicheren  Kriterien.  Und  indem  wir  an  Stelle  des 
transzendentalen  das  biologische  Subjekt  treten  lassen,  das  Gefühle 
ausdrückt,  erscheint  uns  Kants  objektiv  ganz  richtige  Beobachtung, 
daß  ein  ästhetisches  Urteil  ,,auf  jedermanns  Beistimmung  recht- 
mäßigen Anspruch  machen"  kann,  nicht  nur  eine  logische  Möglich- 
keit, sondern  eine  greifbare  Tatsache,  die  ihren  Grund  in  dem  ein- 
deutigen und  zwingenden  Zusammenhang  hat,  den  man  zwischen 
Gefühlszuständen  und  ihren  Äußerungen,  und  zwar  als  etwas  den  nor- 
malen Menschen  Gemeinsames  nachweisen  kann.  Aber  auch  der 
Trieb  des  Menschen  zur  Kunst  und  zu  ihrem  wissenschaftlichen  Ver- 
ständnis erscheint  nicht  mehr  als  eine  unerklärliche  und  aus  vagen 
Spekulationen  als  „höher"  erklärte  Luxustätigkeit,  sondern  als 
organisch  mit  dem  tiefsten  Wesen  des  Menschen  verbunden  und  not- 
wendig aus  ihm  hervorgehend. 


XX. 

Zu  Heraklit. 

Von 
Dr.   Ernst  Arndt,  Oberlehrer  in  Essen. 

Die  Frage  nach  Heraklits  erkenntnistheoretischem  Standpunkt, 
wenn  davon  überhaupt  die  Rede  sein  kann,  schien  mir  befriedigend 
beantwortet  zu  sein,  und  der  Streit  würde  nun  ruhen,  dachte  ich. 
Daß  die  Meinungen  noch  immer  auseinandergehen,  beweist  mir  die 
Rezension  meiner  Abhandlung  über  die  Erkenntnistheorie  bei  den 
Vorsokratikern  l)  durch  Lortzing  2).  Nun  hat  aber  gar  E.  Loew  eine 
Ansicht  vorgetragen  und  weiter  zu  verteidigen  gesucht  3),  die,  falls 
sie  Beachtung  fände,  geeignet  wäre,  große  Verwirrung  anzurichten. 
Ich  betrachte  es  deshalb  als  meine  Aufgabe,  erstens  meine  Ansicht 
noch  einmal  kurz  darzulegen  und  zweitens  die  von  Loew  vorgetragene 
Ansicht  a  limine  abzuweisen. 


x)  E.  Arndt,  Das  Verhältnis  der  Verstandeserkenntnis  zur  sinnlichen 
in  der  vorsokratischen  Philosophie.  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer 
Geschichte,  herausgegeben  von   B.   Erdmann,  Halle  a.   S.    1908,  Niemeyer. 

2)  Berliner  Phil.  Wochenschrift  1911,  S.  505  ff.  Lortzing  vermißt  in 
meiner  Arbeit  die  Behandlung  der  Sophisten.  Diese  habe  ich  mit  gutem  Grunde 
ausgeschlossen,  weil  ich  sie  nicht  behandeln  zu  können  glaubte,  ohne  auf  die 
Erkenntnistheorie  Piatos  einzugehen.  Ich  gestehe  gern,  daß  ich  trotz  ein- 
dringender Studien  mir  ein  eigenes  Urteil  hierüber  noch  nicht  erarbeitet  habe. 
Eine  Fortsetzung  der  Arbeit  würde  dies  zu  bringen  haben.  Einstweilen  wollte 
ich,  was  ich  gewonnen  zu  haben  glaubte,  nicht  unbenutzt  liegen  lassen.  Bei 
der  Anordnung  war  für  mich  maßgebend,  daß  ich  die  Eleaten  nicht  voneinander 
trennen  wollte;  die  Pythagoreer  nahm  ich  voraus,  damit  sie  nicht  nachher 
die  fortlaufende  Kette  störten. 

3)  I.  Dr.  Emanuel  Loew,  Heraklit  im  Kampfe  gegen  den  Logos,  Jahres- 
bericht des  Sophiengymnasiums  in  Wien,  1908.  IL  Derselbe,  Parmenides 
und  Heraklit  im  Wechselkampfe,  Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 
Bd.  24,  Heft  3,  343  ff.     Der  Einfachheit  wegen  zitiere  ich  I  und  IL 


Zu  Heraklit.  371 

Daß  ich  „dem  innersten  Wesen  der  Heraklitisehen  Philosophie 
nicht  gerecht  geworden"  sei  (Lortzing  S.  507),  ist  ein  harter  Vorwurf. 
Ich  glaube  ihn  zwar  nicht  ganz  verdient  zu  haben,  kann  mir  aber  wohl 
denken,  wie  Lortzing  zu  seinem  Urteil  gekommen  ist.  Da  ich  einer- 
seits die  Philosophie  der  Vorsokratiker  nur  von  einem  bestimmten 
Gesichtspunkt  aus  betrachtete  und  anderseits  für  das  Wichtigste 
hielt,  verkehrte  Anschauungen  zu  bekämpfen,  haben  meine  Aus- 
führungen von  selbst  etwas  Einseitiges  und  Negatives  bekommen. 
So  kam  es  mir  bei  Heraklit  darauf  an,  die  Meinung  zu  widerlegen,  daß 
Heraklit  reiner  Rationalist  sei,  eine  Meinung,  die  seit  Sextus  Em- 
piricus  sich  nicht  mehr  hat  ausrotten  lassen.  Ich  habe  den  Philosophen 
dabei  nicht  zum  reinen  Sensualisten  machen,  sondern  zeigen  wollen, 
daß  beide  Bezeichnungen  nicht  passen,  Heraklit  vielmehr  theoretisch 
gar  keine  Stellung  zu  der  Frage  genommen  hat,  praktisch  einen  ver- 
mittelnden Standpunkt  einnimmt. 

Ich  habe  nicht  behauptet,  daß  Heraklit  das  Zeugnis  der  Sinne 
für  völlig  ausreichend  halte:  der  ordnende  Verstand  kann  nicht 
fehlen. 

Ich  weiß  nicht  recht,  ob  Lortzing  selbst  noch  an  der  Behauptung 
Zellers  festhalten  will,  daß  für  Heraklit  das  Zeugnis  der  Sinne  trüge- 
risch sei.  Wenn  das  der  Fall  ist,  möchte  ich  die  Worte  sehen,  auf  die 
er  den  Beweis  dafür  stützt  und  die  ich,  wie  er  sagt,  beiseite  lasse. 

Meine  Beweisführung,  sagt  Lortzing,  werde  schon  dadurch  hin- 
fällig, daß  sie  auf  einer  falschen  Prämisse  beruhe.  Es  sei  nicht  wahr, 
daß  uns  unsere  Sinne  das  xdvra  (>tl  lehrten;  sie  zeigten  uns  viel- 
mehr in  der  Natur  neben  rastloser  Bewegung  auch  scheinbaren  Still- 
stand. Als  Beispiel  hierfür  nimmt  Lotzing  die  doppelte  Bewegung 
der  Erde,  die  wir  nicht  mit  unseren  Augen,  sondern  nur  mit  dem  Ver- 
stände erkennen  könnten.  Daß  wir  die  Bewegung  der  Erde  nicht 
mit  den  Augen  sehen,  sondern  nur  erschließen  und  berechnen  können, 
stimmt;  aber  das  Beispiel  ist  sehr  schlecht  gewählt  für  das,  was  Lortzing 
beweisen  will.  Es  kommt  ja  doch  gar  nicht  darauf  an,  ob  unsere  Sinne 
uns  in  Wirklichkeit  Stillstand  vortäuschen,  wo  Bewegung  vorhanden 
ist.  Es  kommt  vielmehr  darauf  an,  ob  für  Heraklit  Fälle  vorlagen,  in 
denen  er  erklären  mußte:  hier  konstatieren  die  Sinne  Stillstand,  der 
Verstand  erkennt  Bewegung.  Mit  andern  Worten,  Lortzing  mußte 
ein  Beispiel  aus  dem  Gesichtskreis  des  Heraklit  wählen,  nicht  die 
Bewegung  der  Erde,  die  auch  Heraklit  bei  aller  Verstandesschärfe 


372  Ernst   Arndt, 

nicht  erkannt  hat.  Warum  bleibt  Lortzing  nicht  bei  dem  Beispiel, 
das  Heraklit  selbst  so  hebt,  bei  dem  Strom?  An  dem  läßt  sich  so  gut 
im  Sinne  Heraklits,  wie  wir  meinen,  der  Unterschied  zwischen  dem 
richtigen  und  dem  verkehrten  Gebrauch  der  Sinne  klarlegen.  Wer 
seine  Sinne  unvollkommen  gebraucht,  weil  er  zu  ungebildet  ist  (das 
ist  doch  ßaQßccQog  in  Fragment  107),  der  sagt:  „Das  ist  derselbe 
Fluß";  wer  aber  seine  Sinne  richtig  gebraucht,  unter  Zuhilfenahme 
des  Verstandes  natürlich,  der  erkennt,  daß  das  Wasser  beständig 
weiterfließt. 

Es  ist  mir  gar  nicht  eingefallen,  Heraklit  zum  exakten  Natur- 
forscher stempeln  zu  wollen.  Im  Gegenteil,  ich  weiß  mich  voll- 
kommen einig  mit  Lortzing,  wenn  er  sagt,  daß  Heraklit  einer  der 
tiefsten  Denker  des  Altertums  gewesen  sei.  Es  ist  mir  so  selbst- 
verständlich, daß  die  ewig  gültigen  Sätze  der  Heraklitischen  Philo- 
sophie nicht  auf  sinnlicher  Beobachtung,  sondern  auf  Gedanken- 
arbeit beruhen,  daß  ich  es  gar  nicht  für  nötig  gehalten  habe,  das 
besonders  hervorzuheben.  „Sein  Gesetz  eines  ewigen  Flusses",  sagt 
Lortzing,  „konnte  er  nur  durch  eine  geniale  Intuition  und  einen  kühnen 
Analogieschluß  gewinnen."  Mit  dem  Wort  „Intuition"  wird,  scheint 
mir,  gemeinhin  etwas  Mißbrauch  getrieben.  Daß  Lortzing  aber  selbst 
von  einem  Analogieschluß  spricht,  freut  mich  sehr.  Wenn  Heraklit 
einen  Analogieschluß  machte,  muß  doch  wohl  etwas  vorhanden  ge- 
wesen sein,  wonach  er  schloß.  Was  kann  das  anderes  sein,  als  Beob- 
achtungen, die  der  Philosoph  mit  Hilfe  der  Sinne  in  der  Natur  ge- 
macht hat!  Denkt  man  sich  nun  den  Philosophen  zurückschließend 
von  dem  ewig  waltenden  Weltgesetz,  das  er  erkannt  hat,  auf  die 
Vorgänge  in  der  Natur,  so  kann  man  sich,  scheint  mir,  recht  gut  vor- 
stellen, daß  Heraklit  der  Menge  zuruft:  Macht  nur  die  Augen  und 
die  Ohren  auf ;  dann  könnt  ihr  das  waltende  Gesetz  auch  in  der  Natur 
erkennen.  Mehr  habe  ich  nicht  behaupten  wollen.  Es  liegt  mir  sehr 
fern,  dem  Heraklit  die  Behauptung  zuzuschreiben,  durch  Augen  und 
Ohren  allein  könne  man  inne  werden,  daß  die  verborgene  Harmonie 
besser  sei  als  die  sichtbare  usw.  (Lortzing  S.  509). 

Ich  wiederhole  also,  daß  es  mir  einzig  und  allein  darauf  ankam, 
zu  zeigen,  daß  Heraklit  kein  bewußter  Verfechter  der  Verstandes- 
erkenntnis im  Gegensatze  zu  sinnlicher  Erkenntnis  ist.  Daß  Heraklit 
das  Zeugnis  der  Sinne  für  durchaus  trügerisch  erklärt,  läßt  sich  meiner 
Meinung  nach  nicht  beweisen.    Ebenso  wenig  läßt  sich  umgekehrt  be- 


Zu  Heraklit.  373 

haupten,  daß  er  sinnlicher  Beobachtimg  irgend  welchen  Vorzug  vor 
begrifflichem  Denken  eingeräumt  habe.  Mit  dieser  Erklärung,  meine 
ich,  müßte  auch  Lortzing  zufrieden  sein,  und  er  würde  vielleicht  bei 
einer  zweiten  Lektüre  meiner  Abhandlung  erkennen,  daß  ich  nicht 
mehr  behauptet  habe.  Heraklits  Standpunkt  geben  immer  noch 
am  besten  die  nun  schon  so  oft  zitierten  Verse  von  Goethe  an: 

Den  Sinnen  hast  du  dann  zu  trauen, 

Kein  Falsches  lassen  sie  dich  schauen. 

Wenn  dein  Verstand  dich  wach  erhält. 
Ich  möchte  also  Herrn  Professor  Lortzing,  dessen  Urteil  ich  sehr 
hoch  schätze  und  dessen  gewissenhafte  Art  der  Rezension  ich  ver- 
schiedentlich bewundert  habe,  allen  Ernstes  bitten,  den  Abschnitt 
meiner  Abhandlung,  der  über  Heraklit  handelt,  noch  einmal  zu  lesen; 
dann  wird  er  hoffentlich  sehen,  daß  er  zu  scharf  geurteilt  hat. 

Daß  meine  Auffassung  von  der  Lehre  des  Pannenides  (meine 
,, absonderliehe  Vermutung  über  das  Verhältnis  der  'Alrjd-sia  zur 
Ao^cc",  Lortzing  S.  507)  auf  Widerspruch  stoßen  würde,  mußte 
ich  mir  vorher  sagen.  Trotzdem  werde  ich  mich  auch  durch  erneute 
Hinweise  auf  Stellen,  die  das  Gegenteil  zeigen  sollen,  nicht  von  der 
Überzeugung  abbringen  lassen,  daß  Parmenides  in  der  "Ah'ftua 
nicht  von  Einzeldingen,  sondern  nur  von  der  Gesamtheit  des  welt- 
erfüllenden Stoffes  spricht.  Auch  für  meine  Ausführungen  über 
Demokrit  habe  ich  nicht  auf  ungeteilten  Beifall  gerechnet.  AVer  den 
Stoff  kennt,  weiß,  wie  schwierig  die  Probleme  hier  sind,  und  solange 
keine  aUgemein  befriedigende  Lösung  gefunden  ist,  wird  sich  jeder 
damit  begnügen  müssen,  so  viel  davon  zu  verstehen,  wie  er  für  möglich 
hält. 

Einen  großen  Schmerz  aber  hat  mir  Lortzing  dadurch  bereitet, 
daß  er  mich  in  einem  Atemzuge  genannt  hat  mit  E.  Loew.  Dessen 
Ausführungen  über  das  Verhältnis  des  Heraklit  zu  Parmenides 
haben  mich  bei  der  ersten  flüchtigen  Durchsicht  frappiert,  frappiert 
deswegen,  weil  es  mir  erstaunlich  schien,  daß  man  aus  dem  Heraklit 
etwas  so  ganz  anderes  herauslesen  könne.  Beim  näheren  Zusehen 
mußte  aber  an  die  Stelle  des  Staunens  sofort  die  Erkenntnis  treten, 
daß  man  den  Heraklit  s  o  n  i  c  h  t  verstehen  könne.  Eine  Widerlegung 
dieser  neuen  Interpretation  scheint  mir  aus  einem  doppelten  Grunde 
geboten.  Erstens  hat  der  Verfasser,  der  eine  Ansicht  ernst  halt  vor- 
trägt, ein   Recht  ernst  genommen  zu  werden  und  den  berechtigten 


374  Ernst   Arndt, 

Wunsch,  entweder  Anerkennung  zu  finden  oder  widerlegt  zu  werden. 
Zweitens  muß  verhütet  werden,  daß  eine  so  unmögliche  Auffassung 
in  den  Köpfen  derjenigen,  die  sich  in  die  Probleme  einarbeiten  wollen, 
Verwirrung  anrichtet.  Die  Widerlegung,  scheint  mir,  müßte  recht 
kurz  sein  können.  Denn  es  ist  nicht  nötig,  alle  Einzelheiten  der  Beweis- 
führung Loews  zu  widerlegen:  zieht  man  die  Fundamente  weg,  so 
fällt  das  ganze  überkünstliche  Gebäude  von  selbst  zusammen. 

Loews  Ansicht  ist,  nicht  nur  Parmenides  hätte  in  bewußtem  Gegen- 
satz zu  Heraklit  geschrieben,  sondern  umgekehrt  auch  Heraklit  den 
Parmenides  bekämpft.  Der  Logos  also,  von  dem  Heraklit  spricht, 
sei  nicht  ein  Terminus  des  Heraklit,  woran  wohl  bis  jetzt  niemand 
gezweifelt  hat,  sondern  überall,  wo  Heraklit  den  Ausdruck  gebrauche, 
habe  er  den  von  Parmenides  geprägten  Begriff  im  Auge  und  verwerfe 
und  bekämpfe  ihn,  wie  er  alles  vernunftmäßige  Denken  gegenüber 
der  Naturbeobachtung  verwerfe.  Loew  sucht  zuerst  die  zeitliche 
Möglichkeit  eines  solchen  Wechselkampfes  zu  beweisen  und  dann 
seine  Ansicht  durch  Erklärung  einer  Anzahl  von  Stellen  bei  beiden 
Philosophen  zu  stützen. 

Die  Frage  der  Chronologie  zunächst  kann  ganz  beiseite  gelassen 
werden.  Man  darf  ruhig  zugeben,  daß  Heraklit  von  der  Philosophie 
des  Parmenides  Kenntnis  gehabt  haben  kann,  als  er  seine  Aphorismen 
niederschrieb,  ebenso  wie  Parmenides  die  Lehre  des  Heraklit  gekannt 
hat,  was  man  jetzt  wohl  allgemein  zugibt.  Diese  theoretische 
Möglichkeit  hilft  aber  gar  nicht,  solange  die  Tatsache  nicht  erwiesen 
ist,  daß  sich  Heraklit  wirklich  gegen  Parmenides  wendet.  Die  einzige 
Frage,  um  die  sich  die  ganze  Sache  dreht,  ist  einfach:  Ist  der  Xoyoc, 
von  dem  Heraklit  spricht,  sein  eigener  oder  der  des  Parmenides? 
Ferner  beweist  das  Schweigen  der  Gewährsmänner  (Plato,  Aristoteles 
usw.)  über  den  loyog  bei  Heraklit  gar  nichts.  Die  Voraussetzung 
dafür  wäre,  daß  löyog  für  Heraklit  ein  sehr  bedeutsames  Wort 
gewesen  wäre.  Das  ist  aber  gar  nicht  der  Fall;  in  Wirklichkeit  ist 
das  Wort  Xoyog,  das  in  der  späteren  Philosophie  allerdings  eine  große 
Rolle  gespielt  hat,  bei  Heraklit  ganz  harmlos:  es  ist  weiter  nichts  als 
eine  von  den  vielen  Bezeichnungen  für  das  große  Weltgesetz,  das 
Heraklit  entdeckt  hat.  Da  es  eine  feste  philosophische  Terminologie 
noch  nicht  gab,  gebraucht  Heraklit  eine  ganze  Anzahl  von  Worten 
ungefähr  in  dem  gleichen  Sinn:  xoöfiog,  vÖjwq  9-slog,  noksfioq, 
aQ/<orb],     ttf/aQf/trr/,     dväyxrj,     sv    to    öorpor.       (Vergl.    meine 


Zu  Heraklit,  375 

Abhandlung  S.  13.)  Man  braucht  sich  also  nicht  darüber  zu  ent- 
setzen, daß  Plato  und  Aristoteles  vom  Xoyog  des  Heraklit  nicht  reden, 
und  von  einer  Logos  lehre  Heraklits  zu  sprechen  wäre  ganz  ver- 
kehrt. Logos  ist  gar  kein  Hauptbegriff  für  Heraklit,  darin  hat  Loew 
recht  (1 7,  vgl.  II 347),  und  von  einer  Logos  lehre  kann  man  überhaupt 
erst  seit  den  Stoikern  reden.  Erst  für  die,  die  den  Heraklit  als  einen 
der  Ihrigen  in  Anspruch  nehmen,  wird  der  Xoyog  Heraklits  wichtig. 
Loews  Ansicht  steht  nicht,  aber  fällt  mit  der  richtigen  Erklärung 
des  ersten  Heraklitfragmentes.  Daß  seine  Erklärung  nicht  richtig 
sein  kann,  lehrt  eigentlich  ein  Blick  auf  seine  verschrobene  Über- 
setzung, neben  die  er  selbst  zum  Vergleich  die  einfache  und  klare 
Übersetzung  von  Diels  setzt  (1 16,  II 355).  Aber  es  ist  auch  nicht  schwer, 
seine  Irrtümer  einzeln  aufzuzeigen.  Unhaltbar  eigentlich  ist  schon 
seine  Beurteilung  des  Textes.  Auf  Sextus  Empiricus  allerdings  kann 
man  sich  nicht  verlassen;  wo  sein  Text  in  Zitaten  sich  durch  gewissen- 
haftere Schriftsteller  verbessern  läßt,  wird  man  es  ohne  Bedenken 
tun.  Ebenso  berechtigt  übrigens  ist  es,  an  den  Berichten  des  Sextus 
über  die  philosophischen  Lehren  der  Vorzeit  die  schärfste  Kritik 
zu  üben;  in  der  Beziehung  traut  man  ihm  immer  noch  zu  viel.  Aber 
eine  unbefangene  Beurteilung  der  Überlieferung  bei  Aristoteles  lehrt, 
daß  das  tov(V  in  den  Text  gehört.  Das  beweist  für  eine  verständige 
Rezension  gerade  die  Verderbnis  der  Lesart  in  Ac  (tov  diovroc). 
Dies  ist  ohne  Verständnis  oder  Aufmerksamkeit  abgeschrieben:  in 
den  andern  Handschriften,  deren  Überzahl  gar  kein  Gewicht  hat, 
ist  das  d  weggelassen,  weil  es  nicht  verstanden  wurde.  Wird  das  6 
gelesen,  so  ist  die  ganze  Kombination  von  Loew  unmöglich.  Sie  ist 
aber  noch  aus  einem  andern  schwerer  wiegenden  Grunde  unmöglich. 
Loew  wollte  (in  seinem  ersten  Aufsatz)  6  loyog  tov  eövrog  über- 
setzen: der  (abstrakte)  Begriff  des  Seienden,  das  soll  heißen:  der 
Begriff:  das  Seiende.  Ich  bestreite,  daß  dieser  Gebrauch  des  Genetivs 
im  Griechischen  möglich  ist,  und  solange  Loew  nicht  beweist,  daß 
man  griechisch  so  sagen  kann,  muß  ich  seine  Deutung  für  unmöglich 
erklären.  An  diesem  einen  Irrtum  aber  scheitert  Loews  ganze  Auf- 
stellung. Es  ist  ihm  nun  offenbar  bei  diesem  Griechisch  selbst  nicht 
ganz  wohl  gewesen.  Deshalb  wählt  er  in  der  zweiten  Abhandlung 
eine  andere  Übertragung:  Berechnung  des  Seienden.  Jetzt 
könnte  es  mit  dem  Genetiv  seine  Richtigkeit  haben,  wenn  nun  nur 
die  Übersetzung    von  Xoyog   stimmte.     Loew  behauptet  zwar,  daß 


376  Ernst   Arndt, 

„Berechnung"  die  Grundbedeutung  von  Xöyoc,  sei;  aber  den  Beweis 
ist  er  schuldig  geblieben,  und  die  Behauptung  wird  nicht  wahrer  da- 
durch, daß  sie  mehrmals  wiederholt  wird. 

An  andern  Stellen  tut  Loew  der  griechischen  Sprache  noch  mehr 
Gewalt  an,  z.  B.  toZ  Xöyov  rov  Iovtoq  t-vvov  in  Fr.  2  (schon  der 
Text  ist  selbstgemacht!)  läßt  er  abhängen  von  löla  tpQovrjöiq,  und 
das  Ganze  soll  dann  heißen:  „eine  eigene  Auffassung  (ein  eigenes 
Denken)  von  dem  Begriffe,  das  Seiende  sei  ein  Gemeinsames"  (I  25.). 
Xoyog  rov  Iovtoq  gvvov  soll  also  heißen:  der  Begriff,  das  Seiende 
sei  ein  Gemeinsames.  Abgesehen  davon,  daß  das  kein  Deutsch  ist, 
daß  das  deutsche  Wort  „Begriff"  hier  schon  falsch  gebraucht  wird: 
wann  und  wo  wäre  ein  .solches  Griechisch  erhört  gewesen?  „Eine 
paradox  klingende  Verbindung,"  sagt  Loew,  aber  er  traue  sie  dem 
Heraklit  wohl  zu !  Wer  das  einem  griechischen  Schriftsteller  zutraut, 
dem  sind  auch  alle  die  andern  unmöglichen  und  unglaublichen  Inter- 
pretationen zuzutrauen,  die  Loew  vorbringt.  Daß  sie  alle  einzeln 
widerlegt  werden,  kann  er  nicht  verlangen;  herausgekommen  ist 
bei  seinen  Erklärungsversuchen  ein  Gemisch  von  einzelnen  richtigen 
Beobachtungen  und  eine  Fülle  von  falschen  Beobachtungen  und 
verkehrten  Schlüssen.  Richtig  ist  die  Beobachtung,  daß  Parmenides 
scharf  unterscheidet  zwischen  XoyoQ  und  övofia  (I  19  ff.).  Xoyog  ist, 
wie  er  mit  Recht  sagt,  ein  bedeutungsvoller  Begriff,  ovo/ta  ein  wesen- 
loser Name,  wie  wir  es  gar  nicht  anders  erwarten  nach  dem  allgemeinen 
griechischen  Sprachgebrauch.  Nun  sollen  aber  bei  Heraklit  diese 
beiden  Worte  ungefähr  den  umgekehrten  Sinn  haben;  das  verlangt 
Loews  Theorie,  der  sich  alles  fügen  soll,  mag  es  wollen  oder  nicht.  Zum 
Beweis  nimmt  er  ein  Beispiel  wie  den  Spruch  des  Heraklit:  tcö 
ovv  to$co  ovofta  ßiog,  toyov  6h  {rdvazog.  Das  soll  heißen 
(I  22):  „Des  Bogens  Name  u  n  d  W  e  s  e  n  ist  Leben,  sein  Wirken  ist 
Tod."  Es  braucht  nicht  gesagt  zu  werden,  daß  ovofia  natürlich  hier 
genau  wie  bei  Parmenides  „Name"  bedeutet,  „wesenlose  Bezeichnung", 
während  der  Begriff  „Wesen"  in  toyor  hegt.  Das  will  doch  gerade 
Heraklit  sagen,  daß  ein  Ding  wie  der  Bogen  ßiog  heißt,  während 
sein  Wirken  „und  W  e  s  e  n"  d-dvarog  ist.  So  schlägt  sich  hier 
und  sonst  Loew  mit  der  selbstgeschmiedeten  Waffe.  Ein  Meisterstück 
verkehrter  Interpretation  ist  die  Verbindung  der  beiden  Heraklit- 
fragmente  19  und  73  (II  358).  Loew  hat  richtig  gefunden,  daß  Parme- 
nides einen  Unterschied   macht  im  Gebrauch  von  XoyoQ  und  Ijtoq 


Zu  Heraklit.  377 

{XöyoQ  zuverlässige  Rede,  exsa  unzuverlässige  Worte),  und  treffend 
ist  auch  seine  Bemerkung  über  den  Umschlag  im  Metrum:  „Die. zahl- 
reichen Spondeen  im  ersten  Teile  malen  den  erhabenen  Ernst  des 
loyog,  die  reinen  Daktylen  im  zweiten  Teile  das  geschwätzig  Schnelle 
der  8Jteau  (II  357).  Geradezu  tragikomisch  ist  es  nun  aber  zu 
sehen,  welchen  Gebrauch  Loew  den  Heraklit  in  seinem  „Kampfe  gegen 
Parmenides"  von  denselben  Worten  machen  läßt.  Für  ihn  muß 
Xsyetv  bedeuten:  „rationalistisch  zum  Ausdruck  bringen",  sbtslv: 
,,Das  Wahrgenommene  zum  konkreten  Ausdruck  bringen."  Und 
dann  unternimmt  es  Loew,  die  beiden  Bruchstücke,  die  gar  nichts 
miteinander  zu  tun  haben,  im  Sinne  Heraklits  miteinander  zu  ver- 
binden zu  dem  Ausspruch:  ol  jioiovvreg  xai  Xeyovreg  ovx 
axovdai  IjiloravraL  ovo'  äjrttr.  Wer  gerne  erfahren  möchte, 
was  das  heißen  soll,  möge  die  Sache  bei  Loew  (II  358)  nachlesen. 
Für  den  einsichtigen  Leser,  denke  ich,  kann  nach  diesen  Proben  kein 
Zweifel  mehr  bestehen,  daß  Loew  auf  einem  Irrwege  ist,  und  der  Ver- 
fasser selbst  sollte  sich  dabei  beruhigen,  daß  seine  Theorie  vom  Kampfe 
des  Heraklit  gegen  den  Logos  klanglos  zu  Grabe  getragen  ist:  der 
Logos  muß  dem  Heraklit  einstweilen  gelassen  werden. 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.     XXVI,  3.  .>- 


Rezensionen. 

P.   Rocques:    Hegel,  Sa  vie  et  ses  oeuvres.      (Collection  historique  des 
grands  philosopb.es.)    Paris  1912,  Alcan. 

Ich  betrachte  es  als  einen  großen  Fortschritt  und  als  ein  Zeichen  der  Ver- 
jüngung und  des  Wachstums  des  philosophischen  Denkens  in  Deutschland, 
daß  man  allmählich  von  der  altüberkommenen  Art  der  philosophiegeschicht- 
lichen Darstellung  abzugehen  beginnt.  Es  hat  ja  eine  Zeit  gegeben,  wo  Philo- 
sophie und  Geschichte  der  Philosophie  beinahe  identische  Begriffe  waren. 
Zahllose  und  überflüssige  Monographien,  Bücher  und  Kommentare  und  Kom- 
mentare zu  Kommentaren  überschwemmten  den  philosophischen  Bücher- 
markt. Und  man  gewann  fast  den  Eindruck,  daß  das  philosophische  Denken 
sich  erschöpft  hätte,  steril  geworden  sei,  daß  nichts  neues,  originelles  mehr 
entstehen  könnte,  daß  alles  über  alles  bereits  gesagt  worden  sei. 

Es  ist  nun  glücklicherweise  anders  geworden.  Die  Philosophie  ist  erwacht 
und  die  Geschichte  ist  zurückgedrängt  worden.  Man  hängt  sich  nicht  mehr 
an  die  Rockschöße  der  Vorangegangenen.  Und  mit  der  Erneuerung  der  Probleme 
ist  auch  die  Stellungnahme  zu  den  früheren  Denkern  eine  andere,  eine  — 
philosophischere  geworden.  Der  Denker  interessiert  heute  vor  allem  als 
Problemsteller,  nicht  aber  als  Auflöser  und  Vollender.  Die  Methode  der  philo- 
sophischen Geschichtsschreibung  ist  somit  eine  problemkritische.  In  der  Ein- 
leitung zur  französischen  Ausgabe  des  Leibnitz-Buches  von  Russell  hat 
Levy-Bruhl  die  beiden  Arten  der  Systemdarstellung  analysiert.  Man  kann 
einen  Denker  als  Kulturerscheinung  hinnehmen,  ihn  allseitig  beleuchten,  die 
Zusammenhänge  und  den  geistigen  Entwicklungsgang  darstellen.  Oder  auch  bloß 
das  Zentralproblem  dieses  Denkers  herauslösen  und  ihm  an  den  Leib  rücken. 
Wie  Leibnitz  gelebt  und  gehandelt  hat,  kann  dem  Philosophen  eigentlich 
ganz  gleichgültig  sein.  Ja  noch  mehr,  es  ist  gleichfalls  so  ziemlich  belanglos, 
was  der  eine  oder  der  andere  Philosoph  über  verschiedene  Fragen  gedacht  hat. 
Ob  nun  z-  B.  Locke  oder  Hume  über  das  Geldwesen  so  oder  anders  gedacht 
haben,  das  kümmert  den  reinen  Problemforscher  ganz  und  gar  nicht.  Für 
ihn  sind  vor  allem  die  Fragen  wichtig  und  die  Methoden  der  Beantwortung. 
Ein  derartiges  Buch  der  reinen  Kritik  ist  z.  B.  das  obengenannte  Werk  von 
Bertran  Russell  über  Leibnitz.  Und  ich  glaube,  diese  Form  der  Darstellung 
ist  die  einzig  berechtigte  und  wertvolle.  Nur  die  Philosophie  kann  den  Philo- 
sophen interessieren.     Alles  andere  gehört  zur  Kulturgeschichte  .  .  . 

Von  diesem  Standpunkte  betrachtet  erscheint  mir  das  neue  Hegel-Buch 
des  französischen  Gelehrten  P.   Rocques  in  seiner  Anlage  und  Methode 


Rezensionen.  379 

antiquiert,  unmodern  zu  sein.     Es  ist  gewiß  ein  sehr  löbliches  Unterfangen, 
das  französische  Publikum  in  die  Gedankenwelt  Hegels  einzuführen.     Aber 
dann  müßte  es  eine  Arbeit  über  die  P  h  i  1  o  s  o  p  h  i  e  ,  d.  h.  über  die  Grund- 
probleme Hegels  und  keine  systematische,  mit  biographischen  Daten  durch- 
wirkte Darstellung  sein.    Mangelt  es  denn  an  Hegel-Biographien  ?    Hat  denn 
H  a  y  m  nicht  bereits  das  beste  auf  diesem  Gebiete  geleistet  ?    Und  wäre  es 
nicht  vernünftiger  gewesen,  Kuno  Fischer's  Hegelband  ins  Französische  zu 
übertragen?     Da  hätten  die  französischen  Leser  wenigstens  ein  tiefsinniges, 
herrlich  geschriebenes  Buch  zu  lesen  bekommen.   Wozu  hat  also  Herr  Rocques 
sich  die  Mühe  gegeben,  ein  dickes  Buch  zu  schreiben,  um  nur  die  Biographie 
Hegels,  dessen  Werdegang  zu  erzählen  ?    Und  ist  es  wirklich  dem  modernen 
Leser,  der  von  so  vielen  Problemen  geplagt  ist,  der  so  wenig  Zeit  hat,  so  wichtig, 
die    Geschichte   der   Berner   Hauslehrerzeit   Hegels    oder   dessen    Bamberger 
Journalistentätigkeit  kennen  zu  lernen  ?  Ich  meine  nicht  bloß  den  philosophischen 
Fachmann.     Für  diesen  ist  das  Buch  von  Rocques  kaum  bestimmt.     Aber 
gerade  der  Laie  will  in  einem  philosophischen  Buch  vor  allem  Philosophie 
finden,  d.  h.  Probleme,  und  zwar  solche,  die  heute  aktuell  sind.     Wenn  er 
an  Hegel  herantritt,  so  möchte  er  von  diesem  Denker  erfahren,  wie  er  sich 
zum  Problem  des  Wertes,  der  Intuition  usw.  verhält.     Was  aber  Hegel  in 
Frankfurt  über  theologische  und  politische  Fragen  gedacht  hat,  das  interessiert 
ihn  herzlich  wenig.     Und  gerade  das  Wichtigste  —  die  Herausschälung  der 
Grundprobleme  Hegels  fehlt  bei  Rocques.    Die  Frage,  die  jeder  Hegelforscher 
sich  stellen  muß,  ist  die  von  Benedetto  C  r  o  c  e  formulierte:   „Was  ist  lebendig 
und  was  ist  tot  in  der  Hegeischen  Philosophie?"    Gewiß,  Hegel  bildet  keine 
Ausnahme.    Diese  Frage  sollte  man  eigentlich  beim  Studium  jedes  beliebigen 
Philosophen  vor  Augen  haben,  denn  nur  dann  hat  die  geschichtliche  Forschung 
auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  einen  Erkenntniswert.    Aber  in  gewisser  Hin- 
sicht nimmt  Hegel  doch  eine  aparte  Stellung  ein.    Hegel  ist  unter  allen  Philo- 
sophen derjenige,  der  am  meisten  Achtung  vor  dem  Gewordenen  hatte.    Oder, 
richtiger,  am  wenigsten  Achtung  vor  dem  Möglichen.     Das  Mögliche,  Sein- 
sollende,   Seinkönnende   war  gewissermaßen   immer  ein  Lieblingsgebiet  der 
Philosophie.     Die  Wirklichkeit  umgestalten,  korrigieren,  umdeuten,  das  war 
der  Begriff  des  alten  Idealismus.    Und  zum  Teil  auch  des  neuen.    Aber  nur  — 
zum  Teil.    Denn  der  moderne  Idealismus  ist  bei  allen  Kritizismus  und  Phäno- 
menalismus —  wirklichkeitsgläubig.    Für  den  älteren  Idealisten  bestand  eine 
Kluft  zwischen  dem  „mundus  sensibilis"  und  dem  „intelligibilis".    Er  glaubte 
an  die  Realität  des  Unsinnlicher,  an  die  Existenz  des  Ideellen,  Transzenden- 
talen.   Dem  modernen  Idealisten  aber  ist  das  Transzendente  bloß  eine  Kon- 
struktions-,  eine  (passez  moi  le  mot)  Verlegenheitsformel.     Und  diese  Neu- 
formulierung, Umstimmung  des  Idealismus  haben  wir  Hegel  zu  verdanken. 
Der  französische  Hegelforscher  G.  Noel  hat  einmal  mit  Recht  erklärt,  daß 
derjenige,  der  Hegel  widerlegen  und  überwinden  will,  ein  echter  Hegelianer  sein 
müsse.  In  der  Tat,  man  kann  mit  Hegel  kaum  fertig  werden,  man  kann  ihn 
nicht  einmal  richtig  verstehen,  wenn  man  nicht  im  gewissen  Sinne  selbst  von 
demselben  Denkerstamme  ist.     Weder  der  reine  Kritizist    noch  der   Realist 
können  Hegel  voll  und  ganz  verstehen.    Denn  sie  gehen  von  einem  ganz  vcr- 

25 


380  Rezensionen. 

schieden  gearteten  Wirklichkeitsbegriff  aus.  Die  Hegeische  Wirklichkeit 
ist  nicht  die  „mögliche  Erfahrung"  (Kant),  aber  auch  nicht  das  Ansichseiende 
des  Realisten.  Sie  ist  beides  und  mehr  als  das.  Sie  ist  das  An-  und  das  Für- 
sich-Seiende, sie  ist  verschieden  in  verschiedenen  Momenten,  sie  ist  nie 
Sein,  nie  statisch,  sondern  immer  Potenz.  Die  Welt  ist  das  Schwanken  zwischen 
Sein  und  Nicht-Sein,  das  Übergehen  ineinander,  das  Hervorgehen  auseinander. 
Die  Phänomenologie  des  Geistes  ist  die  Entwicklung  dieser  Lehre.  Wie  das 
menschliche  Gesetz  aus  dem  Göttlichen,  das  auf  Erden  geltende  aus  dem  Unter- 
irdischen, das  bewußte  aus  dem  Bewußtlosen  hervorgeht  und  dann  wieder  den- 
selben Weg  durchmacht,  aber  in  entgegengesetzter  Richtung,  dieses  fort- 
währende Auf-  und  Loslösen  der  Momente  des  Wirklichen,  das  Schaffen  des 
Neuen,  die  Berechtigung  jedweden  Geschehens  —  die  Philosophie  des  uvco 
xou  xdru),  das  ist  das  Eigenartige  Hegels,  das  uns  ihm  nähert  und  verwandt 
macht.  Und  wohlgemerkt  —  Hegel  sagt  nicht:  „öS 6g  uvio  xuC  xdno  fi,iaee 
Dieses  Wörtchen  ,,fjia",  diese  Gleichsetzung  bildet  den  Scheidepunkt 
zwischen  dem  antiken  und  dem  neuen  Denken  ....  Daß  Hegels  Philosophie 
eigentlich  bloß  Philosophie  der  Geschichte  war,  ist  schon  oft,  und  wenn  ich 
nicht  irre,  zuerst  von  Trendelenburg  („Log.  Unters.")  bemerkt  worden.  Hegel 
war  ein  „«/ftt/^fTo^ro'c"  im  platonischen  Sinne.  Er  dachte  unmathematisch 
und  das  rein-abstrakte,  an  sich  inhaltslose  Denken  war  ihm  fremd.  Seine 
abstraktesten  Formeln  sind  bloß  verschleierte  geschichtliche  Tatsachen,  oder 
sogar  mystische,  dichterische  Reminiszenzen.  So  z.  B.  die  Theorie  von  ,, Bruder 
und  Schwester",  von  „Schuld  und  Schicksal"  (Antigone  und  Oedipus)  usw. 
Und  auch  in  dieser  Hinsicht,  in  der  Akzentsetzung  auf  das  geistig-geschicht- 
liche Moment  im  Gegensatz  zum  mathematisch-naturwissenschaftlichen  ist 
Hegel  gerade  uns  modernen  Denkern  verwandt  .  .  . 

Es  kann  hier  nicht  meine  Aufgabe  sein,  all  die  angedeuteten  Gedanken 
des  näheren  zu  verfolgen.  Es  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  wir  noch  immer 
kein  Hegel-Buch,  das  den  Forderungen  der  Zeit  entsprechen  würde,  besitzen. 
Rocques'  Arbeit  ist  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  gänzlich  unzulänglich. 
Eine  Auseinandersetzung  mit  Hegel  aber  könnte  für  uns  von  derselben  Bedeutung 
werden,  wie  die  Auseinandersetzung  mit  Kant  für  die  vorangegangene  Ge- 
neration. Dr.  A.  Coralnik  (Rom). 

H.  B  i  e  b  e  r:  Johann  Adolf  Schlegels  poetische  Theorie  in  ihrem  historischen 
Zusammenhange  untersucht.  (Palästra  CXIV.)  Berlin  1912.  M  5,50. 
Unter  diesem  anspruchslosen  Titel  werden  tief  eindringende  Unter- 
suchungen zur  Geschichte  der  Ästhetik  geliefert,  die  die  bisherige  Auffassung 
der  Nachahmungstheorie  in  wesentlichen  Punkten  berichtigen.  Wenn  der 
Verfasser  meint,  daß  im  Verlaufe  der  Untersuchung  die  Gestalt  des  „Helden" 
stark  überschattet  werde,  so  werden  wir  ihm  das  ohne  Bedauern  einräumen. 
Es  hat  sich  eben  herausgestellt,  daß  in  der  Geschichte  der  Ästhetik  eine  Helden- 
verehrung notwendig  unfruchtbar  ist,  und  wir  haben  uns  vielmehr  dessen 
zu  freuen,  daß  B.  statt  dessen  mit  dem  „historischen  Zusammenhange"  Ernst 
gemacht  hat.  Da  in  den  ästhetischen  Theorien  künstlerische  Erlebnisse  und 
Individualpsychologie  hinter  den  bildungsgeschichtlichen  und  schulmäßigen 


Rezensionen.  381 

Voraussetzungen  der  einzelnen  Generationen  fast  völlig  zurückzutreten  pflegen, 
so  war  vor  allem  eine  Vorgeschichte  der  Begriffe  und  Probleme  zu  geben, 
um  sozusagen  eine  ästhetische  Vulgata  des  Schlegelschen  Kreises  zu  fixieren. 
Das  landesübliche  rohe  Referat  hätte  hier  um  so  weniger  ausgereicht,  als  die 
Fragestellung  des  Verf.  durchaus  erst  der  modernen  Forschung  angehört  und 
also  aus  einer  bloßen  „Musterung"  der  Quellen  sich  nicht  ergeben  hätte. 
Eine  umfassende,  in  dieser  Ausdehnung  einem  jungen  Gelehrten  wohl  selten 
erreichbare  Belesenheit  in  den  Quellen,  wie  in  der  internationalen  gelehrten 
Literatur,  hat  den  Verf.  doch  nirgends  dazu  verführt,  von  seiner  Problem- 
stellung abzuirren.  An  dem  Begriff  der  Nachahmung  zeigt  sich,  gerade  weil 
er  noch  von  den  Heutigen  gebraucht  wird,  wie  sinnlos  es  ist,  von  der  modernen 
Bedeutung  eines  Terminus  auszugehen  und  wie  fruchtbar  dagegen,  nach  seiner 
Funktion  zu  fragen.  Der  auch  formal  geschlossene  Nachweis,  daß  die  Nach- 
ahmungslehre nicht  Naturwahrheit  zu  fordern  braucht,  sondern  gelegentlich 
eine  Entwicklung  in  ihr  Gegenteil  nehmen  kann  (S.  84),  konnte  nur  einer  wahr- 
haft hermeneutischen  Forschung  gelingen,  die  es  sich  nicht  an  den  einzelnen 
literarischen  Formulierungen  genug  sein  läßt,  sondern  darüber  hinaus  ein 
sachliches  Verhältnis  zu  den  Problemen  hat,  die  sich  in  diesen  Formulierungen 
oft  mehr  verstecken  als  offenbaren.  Meyerotto. 

Rezensionen  über  schöne  Literatur  von  Schelling  und  Caroline  in  der 
Neuen  Jenaischen  Literatur-Zeitung  von  Erich  Frank  in  Heidelberg. 
—  Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie  der  Wissenschaften. 
Philosophisch-historische  Klasse.  Jahrg.  1912,  1.  Abhandlung.  — 
Heidelberg  1912,  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung. 
Eine  Reihe  von  Rezensionen,  die  in  den  Jahren  1805—1809  in  der  Jenaischen 
Literatur-Zeitung  erschienen  sind,  weist  Erich  Frank  als  Arbeiten  Schellings, 
Carolinens  und  beider  nach.  Leitzmann  hat  den  Verfasser  auf  die  alten  Meß- 
kataloge  der  Jenaischen  Universitätsbibliothek  aufmerksam  gemacht,  ,,nach 
denen  von  der  Redaktion  die  Verteilung  der  eben  erschienenen  Bücher  an 
die  verschiedenen  Rezensenten  vorgenommen  wurde.  Jedem  Buche  ist 
da  die  Nummer  des  Rezensenten mit  um  so  größerer  Gewissen- 
haftigkeit beigeschrieben,  als  nach  diesen  Aufzeichnungen  offenbar  die  Ver- 
rechnungen erfolgten.  Ein  Rezensentenverzeichnis  löst  die  Bedeutung  dieser 
Nummern  auf:  so  ist ...  .  Schelling  (aber)  mit  409  gemeint."  Diese  Entdeckung 
dürfte  demnach  dem  Verfasser  nicht  allzu  viel  Mühe  gekostet  haben.  (S.  7.) 
,,Zu  diesen  Quellen  .  .  .  kommen  noch  die  ungedruckten  Briefe  Eichstädts  an 
Schelling,  in  Schellings  Nachlaß,  deren  Benützung  mir  in  dankenswerter  Weise 
gestattet  wurde.  Das  Studium  aller  dieser  Akten  an  Ort  und  Stelle  ist  mir 
durch  eine  Unterstützung  der  Heidelberger  Akademie  der  Wissenschaften 
ermöglicht  worden."  Und  was  ist  nun  schließlich  bei  all  der  Hilfe,  Unter- 
stützung herausgekommen?  Parturiunt  montes  .  .  .  . !  Wir  fragen:  was  hat 
der  Verfasser  dafür  geboten,  daß  Leitzmann  die  Tatsache  seiner  Ent- 
deckung, die  Akademie  die  Belege  dafür  ihm  an  die  Hand  gegeben?  Er  hat 
die  Rezensionen  gesondert,  einen  Teil  Schelling,  einen  Carolinen  und  einen 
ihrer  gemeinsamen  Zusammenarbeit  zugeschrieben.     Eichstädts  ungedruckte 


382  Rezensionen. 

Briefe  an  Goethe  geben  hierzu  zumeist  den  äußeren  Beweis  her  und  es  ist 
anzunehmen,  daß  die  Verteilungen  Franks  zutreffen.  Die  innere  Beweisführung, 
seine  Stilkritik  dagegen  ist  von  äußerst  allgemeiner,  leichter  Art,  obschon  hierher 
der  natürliche  Schwerpunkt  seiner  kommentatorischen  Arbeit  hätte  verlegt 

werden   müssen.      „Daß   die   Rezension   über  den  Musenalmanach 

von  Caroline  und  nicht  von  Schelling  verfaßt  ist,  verrät  sich  durch  das  wenig 
korrekte  Gefüge  schon  der  ersten  Sätze,  wie  in  dem  ganzen,  die  Gedanken 
reizvoll  und  ungezwungen  wie  Blumen  zu  einem  Kranze  windenden  Stil." 
(S.  50.)  Das  unkorrekte  Gefüge  der  Sätze  in  Caroline ns  Rezension  stimmt  aller- 
dings vielfach,  aber  was  Frank  mit  der  „gewundenen"  Bezeichnung  von  Caro- 
linens  blumenhaften  Stil  meint,  ist  schwer  abzusehen,  angesichts  eines  ein- 
leitenden Satzes  wie  dieser  (S.  24):  „Wenn  es  möglich  ist,  irgend  etwas  an 
sich  Gutes  und  Vortreffliches  auf  eine  Zeitlang  zugrunde  zu  richten:  so  ge- 
schieht es  nicht  durch  die  Schreier  und  Tadler,  welche,  wenn  ihnen  nicht  die 
Inquisition  unter  die  Arme  greift,  noch  niemals  nur  so  viel  vermocht  haben, 
sondern  denjenigen  gelingt  es,  welche  von  der  bloßen  Außenseite  des  Guten 
und  Vortefflichen  ergriffen,  sich  der  Worte,  der  Form,  eigentlich  der  Larve 
einiger  Töne,  die  mit  wirklichen  Ideen  zusammenhangen,  und  einer  Melodie 
die  einen  innerlichen  Zusammenhang  nachahmt,  bemächtigen,  und  ein  ganz 
geringes  Talent,  ein  unbedeutendes  Streben,  das  sie  auf  dem  gemeinsten  Wege 
geltend  machen  könnten,  auf  einem  ungemeinen  ins  Publikum  zu  bringen 
suchen."  Du  meine  Güte  —  welch  ein  Blumenkranz!  Auch  was  die  wirklich 
schöne  und  geistvolle  Rezension  Nr.  35  anbelangt,  hat  Frank  (S.  56)  die  Teilung 
recht  obenhin  vorgenommen.  Die  abstraktere  Redeweise  der  Einleitung  und  des 
ersten  Teiles  deutet  natürlich  auf  Schelling,  „während  dafür  das  folgende  deut- 
lich Carolinens  Stil  zeigt".  Ja  und  nein,  jedenfalls  heißt  das  den  Problemen 
aus  dem  Wege  gehen,  statt  sie  zu  lösen.  Das  überrascht  umsomehr,  da  sich  in 
dieser  Rezension  die  Notwendigkeit  einer  tieferen  stilpsychologischen  Unter- 
suchung geradezu  aufdrängt,  da  sowohl  im  Schellingschen  Teil  wie  in  dem 
Carolinens  der  Allerweltstil  in  recht  bezeichnender  Verschiedenheit  beschrieben 
wird: 

S.  38.  Schelling:  „Der  erste  schreibt  fließend,  wie  man  es  nennt,  mit 
einer  Art  von  Klarheit  und   Fülle  des  gemeinen  Ausdrucks." 

Dagegen  S.  41.  Caroline:  „Der  Vortrag  ist  gerade  so  belebt  und  korrekt, 
als  man  ihn  jetzt  bei  der  allgemeinen  Verbreitung  der  schönen  Wissenschaften 
auch  von  jedem  halbweg  gewandten  Handelsdiener  erwarten  könnte." 

Ich  will  darüber  nicht  rechten,  ob  hier  abstrakte  und  sinnliche  Redeweise 
sich  gegenüberstehen  oder  Wucht  und  Gewicht  erlebten  Sprachgehalts  und 
ohnmächtige  Rezensentenart,  aber  der  Gegenüberstellung  als  solcher  sollte 
mai  sich  doch  gewärtigen.  Es  ist  hier  nicht  der  Ort,  zu  unternehmen,  was  der 
Verfasser  versäumt  hat.  Auch  der  selbstverständliche  Assimilationsprozeß  des 
Stils  bei  Eheleuten,  bei  allen,  auch  bei  Nichtschreibenden,  ließ  den  Verfasser 
kalt.  Man  vermißt  die  Umgrenzung  des  Zwischengebietes,  auf  welchem  die 
gegenseitige  Einwirkung  zweifelsohne  vor  sich  ging. 

Und  man  vermißt  schließlich  die  synthetische  Anschauung  des  Gesamt- 
ergebnisses.    Wo  und  wie  fügt  sich  das  neue  Material  dem  bisherigen  ein? 


Rezensionen.  383 

Was  fangen  wir  nun  an  mit  den  Ziegelsteinen?     Welche  Lücke  kann  damit 
ausgefüllt  werden? 

Kann  die  Erwähnung  dessen,  daß  Frank  die  Angaben  betreffs  der  ver- 
schollenen Gegenstände  der  Schelling-Caroline-Rezensionen  mit  großem  Fleiß 
sauber  herausgearbeitet  hat,  zur  Ausgleichung  der  \ielen  unbefriedigten 
Forderungen  beitragen,   so  sei  sie  nicht   unterlassen. 

Dr.   Richard  Meszleny  (Genf). 

Hegel-Archiv,   herausgeg.   von   Georg    Lasso  n,   Bd.   I,   Heft    1, 
Hegels  Entwürfe  zur  Enzyklopädie  und  Propädeutik  nach  den  Hand- 
schriften   der    Harvard-Universität,    mit    einer    Handschriften-Probe. 
Herausgegeben   von   Dr.   J.   L  ö  w  e  n  b  e  r  g.      Leipzig.      Verlag  von 
Felix  Meiner.     1912. 
Anläßlich  seiner  Rezension  der  Hegel-Monographie  von  Kuno  Fischer 
in  der  Deutschen  Literatur-Zeitung  1900,  Nr.  1  hat  Dilthey  auf  den  Schatz  der 
Hegeischen    Handschriften   in   der  Berliner  Kgl.  Bibliothek,   die   von   jenem 
Historiker  unberücksichtigt  geblieben  sind,  wieder  hingewiesen  und  deren  Be- 
deutung für  die  ontogenetische  Erklärung  des  „Geheimnisses"  des  Hegeischen 
Denkens  angedeutet.    Dadurch  ist  eine  Fülle  von  Problemen,  zunächst  aber 
praktischer  Aufgaben  eröffnet  worden.  Im  Jahre  1907  veröffentlichte  H.  Nohl  die 
ingeniös  von  ihm  zusammengestellten  „Hegels  theologischen  Jugendschriften". 
Der  Hinweis  Diltheys  regte  überdies  die  Suche  nach  anderweitig  verbliebenen 
Handschriften  Hegels  an.     Als  eine  schöne  Frucht  sind  von  Georg  Lasson 
2   Hefte   unter   dem   Titel:    „Beiträge   zur   Hegel-Forschung"   herausgegeben 
worden.  Das  Material  wuchs  überraschend.  Nun  ist  analog  den  „Kant-Studien" 
das  „Hegel-Archiv"  ins  Leben  gerufen  worden,  um  einen  Sammelpunkt  der 
auf  Hegel  bezüglichen  Veröffentlichungen  zu  bilden.     Es  sind  zunächst  all- 
jährlich 2  Hefte  geplant.    Das  erschienene  erste  Heft  bringt  uns  den  Abdruck 
einiger  Handschriften  —  aus  der  Harvard-Universität.  Habent  sua  fata  —  auch 
Handschriften!    Im  Jahre  1895  gab  Dr.  A.  Genthe  im  Goethe-Jahrbuch  S.  77 
die  freudige  Kunde,  daß  in  dem  neu  aufgefundenen  Nachlaß  von  Rosenkranz 
eine  Anzahl  von  Hegel-Handschriften  enthalten  ist.     Über  deren  Schicksale 
erzählt  uns  kurz  H.  Nohl  im  erwähnten  Buch  (Vorr.  S.  VI)  folgendes.    Sie  sind 
später  in  den  Besitz  jenes  Herrn  übergegangen,  der  sie  1905  nach  St.  Francisco 
wo  er  ständig  wohnte,  übergeführt  hat.    Im  nächsten  Jahre  suchte  die  Stadt 
ein  furchtbares  Erdbeben  heim.    Ein  Telegramm  meldete,  daß  er  alles  verloren 
hatte.  Briefe,  die  an  ihn  von  verschiedenen  Seiten  gerichtet  worden  sind,  blieben 
lange  Zeit  ohne  Antwort.    Nun  erfahren  wir  plötzlich  von  Dr.  J.  Löwenberg 
ans  Cambridge  in  Massachusets,  daß  jene  Handschriften  Ende  1911  in  den 
Besitz  der  Harvard-Universität  gekommen  sind.     Es  sollen  wissenschaftliche 
Gutachten,      Briefentwürfe,     Aphorismen,     Universitätsakten,      Vorlesungs- 
vorbereitungen und  Exzepte  sein.    Es  wäre  höchst  wünschenswert  zu  erfahren, 
oh  die  Harvard-Universität  auch  alle  Handschriften  von  Dr.  Genthe  erworben 
hat    und  eventuell  wo  der  Rest   verblieben  ist,  denn  seinerzeit  hörte  ich  von 
großen  Kisten  s|  rechen,  die  er  von  der  ihm  verwandten   Enkelin  Hegels  er- 
halten haben  soll,  und  es  scheint,  daß  die  bekannt  gewordene  Sammlung  lange 


384  Rezensionen. 

nicht  so  umfangreich  ist.  Die  Geheimtuerei,  welche  diese  Vorgänge  immer 
noch  umspielt,  ist  eine  Versündigung  an  der  Geschichte  der  Philosophie.  Als 
ihr  einziger  berechtigter  Grund  ist  nur  die  allzumenschliche  Eitelkeit  an- 
zuerkennen, doch  kann  ihr  in  der  Zeit  der  Presse  leicht  Genüge  geschehen. 
Es  darf  bei  den  zivilisierten  Völkern  das  Schicksal  der  Aristotelischen  Hand- 
schriften sich  nicht  wiederholen.  Es  genügt  nicht,  daß  wenige  Personen  von 
so  wichtigen  Papieren,  die  im  Privatbesitz  verbleiben,  Kenntnis  behalten. 
Das  Hegel-Archiv  ist  nun  dazu  berufen  und  legt  selbstverständlich  die  Pflicht 
auf,  allerlei  Kunde  über  Hegel-Dokumente  zur  Veröffentlichung  zu  bringen. 

Aus  der  Sammlung  der  Harvard-Universität  bringt  nun  Dr.  J.  Löwenberg 
tue  erste  Portion,  und  zwar  den  Entwurf  zur  Enzyklopädie  vom  Jahre  1811 
und  den  undatierten  Entwurf  zur  philosophischen  Propädeutik.  In  beiden 
Stücken  sind  von  ihm  „Fragmente  und  Notizen"  abgetrennt  worden,  und  wie 
sie  im  Original  aussehen  zeigt  uns  das  beigegebene  Faksimile  einer  Seite. 
Der  Herausgeber  bemerkt:  „Obwohl  manches  mit  unserem  Text  in  engem 
Zusammenhang  steht,  wollten  wir  es  doch  nicht  aufnehmen,  um  Hegels  Ge- 
dankengang nicht  zu  unterbrechen"  (S.  45  Anm.).  Seine  Tendenz  war,  einen 
hübsch  glatten  Text  darzubieten.  Das  wäre  gut,  wenn  es  sich  um  ein  neues 
Fundamentalwerk  handeln  würde,  aber  auch  dann  nur  einigermaßen  gut. 
Da  es  aber  Materialien  sind,  so  müßte  der  Herausgeber  im  Auge  behalten, 
daß  der  Abdruck  dem  Forscher,  wenn  nicht  die  Autopsie  ersetzen,  so  doch 
nicht  bloß  in  bezug  auf  Leserlichkeit  entgegenzuarbeiten  hat.  Es  wären  also 
verschiedene  Druckarten  und  Druckanordnungen  mit  allerlei  Anmerkungen 
vonnöten.  Mit  letzteren  ist  der  Herausgeber  überaus  sparsam.  Seine  sonstigen 
Angaben  sind  nicht  übersichtlich  genug  durch  Druck  herausgehoben,  denn  er 
gebraucht  hierfür  Zeichen,  die  inmitten  von  andern  Zeichen  nicht  leicht  zu 
behalten  und  mit  letzteren  verwechselt  werden  können;  so  z.  B.  auf  S.  51 
unten  kann  ,,a)"  leicht  als  Anmerkung  des  Herausgebers  genommen  werden, 
während  es  zum  Text  gehört. 

Die  Einleitung  des  Herausgebers  (Dr.  Löwenberg),  die  eigentlich  keine 
Beziehung  zu  den  veröffentlichten  Schriften  hat,  enthält  eine  originelle  Ansicht 
über  Hegels  Entwicklungsgang.  Die  rasch  aufeinander  folgenden  Phasen  des 
jungen  Hegel:  die  aufklärerisch-kantische,  die  mystisch-pantheistische  und  die 
synthetisch-reflexive  reizen  den  Kenner  der  leider  immer  noch  nicht  vollständig 
herausgegebenen  Handschriften  der  Berliner  Sammlung  zur  Erklärung.  In 
seiner  Studie  ,,Die  Jugendgeschichte  Hegels"  hat  Dilthey  die  kühne  Hypothese 
aufgestellt,  daß  bei  allen  schwerwiegenden  Einflüssen  ein  mysteriöses  ..meta- 
physisches Erlebnis"  Hegels  angenommen  werden  muß,  welches  ihm  die 
Struktur  und  die  Funktion  des  Universums  offenbarte.  Diese  Vermutung  weist 
Dr.  Löwenberg  ab,  indem  er  meint,  daß  Hegels  Denkart  einem  persönlichen 
(jiemütserlebnis  mystischer  Art  allezeit  unzugänglich  bleiben  mußte.  Und  er 
bietet  eine  neue  Hypothese:  „Hegel  ist  der  Experimentaldenker  par  excellence; 
die  Grundtendenz  seiner  Methode,  die  darin  besteht,  ein  jedes  Ding  —  sei  es 
ein  religiöser  Prozeß,  eine  geschichtliche  Begebenheit,  oder  ein  logischer  Begriff 
—  seinen  eigenen  Kern  enthüllen,  gleichsam  ihn  selbst  herausschälen  zu  lassen, 
liegt  den  Jugendschriften,  der  Phänomenologie,  der  Logik  und  allen  seinen 


Rezensionen. 


385 


Werken  zugrunde.  Wie  der  Physiker  oder  Chemiker  an  seinen  Gegenstand 
sachlich  herantritt  und  sich  ihm  gegenüber  rein  beobachtend  verhält,  so  ver- 
fährt Hegel  mit  seinen  Gegenständen:  von  Anfang  an  sucht  er  ihnen  selbst  ihre 
Struktur  und  Funktion  auf  experimentalem  Wege  abzugewinnen . . .  Jedenfalls 
hat  es  Hegel  sich  nicht  entgehen  lassen,  mit  verschiedenen  Denkungsweisen 
Versuche  anzustellen,  bis  er  sich  zu  seinem  eigenen  Schlußexperiment  durch- 
gerungen hatte"  (XIX).  „Aber  hier  wie  dort  ist  es  derselbe  rationalistische 
Hegel,  der  sein  Experiment  scharf  beobachtet,  sich  für  den  Vorgang  inter- 
essiert und  dem  Resultat  vorurteilsfrei  entgegensieht."  (XVIII).  „Den  ersten 
Systementwurf  muß  Hegel  wohl  als  ein  gelungenstes  Experiment  betrachtet 
haben...."  (XIX).  Diese  allerdings  geistreiche  Hypothese,  welche  offenbar 
Hegel  zum  Träger  des  geistreichen  Ichs  der  Romantik  macht,  wäre  begründet, 
wenn  die  verschiedenen  Denkungsweisen  immer  auf  denselben  Gegenstand 
sich  beziehen  würden,  tatsächlich  aber  betreffen  sie  ganz  verschiedene  Gebiete. 
Wenn  Dr.  Löwenberg  behauptet,  daß  es  sich  Hegel  stets  um  „die  Bewegtheit 
des  Lebens  und  die  Fülle  der  Erfahrung"  handelt,  so  ist  diese  Idee  eine  nach- 
trägliche Abstraktion,  die  zur  Charakteristik  Hegels  im  ganzen  gut  sein  mag, 
für  die  Erklärung  der  Einzelgestaltungen  seines  Denkens  aber  und  deren  Ent- 
wicklung ebensowenig  fruchtbar  sein  kann,  wie  Hegels  Absolutes  für  die  Er- 
scheinungen. Diese  Unfruchtbarkeit  würde  sich  herausstellen,  wollte  man 
diese  Hypothese  durchführen  und  auf  Grund  dieser  Idee  den  Entwicklungsgang 
Hegels  pragmatisch  darstellen.  Selbst  der  genialste  Erfinder  des  geistreich 
spielenden  oder  „experimentierenden"  Ichs  Friedrich  Schlegel  war  kein  „geist- 
reiches Ich",  sondern  war  an  ein  Gesetz  seiner  folgerichtigen  Entwicklung 
gebunden.  Ein  solches  bietet  uns  die  Theorie  von  Dr.  Löwenberg  nicht.  Immer- 
hin scheint  der  Irrtum  seiner  Theorie  von  der  Art  jener  zu  sein,  die  sich  eben 
fruchtbar  erweisen.  J.  H  a  1  p  e  r  n. 


Hermann   Lotze,   Logik.    Drei  Bücher  vom  Denken,  vom  Untersuchen 
und  vom  Erkennen.  Mit  Übersetzung  des  Aufsatzes :  Philosophy  in  the 
last  forty  years,  einem  Namen-  und  Sachregister.    Herausgegeben  und 
eingeleitet  von  Georg    Misch.      Philos.  Bibl.   Bd.   141.      Leipzig, 
Verlag  von  Felix  Meiner  1912.    CXXVIu.  632  S. 
Zur  Bestimmung  irgendeiner  geschichtlichen  Erscheinung  ist  das  Wort 
„Übergang"  schlechterdings  unbrauchbar,  weil  es  eben  für  jede  gelten  muß. 
Und  doch  ist  es  nicht  leicht,  darauf  zu  verzichten,  Lotze  als  einen  Übergangs- 
philosophen  zu  'bezeichnen.     Mit  einem  Fuß  steckt  er  in  der  Blütezeit  der 
deutschen  spekulativen  Philosophie,  die  zur  Neige  ging,  mit  dem  andern  in  der 
neuen    Epoche    der    aufblühenden    empirischen    Naturwissenschaft    und    der 
Rückwendung  zu  Kant.     So  ragt  seine  Gestalt  in  der  Zeit  des  angeblichen 
schroffen  Frontwechsels  der  Philosophie  oder  gar  ihres  Verfalls,  wie  man  die 
mittleren  Jahrzehnte  des  19.  Jahrhunderts  immer  noch  darzustellen  pflegt, 
als  eines  großen  Versöhners  hervor.   Er  hat  keine  klassisch  einheitliche  Stellung 
auszubilden  vermocht  und  er  hat  sich  dagegen  gesträubt,  weil  er  ein  System- 
gegner war,  und  da  er  ein  ganz  klarer  Kopf  war,  so  ist  er  ein  Synkretist  ge- 
worden.   Der  Systembildungstriob  befand  sich  zu  seiner  Zeit  in  einer  schiefen 


386  Rezensionen. 

Lage:  der  Tradition  entsprossen,  welche  in  der  Geisteswissenschaft  ihre  natür- 
liche Grundlage  hatte,  sah  er  sich  vor  der  aufblühenden  Naturwissenschaft, 
welcher  gegenüber  die  Geisteswissenschaft  noch  lange  den  Schritt  nicht  ge- 
halten hat.  In  dieser  Situation  lebten  noch  andere  Lotze  geistesverwandte 
Denker,  wie  Fechner,  Liebmann,  Lange,  Zeller,  und  wir  können  diese  Kette 
bis  zur  Gegenwart  verfolgen,  die  Kette  der  an  die  Spekulation  Glaubenden  und 
zugleich  empirischer  Forscher,  der  Systematiker  ohne  System,  der  Doginatiker 
ohne  Dogma,  der  Bekenner  des  absolut  Relativen  oder  des  relativ  Absoluten, 
der  philosophischen  Gralsritter.  Ans  Ende  dieser  Kette  —  nicht  der  Zeit  nach, 
denn  es  kommen  immer  noch  viele,  die  ihm  nachstehen  —  gehört  Dilthey, 
welcher  ganz  auf  dem  Boden  der  ausgedehntsten  empirischen  Forschung  stehend 
den  Glauben  an  jene  Spekulation  gänzlich  verloren  hat,  und  nur  ein  warmes 
Interesse  für  sie  behielt,  welchem  sie  sich  als  Material  der  Forschung  klar  ge- 
boten hat,  um  viel  gegenständlicher  und  unbefangener  von  ihm  verstanden 
und  bearbeitet  zu  werden,  als  es  von  Julian  Schmidt  und  Haym  geschehen  ist 
und  von  den  neueren  Neuromantikern  noch  geschieht. 

Nun  tritt  uns  ein  Schüler  Diltheys  mit  der  Studie  über  Lotze  entgegen. 
Auf  etwa  80  Seiten  erhalten  wir  eine  gedrängte,  tief  eindringende  Analyse  des 
Lotzeschen  Schaffens  ganz  in  der  Art  Diltheys.  Mit  feinem  Spürsinn  taucht 
Misch  unter  die  Oberfläche  des  Gegebenen  und  Fertigen,  um  die  Willens- 
tendenzen Lotzes  aufzudecken.  Er  führt  uns  gleichsam  in  dessen  innerste 
Werkstätte  hinein,  indem  er  die  Lebensarbeit  des  Meisters  in  lebendiger  Re- 
produktion uns  vorführt,  um  sie  nacherleben  zu  lassen.  Das  geistige  Weben 
des  Synkretisten  wird  uns  vollkommen  durchsichtig;  wir  ersehen,  daß  er 
sozusagen  der  roheste  Synkretist  von  allen  Zeitgenossen  war,  denn  ihm  blieben 
noch  der  neue  Wein  und  die  alten  vollen  Schläuche  noch  ziemlich  auseinander. 
Mit  Recht  nimmt  Misch  seinen  Ausgang  von  der  Ontologie  Lotzes,  um  die 
tiefsten  Stützpunkte  darzulegen,  und  so  kann  er  fortgehend  überall  zwei 
Ansätze,  zwei  Wege,  und  deren  äußerliche  Vermengung  und  Verpflechtung 
im  Philosophieren  Lotzes  klarstellen.  In  dieser  Analyse  übt  er  immanente 
Kritik,  welche  erweist,  woran  das  Bauen  des  Philosophen  scheiterte,  woran 
es  scheitern  mußte,  wie  wir  es  heute  durchaus  feststellen  können  und  als 
Historiker  feststellen  müssen,  nachdem  uns  Dilthey  diese  Methode  vorgeübt 
und  zum  Bestand  der  historischen  Wissenschaft  gemacht  hat.  Es  ist  nur  zu 
bemerken,  daß  die  Lektüre  der  Studie  von  Misch  trotz  ihrer  Klarheit  durchaus 
nicht  leicht  ist.  Dies  liegt  daran,  daß  er,  auch  darin  Dilthey  nachbildend, 
durchweg  mit  den  Ausdrücken  der  spekulativen  Philosophie  'operiert.  Nicht 
als  ob  er  dadurch  rückfällig  geworden  wäre,  denn  er  verhält  sich  entschieden 
skeptisch  gegenüber  der  Spekulation  und  weiß  vom  empirisch  wissenschaftlichen 
Standpunkt  aus  die  historische  Distanz  von  seinem  Objekt  zu  behalten.  Aber 
er  geht  in  die  Versuchung  und  macht  es  dem  Leser  schwer. 

Lotze  behält  immer  noch  seine  Bedeutung,  und  zwar  nicht  bloß  deshalb, 
weil  wir  in  der  „Übergangszeit"  leben,  —  ist  doch  die  Tradition  der  nach- 
kantischen  Systeme  durchaus  nicht  erloschen,  im  Gegenteil,  sie  scheint  mit 
erneuter  Kraft  gegenwärtig  aufzulodern  —  sondern  weil  unsere  empirische 
Wissenschaft  durch  Arbeitsteilung  sich  zersplittert,  und  ihr  kann  Lotze  mit 


Rezensionen. 


387 


seinem  von  der  spekulativen  Philosophie  geerbten,  weit  ausschauenden,  die 
Horizonte  der  Philosophie  umfassenden  Blick  zum  Wegweiser  sein.  An  seiner 
Problemstellung  kann  man  sich  heutzutage  sehr  wohl  orientieren  und  in  ihr 
positive  Anregung  finden.  In  voller  Größe  finden  wir  bei  ihm  eine  Ausbildung 
der  modernsten  Ideen  der  Werttheorie,  den  Wertbegriff  der  Wahrheit,  die 
beinahe  pragmatistischeAuffassung  der  Teleologie,  den  Relations-  und  Geltungs- 
gedanken, die  Unterscheidung  von  Akt  und  Inhalt  und  vieles  andere,  und 
darauf  weist  der  Herausgeber  ausdrücklich  hin.  So  steht  seine  Logik,  die  ein 
Teil  des  Systems  ist  und  nur  im  Zusammenhang  dieses  Systems  völlig  begreiflich 
ist.  neben  den  großen  Werken  von  Sigwart,  Erdmann  und  Stanley  Jevons 
monumental  da.  Es  ist  daher  ein  Verdienst  seitens  des  Herausgebers  wie  des 
Verlegers,  das  Werk  zugänglicher  in  jeder  Bedeutung  des  Wortes  gemacht 
zu  haben.  Der  Neudruck  der  Metaphysik,  die  den  zweiten  Teil  des  Systems 
bildet,  wird  angekündigt.  Der  Abdruck  der  Logik  ist  nach  der  zweiten  Original- 
ausgabe geschehen  und  hat  deren  Seitenzahlen  beibehalten.     Die  beigegebene 


historische  Skizze  ist  sehr  interessant. 


J.  Halpern. 


Dr.  phil.  Hans  Baer:  Beobachtungen  über  das  Verhältnis  von  Herders 
Kalligone  zu  Kants  Kritik  der  Urteilskraft.  Heidelberg  1907.  Kar] 
Rößler. 
Das  Verhältnis  Herders  zu  Kant  gehört  zu  den  interessantesten  Kapiteln 
in  der  Geschichte  der  neueren  Philosophie.  Herders  dichterischer  Pantheismus 
konnte  sich  niemals  mit  Kants  kalt  zergliedernder  und  tief  grabender  Manier 
verständigen.  Die  Kritik,  die  Kant  an  Herders  Geschichtsphilosophie  übte, 
wurde  von  diesem  als  Arbeit  eines  Schulmeisters  angesehen.  Ebensowenig 
konnte  sich  Herder,  der  überall  den  Einen  Geist  suchte,  mit  Kants  begrifflicher 
Sonderung  der  einzelnen  Gebiete  des  Geistes  versöhnen  und  kritisierte  in 
diesem  Sinne  in  seiner  Kalligone  Kants  Ästhetik.  —  Die  vorliegende  Schrift 
behandelt  in  erschöpfender  Weise  das  Verhältnis  von  Herders  Ästhetik  zu 
Kants  Kritik  der  Urteilskraft.  Der  Verfasser  zeigt  in  interessanter  Gegenüber- 
stellung der  Meinungen  beider  in  treffender  Weise,  wie  sehr  Herder  Kants 
Bestreben  nach  einer  transzendentalen  Rechtfertigung  des  Geschmacksurteils 
mißverstanden  hat,  wie  berechtigt  aber  oft  seine  auf  empirischer  Grundlage 
beruhende  Kritik  der  Kantschen  Ästhetik  ist.  Zum  Schlüsse  gibt  der  Verf. 
in  einer  Skizze  eine  kurze  Darstellung  seiner  eigenen  Auffassung  in  bezug  auf 
die  Einteilung  der  Künste.  Dr.  H.  Asehkenasy. 


Dr.  Paul  P  e  n  t  z  i  g:    Die  Ethik  Gassendis  und  ihre  Quellen.    Bonn,  Verlag 
von  Peter  Hanstein.    (Renaissance  und  Philosophie.    Beiträge  zur  be- 
schichte der  Philosophie.  Hsg.  von  Paul  Dyroff.   Zweites  Heft.)  191(1. 
Nach  einer  ausführlichen  Darstellung  der  Ethik  Gassendis,  die  sich   an 
den  Wortlaut  der  Schriften  <  lassendis  selbsl  hält,  verteidigt  der  Verf.  ( lassend] 
gegen  den  Vorwurf,  daß  er  aus  äußeren  •■runden  Zugeständnisse  an  die  Kirche 
gemachl  habe.    In  einer  gründlichen  Quellenuntersuchung  wird  dann  der  Ein- 
fluß dargelegt,  den  neben  Bpikur  auch  Aristoteles  und  die  Scholastiker  auf 
Gassendi  geübt   haben.  Dr.  H.  Asehkenasy. 


388  Rezensionen. 

WalterPötschel:  Jacob  Sigismund  Beck  und  Kant.  Doctordissertation 
Breslau  1910. 
Die  Schwierigkeiten,  die  die  Kantsche  Lehre  vom  Ding  an  sich,  seine 
Trennung  von  Sinnlichkeit  und  Verstand  und  sein  Festhalten  an  der  formalen 
Logik  boten,  bildeten  den  Ausgangspunkt  für  die  Philosophie  Reinholds  und 
Becks.  Beide  suchten  die  Erkenntnis  aus  einem  einheitlichen  Prinzip  zu  ver- 
stehen. Die  vorliegende  Dissertation  behandelt  in  gründlicher  Weise  die  Lehre 
Becks  und  seine  Bedeutung  in  der  nachkantischen  Philosophie.  Auch  das 
Verhältnis  der  neuen  Marburger  Schule  zu  den  damaligen  Versuchen,  die 
Mathematik  zum  Grundstein  einer  Erkenntnistheorie  zu  nehmen,  wird  ein- 
gehend gewürdigt.  Dr.  H.  Aschkenas  y. 

More,    Paul    Elma:  Nietzsche. 

Zwischen  Bewunderung  und  Feindschaft  die  Mitte  haltend,  will  dieses 
kleine  Büchlein  eine  würdigende  Charakteristik  des  Mannes  und  seines  Werkes 
geben.  In  vielleicht  zu  knappen  Umrissen  schildert  es  Leben,  Entwicklung 
und  Lehre,  dringt  selten  tiefer  unter  die  Oberfläche  und  ist  im  allgemeinen 
gefällig  und  ansprechend  geschrieben.  Hie  und  da  überrascht  es  durch  feine 
Beobachtungen  und  geistreiche  Wendungen.  Eigenartig  berührt  der  Ver- 
such, Nietzsches  egozentrische  Lehre  aus  der  wachsenden  Vertiefung  des 
Problems  des  Egoismus  usw.  besonders  durch  die  englischen  und  französischen 
Philosophen  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  abzuleiten.  Ich  halte  diesen  Ver- 
such auch  in  Einzelheiten  für  mißglückt.  Nietzsches  Lehre  ist  nicht  so  sehr 
eine  Reaktionserscheinung  eines  kräftigen  Naturalismus  gegenüber  der 
wachsenden  Einwirkung  der  Humanitätsideen  sympathisierender  und  senti- 
mentalisierender  Art,  sondern  erklärt  sich  weit  eher  durch  die  Vorherrschaft 
voluntaristischer  Ideengänge.  Der  Verfasser  selber  erkennt,  daß  „der  Natu- 
ralismus sich  im  Kampfe  mit  sich  selbst  befindet"  und  sich  abmüht,  dem 
selbst  statuierten  Verhängnis  zu  entgehen.  Auf  jeden  Fall  ist  auch  diese 
Charakteristik  ein  Beweis,  daß  Nietzsche  „historisch"  zu  werden  beginnt. 

Dr.  Bruno    Jordan,    Hannover. 

Set h,  James:  English  Philosophers  and  schools  of  Philosophy. 

Der  bekannte  gelehrte  Verfasser  will  in  diesem  Buche,  das  unter  die 
von  Oliphant  Smeaton  herausgegebenen  „Channels  of  English  Litterature" 
aufgenommen  ist,  einen  Überblick  geben  über  die  hauptsächlichen  Momente 
der  Entwicklung  der  englischen  Philosophie,  und  zwar  in  einer  Darstellung 
der  führenden  Denker  in  ihrer  gegenseitigen  Beziehung  und  in  ihrem  Ver- 
hältnis zur  allgemeinen  Bewegung  der  philosophischen  Gedankenarbeit. 
Ihm  liegt  also  erschöpfende  Vollständigkeit  ebenso  fern  als  eine  gelehrte  Be- 
handlung; umgekehrt  rückt  er  die  lebendige  Gedankenarbeit  der  einzelnen 
Denker  in  den  Vordergrund  und  stellt  die  logische  Abfolge  der  Ideen  inner- 
halb der  Gesamtentwicklung  mehr  zurück  und  behandelt  überdies  die  Philo- 
sophie stets  im  engen  Zusammenhange  mit  der  Literatur.  Nach  einer  charakte- 
risierenden Einleitung,  die  den  erfahrungsmäßigen,  erkenntnistheoretischen 
und  praktischen  Zug  der  englischen  Philosophie  hervorhebt  und  ihre  An- 


Rezensionen.  389 

fange  bei  Roger  Bacon  und  William  Ockham  ( !)  schildert,  werden  aus  dem 
17.  Jahrhundert  Bacon,  Hobbes,  die  idealistische  Reaktion  des  Cambridger 
Piatonismus  und  des  Rationalismus  und  Locke  behandelt,  aus  dem  18.  Jahr- 
hundert Berkeley,  Hume,  die  Moralisten,  die  in  drei  Gruppen  geschieden 
Averden:  die  Vertreter  der  Lehre  vom  Moral  Sense  (Shaftesbury,  Hutcheson, 
Butler),  die  Deutungen  des  Moral  Sense  als  Assoziation  und  Sympathie 
(Hartley,  Smith)  und  die  frühen  Utilitaristen  (Tucker,  Paley),  und  schließlich 
in  einem  besonderen  Kapitel  die  Erneuerer  des  Rationalismus,  Price  und 
Reid.  Im  neunzehnten  Jahrhundert  wird  zunächst  die  englische  Entwick- 
lung von  Hume,  also  der  Utilitarismus  und  die  Assoziationsphilosophie 
(Bentham,  J.  und  J.  St.  Mill,  Bain),  sodann  der  Evolutionismus  Spencers 
dargestellt,  danach  die  Weiterentwicklung  der  Common  senserLehre;  der 
naturalistische  Realismus  und  die  Philosophie  des  Bedingten,  Hamilton  und 
Mansel,  der  Agnostizismus  Spencers  und  Huxleys  und  die  Rückkehr  zur 
schottischen  Schule  (Calderwood,  Martineau,  Fräser);  endlich  die  idealistische 
Antwort  auf  Humes  Lehre:  der  Spiritualismus  von  Coleridge  und  Stewman. 
der  absolute  Idealismus  von  Ferrier  und  Grote  und  der  spätere  von  Sterling, 
Caird,  Green  und  Bradley.  Der  Verfasser  schließt  mit  einer  Darlegung  der 
gegenwärtigen  Strömungen  in  der  englischen  Philoso2)hie.  Gegen  Auswahl 
und  Anordnung  ließen  sich  manche  Bedenken  geltend  machen.  So  fehlt  z.  B, 
mit  Unrecht  eine  Darstellung  des  einflußreichen  Deismus  und  seiner  Haupt- 
vertreter. Gar  nicht  erwähnt  werden  so  bedeutend  gewordene  Philosophen 
Avie  Burke,  Home  u.  a.  Manches  wie  der  Cambridger  Piatonismus  ist  zu  kurz 
behandelt.  Die  streng  chronologische  Anordnung  hätte  durchbrochen  werden 
müssen;  erst  auf  eine  Darstellung  der  Entwicklung  der  mathematischen 
Naturwissenschaften  (Newton,  Huygens),  die  ganz  fehlt,  durfte  Hobbes  folgen, 
der  ohne  sie  nicht  zu  begreifen  ist.  Auch  würde  es  sich  empfehlen,  den  Cam- 
bridger Piatonismus  im  Zusammenhange  mit  der  Erneuerung  des  Rationalis- 
mus durch  Price  und  Reid  hundert  Jahre  später  zu  behandeln  und  ander- 
seits auf  die  Darstellung  der  Moralisten  sogleich  Utilitarismus,  Assoziations- 
theorie des  19.  Jahrhunderts  folgen  zu  lassen.  Da  es  sich  ja  nicht  um  eine 
streng  Avissenschaftliche  Darstellung  handelt,  ist  eine  Darlegung,  die  die 
zusammenhängenden  Bewegungen  in  einer  Entwicklungslinie  vorführt , 
durchsichtiger  als  dieses  Zerreißen  Aron  Bewegungen  aus  chronologischen 
Gründen.  Auf  einen  Einblick  in  die  gegenseitigen  Einwirkungen  kann  es 
ja  in  dieser  Darstellung  naturgemäß  wenig  oder  gar  nicht  ankommen. 

Im  allgemeinen  ist  das  Buch  flüssig  und  klar  geschrieben.  Es  wird 
in  England  und  vielleicht  auch  Deutschland  Ariele  Leser  finden,  die  es  mit 
Freude  und  Gewinn  lesen  werden.  Dr.  Bruno  Jordan,  Hannover. 

Friedrich  Nietzsches    Werke. 

Die  große  monumentale  Nietzsche-Ausgabe  nähert  sich  ihrem  Abschluß. 
Der  mir  vorliegende  XV.  Band  enthält  Ecce  homo  und  „Der  Wille  zur  Macht" 
1,  2.  Buch;  der  XVIII.  Philologica  Band  IL  Das  „nachgelassene"  Werk 
Ecce  homo  war  außer  in  einzelnen  Stücken,  die  Elisabeth  Förster-Nietzsche 
der  Biographie  ihres  Bruders  einverleiht,   hatte,  als  (ianzes  durch   eine   Aus- 


390  Rezensionen. 

gäbe  im  Inselverlag,  die  R.  Richter  besorgt  hatte,  bekannt.  Otto  Weiß  bietet 
jetzt  eine  abschließende  kritische  Ausgabe  und  bringt  damit  die  Gesamt- 
ausgabe der  Werke  zum  Abschluß.  Das  zweite  nachgelassene  Werk  „Wille 
zur  Macht",  dessen  beide  ersten  Bücher  hier  veröffentlicht  werden,  reicht 
in  seinen  ersten  Skizzen  und  Entwürfen  bis  in  die  Zeit  der  Konzeption  des 
Zarathustra  zurück.  Es  war  das  Hauptwerk,  das  auf  vier  Bände  berechnet 
war,  das  lange  Zeit  die  Gedanken  Nietzsches  beherrschte  und  aus  dem  oder 
vielmehr  aus  dessen  Materialsammlung  sich  die  Schriften  „Jenseits  von  Gut 
und  Böse"  und  die  „Genealogie  der  Moral"  ablösten;  es  fand  nach  einer  um- 
fangreichen Stoffsammlung  seinen  ersten  Plan  im  Jahre  1886,  ihm  folgte  ein 
zweiter,  kurzer  und  prägnanter  im  Frühling  1887.  Diesen  Entwurf  von  1887 
hat  der  Herausgeber  der  vorliegenden  Ausgabe  zugrunde  gelegt,  weil  er  „seiner 
Stellung  und  seiner  Form  nach  wie  eine  Achse  im  Mittelpunkt  der  ganzen 
Entwicklung  steht".  Es  löst  sich  von  dem  Hauptwerk  selbständiger  werdend 
die  „Umwertung  aller  Werte"  ab.  Nach  vielen  Plänen  und  Entwürfen  ar- 
beitet Nietzsche  immer  intensiver  an  dem  Hauptwerk;  der  letzte  Plan  der 
„Umwertung"  liegt  dem  veröffentlichten  „Antichrist"  zugrunde.  Im  Laufe 
des  letzten  Jahres  1888  lösten  sich  dann  auch  noch  der  „Fall  Wagner", 
„Götzendämmerung"  und  „Nietzsche  contra  Wagner"  von  dem  Hauptwerk  ab. 

Im  Mittelpunkt  des  Hauptwerkes  stand  wie  im  Zarathustra  die  Idee 
der  ewigen  Wiederkehr.  Nur  sollte  die  Verwirklichung  dieser  Idee  und  „ihr 
stärkender  und  züchtender  Einfluß  auf  unser  psychisches  Leben"  in  der  Zu- 
kunft liegen  (vgl.  den  Entwurf  des  Buches  „Zucht  und  Züchtung").  Weiß 
hat  wohl  recht,  wenn  er  als  die  Hauptidee  des  Werkes  die  Vereinigung  der  Idee 
der  ewigen  Wiederkunft  mit  der  Konzeption  des  Übermenschen  bezeichnet. 
Das  metaphysische  und  psychologische  Prinzip  des  „Willens  zur  Macht" 
stellt  die  Basis  dieser  Versöhnung  dar.  In  der  Tat  steht  in  den  ersten  Plänen 
die  Idee  einer  Höherbildung  des  menschlichen  Typus  durch  den  Gedanken 
der  ewigen  Wiederkehr  im  Mittelpunkt.  Dann  kommt  als  fruchtbares  Prinzip 
die  Idee  „des  Willens  zur  Macht"  hinzu.  Es  erwächst  dann  in  Nietzsche  der 
Gedanke,  durch  eine  zersetzende  Kritik  der  Gegenwart  und  ihrer  Werte  erst 
den  Boden  für  seine  großen  Forderungen  an  die  Menschheit  zu  bereiten.  So 
gelangt  er  schließlich  bei  der  „Umwertung  aller  Werte"  an. 

Der  Herausgeber  hat  die  Entstehungsgeschichte  klar  und  eingehend 
behandelt.     Die  Ausgabe  selbst  ist  mustergültig. 

Der  zweite  mir  vorliegende  Band  enthält  Philologica  II,  Unveröffent- 
lichtes zur  Literaturgeschichte,  Rhetorik  und  Rhythmik.  Der  Herausgeber 
Otto  Crusius  hat  das  Erbe  der  Herausgabe  dieser  Arbeiten  Nietzsches  als 
Nachlaß  von  dem  verstorbenen  Herausgeber  des  ersten  Bandes  der  Philo- 
logica, Ernst  Holzer,  überkommen.  Die  Herausgabe  erfolgt  in  dessen  Sinne 
und  ist  vortrefflich.  Sie  enthält  eine  Geschichte  der  griechischen  Literatur  I 
und  II  nach  einem  Kolleg  in  den  Jahren  1874/75  und  1875,  sodann  den  III.  Teil 
1875/76,  ferner  eine  „Geschichte  der  griechischen  Beredsamkeit"  1872/73, 
eine  Darstellung  der  griechischen  Rhetorik  1874,  griechische  Rhythmik 
1870/71,  zur  Theorie  der  quantitierenden  Rhythmik,  endlich  rhythmische 
Untersuchungen.      Der  Wert  dieser  Philologica  beruht  zunächst  darin,  daß 


Rezensionen.  391 

der  Leser  „eine  Urkundensammlung  gewinnt,  die  ihm  ermöglicht,  sich  ein 
Urteil  zu  bilden  über  das  Verhältnis  zwischen  Nietzsches  Lebenswerk  und 
seinen  Fachstudien",  das  bislang  fast  völlig  verkannt  worden  ist.  Geringer 
ist  der  Wert  an  wirklichen  Erkenntnissen  wissenschaftlicher  Art.  Obschon 
ihrer  manche  vorhanden  sind,  steht  Nietzsches  Leistung  selbstverständlich 
heute  gewiß  nicht  auf  der  Höhe  der  Forschung  und  hat  auch  zur  Zeit  ihrer 
Abfassung  nur  hie  und  da  Anspruch  auf  bedeutsame  Selbständigkeit  erheben 
dürfen.  Trotzdem  hat  Crusius  recht  mit  der  Behauptung,  daß  „genug  bleibt, 
was  diesen  Blättern  ihren  dauernden  Reiz  und  Wert  auch  für  den  Gelehrten 
verleiht.  In  erster  Linie  die  Fragestellungen,  die  Gesichtspunkte,  unter  denen 
der  Stoff  geordnet  und  betrachtet  wird." 

Möge  darum  diese  Sammlung  viele  Leser  finden:  sie  lehrt  den  Philo- 
sophen, daß  alle  Entwicklung  ihre  festgegründeten  Wurzeln  habe,  den  mo- 
dernen Menschen,  daß  er  ohne  Antike  nichts  ist  und  nichts  vermag.  Die 
Ironie  des  Schicksals  will  es,  daß  für  die  Unersetzlichkeit  und  ewige  Uner- 
schöpflichkeit der  Antike  diesmal  kein  anderer  beredtes  und  lebendiges 
Zeugnis  ablegt  als  der  „modernste"  aller  modernen  Menschen,  als  Friedrich 
Nietzsche.  Dr.  Bruno    Jordan,  Hannover. 

Kiefer,  Arthur:  Der  Mensch.  A.  Allgemeine  Gesichtspunkte.  B.  Spe- 
zielleres. Breslau  1911.  Verlag  der  Koebnerschen  Buchhandl. 
Der  Verfasser  gibt  sich  als  einen  der  ganz  Originellen,  die  mit  keinem 
Meister  buhlen.  Er  geht  mit  mehr  Leidenschaft  als  zwingender  Logik  und 
historischem  Verständnis  gegen  das  Christentum  vor,  bekämpft  jede  auf 
Gleichheit  gerichtete  Ethik  und  gibt,  nachdem  er  das  „sogenannte  Berufs- 
leben" und  die  Unnatur  des  „Nackten"  gekennzeichnet  hat,  noch  ein  Kapitel: 
„Tröstliches"  zu,  das  freilich  ebenso  wenig  Klarheit  bringt,  wie  die  früheren. 
Es  ist  viel  pathetische  Rethorik  in  dem  Buche,  hier  und  da  auch  ein  gewisser 
Geist,  aber  in  der  Gesamtheit  doch  wenig,  was  kritischen,  auf  systematische 
Gedankenarbeit  gerichteten  Köpfen  etwas  zu  sagen  hat. 

Richard    Müller-Freienfels,  Haiensee. 

Zinkernagel,  Franz:  Goethe  und  Hebbel.  Eine  Antithese.  Tübingen, 
1911. 
Der  Verfasser  beginnt  diese  Ausführungen,  die  ursprünglich  ein  Festvortrag 
waren,  mit  prinzipiellen  Bemerkungen  über  die  Normgebung  der  Literatur- 
wissenschaft, die  allzu  einseitig  sich  bisher  an  Goethe  orientiert  habe.  Darauf 
werden  in  geistreicher  Antithese  Goethe  und  Hebbel,  besonders  nach  ihrer 
Theorie  des  Tragischen,  einander  gegenübergestellt.  Vor  allem  das,  was  Zinker- 
nagel über  Hebbel  zu  sagen  hat,  beruht  auf  grürdlichen  eigenen  Studien, 
welche  die  neuerdings  oft  sehr  übertriebene  Abhängigkeit  Hebbels  von  Hegel 
auf  das  gebührende  Maß  zurückführen.  Freilich  verfällt  der  Verfasser  auch 
der  Gefahr,  die  in  solchen  Antithesen  immer  liegt,  die  ( iegensiitze  übe  geistreich 
zuzuspitzen.  Gewiß  ist  es  interessant,  \\;is  er  über  den  tiefen  Pessimismus 
als  innersten  Kern  der  Hebbelschei  'I  ragfdie  zu  sagen  hat,  aber  es  grenzt 
ans  Paradoxe,  wenn  er  schließlich  formuliert:  Goethes  Kunst  offenbart  uns 


392  Rezensionen. 

den  Reichtum  des  Menschenlebens,  Hebbels  Kunst  letzten  Endes  nur  seine 
Armut.  —  Es  hat  immer  sein  Bedenkliches,  reiche  Menschennaturen  auf 
eine  Formel  zu  bringen,  es  kommen  dabei  meist  nur  Halbwahrheiten  heraus. 
Aber  gerade  solche  können  oft  sehr  anregend  sein,  wenn  sie  auch,  oder  gerade 
weil  sie  zum  Widerspruch  herausfordern.  So  wirkt  dies  ganze  Büchlein,  das 
auch  im  einzelnen  vieles  Interessante  und  Gute  enthält. 

Richard    Müller- Freienfels,  Haiensee. 

Lütcke,  Heinrich:  Studien  zur  Philosophie  der  Meistersänger.  Ge- 
dankengang und  Terminologie.  Berlin  1911. 
Aus  der  Zahl  der  Meistersänger,  deren  „spruchmäßige"  Poesie  oft  philo- 
sophische Inhalte  behandelt,  wählt  Heinrich  Lütcke  drei  Repräsentanten 
aus,  Frauenlob  aus  dem  älteren  Meistersang,  Heinrich  v.  Mügeln,  der  ein 
halbes  Jahrhundert  später  lebte,  und  zuletzt  Hans  Folz,  der  um  gegen  Ende 
des  15.  Jahrhunderts  blühte.  Sie  alle  gehen  ziemlich  bewußt  auf  philosophische 
Probleme  los.  Und  zwar  sind  die  metaphysischen  Grundbegriffe  idealistisch 
im  Sinne  Piatos,  neben  dem  natürlich  auch  besonders  aristotelische  Ein- 
flüsse wirkten.  Unter  den  idealen  Prinzipien  der  Meister- 
sänger spielt  das  „Wort"  eine  besondere  Rolle,  das  im  Mittelalter  gleich 
,, Gedanke,  Idee,  Begriff"  war.  Daneben  wird  durch  Frauenlob  die  „ere" 
zum  idealen  Prinzip  proklamiert.  Auch  die  „minne"  wird  zu  einem  solchen 
idealen  Prinzip  erhoben.  Neben  der  idealistischen  Metaphysik  steht  eine  von 
Aristoteles  kommende  dualistische  Physik,  die  die  irdisch  reale  Welt  aus 
einer  Verbindung  von  Form  und  Materie  erklärt.  Danach  gestalten  sich  die 
Vorstellungen  von  der  Natur,  dem  Weltganzen,  dem  Leben  und  dem  Tode. 
—  Natürlich  werden  auch  die  theologischen  Probleme,  wie  sie  mittelalter- 
liche Dogmatik  stellte,  in  den  Kreis  der  Betrachtung  gezogen,  und  besonders 
der  Marienkult  spielt  eine  große  Rolle.  Die  Ethik  der  Meistersänger  ist  im 
wesentlichen  eine  Tugendlehre,  die  bei  Frauenlob  noch  dem  mittelalterlichen 
ritterlich-weltlichen  Ideale  nachstrebt,  bei  Mügeln  jedoch  der  antikisierenden 
Ethik  der  Scholastik  sich  anschließt  und  im  innersten  Kern  sich  auf  den  Ge- 
danken von  der  Einheit  des  Seinsprinzips  mit  dem  Prinzip  des  Guten  aufbaut. 

Richard    Müller-Freienfels,    Haiensee. 

Correspondance  de  Renouvier  et  de  Secretan.  Paris, 
Armand-Colin.  1910.  168  p. 
Renouvier  et  Secretan  avaient  Tun  et  l'autre  cinquante-deux  ans,  lorsque, 
en  1863,  commen^a  entre  eux  un  echange  de  lettres  qui,  tres  actif  jusqu'en 
1877,  devait  durer  jusqu'en  1891.  Leurs  travaux  essentiels  etaient  dejä  pu- 
blies, et  leurs  conclusions  arretees.  C'est  dire  que  ce  volume  ne  peut  fournir 
beaucoup  de  documents  revelateurs  et  importants  sur  l'histoire  du  neo-criti- 
cisme  et  Celle  de  la  philosophie  de  la  liberte.  II  n'en  a  pas  moins  un  extreme 
interet,  puisqu'il  nous  fait  mieux  connaitre  la  personnalite  des  deux  philo- 
sophes  et  met  en  valeur  par  contraste,  les  elements  essentiels  des  deux  doc- 
trines.  Mais  surtout,  peut-on  dire,  de  la  doctrine  de  Secretan.  Renouvier, 
peu  combatif,  peu  porte  ä  la  polemique  et  surtout  ä  la  polemique  epistolaire, 


Rezensionen.  393 

n'a  guere  d'autre  souci  que  de  defendre  la  purete  du  neo-criticisme  contre 
les  incursions  metaphysiques  de  son  correspondant ;  „nous  avons,  lui  ecrit-il 
(26  avril  1872)  memes  instincts,  memes  sentiments,  nienies  principes  nioraux 
en  tout  ce  qui  est  sublunaire,  meine  methode  aussi  pour  tenter  de  franchir 
l'atmosphere.  Seulement  vous  croyez  un  peu  l'avoir  franchi  et  vous  planez 
comme  en  reve,  tandis  que  je  nie  sens  du  plonib  dans  l'aile."  Aussi  les  prin- 
cipes du  criticisme,  surtout  en  ce  qui  concerne  la  critique  de  la  connaissance, 
ne  sont  pas  mis  en  discussion;  ce  n'est  que  dans  une  lettre  du  6  fevrier  1876 
que  Secretan  parle  du  phenomenisnie  et  de  la  substance.  Le  penseur  de  Lau- 
sanne, pour  qui  toute  philosophie,  n'est  que  la  „mise  ä  l'indicatif  de  tout  ce 
qu'implique  la  souverainete  de  l'inrperatif*',  n'attache,  senible-t-il,  qu'une 
faible  importance  aux  essais  de  Renouvier  sur  la  representation  (cf.  p.  111). 
En  dehors  de  la  tres  importante  lettre  (p.  8  sq.)  oü  Renouvier  expose  les  re- 
sultats  metaphysiques  de  ses  principes  (et  la  reponse  de  Secretan  manque), 
ce  sont  les  questions  theologiques  et  morales  qui  sont  au  premier  plan.  L'amour 
etait,  pour  Secretan,  le  principe  essentiel  qui  revelait  le  but  et  le  plan  de  la 
creation,  l'unite  primitive  de  l'humanite,  et  son  unite  finale  dans  l'avenir; 
les  autres  principes  moraux,  tels  que  la  justice  devaient  en  dependre.  Au 
contraire  il  apparaissait  ä  Renouvier  comme  un  sentiment  sans  regle  ni  frein 
par  lui-meme  et  dont  l'importance  qu'on  lui  attribue  manifeste  seulement 
l'incapacite  d'obeir  ä  Ja  loi  rationnelle  de  justice.  Sans  que  la  discussion  affecte 
une  allure  systematique,  c'est  sur  cette  Opposition  entre  l'amour  et  la  justice 
qu'elle  retombe  sans  cesse,  et  c'est  eile,  semble-t-il,  qui  fait  le  noeud  vital 
de  toutes  les  questions  qui  sont  touchees.  „L'amour  n'est  pas  une  regle  et 
ne  peut  pas  etre  un  precepte"  (Renouvier,  p.  15).  „II  n'y  a  pas  de  justice 
sans  amour,  il  n'y  a  pas  non  plus  d'amour  vrai  sans  justice,"  replique  Secretan 
(p.  19).  Dans  ce  cas,  l'amour  ne  serait  plus  l'amour  passion,  mais  une  volonte 
identique  ä  la  justice,  et  le  litige  ne  serait  que  verbal,  et  les  deux  philosophes 
paraissent  d'accord  (p.  22  et  29;  p.  33).  Cet  accord  ne  pouvait  durer  (cf.  p.  35, 
36;  p.  38);  Secretan  ne  peut  en  effet  admettre  la  justice  que  comme  expression 
de  l'amour  qui  garde  ainsi  la  premiere  place,  et  c'est  ainsi  la  predominance 
de  la  charite  qui  est  mise  en  question  (p.  75,  76),  et,  sans  d'ailleurs  obtenir 
de  reponse,  il  insiste  ä  plusieurs  reprises  sur  rette  idee  (p.  81;  83,  86,  89,  101). 
On  ne  peut  se  debarrasser,  en  lisant  ces  discussions,  du  sentiment  que  les 
deux  philosophes  pensent  Tun  a  cöh'-  de  Pautre,  et  que  l'influence  de  Tun 
sur  l'autre  n'a  pas  ete  tres  grande.  Ce  qui,  pour  Renouvier,  est  un  probleme 
pratique  et  un  corollaire  de  sa  methode  est,  pour  Secretan,  la  revelation  du 
fond  meme  de  l'etre.  Que  de  malentendus  il  devait  y  avoir  ä  surmonter  entre 
un  metaphysicien  comme  Secretan,  haliitue  ä  la  maniere  de  Schelling  et  de 
Baader  (p.  6),  tout  impregne  du  sentiment  de  la  continuite  du  devenir  et 
de  l'unite  fonciere  de  l'etre,  imlju  de  l'espiit  chretien  du  protestantisme  liberal, 
et  un  criticiste  comme  Renouvier  hostile  ä  tout  le  developpement  postkantien, 
et  partisan   tres  drcide  de   la  discontinuitr  et  des  commencements  absolus. 

E  in  i  1  e     P>  c  ('•  li  L  6  r  ,    Bordeaux. 


Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   KXVI.  3.  >J6 


394  Rezensionen. 

Price,  W.  R.:  "The  Symbolism  of  Voltaire's  Novels",  Pp.  VI,  269.  New- 
York:  Columbia  University  Press,  1911. 
Dr.  Price  has  given  us  an  extremely  interesting  work,  the  result  of  much 
reading  and  careful  thought  and  study  of  his  sources  at  first  hand.  After  a 
brief  but  clar  analysis  of  the  historical  criticisms  and  the  psychological  criti- 
cism  involved,  Dr.  Price  traces,  in  succinct  and  illuminating  manner,  first 
the  subjective,  and  then  the  objective,  reasons  for  Voltaire's  use  of  symbo- 
lism, the  great  apostle  of  enlightenment  though  he  was.  The  author  devotes 
successive  chapters  to  each  of  the  following:  —  Zadig,  Moabdar,  Astarte, 
Arimaze,  Arbogad  and  Jesrad.  This  was  very  necessary,  because  too  little 
is  known  or  understood  generally  of  Voltaire's  work,  beyond  the  Zadig, 
which  has  a  certain  philosophical  character,  and  the  C  a  n  d  i  d  e  ,  with  its 
abundance  of  persiflage  and  its  lack  of  depth  and  reverence.  Voltaire, 
of  course,  made  no  serious  contribution  to  philosophy,  but  his  works  were 
permeated  with  the  philosophical  spirit,  as  he  understood  it.  It  is  his  extra- 
ordinary  versatility  rather  in  the  literary  sphere  which  holds  our  attention, 
and  those  interested  therein  will  find  a  good  deal  to  help  them  in  Dr.  Price's 
book.    There  is  a  Bibliography  at  close  of  the  work,  but  no  Index. 

Irvine,  Scotland.  James    Lindsay. 

Mackinnon,  Flora  Isabel:  "The  Philosophy  of  John  Norris  of 
Bemerton",  Pp.  III,  104.  Baltimore,  Review  Publishing  Co.  1910. 
The  very  slight  and  occasional  references  to  Norris  and  his  work  in  his- 
torical philosophy  make  this  monograph  welcome.  In  the  philosophy  of 
Norris,  as  here  treated,  the  following  subjects  are  dealt  with;  —  the  Ideal 
world;  the  natural  or  material  world;  the  objects  of  knowledge;  and  these 
are  followed  by  critical  summaries,  conclusions,  a  bibliography,  and  an  Index. 
The  work  is  interesting,  careful,  and  suggestively  carried  out.  The  relations 
of  Norris  to  Malebranche,  and  to  Collier  and  Berkeley,  are  clearly  worked 
out.  Nor  is  Locke  forgotten,  in  his  critical  attitudes.  It  is  impossible  to  follow 
here  all  the  points  dealt  with,  and  it  must  suffice  to  say  that  the  work  was 
well  worth  doing,  and  is,  in  whole,  very  well  done.  It  is  highly  creditable 
ta  American  philosophical  scholarship  and  interest  that  so  many  good  mono- 
graphs  of  this  sort  have  appeared  within  recent  years.  Long  may  this  con- 
tinue,  and  some  of  us  will  not  be  so  hide-bound  and  stereotyped  as  not  to 
offer  them  cordial  welcome. 

Irvine,  Scotland.  James    Lindsay. 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.  Deutsche    Literatur. 

Agrippa  von  Nettesheim,  Die  Eitelkeit  und  Unsicherheit  der  Wissenschaften. 

Herausg.  von  F.  Mautner.     München,  Müller. 
Altkirch,  E.,  Spinoza  im  Porträt.    Jena,  Diederichs. 
Aristoteles:  Politik.    Herausg.  von  Rolfes.    Leipzig,  Meiner. 
Falckenberg,  R.,  Geschichte  der  neueren  Philosophie.     Leipzig,  Veit. 
Frangian,  E.,  N.  Michailowsky  als  Soziologe  und  Philosoph.     Berlin,  Mayer 

&  Müller. 
Geraskoff,  M.,  Die  sittliche  Erziehung  nach  Spencer.    Zürich,  Speidel. 
Guyau's,  J.  M.,  philosophische  Werke.     Leipzig,  Klinkhardt. 
Krebs,  E.,  Theologie  und  Wissenschaft  nach  der  Lehre  der  Hochscholastik. 

Münster,  Aschendorff. 
Monzel,  A.,  Die  Lehre  vorn  inneren  Sinn  bei  Kant.    Bonn,  Georgi. 
Ruskin,  J.,  Menschen  untereinander.     Düsseldorf,  Langewiesche. 
Sganzini,  C,  Die  Fortschritte  der  Völkerpsychologie  von  Lazarus  bis  Wundt. 

Bern,  Francke. 
Siegel,  C.,  Geschichte  der  deutschen  Naturphilosophie.    Leipzig,  Akademische 

Verlagsgesellschaft. 
Simmel,  G.,  Kant.    3.  Auflage.    München,  Duncker  &  Humblot. 
Schmidt-Wendel,  K.,  Kants  Einfluß  auf  die  englische  Ethik.    Berlin,  Reuther. 
Sydow,  E.,  Kritischer  Kant-Kommentar.  Aus  den  Kritiken  Fichtes,  Schellings, 

Hegels.     Halle,  Niemeyer. 

B.  Englische    Literatur. 

Babbitt,  The  Masters  of  modern  French  Criticism.    London,  Constable. 

Brett,  G.,  A  History  of  Psychology.    London,  Allen. 

Füller,  B.,  The  Problem  of  Evil  in  Plotinus.     Cambridge,  University  Press. 

Perry,  R.,  Present  philosophical  Tendencies.     London,  Longmans. 

Ross,  G.  and  Haidane,  E.,  The  philosophical  Works  of  Descartes.    Cambridge, 

University  Press. 
Stewart,  H.,  Questions  of  thc  Day  in  Philosoph?  and  Psychology.     London, 

Arnold. 

C.  Französische  und    belgische  Literatur. 
Didier,  J.,   Hume.      Paris,   Blond. 
Carlyle  et  Emerson    Correspondance.     Paris,  Colin. 
Cellerier  et  Dugas,  L'annce  pedagogique.     Paris,  Alcan. 
Gilson,  La  liberte  chez  Descartes  et  la  theologie.    Ebd. 


396  Historische  Abhandlungen  in  den   Zeitschriften. 

Hubert,  Aug.  Comte.     Paris,  Michaud. 

Pegues,   Th.,    Commentaire   litteral   de   la   Somme   Theologique   de   Thomas 
dlAquin.     Toulouse,  Private. 

D.  Italienische  und    spanische  Literatur. 
Caviglione,  C,  II  Rosmini  vero.    Voghera. 
Munoz,  El  Apostolado  moderno.     Grenada,  Barcelona. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  Bd.  148,  H.  2.  Ferber, 
Piatos  Polemik  gegen  die  Lustlehre. 

—  Bd.  149,  H.  1.  Nohl,  Eine  historische  Quelle  zu  Nietzsches  Perspek- 
tivismus: Teichmüller,  die  wirkliche  und  die  scheinbare  Welt.  Sänge, 
Verhandlungen  des  ersten  deutschen  Soziologentages. 

—  H.  2.     Müller,  Martin  Deutinger. 

Philosophisches  Jahrbuch.   Bd.  XXVI.   H.  1.   Endres,  Studien  zur  Geschichte 

der  Frühscholastik. 
Revue  de  Metaphisique  et  de  Morale.     An.  21,  Nu.  1.     Boutroux,  Les  etapes 

de  la  philosophie  mathematique. 
Reime  de  philosophie.     An.  13,  Nu.  1.     Bulliot,  Faut-il  changer  l'orientation 

de  la  Neo-Scolastique  ?     Baron,  A  propos  de  l'idealisme  anglais  con- 

temporaine. 

—  Nu.  3.  Charles,  La  metaphysique  du  Kantisme.  Rohellec,  La  theorie 
des  passions  chez  saint  Thomas. 

Revue  Neo-Scolastique.  XX  An.,  Nu.  77.  De  Wulff,  Vingtieme  annee.  Mun- 
nynck,  La  demonstration  metaphysique  du  libre  arbitre.  Lantsheere, 
Les  caracteres  de  la  philosophie  moderne.  Mandonnet,  R.  Bacon  et 
la  composition  des  trois  „Opus".  Legrand,  „L'experience  religieuse" 
et  la  philosophie  de  W.  James. 

Mind.  1913,  Nu.  85.  Langley,  The  metaphysical  Method  of  Herbart.  Cooke, 
Ethics  an  the  New  Intuitionists. 

The  Hibbert  Journal.  Vol.  XI,  Nu.  2.  Thorpe,  Joseph  Priestley.  Montefiore, 
Modern  Judaism  and  the  messianic  hope. 

The  Monist.  Vol.  XXIII,  Nu.  1.  Talbot,  Fichte's  conception  of  God.  Chandler, 
Tragic  effect  in  Sophocles  Analyzed  according  to  the  Freudian  Method. 
Pratelle,  Atomistic  dynamism. 

Rivista  di  Filosofia.  An.  IV,  Fase.  V.  Donati,  II  valore  della  guerra  e  la  filo- 
sofia  di  Eraclito. 

Rivista  di  Filosofia  Neo-Scolastica.  An.  IV,  Nu.  6.  Nardi,  La  teoria  dell'anima 
e  la  generazione  delle  forme  secondo  Pietro  d'Abano.  Huit,  II  Plato- 
nismo  in  Francia  nel  secolo  XIX.  Dyroff,  Una  lettera  inedita  di  Vin- 
cenzo  Gioberti.  Audin,  A  proposito  della  dimostrazione  tomistica 
dell'esistenza  di  Dio. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.    Deutsche  Literatur. 

Ach,  N.,  Eine  Serienmethode  für  Reaktionsversuche.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 

Bergmann,  E.,  Die  Philosophie  Guyaus.     Leipzig,  Klinkhardt. 

Falckenberg,  R.,  Geschichte  der  neueren  Philosophie  von  Nikolaus  von  Kues 
bis  zur  Gegenwart.    7.  Auflage.    Leipzig,  Veit. 

v.  Gerdteil,  L.,  Die  urchristlichen  Wunder  vor  dem  Forum  der  modernen 
Weltanschauung.    3.  Auflage.    Eilenburg,  Becker. 

Gläßner,  G.,  Über  Willenshemmung  und  Willensbahnung.  Leipzig,  Quelle 
&  Meyer. 

Guyau,  J.  M.,  Die  ästhetischen  Probleme  der  Gegenwart.  Deutsch  von  E.  Berg- 
mann.    Leipzig,  Klinkhardt. 

Hamilton,  E.  J.,  Erkennen  und  Schließen.     Leipzig,  Klinkhardt. 

Hensel,  P.,  Hauptprobleme  der  Ethik.     Leipzig,  Teubner. 

Hillgruber,  A.,  Fortlaufende  Arbeit  und  Willensbetätigung.  Leipzig,  Quelle 
&  Meyer. 

Jahrbücher  der  Philosophie.  Herausgegeben  von  Max  Frischeisen-Köhler. 
Jahrg.  I.     Berlin,  S.  Mittler  &  Sohn. 

Kluge,  A.,  Die  Sabbatruhe  Gottes.    Breslau,  Aderholz. 

Kohlbrugge,  J.  H.  F.,  Historisch-kritische  Studien  über  Goethe  als  Natur- 
forscher.    Würzburg,  Kabitzsch. 

Picard,  E.,  Das  Wissen  der  Gegenwart  in  Mathematik  und  Naturwissenschaft. 
Deutsch  von  Lindemann.      Leipzig,  Teubner. 

Picht,  C.,  Hypnose,  Suggestion  und  Erziehung.     Leipzig,  Klinkhardt. 

Kaschke,  R.,  De  Alberico  Mythologo.     Breslau,  Marcus. 

Rehmke,  J.,  Anmerkungen  zur  Grundwissenschaft.     Leipzig,  Barth. 

Kuesch,  A.,  Freiheit,  Unsterblichkeit  und  Gott.    Leipzig.  Thomas. 

Spindler,  •).,  Nietzsches  Persönlichkeit  und  Lehre  im  Lichte  seines  ,,Ecce 
homn".     Stuttgart,  Cotta. 

Vecchio,  G.  del,  Über  einige  Grundgedanken  der  Politik  Rousseaus.  Beilin, 
Rothschild. 

Verweyen,  J.  M,   Philosophie  des  Möglichen.     Leipzig,  Hirzel. 

Walzel,  0.,  Friedrich  Hebbel  und  seine  Dramen.     Leipzig,  Teubner. 

Wilhelmi,  A.,  Die  Versöhnung  der  Gegensätze  ohne  ihre  Aufhebung.  Frank- 
furt a.  M.,  Baer. 

Wimdl,  \V.,  Die  Psychologie  im  Kampf  ums  Dasein.    Leipzig,  Kröner. 


398  Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

B.    Französische  Literatur. 

Lamarque,  G.,  Th.  Ribot.    Paris,  Louis  Michaud. 
Renouvier,  Ch.,  Les  principes  de  la  nature.    Paris,  Colin. 

C.    Englische    Literatur. 
Bergson,  H.,  A  contribution  to  a  bibliography  of  Henri  Bergson.    New  York, 

Columbia  University  Press. 
Philip,  A.,  The  dynamic  foundation  of  knowledge.     London,  Kegan  Paul. 
Stokes,  E.  H.,  The  conception  of  a  kingdom  of  ends  in  Augustine,  Aqninas, 

and  Leibniz.     (Diss.)     Chicago. 

D.    Italienische    Literatur. 
Gemelli,  A.,  L'origine  subcosciente  dei  fatti  mistici.    3a.  ed.     Florenz,  Libr. 
Fiorentina. 
—     Psicologia  e  biologia.     3a.  ed.     Ebd. 
Lanna,  D.,  La  teoria  della  conoscenza  in  S.  Tomaso  d'Aquino.     Ebd. 


*H 


Erklärung. 


Die  unterzeichneten  Dozenten  der  Philosophie  an  den  Hochschulen 
Deutschlands,  Österreichs  und  der  Schweiz  sehen  sich  zu  einer  Erklärung 
veranlaßt,  die  sich  gegen  die  Besetzung  philosophischer  Lehrstühle  mit  Ver- 
tretern der  experimentellen  Psychologie  wendet. 

Das  Arbeitsgebiet  der  experimentellen  Psychologie  hat  sich  mit  dem 
höchst  erfreulichen  Aufschwung  dieser  Wissenschaft  so  erweitert,  daß  sie 
längst  als  eine  selbständige  Disziplin  anerkannt  wird,  deren  Betrieb  die  volle 
Kraft  eines  Gelehrten  erfordert.  Trotzdem  sind  nicht  eigene  Lehrstühle  für 
sie  geschaffen,  sondern  man  hat  wiederholt  Professuren  der  Philosophie  mit 
Männern  besetzt,  deren  Tätigkeit  zum  größten  Teil  oder  ausschließlich  der 
experimentellen  Erforschung  des  Seelenlebens  gewidmet  ist.  Das  wird  zwar 
verständlich,  wenn  man  auf  die  Anfänge  dieser  Wissenschaft  zurückblickt, 
und  es  war  früher  wohl  auch  nicht  zu  vermeiden,  daß  beide  Disziplinen  von 
einem  Gelehrten  zugleich  vertreten  wurden.  Mit  der  fortschreitenden  Ent- 
wicklung der  experimentellen  Psychologie  ergeben  sich  jedoch  daraus  Übel- 
stände für  alle  Beteiligten.  Vor  allem  wird  der  Philosophie,  für  welche  die 
Teilnahme  der  akademischen  Jugend  beständig  wächst,  durch  Entziehung 
von  ihr  allein  gewidmeten  Lehrstühlen  eine  empfindliche  Schädigung  zu- 
gefügt. Das  ist  um  so  bedenklicher,  als  das  philosophische  Arbeitsgebiet 
sich  andauernd  vergrößert,  und  als  man  gerade  in  unseren  philosophisch 
bewegten  Zeiten  den  Studenten  keine  Gelegenheit  nehmen  darf,  sich  bei  ihren 
akademischen  Lehrern  auch  über  die  allgemeinen  Fragen  der  Weltanschauung 
und  Lebensauffassung  wissenschaftlich  zu  orientieren. 

Nach  diesem  Allen  halten  es  die  Unterzeichneten  für  ihre  Pflicht,  die 
philosophischen  Fakultäten  sowie  die  Unterrichtsverwaltungen  auf  die  hieraus 
erwachsenden  Nachteile  für  das  Studium  der  Philosophie  und  Psychologie 
hinzuweisen.  Es  muß  im  gemeinsamen  Interesse  der  beiden  Wissenschaften 
sorgfältig  darauf  Bedacht  genommen  werden,  daß  der  Philosophie  ihre  Stellung 
im  Leben  der  Hochschulen  gewahrt  bleibt.  Daher  sollte  die  experimentelle 
Psychologie  in  Zukunft  nur  durch  die  Errichtung  eigener  Lehrstühle  gepflegt 
werden,  und  überall,  wo  die  alten  philosophischen  Professuren  durch  Ver- 
treter der  experimentellen  Psychologie  besetzt  sind,  ist  für  die  Schaffung  von 
neuen  philosophischen   Lehrstühlen  zu  sorgen. 

Prof.  v.  Aster  (München)  —  Dr.  Baensch  (Straßburg  i.  E.)  —  Prof. 
Bart  h  (Leipzig)  —  Prof.  Bauch  (Jena)  —  Dr.  Bergmann  (Leipzig) 
—  Dr.  Braun  (Münster)  —  Prof.  v.  B  r  o  c  k  d  o  r  f  f  (Kiel)  —  Dr.  B  r  u  a  - 
s  t  ä  d  (Erlangen)  —  Dr.  Brunswig  (München)  —  Dr.  v.  B  u  b  n  o  1  t 
(Heidelberg)  —  Dr.   Cassirer   (Berlin)  —   Prof.   Cohen   (Marburg)  — 


400  Erklärung. 

Prof.  J.  Colin  (Freiburg  i.   B.)  —  Prof.  Cornelius  (Frankfurt  a.  M.) 

—  Prof.  D  e  u  s  s  e  n  (Kiel)  —  Prof.  Dinger  (Jena)  —  Prof.  Drews  (Karls- 
ruhe) —  Prof.  Driesch  (Heidelberg)  —  Dr.  Eleutheropulos  (Zürich) 

—  Prof.  Erhardt  (Rostock)  —  Dr.  Ehrenberg  (Heidelberg)  —  Prof. 
Eucken  (Jena)  —  Dr.  Ewald  (Wien)  —  Prof.  Falckenberg  (Er- 
langen) —  Dr.  A.  Fischer  (München)  —  Dr.  F  o  c  k  e  (Posen)  —  Prof. 
Frey  tag  (Zürich)  —  Dr.  Frischeisen-Köhler  (Berlin)  —  Dr. 
Geiger  (München)  —  Prof.  G  e  y  s  e  r  (Münster)  —  Prof.  Goedecke- 
meyer  (Königsberg)  —  Prof.  Goldstein  (Darmstadt)  —  Dr.  G  o  m  - 
p  e  r  z  (Wien)  —  Dr.  G  ö  r  1  a  n  d  (Hamburg)  —  Dr.  Groethuysen 
(Berlin)  —  Prof.  Güttier  (München)  —  Dr.  Guttmann  (Breslau)  — 
Dr.  H  ä  b  e  r  1  i  n  (Basel)  —  Dr.  Hammach  er  (Bonn)  —  Dr.  Hart- 
m  a  n  n  (Marburg)  —  Prof.  H  e  m  a  n  (Basel)  —  Dr.  Henning  (Braun- 
schweig) —  Prof.   H  e  n  s  e  1   (Erlangen)  —  Dr.   Heyfelder  (Tübingen) 

—  Prof.  Hönigswald  (Breslau)  —  Prof.  Husserl  (Göttingen)  — 
Dr.  J  a  c  o  b  y  (Greifswald)  —  Prof.  Jerusalem  (Wien)  —  Prof.  J  o  d  1 
(Wien)  —  Prof.  Joel  (Basel)  —  Dr.  K  a  b  i  t  z  (Breslau)  -  -  Prof.  Kinkel 
(Gießen)  —  Dr.  Klemm  (Leipzig)  —  Dr.  K  ö  s  t  e  r  (München)  —  Dr.  Kro- 
ner (Freiburg  i.  B.)  —  Dr.  Kuntze  (Berlin)  —  Prof.  L  a  s  k  (Heidelberg) 

—  Prof.  L  a  s  s  o  n  (Berlin)  —  Prof.  L  e  h  m.a  n  n  (Posen)  —  Prof.  Leser 
(Erlangen)  —  Dr.  L  es  sing  (Hannover)  —  Dr.  Linke  (Jena)  —  Prof. 
G.  F.  Lipps  (Zürich)  —  Prof.  Medicus  (Zürich)  —  Dr.  Melius  (Freiburg 
i.  B.)  —  Dr.  M  e  n  z  e  1  (Kiel)  —  Prof.  M  e  n  z  e  r  (Halle)  —  Prof.  Messer 
(Gießen)  —  Dr.  Metzger  (Leipzig)  —  Dr.  Meyer  (München)  —  Prof. 
Misch  (Marburg)  —  Prof.  Natorp  (Marburg)  —  Dr.  Nelson  (Göttingen) 

—  Dr.  N  o  h  1  (Jena)  —  Prof.  Pfänder  (München)  —  Prof.  v.  d.  P  f  o  r  d  t  e  n 
(Straßburg  i.  E.)  —  Prof.  Rehmke  (Greifswald)  —  Dr.  R  e  i  n  a  c  h  (Göt- 
tingen)  —  Dr.   Reininger  (Wien)  —  Prof.  Ricke  rt  (Freiburg  i.  B.) 

—  Prof.  R  i  e  h  1  (Berlin)  —  Prof.  Ritter  (Tübingen)  —  Dr.  R  u  g  e  (Heidel- 
berg) —  Dr.  Schlick  (Rostock)  —  Prof.  Schmekel  (Greifswald)  — 
Prof.    F.    A.    S  c  h  m  i  d   (Heidelberg)  —  Prof.    H.    Schneider   (Leipzig) 

—  Dr.  S  c  h  r  e  m  p  f  (Stuttgart)  —  Prof.  Schwarz  (Greifswald)  —  Dr. 
Seidel  (Zürich)  —  Dr.  Siegel  (Wien)  —  Prof.  S  i  m  m  e  1  (Berlin)  — 
Prof.  S  p  i  1 1  a  (Tübingen)  —  Prof.  Spitzer  (Graz)  —  Prof.  Spranger 
(Leipzig)  —  Prof.  Tönnies  (Kiel)  —  Prof.  U  p  h  u  e  s  (Halle)  —  Dr.  U  t  i  t  z 
(Rostock)  —  Prof.  Vai  hinger  (Halle)  —  Dr.  Verweyen  (Bonn)  — 
Prof.  Wähle  (Czernowitz)  —  Prof.  Wallaschek  (Wien)  —  Dr.  Weiden- 
bach  (Gießen)  —  Prof.  Wentscher  (Bonn)  —  Prof.  Wernicke 
(Braunschweig)   —   Prof.    W  i  1 1  m  a  n  n   (Prag)  —   Prof.    Windelband 

(Heidelberg). 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 

Neue  Folge.     XIX.  Band,   4.  Heft. 


XXI. 

Friedrich  Rosens  Darstellung  der  persischen  Mystik 

in  dem  Vorwort  zu  der  Neuausgabe  von  Georg  RosensMesnevi 
des  Scheich  Mevlana  Dschelal  ed  din   Rumi. 

Von 
Ludwig  Stein. 

Die  Mystik  ist  die  Alchimie  der  Religion.  Wie  die  Alchimie 
nach  der  Formel  suchte,  um  Gold  zu  bereiten,  so  suchte  zu  gleicher 
Zeit  die  Menschheit  des  Mittelalters  nach  einer  einfachen  Formel, 
einer  sicheren  Methode  zur  Erlangung  des  Seelenheils.  Bei  beiden 
handelte  es  sich  darum,  hinter  den  Schleier  des  Geheimnisses  zu 
kommen,  der  das  ersehnte  Ziel  verbarg.  Die  Alchimisten  haben 
kein  Gold  bereitet,  aber  ihr  Suchen  ist  doch  nicht  vergeblich  ge- 
wesen. Es  hat  zu  einer  exakten  Beobachtung  der  Naturkräfte  und 
damit  zu  den  wichtigsten  Entdeckungen  und  Erfindungen  und 
schließlich  zur  Begründung  derjenigen  Wissenschaft  geführt,  welche 
vielleicht  von  allen  noch  am  ehesten  dazu  berufen  ist,  einen  tiefen 
Blick  in  das  Wesen  der  Dinge  außer  uns,  ja  vielleicht  in  die  Frage 
nach  dem  Ursprung  und  dem  Wesen  des  Lebens  selbst  zu  tun. 
Anders  die  Mystik:  Ihre  Ziele  waren  nicht  greifbare.  Ob  sie  er- 
reicht waren  oder  nicht,  das  entschied  nicht  ein  objektiver  Befund, 
sondern  lediglich  der  subjektive  Seelenzustand  des  Suchenden.  Wer 
in  religiöse  Verzückung  gerät,  der  hat  die  Vereinigung  mit  Gott 
erlangt.  Sein  Glaube  hat  ihm  geholfen.  Der  Weg  war  sein  Ziel. 
Subjektiv  Erlebtes  ist  für  das  Subjekt  Wahrheit.  Einen  Beweis 
dafür  ist  man  niemandem  schuldig.    Nur  wenn  man  andere  an  dem 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  4.  27 


402  Ludwig  Stein, 

selbst  Erlebten  teilnehmen  lassen  will,  dann  muß  man  eine  Methode, 
einen  Weg  haben,  auf  dem  die  anderen  zu  demselben  Ziele  gelangen 
können.  Das  Bedürfnis  einzelner  Erleuchteter,  die  selbstempfundenen 
Heilswohltaten  den  Mitmenschen  zugänglich  zu  machen,  hat  im 
Christentum  zur  Entstehung  der  Sekten,  im  Muhammedanismus  zur 
Begründung  zahlloser  „Richtungen"  und  schließlich  zur  Stiftung 
der  verschiedenen  Derwischorden  geführt.  Und  diese  haben 
sich  wieder,  je  nach  der  Auffassung  der  einzelnen  Plre  oder  geist- 
lichen Führer,  die  ihrer  Methode  (tariqät)  Geltung  zu  verschaffen 
wußten,  weiter  verzweigt  und  verästelt.  In  Persien  haben  aber  alle 
diese  Richtungen,  die  unter  dem  Namen  Sufisraus  zusammengefaßt 
werden,  dabei  doch  etwas  Gemeinsames.  Sie  haben  die  Form  der 
Dichtung  angenommen  und  erfüllten  vom  zehnten  Jahrhundert  an 
immer  mehr  die  ganze  poetische  Literatur,  so  sehr,  daß  man  wohl 
ohne  Übertreibung  sagen  kann,  daß  nunmehr  jeder  Dichter  Mystiker 
war  und  fast  jedes  Dichterwerk  mehr  oder  minder  mystisch  gefärbt 
erscheint  oder  gedeutet  werden  kann. 

In  dieser  Literatur  nun  hat  der  Sufismus  der  Welt  einen  kost- 
baren und  unerschöpflichen  Schatz  von  Kunstwerken  ersten  Ranges 
beschert.  Auf  dem  Boden  keines  anderen  Landes  hat  die  Mystik 
so  schöne  und  reiche  Blüten  gezeitigt,  wie  auf  dem  Persiens.  Aus 
ihm  hat  seit  Goethe  die  deutsche  Literatur  in  reichem  Maße  ge- 
schöpft und  sich  um  neue  Gedanken  und  Kunstformen  bereichert, 
so  mangelhaft  und  oft  irreleitend  zuerst  die  Übersetzungen  von 
persischen  Dichterwerken,  so  unvollkommen  anfangs  unsere  Kenntnisse 
der  orientalischen  Philosophie  auch  waren.  Selten  hat,  _  wie  dies 
bei  Rückert  der  Fall  war,  einem  Dichter  auch  eine  gründliche, 
wissenschaftlich-orientalische  Sprach-  und  Sachkenntnis  zur  Verfügung 
gestanden.  Vielfach  hat  dichterische  Begabung  sich  über  die  Tiefe 
der  Gedankenwelt  hinweggesetzt  und  uns  mit  geschickter  Benutzung 
orientalischer  Formen  und  Ausdrucksweisen  nur  die  Schale  gegeben, 
nicht  den  Kern  erschlossen.  Und  andererseits  ist  es  auch  unter 
den  wirklichen  Gelehrten  nur  wenigen  gegeben  —  und  wenige  haben 
auch  das  Bedürfnis  dazu  empfunden  — ,  das  Schöne  in  den  ihnen 
zugänglichen  Literaturen  in  gemeinverständlicher  und  künstlerischer 
Form  wiederzugeben. 

In  dem  hier  angezeigten  Werke  hatte  sich  Georg  Rosen  diese 
Aufgabe   gestellt.     Er  wollte  „das  größte  und   bedeutendste 


Friedrich   Rosens  Darstellung  der  persischen  Mystik.  403 

Erzeugnis  der  persischen  Mystik,  ein  Werk,  das  fast  dem 
Koran  gleich  geachtet,  noch  heute,  nach  siebenhundert  Jahren,  die 
Gedankenwelt  des  Islam  vom  Adriatischen  Meer  bis  zum  Bengalischen 
Meerbusen,  von  Turkistan  bis  Jemen  mehr  oder  minder  beherrscht, 
bei  möglichster  Wiedergabe  der  dichterischen  Form  der  gebildeten 
deutschen  Leserwelt  zugänglich  und  verständlich  machen." 

Georg  Rosens  Mesnevi-Übersetzung,  die  aus  dem  Jahre 
1849  stammt,  erscheint  nun  in  neuer  Auflage  in  Georg  Müllers 
Verlag  als  erster  Band  der  Sammlung  orientalisch-klassischer  Über- 
setzungen. Sein  Sohn,  Friedrich  Rosen,  der  schon  als  Verdeutscher 
der  „Sinnsprüche  Omars  des  Zeltmachers"  bekannt  ist,  hat  nun 
zu  diesem  Buche  eine  bemerkenswerte  Einführung  geschrieben,  der 
auch  die  obigen  Worte  entnommen  sind.  Was  er  in  dieser  Ein- 
leitung sagt,  ist  zumeist  ein  Niederschlag  dessen,  was  er  in  frühen 
Wanderjahren  im  Orient  durch  Vertiefung  in  die  Werke  Dscheläl 
ed  dins  und  anderer  ähnlicher  Dichter  und  nicht  minder  durch 
langjährigen  Verkehr  mit  vielen  dem  großen  Mystiker  verwandten 
Seelen  gewonnen  hatte.  Insbesondere  verdankt  er,  wie  er  mitteilt, 
dem  Derwischorden,  der  Sefi  All  Schähl  in  Teheran,  und  vielen 
Personen  in  hervorragender  Stellung  die  weitgehendste  Förderung 
und  Belehrung.  In  den  Kreisen  der  Gebildeten  herrschte  vor 
15  Jahren  in  Persien  der  Sufismus  vor,  und  mit  Stolz  nahmen 
gerade  die  Höchstgestellten  das  Derwischtum  für  sich  in  Anspruch. 

„Das  Sufitum  liegt  nicht  im  wollnen  Rocke;  kleide 
Dich  wie  du  willst,  es  gibt  auch  Derwische  in  Seide."1) 

„Dank  den  vielfachen  Anregungen  und  Aufschlüssen",  so  führt 
Friedrich  Rosen  fort,  „die  ich  bei  meinem  langjährigen  Aufenthalte 
in  Persien  im  Kreise  dieser  Männer  gewonnen  hatte,  konnten 
mir  die  an  sich  oft  abstrusen  Ideen  der  Philosophie  des  Orients 
zur  lebendigen  Wirklichkeit  werden,  und  so  darf  ich  hoffen, 
daß  der  Leser  aus  dieser  Skizze  doch  einen  gewissen  Einblick 
in  die  eigenartige  Ideenwelt  unseres  Mystikers  gewinnen  wird,  wie 
er  ihn  vielleicht  aus  der  bloßen  Bücherweisheit  allein  nicht  hätte 
schöpfen  können." 


1)  Dieser  Vers  Dscheläl  ed  dins  spielt  darauf  an,  daß  die  Sufi  ihren 
Namen  von  den.  arabischen  Wort  suf.  Wolle,  herleiteten,  weil  das  Wollkleid, 
das   „härene  Gewand",  das  eigentliche  Kleid   der  Derwische   ist. 

27* 


404  Ludwig  Stei  n. 

„Des  Schreibrohis  schwarzer  Spur  folgt  der  Gelehrte, 
Der  Sufi  folgt  allein  des  Meisters  Fährte." 

Friedrieh  Rosen  führt  den  Leser  „auf  des  Meisters  Fährte" 
zu  seinem  Verständnis,  und  gibt,  soweit  wie  möglich,  in  seinen 
eigenen  Worten  ein  Bild  von  der  Weltanschauung,  die  seiner 
Philosophie  als  Grundlage  dient. 

Die  Einleitung  Friedrich  Rosens  in  das  Übersetzungswerk  seines 
Vaters  ist  für  die  philosophisch  interessierten  Kreise  von  um  so 
größerem  Belang,  als  die  Grundlinien  der  neuplatonischen,  neu- 
pythagoreischen und  alexandrinischen  Philosophie  sich  liier  in  sufisch- 
islamischem  Gewände  präsentieren.  Auf  dieses  große,  für  die  Ge- 
schichte der  Philosophie  bedeutsame  Werk  hinzuweisen,  ist  der 
Zweck  dieser  einführenden  Zeilen. 

Das  Werk  erscheint  als  erster  Band  der  von  Georg 
Müller 's  Verlag  veranstalteten  Sammlung  der  Meisterwerke 
Orientalischer  Literatur  in  deutschen  Originalüber- 
setzungen, herausgegeben  von  Dr.  Hermann  von  Staden. 


XXII. 

Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen. 

Von 
Dr.  Jegel,  Studienlehrer. 

Vor  einigen  Jahren  veröffentlichte  nach  langen  Vorstudien  der 
Münchner  Hochschulprofessor  Geheimrat  Dr.  Roh.  v.  P  ö  h  1  m  a  n  n 
seine  Geschichte  des  antiken  Kommunismus  und  Sozialismus.     Das 
feinempfundcne  Buch,  das  als  ein  bahnbrechendes  mannigfache  Auf- 
nahme fand,  behandelt  Ideen  und  Vorschläge,  welche  im  Altertum 
zur  Lösung  der  sozialen  Frage  entstanden,  und  gibt  u.  a.  auch  eine 
eingehende,  scharfsinnige  Analyse  von  Piatos  Republik  und  Gesetzen. 
Indem  mein  hochverehrter  Lehrer,  dem  ich  in  dankbarer  Verehrung 
zu  seinem  60.  Geburtstage  diesen  Essay  widme,  logisch  den  Auf- 
bau der  platonischen  Systeme  entwickelt,    bespricht  er  auch  Piatos 
Stellung  zur  Jugenderziehung.     Da  manche  Gedanken  des  großen 
Griechen   im    Hinblick   auf    Gegenwartsströmungen   und   Zukunfts- 
pläne interessant  erscheinen,  möchte  ich  die  einzelnen  Gedankenreihen, 
die  Pöhlmann  seinem  Endziel  entsprechend  mitunter  nur  andeutet, 
weiter  ausführen  und  Piatos  Worte  in  freier  Übertragung  mit  ver- 
bindendem Text  vorlegen.     Ich  habe  mit  teilweiser  Benützung  vor- 
handener Übersetzungen,  die  allerdings  nicht  immer  moderner  Text- 
kritik   standhalten,    hauptsächlich    nach    der    Didotausgabc    etwas 
Neues  zu  geben  versucht. 

Der  Standpunkt  Piatos  ist  in  seinen,  beiden  einschlägigen  Haupt- 
werken, 'Staat'  und  'Gesetze',  ein  wesentlich  anderer;  infolge- 
dessen müssen  die  in  ihnen  enthaltenen  Anschauungen  gesondert 
betrachtet  werden.  (Stellen  aus  andern  Schriften  Piatos  habe  ich 
um  der  Einheitlichkeit  der  Komposition  willen  mit  Absicht  nur  als 
gelegentliche  Parallelen  beigezogen.) 


406  Jegel, 

Der  Vernunftstaat  Piatos  wird  gegründet,  'nicht  in  der 
Absicht,  daß  eine  Klasse  vor  allen  glücklich  sei,  sondern  möglichst 
die  Gesamtheit,    der   ganze    Staat'. 

'Da  der  Mensch,  nur  wenn  er  von  Kindheit  an  richtig  erzogen 
wird,  zu  einem  wohlanständigen  wird'  (Plato,  Staat  401  d  und  558  a/b), 
widmet  Plato  den  Erziehungsfragen  große  Aufmerksamkeit.  Der 
Guterzogene  hat  auch  einen  Blick  'für  das  mangelhaft  Gebliebene 
und  unschön  Ausgeführte  oder  von  der  Natur  unschön  Gebildete' 
(1. 1.401  e);  'denn  gute  Erziehung  und  Ausbildung  schafft,  wenn  sie 
bewahrt  wird,  tüchtige  Geister  (1. 1.  424  a)  und  ist  Erhalter  der  Tugend 
während  des  ganzen  Lebens'  (1. 1.  549  b). 

Über  die  Tätigkeit  des  Jugendbildners  urteilt 
Plato  ähnlich  wie  moderne  Psychologen:  'Sie  erscheint  ihm  die 
Fähigkeit  eine  Schwenkung  herbeizuführen,  auf  welche  Weise  jemand 
möglichst  leicht  und  wirksam  herumgedreht  wird  [von  dem  Dunkeln  — 
d.  h.  von  der  minderwertigen  Erkenntnis  der  Wahrheit  —  zum 
Licht  —  d.  h.  zur  vollen  Erkenntnis  der  Wahrheit];  nicht  aber 
die  Kunst  dem  Menschen  das  Sehen  [d.  h.  das  Erkennen]  selbst  ein- 
zupflanzen' (1. 1.  518  d). 

Plato  stellt  also  den  zweifellos  richtigen  Satz  auf,  daß  der  Lehrer 
keine  Kräfte  in  den  Schüler  hineinzaubern,  sondern  nur  mit  Benützung 
der  natürlichen  Anlagen  bei  Ausbildung  des  Geistes  'behilflich' 
sein  kann. 

Neben  der  bewußten  aktiven  und  direkten  Erziehung  dm  eh  die 
vom  Staat  zum  Amt  berufenen  Personen  tritt  die  durch  das  Beispiel 
der  U  m  w  e  1 1 ,  z.  B.  in  negativer  Richtung  Einflüsterungen  ge- 
wissenloser Dienstboten  (1. 1.519  e).  'Durch  mangelhafte  Erziehung, 
wie  durch  schlechten  Umgang  muß  das  Bessere  der  Übermacht  des 
Schlechteren  erliegen'  (1.1.431a).  Infolgedessen  muß  man  'wie  der 
Landmann  das  wilde  Unkraut  nicht  aufkommen  lassen,  sondern  das 
Nutzbare  pflegen  und  veredeln'  (1. 1.  589  b). 

Nachdem  wir  die  allgemeinen  Grundgedanken  der  Pädagogik 
im  Vernunftstaat  kennen  gelernt  haben,  wollen  wir  uns  den  Einzel- 
fragen  zuwenden. 

Auch  Plato  erkennt  die  Wichtigkeit  der  vorgeburtlichen 
Erziehung;  denn  er  sagt:  'tüchtige  Geister  sind,  wenn  sie  eine 
derartige  [gute]  Erziehung  erlangt  haben,  noch  besser  [d.h.  tauglicher] 
als  früher  sowohl  zu  anderm  als  inbesondere  zum  Zeugen,  wie  man 


Piatos  Stellung   zu  Erziehungsfragen,  407 

auch  bei  andern  Lebewesen  beobachten  kann'  (1.1.424  a).  Deshalb 
sucht  der  Staat  auf  das  Werden  neuer  Menschen  Einfluß  auszuüben, 
und  zwar  auf  zweierlei  W  e  i  s  e :  Er  setzt  für  die  Zeugung  ein 
gewisses  Alter  fest,  bei  den  Frauen  20 — 40,  bei  den  Männern  30—55 
Jahre;  'denn  diese  Jahre  sind  der  Höhepunkt  der  körperlichen  und 
geistigen  Entwicklung'  (1. 1.  460  e).  Vor  allem  aber  führt  Plato  eine  — 
allerdings  eingeschränkte  —  Frauengemeinschaft  ein.  'Denjenigen, 
welche  unter  den  jungen  Männern  im  Krieg  oder  in  anderer  Hin- 
sicht sich  auszeichnen,  muß  als  Vorzug  und  Belohnung  eine  reich- 
lichere Möglichkeit  mit  Frauen  zu  verkehren  gegeben  werden,  damit 
zugleich  eine  Gelegenheit,  aus  der  die  meisten  Söhne  von  jenen  ent- 
stehen, vorhanden  ist'  (1. 1.  460  a  u.  b.,  cf.  auch  1. 1.  459e,  460a,  389b). 
'Wenn  daher  ein  älterer  oder  jüngerer  für  den  Staat  zeugt,  so  be- 
trachten wir  seine  Tat  für  ein  sündhaftes  und  ungerechtes  Verbrechen, 
weil  er  in  dem  Staat  ein  Kind  pflanzt,  das  —  wenn  es  verborgen  bleibt  — 
nicht  unter  Opfern  und  Gelübden  entsteht,  welche  bei  den  einzelnen 
Vermählungen  Priester  und  Priesterinnen  und  die  gesamten  Bürger 
tun,  indem  sie  bitten,  daß  aus  den  tüchtigen  Eltern  noch  bessere 
Kinder  . . .  erwachsen,  sondern  jenes  Kind  ist  eine  Frucht  der 
Finsternis  und  unheilvollen  Willkür'  (1. 1.  461  a,  cf.  auch  1.  1.  407  e). 
Schroff  und  in  vollem  Bewußtsein  der  Konsequenzen  wird  also  das 
Gesetz  der  Zucht  w  a  h  1  und  wie  bei  Malthus,  die  Verant- 
wortlichkeit der  Eltern  für  die  Nachkommenschaft 
betont.  Auch  das  persönlichste  aller  Menschenrechte  wird  dem  einen 
großen  Ziel,  körperlich  und  geistig  tüchtige  Bürger  zu  gewinnen, 
untergeordnet.  Durch  die  Einschränkungen  will  Plato  einen  un- 
verhältnismäßigen  Geburtenüberschuß  beseitigen  —  'man  soll  nicht 
über  das  gebührende  Maß  zeugen  aus  Furcht  vor  Armut  oder  Krieg' 
(1. 1.  372  b)  — ;  denn  eine  besitzlose  Masse  bedeutet  eine  Gefahr  für 
den  Bestand  des  Staates  oder  veranlaßt  kriegerische  Vorstöße  um 
Land  für  die  Enterbten  zu  gewinnen.  (Wieweit  ist  von  der  Erkenntnis, 
daß  Bestimmungen  gegen  uneingeschränkte,  planlose  Zeugung  für  die 
Zukunft  des  Vaterlandes  sehr  wünschenswert  sind,  der  moderne 
Staat  entfernt!  Er  kümmert  sich  allenfalls  um  die  Existenzmittel 
der  Ehegatten,  aber  nicht  um  die  seelischen  und  körperlichen  Eigen- 
schaften der  künftigen  Eltern.) 

Das  neugeborene  Kind  will  Plato  in  öffentlichen   P  1 1  ege  - 
ans  t  alten  untergebracht  wissen.     „Diejenigen  Behörden,  welche 


408  Jegel 

für  diese  Aufgabe  bestimmt  sind,  Männer  oder  Frauen  oder  beide, 
müssen  die  neugeborenen  Kinder  aufnehmen  [zum  Zeichen,  daß  sie 
dieselben  als  daseinsberechtigte  Glieder  des  Staates  anerkennen] ; . . . 
nachdem  die  Beamten  also  die  Kinder  von  tüchtigen  [Eltern]  in 
Empfang  genommen  haben,  werden  sie  dieselben  in  das  Haus  zu 
den  [bestimmten]  Ammen,  welche  in  einem  bestimmten  Stadtteil 
gesondert  wohnen,  tragen.  Die  Kinder  von  schlechteren  [geringeren] 
Eltern  aber  oder  wenn  von  andern  eines  verkrüppelt  [gebrechlich] 
geboren  wird,  lassen  sie  insgeheim  und  verborgen,  wie  sich  geziemt, 
verschwinden.  So  wird  es  ein  reines  [tüchtiges]  Geschlecht  von  Wächtern 
geben.  . .  .Außerdem  lassen  die  Beamten  die  Mütter,  wenn  sie  Milch- 
überfluß haben,  zum  Säuglingshaus  führen  und  verhüten  auf  alle 
Weise,  daß  eine  Mutter  ihr  eigenes  Kind  erkennt  und  sind  sehr  be- 
dacht, daß  jene,  wenn  sie  selbst  weniger  zum  Stillen  geeignet  sind, 
den  andern  Milchreichen  dienen.  Auch  werden  die  Beamten  dafür 
sorgen,  daß  diese  selbst  eine  bestimmte  Zeit  Milch  geben  können' 
(1. 1.  460  b  ff.).  Diese  „Aufzucht"  aller  Säuglinge  in  Krippen  soll  also 
einerseits  jedem  Neugeborenen  die  ihm  von  der  Natur  zugedachte 
Mutterbrust  gewährleisten,  anderseits  verhüten,  daß  Eltern 
und  Kinder,  sich  gegenseitig  kennend,  Familienrücksichten  dem 
Staatsinteresse,  d.  h.  dem  Glücke  aller  voranstellen.  Um  dem  Nepotis- 
mus zu  entgehen,  setzt  Plato  anstelle  der  häuslichen  die  öffentliche, 
gemeinsame  Erziehung  auch  für  das  spätere  Kindes-  und  Jünglings- 
alter mit  all  den  Gefahren  der  Schabionisierung  und  Verflachung 
(1.1.543  a,  cf.  auch  Staatsmann  308  c).  Ihn  mag  auch  der  Gedanke 
geleitet  haben,  daß  das  Eltemsein  nicht  von  vornherein  die  nötigen 
Fähigkeiten  zum  Erziehen  bedingt  (Rep.  541  a).  Aber  nicht  nur  der 
Säuglinge  nimmt  sich  Plato  liebevoll  an,  sondern  auch  die  Zeit 
des  erwachenden  Lebens  sucht  er  gegen  Unvernunft  der 
Umgebung  zu  schützen.  'Nicht  sollen  die  Mütter  [d.  h.  wohl  —  nach 
dem  oben  Entwickelten  —  die  Pflegemütter],  jenen  [Dichtern]  Glauben 
schenkend,  die  Knaben  schrecken,  indem  sie  ungebührlich  erzählen, 
daß  gewisse  Gottheiten  bei  Nacht  in  vielfach  verschiedener  und 
fremdartiger  Gestalt  herumirren,  damit  sie  [die  Mütter]  nicht  zugleich 
gegen  die  Götter  Übles  reden  und  die  Kinder  furchtsam  machen' 
(1. 1.  881  e). 

U m  den  Charakter  der  Kinder  zu    erkennen,  unter- 
wirft sie  Plato  mannigfachen  Proben:  'Man  muß  ...  einen  Wett- 


Platos  Stellung  zu   Erzaehungsfragen.  409 

kämpf  für  sie  veranstalten  und  darauf  achten  . . .,  ob  sie  furchtsam 
sind,  ob  . .  einer  ein  guter  Wächter  seiner  selbst  ist  und  . .  sich  in 
allen  Lagen  tauglich  und  harmonisch  zeigt,  als  ein  solcher,  wie  er  sich 
und  dem  Staate  am  meisten  nützt'  (1. 1.  413  c— e,  cf.  auch  Staats- 
mann 308  c).  Diesen  Prüfungen  werden  alle  ohne  Rücksicht  auf  Ab- 
stammung unterworfen.  'Die  Beamten  heißt  nun  die  Gottheit1  [die 
Plato  hereinzieht,  um  seinen  Vorschriften  größeres  Gewicht  und  un- 
bedingten Gehorsam  zu  sichern],  'zuvörderst  und  am  meisten  auf 
nichts  mehr  treue  Sorge  und  Aufsicht  verwenden  als  auf  ihre  Kinder, 
was  vor  allem  ihrem  Geiste  beigemischt  ist.  Und  wenn  einer  von 
ihnen  als  ein  kupferner  oder  eiserner  [d.  h.  minderwertiger]  geboren 
wird,  so  sollen  sie  sich  seiner  unter  keinen  Umständen  erbarmen, 
sonden:  ihm  die  seiner  Natur  entsprechende  Stellung  zuteilen  und  zu 
den  Handwerkern  oder  Bauern  hinabstoßen  (!),  wie  anderseits  wenn 
einer  von  jenen  [den  Bauern  oder  Handwerkern]  als  ein  goldener  oder 
silberner  [d.  h.  vollwertiger]  erzeugt  wird,  so  sollen  sie  ihn  in  eine 
höhere  Stellung,  zum  Wächter  oder  Krieger,  emporheben'  (Staat 
415  b/c,  cf.  495  d).  Dem  künftigen  Wächter  [Beamten]  muß  'Gedächt- 
nis, leichte  Auffassungsgabe,  Edelmut,  Neigung  und  Verwandtschaft 
zur  Wahrheit,  Gerechtigkeit,  Tapferkeit,  Enthaltsamkeit  (=  Mäßig- 
keit?) angeboren  sein  (1. 1.  481  a). 

Plato  will  nur  Begab  u  n  g  u  n  d  Neig  u  n  g,  nicht  Ab- 
stammung und  Elterneitelkeit  für  die  Lebensstellung 
entscheiden  d  sein  lassen,  auch  aus  dem  Grunde,  damit  'die 
Talente  aus  dem  Volke  nicht  in  Haß  und  Neid  gefährliche  Wühler 
und  Umstürzler  werden,  sondern  die  höheren  Klassen  verstärken' 
(Pöhlmann,  1.  1.  I,  438).  'Jeder  soll  der  einen  Beschäftigung,  zu  der 
er  von  der  Natur  tauglich  ist,  zugeführt  werden,  damit  jeder  seinen 
bestimmten  Beruf  ausübt  und  nicht  eine  Vielheit,  sondern  eine  Ein- 
heit wird,  und  der  ganze  Staat  auf  diese  Weise  eine  Einheit,  nicht  eine 
Vielheit  wird'  (Staat  423  d;  470 a/b).  —  Dem  Ziel  der  Erziehung 
.einheitliche  M  e  n  s  c  h  e  n  zu  schaffen,  solbn  auch  die  jugend- 
lichen Spiele  dienen.  'Müssen  nicht  sofort  von  den  ersten 
Jahren  ab  unsere  Knaben  mehr  an  gesetzmäßiges  Spiel  gewöhnt 
werden,  weil  sie,  wenn  sie  nichtgesetzmäßiges  Spiel  betreib?n  und 
selbst  so  [d.  h.  zügellos]  beschaffen  sind,  niemals  brave  und  tüchtige 
Männer  werden  können'  (1.1.  424 e).  Nach  Platos  Anschauung  also 
geht  die  Gesetzmäßigkeit  den  kleinen  Kindern  so  in  Fleisch  und  Blut 


410  Jegel, 

über,  daß  sie  schließlich  ganz  von  selbst,  auch  wenn  sie  erwachsen 
sind,  gesetzmäßig  handeln  und  es  keiner  Bestimmung  für  Äußerlich- 
keiten bedarf  (cf.  auch  1. 1.  559  a !).  Manches,  was  Gegenwarts- 
disziplinarsatzungen  ängstlich  festhalten,  erklärt  Plato  aus  diesem 
Ideenkreis  heraus  für  'einfältig',  z.  B.  Haarschneiden,  Gewandung, 
Beschuhung,  das  ganze  Äußere  des  Körpers  und  was  sonst  noch  von 
der  Art  ist'  (1. 1.  425  b).  Die  innerliche  Unterwerfung 
unter  das  Gesetz  verlangt  Plato  auch  von  der  Jugend ;  denn 
'das,  was  nur  durch  Wort  und  Schrift  befohlen  wird,  wird  weder  ge- 
schehen noch  Bestand  haben'  (1. 1.  425  b). 

Da  Gesetzmäßigkeit  und  Harmonie  für  Plato  nahe  verwandt 
sind,  so  erstrebt  er  auch  eine  harmonische  Durchbildung 
von  Seele  und  L  e  i  b  (1. 1.  410  b  ff.  und  591  b);  'denn  nur  die, 
welche  nicht  innerlich  zerrissen  und  richtig  gemischt  sind,  können 
sich  selbst  und  andern  Menschen  brauchbare  Führer  und  Leiter  sein' 
(1. 1.  412  a,  413  e).  Plato  will  'dem  Knaben  nicht  eher  die  Selbst- 
bestimmung zulassen,  bis  wir  ihn  in  eine  [gute]  Verfassung  [seiner 
selbst]  eingeführt  haben  und  in  jedem  einzelnen  nach  Ausbildung  des 
Edelsten  in  ihm  —  entsprechend  dem  Vorbild  des  Edelsten  in  uns 
selbst  —  einen  Wächter  und  Gebieter  an  Stelle  unserer  Aufsicht 
geschaffen  haben;  dann  erst  werden  wir  den  Knaben  als  frei  [d.  h. 
selbständig]   entlassen'  (1. 1.  590  e  bis  591  a).  — 

Als  ein  feiner  Seelenkenner  erkennt  Plato,  daß  eine  harmonische 
Ausbildung  des  Geistes,  welcher  er  die  Erziehung  des 
Willens  gegenüberstellt  (1. 1.  423  e),  nur  möglich  ist,  wenn  die  Mittel, 
durch  welche  sie  erfolgt,  selbst  ein  Kosmos,  d.  h.  Einheit,  sind.  Infolge- 
dessen antwortet  Plato  auf  die  Frage:  'Was  ist  also  Bildung?' 
'Ist  schwerlich  eine  bessere  aufzufinden  als  jene,  welche  seit  langem 
erfunden  wurde.  Diese  aber  ist  die  Gymnastik  für  den  Körper  und 
die  Musik  für  die  Seele'  (1. 1.  376  e).  'Die  Turnkunst  soll  vor  Ver- 
weichlichung, die  Musik  vor  allzu  großer  Heftigkeit  und  Hoheit 
schützen ;  . .  auch  erzeugt  sie  eine  wohlanständige  Gesinnung'  (1. 1.  410d). 
'Ist  nicht  deshalb  die  Erziehung  durch  die  Musik  die  wirksamste, 
weil  der  Takt  und  die  Harmonie  am  meisten  in  das  Innere  der  Seele 
eindringen  und  sie  am  stärksten  ergreifen,  indem  sie  Sittlichkeit 
[=  Zucht?]  beibringen  und  ihn  [den  Menschen]  wohlanständig  machen, 
wenn  er  recht  erzogen  ist?'  (1. 1.  401  d).  — 

Zu  der  'von  Jugend  auf  das  ganze  Leben  lang  sorgfältig  zu  pflegen- 


Piatos  Stellung  zu   Erziehungsfragen.  411 

den'  Turnkunst,  'der  Lehrmeisterin  in  Zu-  und  Abnahme'  des 
Körpers  (1. 1. 521  e),  und  zu  der  sog.  Musenkunde,  welche 
in  eine  sprachliche  und  musikalische  zerfällt  (1. 1.  376/8),  treten  die 
mathematischen  Disziplinen  (1. 1.  522  c  u.  d).  Ihren  Wert 
charakterisiert  Plato  folgendermaßen:  'Die  Rechenmeister  von  Natur 
werden  sozusagen  für  alle  Wissenschaften  geschickt,  und  wenn  die- 
jenigen, welche  von  langsamer  Auffassung  sind,  auf  diese  Weise 
unterrichtet  und  geschult  werden,  so  machen  sie,  im  Falle  sie  keinen 
andern  Segen  erlangen,  wenigstens  den  Fortschritt,  daß  sie  scharf- 
sinniger als  zuvor  werden'  (1. 1.  526  b). 

Die  große  Masse  schätzte  wohl  auch  im  Altertum  die  Lehrfächer 
nach  ihrem  unmittelbaren  Nutzen  für  das  praktische  Leben  ein; 
denn  Plato  betont  einerseits  immer  wieder,  'daß  ihm  alle  Einzel- 
kenntnisse nur  Übungsmittel  für  den  Verstand  seien'  (1. 1.  530  c  u.  d), 
'nur  Vorbereitungswissenschaften  und  Wege  zu  dem  einen  Ziel,  die 
Menschen  für  die  Kenntnis  der  höchsten  Dinge  geeignet  zu  machen' 
(1. 1.  525,  527,  529).  Anderseits  läßt  er  einmal  den  Sokrates  dem 
Glaukon  erwidern,  als  dieser  von  der  'Verwendbarkeit  der  Stern- 
kunde für  Ackerbau,  Schiffahrt,  Kriegskunst'  spricht:  'du  scheinst 
Angst  vor  dem  Volke  zu  haben,  es  möchte  glauben,  du  schlügest  nutz- 
lose Wissenschaften  vor'  (1.  1.527  d). 

Dieselbe  Ausbildung  wie  dem  männlichen  Geschlecht  soll  auch 
dem  w  e  i  b  1  i  c  h  e  n  zu  teil  werden,  da  es  zu  denselben  Aufgaben 
wie  das  männliche  —  nach  Maßgabe  seiner  Kräfte  —  herangezogen 
werden  soll  (1. 1.  451  e,  453  a/b,  540  c). 

Hinsichtlich  der  Methode  des  Unterrichtes  gibt 
Plato  eine  ebenso  kurze  als  selbstverständliche  und  richtige  An- 
weisung. 'Die  Jünglinge  und  Knaben  müssen  eine  dem  jugendlichen 
Alter  angemessene  Unterweisung  und  geistige  Ausbildung  bekommen, 
und  auch  dem  Körper,  während  sie  heranwachsen  und  mannbar 
werden,  sorgfältige  Aufmerksamkeit  schenken'  (1. 1.  498  a  u.  b). 

Den  Gedanken  des  'allmählichen,  zunächst  planlosen'  Unter- 
richtes (1. 1.  537a),  'der  liebevoll  auf  die  Eigenart  des  Schülers  ein- 
geht', führt  Plato  an  anderer  Stelle  weiter  aus  und  berührt  sich  dabei 
mit  Ideen,  wie  sie  z.  B.  in  der  Gegenwart  Oskar  Jäger  (Lehrkunst  und 
Lehrhandwerk),  der  Münchner  Stadtschulrat  Kerschensteiner,  Willi. 
Mönch  (Geist  des  Lehramts,  Gedanken  über  Fürstenerziehung), 
Herrn.  Weimer  (Der  Weg  zum  Herzen  des  Schülers)  laut  werden 


412  Jegel, 

lassen.  'Man  muß  bei  dem  Lernen  jene  Methode  anwenden,  wodurch 
die  Knaben  zum  Lernen  am  wenigsten  gezwungen  zu  werden 
scheinen  (!),  ...  weil  es  sich  nicht  ziemt,  daß  ein  freier  Mensch  etwas 
in  Skia vendien sten  [==  mit  Zwang]  lernt;  denn  die  widerwillig  über- 
nommenen körperlichen  Anstrengungen  machen  den  Leib  zwar  um 
nichts  schlechter,  in  dem  Geist  aber  bleibt  nichts,  was  man  gezwungen 

lernt,  dauernd  haften Deshalb  erziehe  die  Knaben  beim  Lernen 

nicht  mit  Gewaltmaßregehi,  sondern  spielend,  damit  du  besser  er- 
kennen kannst,  wofür  ein  jeder  natürliche  Begabung  besitzt'.  — 
"Wer  allerdings  die  Absage  an  den  Stock  und  andere  Zwangs- 
mittel so  auffaßte,  als  spräche  Plato  gegen  die  unbedingte  Unter- 
werfung unter  die  Lehrerautorität,  der  irrt;  denn  ganz  abgesehen  von 
der  stets  wiederkehrenden  Betonung  des  Gesetz(es)gehorsames  tadelt 
Plato  auch  einmal  zeitgenössische  Freiheitserscheinungen  im  Ver- 
hältnis von  Lehrer  und  Schüler.  'Der  Lehrer  fürchtet  die  Schüler  und 
schmeichelt  ihnen  und  die  Schüler  verachten  die  Lehrer  und  Hof- 
meister' (1. 1.  563a). 

Den  systematischen  Unterricht  will  Plato  erst  nach 
der  turnerischen  Ausbildung  zu  Beginn  der  20er  Jahre  anfangen 
lassen;  denn  der  griechische  Philosoph  geht  von  der  Anschauung 
aus,  'daß  bei  starker  körperlicher  Inanspruchnahme  der  Geist  müde 
sei  und  daß  nur  das  Lernen  Wurzel  fasse,  bei  dem  ein  Überblick  über 
die  gegenseitige  Verwandtschaft  der  wissenschaftlichen  Unterrichts- 
fächer und  von  der  Natur  des  Seins  gegeben  werde'  (1. 1.  537  b  u.  c). 
Plato  weist  also  die  methodische  Beschäftigung  mit  den  Wissen- 
schaften, die  einen  gereifteren  Geist  verlangen,  ungefähr  denselben 
Jahren  zu,  in  denen  unsere  Studenten  in  höheren  Semestern  zu  stehen 
pflegen,  und  würde  eine  Verbindung  des  Einjährigendienstes  und 
Studiums  als  unmöglich  verwerfen. 

Mit  einer  uns  rücksichtslos  und  freihoitsfciiidlich  anmutender; 
Konsequenz  werden  die  B  i  1  d  u  n  g  s  m  i  1 1  e  1  für  ihren  erzieherischen 
Beruf  zurechtgestutzt  und  gezwungen  sich  eine  ganz  be- 
stimmte Entwicklung  —  wenn  man  dieses  Wort  überhaupt  gebrauchen 
darf  —  gefallen  zu  lassen.  Soweit  sie  'der  Verweichlichung,  Unsittlich- 
keit,  Unwahrhaftigkeit,  Gottlosigkeit'  dienen,  werden  sie  verworfen 
und  unter  die  Präventivzensur  des  Staates  gestellt  (cf.  auch  Gesetze 
801/2).  Welche  eigenartigen  Berührungspunkte  Piatos  mit  modernen 
Sittlichkeitsvereinler  und  mit   —  Goethe,   Willi.  Meisters   Wander- 


Piatos  Stellung   zu  Erziehungsfragen.  413 

jähre  II,  8  (Pädagog.  Prov.),  und  doch  welcher  Kontrast  besteht  in  den 
Voraussetzungen,  in  den  Beweggründen  und  noch  mehr  in  dem  Maß- 
stab für  das  Unrechte  und  Unsittliche  zwischen  den  Titanen  und  den 
Epigonen!  'Entweder  müssen  die  Dichter  in  ihren  Werken  uns  das 
Abbild  der  guten  Sitten  vorstellen  und  nahebringen  oder  sie  dürfen 
überhaupt  nicht  dichten,  ...  und  auch  den  übrigen  Künstlern  muß 
man  Zügel  anlegen  und  sie  verhindern,  daß  sie  jenes  Schlechtbeschaffene, 
Ungenügsame,  Unedle,  Unziemliche  in  ihren  Abbildern  der  Lebe- 
wesen, in  den  Gebäuden  oder  in  einem  andern  Werk  darstellen  oder 
wenn  sie  dieses  [die  Wiedergabe  des  sittlich  Tadellosen]  nicht  leisten 
können,  so  darf  ihnen  nicht  erlaubt  werden,  bei  uns  tätig  zu  sein, 
damit  nicht  die  Wächter  [==  Beamten],  welche  durch  den  Anblick 
schlechter  Vorbilder  erzogen  werden,  gleichsam  wie  durch  ein  schlechtes 
Gras,  indem  sie  große  Mengen  täglich  allmählich  abpflücken  . . ., 
ein  großes  Übel  unbewußt  (!)  in  ihren  Geist  aufnehmen,  sondern  man 
muß  solche  Künstler  aufsuchen,  welche  nach  ihrer  Anlage  die  Natur 
des  Schönen  und  Geziemenden  aufspüren  können'  (Staat  401  b).  Ein 
Zwiespalt,  der  unsere  Welt  durchzieht,  ist  also  im  'besten  Staat' 
unmöglich:  Für  Jugend  und  Erwachsene  gibt  es  keine  doppelte  Moral. 
Das,  was  die  Jugend  nicht  sehen  und  hören  darf,  ist  auch  für  die 
Erwachsenen  unschicklich.  Um  ein  reines  Geschlecht  zu  erziehen, 
wünscht  Plato,  'daß  die  Jünglinge,  gleichsam  an  einem  gesunden  Ort 
wohnend,  aus  der  ganzen  Umwelt,  von  welcher  Seite  auch  immer  ein 
Lichtstrahl  von  den,  schönen  Werken  her  in  ihr  Auge  oder  Ohr  fällt, 
Nutzen  ziehen  und  ein  Luftzug,  der  aus  heilsamen  Gegenden  Gesundheit 
bringt,  sie  schon  von  Kindheit  an  unbemerkt  (!)  zur  Freundschaft 
und  Übereinstimmung  mit  dem  Schönen  veranlaßt'  (1. 1.  401  c). 

Da  Plato  erkennt,  daß  jenes  große  Maß  von  Selbstverleugnung, 
das  er  von  den  Bürgern  seines  Idealstaates  fordert,  nicht  ohne  starke 
sittliche  Religiosität  möglich  ist,  legt  er  auch  besonderen 
Nachdruck  darauf,  'daß  die  Kinder  von  Jugend  auf  in  Meinungen 
über  das  Rechte  und  Ehrenhafte  von  den  Eltern  erzogen  werden', 
während  er  'die  entgegengesetzten,  mit  Vergnügungen  verbundenen 
Lebensprinzipien  ausgeschaltet  wissen  will'  (1. 1.  538  e). 

Aus  diesem  Gedankenkreis  heraus  will  er  auch  verhüten,  'daß 
die  Kinder  die  ersten  besten  M  ä  r  c  h  e  n  von  den  ersten  besten 
Dichtern  hören  und  in.  ihren  Seelen  Vorstellungen  aufnehmen,  die 
großenteils  denen  entgegengesetzt  sind,  von  dvm-n  wir  glauben,  daß 


414  Jegel, 

sie  [die  Kinder]  dieselben  im  späteren  Leben  festhalten  müssen'  (1. 1. 
377  b).  'Um  kein  schlechtes  Vorbild  zu  geben,  darf  man  vor  den  zu- 
hörenden Jünglingen  auch  nicht  sagen,  daß  jemand,  wenn  er  das 
größte  Unrecht  begeht,  oder  seinen  unrechthandelnden  Vater  auf  alle 
Weise  züchtigt,  nichts  Auffälliges,  sondern  nur  das  tut,  was  die  ersten 
und  höchsten  Götter  getan  haben'  (1. 1.  378  b).  In  Konsequenz  dieser 
Anschauungen  spricht  sich  Plato  gegen  die  'unwahren  Märchen'  aus, 
wie  sie  Homer  und  Hesiod  von  den  Göttern  erdichtet  haben,  und  will 
die  Jenseitsvorstellungen  —  göttliches  Strafgericht  für  die  Unge- 
rechten, paradiesische  Seligkeit  für  die  Gerechten  — ,  schon  im  Kinde 
erwecken  (1.1.614  c,  615  c,  618  e):  Plato  vertritt  also  gleich  dem 
( 'hristentum  den  eudä  monistischen  Standpunkt,  den 
Kant  mit  unerbittlich-grausamer  Logik  verwirft.  — 

Entsprechend  der  wesentlich  verschiedenen  Grundlage,  welche 
der  Gesetzesstaat  gegenüber  dem  Idealstaat  hat,  finden  sich 
auch  über  die  Pädagogik  andere  Vorschriften,  die  noch  mehr  ins 
Detail  gehen;  denn  Plato  konstruiert  den  Idealstaat,  ohne  die  Ver- 
wirklichungsmöglichkeit immer  im  Auge  zu  behalten,  während  er 
sich  im  Gesetzesstaat  mehr  auf  dem  Boden  des  Realisier  barsn 
bewegt. 

Auch  in  den  Gesetzen  definiert  Plato  die  Worte  'Bildung' 
und  'E  r  z  i  e  h  u  n  g\  —  Die  kürzeste  Begriffsbestimmung  lautet : 
'Erziehung  beruht  offenbar  darin,  die  Knaben  zu  der  Einsicht,  welche 
das  Gesetz  wie  die  ältesten  und  erfahrensten  Männer  übereinstimmend 
als  das  wahrhaft  Richtige  erklärt  und  gebilligt  haben,  hinzuführen 
und  zu  leiten.  . . .  Der  Knabe  soll  nicht  gewöhnt  werden  im  Wider- 
spruch zu  dem  Gesetz  und  denen,  welche  dem  Gesetze  -gehorsam  sind, 
sich  zu  freuen  oder  Schmerz  zu  empfinden,  sondern  [er  soll]  über  die- 
selben Gegenstände  wie  der  Greis  sich  freuen  und  Schmerz  empfinden' 
(Gesetze  659  d ;  788  c).  —  Die  letztere  Forderung  scheint  die  Jugend 
zu  verkennen;  doch  zeigt  sich  Plato  an  anderer  Stelle  als  sehr  sorg- 
fältiger Beobachter  der  kindlichen  Natur,  'welche  das  Bedürfnis  hat 
sich  fortwährend  zu  bewegen  und  Laute  auszustoßen'  (1. 1.  653  e) 
und  'welche  nicht  mit  demselben  Verstand,  den  sie  später  hat,  geboren 
wird'  (1. 1.  672  a).  Auch  betont  Plato  die  Notwendigkeit,  die  Eigen- 
art jedes  Kindes  zu  beachten,  wenn  er,  die  lazedämonische  Erziehungs- 
weise tadelnd,  erklärt:  'Und  nicht  nimmt  jemand  [bei  den  Laze- 
dämoniern]  sein  eigenes  Füllen,  das  sehr  wild  und  unzufrieden  ist, 


Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen.  415 

von  der  Herde  weg  und  übergibt  es  gesondert  dem  Bereiter  zur  Be- 
handlung oder  erzieht  es  selbst,  indem  er  es  streichelt,  zähmt  und  alles 
zur  Erziehung  Nötige  anwendet'  (1.  1.  666  e). 

Im  Hinblick  auf  diese  Sachlage  dürfen  wir  die  obige  auffällige 
Bemerkung  (1. 1.  659  d,  788  c)  nicht  wörtlich,  sondern  nur  als  allgemeine 
Zielangabe  für  die  Erziehung  auffassen.  Dieses  Ziel  aber  erblickt 
Plato  in  der  Unterwerfung  der  natürlichen  Neigungen  unter  die 
bessere  Einsicht.  'Jeder  wähnt  schon  als  Knabe  fähig  zu  sein  alles 
zu  erkennen,  auch  glaubt  er  seine  Seele  durch  Billigen  [ihrer  "Wünsche] 
hochzuhalten  und  gestattet  ihr  [deshalb]  bereitwillig  alles,  was  sie 
will,  zu  tun ;  man  muß  aber  sagen,  daß  er  ihr  durch  solches  Verhalten 
schadet  und  nicht  Gutes  erweist,  obwohl  er  ihr  nach  unserer  Meinung 
den  ersten  Platz  gleich  hinter  den  Göttern  einräumen  müßte1  (1. 1.  727  b). 

Die  zweite  Definition  des  Begriffes  'Erziehung'  zeigt  die  Ent- 
stehung der  platonischen  Meinung.  'Ich  behaupte 
nämlich,  daß  das  erste  recht  kindliche  Empfinden  Freude  und  Schmerz 
ist,  und  daß  dieses  Gefühl  zuerst  gut  und  böse  in  der  Seele  wird.  . . . 
Erziehung  nenne  ich  also  die  den  Kindern  zuerst  zuteil  gewordene 
Tugend,  wenn  eben  Freude  und  Schmerz,  Freundschaft  und  Haß 
auf  die  richtige  Weise  in  der  Seele  entsteht,  bevor  sie  [die  Kinder] 
vernünftig  geworden  sind;  wenn  sie  aber  zu  Verstand  gekommen 
sind,  so  werden  sie  mit  der  Vernunft  übereinstimmen,  daß  sie  an  die 
geziemende  Sitte  [das  Haßens werte  von  Anfang  an  bis  zum  Ende  zu 
hassen  und  das  Liebenswerte  zu  lieben]  mit  Recht  gewöhnt  wurden, 
und  diese  allgemeine  Übereinstimmung  ist  die  Tugend'  (1. 1.  653  a  und 
659). — Am  schärfsten  zeigt  die  3.  Stelle  Pia  tos  Ansicht  von  wahrer 
Erziehung  und  richtiger  Bildung:  'Indem  wir  die  Erziehung  einzelner 
Menschen  tadeln  und  loben,  nennen  wir  den  einen  unter  uns  gebildet, 
den  andern  ungebildet,  obwohl  er  bisweilen  im  Kleinhandel,  Schiffs- 
reederei oder  in  andern  ähnlichen  Dingen  ein  wohlgebildeter  Mann  ist. 
Diejenigen,  welche  diese  Ansicht  haben,  erklären  augenscheinlich 
jene  Bildung  für  keine  Bildung,  sondern  nur  die  schon  im  jugendlichen 
Alter  beginnende  Anleitung  zur  Rechtschaffenheit,  weil  nur  sie  [die 
Anleitung]  bewirkt,  daß  man  ein  vollkommener  Bürger  zu  werden 
begehrt  und  wünscht,  und  weil  sie  im  Gehorchen  und  Befehlen  mit 
Recht  erfahren  macht.  Jener  Ausdruck  [vom  Gebildet-  und  Un- 
gebildetsein] wil'  m.  E.  die  letztere  Erziehung  allein  für  wahre  Bildung, 
dagegen  die,  welche  auf  Gelderwerb,  Körperkräfte  oder  andere  Fertig- 


416  Jegol, 

keiten  abzielt,  für  schmutzig,  unfrei  und  überhaupt  des  Namens 
Bildung  unwürdig  erklären.  Wir  wollen  nun  nicht  mit  jenen  [Banausen] 
über  den  Namen  streiten,  sondern  nach  allgemeiner  Übereinstimmung 
das  Gesagte  festhalten,  daß  der  richtige  Erzogene  meist  [an  andern 
Stellen  (cf.  Schluß  des  Aufsatzes!)  'immer']  tüchtig  wird;  deshalb 
wollen  wir  die  Erziehung  niemals  gering  schätzen,  sondern  sie  uuter 
die  herrlichsten  Güter,  welche  Männern  zuteil  werden  (können), 
rechnen,  und  jedermann  muß,  wenn  sie  etwa  verloren  geht,  aber  wieder 
hergestellt  werden  kann,  dies  [letztere]  nach  Kräften  während  des 
[ganzen]  Lebens  betreiben'  (1. 1.  643  a/644  b).  Nicht  leicht  kann 
das  Streben  nach  einseitigem  Fachwissen  ent- 
schiedener verworfen  und  das  Verlangen  nach  allgemeiner  Bil- 
dung als  das  allein  richtige  bezeichnet  werden,  als  mit  diesen  Worten. 
(Diese  Mahnung  tut  gerade  in  unserer  Zeit  doppelt  not,  wo  weite 
Kreise  in  dem  Bemühen  'modern'  zu  sein,  'die  Jugend  für  das  prak- 
tische Leben  vorzubilden',  im  Schulwesen  ein  Banausentum,  das  sich 
früher  oder  später  rächen  muß,  befürworten;  denn  die  Herzens-  und 
Willensbildung  kommt  bei  dieser  Jagd  nach  sofort  in  Geld  um- 
zusetzenden Kenntnissen  zu  kurz.)  Die  Überschätzung  des 
Materiellen  bekämpft  Plato  auch  wegen  seines  prinzipiellen 
Standpunktes,  daß  glückliche  Zustände  des  Einzelnen  wie  des  Ganzen 
in  möglichst  bescheidenen  Verhältnissen  mehr  gewährleistet  sind  als 
im  Reichtum.  'Die  ins  Ungemessene  vermehrten  Glücksgüter  ver- 
ursachen dem  Staate  wie  dem  Einzelnen  Feindschaft  und  Aufruhr.  . , , 
Deshalb  strebe  niemand  nach  Geld  um  der  Kinder  willen,  damit  er 
sie  bei  seinem  Tode  möglichst  reich  hinterlasse ;  ...  denn  für  den 
Jüngling  ist  ein  Vermögen,  frei  von  Schmeichlern  und  das  Notwendige 
nicht  entbehrend,  das  allergeeignetste  für  die  Pflege  der  schönen 
Künste;  denn  es  paßt  zu  uns  und  verschafft  uns  in  der  Überein- 
stimmung [mit  uns]  ein  beschwerdeloses  Leben.  Wir  müssen  aber 
den  Kindern  viel  sittliche  Scheu,  nicht  große  Reichtümer  vermachen' 
(1. 1.  729  a/b).  — 

Nachdem  wir  den  allgemeinen  Geist,  von  dem  die  Erziehung  im 
Gesetzesstaat  getragen  wird,  kennen  gelernt  haben,  wenden  wir  uns 
wieder  den  einzelnen  Vorschriften  zu. 

Überzeugt,  daß  es  für  den  einzelnen  und  für  den  Staat  nicht 
gleichgültig  ist,  wer  in  der  Ehe  zusammenlebt,  will  Plato,  daß  der 
Staat  die  Bekanntschaft  der  Ledigen  beider  Geschlechter  vermittelt. 


Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen.  417 

'Im  Hinblick  auf  die  eheliche  Gemeinschaft  muß  man  die  Unkenntnis 
aufheben,  aus  welchem  Hause  und  wen  jemand  freit  und  an  wen  man 
[die  Eltern  ihre  Tochter]  verheiratet,  und  es  ist  vor  allem  das  an- 
zustreben, daß  man  in  diesen  Fragen  möglichst  auf  keine  Weise  ge- 
täuscht wird'  (1. 1.  771  e).     (Wieviel  wird  in  der  Gegenwart  vor  der 
Eheschließung  von  beiden  Teilen  —  zusammenphantasiert!).   Ähnlich 
wie  heutzutage  die  Angehörigen  der  'Gesellschaft'  sich  im  Tanzsaal 
oder  beim  Sport  kennenzulernen  pflegen,  so  wünscht  Plato  öffentliche 
Spiele,  bei  denen  Jünglinge  und  Mädchen  Reigen  aufführen  und  'sich 
gegenseitig  entblößt  [dekolletiert],  soweit  vernünftige  Scham  es  zu- 
läßt, sehen  können'  (L  1.  771  e  u.  772  a).    'Wenn  jemand,  während  er 
schaut  und  geschaut  wird,  im  Alter  von  25  Jahren  glaubl,  ein  Mädchen, 
das  nach  seinem  Sinne  ist  und  sich  zu  gemeinsamer  Kindererzeugung 
eignet,  gefunden  zu  haben,  so  soll  er  heiraten,  und  zwar  spätestens 
bei  Beginn  des  35.  Jahres ;  auf  welche  Weise  aber  er  zusammenkommen 
und  die  Passende  suchen  muß,  soll  er  zuvor  erfahren'  (1. 1.  772  d/e). 
'Verständige  Leute  sollen  den  Jungen  raten  weder  die  Ehe  mit  einem 
armen  Mädchen  zu  fliehen  noch  vor  allem  nach  der  Ehe  mit  einer 
reichen  zu  trachten,  sondern  wenn  alles  übrige  gleich  ist,  immer 
lieber  die  Verbindung  mit  einer  ärmeren  einzugehen;   denn  dieses 
wird  für  den  Staat  und  die  künftig  verschwägerten  Häuser  zuträg- 
licher sein;  das  Gleichmäßige  nämlich  und  Angemessene  führt  un- 
vergleichlich besser  zur  Rechtschaffenheit  als  das  Unmäßige.    Ferner 
muß  derjenige,  welcher  sich  bewußt  ist,  allzu  wagemutig  zu  sein 
und  schneller  als  billig  zu   Taten  fortgerissen  zu  werden,   danach 
streben  der  Schwiegersohn  sanftmütiger  Eltern  zu  werden;  während 
der   mit    der   entgegengesetzten    Natur    Begabte    gegenteilige    Ver- 
schwägerungen   suchen  muß.  (!!)     Und  überhaupt  muß  man  hin- 
sichtlich der  Vermählungen  den  einen  Grundsatz  aufstellen,  jeder 
müsse  diejenige  Ehe,  welche  für  den  Staat  die  nützlichste  ist,  eingehen, 
aber  nicht  die,  welche  für  ihn  die  angenehmste  ist'  (1. 1.  773a  und  b). 
Plato  leimt  zwar  ein  förmliches  Gesetz  ab,  daß  möglichst  ungleichartige 
Charaktere  und  auch  ungleichartige  Vermögensverhältnisse  in  der  Ehe 
zusammenkommen    sollen,    will  aber  das  Ziel  durch  Ermahnung  und 
Überredung  erreichen,  'damit  nicht  durch  Verheiratung  eines  Reichen 
mit  der  Tochter   eines  Reichen  oder   Mächligen  unverhältnismäßige 
Ungleichheit    des    Besitzes    für    den    Staat  entsteht;    auch    könne 
niemand  übersehen,  daß  der  Charakter  der  Kinder  aus  denen  der 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  4.  28 


418  Jegel, 

Eltern  gemischt  sei'  (1. 1.  773d).  —  Ohne  falsche  Prüderie  gibt  der 
Gesetzgeber  ehrlich  zu,  daß  sich  der  Staat  um  die  Ehe  nur  kümmert, 
damit  er  in  der  Zukunft  tüchtige  Bürger  und  Bürgerinnen  habe. 
Niemand  tappt  blindlings  in  die  Ehe,  sondern  jeder  weiß,  was  er 
von  dem  andern  Teil  zu  erwarten  hat.  (Wie  steht  es  in  der  Gegen- 
wart? Die  Frage  stellen  heißt  den  heutigen  Gebrauch  als  äußerlich 
scheinbar  delikater,  in  Wirklichkeit  aber  viel  peinlicher  besonders 
für  das  Mädchen  zu  erkennen.  Wieviel  Ehen  werden  unglücklich, 
weil  man  sich  vorher  nicht  genügend  gekannt,  besonders  auch  das 
körperliche  Moment  zu  wenig  berücksichtigt  hat!  Wie  häufig  wird 
die  von  Plato  verpönte  (1. 1.  773e)  Geldheirat  eingegangen !) 

Nachdem  schon  bei  der  Eheschließung  der  Z  w  e  c  k  der  Hei- 
rat, der  Nachwuchs,  entschieden  betont  wird,  kann  es  nicht  wunder- 
nehmen, wenn  der  Gesetzgeber  in  derselben  Frage  sich  auch  a  n  die 
Ehegatten  wendet.  ■ —  Da  der  Staat  nie  mehr  oder  weniger  als 
5040  Landlose  enthalten  soll,  muß  die  Bevölkerung  möglichst  gleich 
bleiben.  'Deshalb  müssen  mittels  öffentlicher  lobender  oder  tadelnder 
Erwähnungen,  mittels  Ermahnungen  der  Jüngeren  durch  die  Greise 
Zeugungen  verhütet  oder  erhöht  werden'  (1. 1.  740d). 

Auch  der  vorgeburtlichen  Erziehung  i  m  enge- 
ren Sinne  schenkt  Plato  seine  Aufmerksamkeit,  indem  er  von 
dem  Gedanken  ausgeht,  'daß  ein  großer  Kraftzufluß  ohne  viele  und 
entsprechende  Anstrengungen  dem  Körper  tausend  Übel  veran- 
lasse' (1. 1.  739a);  er  will  auch,  'daß  sie  [die  werdenden  Mütter]  weder 
viel  Vergnügungen  noch  zügellosen  Schmerz  empfinden,  sondern 
während  jener  Zeit  [der  Schwangerschaft]  ein  ruhiges,  stilles  und 
mildes  Leben  haben'  (1. 1.  792e);  ferner  verordnet  er  den  schwangeren 
Frauen  regelmäßige  Spaziergänge  (1. 1.  789e). 

Mit  andern  Vorschriften  Piatos,  besonders  hinsichtlich  der  Be- 
handlung von  Neugeborenen  werden  unsere  Kinder- 
ärzte kaum  immer  einverstanden  sein.  'Die  Kinder  sollen,  weil  die 
zarten  Körper  zu  bilden  sind,  2  Jahre  (!)  lang  in  Windeln  gewickelt 
und  durch  Wärterinnen,  bis  die  Kleinen  stehen  können,  täglich  und 
auch  diejenigen,  welche  stehen  können,  bis  zum  Ende  des  3.  Jahres 
möglichst  viel  spazieren  getragen  (!)  werden,  damit  sie,  noch  jung, 
nicht  die  Glieder  verdrehen,  wenn  sie  sich  gegen  etwas  stemmen ; 
denn  die  Körper  werden  am  schönsten,  wenn  sie  gleich  in  der  Jugend 
richtig  aufwachser1'.    Die  kleinen  Schreihälse,  'welche  schwer  schlafen 


Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen.  419 

wollen,  sollen  möglichst  den  ganzen  Tag  und  die  ganze  Nacht  (!) 
unter  Gesang  geschaukelt  werden'  (1. 1.  790c/d  u.  788d).  —  Seine 
eigenartigen  Anordnungen  erklärt  Plato  auf  noch  sonderbarere  Weise. 

'Die  Schlaflosigkeit  der  Kinder  ist  eine  Art  Furcht Wenn  nun 

jemand  von  außer,  her  bei  einem  derartigen  Gebrechen  [dem  von 
ihm  Befallenen]  eine  Erschütterung  zufügt,  so  überwindet  die  Be- 
wegung von  außen  die  innere und  macht  sie  [die  Kinder]  des 

Schlafes  teilhaftig1  (1. 1.  791a).  — 

Sehen  wir  also  Plato  hinsichtlich  der  körperlichen  Behandlung 
der   Säuglinge    in   manchen    Schlußfolgerungen   aus   meist   richtigen 
Voraussetzungen  auf  Abwegen,  so  werden  wir  ihm  anderseits  freudig 
zustimmen,  wenn   er   sich   gegen    Verzärtelung  und   für    eine 
zielbewußte  Erziehung  der  Säuglinge  ausspricht.     Durch  diese  Aus- 
führungen setzt  er  sich  m.  E.  in  einen  gewissen  Widerspruch  zu  den 
oben  entwickelten  Gedanken  vom  vielen  Warten  der  Kinder;  denn 
der  Text  scheint  die  andere  mögliche  Auffassung,  daß  Plato  seine 
Ausführungen  ironisch  meine,   zu  verbieten.      'Verweichlichung  be- 
wirkt, daß  sie   [die   Kinder]   mißmutig,  jähzornig  und  aufbrausend 
selbst   bei   Kleinigkeiten   werden,   das   Gegenteil   [Härte]   macht  sie 
niedrig  denkend,  unfrei  und  menschenscheu'  (1. 1.  791d).     Die  Ver- 
wöhnung   geschieht    durch    Wärterinnen,    'welche    dem    weinenden 
und  schreienden  Kind  alles  Mögliche  bringen,    bis  es  ruhig  ist'  (1. 1. 
792a).    Die  Kinder  sollen  aber  'möglichst  auf  einem  mittleren  Gemüts- 
zustand' gehalten  werden ;  d.  h.  weder  nur  Freude  noch  nur  Schmerz 
haben;   'denn  am  festesten  wurzelt  bei  allen  der  Charakter  durch 
Gewöhnung'    (1. 1.  792d/e).    —    Derselbe    Gedanke    [G  e  w  ö  h  n  u  n  g 
im    jugendlichen    Alter]    beeinflußt   auch    die   Wahl   der 
kindlichen  Spiele,  denen  Plato  sehr  große  Bedeutung  beimißt;  denn 
er  behauptet,   'daß   Knaben,  welche  in  ihren   Spielen  gegen  früher 
Änderungen  machen,  auch  notwendig  andere  Männer  werden.     Die 
Neuerungssüchtigen  werden  aber  auch  als  Männer  mit  den  bestehenden 
Verhältnissen  im  Staate  unzufrieden  sein  und  ebenso  Neuerungen  einzu- 
führen versuchen'  (1.1.  798c,  cf.  auch  oben !).  Durch  die  herkömmlichen 
Spiele  sollen  die  Knaben  nicht  nur  0  r  d  n  u  n  g  und  Unterwerfung 
unter  das  Herkommen  lernen,  sondern  auch  für  den  künftigen 
Beruf  vorbereitet  werden.     Plato  will  nämlich,  'daß  derjenige,  der 
in  einer  Beschäftigung  künftig  ein  hervorragender  Mann  sein  soll, 
diese  Tätigkeit  schon  von  Kindheit  an  betreibe  und  sich  mit  Ernst 

28* 


420  Jegel, 

in  die  einzelne  Verrichtung  versenke.  Wenn  nun  z.  B.  jemand  ein 
guter  Landmann  oder  tüchtiger  Architekt  sein  will,  so  muß  der  eine, 
der  Häuserbauer,  im  Spiel  Kinderhäuser  errichten,  der  andere  das 
Land  bestellen.  Und  jeder  Erzieher  der  beiden  muß  jedem  kleine 
Geräte,  Abbilder  der  wirklichen,  anfertigen.  Dann  müssen  die  Kinder 
auch  das  im  voraus  lernen,  was  sie  vorher  lernen  müssen,  z.  B.  der 
Baumeister  messen  und  das  Richtscheit  gebrauchen,  wie  der  künftige 
Soldat  im  Spielen  Reiten  lernen  oder  anderes  derartiges  tun  muß; 
auch  muß  man  versuchen,  schon  im  Spiel  die  Vorliebe  und  die  Be- 
geisterung der  Knaben  darauf  zu  lenken,  was  sie  notwendig  erlangt 
haben  müssen,  nachdem  sie  das  Ziel  erreicht  haben.  Die  Haupt- 
sache also  bei  der  Ausbildung  nenne  ich  die  rechte  Anleitung,  welche 
den  spielenden  Knaben  zur  möglichst  innigen  Hinneigung  für  die 
Tätigkeit  hinführt,  in  der  er,  Mann  geworden,  vollendet  sein  muß' 
(1. 1. 643b/d).  Es  scheint,  als  ob  Piatos  Worte  Fröbelsche 
Kindergärten  forderten,  allerdings  mit  dem  großen  Unter- 
schied, daß  Fröbel  das.  Nützlichkeitsmoment,  den  künftigen  Beruf, 
nicht  in  den  Vordergrund  rückt.  —  Das  kindliche  Spiel,  welches 
unter  der  Aufsicht  auch  Züchtigungsrecht  besitzenden  Wärterinnen, 
wohl  den  Almfrauen  unserer  Kindergärtnerinnen,  geschieht,  soll 
die  beiden  Geschlechter  bis  zum  6.  Jahre  vereinigt  sehen  (1. 1.  794a— c). 
Nach  der  Trennung  sollen  'die  Knaben  zu  (Fecht)meistern  im  Bogen- 
schießen, Schleudern  und  Speerwerfen,  sowie  zu  Reitlehrern  gehen, 
die  Mädchen  aber,  wenn  sie  sich  eignen,  wenigstens  theoretische 
Kenntnisse  in  dem  Gebrauch  der  Waffen  erlangen'  (1. 1.  794d). 

Wie  die  Mädchen  Tanzlehrerinnen  haben  (1. 1. 813b), 
so  sollen  sie  auch  durch  öffentliche,  allen  gemeinsame,  vom  Staat 
besoldete  Lehrer  (1.1.  813  e,  764  c/d)  während  der  Mädchenzeit  alle 
Waffenspielc  und  -tanze  lernen,  als  Frauen  aber  sich  Kenntnisse 
aneignen,  'wie  man  stürmt,  Reih  und  Glied  beobachtet,  die  Waffen 
niederlegt  und  aufnimmt,  . .  .damit  sie  ihre  Kinder  und  sonst  den 
Staat  schützen  können,  wenn  die  Mannschaft  im  Felde  steht'  (1. 1.  813e 
—814a).  Die  militärische  Ausbildung  des  weib- 
lichen Geschlechtes  begründet  Plato  auch  durch  den 
Hinweis,  'daß  sogar  Vögel  selbst  gegen  die  stärksten  Tiere  für  ihre 
Jungen  kämpfen'  (1.  1.  814b)  und  'daß  bei  andern  Völkern,  z.  B.  bei 
den  Sarmaten  am  Pontus,  die  Frauen  derartige  Ausbildung  genießen' 
(1. 1.  8ü4e). 


Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen.  421 

Wie  Plato  nicht  will,  daß  von  den  zwei  Geschlechtern  das  eine, 
beinahe  die  Hälfte  der  im  Staat  vorhandenen  Kräfte,  für  die  Ver- 
teidigimg des  Vaterlandes  vollkommen  bedeutungslos  ist  (1. 1.  805a),  so 
empfindet  er  es  auch  als  Übelstand,  daß  die  beiden  Hände 
nicht  wie  die  beiden  Füße  gleichmäßig  ausgebildet  werden, 
und  wünscht  Abänderung  der  herrschenden  Sitte  (1. 1.  793d).  'An 
den  Händen  aber  sind  wir  durch  den  Unverstand  der  Wärterinnen 
und  Mütter  gleichsam  hinkend  geworden;  denn,  während  die  natür- 
liche Beschaffenheit  eines  jeden  Gliedes  ungefähr  gleich  ist,  haben 
wir  sie  wegen  des  Herkommens  verschieden  gemacht,  üidem  wir  m 
nicht  richtig  gebrauchten1  (1. 1.  793d). 

Die  Zeit  des  spielenden  Unterrichts  vermittelt  auch  einige  Z  a  h  1- 
und  M  a  ß  b  e  g  r  i  f  f  e  (1. 1.  819b/c),  z.  B.  indem  die  Kinder  sich 
gegenseitig  paarweise  abzählen,  Kränze  und  Trinkschalen  auf  ver- 
schiedene Art  verteilen.  'Diejenigen,  welche  den  Gebrauch  der  not- 
wendigen Zahlen  dem  Spiele  anpassen,  nützen  den  Lernenden  für 
die  Aufstellung,  Führung  und  Leitung  des  Heeres,  sowie  für  die  Ver- 
waltung des  Hauswesens  und  machen  überhaupt  die  Menschen  sich 
selbst  nützlicher  und  aufgeweckter'  (1. 1.  819c,  cf.  747b).  Eine  der- 
artige Übung  im  Anwenden  von  Maßen  und  Zahlen  erklärt  Plato  für 
sehr  notwendig;  denn  die  Unwissenheit  der  Griechen  in  dieser  Hin- 
sicht, 'sei  nicht  Menschen,  sondern  mehr  Schweine  würdig1  (1.1.  819e). 

Vom  10.  Jahre  an  beginnt  der  systematische  Unter- 
richt mit  allgemeiner  Schulpflicht  für  alle  Freien. 
'Hinsichtlich  der  Gymnasien  und  öffentlichen  Schulen  erklärten 
wir  bereits,  daß  sie  in  der  Mitte  der  Stadt,  ebenso  die  Reitschulen 
und  ausgedehnten  Plätze  für  Bogenschießen  und  andere  Plänke- 
leien als  Lern-  und  Übungsplätze  der  Jugend  um  die  Stadt  herum 
[je]  dreifach  angelegt  werden  müßten  (1.  1.  804c).  Bei  allen  diesen 
Orten  sollen  fremde  Lehrer,  welche  gegen  Bezahlung  für  jedes  Fach 
angestellt  wurden,  wohnen  und  alle  Kenntnisse,  welche  auf  Krieg 
und  Musik  Bezug  haben,  den  die  Schule  Besuchenden  lehren,  und  zwar 
nicht  nur  demjenigen,  welchen  der  Vater  die  Schule  besuchen  lassen 
will,  während  er  bei  andern  die  Ausbildung  unterläßt,  sonderu  jeder 
Mann  und    jedes   Kind  muß  —    wie    man  gewöhnlich   sagt  nach 

Möglichkeit  (!)  erzogen  werden,  da  die  Kinder  mehr  dem  Staate 
als  den  Eltern  geh  öreti1  (1.1.804c).  Um  die  Kinder  an  das  Früh- 
aufstehen zu    gewöhnen,   weil  sie,  herangewachsen,  als  Haus- 


422  Jegel, 

herren  auch  zuerst  aufstehen  sollen,  beginnt  die  Schule,  'wenn  der 
Morgen  graut1  (1. 1.  808  a/c).  Zu  ihr  begeben  sich  die  Knaben  in  B  e  - 
gleitung  dci  Pädagogen,  welche  das  Benehmen  der 
Jungen  überwachen  sollen  (1. 1.  808d),  'denn  ein  Knabe  ist  von  allen 
Lebewesen  am  schwersten  (!)  zu  behandeln,  wie  er  nämlich  [einer- 
seits] für  das  vernünftige  Denken  eine  Quelle,  die  aber  noch  nicht 
fest  gefaßt  ist,  besitzt,  so  ist  er  [anderseits]  das  hinterlistigste  (!!), 
leidenschaftlichste  und  übermütigste  aller  Geschöpfe'  (1. 1. 808d). 
'Der  richtige  Zeitpunkt  für  den  Anfang  des  Ele- 
mentarunterrichtes [Lesen  und  Schreiben]  ist  das  10.  Jahr 
bei  einer  Dauer  von  etwa  3  Jahren,  hinsichtlich  des  Leierspieles  das 
vollendete  13.  Jahr,  und  zwar  sollen  die  Knaben  auch  bei  diesem 
Lehrgegenstand  [nur]  3  Jahre  verweilen.  Gegenüber  dieser  gesetz- 
lichen Frist  soll  weder  ein  längerer  noch  ein  kürzerer  Zeitraum  dem 
Vater  oder  Knaben,  dem  lernbegierigen  oder  trägen,  erlaubt  sein; 
der  Ungehorsame  aber  hat  nicht  teil  an  den  Knabenehren1  (1. 1.  809e 
— 810a).  'Im  Elementarunterricht  muß  man  sich  so  lange  Mühe 
geben,  bis  jeder  Schreiben  und  Lesen  kann ;  daß  er  aber  in  bezug  auf 
Schönheit  und  Schnelligkeit  vollkommen  ist,  danach  soll  man  keines- 
wegs bei  denen,  welchen  die  natürlichen  Anlagen  in  den  festgesetzten 
Jahren  nicht  zu  Hilfe  kämen,  trachten.1  In  der  Erkenntnis  von  der 
verschiedenen  Begabung  der  Kinder  will  also  Plato  die  Minder- 
befähigten,  ihnen  zur  Qual,  über  ein  geringes  Mindestmaß 
hinaus  nicht  mit  dem  Studium  plagen  und  verwirft  —  die  Sehn- 
sucht so  mancher  Gegen warts jungen  —  mit  den  abgeteilten  Jahres- 
kursen auch  den  ev.  Wiederholungszwang.  Diese  Maßregel  verstopft 
auch  eine  Hauptquelle  der  Schülerselbstmorde,  welche  fast  immer 
zurückbleibende,  von  Schule  und  vor  allem  Elternhaus  vorwärts- 
getriebene Knaben  begehen. 

Wie  in  der  Gegenwart  bildet  den  Unterrichtsstoff 
die  Lektüre  von  Schriftstellern,.  Manche  nennt  Plato 
für  die  Jugend  'gefährlich1  und  zeigt  auch,  die  widerspruchsvolle 
Stellung  seiner  Zeit  gegenüber  den  Autoren.  'Tausende  behaupten, 
daß  der  richtig  gebildete  Jüngling  mit  ihnen  [den  ernsten  und  heiteren 
Schriften]  zu  nähren,  ja  zu  sättigen  sei,  und  zwar  dergestalt,  daß 
man  dieselben  in  Vorlesungen  oftmals  hören  und  viel  lernen  bisse, 
sodaß  sie  [die  Knaben]  ganze  Dichter  auswendig  kennen.  Andere 
wieder,    welche   aus   den   ganzen   Werken    Hauptstückc   ausgewählt 


Piatos  Stellung  zu   Erziehungsfragen.  428 

und  [sie,  sowie]  gewisse  ungekürzte  Erzählungen  in  ein  Ganzes  ge- 
bracht haben,  erklären,  daß  jemand  wenigstens  diese  Stellen  aus- 
wendig kennen  und  dem  Gedächtnis  anvertrauen  müsse,  wenn  er 
unter  uns  ein  guter  und  weiser  Mann  von  großer  Erfahrung  und  vielem 
Wissen  sein  wolle'  (1. 1.  810e/Slla).  Auch  diese  C  h  r  e  s  t  o  m  a  t  h  i  e  n 
und  Dauphineausgabcn  von  früheren  Schriftstellern  befriedigen 
Pluto  nicht,  'weil  sie  vieles  enthalten,  dessen  Kenntnis  der  Jugend 
gefährlich  ist'  (1. 1.  811b).  Deshalb  sollen  seine  eigenen  Reden  in 
den  Schulen  gelesen  werden.  Doch  wünscht  er  auch,  daß  der  Unter- 
richtsminister 'ähnliche  Stellen,  welche  er  bei  der  Dichter-  oder 
Prosaikerlektüre  oder  in  einer  ungeschriebenen,  nur  mündlich  vor- 
getragenen Rede  findet,  nicht  unbeachtet,  sondern  aufzeichnen  läßt, 
und  zwar  soll  er  sogar  die  Lehrer  zwingen,  diese  schriftstellerisch«  n 
Erzeugnisse  zu  lehren  und  vorzutragen;  welchem  Lehrer  aber  diese 
Werke  nicht  behagen,  dessen  Dienste  soll  er  nicht  in  Anspruch  nehmen, 
doch  demjenigen,  welcher  seiner  Empfehlung  beistimmt,  soll  er  die 
Jünglinge  zum  Lehren   und  Erziehen  übergeben'  (1. 1.  811e). 

Zu  dem  sprach  lieh- wissenschaftlichen  Unterricht  tritt  der  in 
der  M  u  s  i  k.  Auch  ihn  wünscht  Plato  für  den  Anfänger  möglichst 
vereinfacht;  'denn  das  Entgegengesetzte,  welches  sich  gegenseitig 
widerspricht,  bewirkt  schweres  Lernen,  während  der  Schüler  mög- 
lichst leicht  lernen  müsse;  denn  die  ihm  vorgeschriebenen  Unter- 
richtsfächer sind  weder  klein  noch  wenig1  (1. 1.  812e).  Der  reinen 
Instrumentalmusik  wirft  Plato  'Mangel  an  Kunstsinn  und  Gaukelei' 
vor  (1.  1.  670a). 

Im  Zusammenhang  mit  der  musikalischen  Ausbildung  steht 
die  im  [R  e  i  g  e  n]  t  a  n  z  u  n  d  T  u  r  n  e  n  ,  'da  zu  den  einzelnen 
Übungen  auch  gesungen  wird  und  Instrumente  ertönen'  (1.  1.  812e/813). 

Entsprechend  dem  griechischen  Bildungsideal  wird  der  Tanz- 
unterricht in  einer  uns  fremden  Weise  betont  und  gewürdigt:  'Ein 
gut  erzogener  Mensch  muß  schön  singen  und  tanzen'  (L  1. 654b). 
Diese  Äußerung,  welche  Anschauungen  der  Rokokozeit  ähnelt,  wird 
uns  verständlicher,  wenn  wir  uns  v<  »-gegenwärtigen,  daß  unter  -Tanz' 
der  'Chorreigen'  verslanden  wird  und  daß  "auf  schöne  Haltung'  [des 
Tanzenden]  (1.  L  654e),  welche  'rhythmisch  und  harmonisch'  ist 
(1. 1.655a),  geachtet,  werden  soll:  d.  h.  die  von  Plato  gewünschte 
Tanzkiinsi  deck!  sich  mit  der  sogen,  rhythmischen  Gym- 
nastik unserer  Taue. 


424  Jegel, 

An  die  rein  gymnastischen  Ü  b  u  r  g  e  n  reihen  sich  die  spe- 
zifisch militärischen,  'Bogenschießen  und  das  Schleudern 
anderer  Geschosse,  jede  Kunst  des  Leicht-  und  Schwerbewaffneten, 
Manövrieren,  jede  Beschäftigung  des  marschierenden  und  lagernden 
Heeres  und  was  zur  Reitkunst  gehört1  (1. 1.  813d/e).  Plato  will  also 
in  der  Jünglingszeit  starke  Beachtung  des  späteren  militärischen 
Berufes,  wie  die  Jugendwehr,  Pfadfinder  usw.  der  Gegenwart. 

Nachdem  Plato  die  Ausbildung  des  Knabenalters  dargelegt 
hat,  wendet  er  sich  der  des  J  ü  n  g  1  i  n  g  s  zu. 

'Der  Freigeborene  muß  noch  drei  Unterrichtsfächer 
lernen,  das  eine  [von  ihnen]  ist  Rechnen  und  Zahlenkunde,  das  andere 
Messen  von  Länge,  Fläche  und  Tiefe,  das  dritte  die  Sternenkunde, 
wie  sie  [die  Sterne]  im  Verhältnis  zueinander  ihre  Bahn  ziehen.  Doch 
muß  dieses  alles  in  seiner  vollen  Genauigkeit  nicht  von  der  großen 
Menge,  sondern  nur  von  einigen  wenigen  behandelt  werden'  (1. 1. 
81?e/818a).  'Was  aber  von  diesen  Gegenständen  dem  großen  Haufen 
notwendig  ist,  und  wie  es  am  richtigsten  dargelegt  wird,  das  nicht 
zu  wissen  ist  einerseits  für  die  Menge  schimpflich,  anderseits  alles 
genau  zu  durchforschen  weder  leicht  noch  allen  möglich.  Das  Un- 
erläßliche aber  —  was  zur  Verwaltung  von  Haus  und  Staat,  sowie 
zum  Krieg  gehört,  [nämlich]  die  Kenntnis  des  Umlaufs  von  Sonne, 
Mond  und  Sterne,  die  Ordnung  der  Tage  in  Monate,  der  Monate  in  ein 
Jahr  —  kann  nicht  beiseite  geworfen  werden'  (1. 1.  809c,  822a).  'Was 
aber  von  diesen  [mathematischen]  Fragen  im  einzelnen,  wieviel, 
wann  und  wie,  was  in  Verbindung  und  was  getrennt  von  dem  andern, 
sowie  der  ganze  Zusammenhang  der  Dinge  gelernt  werden  muß, 
das  muß  der  zu  den  andern  Gegenständen  Vorschreitende  zuerst 
erfassen  und  lernen,  wobei  diese  [mathematischen]  Wissenschaften 
• —  Algebra,  Geometrie,  Stereometrie  und  Astronomie  —  Führer 
sind'  (1. 1.  81 8d).  —  Plato  will  also  in  klarer  Erkenntnis  der  Durch- 
schnittsbegabung das  tiefere  Eindringen  einem  kleinen 
Kreis  Auserlesener  vorbehalten  seilen  (cf.  auch  1. 1.  965a/b), 
'da  er  vor  den  Leuten  Furcht  hat,  welche  sich  mit  diesen  Wissen- 
schaften zwar  beschäftigten,  es  aber  schlecht  taten;  denn  eine  gänz- 
liche Unerfahrenheit  in  allen  [diesen]  Fragen  ist  weder  schrecklich  noch 
das  größte  Unglück,  sondern  die  Gelehrsamkeit  und  Vielwissenheit 
infolge  schlechter  Anleitung  ist  ein  viel  größerer  Schaden'  (1.  1.  819a). 
So  sehr  auch  Plato  die  Vcrstandesbildung  in  den  Vordergrund  rückt 


Piatos  Stellung  zu  Erziehungsfragen.  425 

und  die  Tugend  selbst  lernbar  nennt,  so  gibt  er  doch  auch  gelegentlich 
Winke,  daß  er  eine  besondere  Schulung    des    Willens  im 
Jünglingsalter  für  nötig  erachte.    Doch  haben  die  Ausführungen  ein 
Doppelgesicht,    sodaß    nur    bei    richtiger   Auffassung   das   erstrebte 
Ziel,  Stählen  des  Willens  in  der  Richtung  auf  das  Gute  hin,  erreicht 
wird.     'Wenn  unsere  Bürger  von  Kindheit  an  in  den  größten  [sinn- 
lichen] Freuden  unerfahren  sind  und  nicht  geübt  werden,  daß  sie 
in   ihnen    genügsam    ausharren    [=  enthaltsam  sind?]    und   infolge 
sorgloser  Hingabe  an   sinnliche   Reizungen  nichts   Schimpfliches   zu 
tun  gezwangen  werden,  so  werden  sie  dasselbe  erleiden  wie  diejenigen, 
welche  der  Furcht  unterliegen'  (1. 1.  635c/d).  —  Diesen  für  sich  miß- 
verständlichen Satz  beleuchtet  ein  anderer.    'Wenn  wir  jemand  auf 
rechte   Weise   furchtsam   machen   wollen,   müssen   wir  nicht   dafür 
sorgen,  daß  er  mit  Unverschämtheit  (=  Tollkühnheit)  streitet  und 
sich  im  Siegen  übt,  mit  den  Genüssen  glücklich  kämpfend'  (1. 1.  647c)? 
Die  Forderung  selbst  ist  durch  eine  beim  Turnen  gemachte  Beob- 
achtung  veranlaßt.     'Diejenigen  nämlich,   welche   sich  körper- 
lichen   Übungen  und  Anstrengungen  unterziehen,  werden  momentan 
[bis  sie  die  Anstrengungen  gewöhnt  sind]  schwach'  (1. 1.  646c).     Aus 
dieser  Stellenvergleichung  ergibt  sich  also,  daß  wir  die  erste  Äuße- 
rung nicht  in  dem  Sinne  des  Sichauslebens  verstehen  dürfen.     Das 
beweisen  auch  die  von  hohem  sittlichen  Ernst  getragenen  Cxedanken 
über   den    'vertraulichen    Umgang    zwischen   M  ä  d  - 
c  h  e  n    u  n  d   J  ü  n  g  1  i  n  g  e  n'.     'Es  überkäme  mich   billig  Furcht, 
was   man   in    einem    Staat   tun    muß,    in    dem    kräftige    Jünglinge 
und  Mädchen,  frei  von  aller  knechtischen  Arbeit,  welche  am  meisten 
den   Übermut  auslöscht  [=  Sinnlichkeit  dämpft?],  sind  und  welche 
sich  während  ihres  ganzen  Lebens  nur  um  Opfer,  Feiern  und  Fest- 
züge zu  kümmern  brauchen.    Auf  welche  Weise  werden  sie  sich  nun 
in   diesem   Staate  enthalten   von   den   Leidenschaften,  welche  schon 
viele  vielfach  in  das  äußerste  Verderben  gestürzt  haben,  von  denen 
[aber]  sich  fernzuhalten  die  Vernunft,  welche  [bei  uns]  Gesetz  werden 
soll,   befiehlt;   denn   es   wäre   verwunderlich,   wenn   unser   [oben  an- 
gegebenes] Gesetz  nicht  über  die  meisten  Leidenschaften  Herr  werden 
könnte;    der    Umstand    nämlich,    daß    übermäßiger    Reichtum    ver- 
boten  ist,    bietet   wohl    keinen    kleinen   Vorteil   für   Verständigsem. 
Also  auch  die  ganze  Erziehung  hat  ein  angemessenes  Gesetz  für  eben 
dieses  Ziel  empfangen  [=  ist  durch  ein  angemessenes  Gesetz  auf  eben 


426  Jegel, 

dieses   Ziel  eingestellt],   und  dazu  braucht  die   Behörde   [=  Unter- 
richtsminister  ?]  ihr  Augenmerk  auf  nichts  anderes  zu  richten,  son- 
dern immer  nur  die  Jünglinge  zu  beobachten.    Dieser  Umstand  ent- 
hält hinsichtlich   der  andern   Begierden,   soweit  menschliche    Kraft 
vermag,  ein  Maß;  was  aber  die  Liebe  der  [nicht  mannbaren]  Knaben 
und  Mädchen,  der  Männerfrauen  und  der  Frauenmänner  [d.  h.  wohl 
—  wegen  der  folgenden  Ausführungen  —  der  Homosexuelle  n 
beider    Geschlechter]    anlangt,    woraus    [  =  aus    welcher    Verirrung] 
dem  einzelnen  Individuum  wie  dem  ganzen  Staate  unzählige  Übel 
erwachsen,  — ■  auf  welche  Weise  kann  man  sie  vermeiden  und  durch 
welche  bereitete   Heilmittel  finden  die  Einzelnen  den  Ausweg  aus 
jener  Gefahr?  —  Sicherlich  nicht  leicht,  mein  lieber  Klimas.  —  Denn 
hinsichtlich  der  andern  Punkte  zwar,  in  denen  wir  von  der  herkömm- 
lichen Gewöhnung  abweichende  Gesetze  treffen,  gewährt  uns  ganz 
Kreta  und  Lazedämon  passend  keine  unbedeutende  Unterstützung, 
hinsichtlich  der  Liebesverhältnisse  aber  —  wir  sind  ja  allein  [unter 
uns]  —  sind  sie  uns  ganz  entgegengesetzt;  denn  wenn  man,  der  Natur 
folgend,  das  vor  Laios  [der  thebanische  König,  Vater  des  Ödipus, 
wurde  der  Knabenliebe  beschuldigt]  geltende  Gesetz  einbringt,  daß 
man  mit  Recht  Männer  und  Knaben  von  der  geschlechtlichen  Ver- 
einigung nach  Frauenart  abhält,  —  wobei  wir  die  Natur  der  Tiere 
zu  Zeugen  anrufen,  bei  denen  man  kein  einziges  Männchen  findet, 
welches  den  Geschlechtsgenossen  um  derartiger  Dinge  willen  [=  Ge- 
schlechtsgenuß] berührt,  weil  es  naturwidrig  ist  — ,  so  werden  wir 
wohl  verständig  reden  und  mit  eurem  Staat  [Kreta  und  Lazedämon] 
keineswegs    übereinstimmen. . . .      Wohlan,    laßt    uns    untersuchen, 
welchen  Vorteil  hinsichtlich   der   Tüchtigkeit   es  uns   bringt,   wenn 
wir  zugeben,  daß  man  jenes  [die  Homosexualität]  für  ehrenhaft  oder 
keineswegs  schimpflich  erklärt?    Wird  in  der  Seele  des  [zur  Homo- 
sexualität] Überredeten,  wenn  es  geschieht,  der  Charakter  der  Mann- 
haftigkeit oder  in  der  des  Überredenden  die  Art  verständiger  Eigen- 
schaften eingepflanzt?    Wer  wird  nicht  die  Weichlichkeit  desjenigen, 
der  solchen  Lüsten  Untertan  ist  und  ihrer  nicht  mächtig  zu  sein  ver- 
mag, tadeln?'  (1. 1.   835e— 836d).  —  Als  Unterstützung  'im  Kampf 
gegen    den   Geschlechtstrieb'  empfiehlt  Plato  die  auch 
heutzutage  vorgeschlagenen  Mittel.    'Wer  wird  sich  leichter  der  Liebe 
enthalten  und  das  in  dieser  Frage  Vorgeschriebene  enthaltsam  beob- 
achten,  derjenige,   welcher  seine   Körperkräfte  in  guter  Verfassung 


Piatos  Stellung   zu   Erziehungsfragen.  427 

hat  und  nicht  vernachlässigt,  oder  der  Faule'?  (1. 1.  839e).  'Man  soll 
die  Kraft  der  Begierde  möglichst  ungeübt  machen  und  durch  körper- 
liche Anstrengungen  den  Zufluß  und  die  Nahrung  derselben  [der 
Begierde]  wo  andershin  [=  in  andere  Körperteile]  lenken'  (1. 1.  841a). 

Der  Bildung  des  Willens  dient  auch  'die  gemeinsame  Unter- 
haltung beim  Wein,  wenn  sie  richtig  geschieht'  (1. 1.  641c,  cf.  auch 
673e ! ).  'Bei  ihr  [der  Unterhaltung]  kann  man  prüfen,  wie  die  Natur 
jedes  Einzelnen  von  uns  beschaffen  ist'  [1. 1.  652a].  'Auch  die  bei 
öffentlichen  Festen  gesungenen  Lieder  sollen  wie  Zaubergesänge 
der  Jugend  all  die  edlen  Grundsätze,  welche  wir  durchgegangen 
haben  und  noch  durchgehen  werden,  überzeugend  darlegen  und 
die  Hörer  zur  Tugend  führen'  (1. 1.  659e,  664b,  665c,  671a). 

Zu  der  bewußten  absichtlichen  Erziehung  der  Jugend  durch 
die  berufenen  Lehrer  tritt  die  von  allen  B  ü  r  gern  d  u  r  c  h 
das  Beispiel  auszuübende.  'Wir  glauben  sie  [die  sitt- 
liche Scheu]  den  Jünglingen  zu  hinterlassen,  wenn  wir  jene  [Jüng- 
linge], welche  sich,  nicht  schämen,  tadeln.  Doch  kann  diese  Absicht 
durch  die  jetzt  geübte  Ermahnung  nicht  erreicht  werden,  indem 
wir  sie  [die  Jünglinge]  heißen  vor  allem  Scheu  zu  haben,  sondern 
der  verständige  Gesetzgeber  wird  die  Älteren  auffordern,  sich  vor  den 
Jünglingen  in  acht  zu  nehmen  und  vor  allem  das  zu  vermeiden,  daß 
nicht  ein  Jüngling  einen  von  jenen  [Greisen]  bei  einer  schimpflichen 
Tat  oder  Rede  wahrnimmt,  weil  notwendigerweise  die  Jünglinge 
dort,  wo  die  Greise  sich  schamlos  betragen,  sich  ganz  schamlos  be- 
nehmen. Die  beste  Art,  die  Jugend  und  zugleich  sich  selbst  zu  er- 
zielten, besteht  nämlich  nicht  in  der  Erinnerung  [—  Ermahnung), 
sondern  wenn  der  andere,  welcher  etwas  um  der  Ermahnung  willen 
sagt,  dieses  selbst  in  seinem  Leben  augenscheinlich  auch  tut'  (1.  1. 
729b). 

Ähnlich  wie  im  Idealstaat  schenkt  Plato  auch  im  Gesetzesstaat 
der  religiösen  Erziehung  seine  volle  Aufmerksamkeit 
und  will  nicht  auf  dem  Wege  der  Gewalt,  sondern  der  Überredung 
die  Bürger  und  insbesondere  die  Jugend  zu  dem  Glauben  an  die 
Existenz  der  Götter,  'welche  einzelne  [Leute]  künstliche  Schöpfungen 
na cli  gewissen  Gesetzen'  nennen  (1. 1.  889e),  bekehren  (1.  1.  888a/c, 
890c).  Pöhlmann  hat  die  berühmte  Stelle  des  'sanftmütigen,  leiden- 
schaftslosen Gebotes1  meisterhaft  übersetzt.  'Mein  Sohn,  du  bist 
noch  jung  und  der  Fortschritt  der  Zeit  [=  deine  weitere  Lebenszeit] 


428  Jegel, 

wird  dich  lehren,  über  viele  Dinge  ganz  anders,  ja  geradezu  entgegen- 
gesetzt zu  denken,  wie  im  Augenblick.  Warte  also  zu,  bevor  du  über 
das  Allerwichtigste  aburteilst !  Denn  das  Wichtigste  unter  allem  ist, 
wie  der  Mensch  in  seinem  Leben  zu  den  Göttern  steht.  Eines  aber 
verhehle  dir  nicht,  worin  du  mich  nicht  als  Lügner  (er)finden  wirst. 
Du  bist  nicht  der  Erste  und  Einzige,  der  am  Dasein  der  Götter  zweifelt, 
sondern  es  sind  ihrer  stets  mehr  oder  weniger,  die  von  dieser  Krank- 
heit ( !)  befallen  sind.  Aber  keiner  noch  ist  jung  gewesen  und  alt  ge- 
worden, der  bei  dieser  Leugnung  beharrt  wäre  (!).  Wenn  du  also 
mir  folgen  willst,  so  wartest  du  ab,  bis  du  dir  ein  zuverlässiges  Urteil 
über  diese  Fragen  gebildet  hast  und  denke  zu  diesem  Zweck  erst  genau 
darüber  nach,  wie  sich  die  Sache  verhält,  und  ziehst  auch  andere 
und  vor  allem  den  Gesetzgeber  zu  Rate.  Inzwischen  aber  erfreche 
dich  nicht,  wider  die  Götter  zu  freveln !'  (Pöhlmann,  1. 1.  I,  539/40.)  — 
Wenn  auch  diese  Ansprache  in  einem  überlegenen,  von  Drohungen 
nicht  freien  Ton  gehalten  ist,  so  erscheint  sie  doch  der  Vertreter  einer 
väterlichen  Art  und  kontrastiert  zu  manchen  Bannstrahlen  der  Ver- 
gangenheit und  Gegenwart.  —  Auf  den  'Glauben  an  ein  göttliches 
Walten'  legt  Plato  deshalb  großen  Wert,  weil  er  überzeugt  ist,  'daß 
niemand,  der  gemäß  dem  Gesetze  (!)  an  das  Dasein  der  Götter  glaubt, 
weder  mit  Willen  ein  verruchtes  Werk  ausführt  noch  ein  gottloses 
Wort  aus  seinem  Munde  läßt'  (1. 1.  885b).  'Muß  man  nicht',  sagt 
Plato  an  anderer  Stelle  in  gleichem  Geiste,  'über  jene  ungehalten 
sein  und  sie  hassen  ( !),  welche  uns  die  Veranlassung  zu  diesen  Aus- 
einandersetzungen [über  die  Existenz  der  Götter]  gaben  und  jetzt 
geben,  weil  sie  den  Fabeln  nicht  glauben,  welche  sie  von  frühester 
Kindheit  an,  als  sie  mit  Muttermilch  aufgezogen  wurden,  durch 
Mütter  und  Ammen  hörten,  die  sie  —  wie  Zaubergesänge  —  in  Scherz 
und  Ernst  nacherzählten,  die  sie  während  der  Opfer  vernahmen  in 
den  Gebeten  und  in  den  angepaßten  Schauspielen,  welehe  der  Jüng- 
ling am  liebslen  aufgeführt  betrachtet  und  hört?  Und  [sie  erblicken] 
ihre  Eltern,  wie  sie  in  der  größten  Begeisterung  der  Opfernden  für 
sich  und  jene  Mühe  geben,  indem  sie  sich  im  Gebet  und  Fürbitte 
an  die  Götter,  welche  in  Wirklichkeit  sind,  wenden;  auch  [nehmen 
sie  wahr],  daß  alle  (!)  Griechen  und  Barbaren  bei  Auf-  und  Unter- 
gang von  Sonne  und  Mond,  in  mannigfachen  glücklichen  und  un- 
glücklichen Lebenslagen  die  Götter  anrufen,  (und)  sich  vor  ihnen 
niederwerfen  und  keinen  Argwohn  hegen,  daß  sie  (nicht)  vorhanden 
sind'  (1. 1.  887c/d). 


Piatos   Stellung   zu  Erziehungsfragen.  429 

Zu  der  Verehr  u  n  g  der  Gottheit,  die  Plato  'das  Maß  aller 
Dinge1  nennt  (L  1.  716c),  tritt  die  d  e  r  E  1 1  e  r  n.  'Es  ist  Pflicht,  daß 
man  die  erste  und  größte  Schuld  den  Eltern  abträgt  und  glaubt, 
daß  der  ganze  Besitz  und  die  ganze  Habe  denjenigen  gehöre,  welche 
uns  geboren  und  aufgezogen  haben,  —  indem  man  den  Eltern,  welche 
im  Alter  sehr  bedürftig  sind,  die  früher  auf  die  Kinder  verwendete 
Mühe  vergilt'  (1. 1.  717b). 

Die  Forderung  der  uneingeschränkten  Elternliebe  wird  zu  einer 
andern,  die  auch  der  spartanischen  Verfassung  eigen  ist,  erweitert. 
'Jeder  soll  bei  uns  den  ihm  gegenüber  Bejahrteren  durch  Wort  und 
Tat  Ehrerbietung  zeigen  und  jede  20  Jahre  ältere  Person  männlichen 
oder  weiblichen  Geschlechtes,  als  Vater  oder  Mutter  ehren'  (1. 1.  379c). 
Dieselben  Anschauungen  kehren  —  nebenbei  gesagt  —  bei  den  Hotten- 
totten wieder  (H.  Meyer,  Kolonialreich.  II,  209). 

Am  Ende  der  Darstellung  angelangt,  sei  noch  ein  kurzer  R  ü  c  k- 
b  1  i  c  k  u  n  d   Schluß  gestattet. 

Im  Ideal-  und  Gesetzesstaat  widmet  Plato  der  Jugenderziehung 
seine  volle  Aufmerksamkeit,  von  dem  Gedanken  ausgehend,  daß  'die 
Bürger  zu  Anstrengungen  geboren  sind'  (1. 1.  779a),  daß  'wohlerzogene 
Knaben  tüchtige  Männer  werden  (1. 1.  641b ;  cf.  853e,  354e,  920a) 
und  daß  'die  Kinder  mehr  dem  Staate  als  den  Eltern  gehören'  (1. 1. 
804d).  Piatos  Lobpreis  der  Erziehung  gipfelt  in  dem  Satze,  'daß 
nur,  wenn  jemand  einer  [ordentlichen]  Erziehung  teilhaftig  wurde, 
das  Dasein  lebenswert,  im  gegensätzlichen  Fall  aber  unglücklich 
ist'  (1. 1.  874d;  cf.  920a),  'daß  der  Mensch  erst  durch  Erziehung  Mensch 
wird;  denn  der  Mensch,  den  wir  unter  die  zahmen  Lebewesen  rechnen, 
pflegt  das  gottähnüchste  oder  sanftmütigste  Lebewesen  [nur]  zu 
werden,  wenn  ihm  rechte  Erziehung  und  eine  glückliche  Natur  zuteil 
geworden  ist,  dergestalt,  daß  er  das  wildeste  aller  Lebewesen,  welches 
die  Erde  hervorbringt,  ist,  wenn  er  nicht  genügend  oder  nicht  gut 
erzogen  wurde'  (1. 1.  766a).  Weil  der  neuzugründende  Staat  nur  bei 
tüchtiger  Erziehung  der  Jugend  auch  für  die  weitere  Zukunft  Be- 
stand haben  kann  (1  1.  752c;  cf.  872d),  warnt  Plato  einerseits  vor 
der  Gefahr  einer  'verweichlichenden  Weibererzichung',  wie  sie  das 
Schicksal  entarteter  orientalischer  Prinzen  zeigt  (1. 1. 694d  ff.  u. 
696a),  und  will  anderseits  die  Erziehung  nicht  der  Willkür  der  Eltern 
überlassen,  sondern  in  berufene  Hände  legen.  —  Für  die  einzelnen 
Unterrichtsfächer,    auch    Gymnastik    und    Tanz,    werden    staatlich 


430  Jegel, 

angestellte  Lehrer  vorgeschlagen  (1. 1.  764c,  813e).    Sie  überwacht  ein 
mit  weitgehenden   Rechten  und  Pflichten  ausgestatteter  Unter- 
richt s  mi  n  i  s  te  r  (1. 1.  765d  ff.,  801d,  813b/e,  829d,  835a,  936a, 
951e),  'ein  scharfblickender  Mann'  (1. 1.  809a).  —  Er  hat  insbesondere 
auch,  mit  andern  Behörden  des  Staates,  darauf  zu  achten,  daß  weder 
Dichter  noch  Komponisten  Neuerungen  einführen   (1. 1.  801c — 802d). 
Er  ist  der  Pfleger  ( =  Gönner)  der  offiziellen  Dichtung  und  der  'maß- 
vollen und  wohlgeregelten  [klassischen]  Musik',  welche  'dem  großen 
Haufen  gleichgültig  und  unangenehm  ist',  da  er  sich  mit  'süßem 
[d.   h.   einschmeichelndem]    [Operetten]ton  nährt'   (1. 1.  802d).      Der 
Unterrichtsminister  händigt  auch  den  Knaben  die  zur  Schnllektüre 
bestimmten  Schriftsteller  in  gebundener  und  ungebundener  Rede  ein 
(1. 1.  809b).    'Er  darf  auch  "nach  Gutdünken"  jeden  Bürger  und  jede 
Bürgerin  als  Helfer  beiziehen  und  wird  bei  der  Auswahl  dieser  Persön- 
lichkeiten keinen  Mißgriff  machen,  da  er  sich  klug  in  acht  nimmt 
und  die  Größe  seines  Amtes  erkennt  sowie  erwägt,  daß  —  wenn  die 
Jugend  gut  erzogen  ist  und  wird  —  alles  für  uns  gut  steht'  (l.  1.  813c). 
Da  der  Bestand  des  Staates  und  mit  ihm  eng  verbunden  das  Glück 
des  Einzelnen  von  der  völligen  Unterwerfung  aller  unter  das  Gesetz 
abhängig  ist,  so  sucht  Plato  die  Jugend  auch  in  scheinbar  unbedeuten- 
den Fragen,  z.  B.  ob  'ein  Ton  schön  oder  unschön'  ist,  an  die  be- 
dingungslose  Anerkennung   des    Urteils    der   berufenen    Richter,    zu 
denen  auch  der  Unterrichtsminister  gehört,  zu  gewöhnen  (1. 1.  700 ff.); 
'denn  es  erscheint  mir  nötig  bei  jeder  Gelegenheit  die  Rede,  wie  das 
Pferd,  im  Zaume  zu  halten'  (1. 1.  701c).  — 

Auch  empfiehlt  Plato  diejenige  Jagd,  'welche  die  Jünglinge 
besser  macht'  (1. 1.  823d),  nämlich  nur  die  'auf  vierfüßige  Tiere,  welche 
mit  Pferden,  Hunden  und  Einsetzung  der  eigenen  Person  möglich 
ist'  (1.1.824a);  denn  alles  im  täglichen  Leben  soll  dem  einen 
großen  Z  i  e  1 ,  t  ü  c h  t  i  g  e  Bürger  zu  erziehen,  dienst- 
bar  gemacht   werden. 

Diese  Absicht  bietet  immer  wieder  den  Schlüssel 
des  Verständnisses  für  manche  Bestimmung,  die  uns  zu- 
nächst befremdet  oder  überrascht.  Dieses  Streben  gibt  auch  den 
einzelnen  Anordnungen  einen  zentralen  Mittelpunkt. 

(Besitzt  ihn  auch  diejenige  Gegenwartsschulpolitik,  die  im  Gegen- 
satz zu  den  Verhältnissen  unter  Niethammer,  Thiersch  und  andern 
Einzelerkenntnisse  für  das  'praktische'  Leben  in  den  Vordergrund 
zu  rücken  scheint?) 


XXIII. 

Bemerkungen  zur  Abfassungszeit  und  zur  Methode 
der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe. 

Von 
Edgar  Zilsel  in  Wien. 

Dieses  Kapitel  des  Kantischen  Hauptwerkes,  fällt,  wie  Kant 
schon  durch  den  Druck  hat  hervorheben  lassen,  in  vier  Abschnitte 
auseinander. 

Der  letzte  Abschnitt  behandelt  die  vier  Arten  des  Nichts  und 
hat  mit  der  Amphibolie  gar  nichts  zu  tun ;  darum  werde  ich  ihn  über- 
haupt nicht  besprechen.  Die  ersten  drei  Abschnitte,  wovon  der  mittlere 
„Anmerkung  zur  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe"  überschrieben 
ist,  behandeln  dreimal  dasselbe  Thema,  stellen  sich  aber  ein  jeder 
anders  zum  Noumenon.  Für  diese  kompositionstechnische  Aus- 
nahmestellung des  ganzen  Kapitels  sowie  für  seine  Überschrift  als 
„Anhang",  die  andeutet,  daß  es  keinen  notwendigen,  keinen  tragenden 
Bestandteil  der  systematischen  Kritik  bildet,  gebe  ich  folgenden  Er- 
klärungsversuch, den  ich  zu  begründen  haben  werde: 

Der  erste  Abschnitt  ist  1771,  10  Jahre  vor  Veröffentlichung 
der  ersten  Ausgabe  geschrieben,  der  zweite  und  dritte  Abschnitt 
sind  ergänzende  Überarbeitungen  aus  späteren  Jahren. 

Abgesehen  von  einem  gewissen  historischen  Interesse,  das  dieser 
Feststellung  an  sich  zukommt,  soll  sie  zeigen,  welche  Schriften  Kants 
zum  Verständnis  der  Amphibolie  heranzuziehen  sind,  anderseits 
aber,  selbst  ein  Licht  auf  die  Entstehungsgeschichte  der  Kategorien 
werfen. 

Übrigens  nennt  schon  Vaihinger  in  seinem  Kommentar  an  einer 
Stelle  (II,  S.  529)  das  vorliegende  Kapitel  „eines  der  frühesten  der 
ganzen  Kritik".  Freilich  ganz  en  passant,  ohne  jede  nähere  Begründung 
und  Abgrenzung. 


432  Edgar  Zilsel, 

Ich  gehe  an  die  Besprechung  des  ersten,  ältesten  Abschnitts. 

Die  ersten  zwei  Absätze  geben  eine  Definition  des  Ausdrucks 
Reflexionsbegriff,  1.  dem  Inhalt,  2.  dem  Umfange  nach. 

Die  Überlegung  oder  Reflexion  ist  nach  Kant  nicht  auf  die  Er- 
kenntnis der  Dinge  gerichtet,  sondern  auf  die  „Subjektiven 
Bedingungen,  unter  denen  wir  zu  Begriffen  gelangen  können"  auf 
das  „Erkenntnisvermögen,  in  das  die  gegebenen  Vorstellungen  ge- 
hören", d.  h.  auf  die  Frage:  Verstand  oder  Sinnlichkeit?  Kant  er- 
wähnt, daß  Neigung  und  Gewohnheit  unsere  Urteile  fälschen.  Das 
spricht  für  meine  Datierung,  denn  derartige  Untersuchungen  sind 
schon  in  der  Einleitung  zur  transzendentalen  Logik  (Kr.  d.  r.  V., 
S.  78  2)  als  zur  angewandten  Logik  gehörig  aus  der  Kritik  vollkommen 
ausgeschieden  worden. 

Dieser  Passus  über  Neigung  und  Gewohnheit  muß  also  zu  einer 
Zeit  geschrieben  sein,  da  Kant  sich  über  die  Abgrenzung  des  Inhalts 
der  Kritik  noch  nicht  klar  war. 

Kant  fährt  fort,  daß  nicht  alle  Urteile  einer  Untersuchung  nach 
den  Gründen  ihrer  Wahrheit  bedürfen  und  führt  als  Beispiel  die 
geometrischen  an.  Auch  das  entspricht  nur  einem  sehr  jugendlichen 
Stadium  des  Kritizismus.  Der  reife  Kritizismus  fordert  für  alle  Urteile 
eine  Untersuchung  und  besonders  für  die  a  priorischen.  Ich  erinnere 
nur  an  die  ganze  Problemstellung  der  Einleitung:  „Wie  sind  synthe- 
tische Urteile  a  priori  überhaupt  möglich?"  ferner  an  die  Deduktion 
der  Kategorien  und  die  dort  (Kr.  d.  r.  V.,  S.  106)  erwähnte  Forderung 
nach  einer  transzendentalen  Deduktion  des  Raums,  die  auch  durch 
einen  Zusatz  der  zweiten  Ausgabe  (Kr.  d.  r.  V.,  S.  53)  zur  Ästhetik 
erfüllt  worden  ist. 

Doch  zurück  zur  Amphibolie.  Kant  meint  also: 
Nicht  alle  Urteile  bedürfen  einer  Untersuchung,  wohl  aber  bedarf 
„jedes  Urteil,  ja  jede  Vergleichung"  —  die  also  Kant  vom  Urteil  ab- 
trennt und  geringer  wertet  —  einer  Reflexion  nach  der  Provenienz 
(d.  h.  Sinnlichkeit  oder  reiner  Verstand)  der  verglichenen  Begriffe. 
Diese  Überlegung  nennt  er  eine  transzendentale. 

Es  folgt  die  Aufzählung  des  Umfangs  der  Reflexionsbegriffe, 
nämlich : 


l)  Zitate  aus  der   Kritik   der   reinen   Vernunft  nach  der  Ausgabe  von 
Kehrbach  (Reclani). 


Abfassungszeit   und  Methode   der  Ainphibolie   der  Reflexionsbegriffe.        433 

1.  Einerleiheit  und  Verschiedenheit,  2.  Einstimmung  und  Wider- 
streit, 3.  Inneres  und  Äußeres,  4.  Materie  und  Form. 

Merkwürdigerweise  fehlt  ganz  im  Gegensatz  zur  Kategorientafel 
jede  Begründung  für  die  Vollständigkeit  dieser  Tafel  der  Reflexions- 
begriffe, ein  Mangel,  den  sie  mit  der  Aufstellung  der  Anschauungs- 
formen  in  der  Dissertation  von  1770  und  der  Ästhetik  gemeinsam 
hat.  Noch  auffallender  fehlt  auch  jede  Gruppierung  nach  Kate- 
gorien 2).  Aber  für  jeden,  der  weiß,  wie  die  Kategorien tafel  m  der 
kritischen  Periode  die  Disposition  für  alles  abgeben  muß,  folgt  daraus, 
daß  Kant  die  Amphibolie  nicht  nach  der  Kategorientafel  konzipiert 
haben  kann. 

Nun  wissen  wir  aber  aus  einem  Brief  Kants  an  Markus  Herz 
vom  21.  Februar  1772,  daß  er  um  diese  Zeit  die  Kategorientafel  schon 
kennt;  anderseits  nennt  der  vorliegende  Abschnitt  schon  Raum 
und  Zeit  Anschauungsformen,  muß  also  nach  der  Dissertation, 
d.  h.  nach  1770  geschrieben  sein.  Somit  ist  seine  Abfassungszeit 
zwischen  die  Grenzen  1770  und  Februar  1772  eingeschlossen.  Dazu 
stimmt  wunderschön,  daß  Kant  am  7.  Juni  1771  an  denselben  Herz 
schreibt,  er  sei  mit  der  Ausarbeitung  eines  Werks  beschäftigt,  mit 
dem  Titel:  „Die  Grenzen  der  Sinnlichkeit  und  der  Vernunft",  ein 
Titel,  der  diesem  Abschnitt  wie  angegossen  paßt.  Übrigens  ist  die 
Trennung  des  mundus  sensibilis  und  intelligibilis  schon  Hauptinhalt 
der  Dissertation  und  das  Problem,  das  Kant  in  dieser  Zeit  (wohl 
aus  ethischen  Gründen)  am  meisten  beschäftigte.  Ich  glaube  meine 
Datierung  (1771)  schon  jetzt  sehr  wahrscheinlich  gemacht  zu  haben. 

Im  nächsten  Absatz  erläutert  Kant  das  Gesagte  an  dem  Beispiele 
der  ersten  Paare  der  Reflexionsbegriffe.    Er  sagt: 

Aus  dem  Verhältnis  der  Einerleiheit  resultiert  ein  allgemeines 
Urteil.  Ebenso  erzeugt  das  Verhältnis  der  Verschiedenheit  besondere 
Urteile.  Hier  drängt  sich  ein  Vergleich  mit  der  Urteilstafel  im  Leit- 
faden der  Entdeckung  der  reinen  Verstandesbegriffe  auf.  Dort  zählt 
Kaut  aber  in  der  Rubrik  Quantität  neben  den  allgemeinen  und  be- 
sondern auch  die  einzelnen  Urteile  auf.    Hier  in  der  Amphibolie  fehlen 


2)  Dagegen  sagt  Schopenhauer  im  Anhang  seines  Hauptwerkes,  in  der 
Kritik  der  Kantischen  Philosophie  von  den  Reflexionsbegriffen:  „Ihre  Vierzahl 
entspricht  den  Kategorientiteln,  daher  weiden  sie  unter  die  Leibnizschen 
Hauptichren  verteilt,  so  gut  es  gehen  will."  Das  geht  sehr  gut;  mit  der  Be- 
ziehung auf  die  Kategorien  will  es  nicht  gehen. 

\rohiv  für  (ieschichte  der  Philosophie.    XXVI,  4.  29 


434  Edgar  Zilsel, 

diese.  Aus  dem  Verhältnis  der  Einstimmung  und  des  Widerstreites 
resultieren  in  der  Amphibolie  die  bejahenden  resp.  die  verneinenden 
Urteile.  Die  unendlichen  fehlen  wieder.  Hätte  Kant,  als  er  dies  schrieb, 
die  Urteilstafel  schon  gekannt,  dann  hätte  er  diese  beiden  Auslassungen 
begründen  müssen,  umsomehr,  da  er  bei  der  Aufstellung  der  Urteils- 
tafel die  dem  Logiker  ungewohnte  Einführung  der  einzelnen  und  der 
unendlichen  Urteile  besonders  motiviert. 

Eine  weitere  Stütze  meiner  Datierung  ist  die  Methode  der  Amphi- 
bolie, die  die  Tafel  der  Reflexionsbegriffe  der  Einteilung  der  Urteile 
vorausgehen  läßt,  während  der  reife  Kritizismus  umgekehrt  die 
Urteilstafel  zum  Leitfaden  dei  Entdeckung  der  reinen  Verstandes- 
begriffe macht. 

Stilistisch  interessant  und  wieder  eine  Stütze  meiner  Datierung 
ist  die  Bemerkung,  daß  Kant  im  ersten  Abschnitt  der  Amphibolie 
den  Ausdruck  „Tafel"  der  Reflexionsbegriffe  noch  nicht  gebraucht. 

In  der  Amphibolie  fährt  Kant  fort: 

Wenn  es  uns  aber  nicht  auf  das  Verhältnis  von  Begriffen 
zueinander,  sondern  auf  das  ihrer  Inhalte,  der  „Dinge  selbst"  an- 
kommt, dann  müssen  wir  erst  wissen,  ob  die  verglichenen  Begriffe 
zur  Sinnlichkeit  oder  zum  Verstände  gehören.  Um  das  zu  ermitteln, 
bedarf  es  einer  transzendentalen  Reflexion.  Sinnlichkeit  und  Ver- 
stand werden  hier  (S.  240)  genau  wie  in  der  Dissertation  als  ver- 
schiedene „Erkenntnisarten"  völlig  voneinander  getrennt,  während 
im  reifen  Kritizismus  doch  erst  ihre  Vereinigung  Erkenntnis  er- 
geben soll. 

Bedeutsam  war  im  besprochenen  Absatz  auch  die  Bezeichnung 
der  „Dinge  selbst"  als  Inhalt  der  Begriffe.  Umfang  läge  näher. 
Dieser  Passus  erklärt  sich  durch  die  weite  Bedeutung  des  Terminus 
Begriff  bei  Kant,  aber  auch  durch  eine  gewisse  Unklarheit.  Man 
merkt,  Kant  kennt  hier  die  synthetische  Einheit  der  Apperzeption 
noch  nicht.  Denn  im  reifen  Kritizismus  ist  ja  bekanntlich  der  „Gegen- 
stand", der  offenbar  mit  dem  Ausdruck  das  „Ding  selbst"  gemeint 
ist,  nichts  andres  als  die  nach  einer  Regel  notwendige,  synthetische 
Einheit  des  Mannigfaltigen,  könnte  also  nicht  der  Inhalt  eines  Begriffs 
genannt  werden.  Noch  weniger  würde  dieser  Ausdruck  aufs  Ding 
an  sich  passen,  von  dem  übrigens  hier  nicht  die  Rede  ist.  Vielmehr 
ist  diese  Trennung  der  Verhältnisse  zwischen  Begriffen  gegen  die  Ver- 
hältnisse zwischen  den  Dingen  selbst  identisch  mit  der  Unterseh eidimg 


Abfassungszeit   und  Methode   der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe.        435 

des  usus  intellectus  logicus  (BegriffsVerhältnisse)  von  dem  usus  iu- 
tellectus  realis  (Dingverhältnisse)  in  der  Dissertation  (§  5). 

Aus  dem  besprochene  Absatz  (Kr.  d.  r.  V.,  S.  240/241)  will 
ich  nun  Folgerungen  auf  die  psychologische  Entstehung  eines  der 
wichtigsten  Gedanken  der  kantischen  Erkenntnistheorie  ziehen. 
"Wieso  kam  Kant  darauf,  eine  Urteüseinteilung  als  Leitfaden  zur 
Aufstellung  der  Kategorien  zu  benützen  und  dann  aus  diesen  das 
Objekt-sein,  die  Gegenständlichkeit  abzuleiten?  Der  Versuch,  diese 
Frage  aus  dem  besprochenen  Absatz  der  Amphibolie  zu  beantworten, 
erfordert,  daß  ich  die  entscheidenden  Stellen  nochmals  hervorhebe: 
„Vor  allen  objektiven  Urteilen  vergleichen  wir  die  Begriffe"  nach 
den  angeführten  vier  Gegensatzpaaren  (den  Keflexionsbegriffen  i. 
Nachdem  dann  noch  durch  transzendentale  Reflexion  festgestellt 
worden  ist,  welcher  Erkenntnisart  (Sinnlichkeit  oder  Verstand)  die 
verglichenen  Begriffe  angehören,  können  objektive  Urteile 
gefällt  werden.  Objektive  Urteile  resultieren  also  sowohl  aus 
der  Sinnlichkeit  als  aus  dem  reinen  Verstand.  An  der  Möglichkeit 
eben  dieser  Beziehung  des  reinen  Verstandes  auf  Gegenstände  aber 
begann  Kant  um  diese  Zeit  zu  zweifeln,  wohl  getrieben  vom  „skepti- 
schen Geist"  (Kant  an  Herz  vom  7.  Juni  1771)  der  Selbstkritik.  In 
dem  Brief  an  Herz  vom  21.  Februar  1772,  in  dem  Kant  dieses  neue 
(flu  die  Abkehr  vom  Rationalismus  entscheidende)  Problem  zum 
erstenmal  ausspricht,  behauptet  er  auch,  es  schon  gelöst  zu  haben. 
Schwerlich  ist  diese  Lösung  schon  vollkommen  die  des  reifen  Kriti- 
zismus, d.  h.  schwerlich  läßt  sie  den  „Gegenstand"  aus  der  Einwirkung 
der  Kategorie  auf  die  Sinnlichkeit  hervorgehen  3).  Aus  den  Andeutun- 
gen des  Briefes  geht  nur  hervor,  daß  Kant  auf  der  Suche  nach  den 
„Quellen  der  intellektualen  Erkenntnis"  „alle  Begriffe  der  gänzlich 
leinen  Vernunft  in  eine  gewisse  Zahl  von  Kategorien"  gebracht  hatte 
und  zwar  „nicht  aufs  bloße  Ungefähr"  wie  Aristoteles,  „sondern  wie 
sie  sich  selbst  durch  einige  wenige  Grundgesetze  des  Verstandes  von 
selbst  in  Klassen  einteilen".  Rein  logisch  läßt  sich  dieser  außer- 
ordentliche, folgenschwere  Einfall,  die  Konzeption  der  Kategorien 
und  ihres  Leitfadens,    aus  der  Suche  nach   den  Quellen  der 


8)  Z.  15.  ist  für  den  Brief  die  Beziehung  der  s  i  n  n  1  i  c  li  e  n  Vorstellung 
auf  ihren  Gegenstand  „leicht  einzusehen'*.  J)ie  Kmptindung  ist  ..vom  Objekt 
gewirkt",  muß  also  „als  eine  Wirkung  ihrer  Ursache  gemäß"  sein.  Offenbai 
rinnen  die  Begriffe  ,, Gegenstand*'  und  „Ding  an  sieh"  noch  ineinander. 


436  Edgar  Zilsel, 

intellektuellen  Erkenntnis  nicht  ableiten  4).  Der  besprochene  Absatz 
der  Amphibolie  vermag  ihn  aber,  wie  ich  glaube,  psychologisch,  be- 
greiflich zu  machen.  Hier  haben  wir  erstens:  die  Gegenüberstellung 
von  subjektiven  Begriffsvergleichungen  gegen  objektive  Urteile, 
also  intellektuale  Erkenntnisse,  zweitens:  ein  System  von  „Verglei- 
chungsbegriffen" in  innigster  Beziehung  mit  Budimenten  einer  Urteils- 
tafel. Ein  Gedankenblitz  und  diese  Elemente  konnten  sich  zusammen- 
schließen. Die  Reflexionsbegriffe  wären  also  unkritische  Vorläufer 
der  Kategorien. 

In  Kürze  wiederholt  stellt  sich  also  mein  Rekonstruktionsver- 
such folgendermaßen  dar:  Um  die  Leibnizsche  Phüosophie  zu  wider- 
legen, stellt  Kant  eine  Klasse  von  Begriffen  auf,  die  zu  subjektiven  Be- 
griffsvergleichungen dienen,  die  aber  nebenbei  zum  Teü  in  Beziehung 
zu  einer  Urteilseinteilung  stehen.  Ungefähr  gleichzeitig  gelangt  Kant 
von  einer  ganz  andern  Seite  her,  durch  den  Zweifel  an  der  Verstandes- 
erkenntnis zum  Bedürfnis  einer  Untersuchung  der  (objektiven)  Urteile. 
Die  Urteilseinteilung  bildet  das  Bindeglied  zwischen  beiden  Ge- 
dankenkreisen und  den  Leitfaden:  aus  den  Reflexionsbegriffen  ent- 
stehen die  Kategorien,  von  denen  sie  im  reifen  Kritizismus  nur  des- 
halb nicht  teüs  aufgesogen  teils  verdrängt  worden  sind,  weil  Kant 
die  Amphibolie  in  ihrer  alten  Gestalt  gegen  Leibniz  brauchte. 

In  den  beiden  besprochenen  Absätzen  hat  also  Kant  den  Aus- 
druck Reflexionsbegriff  erklärt  und  diese  aufgezählt.  Er  wendet 
sich  nunmehr  an  die  Darlegung  ihrer  Amphibolie,  d.  h.  ihrer  ver- 
schiedenen Bedeutuno;  in  dem  Gebiet  der  Sinnlichkeit  und  im  Gebiet 


■•& 


des  reinen  Verstandes. 


4)  Daß  das  Problem  von  der  Möglichkeit  intellektualer  Erkenntnis 
—  einmal  aufgeworfen  —  zu  einer  Untersuchung  der  objektiven  Urteile  führt, 
ist  logisch  notwendig;  daß  diese  Untersuchung  mit  einer  Urteils  e  i  n  t  e  i  1  u  n  g 
beginnt,  ist  aus  der  Eigenart  des  Kantischen  Denkens  und  aus  dem  Stand 
der  zeitgenössischen  Logik  (z.  B. :  Alex.  Gottl.  Baum  garten,  Acroasis 
Logica,  1761,  §§  124 — 160;  Lambert,  Neues  Organon,  1764,  Dianoiologie, 
III.  Hptst.,  §§  121 — 137)  erklärlich;  daß  aber  aus  den  einzelnen  Urteilsarten 
die  Erkenntnis  konstituierenden  Stamm b egriffe  resultieren,  diese  Eigenart 
der  Kantischen  Lösung  des  Problems,  will  ich  durch  die  Reflexionsbegriffe 
genetisch  erklären. 


Abfassungszeit  und  Methode   der  Amphibolie   der  Reflexionsbegriffe.        437 

1.    Einerleiheit   und   Verschiedenheit. 

Kant  sagt:  Mehrere  Gegenstände  mit  vollkommen  gleichen 
inneren  Bestimmungen,  d.  h.  von  gleicher  Qualität  und  gleicher 
Quantität,  sind  für  den  reinen  Verstand  ein  einziger  Gegenstand,  ein 
Individuum.  Das  ist  ja  klar;  es  heißt:  diese  gleichen  Gegenstände 
fallen  unter  einen  Begriff.  Das  war  also  der  Gegenstand  des  reinen 
Verstandes.  Wörtlich  fährt  Kant  fort:  „Ist  er  aber  Erscheinung" 
usw.  Zuerst  das  „Aber".  Dieses  Aber  beweist,  daß  Kant  hier  annimmt, 
ein  Gegenstand  des  reinen  Verstandes  und  zwar  wohlgemerkt  ein 
erkennbarer,  mit  inneren  Bestimmungen,  mit  Qualität  und 
Quantität  sei  nicht  Erscheinung,  sondern  Ding  an  sich.  Das  ist  voll- 
kommen der  Standpunkt  der  Dissertation :  der  reine  Verstand  erkennt 
die  Dinge  an  sich,  Metaphysik  ist  möglich.  Nebenbei:  Qualität  und 
Quantität  sind  natürlich  nicht  die  Kategorien,  die  kennt  Kant  ja 
hier  noch  nicht;  das  beweist  schon  die  umgekehrte  Keihenfolge. 
Die  Zugehörigkeit  zur  gleichen  Qualitäts  ka  t  e  g  o  r  ie  ist  viel 
weniger  als  die  hier  geforderte  Gleichheit  der  inneren  Bestimmungen 
und  auch  die  Quantitätskategorie  kann  nicht  gemeint  sein,  da  über 
Einheit  oder  Vielheit  der  Gegenstände  mit  gleicher  Quantität  ja  erst 
entschieden  werden  soll. 

Der  Gedankengang  Kants  ist  also  folgender:  Im  Bereich  des 
reinen  Verstandes,  unter  den  Dingen  an  sich  kann  es  nicht  zwei  genau 
gleiche  geben,  wohl  aber  ist  dies  im  Bereich  der  Sinnlichkeit,  unter 
den  Erscheinungen  möglich.  Ich  brauche  nur  zwei  völlig  gleiche 
Wassertropfen  gleichzeitig  an  verschiedenen  Örtern  anzuschauen. 
Das  Leibnizsche  Prinzip  von  der  Gleichheit  des  Ununterscheidbaren 
gilt  also  nur  für  die  Dinge  an  sich  und  wurde  von  Leibniz  auch  auf 
Erscheinungen  angewandt  nur  dadurch,  daß  er  fälschlich  die  Sinnlich- 
keit lediglich  für  einen  verworrenen  Verstand,  also  Erscheinungen 
für  Dinge  an  sich  hielt.  Die  Bedingung  der  Sinnlichkeit  aber,  der 
Raum  besteht  aus  einander  völlig  gleichen  und  dennoch  individualiter 
verschiedenen  Teilen. 

Gegen  das  principium  identitatis  indiscernibilium  hatte  Kant 
schon  1755  in  der  „Nova  dilucidatio"  (sect.  II,  prop.  XI)  polemisiert. 
Dort  sagt  er:  Wenn  zwei  Dinge  in  bezug  auf  die  internae  determina- 
tiones  identisch  sind,  so  können  sie  noch  immer  durch  externae  deter- 
minationes,  d.  h.  räumlich  verschieden  sein.  Die  Amphibolie  ersetzt 
diesen   verwaschenen   Gegensatz  von   internae   und  externae   deter- 


438  Edgar   Zilsel, 

minationes  durch  den  Gegensatz:  Verstand  (internae),  Sinnlichkeit 
(externae  determinationes),  ohne  ilin  eigentlich  zu  klären,  da  sie 
ja  kein  entscheidendes  Kriterium  zwischen  Verstand  und  Sinnlich- 
keit angibt. 

Übrigens  findet  sich  auch  in  der  ersten  Amphibolie  der 
Ausdruck  „innere  Bestimmungen"  und  kehrt  dann  in  der  dritten 
Amphibolie  wieder. 

2.    Einstimmung   und   Widerstreit. 

Kants  Gedankengang  ist  folgender:  Im  Gebiet  der  Sinnlichkeit 
können  zwei  entgegengesetzte  Realitäten  einander  aufheben,  und 
wenn  sie  in  einem  Subjekt  verbunden  sind,  eine  dritte  Realität  her- 
vorbringen. So  ergeben  z.  B.  zwei  gleich  große,  entgegengesetzt  ge- 
richtete Kräfte  mit  einem  Angriffspunkt  Ruhe.  Im  Gebiet  des 
reinen  Verstandes  dagegen  können  Realitäten  überhaupt  in  keinem 
Widerstreit  stehen. 

Diese  Amphibolie  behandelt  den  Hauptgedanken  der  vorkriti- 
schen Schrift  von  1763:  „Versuch,  die  negativen  Größen  in  die  Welt- 
weisheit einzuführen".  Auch  die  Beispiele  für  den  Widerstreit  im 
Gebiet  der  Sinnlichkeit :  +3  —  3  =  0,  Kräftepaar,  Lust  und  Unlust 
sind  dieselben.  Sonst  findet  sich  kein  gemeinsamer  Gedanke  in  beiden 
Schriften.  Wichtig  ist  dagegen  der  Punkt,  worin  sie  voneinander 
abweichen.  Der  Versuch  über  die  negativen  Größen  unterscheidet 
zwischen  logischer  und  realer  Opposition,  die  Amphibolie  zwischen 
Widerstreit  im  reinen  Verstand  und  in  der  Sinnlichkeit,  zeigt  also 
deutlich  die  Wendung  Kants  von  einer  Ontologie  zu  einer  Erkenntnis- 
theorie. Hervorzuheben  ist  noch  die  Bemerkung  der  Amphibolie, 
die  Realitäten  des  reinen  Verstandes  könnten  in  keinem  Widerstreit 
stehen.  Zu  ergänzen  ist  offenbar,  daß  den  Verstandesrealitäten  nur 
Negationen,  die  ja  keine  Realitäten  sind,  widerstreiten  können.  Hier 
zeigt  sich  eine  Übereinstimmung  mit  dem  Rationalismus,  offenbar 
Wolffischer  Einfluß,  nämlich  die  Gleichsetzung  von  Realität  mit 
Affirmation.  Das  merkwürdige  ist  nämlich,  daß  es  im  reinen  Ver- 
stand ohne  Sinnlichkeit  überhaupt  Realitäten  geben  soll.  Hier,  in 
rationalistischen  Einflüssen,  dürfte  auch  die  historische  Quelle  liegen, 
für  die  z.  B.  von  Schopenhauer  beanstandete  Ableitung  der  Kategorie 
Realität  aus  den  bejahenden  Urteilen. 


Abfassungszeit   und  Methode  der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe.        439 

3.    Das    Innere    und   Äußer  e. 

Der  Begriff  der  Amphibolie:  das  Innere  eines  Noumenon  ist 
eine  Verschärfung  des  Substanzbegriffs,  wie  ihn  die  Rationalisten 
faßten.  Die  Rationalisten  schließen  für  ihre  Substanz  jede  kausale 
Abhängigkeit  von  anderem  Existierenden  aus.5)  Kant  geht  weiter: 
Das  Innere  eines  Gegenstandes  des  reinen  Verstandes  darf  überhaupt 
„gar  keine  Beziehung  (dem  Dasein  nach)  auf  irgend  etwas  von  ihm 
Verschiedenes"  haben,  und  impliziert  damit  den  rationalistischen 
Substanzbegriff,  denn  wenn  etwas  gar  keine  Beziehungen  hat,  dann 
ist  es  auch  nicht  kausal  abhängig. 

Der  nächste  Satz  spricht  auch  richtig  von  emer  substantia,  freilich 
nicht  von  der  substantia  noumenon,  von  der  bis  jetzt  die  Rede  war, 
ohne  daß  bei  Kant  das  W  ort  Substanz  gefallen  wäre.  Er  behandelt 
die  substantia  phaenomenon,  die  im  Raum  erscheint,  d.  h.  die  Materie 
und  konstatiert,  daß  diese  „ganz  und  gar  ein  Inbegriff  von  lauter 
Relationen"  sei.  Den  Schluß,  daß  ihr  also  eigentlich  überhaupt  nichts 
schlechthin  Innerliches  zukomme,  sondern,  daß  „das,  was  wir  innere 
Bestimmungen  derselben  nennen,  nur  komparativ  innerlich"  sei, 
zieht  Kant  erst  in  der  dritten  Bearbeitung  der  dritten  Amphibolie 
(Kr.  d.  r.  V.,  S.  255).  Hier  in  der  ersten  Bearbeitung  (S.  242)  heißt 
es:  „die  inneren  Bestimmungen  einer  substantia  phaenomenon  im 
Raum  sind  nichts  als  Verhältnisse".  Freilich  wissen  wir  jetzt  nicht, 
wie  bei  Erscheinungen  Inneres  und  Äußeres  gegeneinander  abzu- 
grenzen sind. 

Da  nun  Leibniz  auch  die  Materie  fälschlich  für  ein  Noumenon 
gehalten  habe,  so  hätte  er  sich  auch  für  diese  nach  einem  Innern, 
das  mehr  als  Verhältnisse  enthält,  umsehen  müssen,  und  da  seien 
ihm  nur  die  Data  des  innern  Sinnes,  das  Denken,  geblieben.  Das 
Ergebnis  der  bei  Erscheinungen  unberechtigten  Forderung  nach 
einem  einfachen  Innern  seien  die  Leibnizschen  Substanzen:  die  nicht 
zusammengesetzten,  mit  Vorstellung  begabten  Monaden. 

Ich  glaube  aber,  daß  Kant  hier  eine  quaternio  terminorum  begeht, 
indem  er  das  Innere  in  der  Bedeutung  des  rationalistischen  Substanz- 


"')  Z.  B.  Cartes:  princ.  I.  51:  „res  quae  ita  existit,  ut  nulla  alia  re  indigeat 
ad  existendum".  »Spinoza,  Eth.  I.,  def.  3:  „quod  in  se  est  et  per  se  concipitur". 
Das  „in"  zeigt  wieder  die  Beziehung  zum  Inneren.  Übrigens  wäre  Arnold 
Geulincx,  der  schon  einen  durchaus  kritizistischen  Substanzbegriff  bat,  hier 
von  den   Rationalisten  auszunehmen. 


440  Edgar  Zilsel, 

begriffs  vermengt  mit  dem  innern  Sinn.  Besonders  deutlich  wird 
diese  quaternio,  wenn  man  die  merkwürdigerweise  hier  übergangene 
Zeit  hereinzieht  und  erwägt,  daß  durch  sie  der  sogenannte  innere 
Sinn  auch  nur  Zusammengesetztes,  Verhältnisse,  d.  h.  Äußeres,  bietet. 
Um  diesen  logischen  Fehler  aufzuheben,  müssen  wir  also  annehmen, 
daß  Kant  hier,  noch  abhängig  von  der  rationalen  Psychologie  Wolffs, 
an  einen  außerzeitlichen  Träger  des  inneren  Sinns,  an  eine 
substantielle  Seele  gedacht  hat,  die  wirklich  innerlich  ist,  d.  h.  aus 
mehr  als  bloßen  Verhältnissen  besteht.  Kant  hielt  eben  damals  noch 
Metaphysik  für  möglich  und  dachte  noch  nicht  an  die  „Paralogismen", 
die  er  ca.  10  Jahre  später  schreiben  sollte. 

Ich  habe  den  rationalistischen  Substanzbegriff  nur  hereingezogen, 
um  klarzustellen,  wieso  Kant  überhaupt  von  seinem  Begriff  das 
Innere  zu  den  Leibnizsehen  Monaden  kommt.  Das  Bindeglied  ist 
eben  die  Substanz.  Interessant  ist  auch,  wie  sehr  der  Substanzbegriff 
der  Amphibolie  von  der  Substanzkategorie  abweicht.  Die  Amphibolie 
spricht  weder  von  „Etwras,  das  nur  Subjekt,  nie  Prädikat"  sein  kann, 
noch  auch  vom  Schema  der  Substanzkategorie,  dem  im  Wechsel  Be- 
harrlichen. 

4.    Materie    und   F  o  r  m. 

Zunächst  hebt  Kant  die  grundlegende  Bedeutung  dieser  beiden 
Begriffe  hervor.  Bekanntlich  spielen  sie  ja  auch  in  seinem  ganzen 
System,  besonders  in  der  Ethik,  die  allergrößte  Rolle.  Hat  doch 
Kant  in  den  Prolegomena  (§  49)  und  in  der  2.  Auflage  der  Kr.  d.  r.  V. 
(S.  401)  seine  Lehre  einen  formalen  Idealismus  genannt  und  damit 
die  Wichtigkeit  der  Form  betont. 

In  der  Amphibolie  folgt  die  Aufzählung  einer  Reihe  von  Speziali- 
sierungen des  Begriffspaars:  Materie— Form,  von  denen  nur  eine  von 
größerem  Interesse  ist.  Kant  sagt  nämlich  (S.  243):  „In  jedem  Urteil 
kann  man  die  gegebenen  Begriffe  logische  Materie  (zum  Urteile),  das 
Verhältnis  derselben  (vermittels  der  C  o  p  u  1  a)  die  Form  des 
Urteils  nennen."  Das  stimmt  nicht  recht  zur  Urteilstafel  im  Leit- 
faden, die  ja  die  „Formen"  der  Urteile  (vgl.  z.  B.  Kr.  d.  r.  V.,  S.  89 
und  Prolegomena,  §  21  a)  aufzählen  soll.  Die  Modalität  der 
Urteile  geht  „auf  den  Wert  der  Copula  in  Beziehung  auf  das  Denken 
überhaupt"  (Kr.  d.  r.  V.,  S.  92)  zurück;  wie  aber  die  Quantität  sich 
auf  die  Copula  stützen  soll,  ist  nicht  recht  einzusehen;  mit  Qualität 


Abfassungszeit  und  Methode  der  Aniphibolie  der  Reflexionsbegriffe.        441 

und  Kelation  ginge  es  noch  eher.  Jedenfalls  aber  hat  Kant  im  „Leit- 
faden" den  Gedanken,  die  Urteilsformen  aus  der  Copula  abzuleiten 
aufgegeben. 

Nach  dieser  Aufzählung  kommt  Kant  zur  eigentlichen  Aniphibolie. 
Der  Verstand  verlange  zuerst  etwas  Bestimmbares  und  könne  erst 
dann  bestimmen;  also  im  Reich  der  Noumena  gehe  die  Materie  der 
Form  vorher.  Bei  eleu  Phänomenen  sei  die  Reihenfolge  umgekehrt; 
da  gehe  die  Form,  nämlich  Raum  und  Zeit,  der  Materie,  cl.  h.  den 
Empfindungen  voraus.  Da  nun  Leibniz,  der  „Intellektualphilosoph", 
die  Sinnlichkeit  nur  für  einen  verworrenen  Verstand  gehalten  hätte, 
so  habe  er  kerne  a  p  r  i  o  r  i  s  c  h  e  n  Anschauungsformen  gekannt. 
Vielmehr  habe  er  zuerst  Materie,  d.  h.  seine  Monaden  angenommen 
und  aus  deren  Gemeinschaft  den  Raum,  aus  der  kausalen  Verknüpfung 
ihrer  Zustände  die  Zeit  abgeleitet. 

Es  muß  aber  hervorgehoben  werden,  daß  der  springende  Punkt 
dieser  vierten  Aniphibolie,  nämlich  der  Gedanke  von  der  verschie- 
denen Reihenfolge  von  Materie  und  Form  beim  Verstand  und  bei 
der  Sinnlichkeit,  dem  reifen  Kritizismus  widerspricht  und  darum 
auch  aus  der  zweiten  und  dritten  Bearbeitung  der  Aniphibolie  aus- 
geschaltet ist.  Erstens  ist  in  dem  besprochenen  Abschnitt  ganz  deut- 
lich von  einer  zeitlichen  Reihenfolge  von  Materie  und  Form  die  Rede  6). 
Der  reife  und  konsequente  Kritizismus  aber  lehnt  ein  zeitliches  Vor- 
hergehen auch  der  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g  s  f  o  r  m  e  n  vor  den  Empfin- 
dungen entschieden  ab  und  betont  nur,  daß  die  Anschauungsformen 
sinnliche  Erfahrung  erst  ermöglichen  (z.  B.  Kr.  d.  r.  V.,  B.  Einleitung  I, 
Kchrb.,  S.  647/48). 

Zweitens  herrscht  aber  auch  genau  dieselbe,  nicht  die  umge- 
kehrte Rangordnung  zwischen  Verstandeserkenntnis  und  ihrer  Form 
(Kategorien  und  transzendentaler  Apperzeption).  Diese  Verstandes- 
formen  kennt  aber  der  1.  Abschnitt  der  Aniphibolie  wie  die  Dissertation 
„De  Mundi"  noch  nicht,  Für  die  Dissertation  sind  die  Materie  des 
mundus  intelligibilis  Substanzen,  Form  kommt  erst  durch  das  com- 


6)  Es  heißt  hier  (S.  243)  nämlich:  „Leibniz  nahm  um  deswillen  zuers  1 
Dinge  an  .  .  um  danach  das  äußere  Verhältnis  derselben  .  .  .  d  a  r  a  u 
zu  gründen".  Es  ist  also  das  ,, Danach"  vom  „Darauf"  unterschieden,  woraus 
folgt,  daß  das  „zuerst"  zeitlich  zu  fassen  ist.  Durch  das  „um  deswillen"  wird 
dieser  Sinn  unzweideutig  auf  den  vorhergegangenen  Satz:  „Daher  geht  im 
Begriff  des  reinen  Verstandes  die  Materie  der  Form  vor"  übertragen. 


442  Edgar  Zilseh 

mercium,  die  Connexio  der  Substanzen  hinein  7),  genau  wie  hier  in 
der  Amphibolie.  Der  Gedanke,  daß  die  Suhstantialität  selbst  eine 
Form  und  zwar  eine  a  priorische  des  Verstandes  ist,  war  noch  nicht 
gedacht.     Damit  ist  die  Besprechung  des  1.  Abschnittes  beendigt. 

Anmerkung    zur    Amphibolie   der    Reflexions- 
begriffe 

ist  der  zweite  Abschnitt  überschrieben.  Er  behandelt  dasselbe  wie 
der  erste,  so  daß  ich  nur  seine  Abweichungen  zu  besprechen  brauche. 
Da  er  die  Kategorien  schon  kennt,  die  Metaphysik  ausschließt,  viel- 
mehr stark  positivistisch  gefärbt  ist,  muß  er  mehrere  Jahre  nach  dem 
ersten  Abschnitt  abgefaßt  worden  sein. 

Nach  einer  aristotelisierenden  Einleitung,  die  nur  neue  Termini, 
nicht  neue  Gedanken  einführt,  stellt  Kant  das  Verhältnis  der  Re- 
flexionsbegriffe zu  den  Kategorien  fest.  Die  Kategorien  stellen  den 
Gegenstand  dar.  Die  Reflexionsbegriffe  vergleichen  nur  Vorstellungen, 
ohne  auf  den  Gegenstand  Rücksicht  zu  nehmen.  Gerade  deshalb 
müsse  man  wissen,  aus  welcher  Erkenntniskraft,  die  verglichenen 
Vorstellungen  kämen,  wenn  man  sich  mit  der  Vorstellungsvergleichung 
nicht  begnüge,  sondern  von  den  Gegenständen  urteilen  wolle. 

Eine  logische  Begründung  für  die  Vollständigkeit  der  Tafel  der 
Reflexionsbegriffe  fehlt  auch  hier.  Dagegen  verrät  uns  Kant  sein 
psychologisches  Motiv  in  den  Worten  (S.  245):  „Unsere  Tafel  der 
Reflexionsbegriffe  schafft  uns  den  unerwarteten"  (sie!)  „Vorteil, 
das  Unterscheidende  seines"  (nämlich  Leibnizens)  „Lehrbegriffs  in 
allen  seinen  Teilen  und  zugleich  den  leitenden  Grund  dieser  eigentüm- 
lichen Denkungsart  vor  Augen  zu  legen  ..." 

Bei  Besprechung  der  1.  Amphibolie  (Einerleiheit  und  Verschieden- 
heit) wiederholt  Kant  seine  Polemik  gegen  das  prineipium  identitatis 
indiscernibilium  ohne  etwas  Neues  hinzuzufügen,  bei  der  zweiten 
(Einstimmung  und  Widerstreit)  gibt  er  eine  Polemik  gegen  die  Leibni- 
zianer,  die  bei  der  ersten  Bearbeitung  gefehlt  hat.  In  die  erste  Be- 
arbeitung ist  offenbar  die  zweite  Amphibolie  nur  dem  Versuch  über 


7)  De  mundi  §  2,  I:  „Materia.  .  .  h.  e.  partes  quae  hie  sumuntur  esse 
substantiae" ;  §  2,  II:  „Forma,  quae  consistit  substantiarum  coordinatione". 

§  16:  „Munduni  autem  hie  non  contemplamur  quoad  materiam  i.  e.  .  .  . 
substantiarum  naturas  .  .  .,  sed  quoad  formam  h.  e.  .  .  .  nexus  .  .  .  totalitas". 


Abfassungszeit  und  Methode  der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe.       443 

die  negativen  Größen  zuliebe  aufgenommen  worden.  Hier,  in  der 
zweiten  Bearbeitung  wendet  sich  Kant  gegen  die  Auffassung  der 
Übel  „als  Folgen  von  den  Schranken  der  Geschöpfe"  und  gegen  die 
Möglichkeit,  „alle  Kealität  ...  in  einem  Wesen  zu  vereinigen".  Diese 
beiden  Behauptungen  des  L/ 1!  nizwolfianischen  Lehrgebäudes  hätten 
nur  für  Xoumena  Berechtigung. 

Die  3.  Amphibolie  (Inneres  und  Äußeres)  bringt  wieder  die  Ab- 
leitung der  Monaden  aus  dem  Innern.  Hinzugefügt  ist  eine  Polemik 
gegen  die  prästabilierte  Harmonie. 

Die  vierte  Amphibolie  (Materie  und  Form)  läßt,  wie  schon  er- 
wähnt, die  eigentliche  Amphibolie  der  ersten  Fassung,  den  Gedanken 
von  der  verschiedenen  Keihenfolge  von  Form  und  Materie  im  Ver- 
stand und  m  der  Sinnlichkeit  fallen.  Dennoch  bringt  sie  die  Polemik 
gegen  die  Leibnizsche  Lehre  von  Raum  und  Zeit,  muß  sich  also  nach 
einer  andern  Fehlerquelle  für  Leibniz  umsehen.  Als  Fehlerquelle 
gibt  hier  (S.  249)  die  vierte  Amphibolie  ,,eben-dieselbe  Täuschung" 
an.  Dieses  „ebendieselbe"  kann  sich  nur  auf  den  Satz  der  dritten 
Amphibolie  beziehen,  der  konstatiert,  die  Monadologie  sei  aus  dem 
Irrtum  Leibnizens  entsprungen,  „daß  er  Inneres  und  Äußeres  bloß 
im  Verhältnis  auf  den  Verstand"  vorgestellt  habe  (S.  248).  Also  als 
Fehlerquelle  tritt  ein  Irrtum  Leibnizens  in  bezug  auf  Inneres  und 
Äußeres  auf.  Wir  stehen  aber  bei  Materie  und  Form.  Damit  ist  das 
vierte  Paar  der  Reflexionsbegriffe  eigentlich  überflüssig  geworden. 
LTnd  in  der  Tat  decken  sich  die  beiden  Begriffspaare  Äußeres  — 
Inneres  und  Form  —  Materie,  wenn  man  sie  scharf  fassen  will  und 
bezeichnen  nichts  anderes  als  Relationen  und  üir  Substrat. 

Das  ist  leicht  nachzuweisen.  Alles,  was  aus  Verhältnissen  besteht, 
gehört  zum  Äußern,  so  daß  für  das  Innere  nichts  übrig  bleibt,  als 
das  „Substratum  aller  Verhältnisse",  wie  es  übrigens  in  der  dritten 
Bearbeitung  (S.  254)  der  Amphibolie  definiert  ist.  Daß  die  Form 
genau  so  wie  das  Äußere  nichts  ist  als  ein  Inbegriff  von  Verhältnissen, 
acht  aus  zahlreichen  Stellen  der  Dissertation  und  der  Kritik  hervor  8). 


8)  De  nmndi  §  4:  „forma  testalur  quendam  sensorum  respectum  aut 
relationem".  Kr.  d.  r.  V.,  S.  49:  „Dasjenige,  welches  macht,  daß  das  Mannig- 
faltige der  Erscheinung  in  gewissen  Verhältnissen  geordnet  werden  kann, 
nenne  ich  die  Form  der  Erscheinung".  S.  72:  „Form  der  Ansohauung  .  .  . 
enthält  nichts  als  Verhältnisse". 


444  Edgar  Zilsel, 

Da  wir  also  keinen  logischen  Grund  für  die  Zerspaltung  des  einen 
Begriffspaares:  Relation  —  Relationssubstrat,  in  die  zwei  Paare: 
Äußeres  —  Inneres  und  Form  —  Materie  angeben  können,  müssen 
wir  uns  nach  dem  psychologischen  Motiv  Kants  umsehen.  Das  ist 
bald  gefunden. 

Das  „Innere"  brauchte  Kant,  um  mit  Hilfe  der  Assoziation 
„innerer  Sinn"  auf  die  vorstellenden  Monaden  zu  kommen.  Über- 
haupt gebraucht,  wie  gezeigt  worden  ist,  die  erste  Fassung  der  Amphi- 
bolie  diesen  Begriff  „das  Innere"  in  recht  verschwommener  Be- 
deutung. Das  Paar:  Materie  —  Form  tritt  in  der  ersten  Fassung 
der  Amphibolie  in  der  unscharfen  Gestalt:  Bestimmbares  —  Be- 
stimmung auf  (S.  243),  da  Kant  für  seine  Methode  der  Leibnizwider- 
legung  ein  Gegenstück  im  Verstand  zu  den  Formen  der  Anschauung 
brauchte  und  die  wirklichen  Verstandesformen  (die  Kategorien  und 
die  transzendentale  Apperzeption),  die  R  e  1  a  t  i  o  n  s  begriffe  sind, 
noch  nicht  kannte.  Da  die  „Bestimmung"  aber  durchaus  nicht  immer 
eine  Relation  sein  muß,  konnte  Kant  die  Identität  von  „Form"  und 
„Äußeres"  entgehen. 

Der  Irrtum  der  Leibnizschen  Raum-  und  Zeitlehre  ist  also  in 
der  zweiten  Bearbeitung  der  Amphibolie  folgendermaßen  erklärt 
(S.  249):  „wenn  ich  mir  durch  den  bloßen  Verstand  äußere  Verhält- 
nisse der  Dinge  vorstellen  will",  so  bleibt  nur  die  „Gemeinschaft 
der  Substanzen"  (Kategorie  der  Wechselwirkung)  und  die  „dynami- 
sche Folge  ihrer  Zustände"  (Kausalitätskategorie)  übrig.  Für  Leibniz 
waren  also  „Raum  und  Zeit  die  intelligble  Form  der  Verknüpfung 
der  Dinge  (Substanzen  und  ihrer  Zustände)  an  sich  selbst". 

Kant  fährt  aber  fort  (S.  250):  „Was  die  Dinge  an  sich  sein  mögen, 
weiß  ich  nicht  und  brauche  es  nicht  zu  wissen,  weü  mir  doch  niemals 
ein  Ding  anders  als  in  der  Erscheinung  vorkommen  kann."  Daß 
das  Intelligible  für  die  normative  Ethik  bedeutsam  sei,  ist  hier  völlig 
übergangen.  Ebenso  positivistisch  wird  das  „schlechthin  Inner- 
liche" der  Materie  als  eine  „bloße  Grille"  abgelehnt,  was  unter  Be- 
rücksichtigung, daß  das  schlechthin  Innerliche  das  Einfache  ist,' 
wieder  zur  Thesis  der  zweiten  Antinomie  nicht  recht  paßt. 

Kant  geht  so  weit  zu  behaupten  (S.  252):  „daß  die  Vorstellung 
eines  Gegenstandes  als  Ding  überhaupt  nicht  etwa  bloß  unzureichend, 
sondern  ohne  sinnliche  Bestimmung  derselben  und  unabhängig  von 
empirischer  Bedingung  in  sich  selbst  widerstreitend  sei".     So  nahe 


Abfassungszeit  und   Methode  der  Amphibolie   der  Reflexionsbegriffe.       445 

wie  hier  ist  Kant  dem  Empirismus  nirgends  in  der  Kr.  d.  r.  V.  ge- 
kommen.   So  wird  gleich 

die   dritte    Bearbeitung   der   Amphibolie 

dem  Noumenon  doch  wieder  eine  Bedeutung  zuschreiben.  Zunächst 
führt  sie  aber  das  dictum  de  omni  et  nullo  ein.  Dieser  logische  Grund- 
satz besagt:  Was  von  einem  Begriffe  gilt,  gilt  auch  von  jedem  Be- 
sonderen, das  unter  diesen  Begriff  fällt.  Man  könne  aber  nicht  sagen 
(S.  253):  „"Was  in  einem  allgemeinen  Begriff  nicht  enthalten  ist,  das 
ist  auch'  in  den  besonderen  nicht  enthalten,  die  unter  demselben 
stehen." 

Mit  Hilfe  dieser  Erkenntnis  wird  Leibniz  elegant  widerlegt, 
indem  gezeigt  wird,  daß  der  Satz  vom  Nichtzuunterscheidenden, 
der  von  der  Unmöglichkeit  des  Widerstreits  der  Realitäten,  sowie 
die  Leibnizsche  Raum-  und  Zeitlehre,  die  alle  für  allgemeine  Begriffe 
zu  Recht  bestehen,  dadurch,  daß  eben  von  charakteristischen  Merk- 
male]! der  besonderen  Dinge  der  Sinnenwelt  abstrahiert  wurde,  für 
diese  keine  Geltung  haben.  Die  Monadenlehre  läßt  sich  nicht  nach 
dieser  Methode  abtun.  Der  Symmetrie  zuliebe  hat  aber  Kant  auch 
hier  ganz  äußerlich  dieselbe  Schablone  angewendet.  Wichtiger  ist 
die  hier  auftauchende  Erkenntnis,  daß  der  „innere  Sinn"  mit  dem 
„Innern"  eigentlich  wenig  zu  tun  hat.  Kant  sagt  nämlich,  das  Innere 
der  Monaden  sei  „einfach  und  (nach  Analogie9)  mit  unserem 
inneren  Sinn)  durch  Vorstellungen  bestimmt."  Die  transzendentale 
Reflexion  tritt  in  der  ganzen  dritten  Bearbeitung  völlig  zurück. 

Es  folgt  noch  eine  Einführung  des  Noumenon  „in  einer  bloß 
negativen  Bedeutung"  (S.  256)  als  „unvermeidliche  mit  der  Ein- 
schränkung unserer  Sinnlichkeit  zusammenhängende  Aufgabe"  (S.  257). 
Das  Noumenon  ist  zwar  unerkennbar,  aber  nicht  mehr  unnötig; 
es  dient  dazu,  „die  Grenzen  unserer  sinnlichen  Erkenntnis  zu  be- 
zeichnen" (Kr.  d.  r.  V.,  S.  258). 

Es  ist  also  wirklich  gezeigt  worden,  daß  die  drei  Abschnitte 
der  Amphibolie  dreimal  dasselbe  behandeln,  daß  sie  aber  aus 
verschiedenen  Zeiten  stammen  müssen,  da  der  erste  ein  erkenn- 
bares Noumenon  annimmt,  der  zweite  das  Noumenon  rundweg 
ablehnt,     der    dritte    aber    das    Noumenon     zur    Abgrenzung    des 


Von  mir  gesperrt.     E.  /. 


446  Edgar   Zilsel, 

Erkennbaren  wieder  heranzieht.  Auffallend  ist  nur,  wie  die  Dis- 
position ja  die  ganze  Methode,  die  historisch  aus  dem  Gedanken- 
kreis der  ersten  Bearbeitung  erwachsen  ist,  geradezu  als  Fossil  in 
die  zweite  und  dritte  Bearbeitung  hineinragt,  wiewohl  sie  den  in- 
zwischen geklärten  Begriffen  nicht  mehr  standhalten  sollte.  Das 
glaube  ich  durch  meine  Erörterung  des  „Innern"  und  des  Begriff  spaars 
Form  —  Materie  gezeigt  zu  haben.  So  gibt  ferner  die  ganze  Amphi- 
bolie  keine  vollkommen  scharfe  und  dabei  immanente,  auf  das  Ding 
an  sich  verzichtende,  d.  h.  metaphysikfreie  Abgrenzung  der  Sinn- 
lichkeit gegen  den  Verstand  10),  und  wiederholt  so  im  Kiemen  einen 
methodischen  Mangel  der  Kr.  d.  r.  V.  im  Großen.  Dies  läßt  auf  ein 
starkes  „architektonisches  Interesse"  (vgl.  Kr.  d.  r.  V.,  S.  390)  Kants 
schließen,  auf  einen  Widerwillen  gegen  alles  Verschwommene,  der 
Abgrenzung  und  Starrheit  einmal  gewonnen,  unter  kernen  Umständen 
wieder  aufgab.  Dennoch  sollte  aber  eine  kritische  Philosophie  ihren 
Inhalt  immer  auf  ihre  Methode  anwenden  und  so  dem  Gang  eines 
gleichen,  der  bei  jedem  Schritt  sich  selbst  auf  den  Fuß  tritt,  um  zu 

spüren,  ob  er  stehe. 

*  * 

* 

Erst  unmittelbar  vor  dem  Druck  dieser  Arbeit  ist  mir  die  Disser- 
tation von  Oskar  Döring:  Der  Anhang  zum  analytischen  Teile  der 
Kr.  d.  r.  V.  über  die  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe,  Leipzig  1904, 
bekannt  geworden.  Wenn  auch  Döring  sein  Thema  nur  „exegetisch 
und  kritisch  beleuchten"  will,  ich  aber  von  vornherein  die  Abfassungs- 
zeiten  in  den  Vordergrund  gestellt  habe,  so  erfordert  es  doch  die 
Gründlichkeit,  daß  ich  Einiges  über  Dörings  Resultate  sage. 

Zunächst  hätte  ich  meine  Bemerkung,  daß  die  Amphibolie  die 
Angabe  unterläßt,  wie  es  denn  zu  erkennen  ist,  ob  eine  Vorstellung 
zur  Sinnlichkeit  oder  zum  Verstand  gehört,  schon  aus  Dörings  Schrift 


10)  Diese  Bemerkung  richtet  sich  nicht  gegen  die  Annahme  des  Dings 
an  sich  —  die  Kritik  Jakobis,  Änesidemus-Schulzes  und  Fichtes  hat  hier  ein- 
gesetzt —  sondern  gegen  seine  Verwendung  als  Einteilungsgrund.  Die  Aus- 
drücke Spontaneität  und  Rezeptivität  lassen  sich  nur  als  Tun  und  Leiden 
des  intelligiblen  Ichs  gegen  das  Ding  an  sich  verstehen  (vgl.  die  Erklärung 
Kants  gegen  Beck  und  Eichte  vom  17.  August  1799).  Ein  Faktum  aber,  das 
—  wie  erst  der  reife  Kritizismus  erkannt  hat  —  sich  notwendig  außerhalb  des 
Bewußtseins  abspielt,  ist  als  unterscheidendes  Merkmal  für  Bewußtseins- 
inhalte  ungeeignet. 


Abfassungszeit  und  Methode   der  Amphibolie  der  Reflexionsbegriffe.        447 

(S.  35)  schöpfen  können.  Auch  die  nahe  Verwandtschaft  der  beiden 
Begriffspaare  Inneres— Äußeres  und  Materie— Form  untereinander 
und  mit  dem  dritten  Paar  Substanz  —  Akzidenz  hat  Döring  erkannt 
(S.  44) ;  dagegen  übersieht  er,  daß  hier  nicht  die  Substanz  kategorie, 
sondern  der  rationalistische  Substanzbegriff  in  Betracht  kommt, 
da  er  eben  die  verschiedenen  Abfassungszeiten  der  drei  Teile  der 
Amphibolie  gar  nicht  bemerkt. 

Diese  Vernachlässigung  der  Entwicklung  des  Kantischen  Denkens 
beeinträchtigt,  wie  mir  scheint,  auch  die  Richtigkeit  seiner  sonstigen 
Resultate,  so  seiner  Untersuchung  der  Reflexion.  Durch  Konfrontation 
sämtlicher  Stellen  über  die  Reflexion  aus  allen  drei  Bearbeitungen 
der  Amphibolie  und  einiger  Stellen  aus  Kants  Logik  (Jäsche  1800), 
Anthropologie  und  der  Abhandlung  über  „Philosophie  überhaupt" 
(1794)  gelangt  er  zu  einer  Vierteilung  der  Reflexion  in  eine  ästhetische, 
eine  Reflexion  im  besonderen,  eine  logische  und  eine  transzendentale 
(die  reine  Anschauungen  miteinander  vergleichen  soll)  (S.  29).  Da- 
gegen möchte  ich  hier  die  Konsequenzen  meiner  Datierung  für 
die  Auffassung  der  Reflexion  andeuten  und  so  eine  Ergänzung  meiner 
Arbeit  versuchen.  Zunächst  beschränke  ich  mich  auf  die  Amphibolie 
in  der  ersten  Fassung.  Diese  kennt  erstens  eine  logische  Reflexion, 
die  „bloße  Comparation"  (S.  240),  d.  h.  Vergleichung  von  Begriffen 
ist  und  „von  der  Erkenntniskraft,  wozu  die  gegebenen  Vorstellungen 
gehören,  gänzlich  abstrahiert"  (S.  240).  Diese  logische  Reflexion  ist 
identisch  mit  dem  usus  intellectus  logicus  und  findet  sich  auch  in  der 
Dissertation  De  mundi  (§5  „per  reflexionen  secundum  usum  intellectus 
logicum").  Zweitens  spricht  die  erste  Fassung  der  Amphibolie  von  der 
transzendentalen  Reflexion ;  sie  ist  auf  die  Erkenntnisquelle 
der  verglichenen  Vorstellungen  gerichtet.  Reflexionsbegriffe  sind  also 
—  man  hüte  sich  vor  der  Analogie  „Verstandesbegriff u  oder  „Vernunft- 
idee" —  I.  Begriffe,  die  zur  logischen  Reflexion  dienen;  IL  Begriffe, 
bei  denen  transzendentale  Reflexion  vonnöten  ist,  damit  keine 
Amphibolie  entstehe.  Die  logische  Reflexion  kommt  nur  in  der  ersten 
Fassung  der  Amphibolie  vor,  die  transzendentale  in  der  ersten  und 
zweiten  Fassung,  in  der  dritten  Fassung  sind  beide  durch  das  dictum 
de  omni  et  nullo  entbehrlich  geworden.  Es  scheint  mir  nun  aber 
nicht  zulässig  zu  sein,  alle  Stellen  in  Kants  Schriften,  in  denen  von 
Reflexion  oder  -eflektieren  die  Rede  ist,  unter  einen  Hut  zu  bringen 
und  zur  Interpretation  der  Amphibolie  heranziehen,  wenn  auch  die 


44S  Edgar  Zilael, 

Reflexionsdefinition  in  der  Schrift  „Über  Philosophie  überhaupt" 
logische  und  transzendentale  Reflexion  der  Amphibolie  umfaßt. 
Die  übrigen  Stellen  aber  (z.  B.  Kr.  d.  r.  V.  S.  272,  Kr.  d.  Urt.-Kr. 
Einleitg.  IV,  Logik  §§  1,  5,  6,  19,  82,  Anthropologie  §  4  letzte  An- 
merkung, §§  6,  7,  9,  17,  Vorlesungen  über  Psychologie,  herausgegeben 
von  Du  Prel  nach  Poelitz  1889,  S.  16,  18,  25,  26,  27)  rechnen  zwar 
alle  die  Reflexion  zu  den  oberen  Seelen  vermögen  (Spontaneitäl) 
bringen  mich  aber  zur  Überzeugung,  daß  hier  einer  der  am  meisten 
schwankenden  Ausdrücke  der  ganzen  Kantischen  Terminologie  vor- 
liegt. 

Auch  bei  seiner  Unterscheidung  zwischen  Vergleichen  und  Urteilen 
scheint  mir  Döring  (S.  41)  die  richtige  Auffassung  (Vergleichen  — 
subjektiv;  Urteilen  —  objektiv)  zu  verfehlen.  Dagegen  danke  ich 
Döring  den  Hinweis  auf  die  §§  23—30  von  De  mundi  und  damit  eine 
neue  Stütze  für  meine  Datierung.  Es  zeigt  sich  nämlich  wieder,  wie 
nahe  die  Amphibolie  der  Dissertation  von  1770  steht.  So  bespricht 
der  §  23  das  „sensitivae  cognitionis  cum  intellectuali  contagium", 
§  24  die  „permutatio  intellectualium  et  sensitivorum"  und  die  daraus 
entstehenden  „principia  fallendi  intellectus  per  omnem  metaphysicam 
pessime  grassata".  Die  folgenden  §§  27 — 30  geben  Beispiele  solcher 
falscher  Sätze  nur  nicht  aus  der  Leibnizschen  Philosophie,  wie  die 
Anphibolie  es  tut. 

Die  zweite  Hälfte  der  Döringschen  Dissertation  bringt  aus  Kants 
Schriften  eine  reichhaltige  Zusammenstellung  und  Vergleichung  von 
Stellen,  die  auf  Leibniz  Bezug  haben. 


XXIV. 

Kleitophon  wider  Sokrates. 

Ein  Beitrag  zur  Erklärung  des  nach  ersterem  benannten  Dialoges  der 

platonischen  Sammlung. 

Von 

Dr.  Heinrich  Brünnecke,  Göttingen. 

"Wieweit  die  über  den  rätselhaften  Kleitophondialog  seitens  der 
Forscher  bisher  geäußerten  Anschauungen  auch  im  einzelnen  von- 
einander abweichen,  so  berühren  sich  doch  in  den  meisten  Fällen 
ihre  Ansichten  aufs  engste  darin,  daß  sie  die  Rede  des  Sokrates 
und  damit  die  Abfassung  des  ganzen  Gespräches  eher  einem  ausge- 
sprochenen Gegner,  als  einem  Freunde  des  Meisters  zutrauen.  Wir 
können  uns  infolgedessen  darauf  beschränken,  in  der  Einleitung 
die  hauptsächlichsten  diesbezüglichen  Urteile  ganz  kurz  zu  erwähnen 
und  dadurch  den  gegenwärtigen  Stand  der  Kleitophonforschung  zu 
beleuchten.  Der  gelehrte  Leser  wird  sich  so  im  voraus  seine  eigene 
Meinung  über  die  von  der  modernen  Wissenschaft  an  die  Behand- 
lung unserer  Kleitophonfrage  zu  stellenden  Anforderungen  zu  bilden 
vermögen. 

Das    Urteil   Schleiermachers1)   lautet:    „Es   ist   wahr- ^«Problem 

/  im  Lichte  der 

schcinlich,  daß  das  Gespräch  aus  einer  der  besten  Rednerschulen  ( !)  mod^"^/or" 

herstammend   im  allgemeinen  gegen   Sokrates  und   die   Sokratiker, 

den  Plato  nicht  ausgenommen,  gerichtet  ist.    Es  ist  auf  keinen  Fall 

zu  denken,  daß  Plato  den  Sokrates  so  sollte  abführen  lassen."    Einige 

Jahre  später  schrieb  Boeckh2),  der  Kleitophon  sei  ein  Torso  und 

(a.  a.  0.  S.  33)  im  übrigen  mit  dem  unechten  Theages,  Alcibiades, 

Axiochos,   Eryxias,  Sisyphos   auf  eine  Stufe  zu   stellen.    Demgegen- 

x)  Platoübers.  II  3,  Einl. 

2)  In  seinem  Kommentare  zum  Minus  (S.  11).     Er  ließ  sich  durch  die 
Worte  des  Proklos  (in  Tim.  I  S.  7)  in  diesem  Sinne  beeinflussen. 
Archiv  für  (ieschiehte  der  Philosophie.    XXVI.  4.  gQ 


450  Heinrich    Brün  necke, 

über  erklärte  er  später  3) :  ,dialogus,  qui  Cht.  inscribitur,  sive  is  snb- 
diticius  est,  sive,  quod  magis  probamus,  ex  imperfectis  Piatonis  schedis, 
in  quas  auctor  argumentum  dialogi  posthac  elaborandi  coniecerit, 
post  huius  obitum  in  lucem  protractus'.  Trotzdem  entschieden  sieh 
in  der  folgenden  Zeit  die  bedeutendsten  Kenner  des  Altertums,  wie 
Ast4),  Socher5),  Hermann6),  S  u  s  e  m  i  e  h  1 7),  Cunert8), 
aufs  neue  für  die  Uneehtheit  des  Schriftchens.  Ebenso  bald  darauf 
C.  Ritter9)  „aus  Gründen  des  Inhalts",  H  i  r  z  e  1 10),  Hart- 
lieh11)  und  Wendland,  wenn  er  im  Anaxim.  v.  Lamps.  urteilt : 
„Der  Kleitophon  des  pseudoplat.  Dialoges  ist  unfähig,  Wesen  und 
Ziel  der  sokratischen  Methode  zu  begreifen."  Nach  den  Piatos  Autor- 
schaft leugnenden  Stimmen  derart  hervorragender  Gelehrten  erscheint 
es  allerdings  als  berechtigt,  wenn  an  der  Neige  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts W.  Lutoslawsky12)  unseren  Kleitophon  als  ,a  dialogue 
of  dubious  authenticity'  völlig  außer  Betracht  läßt  und  um  fast  die- 
selbe Zeit  sich  Wegehaupt13)  zum  Vorkämpfer  für  Cunerts  Auf- 
fassung des  Problems  aufwirft.  Von  Vertretern  der  gegenteiligen 
Anschauung  nenne  ich  Y  x  e  m  14),  G  r  o  t  e  (Plato  vol.  III.  S.  23), 
Dümmler15)  und  J  o  e  1  (Der  echte  und  der  xenoph.  Sokrates,  1893 
bis  1901);  doch  stellte  dann  jüngst  Ernst  Bickel  (Archiv  für 
Geschichte  der  Philosophie,  1904,  S.  461)  wiederum  den  Kleitophon 


3)  Im  ,Index  lectionum'  der  Universität  Berlin  von  1840  (S.  7). 

4)  Piatons  Leben  und  Schriften,  S.   500. 

£)  Über  Piatons  Leben  und  Schriften,  S.  154 — 159. 

6)  Geschichte  und  System  der  piaton.  Philosophie,  S.   426. 

7)  Übersetzung  von  Piatons  Werken  V,  S.  507  ff. 

8)  Quae  inter  Cht.  dialogum  et  Piatonis  Rem  p.  intercedat  necessitudo, 
Greif swalder  Dissertation  von  1881. 

9)  Piaton.    Untersuchungen,  Stuttgart   1888,   S.    93. 

10)  Hermes  X,  S.   77. 

")  Leipziger  Studien  XI,  S.  231. 

12)  In  seiner  Untersuchung  über  ,The  origin  and  the  growth  of  Piatos 
logic',  S.  75. 

13)  Vgl.  die  Worte  in  seiner  Dissertation :  ,De  Dione  Chrysostomo  Xeno- 
phontis  seetatore  (Göttingen  1896):  ,Sed  quaerat  aliquis,  quemnam  Socraticum 
secutus  Clitophontis  scriptor  contenderet  tarn  acerbe  paene  C}'nicum  in 
modum  S.  Athenienses  ad  virtutem  adhortatum  esse:  hausit  aut  e  Pia  tone 
ipso  aut  e  Socratis  vitae  ratione,  qualis  apud  omnes  nota  erat.' 

14)  Über  Piatos  Cht.,  Berlin  1846  (war  mir  nicht  zugänglich). 
16)  Kleine  Schriften  I,  S.   232. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  451 

mit  dem  Theages  und  ähnlichen  unechten  Dialogen  zusammen.  Der 
neueste  Bearbeiter  unseres  Gegenstandes,  Herr  Prof.  Dr.  Josef  Paulu 
in  Znaim  (1909),  nimmt  endlich  als  mutmaßlichen  Verfasser  gar  ein 
Mitglied  der  späteren  peripatetischen  Schule  an. 


Wir    wenden    uns    nunmehr    der    Betrachtung    des    Dialoges 
selbst  zu. 

Zweierlei  behauptet  der  Verfasser  in  der  Einleitung  durch  den  (i7;ee"strä",,,ls,,es 
Mund  ,Kleitophons'  gegenüber  dem  sich  durch  angeblich  ungerechte 
Beurteilung  seiner  philosophischen  Wirksamkeit  verletzt  fühlenden 
Sokrates:  er  habe  den  Meister  bei  Lysias  1.  in  gewisser  Beziehung 
gelobt,  ihn  aber  zugleich  2.  mit  eben  demselben  Rechte  in  anderer 
Hinsicht  getadelt,     Die  ganze  Auseinandersetzung  gliedert  sich  ^JSS?"« 
infolgedessen  notwendigerweise  in  zwei  Teile,  nämlich  1.  in  den     Gedanken. 
Nachweis,    daß   er   den   Sokrates   als   geeigneten  Erster  Ten  a,  r 

°  °  Rechtfertigung 

Tugendredner  willig  anerkannt  habe,  wenn  er  Kuitophc»,*: 
ihn  zu  seiner  Freude  mit  Eifer  weit  nachdrücklicher  als  die  übrigen 
Sittenlehrer  die  große  Menge  der  Schlaffen  und  Unentschlossenen 
antreiben  und  die  Notwendigkeit  der  sittlichen  Besserung  betonen 
gesehen  habe.  Es  ist  direkter  Beweis;  die  Äußerungen  des  Gegners  Des  Sokrates 
werden  unmittelbar  angeführt:  „Ihr  pflichtvergessenen  Menschen !" "•jjjJJL2gd ZTU 
hören  wir  ihn  schreien,  „eure  Sorge  um  äußeren  Besitz,  um  körper- 
liche und  elementare  Bildung  ist  töricht  ohne  den  Erwerb  der  inneren 
Güter,  d.  h.  der  auf  Wissen  beruhenden  wahren  Seelentugenden, 
denn  ohne  sie  herrscht  Zwietracht  im  Staate  nach  innen  wie  nach 
außen.  Also  bessert  euch,  ehe  es  zu  spät  ist !  Ist  doch  eure  gewöhn- 
liche Einwendung,  nicht  schimpfliche  Unwissenheit,  sondern  eigener 
freier  Wille  sei  der  Grund  aller  Schlechtigkeit,  so  haltlos  wie  töricht, 
denn  freiwillig  wählt  man  statt  der  höchsten  Güter  solche  Übel  nicht, 
freiwillig  unterliegt  man  nicht  den  Trieben  und  Lüsten,  begeht  in- 
folgedessen auch  nicht  freiwillig,  sondern  in  schmählicher  Unwissen- 
heit die  ungerechten  Handlungen.  Also  eins  ist  not:  Wissen  von  der 
Tugend,  von  der  Gerechtigkeit!'' 

„Ihr  Narren",  ruft  er  sodann,  „seht  ihr  denn  nicht,  wie  ihr  durch       zweite 
jene  törichte  Bevorzugung  der  äußeren  Dinge  die  zur  Herrschaft  be-  z«r  Tugend, 
stimmten  edlen  Teile  der  Seele  grausam  unter  das  Sklavenjoch  des 
Körpers  zwängt?" 

30* 


452  Heinrich   Brün  necke, 

Dritter  Schließlich  16)  erklärt  er  wirkungsvoll:  „Wie  jemand,  der  seine 

Körperkräfte,  seine  Handwerkskünste  nicht  zweckdienlich  zu  benutzen 
weiß,  am  besten  überhaupt  keinen  Gebrauch  von  ihnen  macht,  so 
enthaltet  auch  ihr  vor  Ausbildung  jener  Seelenkräfte  euch  am  klügsten 
jeder  unbedachten  Handlung  und  laßt  euch  lieber  in  selbstgewählter 
Knechtschaft  zu  eurem  Heile  von  einem  Tugendhaften  leiten  wie 
von  einem  guten  Steuermanne  in  den  Stürmen  des  privaten  wie  des 
öffentlichen  Lebens." 
Zweiter Ttäder        Nunmehr    kann    Kleitophon    dazu   übergehen,    dem    beleidigten 

liechtferttguni/  r  ° 

Kipdophons.   ^okrates'  einwandfrei  zu  beweisen,    daß  er  ihn  trotz  dieser  lobens- 
werten Tugendreden  leider  mit  vollem  Recht  habe  tadeln  müssen.- 
denn  er  habe  seine,  wie  von  einem  Gotte  auf  der  tragischen  Bühne" 
mit  so  großem  Pathos   vorgetragenen  Gedanken  wieder  und  wieder 
angehört,  ohne  daß  doch  Sokrates  die  so  geflissentlich  in  seinen  Hörern 
erweckte  Erwartung   zu   befriedigen  vermocht   habe.     Endlich  habe 
er  sich  zunächst  an  seine  Schüler  (408  c  —  410  a)  und  darauf  an  den 
Meister  selbst  gewendet  (410  a,  b),  aber  weder  jene  noch  dieser  hätten 
ihm  irgendwelche  tiefere  Einsicht  in  das  Wesen  der  Gerechtigkeit 
vermitteln  können.     Jetzt    sei    er    (d.  h.    der    Kleitophon  Verfasser) 
sich   voll   bewußt    geworden,    daß    der   Pseudophilosoph   ,Sokrates' 
unberechtigterweise  die  Tugend  gepredigt  habe,   denn  er  habe  sie 
niemandem  zu  verleihen  vermocht.     Aus  Ignoranz?     Aus  Bosheit? 
(410  c:   7}  ovx  eldivcu  os  ■>}  ovx  efrsksiv  aiTfjc  hfiol  xoivcdvelv.)17) 
Was  wählst  du?    Die  Rede  ist  jetzt  direkt  an  den  angegriffenen  und 
dadurch  beleidigten  Sokrates  gerichtet:    „Vertausche    deine    schöne 
aber  nutzlose  Tugendpredigt  mit  wahrer  Philosophie,  mit  der  Dialektik ! 
Ohne  diese  werde  ich  dich  als  guten  Propädeutiker  betrachten,   dir 
aber   auch   weiterhin   deine   unrechtmäßig   angemaßte   Maske   eines 
wahren,    die   Glückseligkeit   verleihenden   Philosophen   schonungslos 
vom  Haupte  reißen." 
im  uterar.  Wir  sehen  bereits :  es  handelt  sich  vornehmlich  um  einen  Rechts- 

Diaio5e7.es  Standpunkt.     Wie  beginnt  die  Schrift?     Mit  den  Worten  des 


16)  Daß  an  mehrere,  getrennte  ,l6yoi  ttootostttixoC  zudenken  ist,  zeigt 
p.  408  b,  c.  Daß  diese  Reden  bzw.  Schriften  ein  fortlaufendes  Ganze,  also  ein 
geschlossenes  Werk  bildeten,  lehrt  der  systematische  Fortschritt  der  Gedanken. 
Den  2.  schließt  Kleitophon  mit  ,xai  öttötuv  uv  cptjg  .  .  .',  den  3.  mit  dem 
ähnlichen  Übergange  ,xai  otuv  Uyjig1  an  das  Vorhergehende  an. 

1T)  Vgl.  Xen.  Mem.  IV  2,  27:  firj  ildtög,  ollü  dt£i{>ev6[A,ivog  rrjg 
oeuvrov  övrdfJiiwg. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  453 

Klägers  18),  des  „verleumdeten"  „Sokrates"  in  3.  Person  (sie !) 10): 
,K).fiT(Kfiövra  tov  3Aqlötovv(IOV  ti^  /}///>  ÖL^ysiro  Ivayxog,  ort 
Avola  6iaXey6y,evog  rag  iiir  (teva  HoxQarovg  öiatQtßag  ipeyoi, 
Tf)r  ßQaövfi(idxov  6h  tivvovoiav  vxsqexccivoZ1,  also  gerade 
so  förmlich  wie  sich  das  bei  einer  wirklichen  gerichtlichen  Anklage 
und  Verteidigung  erwarten  lassen  würde  und  gerade  so  meisterhaft 
kurz  und  vielsagend,  wie  wir  sonst  bei  literarisch  fingierten  Gerichts- 
verhandlungen über  den  Sachverhalt  durch  eine  kurze  Hypothesis  in- 
formiert zu  werden  wünschen:  gewiß  schon  ein  rein  äußerlicher  Beweis 
für  diese  aus  inneren  Gründen,  wie  wir  oben  sahen,  zu  fordernde  Auf- 
fassung des  Kleitophonproblems.  Wie  schließt  die  Schrift? 
M  i  t  den  W  orten  des  der  hinterlistigen  Verleumdung  ver- 
dächtigten Kleitophons,  also  des  Angeklagt en:  wiederum  wie 
in  der  Gerichtspraxis.  Wir  sehen:  schon  aus  diesem  äußeren 
Grunde  des  Motivs  durfte  die  von  den  bisherigen  Forschern  so 
schmerzlich  vermißte  Schlußrede  des  Sokrates  nicht  erfolgen, 
denn  es  handelt  sich  eigentlich  um  die  Ehre  Kleitophons!  Ist  der 
Verfasser  dieser  Rechtfertigung  wirklich  ein  Verleumder,  der  den 
Meister  (also  vom  platonischen  Standpunkt  aus  , Konkurrenten') 
durch  einseitige,  übertriebene  Ausmalung  seiner  Fehler  in  den  Augen 
des  Publikums  herabzusetzen,  in  seiner  sozialen  Stellung  zu  schädigen 
sucht? 

Also  zunächst  eine  kurze  Bemerkung  über  das  Rechtsverhält- 
nis. Zwei  Fälle  sind  möglich:  1.  eine  wissentliche,  den  Tatsachen 
nicht  entsprechende  Herabwürdigung  des  Sokrates,  2.  eine  unbeab- 
sichtigte Verleumdung,  sofern  etwa  Kleitophon  ohne  sorgfältige,  ge- 
wissenhafte Prüfung  des  Tatbestandes,  also  durch  ein  weniger  schweres 
Verschulden  dem  Sokrates  etwas  Ehrenrühriges  nachsagte.  Ehren 
rührig  ist  aber  hier  für  den  Moralphilosophen  der  Vorwurf  der  Un- 
fähigkeit oder  Weigerung,  das  Versprechen  zu  erfüllen  und  das  Wesen 
der  Tugend  klarzulegen.  In  beiden  Fällen  würde  den  Kleitophon 
die  gerechte  Verachtung  jedes  anständigen  Beurteilers  treffen  müssen. 
Es  muß  also  von  dem  zur  Rede  gestellten  Verfasser  der  Rechtfertigungs- 


18)  Wie  in  der  att.  Gerichtspraxis ! 

19)  Bereits  Schleiermacher  in  seiner  Einleitung  zur  Übersetzung  u.  a. 
bemerkten  das  mit  Staunen  und  schlössen  aus  ihrer  richtigen  Überzeugung:. 
daß  ein  wirklicher  Dialog  nicht  gut  so  beginnen  könne,  dieser  , Dialog'  sei 
unecht. 


454  Heinrich   Brünnecke, 

schrift  der  Beweis  erbracht  werden,  daß  er  mit  Recht  nach  ge- 
wissenhafter Prüfung  des  Tatbestandes  den 
Sokrates  hinter  dessen  Rücken  tadeln  durfte.  Dieses  geschieht  eben 
durch  den  Nachweis,  daß  er  erst  lobte,  dann  aber  doch  nicht 
befriedigt  war  und  endlich  die  für  ,Sokrates'  höchst  blamable  Tat- 
sache konstatierte,  daß  auch  die  Genossen  des  Meisters  fortgesetzte 
Paränesen  nicht  recht  verstanden  hatten.  Uns  will  dies  vom  Ver- 
fasser so  geflissentlich  in  den  Vordergrund  gestellte  Argument  ge- 
ringfügig erscheinen.  Wie  schwer  es  aber  gerade  bei  dem  großen 
antiken  Denker,  dem  unsere  Schrift  durch  die  Überlieferung  bei- 
gelegt wird,  bei  Plato  wiegt,  wird  jeder  Platokenner  wissen.  So  gilt 
ihm  bzw.  seinem  Sokr.  z.  B.  im  Protag.  als  stärkster  Beweis 
dafür,  daß  jemand  trotz  erfolgreicher  staatsmännischer  Wirk- 
samkeit kein  wahres  Wissen  besitzt,  der  Umstand,  daß  er 
selbst  seinen  Söhnen  dieses  Wissen  nicht  mitzuteilen  ver- 
steht. Im  Kleitophon  erscheint  nun  dieser  Zustand  umso  be- 
jammernswerter, als  es  hier  gerade  die  Gefährten  des  , Sokrates'  selbst 
sind,  die  den  Grad  ihrer  Unwissenheit  gar  nicht  gewahr  wurden20) 
und  erst  durch  den  sich  bald  in  Gegensatz  zu  , Sokrates'  stellenden 
Kleitophon  über  den  wahren  Wert  des  bei  diesem  Tugendschwärmer 
erlangten  Wissens  besser  unterrichtet  werden.  Endlich  wird,  wie 
wir  oben  sahen,  , Sokrates'  selbst  von  dem  stets  in  die  Tiefe  dringenden 
Geiste  ,Kleitophons'  in  die  Enge  getrieben  und  weiß  nicht  aus  noch 
ein  (410  a/b).  Es  erscheinen  am  Schlüsse  der  Rede  des  Kleitophon 
vollends  noch  die  Worte  xai  öov  ösofisvog  usw.,  gerade  als  ob  wir 
uns  in  einer  Gerichtssitzung  in  Athen  befänden.  Richter  ist  hier 
nicht  sosehr  Sokrates  wie  die  Öffentlichkeit,  nämlich  das  damals 
philosophisch  und  literarisch  interessierte  Publikum  So  schließt 
diese  Rechtfertigungsschrift  mit  der  äußerlich  milden,  aber  sachlich 
nicht  wenig  energischen  Aufforderung:  erfülle  bitte  deine  Pflicht 
als  wahrer  Philosoph,  oder  ich  ziehe  den  Redner  und  Sophisten  Thra- 
symmachus  und  jeden  andern,  der  mir  ehrlich  helfen  will,  deiner 
hohlen  Protreptik  vor  21)' 


20)  Die  schimpflichste  Lage  fürwahr!  Jetzt  gewinnt  auch  der  Vorwurf 
des  ,lfjnrööiov  sCrou'  in  den  Schlußworten  Kleitophons  die  rechte  Bedeutung. 

21)  Daß  er  seine  Drohung  ausgeführt  und  beim  Gegner  Thrasymmachos 
durch  seinen  Bericht  über  des  alten  Narren  , Sokrates'  unverstandene  und 
widerspruchsvolle  Protreptik  (vS-Xoig)   Empörung  und  Abscheu  erregt  hat, 


Klei  tophon  wider  Sokrates.  455 

Gerade  diese  Umkehrung  des  ursprünglichen  Anklage  Verhält- 
nisses erscheint  als  die  geniale  Tat  des  sich  vom  Verdachte  der  bös- 
willigen Verleumdung  reinigenden  Verfassers.  Dieser  war  im  An- 
fange, der  große  Philosoph  , Sokrates'  ist  am  Schlüsse  der  Ange- 
klagte, der  gewissenlos  die  leichtgläubigen  Hörer  durch  seine  großen 
Aufschneidereien  ködert,  sie  durch  die  vielen  Prunkreden  an  der 
Käse  herumführt  und  sie  schließlich  ohne  die  ersehnte  evöaifiovla 
entläßt.  Geschädigt  sind  sie  insofern,  als  sie  sich  inzwischen-  anderswo 
eventuell  besser  hätten  ausbilden  lassen  können.  Jetzt  ist  es  dazu 
möglicherweise  schon  zu  spät  geworden.  Auf  diese  geniale  Weise 
wird  aus  der  unverhüllten  Invektive  eine  die  Sympathie  des  Lesers 
in  höherem  Maße  erregende  Rechtfertigung  zur  Wahrung  der  eigenen 
Ehre  des  wahren  Philosophen  Kleitophon,  aus  der  Rechtfertigungs- 
schrift aber  gleichsam  ohne  seine  Absicht  eine  schwere 
Anklage  des  Pseudophilosophen. 

Wir  bemerkten  oben  bereits  steten  Gedankenfortschritt,  wir 
bemerken  aber  auch  äußerlich  bis  ins  einzelne  solch  stete  Gliederung, 
wie  sie  so  in  allen  Teilen  durchgeführt  schwerlich  im  Dialoge,  d.  h. 
in  der  literarischen  Kachbildung  eines  wirklichen  Gespräches  er- 
scheinen dürfte.  Ich  bitte  die  mit  ,ravral  nach  Art  der  Gerichts- 
rede beginnenden  Hauptabschnitte  407  e,  408  b  410  a  zu  beachten  22) 
und  dazu  die  Bemerkungen  des  Herrn  Professor  Schwartz  im  Rostocker 
Index  von  1892  über  des  Gorgias  Palamedes  zu  vergleichen,  des 
weiteren  aber  auch  die  vielen  kleinen  genau  abgemessenen  Sätzchen 
(z.  B.  409  b,  c).    Selbst  die  Worte  entsprechen  sich  teilweise  23). 

Wir  sehen  ferner,  es  ist  durchaus  ungerechtfertigt,  den  Verfasser 
wegen    des    , unmotivierten'    Erwärmens    der    fol  xagovreq1    (410  a) 


zeigt  deutlich  Platons  erstes  Buch  der  Republik  (bes.  p.  336  b- — d),  wo  direkt 
auf  den  Kleitophon  Bezug  genommen  und  der  vom  erbitterten  Kleitophon 
gegen  Sokrates  aufgehetzte  Rhetor  von  den  Anwesenden  nur  mit  Mühe  zurück- 
gehalten wird.     Darüber  unten. 

—)  Dieselbe  Wirkung  durch  dasselbe  Mittel  wird  in  dem  (nach  den 
überzeugenden  Ausführungen  meines  akademischen  Lehrers,  Herrn  Prof. 
Dr.  M.  Pohlenz,  bereits  nach  dem  Antalkidasfrieden  von  Plato  verfaßten) 
rhetorisch-satirischen  Epitaphios  ,Menexenos'  erzielt.  Vgl.  z.  B.  das  zwei- 
malige tuvtu  S.  248  d  mit  dem  zweimaligen  im  Kleitophon  S.  410  a,  b  (eben- 
falls kurz  vor  dem  Schlüsse.  Auch  im  Menexenos  fehlt  nicht  das  dto/tut  a.  a.  0. 
lit.  e. 


23 


)  S.  darüber  unten  den  2.  Teil  unserer  Untersuchung 


456  Heinrich    Brunn  ecke, 

zu  tadeln.    Zeugen  durfte  jeder  Redner  vor  Gericht  anführen,  ja   e  r 
mußte   es,   und  für  die  Wahrheit  der  Behauptungen  Kleitophons 
bürgen  eben  auch  die  Aussagen  der  übrigen  Ohrenzeugen  mit,  welche 
hier   durchaus  als  faßbare  Personen  vorgestellt  werden,   die  jeden 
Augenblick  gerufen  werden  können,  falls  etwa  der  abgeführte  bzw. 
überführte  ,Sokrates'  die  Richtigkeit   der   gegen  ihn  im  Laufe  der 
Rede  erhobenen  Beschuldigungen  in  Abrede  stellen  sollte.    Mit  Fug 
und  Recht  wendet  sich  daher  (410  b)  die  Rede  auf  die  Person  des  Sokrates 
selbst  zurück,  mit  Recht  wird  ihm  jetzt  direkt  und  persönlich  die- 
jenige Behauptung  als  bewiesen  entgegengeschleudert,  die  sich  wie 
ein  roter  Faden  durch  die  ganze  Darlegung  Kleitophons  zog:  ver- 
dientermaßen habe  ich   dir  unter  abfälligen  Äußerungen  den  Rücken 
gekehrt,  denn  wenn  du  mir  aus  dem  Stegreif  über  deine  schönen 
Vorträge  ein  Gespräch  dialektischer  Art  führen  sollst,  widersprichst 
du  dir  selber  und  schweigst.   Besudele  also  durch  solch  hohle  Rhetorik 
nicht  den  Namen  des  Philosophen !    Damit  ist  dem  Afterphilosophen 
der  Mund  gestopft.   Er  durfte,  er  konnte  nicht  wider- 
sprechen,   ohne    zu    begründen.     Seiner  Eigenart  ent- 
sprechend in   einer   der  von  Kleitophon   so   schön   gebrandmarkten 
Volksreden?  'Etwas  anderes  verstand  ja  der  hier  gezeichnete  ,  Sokrates  - 
nicht!  Die  Nichtigkeit  dieser  Kunst  ist  jedoch  sattsam  erwiesen; 
eine  Verteidigung  in  dieser  Weise  wird  man  schwerlich  akzeptieren, 
denn  Kleitophon  hat  ja  klugerweise  von  vornherein  zugegeben,  daß 
.Sokrates'  die  Überzeugungskunst  der  schönen  Worte  ausgezeichnet 
handhabe.    Die  durch  Kleitophon  aufgeklärten  Hörer  (bzw.  Leser!) 
werden     lärmen.      ,, Schluß"!     , Dialektik'!     „Wahre    Philosophie1! 
wird  man  ihm  entgegenrufen.  Die  zu  geben  ist  er  u n f  a h i  g. 
Er  muß,  wie  ölten  gezeigt,  schweigen,  denn  eine  proteptische  und 
damit    philosophisch    höchst    unfruchtbare    Verteidigungsrede    wird 
notwendig   zur  neuen   Anklage,   beweist   somit  die   Richtigkeit   der 
bereits  gegen  ihn  erhobenen  Vorwürfe   eklatant  aufs  neue.     Der  un- 
echte Phrasensokrates    ist  durch  diese  geniale  Zuspitzung  der  Kon- 
troverse bereits  völlig  zerschmettert:  es  ist  also  eine  völlige 
Verkennu  n  g     der     g  e  s  a  m  t  e  n     S  a  c  h  1  a  g  e  ,     wenn    die 
Forscher  24)  nach  diesen  objektiv  begründeten  Ausführungen  ,Kleito- 

-4)  Wie  Tennemann  (System  der  platonischen  Philosophie  I,  112),  Grote 
(Plato  and  the  other  companions  of  Socr.  (London  1865)  III,  S.  13  ff.), 
Th.  Gomperz  (Sitzungsbericht  der  Akademie,  philol. -historische  Klasse  (Wien 
1887),  S.  763)  u.  a. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  457 

phons'  noch  lange  Disputationen  mit  dem  Gegner  vermissen:  cum 
tacet,  clamat!  Der  Kleitophon  ist  also  ein  anonymes,  ganz 
besonders  fein  durchdachtes  Flugblatt  zur  wirkungsvollen  Be- 
kämpfung" eines  absichtlich  nicht  offen  genannten  Gegners 
und  als  solches  kein  Torso!  Wer  dieser  Gegner,  wer  der  geist- 
volle Invektivenverf asser  ist,  werden  wir  im  folgenden  zu  untersuchen 
haben. 

Die   befriedigende   Lösung   unseres  Problems  hängt  wesentlich  c>  Der  K,,ei^- 

o  O  o  jilion    unil     die 

von  der  richtigen  Beantwortung  der  Frage  ab:  Für  welchen  sokratik. 
der  uns  bekannten  Sokratiker  ist  die  im  Klei- 
tophon so  schön  gezeichnete  Rolle  eines  Buß- 
predigers charakteristisch  gewesen?  Wir  ent- 
sinnen uns  nun,  daß  die  in  ganz  ähnlicher  Weise  vorgetragene  ober- 
flächliche Popularethik  der  kyn.-stoischen  Diatribe  sich  mit  genügender 
Sicherheit  bis  auf  den  Sokratiker  Antisthenes  verfolgen  läßt.  Wir 
erinnern  uns  ferner  daran,  daß  zweifellos  kein  anderer  als  eben  dieser 
freche  Sathonschreiber  25)  auch  von  dem  ganz  besonders  im  Anfange 
seiner  Schriftstellerei  auf  den  Namen  eines  Philosophen  Anspruch 
erhebenden  Isokrates  in  der  Sophistenrede  (§§  1 — 8) 26)  ebenso  als 
gemeiner  Lügner  angeklagt  wird,  wie  wir  das  oben  seitens  des  Kleito- 
phonverfassers  in  unserer  unter  Piatons  Namen  gehenden  Kontroverse 
geschehen  sahen,  in  welcher  der  angegriffene  Tugendredner  ,Sokrates' 
aufs  Haar  den  Verkündern  jener  späteren,  weitläufigen  Auseinander- 
setzungen über  die  Tugend  glich,  welche  sich,  wie  wir  ebenfalls  bereits 
bemerkten,  auf  Antisthenes  zurückführen  lassen.  Bei  Isokrates 
spiegelt  dieser  Gegner  vor,  er  vermöge  die  Schüler 
in  Kürze  zur  Glückseligkeit  (evdaipovia)  zu  führen: 
ganz  dasselbe  wurde  unter  Verwendung  des- 
selben Wortes  auch  im  Kleitophon  als  t  t  log 
vorgespiegelt.  Zum  Halten  seines  Versprechens  ist  er  nach 
der  Versicherung  beider  Zeitgenossen  unfähig. 

Als  Isokrates  seine  Sophistenrede  schrieb,  hatte  Plato  wohl 
eben  erst  begonnen,  sich  zu  seiner  wirklich  tiefen,  ja  einzigartigen 
Lebensanschauung  durchzuringen.  Seine  Erstlingsschriften  erscheinen 
vielfach  ohne  greifbares  Resultat.    Mit  denen  des  Aeschines  und  der 


2i)  Der  unbedenklich   seinem   toten  Meister  Sokrates  die   eigenen   ( be- 
danken in  den  Mund  legte. 

-6)  Vgl.  auch   Antid.    §  84   (261). 


458  Heinrich    Brünnecke, 

übrigen  Sokratiker  dürfte  es  auch  nicht  besser  bestellt  gewesen  sein. 
Es  mußten  also  die  erwähnten,  sicher  nicht  zuerst  von  Isokrates  er- 
hobenen Vorwürfe  auch  die  übrigen  Sokratiker  und  besonders  die 
durch  die  Schriftstellern  dieser  Schüler  immer  berühmter  werdende 
Person  des  Sokrates  selbst  treffen.  Als  Sokratiker  mußte  sich  auch 
Xenophon  getroffen  fühlen  und  in  diesem  Sinne  fasse  ich  die  viel 
spätere  Stelle  in  den  Mein.  I,  4.  Und  Plato?  Schwieg  dieser  geist- 
vollste aller  jener  den  toten  Meister  in  Wort  und  Schrift  verteidigenden 
Jünger  beschämt  und  entmutigt?  Wir  vermissen  also  unter 
den  zweifellos  echten  platonischen  Schriften 
eigentlich  ein  Gespräch,  in  dem  sein  Sokrates 
jenen  Vorwurf,  er  sei  ein  bloßer  protreptischer 
Tugendschwätzer,  als  unberechtigt  mit  Ent- 
rüstung zurückweist  und  auf  genialere  Art 
als  Xenophon  die  meisterhafte  Handhabung 
der  Dialektik  als  des  spezifisch  sokratischen 
Erkenntnismittels  durch  die  Tat  beweist.  Wir 
erwarten  in  einem  solchen  Dialoge  entsprechend  der  Eigenart  des 
platonischen  Sokrates  eine  besonders  feine,  aber  auch  scharfe 
ironische  Zurechtweisung  desjenigen  Mannes,  der  absichtlich  oder  un- 
absichtlich, direkt  oder  indirekt  jene  einseitige  Auffassung  der  sokrati- 
schen Philosophie  und  damit  die  schweren  Vorwürfe  hervorgerufen  hatte. 
Nun  sahen  wir  bereits  oben,  daß  die  im  angeblich  platonischen 
Kleitophon  gebrandmarkte  oberflächliche  Protreptik  für  die  aus- 
gedehnte ,sokra tische'  Schriftstellerei  des  Antisthenes  charakteristisch 
war.  Die  diesbezüglichen  Vorwürfe  mußten  also  durch  das  Unge- 
schick des  Antisthenes  neue  Nahrung  erhalten,  da  seine  Sokratik 
ja  wegen  der  Popularität  gerade  dieses  Sokratikers  wenigstens  in 
den  Augen  der  ebenso  oberflächlichen  Masse  mehr  und  mehr  als 
Charakteristikum  somatischer  Weisheit  überhaupt  erschien.  Wider- 
legte daher  Plato,  so  mußte  er  1.  die  unwissenschaftliche,  also  un- 
sokratische  Wirksamkeit  dieses  Mannes  schlagend  dartun:  wie  dies 
geradezu  unübertrefflich  im  angezweifelten  Kleitophon  geschieht  und 
2.  zeigen,  daß  sein  wahrer  Sokrates  besseres  verstand.  Wo  erfolgt  das 
aber?  Wenn  überhaupt,  dann  zweifellos  in  einer  längeren  Debatte,  die 
im  direkten  Gegensatze  zur  Methode  des  Antisthenes  nicht  in 
einem  Tone  heruntergeschmettert  werden  konnte,  sondern  als  dialek- 
tisches Meisterstück  allen  Einsichtigen  offenbarte,   ,a  Xtyojy  ovrtj- 


Kleitophon  wider  Sokrates.  459 

fiaQsvs  toK  övvöiaTQlßovot' ,  wie  Xenophon  a.  a.  0.  (I,  4, 1)  es  ver- 
langt. Das  geschieht  von  Plato  nur  einmal:  im  Staat 27).  Bei  dieser 
Gelegenheit  können  wir  so  recht  beobachten,  wie  ein  Genie  und  wie  ein 
philosophischer  Schwachkopf  verteidigt.  Der  gute  Xenophon  glaubt 
für  seinen  toten  Freund  und  Meister  die  schönste  Lanze  zu  brechen, 
wenn  er  recht  eindringlich  erklärt:  „Es  haben  da  einige  meinem 
Sokrates  den  Besitz  der  Fähigkeit  abgesprochen,  die  Menschen  durch 
Verleihung  der  Tugenderkenntnis  zu  bessern.  Na,  das  ist  natürlich 
nicht  wahr!"  Anders  das  Genie.  Das  sucht  (hier  in  der  Rolle 
eines  wahrheitssuchenden  Schülers)  zunächst  den  für  die  Dis- 
qualifizierimg der  sokratischen  Philosophie  (s.  o.)  Hauptschuldigen 
heraus  und  kondensiert  dann  die  Anklagepunkte  unter  Zugrundelegung 
einer  bekannten,  für  des  Gegners  Methode  bezeichnenden  Haupt- 
schrift, wie  sie  der  dreibändige  28)  (sie ! !)  Protrepticus  des  Antisthenes 
war.  Es  formuliert  also  trotz  schonender  Einkleidung  die  betreffenden 
Gedanken  recht  scharf,  aber  gerecht  und  versieht  diese  zusammen- 
fassende Darstellung  derselben  zugleich  mit  solch  individuellen  Zügen 
dieses  Schuldigen,  daß  auch  der  fernerstehende  Beobachter  klar  er- 
kennt: die  Verurteilung  der  sokratischen  Methode  war  doch  in  jener 
allgemeinen  Weise  ungerecht,  denn  der  einzige  Schuldige  ist  doch 
eigentlich  nur  jener  Sokratiker,  welcher  in  der  »vorzüglichen'  Prunk- 
rede fast  als  der  leibhaftige  Epideiktiker  Gorgias  im  Sokrateskostüm 
erscheint 29).   Dieser  wurde  aber  als  ein  die  Person  des  Sokrates  ledig- 


27 )  Die  späten,  lange  nach  des  A.  Tode  verfaßten  »Gesetze'  bleiben  hier 
außer   Betracht. 

*8)  Vgl.  den  Katalog  bei  D.  L.  VI,  16:  Auch  unsere  Analyse 
des  Protrepticus  im  Kleitophon  führte  auf  eine 
dreifache  Gliederung.    Es  war  ausdrücklich  die  Rede  von  mehreren 

Xuyoi   7TO0TQ. 

-9)  Vgl.  den  zweiten  Teil  unserer  Untersuchung!  Interessant  ist  auch 
die  von  Plato  schon  im  Gorgias  464  abgelehnte  Identifizierung  der  Recht- 
sprechung mit  der  Gerechtigkeit  (Kleitophon,  S.  408  b),  denn  sie  erinnert 
uns  an  die  sophistisch-rhetorische  Anschauung,  daß  das  von  der  Staatsgewalt 
(=  dem  Stärkeren)  als  ,, gerecht"  durch  Richterspruch  Anerkannte  nun  auch 
gleichfalls  das  Gerechte  wirklich  sei.  So  was  kann  also  nur  ein  auf  dem  Boden 
der  Sophistik  stehender  Sokratiker  behaupten.  Durch  derartige  Erwägungen 
erledigt  sich  der  Einwand  des  Herrn  Professor  Pavlu  (a.  a.  O.  S.  7):  ,Jst  es 
nun  denkbar,  daß  Plato  das  beide  Männer  Trennende  in  der  Form  zum  Aus- 
druck gebracht  hätte,  daß  er  in  dem  zweiten,  tadelnden  Teile  seine  eigene 
Lehre  (?)  in  einer  solchen  Weise  sollte  angegriffen  haben?    Dieser  Teil  mußte 


460  Heinrich    Brunn  ecke, 

lieh  darstellender  Schauspieler,  der  die  Rolle  des  wahren  Philosophen 
als  unfähiger  Dialektiker  überhaupt  nicht  zur  Geltung  zu  bringen 
vermag,  dem  echten  platonischen  Sokrates  geradezu  entgegengesetzt: 
ein  bissiger  Hieb,  der  den  groben  Sathonschreiber  und  arroganten 
Sokrateskopierer  gewiß  in  seiner  ganzen  Schärfe  getroffen  hat.  Es  tritt 
dem  Leser  durch  die  meisterhafte  Darstellung  des  Verfassers  unmittel- 
bar der  fundamentale  Unterschied  zwischen  jener  wahren 
sokratischen  Dialektik  und  der  hohlen  Rhetorik  entgegen,  mit  welcher 
der  gedankenarme  ,Sokrates'  in  Ermangelung  tieferer  Erkenntnis 
(vgl.  den  Sophistes)  des  Volkes  Augen  und  Ohren  äußerlich  zu  be- 
zaubern versuchte  30).  Und  doch  beanspruchte  er  offenbar  das  Ver- 
dienst, die  höchste  Weisheit  des  Sokrates  mit  der  höchsten  Kunst 
des  protreptischen  Prunkredners  vereinigt  zu  haben.  Erstere  ist, 
wie  ,Kleitophon'  treffend  gezeigt  hat,  nicht  weit  her.  ?Eav  öh  ///} 
ixavcäg  fpiXoooff?'jö)j,  ovös  txavog  jrore  Xeysiv  sörai  jcsqI  ovösvoq 
hatte  ebenfalls  der  platonische  Sokrates  bereits  (im  Phaedrus,  S.  261/2) 
erwiesen.  Weiß  also  der  , Sokrates'  im  Kleitophon  nicht  einmal  selber, 
was  eigentlich  Gerechtigkeit  ist,  so  ist  auch  seine  Rede  darüber  nichtiges 
Geschwätz  eines  eitlen  Dilettanten,  der  sich  zu  seinem  Unglück  als 
Erlöser  der  sittlich  verkommenen  Menschheit  fühlt  31).  Denn 
zwischen  Philosophen  und  Rhetoren  gleich- 
sam in  der  Mitte  stehend  muß  er  (nach  den  geist- 
vollen Ausführungen  Piatons  im  Euthyd.  S.  306)  wie  Isokrates  not- 
wendig schlechter  als  beide  sein.  Vgl.  auch  im  Staate 
S.   489  c,  d.      Der    , Kleitophon'    im    ,pseudo 'platonischen    Dialoge 


(nach  Ansicht  des  Herrn  Professors  natürlich !)  dann  doch  entweder 
eine  Verteidigung  der  eigenen  Lehre  Piatons  (als 
ob  die  nicht  schon  genügend  durch  die  ganze  bisherige  piaton.  Schriftstellerei 
verteidigt  wäre !!)  oder  eine  Zurückweisung  des  gegneri- 
schen Standpunktes  enthalten.''  Dann  hätte  sich  ja  ein  Mann 
wie  Plato  dazu  herablassen  müssen,  sich  mit  so  einem  Gegner  in  regelrechten 
Schulstreitschriften  herumzuzanken.  In  welch  feiner  und  doch  beißender  Satire 
tatsächlich  das  Genie  sich  verteidigt,  zeigt  uns  eben  unser  Kleitophon. 

30)  Wieder  nach  der  Anweisung  des  Gorgias.  Vgl.  Plato,  Gorgias, 
S.  452  e— 453  a. 

31)  Wozu  ihm  aber  die  (pvGig  fehlt.  Daher  läßt  bei  seinen  ijrids^sig  über 
moralphilosophische  Themata  seine  evQSGic  (inventio)  so  sehr  zu  wünschen 
übrig,  daß  stets  dieselben  sokratischen  Gedanken  nur  schematisch  in  anderer 
Form  wiederholt  und  durch  neue  Beispiele  erläutert  und  bekräftigt  zu  werden 
pflegen. 


Kleitophon  wider  .Sokrates.  461 

schließt  also  ganz  im  platonischen  Geiste  mit  logischer  Konsequenz, 
daß  es  für  ihn  als  Jünger  der  Philosophie  immer  noch  besser  ist,  sich 
statt  zu  solch  einem  zwitterhaften  Stümper  zu  einem  leibhaftigen 
Sophisten32)  zu  begeben:  zu  Thrasymmachos,  dessen  unsittliche 
Grundsätze  sogar  der  Feind  dieses  ,Sokrates\  Isokrates  als  Gipfel 
der  avoia  bekämpfte  (z.  B.  in  7jcsqi  sIqiJvtjq'  §  31  ff.).  Welch 
Schlag  für  den  Widersacher  im  Sokratesgewande,  sich  so  als  alatjcov 
und  ärgerer  Schelm  als  Thrasymmachos  hingestellt  zu  sehen 33) ! 
Welch  beschämende  Wendung  der  Kontroverse  durch  die  meister- 
hafte, verdeckte  Invektive  ,Kleitophons'.  Platonischen  Geistes 
Hauch  spüren  wir  hier  zweifellos  in  seiner  ganzen  Größe,  wenn  anders 
jene  Euthydemosstelle  34)  dem  Schreibstifte  dieses  Meisters  entsprang. 


32)  Denen  sein  protrept ischer  Lehrer  ja  früher  schon  Schüler  zuführte 
(Xen.  Symp.  4,  62). 

33)  Insofern  mit  Recht,  als  Thrasymmachos  die  Torheiten  dieses  Sokrates 
sofort,  dieser  seine  eigenen  Eselsohren  aber  nicht  mal  spät  erkennt.  Also 
das  plus  an  Torheit  ist  auf  Seiten  des  A.  Vermutlich  schlägt  auch  hier  Plato 
seinen  Gegner  mit  eigenen  Waffen,  indem  er  alles  das  Schlechte,  was  dieser 
im  (pvCioyriofxixdg  ttsqI  twv  GocpiGnor  den  bösen  Sophisten  vorgeworfen 
hatte,  nun  Kleitophon  auf  denA.  zurückschleudern  läßt.  (Über  den  Physiogn. 
d.  Antisth.  vgl.  Henrichowsky:  „Ein  kurzer  Beitrag  zur  Literatur  der  Physiogn. 
veteres"  im  Programm  des  Gießener  Gymnasiums  von  1870).  Alles  das  muß 
man  sich  vergegenwärtigen,  um  den  Eindruck  voll  zu  verstehen,  den  der 
Kleitophon  auf  die  gebildeten  Zeitgenossen  machte;  durch  den  Kleitophon 
und  die  den  rechten  Hintergrund  dazu  bildende  imponierende  Schriftstellerei 
Piatons  erscheint  mit  einem  Male  der  hochgeachtete  Schauspielersokrates  als 
der  Sophisten  ärgster! 

34)  Hier  hatte  er  bereits  (S.  278  d/e)  erklärt,  daß  nicht  Protreptik,  sondern 
ernsthafte  Dialektik  als  Grundlage  aller  Wissenschaft,  das  Wesen  seiner  Philo- 
sophie ausmache.  In  dem  dann  folgenden  ,sokrat.'  Protrepticus  (bis  S.  283 
und  306  e,  307)  kommen  alle  wesentlichen  Gedanken  des  sophistischen  Sokrates 
vor:  ,Die  Menge  hält  töricht  äußere  Güter  für  das  köstlichste  Besitztum, 
der  Weise  die  Tugend.  Sie  ermöglicht  erst  den  richtigen  Gebrauch  jener. 
Ohne  diesen  ist  für  den  Toren  das  dovlevitv  am  besten'  usw.  Doch  an  Stelle 
der  fortlaufenden  Rede  des  falschen  Sokrates  tritt  die  Dialektik  des  wahren 
platonischen  Dialoges.  Übrigens  hatten  die  beiden  eristischen  Klopffechter 
gleichen  Bildungsgang  wie  Antisthenes,  nämlich  von  der  Rhetorik  zur  Philoso- 
phie. Bei  ihnen  ist  daher  derselbe  Mangel,  dieselbe  Halbheit  zu  beklagen. 
Bei  allem  diesen  mit  Recht  als  Unfug  zu  bezeichnenden  Treiben  fiel  Plato  als 
dem  Verteidiger  der  Ehre  des  wahren  Sokrates  gleicherweise  die  Pflicht  zu, 
den  Mitbürgern  schlagend  darzutun,  daß  der  Pfad  zur  wahren  Glückseligkeit 
nicht  durch  den  Kreis  solcher  Narren  führe. 


462  Heinrich   Brün  necke, 

Wer  hätte  damals  außer  Piaton  wohl  so  etwas  vermocht?  Dieser 
hat  so  mit  dem  unflätigen  Gegner  völlig  abgerechnet,  wie  er  es  in 
ähnlicher  Weise  (wenn  auch  minder  scharf)  mit  seinem  ehemaligen 
Freunde  Isokrates  gemacht  hatte.  Wie  gegenüber  diesem,  so  hatte 
er  auch  gegenüber  dem  ,Sokrates'  des  Kleitophon  lange  Jahre  mit 
seiner  Polemik  geduldig  gewartet  (S.  410  c),  aber  als  er  ,3roXvv  vjrotiei- 
rag  /QÖvov'  in  allen  Reden  (bzw.  Schriften)  immer  wieder  denselben 
Schwulst  hören  mußte,  wie  sich  sogar  die  übrigen  Schüler  unwissend 
zeigten  und  eigene  Versuche  fehlschlugen  (vgl.  die  Art,  wie  Plato 
im  Euthydemos  aus  dieser  Protreptik  den  Weg  zur  wahren  Philo- 
sophie zu  bahnen  versucht),  wie  schließlich  die  Gefahr  naherückte, 
unter  der  Leitung  dieses  sich  selbst  widersprechenden,  also  offenbar 
so  unwissenden  wie  kecken  Protreptikers  geistig  zu  verkümmern,  da 
war  jeder  Ausweg  recht,  wenn  er  nur  weit  wegführte  von  diesem  groß- 
sprecherischen Phrasenhelden.  Wir  dürfen  also  die  Ab- 
fassungszeit des  Kleitophon  schon  aus  diesen 
inneren  Gründen  nicht  in  eine  frühe  Zeit  hin- 
aufrücken,  in  der  von  diesem  Sokratiker  noch 
etwas  zu  erhoffen  war!  Den  noch  in  der  Entwicklung- 
begriffenen  und  ehrlich  auf  der  Suche  nach  Wahrheit  sich  abmühenden 
Forscher  stößt  ein  Mann  wie  ,  Kleitophon'  nicht  so  hart  vor  den  Kopf 
und  blamiert  ihn  öffentlich  wie  hier  im  ,Dialoge'  35).  (Vgl.  Kratylos, 
S.  440  d:  ,6xojteTa{hcu  ovv  ygr/  ävÖQtkog  te  xal  sv,  xal  //>}  (tadirog 
ä.irodt%€6&ai  <wie  die  Schüler  des  Gegners!)»,  tri  yag  rtog  ti  xal 
i)hxiar  tyug1,  <wie  Isokrates  am  Schlüsse  des  Phaedrus>,  wo- 
gegen dieser  Gegner  im  Sophist,  S.  251  b  als  ,y£Q<ov  (hpifiad-rjc'  ge- 
schildert wird  36),  von  dem  nichts  mehr  zu  erhoffen  ist !)  Kleitophon 
kommt  also  nun  zum  direkten  Gegner  der  somatischen  Philosophie, 
zum  Redner  und  Sophisten  Thrasymmachos.  Da  er  jedoch  auch  bei 
diesem  nicht  ,T£Xsicog  rt»  jigay^ari  tJtt^sld-eTr  övrarai',  wie  das 
am  Ende  des  Kleitophon  aufgestellte  Postulat  lautete,  da  gelangte 
er  endlich  zu  dem  wahren  Sokrates,  der  sich  mit  dem  Thrasymmachos 


35)  Darin  liegt  zugleich  wieder  ein  Grund,  weshalb  dieser  Sokrates  im 
Kleitophon  nicht  antwortet.  Ihm  war  ja  bereits  lange  genug  Gelegenheit 
geboten,  sich  zu  rechtfertigen. 

36)  Der  (nach  Diog.  L.  VI  70,  8)  ,iqwTr}&t(c,  il  noiüiv  xalog  xuya&ig 
iGouo,  £<f>r}'  tl  tu  xuxd,  ä  t'xet,c,  oti  (pevxiä  tan,  fia&oig  naqä  rüv 
ilööxwv'.  Danach  ist  A.  aber  gerade  der  «i'ff^tffroc .'  Vgl.  Theaet.  202  c,  d; 
Isokr.  Hei.  1;  2. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  463 

in  eine  Disputation  einläßt,  bei  der  sich  einerseits  wirklich  zeigt 
(Kep.  336  d),  wieviel  besser  dieser  echte  Sophist  ist  als  jener  auf- 
schneidende Sokrates,  wenn  er  gleich  dessen  philosophische  Erziehungs- 
resultate (Kleitophon  S.  409)  als  leere  Worte  (vd-Xovg)  entrüstet  für 
ungenügend  erklärt  37),  bei  der  aber  auch  anderseits  der  durch  seinen 
Nebenbuhler  so  in  Mißkredit  gebrachte  wahre  Philosoph  anfangs 
bescheiden  bekennt:  ^eotlayrjv  xcd  ütQoößXhccov  avvov  tcfctjovio/r 
.  .  .  xcd  sijtov  vJtOTQSficov'  OgaöVfifiaxE,  [tf]  yalejioQ  r/ittr  Zöd-i' 
d  yag  st-aiKXQTavopev  ...  1 1  l öfri,  ori  axovreq  ä  //  a  q  t  ä  v  o  ii  t  r 
.  .  .  ov  Övväftsd-cc'  D.ttiofrca  ovv  t^iäc,  rtoXv  (läXXov  slxoq  lori 
jiov  vjio  v/icov  (sie!)  xeov  ösivdöv  i]  ycüejraivHj&ai'.  Klingt  das 
nicht  wie  eine  direkte  Antwort  auf  des  Kleitophon  unwilligen  Vorwurf 
(Kleit.  410c):  ,?}  ovx  aldtvai  6s  r\  ovx  ed-iXeiv  ccvrf/g  sf/ol  xoivcovsiv'? 
Das  ist  nicht  des  Großprahlers  falsche,  sondern  des  absichtlich  klein- 
tuenden Meisters  wahre  Weisheit,  die  den  Thrasymmachos  doch  bald 
so  aussticht,  daß  er  wie  ein  Schuljunge  errötend  ein  Tor  zu  sein  scheint 
(350  d).  Nun  hat  Kleitophon  endlich  den  wahren  Sokrates  erkannt  38), 
der  ihm  in  einer  Unterredung,  wie  sie  im  Staate  vom  2.  Buche  an 
vorliegt,  die  verlangte  Ergänzung  zum  Protrepticos  jenes  faden 
,Sokrates'  und  mit  ihr  das  feste  Wissen  von  der  Gerechtigkeit  und 
durch  diese  die  Glückseligkeit  zu  geben  weiß  (vgl.  den  Kleitophon- 
schluß)  im  Leben  wie  im  Tode  (vgl.  das  schön  ausklingende  Schluß- 
motiv des  Staates). 

Mit  dem  oben  erörterten  Nachweise  der  Unfähigkeit  des  Gegners, 
die  Glückseligkeit  der  vollen  Tugend  herbeizuführen,  war  aber  nicht 
etwa  nur  die  Berechtigung  der  Angriffe  des  Kleitophonverfassers 
dargetan,  sondern  zugleich  in  genügender  Weise  motiviert,  wes- 
halb der  platonische  Sokrates  im  Staate  ein 
so  schwieriges  Problem,  dessen  Behandlung  als  Ver- 
messenheit erscheinen  könnte,  zu  unternehmen  wagt: 
sein  Euf  war  durch  das  pietät-  und  taktlose  Gebaren  seines  ehe- 
maligen Jüngers  in  größere  Gefahr  geraten  als  durch  die  haßerfüllten 


37)  Das  konnte  er  nicht  gut  mit  diesen  Worten,  wenn  sich  des  , Sokrates' 
Unwert  nicht  bereits  in  einer  Schrift  wie  dem  Kleitophon  erwiesen  hatte. 

38)  Vgl.  die  Verheißung  am  Schlüsse  des  Kleitophon:  ,tioüq  0QaGi\ufJuxo)' 
TTOQSi'ooiJut,  xal  uXXoGs  onov  Svvafiat'.  Liegt  nicht  in  dem  ,xai'  usw. 
schon  der  Nebengedanke  „Thrasymmachos  ist  möglicherweise  unfähig"? 
Erscheint  nicht  damit  der  Ausblick  auf  etwas  Höheres,  auf  die  Akademie? 


464  Heinrich    Brünnecke, 

Entstellungen  seiner  Feinde,  bei  denen  man  eher  den  verleumderi- 
schen Charakter  der  Anklagen  erkennen  konnte,  als  bei  dem  eifrigen 
Sokratiker,  der  mit  Unrecht  die  Sokratesmaske  trug,  das  eminent 
Unsokratische  seiner  Marktschreierei.  Da  hierdurch  ein  größeres 
Publikum  an  Sokrates  irre  ward,  so  stemmte  sich  notwendig  Piaton 
diesem  Sinken  des  somatischen  Ansehens  wie  ein  rocher  de  bronze 
entgegen.  Er  verspricht  nicht,  was  er  nicht  zu  halten  vermag;  in  der 
Art  des  Pseudosokrates  Wissen  zu  erheucheln,  ist  nicht  seine  Sache: 
ov  !o)v  to  7s  hfiov  ovtok  lyu  (et  Aristot.  Met.  V  29, 1024  b.  34). 
Nachdem  alle  andern  Wege  versperrt  sind,  ist  er  also  durch 
die  Not  gezwungen,  sich  bescheiden  selbst 39)  einen  gang- 
baren Weg  zum  Ziele  zu  suchen  und  nachdem  der  falsche  Sokrates 
und  der  die  Sophistik  verkörpernde  Thrasymmaehos  der  wissen- 
schaftlichen Erkenntnis  nicht  mehr  ^turödtoi1  sind 40),  —  ihn  zu 
finden ! 

Ist  nun  aber  trotz  aller  bisher  vorgetragenen,  das  Gegenteil  be- 
weisenden sachlichen  Indizien  die  Meinung  derjenigen  Forscher 
gerechtfertigt,    welche    den    Kleitophon    als    verworfene    Einleitung 

39)  Aus  dem  Stegreif!  Er  wird  ja  bei  seiner  Rückkehr  vom  Piraeus 
fast  mit  Gewalt  festgehalten.  Dann  nötigen  ihn  die  dringenden  Bitten  der 
Freunde  und  besonders  Glaukons  ( !)  zum  Weitersuchen  auf  dem  Pfade  der 
Wahrheit, 

40)  Jetzt  lächelt  man  auch  über  das  Geschrei  der  Gegner  wegen  angeb- 
lichen Plagiates  seitens  des  platonischen  Sokrates  (vgl.  Athen  XI  508  c: 
dlloToiovg  de  rovg  irltlovg  [sc.  sokratische  Dialoge  Piatons]  ovtag  Ix  iwr 
IdQiGTinirov  dwTQißiüv,  Ivtovg  dh  xäx  twv  IdrTio&tvovg  usw.).  Die 
ganze  Kontroverse  ist  offensichtlich  so  angelegt,  daß  den  inneren  Zusammen- 
hang zwischen  Kleitophon,  dem  Prooemium  und  dem  eigentlichen  Staat 
der  zeitgenössische  Leser  selbst  finden  soll.  Plato  hatte  seine  Gründe  dazu ! 
Wären  die  Übergänge  allzusehr  in  die  Augen  fallend,  so  würde  das  Ganze,  wie 
wir  oben  S.  255  bereits  sahen,  als  ordinäres  Selbstlob,  die  Kontroverse  als  Schul- 
gezänk erschienen  sein.  So  was  überließ  der  Meister  dem  Gegner.  Jetzt  er- 
innerte man  sich  unwillkürlich  an  den  Gegensatz  dieser  beiden  Schulhäupter 
und  lächelte  über  die  köstliche  Ironie.  Anders  würde  die  Wirkung  nur  halb 
gewesen  sein.  Also  nochmals:  gerade  in  dieser  scheinbar  so  losen  Verknüpfung 
liegt  dennoch  die  feinste  und  meisterhafteste  Berechnung.  —  Es  ist  meines 
Erachtens  auch  nicht  ausgeschlossen,  daß  Plato  bei  seiner  Umarbeitung  des 
ersten  Buches  nachträglich  noch  an  der  Verfeinerung  auch  dieser  versteckten 
Beziehungen  weiter  gearbeitet  hat,  so  daß  das  Ganze  schließlich  so  auf  die 
Mitwelt  wirkte,  wie  heute:  als  helleuchtendes  Siegesmal  der  wahren,  in  gött- 
licher Begeisterung  zum  Höchsten  strebenden  Sokratik  gegenüber  der  Ignoranz 
sokratisierender  Dunkelmänner. 


Kleitophon  wider  .Sokrates.  465 

zum  Staate  betrachteten?  Mit  rächten!  Im  ersten  Buche  des  Staates 
geschieht  ja  gerade  das  am  Schlüsse  des  Kleitophon  Angedeutete : 
die  Prüfung,  ob  Thrasymmachos  das  Wesen  der  Gerechtigkeit  kennt. 
Ohne  dieses  erste  Buch  mit  seiner  Erörterung  über  dasselbe  Thema: 
Thrasymmachos  stößt  mit  seinem  neuen  Schüler  Kleitophon  zu  dem 
wahren,  die  ersehnte  Dialektik  bietenden  Sokrates  —  würde  daher 
der  Dialog  Kleitophon  mit  seiner  bestimmten  Schlußverheißung 
unverständlich  erscheinen.  Somit  muß  der 
Verfasser  des  Kleitophon  bereits  damals  die 
Absicht  verfolgt  haben,  den  Thrasymmachos 
in  einer  besonderen  Schrift  als  unfähigen 
Dialektiker  über  das  Wesen  der  Gerechtigkeit 
zu  erweisen.  Das  geschieht  nun  im  ersten  Buche  des  Staates. 
Also  hatte  Plato  bei  Abfassung  seines  Kleito- 
phon bereits  das  erste  Buch  vor  seinem  geisti- 
g  e  n  A  u  g  e  oder  der  Kleitophon  ist  von  ihm  nach- 
träglich auf  das  bereits  existierende  erste  Buch  zu- 
gespitzt. Denn  auch  der  umgekehrte  Fall  der  später  be- 
absichtigten Substituierung  des  Kleitophon  an  Stelle  des  jetzigen 
ersten  Buches  ist  nicht  möglich,  da  (nach  unserer  obigen 
Untersuchung)  die  Auseinandersetzung  mit  Thrasymmachos  infolge 
der  Schlußworte  Kleitophons  nicht  entbehrt  werden  kann.  Es 
hat  sich  damit  als  Tatsache  erwiesen,  daß  Plato  die  jetzt  das  erste 
Buch  bildende  Thrasymmachosdebatte  schrieb  41),  dann  einzelne  der 
folgenden  Bücher  —  inzwischen  verschärfte  sich  der  Gegensatz  zu 
dem  protreptischen   Sokratiker 42)  —  und  schließlich,   nachdem   er 


41 )  Vgl.  die  sprachstatistischen  Resultate  im  zweiten  Teile  unserer 
Untersuchung ! 

4-)  Wahrscheinlich  infolge  der  Herausgabe  des  Schmähbüchleins, Sathon'. 
Sind  da  Herrn  Professor  Paulus  Worte  berechtigt:  „In  welcher  Weise 
sollte  in  dem  nur  niederreißenden  Abschnitte  (d.  h.  dem  zweiten  Teile  des 
Kleitophon)  Piaton  dem  beleidigten  Antisthenes  die 
versöhnende  Hand  bieten?"  Ich  meine,  einem  Sathonschreiber 
bot  man  schon  im  Altertume  keine  ,versöhnende  Hand' !  Solch  ein  ekelhafter 
Ehrabschneider  konnte  doch  nur  auf  die  niedrige  Gesinnung  des  untersten 
Volkes  spekulieren,  wenn  er  durch  solche  Ideenassoziationen  zwischen  Plato 
und  dem  männlichen  Geschlechtsgliede  seinen  aristokratischen  Gegner  lächer- 
lich machen  zu  können  vermeinte.  —  Man  wird  uns  auch  jetzt  nicht  mehr 
einwenden,  im  1.  Puche  des  Staates  sei  ja  aber  ganz  dasselbe  Thema  behandelt. 
Also  müsse  doch  eine  dieser  beiden  Fassungen  entweder  unecht  oder  von  Plato 
Archiv  tür  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI,  4.  gj 


466  Heinrich    Brünnecke, 

das  Wesen  der  Gerechtigkeit  nach  seiner  dialektischen  Methode  be- 
stimmt hatte,  dem  Ganzen  die  polemische  Spitze  gegen  die  Schreib- 
und Lehrweise  des  frechen  Pseudosokrates  gab.  Jetzt  erst,  als 
er  wirklich  glauben  durfte,  die  Fehler  des  Protreptikers  vermieden 
zu  haben  und  nicht  mehr  von  dem  im  Kleitophon  enthaltenen  Tadel 
mitgetroffen  zu  werden,  reinigte  der  Vorwurf  gegen  den  gegne- 
rischen Sokrates  den  wahren  platonischen  Meister.  Hätte  er  das 
Schriftchen  dagegen  vor  dem  Schlußstücke  der  Trilogie,  d.  h.  vor  der 


verworfen  sein.  Wir  haben  oben  gezeigt,  daß  nach  dein  ganzen  Motive  der  Volks- 
redner  , Sokrates'  mit  seiner  Tugendparänese  bei  dem  in  die  Tiefe  gerichteten 
Geiste  Kleitophons  glänzend  Fiasko  machte,  infolgedessen  Kleitophon  sich 
nicht  länger  düpieren  ließ  und  geradewegs  zum  Thrasymmachos  lief.  Das 
Gespräch  mit  Thrasymmachos  in  Gegenwart  des  Kleitophon  über  dasselbe 

Thema  nach  dem  Kleitophondialoge  war  daher  gerade  das  zu  Erwartende ! 

Auch  die  Ausführungen  Cunerts  (a.  a.  0.),  der  den  Kleitophon  ca.  390  v.  Chr. 
nach  Abfassung  von  Rep.  I  von  einem  Gegner  der  Sokratik  gegen  Plato  und 
die  übrigen  Sokratiker  geschrieben  sein  läßt,  werden  nun  nicht  mehr  in  Be- 
tracht kommen.  Besonders  muß  gegen  das  Verfahren  Verwahrung  eingelegt 
werden,  mit  dem  Herr  Cunert  zur  Erweisung  seiner  Ansichten  alle  möglichen 
Widersprüche  künstlich  in  den  Dialog  hineininterpretiert.  Z.  B.  würde  Plato 
nach  Cunert  nie  eine  solche  Begriffsverwirrung,  wie  wir  sie  in  Rep.  I  fänden, 
begangen  haben,  wenn  ihm  der  Kleitophon  bereits  bekannt  gewesen  wäre. 
Selbst  wenn  wir  eine  solche  ,notionum  confusio'  zugeben  würden,  so  wäre 
es  doch  nur  ganz  im  Geiste  des  genialen  Verfassers,  wenn  er  nicht  sofort  in 
streng  logischer  Weise  die  Begriffe  sonderte,  sondern  sich  zunächst  einmal 
an  den  alten  Kephalos,  dann  den  Polemarchos,  dann  den  Thrasymmachos 
wendete,  um,  nachdem  sich  diese  der  Reihe  nach  als  unfähig  erwiesen  haben, 
das  zu  geben,  was  der  Pseudosokrates  dem  Kleitophon -Verfasser  nicht  zu 
bieten  vermochte.  Doch  betrachten  wir  zunächst  Cunerts  Argumentation: 
,,Idem  enuntiatum,  quod  antea  (351  d)  l'oyov  uöixiuq  continet:  fxiGoc  i/a- 
noiiiv,  otvov  uv  iPtj,  hie  nequaquam  opus  iustitiae  indicare,  sed  qua  de  causa 
iniusti  fiant  homines  expedire  elucet  (in  den  Worten:  ,ddvvuTOV  uvtov  tvqut- 
niv  iroir\Gu  (rj  ö.öixiu)  GtuGiuX,ovtu  xui  ov%  ö/jovoovvtu  uvtov  uvtoJ').  Über- 
legen wir  nun  im  Sinne  Piatons:  Sokrates  geht  von  vieler  ungerechter  Menschen 
gegenseitigem  Zwiste  (der  ja  tatsächlich  ädixiuq  loyor  ist)  auf  den  zweier 
unter  sich  und  von  dem  zweier  auf  den  eines  einzelnen  Menschen  mit  sich 
über  (vgl.  Jamblich,  Protr.  18:  bruv  txsTvo,  w  L,wfisv,  TrXrj/jfisXojQ  tyrt  xui 
GTUGiÜL.t]  TCQÖg  uvto,  ovx  tGTiv  uo&wQ  diußmvcu).  Indem  nun  die  Ungerechtig- 
keit die  Seele  mit  sich  selbst  in  Uneinigkeit  und  Zwist  bringt  und  bewirkt, 
daß  sie  sich  selbst  haßt,  ist  sie  zugleich  der  Grund,  weshalb  dieser  inner- 
lich zerfallene  Mensch  nicht  äußerlich  zu  handeln  vermag.  Beim  Zusammen- 
wirken mehrerer  Ungerechter  wird  dieselbe  Ungerechtigkeit,  die  ihn  mit  sich 
selbst  zerfallen  ließ,  sich  in  analoger  Weise  zugleich  gegenseitig  äußern  u  n  d 
am    ersprießlichen    Handeln    hindern. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  467 

von  , Sokrates'  vergeblich  versuchten  dialektischen  Zergliederung 
des  Gerechtigkeitsbegriffes  ediert,  so  hätte  er  sich  selbst  geschlagen, 
denn  dann  konnte  jeder  sagen:  „Du  hast  es  ja  selber  nirgends  besser 
gemacht !  Weshalb  widerlegst  du  nicht  den  Gegner  durch  ein  selbst- 
geschaffenes Gegenstück  als  höchsten,  sichersten  Trumpf?"  In 
diesem  Kleitophon  durfte  aber  die  von  den  modernen  Forschern  so 
schmerzlich  vermißte  Fortsetzung  ebenso  wenig  geboten  werden, 
wie  im  ersten  Buche  des  Staates.  Hier  war  in  gleicher  Weise  Haupt- 
zweck, die  Unfähigkeit  aller  andern  kompetenten  Denker  einem 
größeren  Publikum  zu  illustrieren:  ,rdyovsv  U  rov  öialoyov  [iqdev 
ddtrar.  Die  populäre  Sokratik  und  die  Sophistik  mußten 
erst  unter  persönlicher  Beteiligung-  ihrer  berufensten  Ver- 
treter rettungslos  bankerott  geworden  sein,  bevor  die 
platonische  Sokratik  in  den  Augen  der  damaligen  Welt  ihr 
Werk  mit  höherem  Rechte  beginnen  konnte.  Hätte  daher 
Piaton  im  Kleitophon  oder  im  Proömium  des  Staates  mehr  gelehrt, 
so  wäre  er  aus  seiner  eigenen  so  meisterhaft  erdachten,  in  seinen 
Wirkungen  so  scharf  vorausberechneten  Rolle  gefallen! 

Wenden  wir  uns  nunmehr  im  Interesse  einer  sicheren  Kontrolle   ,,'-.l,er,slil 

Kleitophous. 

unseres  bisherigen  Resultates  der  genauen  Beobachtung  der  Sprach- 
gepflogenheiten des  Verfassers  zu. 

Wir  untersuchen  zunächst  im  Anschluß  an  das  von  Janell  (Jahrb.  V  D«v?!*ll8er 
f.  Kl.  Piniol,  Supplem.  Bd.  26,  1901)  für  die  meisten  Dialoge  <aber  ^letz,li:isesHj;,1t; 
leider  nicht  für  den  Kleitophon)  durchgeführte  Schema  die  Häufigkeit  k,i,,es- 
des  Hiates.  Die  leichteren  Fälle  nach  xai,  /},  6//,  äv,  sl,  co,  ti. 
dem  Artikel,  der  Negation  (u'h  der  Präposition  jtqo,  jieqi,  den  Wort- 
ausgängen auf  ai,  dem  Infinitiv  &ai,  sowie  die  durch  Elision  und 
Krasis  zu  vermeidenden  Fälle  schließen  auch  wir  von  unserer  Be- 
trachtung aus.  Es  bleiben  nur  folgende  schwerere  Hiate:  1.  S.  406: 
kjtcuvoi.  Ogti^  2.  ibid.:  s/ih  tysir  3.  S.  407a:  (tot  söoxsig 
4.  S.  407  e:  tyco  otccv  5.  IxiöTarai  d(pd-aX(ioZc,  6.  S.  408  a: 
'; (error,  orcT  7.  aoi,  €og  8.  ibid.:  öovlco  äfisiyov  9.  S.  408  d: 
ßiXviöroi,  iffjv  10.  ibid.:  vovvov,  hjzegeXd-eiv  11.  ibid.:  av 
ertQOig  12.  S.  408  e:  avro  «vftQcojrc»  13.  S.  409  a:  elvat  nvjcso 
14.  S.  409b:  ravrä  oixia  15.  ibid.:  ebts  ovtoq  16.  S.  409c: 
riii-H,  Iqü  17.  ibid.:  ri'yr/j,  olov  18.  S.  409 d:  av  iQcorojfnvoq : 
19.  ibid.:  %<pri  elvai  20.  S.  409 e:  ofioöogiai  ävd-Qcbjicoi)  21  ibid.: 
eivat   ofidvoiav    22.  ibid.:    Xoyov  djeoQOvvzeg  23.  S.  410a:    Ixavol 

31* 


468  Heinrich    Brunn  ecke, 

jjaav  24.  ibid.:  haoix/)  ofiovoia  25.  ibid.:  .Tfo/  orov  sidiv 
26.  ibid.:  ah  avror  27.  lit.  c:  iönvva[j,ai,  äjioocov  28.  lit.  d:  Xöy<o 
tXeyeg  29.  ibid.:  (pvost  ov  30.  lit.  e:  drfrocojrfp,  co  .  .  . 

Oben  im  ersten  Teile  unserer  Untersuchung  erschlossen  wir  aus 
Gründen  des  Inhalts  die  spätere  Abfassungszeit  des  Dialoges.    Hier 
konstatieren  wir  bewußte  Hiatverm  ei  dungganz 
nach  Art  des  älteren  Plato ! 43)   Wichtig  für  unser  Problem  ist  so- 
dann die  Erkenntnis,  daß  die  Hiate  durchaus  nicht  gleichmäßig 
gemieden  werden,  sondern  daß  sie  vielmehr  im  vorderen  Teile  des 
Gespräches     in     der     angeführten     Prunkrede      des 
Sokrates    fast   völlig    fehlen,     dann   aber  nach   den   hoch- 
tönenden Phrasen  z.  B.  auf  S.  409  e  und  410  a  im  Vergleich  zur  sonstigen 
relativen    Seltenheit    wie    absichtlich    gehäuft    erscheinen,    nämlich 
auf   S.  409  e:    1.    6tuodo$iai  Jr&Q.,    2.    slvat   oftovoiar,    3.   Xoyov 
ajzoQovvTSQ     und     gleich     darauf     S.   410  a  :      1.    Ixavol     yoav, 
2.  larQix/}    ofiovoia,    3.  jceqI   orov   elölv.    Es    ist   dies    mehr    als 
der    vierte    Teil    aller    im    Dialog    erscheinenden    Fälle.      Wir    er- 
klären   uns    diese  seltsame  Erscheinung    durch    das  Bestreben    des 
Verfassers,    zunächst    im   Anfange    des    Gespräches    auch    äußerlich 
die  Sprechweise  des    alten 44)    sachlich    angegriffenen   , Sokrates'  in 
ihrem   hohlen   rhetorischen   Schwulste    zu   kennzeichnen   und   dann 
durch  die  große  Diskrepanz  zwischen  dessen  glatten,  hochtönenden 
Worten  und  der  unvermittelt  hineinplatzenden,   in  ein  holperiges, 
rauhes  Gewand  gekleideten  Rezension  jener  Prunkrede  wieder  ebenso 
äußerlich  auch  dem  Ohre  fühlbar  zu  machen,  daß  die  schönen  wie 


43)  Janeil  zählt  im  Tim.  auf  jeder  Seite  1,17,  im  Krit.  0,80,  im  Soph.  0,61, 
im  Polit.  0,44,  im  Piniol.  3,7,  in  den  Gesetzen  4,79—6,71  Hiate.  In  den  Schriften 
der  früheren  Periode  finden  sich  z.  B.:  im  Menex.  28,19,  im  Kratyl.  31,18, 
im  Theaet.  32,70,  in  der  Republ.  35,27  Hiate  durchschnittlich  auf  jeder  Seite 
der  Didotschen  Ausgabe.  Der  3,6  Seiten  lange  Kleitop  hon 
rangiert  also  mit  8,33  bezeichnenderweise  hinter  der  Re- 
publik! 

41)  Man  muß  unterscheiden  zwischen  den  Schriften  des  jüngeren,  gorgiani- 
schen  Rhetors  und  denen  des  späteren  sokratischen  Moralphilosophen.  Sein 
früherer  Lehrer  Gorgias  vermied  bekanntlich  den  Hiat  noch  nicht.  Also 
auch  nicht  sonderlich  sein  Schüler  in  der  sophistisch-rhetorischen  Deklama- 
tion (z.  B.  dem  Aias).  Unter  dem  Einflüsse  des  Isokrates  wurde  dann  später 
das  Vermeiden  des  Hiates  allgemein  üblich.  Hier  handelt  es  sich  aber,  wie 
oben  gezeigt,  gerade  um  Polemik  gegen  diesen  alten,  sich  wesentlich  als  sokra- 
tischen Philosophen  fühlenden  Mann ! 


Kleitophon  wider  Sokrates.  469 

ein  Hymnus  auf  die  Tugend  dahinfließenden  Phrasen  mit  dem  Inhalte 
desselben  kläglich  disharmonieren.      Zwischen  den  Zeilen  hindurch 
klingt  zu  uns  der  Gedanke:    „Zu  reden  verstehst  du  herrlich  schön, 
Sokrates,    aber    deine    Geistesarmut,    deine    Unwissenschaitlichkeit, 
deine  dialektische  Unfähigkeit  dadurch  verdecken  zu  wollen  ist  ver- 
gebliche Mühe,  denn  die  vermag  leicht  jeder  zufällig  anwesende  Hörer 
zu  erkennen,  auch  wenn  er  nicht  so  schön  die  Worte  zu  setzen  ver- 
steht, wie  du  als  ehemaliger  Redner  oder  —  freiwillig  solche  Mätz- 
chen 45)  verschmäht !   Der  Gang  der  Untersuchung  hat  uns  also  selbst 
dazu  genötigt,  die  in  der  Vermeidung  des  Hiates  voneinander  ver- 
schiedenen Abschnitte  des  Kleitophon  einzeln  für  sich  genauer  nach  ^^gjS^J* 
etwa  vorhandenem  rhetorischen  Kolorit  zu  durchforschen  und  dies   JJ^Jg*^. 
dann  mit  denjenigen  Kunstmitteln  zu  vergleichen,  welche  wir  beigs*««™  jj£ 
den  Epideiktikern  und  Sophisten  des  5.  und  4.  Jahrhunderts  zu  finden     gJJJJ,Jf 
gewohnt  sind.    Die  hauptsächlichsten  Gorgianismen  in  der  Rede 
des  Sokrates  sind  diese: 

1.  Antithesen  (z.  T.  in  Verbindung  mit  G 1  e  i  c  h  k  1  ä  n  g  e  n  46) 
und  Reimen): 

S.  407  b:  T(ör  (ihv  ftigi  t>)v  öüiovörjV  ^«re,  röJr  61  «{ibltits, 
c:    y.aTaq QorÜTt  ^tjteIts,    d:   öqcöoi    xal    jräöyovöi , 

dxovöiov  —  sxovöiov,  lit.  e:  agSfivta:  ägt-ofievov, 

S.  408  a:  ///}  C//r  —  /'/  C//>',  öovXca  —  elevd-SQm,  usw. 

2.  Ungewöhnl,  wirkungsvolle  Stellung  eines  Wortes 
z.  T.  mit  P  a  r  o  n  o  m  a  s  i  e  46)  wie  S.  407  b :  .  .  .  xal  ovt&  öidaöxa- 
Xovc,  avroig  evQtöxeve  rrjg  öixaioövvijg  (für:  t/'jq  6.  evg.),  .  .  . 

ib)  Wegen  der  offenbar  tendenziösen  Färbung  des  Stiles  darf  man  bei 
dieser  Schrift  die  Chronologie  nicht  allein  auf  die  statistisch  festgestellte  Zahl 
der  Hiate  im  Vergleich  mit  andern  platonischen  Schriften  gründen.  Wir 
ziehen  daher  alle  übrigen  Indizien  bei  der  Zeitbestimmung  zur  Kontrolle  heran. 

Die  hier  und  im  Folgenden  untersuchten  Spracheigentümlichkeiten 
haben  wohl  Schleiermacher  zu  seinem  sonderbaren,  oben  S.  3  angeführten 
Urteile  über  unseren  Dialog  veranlaßt. 

46)  Ich  setze  noch  einige  andere  Paronomasien  her:  S.  407b:  o$dsv\xwv 
<Üeör\TU>v  TVQUTTOVTeg  (vgl.  Isokr.  13,  8),  407c:  qadvyiuv  —  äfitTqtav, 
(h)ü(/6g  ddil(po)  xal  iroltig  jrüitoii'  dfitTotog  xui  uruQftoffrtog  irooGyeoo- 
utvat  .  ■  TToXffJovvjfg  .  .  dotüoi  xai  nüayouai,  407  e  ff.  vgl.  die  durch 
XQrJG&ai,  XQi]Cig,  XQtCa  gebildeten  Gleichklänge,  ferner:  dij  ..  tu',  -  fiqdi 
-  fir]d(  .  .  fvqxs  .  .  flljze  .  .  yrfrt  .  .  n-i]d(fj.(ar  .  .  öi]  fltf.  Darauf:  oudt  .  . 
ovd'  .  .  ovo'  .  ovöi  .  .  oö<V  .  .  odSi  —  ovSsvC,  S.  408b:  (au&övti  —  tvuqu- 
Öüvti,  408c:  löyoig  —  ).syotuu'oig  usw. 


470  Heinrich    Brünnecke, 

oltlvsq  t  $aox?]  öov  oiv  xal  kx/is lax //  tfo  voiv  ixavöjg. 
(Ix.  Ig.  xal  exfi.,  wie  etwas  weiter  unten  folgt).  Sodann  treffen  wir 
von  S.  407 c  an  mehrmals  Stellungen  wie :  jtöjq  ov  xar  a <p q o r bIt's 
t /j q  vvv  jtaiöevöemg  ovös  Cr/Tsire,  oizivsg  v(iäg  jvavöovöt 
t(cvt?jq  rrjg  d  (i o  v  o  l a  g ,  oder407d:  sxovraq  zovg  ddixorg 
(für  r.  ad.  ix.)  äöixovg  sivcu  .  .  .  cog  cdoyQor  xal  {rtoiaosg 
/)  döixia  (für:  wg  t)  ad.  alo'/Q-  usw.)  und  ebenda:  yrrmv  oq 
av  fi,   (pari,   tcjv   y  Öov  cor   (für:   oc  av  rwr  yöovcav  i'jttov  ij7 

<f  (ITt). 

An  vorletzter  Stelle  (S.  407  d:  ...  wc  ahr/oov  t)  döixia.)  wird 
zur  Steigerung  der  Eindringlichkeit  das  Verbum  ausgelassen, 
an  wieder  andern  Chiasmus  oder  rhetorische  Bilder 
angewendet. 

Wir  sehen  bereits :  die  Kunstmittel  der  gorgiani- 
sier  enden  Rhetorik  finden  die  ausgiebigste 
Verwendung  in  der  Rede  dieses  protreptischen 
,Sokrates'  und  dementsprechend  an  allen  den  Stellen,  wo  "Worte 
dieses  Prunkredners  angeführt  werden;  Klitopho  aber  selbst  bzw. 
sein  Verfasser  tritt  somit  wieder  in  einen  direkten  Gegensatz  zu  dem 
angegriffenen  Sokrates:  man  merkt,  beide  müssen  zwei  verschiedenen 
Stilrichtungen  angehören  47).  Wie  läßt  sich  damit  aber  die  Tatsache 
vereinbaren,  daß  an  einer  Stelle  (S.  408  c)  sofort  nach  den  hochtönenden 
Worten  des  ,Sokrates'  unser  Kleitophon  selbst  des  Gegners  Phrasen- 
getön  einen  Augenblick  nachahmt?  Untersuchen  wir  zunächst,  wie 
sich  die  Sokratiker  in  ähnlichen  Fällen  verhalten.  Finden  wir  dabei 
genau  diese  Art  der  Polemik  gegen  den  Stil  eines  Gegners  dem  Geiste 
keines  der  uns  bekannten  Sokratiker  kongenial,  so  gewinnt  die  bislang 
ganz  aussichtslose  Hypothese  derjenigen  Forscher  an  Wahrschein- 
lichkeit, welche  die  Schrift  in  direktem  Gegensatze  zu  unseren  über- 
einstimmenden früheren  Ergebnissen  als  eine  von  außen  gegen  den 
Kreis  der  Sokratiker  gerichtete  Polemik  betrachten.  Entdecken 
wir  dagegen  mit  der  Art  und  Weise,  wie  der  Verfasser  des  Kleitophon 


47)  Der  äußere  Gegensatz  wird  durch  den  inneren  erklärt!  Bei  Plato 
Denken  und  Verstehen,  beim  Gegner  mechanisches  Behalten  des  Vorgetragenen. 
Hier  Mnemotechnik.  Vorhanden  ist  auch  bei  ihm  die  weniger  anstößige, 
wirkungsvolle  Art  der  Wortstellung,  wie  wir  sie  oben  S.  469  unter  Nr.  2  auf- 
führten, aber  ohne  die  affektierten  Paronomasien  usw.  Ersteres  dürfen  wir 
aber  von  Plato  auch  erwarten. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  471 

die  unsokratischcn  Sprachgepflogenheiten  dieses  Rhetors  tadelt,  bei 
einem  Sokratiker  Ähnlichkeit,  so  ist  es  mindestens  sehr  wahrschein- 
lich, daß  auch  dieser  Tadel  aus  dem  Geiste  desjenigen  Sokratikers 
stammt,  bei  dem  wir  in  ähnlichen  Fällen  ganz  ähnliche  Ideenverbin- 
dungen  auftreten  sehen.  Wir  finden  nun  eine  (mutatis  mutandis) 
von  durchaus  gleichem  Geiste  getragene,  aus  durchaus  denselben 
Erwägungen  heraus  entstandene  Stelle  in  Piatons  Gastmahl.  Hier 
werden  nämlich  ebenso  nach  der  hochtönenden  Rede  des  Pausanias 
(vgl.  das  f/tyaÄojrQiji(ög  mit  dem  jicr/xcucog  des  Kleitophon)  in  zweifel- 
los ähnlich  ironischem  Sinne  zum  Beweise,  wie  sehr  diese  schwülstigen 
Phrasen  dem  Hörer  in  den  Ohren  nachtönen  47)  und  wie  leicht  das 
jeder  nachmachen  kann,  die  sich  unmittelbar  anschließenden  "Worte 
selbst  klangvoll  fortgereimt.  Daß  tatsächlich  genau  dieselbe  psycho- 
logisch-individuell begründete  Gedankenverbindung  dem  , Kleitophon'' 
nach  der  ebenso  bombastischen  Rede  des  Pseudosokrates  vorschwebte, 
wird  durch  das  Fehlen  der  charakteristischen  Klangfiguren  in  den 
übrigen  Worten  des  Tadlers  erwiesen  48).  In  beiden  Fällen  handelt 
es  sich  darum,  die  übermäßige  Anwendung  solcher  Äußerlichkeiten 
durch  die  übertriebene  Anwendung  dieser  im  Anfange  der  eigenen 
Rede  zu  verspotten.  Ein  anderer  als  Plato  hätte  wohl  mit  dürren 
Worten  des  Gegners  Fehler  aufgezählt,  ein  Künstler  zeichnet  eben 
feiner  als  die  Durchschnittsmenschen !    Schon  oben  bei  unserer  Unter- 


i&\ 


8)  Wie  es  nach  Diog.  L.  VI  1 :  ,ovioc  xax'  dg/äc  fiev  ijxovGe  rooyfov 
tov  otJTOOog  '  Ö&sv  id  gtjrogixöv  ildog  iv  töiq  ötulöyotg  iititpign  xui  [idXtGza 
iv  xji  lAhr\Sit<i  (die  zeichnet  ihn  nach  K.  nicht  gerade  aus!)  xui  roig 
TtooTOSTtTixotc1'  nur  Antisth.  tat.  Wie  Plato  infolgedessen  über  ihn 
dachte,  zeigen  uns  seine  Worte  im  Theaetet  S.  172c:  Kivdvnvovciv  oi  iv 
dixao~it]oioig  xui  roTg  roioihoig  ix  viwv  xvXivdovftsvot  jtoog  rovg  iv  cpcAo- 
ao(j)Cu  xui  tT]  loiüde  diuTQtßTj  Te&QUjjjjivovg  tog  oixiiui  nqög  iXsv&igovg 
Tffroäy&ai.  Trotzdem  nun  dieser  Gegner  die  später  von  Sokrates  erborgte  Weis- 
heit gerade  durch  die  Kunstmittel  seines  früheren  Lehrers  dem  Volke  schmack- 
haft zu  machen  suchte,  verging  er  sich  gegen  diesen  alten  Lehrer  in  gehässiger 
Weise  in  einer  Schrift,  in  der  er  (ähnlich  wie  Euthyd.  bei  Xenophons  Mem.  IV  2) 
besonders  nachzuweisen  suchte,  daß  er  von  Corgias  nichts  gelernt  habe.  Solche 
Gesinnung  verdiente  allerdings  die  Verachtung,  welche  Piaton  ihm  dadurch 
bewies,  daß  er  ihn  (durch  die  Not  gezwungen)  anonym  als  eifrigen  Gorgianer 
angriff,  denn  ihm  eine  vollständige  Schrift  zu  widmen  wäre  zuviel  Ehre  ge- 
wesen. Jedermann  sah  nun,  daß  solch  ein  undankbarer  Schüler  wie  jener 
.Sokrates'  kein  Recht  hatte,  sich  darüber  zu  beklagen,  daß  seine  Schüler 
sich  spavhog'  noög  tuurov1    verhielten.     Er  selbst  war  ja  der  (puvXÖTUTog! 


472  Heinrich   Brünnecke, 

suchung  über  die  Häufigkeit  des  Hiates  beobachteten  wir  die  aus 
demselben  Beweggründe  erfolgte  ironische  Beleuchtung  der  pein- 
lichen Hiatvermeidung  des  Gegners  durch  das  Verfallen  ,Kleitophons' 
in  das  entgegengesetzte  Extrem.  Die  Wege  des  Genies  sind  ja  mannig- 
fach, aber  wie  hier  stets  für  die  bestimmte  Individualität  desselben 
bezeichnend.  —  Richtet  sich  also  unser  Dialog  gegen  einen  schrift- 
stellerisch tätigen  Sokratiker,  der  sich  mit  Leib  und  Seele  den  Stil- 
forderungen des  Isokrates  und  Gorgias  hingab  48),  ohne  dabei  das 
Wesen  sokratischer  Dialektik  im  geringsten  begriffen  zu  haben,  so 
dürfen  wir  dabei  an  Aeschines  niemals  denken,  denn  dessen  Sokrates 
erhob  weder  so  örjfirjyoQixmg  seine  Stimme,  noch  ließ  er  dialektisch 
zu  wünschen  übrig,  noch  soll  er  überhaupt  in  der  Art  des  angegriffenen 
,Sokrates'  irgendwelche  Schüler  gehabt  haben.  Auch  Eukleides  werden 
wir  nicht  in  Betracht  ziehen,  denn  einem  so  mangelhaften  Dialektiker 
wie  diesem  , Sokrates'  wäre  nie  von  Plato  im  Theaetet  ein  so  ehrendes 
Denkmal  gesetzt  worden.  Oder  handelt  es  sich  um  Aristippos?  Diese 
Möglichkeit  wird  allein  durch  den  sachlichen  Charakter  der  Angriffe 


'© 


ausgeschlossen.  Auch  die  Rhetorik  der  Schriften  Xenophons  ist 
mit  dem  Phrasenschwulst  dieses  Worthelden  nicht  vergleichbar.  Am 
allerwenigsten  passen  aber  die  Vorwürfe  Kleitophons  gegen  die  meister- 
hafte Dialektik  des  Pia  ton,  der  in  der  Republik  (!)  VII,  S.  534  b 
wie  direkt  an  den  Gegner  des  ,Kleitophon'  die  Fragen  stellte:  *H  xai 
öiaXsxrixov  xateig  xov  Xoyov  sxdörov  la(ißavovra  t>~jq  ovölaq; 
xai  tov  (i  /)  iyorra,  xad-'  ooov  ///}  tytj  Xoyov  avrS  re  xai 
aXlro  öiöovai,  xaza  t  oöov  tov  rovr  jieqi  tovto  v  o  l 
prfdetq    tyeiv™);  ~'Aq     ovr   doxei    aoi    Söjcbq    d-Qiyxbq 

rolq  [lafr/jtiaoiv  rj  dialexrixt)  ?jtuir  tJidvoj  xslöd-ai  .  .  .  xai  lyuv 
tj(h/  Ttlog  (vgl.  Kleitophon  S.  410  e)  rd  tcov  (lad-rjfidvoav1.  Nach- 
dem hierdurch  alle  nennenswerten  Sokratiker  sich  bisher  als  außer 
Betracht  bleibend  erwiesen  haben,  bleibt  auch  auf  Grund  des  sprach- 
lichen Befundes  wiederum  nur  einer  übrig:  Antisthenes!  Wenn  daher 
unsere  Resultate  sich  nicht  durch  ein  Wunder  stets  so  bestätigten, 
dann  muß  nicht  nur  dieser  letzte  Sokratiker  der  gesuchte  sein,  sondern 
auch  der  Kleitophon  in  einer  Zeit  geschrieben  worden  sein,  in  der 
dieser  parodierte  Sokrates  noch  lebte.     Daß  er  bereits  in  höherem 


49)  Der  Satz  trifft  ganz  einzigartig  schön  den  greisen  Tugendschwätzer, 
der,  ohne  selbst  Dialektik  zu  besitzen,  in  die  Welt  hinausposaunte:  Jür- 
i'ovv  XTÜGfrat,  i]ßoöxov! 


Kleitoplion  wider  Sokrates.  473 

Alter  steht,  verrät  sowohl  das  Selbstbewußtsein,  mit  dem  er  seine 
erborgte  Weisheit  vorträgt,  wie  die  oben  erwähnten  Seufzer  des  ge- 
langweilten Kleitophon  über  die  so  lange  nutzlos  bei  diesem  ver- 
trödelte Zeit.  Nach  Diodor  XV,  76  lebte  Antisthenes  noch  Ol  C  III, 
3  =  366  v.  Chr.  Wir  würden  also  durchaus  bis  auf  365  als  Abfassungs- 
jahr heruntergehen  dürfen.  Wo  polemisiert  Plato  aber  sonst  gegen 
diesen  unliebsamen  Konkurrenten?  Im  Euthydemos  (!)  und  Kratylos 
einerseits,  im  Theaetet,  der  Republik  ")  und  dem  Sophistes  ander- 
seits. Dies  ist  aber  genau  dieselbe  Zeit,  in  die  uns  im  ersten  Teile 
unserer  Untersuchung  die  sachlichen  und  jetzt  in  Übereinstimmung 
mit  jenen  die  sprachlichen  Indizien  den  Kleitophon  zu  setzen  nötigten51). 
Wie  polemisiert  aber  Plato?  In  den  ersteren  Schriften  ziemlich  sach- 
lich, in  der  letzten  dagegen  im  Vorübergehen  als  gegen  einen 
Mann,  bei  dem  doch  alle  gutgemeinte  Zurechtweisung  nichts  hilft. 
(Vgl.  unsere  Ausführungen  oben  auf  S.  462).  Wir  sehen: 
zwischen  dem  Theaetet  und  dem  Sophisten  hat  Plato 
endgültig"  den  Versuch  aufgegeben,  diesen  Sokratiker 
irgendwie  zu  belehren.  Wo  geschieht  das?  Unsere  Unter- 
suchung nötigt  uns  zu  der  Antwort:  im  Kleitophon.  Ist  sie 
richtig,  so  müssen  auch  die  Ergebnisse  der  übrigen  Sprachstatistik, 
also  die  durch  Beobachtung  der  für  Piatos  schriftstellerische  Ent-  fe™£l ?**; 
wicklung  charakteristischen  Satzschlüsse  und  Partikeln  gewonnenen  ^VrTerf. 
chronologischen  Erkenntnisse,  mit  der  diesbezüglichen  Spradibe- «•■  JJ^JJ* 
schaffenheit  unseres  Dialoges  in  den  wesentlichen  Punkten  über- 
einstimmen. Wir  betrachten  zuerst  nach  der  von  Kaluscha  in  den 
»Wiener  Studien'  1904  zur  chronologischen  Fixierung  der  ,echten' 
platonischen  Dialoge  <aber  nicht  des  nach  seiner  Ansicht  zweifellos 
untergeschobenen  Kleitophon)  angewandten  Methode  die  Satz- 
schlüsse und  beachten  dabei  wie  jener  a.  a,  0.  folgende  Grundsätze: 
1.  Langer  Vokal  vor  folgendem  Vokal  wurde  herausgeschrieben 
und  die  betreffende  Klausel  aus  der  Untersuchung  ausge- 
schieden. 


50)  Auch  wenn  wir  die  Zeichnung  des  Naturstaates  S.  372  nicht  not- 
wendig als  Anspielung  an  den    antisthenischen  , Schweinestaat'    betrachten. 

51)  Die  bisherigen  Forscher  glaubten  größtenteils  wegen  dieser  die  Un- 
echtheit  als  erwiesen  betrachten  zu  müssen:  wir  können  in  direktem  Gegen- 
satze dazu  nunmehr  bereits  feststellen:  wäre  der  Befund  nicht  so,  so 
müßten   wir  wir  Athetese  schreiten ! 


474  Heinrich    Brün  necke, 

2.  Ebenso  werden  Fälle  von  Muta  c.  Liquida  52)  aus  der  Unter- 
suchung ausgeschieden. 

3.  Schlußsilbe  wird  nicht  als  anceps  betrachtet. 

4.  Zwei  Kürzen  werden  nicht  als  Länge  gerechnet. 

Danach    kommen    folgende  Klauseln  häufiger  als  zweimal  im 
Kleitophon  vor: 
I.    1.  w-~_v,  5 mal53),    sie    ist    bei   Plato    besonders  häufig   im 

Kritias. 
IL    2.  ^o\,__  3 mal,  sie  ist  bei  Plato  besonders  häufig  im  Sophist, 

Tim.  u.  d.  Leges. 

3.  ^  w  _  v.  _  3  mal,  sie  ist  bei  Plato  besonders  häufig  im  Euthy- 

demos. 

4.  w^__-  5 mal,  sie  ist  bei  Plato  besonders  häufig  im  Theaet., 

Phileb.,  Polit,  Soph.,  Tim. 

5.  ~_w~_  3  mal,  sie  ist  bei  Plato  besonders  häufig  im  Staat 

B  1-5. 

III.  6.  wv, 3  mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  häufig  im 

Theaetet. 

7.  v  _  _  «  _   4  mal 54),  sie  wird  bei  Plato  besonders  bevorzugt, 

8.  o u  4  mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  selten. 

9...v>.u4 mal,  sie  erscheint  bei  Plato   besonders  häufig  im 

Kratylos. 

IV.  10.  » 5  mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  häufig   im 

Kratylos. 
11.  __„__  3 mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  häufig  im 

Tim.,  Soph.,  Krit. 
12. w_  3  mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  häufig  im 

Theaet.,  weniger  im  Euthyd. 
13.  -         w  4  mal,  sie  erscheint  bei  Plato  besonders  häufig  im 

Menexenos,  Leg.  IV. 
V.  14. 5  mal,   sie  erscheint  bei  Plato   besonders  häufig  im 

Politikos,  Republ.,  Theaet.  u.  Leges. 

62)  Also  wohl  Muta  mit  eigentlicher  Liquida  (X  und  q).  Muta  mit  folgendem 
Nasal  habe  ich  mitgerechnet.  Als  Satzschlüsse  wurden  die  letzten  Silben 
vor  einem  Punkte,  einem  (Semi)kolon  und  einem  Fragezeichen  angesehen. 

53)  Betrachten  wir  die  letzte  Silbe  als  anceps,  so  erhalten  wir  (mit  Nr.  2 
zusammen)  sogar  8  Fälle ! 

64)  Nehmen  wir  dazu  die  nur  zweimal  erscheinende  Klausel  ^ «  -, 

so  erhalten  wir  damit  6  Beispiele. 


Kleitophon  wider  Sokrates.  475 

Der  Kleitophon  erscheint  also  auch  in 
dieser  Beziehung  als  Werk  des  gereift  er  en 
Meisters.  Hervorzuheben  ist,  daß  solche  Schlußklauseln,  die 
von  Piaton  im  allgemeinen  vermieden  werden,  jedoch  im  Kritias 
und  Timaeus  häufiger  vorkommen  (wie  z.  B.  die  11.),  hier  auch  nicht 
zu  den  gemiedenen  Satzschlüssen  gehören.  Nach  der  sonstigen  Sprach- 
statistik werden  beide  Dialoge  chronologisch  gewöhnlich  vor  den 
Sophist  und  hinter  den  Theaetet  gesetzt.  Für  unseren  Kleitophon 
ergibt  das  also  wiederum  eine  erfreuliche  Bestätigung  unserer  früheren, 
stets  unabhängig  voneinander  gewonnenen  Resultate !  (Vgl.  oben  S.  473). 

Nr.  7,  d.  h.  die  gewöhnlichste  Form  des  tragischen  Dochmius, 
erscheint  zuerst  S.  406  in  den  aus  dem  Sinne  des  gekränkten 
.Sokrates'   (und  daher  auch  mit  Paronomasie)  gesprochenen  Worten 

Kleitophons:    .  .  .    Iva    rjzzov    (is    rjyy    .tqoc    oh    <pavlcoq    tytiv. 
Wir  hören  so  den  Alten  gleichsam  auf  der  tragischen  Bühne  rufen: 


„0  schmerzvolles  Leid,  <du  Abtrünniger,   der  du  mir  ehedem  nahe- 

standest,  rcr  3TQÖq>5b)  (ie  (pavkfog  r/eic!  Daß  wir  die  Tendenz 
des  Verfassers  verstanden  und  damit  die  Stelle  richtig  interpretiert 
haben,    zeigt    gleich    der    zweite    derartige    Fall    S.  407  a :     v'jöjn q 

sxl  ^///«jv/c  TQayixij g  #toe  vfiveig  "kkycav.  Hier  greifen  wir  die 
Absicht  mit  Händen.  Die  dritte  Stelle  enthält  (407  d)  ebenfalls  tief- 
traurige Klagen  dieses  tragischen  Gottes  über  das  entsetzliche  Leid 


55)  Dieser  Sokr.  singt  ja  nach  Kleit.    Vgl.  den  rhythmischen  Anfang: 

— o  ttoT  (fioscd~'  wvd-oionot, 

-w xdyrosix'  ovöev  xwv 

^ c  dtdrTiov  TToÜTTorrsg 

-  «  -  o'irweg 

-  ^  -  %orj(AÜTiov  usw.  Vgl.  ferner  die  dichterische  Krasis,  die 
gleichfalls  dichter.  Umstellung  der  Präpos.  in  ,/isv  niot  xrji>'  sowie  die 
völlige  Diaerese  nach  jedem  Metrum  und  den  Schluß  des  ersten  Satzes: 

_  ±  v  ^  i  (vqCgxits  rrjg 

w  _  v>  s,  i  dixaiocvvrjc.  Vortrefflich  stimmt  dazu  sowohl  die  bis  auf 
eine  Silbe  ausgerechnete  Symmetrie  im  Anfange  des  Aias  des  Antisthenes 
wie  auch  das   rhythm.  Geklingel   derselben  Schrift.     Vgl.  z.  B.    die  Worte: 

'Ey(x>   jjtv   ovv   w-^- 

vfiXv  leyiü  ^    ^  - 

TÖlc  otdiv  ei-   o  -  v,  - 

doGiv  xonulc  ^-^-  usw.  Dergleichen  Kunstmittel  galten  Plato 
mit  Recht  als  ,7tqu  trjg  Ti%vr\g  druyxula  ftuS-r^uTu' ,  die  ihm  nicht  ge- 
nügten, ,tüoie  äycuviCirjv  (!)  riXeov  yivicftai'.     (Phaedros  p.  267  c  ff.) 


476  Heinrich   Brünnecke, 

und  Unglück  (zoöovtov  xaxov)  der  in  ihrem  törichten  Frevel- 
mute sich  gegenseitig  das  Ärgste  antuenden  Menschen  (ra  Icyaxa 
6qc5giv  xal  jrdöxovöiv).  Er  fragt:  wie  kann  jemand  nur  so  sündigen? 
fizrcov  .  .  .,  (pare,  rüv  Jjöoväv1.56)  Auch  die  vierte  Stelle  (410  c) 
ist  ähnlicher  Art.  Kleitophon  bekennt:  xalcog51)  avzt)r  kpca>(iux^eig. 
Flehend  (410  e),  ja  fast  klagend  ruft  der  trotzdem  so  schnöde  an  der 
Erlangung    der  Evöaipovia    gehinderte  Hörer  aus:    oi<    ///}r    ro   yt 

IffOV    OVTCOQ    E%81  ! 

Interessant  ist  auch  das  häufige  Auftreten  des  von  Plato  ge- 
miedenen 8.   Schlusses  (- -).      Er    erscheint    407  d,  e    zweimal 

in  der  Rede  des  Gegners,  409  e  mit  ausdrücklichem  fiyrjösv',  410  d 
wiederum  in  Worten  des  G  e  g n  e  rs .  Auf  weitere  Einzelbesprechung 
der  verschiedenen  durch  ebenso  verschiedene  Beweggründe  zu  erklären- 
den Fälle  müssen  wir  hier  im  Interesse  der  Kürze  verzichten  und  uns 
nunmehr  dazu  wenden,  den  Gebrauch  der  für  Piatons  schriftstellerische 
Entwicklung  charakteristischsten  Partikeln  unter  Benutzung  der 
sprach  statistischen  Untersuchungen  C.  Ritters  zu  registrieren  und 
die  sich  aus  diesem  ergebenden  chronologischen  Folgerungen  mit 
unseren  bisherigen  Ergebnissen  zu  vergleichen.  Für  den  alten  Plato 
ist  nun  bekanntlich  eine  der  bezeichnendsten  Partikeln  xafrdjrtQ, 
denn  in  den  früheren  Dialogen  überwog  bei  weitem  cÖöjtbq.  So 
stehen  in  der  Republik  58)  zwölfmahgem  ojöjuq  nur  sechs  Fälle  von 
xafrdjiEQ  gegenüber;  im  Soph.  ist  das  Verhältnis  schon  9  ojöjtsq: 
14  xa&ajzsQ,  im  Polit,  16  :  34,  im  Phileb.  9  :  27,  im  Tim.  10  :  18. 
im  Krit.  2  :  5,  in  den  Leges  24  :  148 ! 

Vergleichen  wir  damit  die  drei  Fälle  von  coojtsq  und  vier  xafrajreQ 
des  Kleitophon,  so  stellt  sich  zu  unserer  Überraschung  mit  Sicher- 
heit heraus,  daß  unser  Dialog  nach  der  Republik,  aber 
vor  dem  Sophist  abgefaßt  ist,  wozu  auch  alle  früheren 
sachlichen  wie  sprachlichen  Indizien  aufs  beste  stimmen!  Ritter 
glaubte  noch  allein  aus  diesem  Grunde  unseren  Dialog  für  unplatonisch 
erklären  zu  müssen!  Weiter  beobachtete  Schanz  (Entwicklung  des 
platonischen  Stils,  Hermes  21),  daß  ovrcog  <für  xm  oW/>  sich  erst 
von  Republik  V  an  finde.    Wir  konstatieren  somit  —  wenn  wir  den 

56)  Im  Drama  Worte  des  Chors  oder  eines  Volksvertreters. 

57)  Am  Schlüsse!  Im  Anfange  hieß  es:  ,fioi  IdoxHC  xciXliGra  Xtyeiv, 
üTtüTe  wgtvsq  ini  fii]xavrjg  TQuyixrjc  (s.  o.)  &eög  vfjvsic.f 

58)  Im  allgemeinen  von  Plato  in  der  Blüte  des  Mannesalters  entworfen 


Kleitopbon  wider  Sokrates.  477 

Staat  als  Ganzes  betrachten  —  auf  den  beinahe  300  Seiten  der  Ste- 
phanusausgabe  neunmaliges  ovtcoc,  dagegen  auf  den  kaum  5  Seiten 
des  Kleitophon  einmaliges,  d.  h.  es  findet  sich  bereits  fast  siebenmal 
so  oft  im  Kleitophon  wie  in  der  Republik !  Dazu  kommt  ergänzend  die 
Verwendung  von  dlrfd-ojg  unter  andern  Partikeln.  Wieder  konstatieren 
wir  schlagende  Übereinstimmung  mit  unseren  übrigen  Resultaten 
und  erhalten  damit  unter  Berücksichtigung  des  ersten  Teiles  unserer 
Untersuchung  im  direkten  Gegensatz  zu  den  oben  genannten  Forschern 
von  neuem  ein  entscheidendes  Moment  für  die  Echtheit  des  viel- 
geschmähten Kleitophon. 

Damit  hat  sich  aber  auch  die  außerordentliche  Bedeutung  unseres  ßik;k^![£.k"I,d 
bisher  mit  dem  1.  und  2.  Alcibiades  sowie  mit  dem  Theages  59)  auf 
eine  Stufe  gestellten  ,Dialoges'  nicht  nur  für  die  Beurteilung  der 
antisthenischen  Schriftstellerei,  sondern  auch  für  die  Aufhellung 
der  menschlichen  Geistesentwicklung  überhaupt  unzweifelhaft  her- 
ausgestellt. 

Wir  verdanken  ihm  z.  B.  die  Erkenntnis  des  wahren  Ursprungs 
der  Diatribe.  Wäre  diese  tatsächlich  ein  entarteter  Dialog,  wie  es 
auf  den  ersten  Blick  scheinen  könnte,  so  müßte  dieser  in  der  Tat 
recht  früh  entartet  sein  60).  Wir  sahen  demgegenüber,  wie  sie  bei 
dem  im  Kleitophon  angegriffenen  Heiligen  der  späteren  Kyniker  und 
Stoiker,  unserem  alten  Pseudosokrates,  auf  durchaus  sophistiseh- 
rhetorischer  Grundlage  beruht,  denn  jener  leibhaftige  Sophist  und 
RhetOP,  der  —  und  das  ist  gewiß  nicht  zufällig  —  zuerst  in  seinen 
Reden  61)  derartige  Einwürfe  gemacht  und  selbst  beantwortet  haben 
soll,  wird  dem  Philosophen,  der  ursprünglich  ebenfalls  Sophist  und 
Redner  war,  und  der  diese  Manier  später  beibehielt  und  sie  für  den 
ethischen  Populärvortrag  üblich  machte,  als  vollwertiger  gegen- 
übergestellt. Wären  diese  Zwischenfragen  der  Rest  eines  ursprüng- 
lich  sokratischen  Dialoges,   so   müßten   wir   wenigstens  einen  Rest 


59)  Für  die  wir  nach  der  gewöhnlichen  Anschauung  herzlich  gern  etwas 
Besseres  hätten,  die  sich  jedoch  durch  meinen  Untersuchungen  über  den  2.  Alcib. 
(De  Alcib.  II,  qui  fertur  Piatonis,  Dissert.  Gotting.  1912)  als  sehr  wichtig 
für  die  Erkenntnis  der  alten  Akad.  nach  Piatons  Tode  erwiesen  haben. 

6")  Denn  die  Schrift  erwies  sich  nicht,  wie  Paulu  wähnte,  als  in  nach- 
aristotelischer Zeit  von  einem  unbekannten  Peripatetikcr,  sondern  als 
(um  375 — 365  etwa)  aus  der  Feder  des  akademischen  Meisters  selbst  stammend. 

61)  Und  zwar  gerichtlichen !  Hier  ist  jede  Möglichkeit  eines  »Dialoges' 
ausgeschlossen ! 


478  Heinrich    Brünnecke, 

von  Dialektik  bzw.  eine  , entartete'  sokratische  Dialektik  im  Pro- 
trepticus  dieses  alten  somatischen  Narren  entdecken.  Diese  wird 
ihm  aber  gerade  schon  von  seinem  eigenen  genialen  Zeitgenossen 
völlig  abgesprochen  und  die  ganze  Tätigkeit  dieses  ,Sokrates'  als 
auf  bloße  rhetorische  Effekthascherei  berechnet  unter  Beibringung 
unantastbaren  Beweismaterials  dargetan.  Also  bereits  im  Altertum 
mußte  eine  Erklärung  der  für  die  spätere  Diatribe  charakteristischen 
Besonderheiten  nicht  eine  ursprünglich  dialogische,  sondern  rhetorische 
Natur  derselben  erweisen  62). 


62)  Damit  sind  zugleich  die  auf  einer  Studienreise  beim  Anhören  der 
Reden  im  Hydepark  zu  London  gewonnenen  ähnlichen  Ansichten  meines 
hochverehrten  akademischen  Lehrers,  Herrn  Prof.  Dr.  M.  Pohlenz,    voll  be- 


stätigt. 


XXV. 

The  Logic  of  Antisthenes, 

By 
C.  M.  Gillespie,  Professor.  University  of  Leeds. 

1.  Our  primary  authorities  for  the  peculiar  views  of  Antisthenes 
on  predication  are  the  following  passages  in  Aristotle,  to  which  I 
will  refer  as  A  B  and  C: 

A.  Topics  104  b  21.  d-sOig  de  tonv  vjioXrjtptg  naoado^og  röiv 
yvwQificov  Tivog  xaxd  (ftXoooqiav,  oiov  ön  ovx  eoxiv  dvTiXiyEiv, 
xa.d-a.3iEQ   l<f)i   'Avtiö&evtjq,    tj  ort  Jiävra  xivelzai  kati-'  'HgdxXsi- 

rov,  x.  r.  X. 

B.  Metaphysics  1024  b  27—34.  Xoyog  dt  ip£v6/)g  6  vmv  fit 
ovrcov  ii  fsvö/jg.  öio  Jtäg  Xoyog  ipsvörjg  trtoov  //  ov  tOtiv 
dXrjdrfg,  oiov  6  rov  xvxXov  ipEvöqg  roiyojvov.  sxdözov  de  Xoyog 
ton  fisv  tog  big,  6  rov  vi  ))v  strai,  eözc  6'  cag  jioXXoi,  IjieI 
zavzo  Jicog  avzo  xal  avzo  Tcejcov&og,  oiov  2o3xgdz?jg  xai 
JJcoxodzrjg  fiovöixog.  6  de  ipEvdrjg  Xoyog  ovösvog  loziv  ccjiXcoq 
Xoyog.  öio  Uvziöd-evTjg  msxo  Evrjd-cog  iitjÖEV  d^icov  XsyEÖ&ai  jiXt)v 
rot  olxelcp  loyca  Iv  i<f  Evog  '  Ig  rov  övvsßaive.  kUTj  Eivai  dvzi- 
Xiysiv,  Oytdov  Öt  (irjös  iptvÖEOiha. 

The  Oxford  translators  render  thus:  "A  false  coneeption  is 
the  coneeption  of  non-existent  objeets,  so  far  as  it  is  false.  Hence 
every  coneeption  is  false  when  applied  to  something  other  than  that 
of  which  it  is  true,  e.  g.  the  coneeption  of  a  circle  is  false  when  appüed 
to  a  triangle.  In  a  sense  there  is  one  coneeption  of  each  thing,  i.  e. 
the  coneeption  of  its  essence,  but  in  a  sense  there  are  many,  since 
the  thing  itself  and  the  thing  itself  modified  in  a  certain  way  are 
somehow  the  same,  e.  g.  Socrates  and  nmsical  Socrates.  The  false 
coneeption  is  not  the  coneeption  of  anything,  except  in  a  qualified 
sense.     Hence  Antisthenes  foolishly  claimed  that  nothing  could  be 


480  C.  M.  Gillespie, 

described  except  by  its  own  conception,  —  one  predicate  to  one  sub- 
ject;  from  which  it  followed  that  there  could  be  no  contradiction, 
and  almost  that  there  could  be  no  error."  "Conception"  is  too  psycho- 
logical  a  word  for  Xoyog  here;  loyog  means  a  form  of  words  or 
"formula",  as  it  is  rendered  by  the  Oxford  translators  in  book  VII  and 
elsewhere:  as  we  shall  see,  Antisthenes  did  not  distinguish  between 
a  conception  and  the  language  in  which  it  is  expressed  and  always 
thought  of  it  in  terms  of  the  language. 

C.  Metaphysics  1043  b  24.  coöxs  t)  äjiooia,  rjv  oi  'Avti- 
öd-trtioi  xai  oi  ovxmg  äjialdavxoi  ?>jji6qovv,  l^u  rivd  xcuqov,  oxi 
ovx  loti  xb  xl  löxiv  öoiöacjfrai '  xbr  yaQ  oqov  löyov  tivai 
[<axo6v '  äMa  jtolov  fitv  xl  iortv  Ivöiieöd-cu  xal  öiöat-ai,  Scjjtiq 
doyvQov,  rl  [dv  iöziv,  ov,  oxi  de  olov  xarriceQog. 

In  the  Oxford  version:  "Therefore  the  difficulty  which  was 
raised  by  the  school  of  Antisthenes  and  other  such  uneducated  people 
has  a  certain  appropriateness.  They  stated  that  the  "what"  cannot 
be  defined  (for  the  definition  so  called  is  a  "long  formula");  but  of 
what  s  o  r  t  a  thing,  e.  g.  silver,  is,  they  thought  it  possible  to  explain, 
not  saying  what  it  is  but  that  it  is  like  tin."  x) 

These  passages  establish: 

(1)  That  the  paradox  ovx  lönv  dvxiltyuv  was  specially 
associated  with  the  name  of  Antisthenes. 

(2)  An  intimate  connexion  between  this  paradox  and  two  others, 
viz:  (a)  that  only  its  oixeiog  Xoyog  may  be  predicated  of  any 
object,  a  principle  that  can  be  described  as  the  one-to-one  relation 
of  thing  and  loyog  (sign):  (b)  that  ipsvdeö&cu  is  impossible  in  some 
sense  or  another. 

(3)  Passage  (B)  seems  to  point  to  a  triple  distinction  of  formulae 
in  respect  of  their  truth  and  falsehood:  (a)  true  as  applied  to  the 
right  object,  (b)  false  as  applied  to  the  wrong  object,  (c)  unmeaning 
as  containing  an  inner  contradiction. 

(4)  (C)  shows  that  Antisthenes  interested  himself  in  the  logic 
of  definition,  and  held  distinctive  views  on  the  subject. 


x)  The  examples  of  tin  and  silver,  homogeneous  substances,  seem  to 
show,  if  we  compare  T  h  e  a  e  t  e  t  u  s  202  A,  that  Antisthenes  held  all  definition 
to  be  incomplete  as  ultimately  employing  indefinable  terms. 


The  Logic  of  Antisthenes.  481 

2.  Similar  doctrines  are  alluded  to  in  various  passages  in  the 
writings  of  Isocrates  and  Plato,  which,  following  the  majority  of 
scholars,  I  believe  to  refer  to  Antisthenes,  though  he  is  not  mentioned 
by  name  2).  The  füll  justification  of  this  view  falls  outside  the  scope 
of  this  paper,  as  it  would  involve  a  complete  statement  of  my  reasons 
for  dissenting  from  the  principles  reeently  laid  down  by  Professors 
Burnet  and  Taylor  for  the  Interpretation  of  the  Piatonic  dialogues. 
I  will  content  myself,  therefore,  with  pointing  out  the  close  inter- 
correspondence  of  the  passages  with  each  other  and  with  the  Aristo- 
telian  authorities.  Even  if  the  reference  to  Antisthenes  himself  cannot 
be  proved  in  every  case,  the  intimate  connexion  of  the  doctrines 
may  serve  to  explain  the  position  of  Antisthenes  as  described  by 
Aristotle. 

Isocrates,  Helena  (10.  1)  contains  the  following  sentence: 
xaTcc/ty/jOir/uioi)'  oi  fikv  ov  rfcioxoi'Tag  oiov  t'  elvai  ip8iÖ?j  XsyEiv 
ovo'  ävTiZeysiv  ovds  övco  löyco  jttQi  rmv  avrcöv  jcgayfidrojv 
dvreucslv  /..  r.  /.:  here  we  have  the  three  paradoxes  of  (B)  con- 
joined,  viz:  the  denial  of  contradiction  and  of  falsehood,  and  the 
one-to-one  relation  of  Aoyoc  and  thing.  The  context  shows  that 
Isocrates  is  alluding  to  a  contemporary ;  the  Helena  was  an  early 
work  (Blass,  Attische  Beredsamkeit,  IL  244);  hence  there  is  every 
reason  to  suppose  that  the  reference  is.  to  Antisthenes. 

In  four  dialogues  of  Plato,  C  r  a  t  y  1  u  s  (429  A  ff.),  E  u  t  h  y  - 
d  e  m  u  s  (283  E,  285  E),  T  h  e  a  e  t  e  t  u  s  (201 D  ff.),'  So  p  h  i  s  t  e  s 
(251  A  B),  doctrines  similar  to  those  attributed  by  Aristotle  to  Anti- 
sthenes make  their  appearance  in  close  connexion  with  the  main 
themes  of  the  dialogues.  In  Theaetetus  they  are  reported  by 
Socrates  as  the  actual  views  of  others;  so  also  by  the  Eleatic  stranger 
in  Sophistes.  In  the  other  passages  they  are  advanced  by 
characters  in  the  dialogues,  Euthydemus,  Dionysodorus  and  Cra- 
tylus  3). 


2)  Xatorp's  article  on  Antisthenes  in  Pauly-Wissowa's  Real-Encyclo- 
paedie  contains  a  list  of  the  Piatonic  passages  which  have  been  thought  to 
refer  to  Antisthenes,  with  the  names  of  the  scholars  who  have  written  for 
and  against  the  supposed  references. 

3)  The  qviestion  whether  characters  in  the  Piatonic  dialogues  are  "masks" 
for  contemporaries  of  Plato  must  be  determined  in  connexion  with  the  literary 
Conventions    of  the  time.     If  the  dialogues  are  largely  polemical,  and  if  we 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVI.  4.  32 


4S2  G.  M.   G  i  1 1  e  s  p  i  e  , 

a)  Sophistes  251  A  B  refers  to  the  "old  men  late-learned" 
who  will  not  allow  many  names  to  be  applied  to  one  and  the 
same  thing:  you  may  call  good  good  and  man  man,  bnt  yon  must 
not  call  man  good. 

(1)  This  is  the  principle  of  "one  thing,  one  name'*  with  an  obvious 
hkeness  to  the  principle  of  "one  thing,  one  loyog"  of  (B).  A  connexion 
between  the  two  is  found  in  C  r  a  t  y  1  n  s  433  DE,  where  Socrates 
appeals  to  Cratylus  to  allow  the  applieation  to  things  both  of  names 
and  of  /.oyot  which  do  not  strictly  belong  to  them  (//>}  jcooGqxovra). 
The  gronnd  of  the  connexion  appears  in  (C)  and  in  T  h  e  a  e  t  e  t  n  s 
202  B;  in(C)  the  defmition  is  a  (laxgdg  /.o/o-,  i.  e.  a  Compound  name; 
in  Theaetetns  1.  c.  simple  things  can  be  named  by  their  own 
names,  Compound  things  by  their  own  Xoyoi,  which  are  merely 
Compound  names  (ovofidvcov  ydg  övfiJijLoxrjv  slvcu  Xoyov  ovciav)- 

(2)  There  seem  to  be  verbal  reminiscences  of  Isocrates, 
Helena,  certainly  earlier  than  Sophistes:  the  word  ysQovöi 
suggests  the  xarayEyrjQaxaoiv  of  the  Isocratean  passage,  and  the 
dipifidd-EöL,  the  tlq  Igtiv  ovrmq  dipifiadyg  as  not  to  know  that  such 
paradoxes  are  no  new  thing. 

(3)  The  Eleatic  stranger  points  out  in  252  C  that  the  supporters 
of  the  paradox  have  to  describe  the  separate  things  as  separate  by 
many  words  applicable  to  other  things  also,  viz:  slvai  /wo):  rför 
dXXmv  7cad?  avro;  these  words  are  patently  quo t  ed.  A  connexion 
is  thus  established  with  (I)  the  paradox  ovx  toxi  ireid&oß-ai  of 
Euthydemus  283  E,  where  the  same  words  occur  (Xiysi  avro. .  .  . 
tr  io)v  xäxeivo  7'  torir  vmv  ovtmv,  xmQiq  zan>  c./.'/.cjy):  and  (II)  the 
theoiT  of  knowledse  discussed  in  Theaetetus  201  E  ff.,  which 
f orbids  the  inclusion  of  words  like  this  and  that  in  the  scientific 
proposition,  on  the  ground  that  they  are  common  to  all  things. 

(4)  The  passage  occurs  at  the  very  end  of  a  historical  survey 
of  the  problem  of  Being  in  Greek  thought;  the  views  of  the  tpvöcxoi 


can  suppose  a  Convention  not  to  introduce  living  opponents  by  name,  the 
principle  of  the  "masku  seems  to  follow  at  once.  But  its  applieation  to  any 
given  clialogue  must  depend  on  the  form  and  purpose  of  the  dialogne  itself. 
If  the  work  is  obviously  polemical,  and  directed  against  contemporary  views, 
asEuthydemus  and  Cratylus  seem  to  be,  it  is  reasonable  to  suppose 
that  prominent  contemporaries  are  concealed  under  the  "masku  of  less  im- 
portant  persons. 


The  Logic  of  Antisthenes.  483 

are  first  discussed  under  the  question  whether  Being  (ro  ov)  is  one 
or  many:  then  follows  the  metaphysical  debate  of  a  later  time  aa 
to  the  nature  of  Being  (ovöia),  described  as  the  battle  of  the 
giants;  and  finally  the  logical  problem  of  predication,  which 
certainly  eame  to  a  head  eomparatively  late.  Hence  we  must  suppose 
that  Plato  is  ref erring  to  a  eontemporary. 

b)  The  well-known  passage  Theaetetus  201  C  ff.  dealing 
with  the  suggested  definition  of  knowledge  as  oQ&yj  tfo'ga  (isrä  Xoyov 
has  usually  been  taken  as  referring  to  Antisthenes.  The  evidence 
may  be  thus  put: 

( 1 )  The  account  eomes  at  the  encl  of  a  survey  of  the  problem 
of  knowledge  treated  in  a  fundamentally  historieal  order.  The  first 
section,  on  the  proposed  identification  of  knowledge  with  Sensation, 
deals  with  the  treatment  of  the  subject  froni  the  psycho-physieal 
Standpoint  of  the  qpvdixoi;  some  of  the  details  may  be  late,  but  the 
attitude  of  thought  examined  is  as  a  whole  earlv.  The  seeond  section 
in  which  knowledge  is  provisionally  defined  in  terms  of  dod-rj  doga 
moves  in  the  circle  of  dialectical  ideas,  and  the  modified  definition 
as  oothj  66§a  fisra  Xoyov  discussed  in  the  last  section  seems  to 
contain  a  Socratic  Version  of  the  distinction  between  kxu$rs/ifi 
and  66^a,  so  that  some  member  of  a  Socratic  school  may  well  be 
intended. 

(2)  The  detailed  account  of  the  theory  is  füll  of  verbal  corre- 
spondences  with  the  other  passages  of  Plato  and  Aristotle.  Thus 
c.vti)  y.e.tV  cito  ty.aOTor  ovofidüai  (tovov  tii,  (201  El,  and  the 
exclusion  of  avro,  exsivo,  exaörov,  fiovov,  tolto.  and  aXla  jcoXXd 
zocavra  because  ''they  run  about  and  attach  themselves  to  other 
things"  (202  A),  together  with  the  difficulties  about  hmv  and  ovx 
tOTu:  bring  the  passage  into  dose  relation  with  Sophistes 
251  A  ff.  The  mention  of  the  oixeioq  Xoyoq  tallies  with  (B)  and 
with  Cratylu  s;  the  doctrine  that  simples  can  only  be  named  and 
not  defined,  because  ovour.Tor  avfHcXoxrjv  drei  Xoyov  ovöiav  is 
not  only  in  agreement  with  (C),  but  implies  a  special  view  of  the 
relation  between  ovopa  and  Xoyoq. 

(3)  These  cross-correspondences  suggest  that  Plato  is  here 
examining  the  view  of  some  prominent  eontemporary,  established 
as  Antisthenes  by  the  Aristotelian  evidence.  The  internal  evidence 
of  the  passage  seems  to  preclude  Prof.  Taylor's  view  that  Plato  is 

A2* 


484  C.  M.  Gilles pi-e, 

only  criticising  a  general  tendency.  The  account  is  too  detailed.  It 
is  throughout  in  oratio  obliqua.  The  statement  of  Socrates  that  he 
is  recounting  a  dieam  seems  to  be  a  de  vice  to  smooth  away  a  glaring 
anachronism . 

c)  In  Eutliydemus  283  E  Euthydemus  propoünds  the 
paradox  that  falsehood  is  impossible;  after  a  short  interval,  occupied 
by  puzzles  out  of  the  eristic  stock  in  trade,  Dionysodorus  takes  up 
the  principle  to  //;}  ov  ovöslg  Xiyel  reached  by  Euthydemus,  and 
advances  the  paradox  that  contradiction  (ävriliyslv)  is  impossible, 
based  on  the  one-to-one  relation  of  /070c  and  ngayfia.  Thus  we 
have  the  triple  collocation  already  found  in  Aristotle  and  Isocrates. 
We  have  already  seen  a  special  verbal  connexion  between  284  A  and 
S  0  p  h  i  s  t  e  s  252  C. 

Both  from  internal  evidence  and  from  its  relation  to  the 
Sophistici  E  1  e  n  c  h  i  of  Aristotle  the  E  u  t  h  y  d  e  111  u  s 
appears  to  be  a  parody  of  the  methods  of  contemporary  eristics; 
we  must  suppose  that  it  collects  together  examples  from  the  practice 
of  the  small  fry  among  them  and  of  the  great;  as  Antisthenes  was 
one  of  the  great,  we  need  not  hesitate  to  find  references  to  him  in 
cases  where  there  is  good  independent  evidence. 

d)  In  C  r  a  t  y  1  u  s  429  B  ff.  the  triple  division  of  formulae  into 
true  false  and  unmeaning  appears,  applied  to  names.  Every  name, 
if  it  is  a  name,  has  its  object  (6q&(Üq  xtirai):  this  is  the  one-to-one 
relation  of  thing  and  name  (Sophistes  251  A)  in  another  form : 
it  may  be  wrongly  applied:  and,  thirdly,  a  Compound  name  is  unmeaning 
if  it  has  no  real  object  (429  E).  But  Cratylus  will  not  say  that  a  name 
can  be  f  a  1  s  e  1  y  applied;  it  may  be  applied  to  a  wrong  object,  but 
it  cannot  be  false,  because  to  firj  r«  ovtcl  Hyeiv  is  impossible:  this 
is  the  argument  of  Euthydemus  283  E.  And  the  reference  to 
the  oixeioc  Xoyoa  doctrine  underlying  the  various  positions  of 
Cratylus  is  made  explicit  in  432  E,  where  Socrates  appeals  to  Cratylus 
to  recognize  that  letters  and  names  and  formulae  //>}  xqoöijxovta 
Toig  jiQccyfiaotv  are  legitimately  used. 

That  Cratylus  Stands  for  Antisthenes  in  this  dialogue  was  first 
suggested  by  Schleiermacher.  Dümmler  supposed  that  the  work  as 
a  whole  was  directed  against  Antisthenes,  and  made  great  use  of 
it,  especially  of  the  intermediate  section  on  etymologies,  in  recon- 
structing  the  general  System  of  the  Cynic  leader.    This  view  I  regard 


The  Logic  of  Antisthenes.  485 

as  imtenable,  but  see  strong  reasons  for  ascribing  to  Antisthenes 
the  positions  defended  by  Cratylus  in  the  last  section  of  the  dialogue 
(428  B-end).    For 

(1)  Cratylus  never  niakes  concessions;  he  does  not  eome  to  an 
agreement  with  Socrates  after  the  discussion.  He  appears  to  assent 
to  the  criticisms  of  Socrates,  but  immediately  puts  forward  a  new 
Statement  which  cancels  the  admissions  previously  made.  His  different 
Statements  all  hang  together  as  a  complete  scheme.  The  natural 
inference  is  that  Plato  is  here  examining  a  complete  theory  of  the 
meaning  of  names  held  by  some  real  person. 

(2)  This  real  person  must  be  a  contemporary.  A  note  of  personal 
appeal  is  Struck  by  Socrates  throughout  his  conversation  with  Cratylus, 
and  is  specially  marked  in  the  passage  432  E  already  referred  to. 
The  impression  on  the  reader  is  that  Socrates  here  Stands  for  the 
living  writer  and  Cratylus  for  a  living  Opponent. 

(3)  The  correspondences  in  the  matter  of  Cratylus'  doctrines 
with  our  other  passages  provides  the  last  link  in  the  chain,  showing 
that  the  contemporary  is  Antisthenes. 

The  final  result  of  our  investigation  is  that  all  the  passages  cited 
from  Plato  may  be  used  as  material  for  the  reconstruction  of  the 
logic  of  Antisthenes. 

3.  It  might  appear  at  first  sight  that  the  paradoxes  of  Antisthenes, 
with  their  doubts  on  the  possibility  of  contradiction  and  falsehood, 
are  to  be  connected  with  the  Heraclitean  relativism  and  especially 
with  the  Protagorean  subjectivism  so  often  alluded  to  in  the  Piatonic 
dialogues  as  prevailing  modes  of  thought.  Many  modern  critics  have 
adopted  this  view,  treating  the  paradoxes  as  developments  from  the 
subjectivism  of  Protagoras,  which  both  Plato  and  Aristotle  regard 
as  denying  the  possibility  of  falsehood.  Thus  Natorp  (Forschungen 
zur  Geschichte  des  Erkenntnisproblems,  p.  18)  explains  the  position 
of  Antisthenes  in  the  words  "denn  eines  jeden  Aussage  beziehe  sich 
auf  seine  Vorstellung,  jede  Vorstellung  aber  sei  als  solche  wahr  und 
gültig  für  den,  wer  sie  hat".  Maier  (Die  Syllogistik  des  Aristoteles, 
IL  14)  follows  closely.  Apelt  (Beiträge  zur  Geschichte  der  griechischen 
Philosophie,  p.  204  ff.)  holds  that  Antisthenes  Starts  from  the  W  Iötlv 
of  Socrätie  inquiry,  and  rightly  denies  that  the  essence  of  a  thing 
can  be  determined  by  anything  outside  it.     But  as  concepts  cannot 


486  C.  M.   Gilles  pie, 

be  strictly  defined,  in  arguing  each  man  starts  from  his  own  idea  of 
an  object;  hence  there  is  no  contradiction,  and  we  come  round  to 
the  subjectivity  of  all  knowledge  (p.  206  n).  In  other  words,  Antisthenes 
finds  the  Socratic  method  a  failure  and  falls  back  on  the  subjectivism 
of  Protagoras. 

This  view  I  believe  to  be  fundamentally  erroneous.  In  faet, 
the  Cynic  theory  of  knowledge  seems  to  be  in  thoroughgoing  Opposition 
to  the  subjectivism  of  the  h  o  m  o  mensura  and  to  extreme 
Heracliteanism. 

a)  The  Theaetetus  clearly  separates  them.  The  Protagorean 
and  Heraclitean  principles  are  discussed  in  one  part  of  the  dialogue, 
the  Cynic  doctrines  in  another.  In  treating  the  former  under  the 
suggested  definition  of  knowledge  as  sense-perception,  Plato  evidently 
regards  them  as  touching  only  the  outer  conditions  of  knowledge; 
but  the  Cynic  theory  approaches  the  question  more  from  the  inside, 
as  it  attempts  to  analyze  the  judgement  (dot-a).  Moreover,  the 
theory  expounded  in  201  E  ff.  obviously  implies  a  sharp  contrast 
between  populär  and  scientific  knowledge.  The  section  is  introduced 
by  Socrates  remarking  that  persuasion  is  not  the  same  as  scientific 
proof  (201  A),  a  remark  that  must  govern  all  that  follows.  In  fact 
the  new  definition  of  knowledge  adds  to  doga  the  requirements 
that  it  shall  be  correct  and  accompanied  by  jLoyog.  This  surely  implies 
an  objective  Standard  of  truth  far  removed  from  the  h  o  m  o  mensura 
as  Plato  represents  it.  The  Socratic  xi  icxiv  is  clearly  the  basis. 
Aristotle  in  Metaphysics  IV.  1005  b  35—1011  b  22  defends  the  principle 
of  contradiction  against  those  who  have  impugned  its  validity.  These 
turn  out  to  be  just  the  Protagoreans  and  Heracliteans  of  the 
Theaetetus.  Aristotle  makes  no  reference  to  the  characteristic 
doctrines  of  Antisthenes,  and  with  good  reason,  as  Antisthenes,  far 
from  attacking  the  principle  of  contradiction,  interpreted  it  in  an 
excessively  stringent  fashion. 

b)  The  last  section  of  the  C  r  a  t  y  1  u  s  is  devoted  to  an  examination 
of  the  Cynic  theory  of  knowledge;  the  only  allusion  to  Protagoras 
in  the  dialogue  (385  E  ff.)  dissociates  his  attitude  in  the  sharpest 
manner  from  that  adopted  by  Cratylus.  For  Protagoras  is  mentioned 
in  connexion  with  the  thesis  of  Hermogenes  that  names  are  by  Con- 
vention, whereas  the  Cynic  paradoxes  advanced  by  Cratylus  form 
part  of  his  thesis  that  names  are  by  nature. 


The  Logic  of  Antisthenes.  487 

c)  E u t h y d e m us  286  A  ff.  seems  at  first  sight  to  bring 
Antisthenes  and  Protagoras  into  elose  relation.  Diogenes  (IX.  53) 
eites  the  passage  as  establishing  the  fact  that  Protagoras  was  the 
first  to  ennnciate  the  principle  that  contradiction  is  impossible,  and 
many  modern  critics  f ollow  suit.  In  EuthydemusLc.  Dionyso- 
dorus  has  just  proved  that  one  person  cannot  eontradict  another, 
by  an  argument  which  (B)  shows  to  be  Antisthenean.  Socrates  remarks 
that  he  has  heard  the  same  kind  of  argument  before,  especially  from 
the  Protagoreans ;  for  it  amounts  to  this,  that  falsehood  is  impossible. 
But  on  examination  we  find  that  the  connexion  is  not  really  stated 
to  be  very  close.  It  is  Socrates,  not  Dionysodorus,  who  affinns  the 
ultimate  equivalence  of  the  two  X&yof,  i.  e.  Plato  does  not  imply  that 
the  real  author  of  the  paradox  of  Dionysodorus  asserted  its  connexion 
with  the  paradox  of  Protagoras,  but  rather  that  a  critic  can  see  its 
substantial  sameness.  The  sameness  is  in  the  conclusion,  not  in  the 
premisses;  this  seems  implied  in  the  words  of  Socrates  286  C  aXXo  vi 
ipevöy  Xsysiv  ovx  eötiv ;  tovto  ydo  övvaxai  6  Xoyog.  Plato  is  saying 
"This  new  paradox  of  which  you  are  so  proucl  is  only  an  old  and 
exploded  one  in  a  new  form".  Cf.  Isocrates,  Helena  1.  c.  There 
is  not  a  word  in  the  statement  of  the  paradox  itself  to  support  Katorp's 
subjectivist  Interpretation  of  it  as  meaning  that  each  man's  percepcion 
is  true  for  him. 

d)  The  position  "one  name,  one  thing"  is  prima  facie  in  direct 
contradiction  with  the  well-known  saying  of  Protagoras  that  there 
are  two  Xoyoi  about  every  thing.  Diog.  Laert.  IX.  51  jcgSroq  nprj 
ovo  Xoyovg  sivai  jrt(>l  jicivtoq  JtQciy^uaTOQ  dvrixtif/trovc  äXXijXoig  ' 
olg  xal  OWEQwra,  jrQcörog  tovto  Modt-ac.  Allusions  to  the  same 
saying  are  found  in  Clem.  Strom.  VI.  65,  Seneca,  Ep.  88.  43  (FVS  532), 
Dissoi  Logoi  1  (FVS2  635),  Eurip.  Antiope,  fr.  189.  Xow  the  words 
already  cited  from  Isocrates1  Helena  suggest  that  Antisthenes' 
denial  that  one  man  can  eontradict  another  was  based  on  a  direct 
and  intentional  denial  of  this  saying  of  Protagoras.  Protagoras  argues 
from  the  relativ ity  of  being  and  knowledge  that  a  case  may  be  made 
out  for  each  of  a  pair  of  contradictories ;  Antisthenes  retorts  that  in 
that  case  one  only  or  neither  of  the  disputants  apprehends  the  real 
thing,  so  that  they  cannot  be  talking  about  the  same  thing;  if  they 
apprehended  the  objeet,  they  must  give  the  same  aecount  of  it;  in 
neither  case  can  there  be  contradiction    in  the  proper  sense    (see 


488  C.  M.  Gillespie, 

Euthydemus  286  A). 4)  Antisthenes  characteristically  refutes 
subjectivism  in  knowledge  by  asserting  an  extreme  objectivist  doctrine. 
We  must,  therefore,  look  in  another  direction  for  the.explanation 
of  the  paradoxes.  They  are  primarily  1  o  g  i  c  a  1 ,  connected  with 
the  problem  of  predication,  which  came  into  prominence  at  a  later 
date  than  thehomo  mensura  and  the  scepticism  of  the  Heracli- 
tizers. 

4.  Our  next  step  must  be  to  determine  the  standpoint  from 
which  Antisthenes  regarded  the  logical  proposition.  In  doing  so 
we  must  at  once  dismiss  from  our  minds  the  proposition  as  analyzed 
by  Aristotle  in  his  account  of  the  syllogism.  Here  the  subject  and 
predicate  are  terms,  the  logical  correlatives  of  concepts.  But  this 
abstract  treatment  of  the  proposition  as  concerning  the  mutual 
relations  of  terms  is  an  artificial  one,  presupposing  a  stage  of  logical 
development  at  which  formal  symbols  are  in  regulär  use.  Moreover 
we  must  beware  of  any  Interpretation  which  gives  a  conceptual  basis 
to  the  proposition.  The  naive  understanding  does  not  analyze  the 
proposition  in  this  way,  and  we  must  look  for  a  much  more  primitive 
conception  of  predication.  The  logical  subject  means  what  you  are 
talking  about;  what  you  talk  about  is,  prima  facie,  not  names  or 
terms  or  concepts,  but  things.  And  so  one  primitive  conception  takes 
the  simplest  type  of  proposition  to  be  the  denominative  proposition 
(the  expression  of  the  judgement  of  recognition,  see  Theaetetus 
192  D  ff.),  which  gives  a  name  to  a  real  object,  e.  g.,  "this  is  Socrates" 
(Theaetetus  1.  c);  regarding  the  more  complex  forms  as  giving 
two  or  more  names  to  the  same  subject.5)    We  shallseethat 


4)  I  agree  with  H.  Gomperz,  Sophistik  und  Rhetorik,  pp.  130  ff., 
that  this  saying  of  Protagoras  expresses  the  working  hypothesis  of  rhetoric, 
viz:  that  a  good  case  may  be  made  out  for  thesis  and  antithesis  on  any 
topic.  Antisthenes  replies  that  such  rhetorical  Xöyoi  may  produce  con- 
viction,  but  cannot  establish  truth.  In  the  language  of  the  Theaetetus, 
they  belong  to  dCia,  whereas  scientific  arguments  must  be  based  on 
another  kind  of  löyoc,  the  analytic  definition,  and  no  object  may  be 
correctly  defined  except  in  one   way. 

5)  In  the  psychology  of  the  Graz  school,  the  judgements  of  recognizing 
and  naming  (Benennungsurteile)  occupy  a  prominent  position:  see  Witasek, 
Grundlinien  der  Psychologie,  p.  292.  This  psychology  is  more  realist  in  its 
attitude  than  most  modern  Systems,  in  this  respect  resembling  ancient  thought. 


The  Logic  of  Antisthenes.  489 

all  t  h  e  p  a  s  s  a  g  e  s  w  h  i  c  h  w  e  have  recognize  d  a  s 
referring  t  o  Antisthenes  i  m  p  1  y  t  h  a  t  p  r  e  d  i  - 
c  a  t  i  o  n   i  s   assigning   names   t  o    t  h  i  n  g  s. 

This  appears  from  the  terminology  employed.  In  the  Aristo- 
telian  theory  predication  is  treated  from  three  points  of  view. 
Psyehologically,  the  judgement  is  övv&eöig  vo7\y,axmv  Söjisq  sv  ovtcov 
(de  Anima,  430  a  27):  the  proposition  which  expresses  the  judgement 
is  analyzed  grammatically  into  a  subject  (ovofia)  and  a  predieate 
(gijlia :  see  Aristotle,  de  Interpret.  16  a  19 ff. ;  and  cf.  Plato,  S  o  p  h  i  s  t  e  s 
261  E):  logically,  the  ucgoraöiq  is  a  Zoyog  in  which  one  term  (oqoq)  is 
affirmed  or  denied  of  another  (An.  Pr.  24  a  10  ff.).  In  our  passages 
the  terminology  is  altogether  different.  Four  terms  are  used,  two 
referring  to  the  things  spoken  of,  agäyfia  and  ovöla,  two,  ovotm 
and  Zoyog,  to  the  language  expressing  the  thought  about  them. 
Predication  means  applying  a  name  (övofta)  or  a  form  of  words 
(Xoyog)  to  a  thing  (jcgäyfia).  The  logieal  subject  is  on  this  view  a 
real  thing  and  ovofia  is  not  subject  but  predieate.  There  are  two 
types  of  proposition.  The  first  is  the  simple  denominative  proposition 
"this  is  Socrates",  as  in  T  h  e  a  e  t  e  t  u  s  188  B.  In  the  second  type 
the  complex  "Socrates-white",  i.  e.  the  subject  and  predieate  of  the 
proposition  as  analyzed  by  Aristotle,  is  applied  as  a  predieate  to  the 
real  objeet  (B.  1024  b  31).  This  complex  is  a  Xöyog  6),  treated  as  the 
same  in  kind  with  the  ovofia,  almost  as  a  many-worded  name.  The 
term  (,r/tua  is  not  used,  because  the  predicative  relation  is  regarded 
as  existing  between  the  koyog  as  a  whole  and  the  real  objeet.  Qua 
real,  the  thing  must  have  a  determinate  nature  or  ovöla,  and  the 
formula  which  signifies  this  is  t  h  e  formula  par  excellence,  or  definition. 

a)The  most  cursory  examination  of  Aristotle's  chapter  on  falsehood 
in  Metaphysics  V,  1024  b  17  ff.  (B),  shows  that  he  is  not  treating 
the  question  from  his  own  technical  standpoint.     He  distinguishes 


The  whole  section  of  Witasek's  book  suggests  the  treatrnent  of  thought  in 
the  waxen-tablet  illustration  of  Theaetetus  191  C  ff. 

6)  This  meaning  of  Xöyog  is  II  (1)  in  Bonitz'  Classification,  Ind.  Arist.  433 
b.  21.  The  sense  of  the  verb  Xiyuv  with  which  it  is  most  closely  connected 
is  that  of  "speaking  of,  mentioning"  a  thing:  you  may  either  name  (dvofid&uv) 
the  thing,  or  mention  it  by  a  formula  (loyal  Ityeir).  If  the  verb  oecurs  in 
passages  containing  the  TtQay^u-ovofJta-Hyoq  terminology,  it  generally  has 
this  force:  see,  e.  g.  E  u  t  h  y  d  e  m  u  s    283  E. 


490  C.  M.  Gillespie, 

between  the  falsehood  of  a  jrQäyfia  and  of  a  Xöyoc.  We  are  surprised 
to  find  that  the  class  of  false  objects  contains,  besides  dreams  and 
sketches,  falsehoods  such  as  "the  diagonal  of  a  Square  is  commensurable 
with  the  side",  "you  are  sitting".  Here  jtQäyfta  seems  to  cover  the 
Objektiv  of  Meinong.7)  For  Aristotle  the  judgement  is  ovvd-soig 
vorjfidzcov,  but  in  the  passage  before  us  such  a  synthesis  appears  only 
in  connexion  with  the  false  jtQayfia,  (övyxtiofrat,  GWTs&jjvai 
1024  b  18),  whereas  in  the  account  of  false  X.oyoi  there  is  no  question 
of  any  synthesis  at  all.  A  true  Xoyog  is  false  if  applied  to  the  wrong 
object;  an  intrinsically  false  Xoyoa  has  no  object.  We  find  also  that 
there  is  one  Xoyog  par  excellence  of  each  thing,  which  determines 
what  a  thing  is,  6  tov  rl  >jv  slvac,  while  there  are  other  Xoyoi 
which  include  the  jidß-y  of  the  thing.  Both  definition  and  categorical 
proposition  are  regarded  as  verbal  formulae.  Then  follows  the  statement 
of  Antisthenes'  paradox.  It  is  elear  that  the  writer  is  adopting  the 
same  general  standpoint  as  Antisthenes  himself.  Observe  that  predi- 
cation,  apart  from  the  simple  denominative  proposition,  is  treated 
as  an  extension  of  the  process  of  definition. 

b)  In  S  o  p  h  i  s  t  e  s  251  B  the  supporters  of  the  so-called 
"identical  judgement"  allow  m  a  n  to  be  predicated  of  m  a  n ,  and 
goodofgood,  but  deny  that  g  o  o  d  can  be  predicated  of  m  a  n. 
When  we  examine  Plato's  language  we  see  that  they  are  said  to  reject 
the  application  of  more  than  onename  to  one  thing  (XsyofiEv  ärft-Qcojtov 
üioll'  otto.  EJtovo/.tdyovTeg  251  A,  jioXXoig  ovofiaöi  Uyo[itv  B).  In 
other  words  the  "identical  judgement"  is  not  the  A  i  s  A  of  later 
logic,  in  which  subject  and  predicate  are  both  concepts,  but  the  simple 
denominative  judgement  "this  is  a  man";  the  subject  is  the  jryäyfia 
or  real  object,  the  predicate  is  the  orofia,  and  its  primary  function 
is  to  distinguish  the  object  from  other  objects. 

c)  The  same  language  reappears  in  Theaetetus  201  E  ff. 
The  simple  object  can  have  a  name  {ovofia)  applied  to  it;  the  Com- 
pound object  may  also  have  a  Xoyog  or  Compound  name  (ovo- 
[Laxcov  /«(>  övfjjiXoxi/v  slvcu  Xoyov  ovölav  202  B). 

d)  The  argument  disproving  the  possibility  of  falsehood  in 
Euthydemus  283  E  ff.,  which  I  will  fully  analyze  later,  implies 
two  factors  in  predication,  the  subject-thing  (ro  jcgäyfia  xeqI  ov  dv 


7)  Meinong,  Annahmen 2,  p.  44  ff. 


The  Logic  of  Antisthenes.  491 


- 


(c  X/yog  >/)  and  the  Xoyog  by  which  it  is  determined.  In  like  manner 
the  proof  that  one  man  cannot  contradict  another  in  286  A  turns  on 
the  relation  of  Xoyog  to  jigäy^a. 

e)  The  denial  of  falsehoocl  in  C  r  a  t  y  1  u  s  429  D  appears  in 
connexion  with  the  application  of  names  to  things,  and  throughout 
the  discussion  between  Socrates  and  Cratylus  ovo^ia  and  Xoyog  seem 
to  be  treated  as  the  same  in  kind  (see  especially  432  A). 

As  this  terminology,  with  its  implied  point  of  view,  is  always  used 
in  the  references  to  Antisthenes,  we  may  suppose  that  it  represents 
his  usage.  Bnt  we  may  ask  whether  it  was  peculiar  to  him?  The 
answer  wonkl  appear  to  be  that  the  terminology  i  s  that 
o  f  the  e  a  r  1  y  d  i  a  1  e  e  t  i  c  ,  and  that  Plato  himself  only  gradually 
advanced  from  the  crude  conception  of  predication  nnderlying  it 
to  a  deeper  view.  Throughout  the  Cratylus,  and  not  merely 
in  the  passages  where  Antisthenes  seems  to  be  criticised,  this  termino- 
logy is  found.  The  presupposition  of  the  use  of  names  is  the  existence 
of  jiQayiiata,  the  ovaia  of  which  is  distinguished  or  signified  by  the 
names  (386  E,  388  B).  The  statement  of  Socrates  in  385  B  C,  which 
has  so  troubled  the  commentators,  that  if  a  Xoyog  can  be  false,  then 
an  ovofia,  its  part,  can  also  be  false,  implies  that  Xoyog  and  ovokua 
are  the  same  in  kind. 

a)  The  dialectical  procedure  of  the  time,  as  frequently  illustrated 
in  the  Piatonic  dialogues,  makes  regulär  use  of  the  denominative 
proposition.  The  opening  question  may  be  stated  in  one  of  two  forms, 
either  (e.  g.)  xaXslg  xi  dixacov  or  laxi  xt  dixaior.  The  answer  to  the 
first  form  is  stated  in  what  may  be  called  the  existential  form  of  the 
denominative  judgement:  "I  admit  the  existence  of  sömething  called 
öixawv".  (See  M  e  n  o  75  E,  88  A;  Euthyderaus  276  A; 
Protagoras  332  A,  358  D;  Gorgias  454  C,  464  A,  495  C.) 
The  ovo/ta  and  jcgäyfia  being  thus  determined,  the  next  step  is  to 
settle  directly  or  indirectly  the  Xoyog  of  the  ovaia  or  real  nature  of 
the  thing  called  ölxaiov.  A  common  indirect  method  is  the  inquiry 
whether  it  is  the  same  as  or  different  from  another  thing,  e.  g.  oöiov 
(Gorgias  454  D).  This  is  stereotyped  in  the  Aristotelian  xöjtog 
concerning  sameness  and  difference.  Thus,  to  use  the  terminology 
of  Aristotle,  the  questions  which  dialectic  makes  primary  are  si  löxir 
and  xl  IdTtv,  not  ort  körlv  and  ötoti  loxir  (An.  Post.  IL  1, 
89  a  23). 


492  C.  M.   Gillespie, 

b)  There  are  frequent  examples  in  the  Topics  of  this   earlier 
dialectical  terminology.    The  word  ngäyfia  is  regularly  used  for  the 
subject  of  discussion,  which  is  macle  the  subject  of  discussion  by 
l)eing  named.      Definition,  a  most  important  featnre  of  dialectic, 
means  stating  the  ovota  of  the  thing.   The  word  Xoyog  in  the  Topics 
nsually  signifies,  not  a  notion  or  coneept,  but  a  word-formnla,  sub- 
stituted  by  the  Speaker  for  the  simple  name.   This  idea  of  Substitution 
appears  frequently,  e.  g.  101  b  37  ajrodidoTcu  6h  y  Xoyog  avx1  ovo- 
(larog  //  Xoyog  dvtl  Xoyov:   143  a  25  äw'  ovofiatog  Xoyco  elo7]X(og 
äv  ety  xo  xmoxaxco  ytrog.     Of  course  the  Xoyog  of  definition  is  a 
particular  kind  of  formula,  one  which  gives  the  essence  (101  b  37  et 
pass.),   but   the  word  may  be  used  in  a  wider  sense  to  denote  any 
many-worded  term;   thus  gqJov  tjrtör/jftr/g   Ösxzixov  is  a  Xöyog  of 
är&Qomog  which  may  be  analyzed  into  genus  and  property  (132  b  2). 
In  101  b  37,  cited  above,  the  second  kind  of  definable  things  seems 
to  be  those  denoted  by  a  many-worded  term.    There  is  an  interesting 
passage  in  109  a  10  ff.  where  the  predicate  is  regarded  as  a  na  m e 
of  the  subject:  ton  Öe  yaXhJtoirarov  to  dvTiöTQEysiv  t/)v  «.to  tov 
üvfißeßqxozoQ  oixslav  ovoitaüiav.  3Avtiötqe<pslv  is  not  here  used  in 
the  common  meaning  of  the  convertibility  of  subject  and  predicate  in 
extension.  It  means  that  for  B  vjtaQyu  rcfj  A  you  may  legitimately 
Substitute  A  lor\  B.    Aristotle  states  that  in  the  case  of  definition  and 
genus  you  may  do  so ;  if  animality  belongs  to  man,  you  may  say  that 
man  is  an  animal;  animal  is  a  name  belonging  to  man  himself;  but 
you  cannot  always  do  so  in  the  case  of  white  or  just;  a  man  is  not 
white,  if  whiteness  belongs  to  him  only  in  respect  of  his  teeth  (Alex. 
ad  loc,  p.  132.  31),  and  a  man  may  do  just  actions  without  being  just. 
The  important  point  for  us  is  not  the  doctrine,  but  its  expression: 
oixsiav  ovo/iaöiav  shows  that  the  predicate  is  regarded  as  the  name 
of  the  thing:  Aristotle  has,  in  mind,  no  doubt,  the  eristic  fallacy  of 
Accident,  but  whatever  be  his  purpose,  the  phraseology  is  instructive. 

5.  Assuming,  then,  that  in  the  early  Greek  logic  of  dialectics 
predication  meant  primarily  the  application  of  names  to  things,  let 
us  ask  what  must  have  been  the  general  standpoint  from  which  it 
approached  logical  questions.  Our  inquiry  will  be  greatly  helped  by 
an  examination  of  the  logical  theory  of  Hobbcs,  who,  as  is  well  known, 
held  this  view  of  predication. 


The  Logic  of  Antisthenes.  493 

According  to  Hobbes,  names  are  marks,  i.  e.,  "sensible  things 
taken  at  pleasure  that  by  the  sense  of  them,  such  thoughts  may  be 
recalled  to  our  minds  as  are  like  those  thoughts  for  which  we  took 
them"'  (Logic,  I.  2.  1,  p.  14  Molesworth).  In  respect  of  their  use  in 
the  communication  of  thought,  they  are  signs;  hence  the  definition 
of  a  name  as  "a  word  taken  at  pleasure  to  serve  as  a  mark,  which 
may  raise  in  our  mind  a  thought  like  to  some  thought  we  had  before, 
and  which  being  pronounced  to  others,  may  be  to  them  a  sign  of  what 
thought  the  Speaker  had,  or  had  not  before  his  mind"  (I.  2.  4,  p.  16  M.). 
For  Hobbes  nothing  exists  except  individual  bodies  with  their  powers 
and  sensations  with  their  copies,  ideas  or  thoughts,  which  are  thus 
resolved  into  Visual  and  other  sense-images.  Names  are,  psychically, 
sounds  perceived  or  imagined;  physically  they  are  the  effects  of 
powers  in  the  body  of  the  Speaker  or  thinker.  Predication  is  giving 
two  names  to  one  thing:  "a  proposition  is  a  speech  consisting  of  two 
names  copulated,  by  which  he  that  speaketh  signifies  he  conceives 
the  latter  name  to  be  the  name  of  the  same  thing  whereof  the  former 
is  the  name.*"  (I.  3.  2,  p.  30  M.).  Language  has  various  conventional 
ways  of  signifying  this  connexion;  sometimes  it  uses  the  explicit 
copula  "is",  sometimes  the  verb-inflexion,  and  is  sometimes  content 
with  the  order  of  the  words  (ibid.).  Thus  all  propositions  are  ultimately 
denominative  judgements,  and  the  Standard  categorical  form,  S  i  s  P, 
is  a  double  denominative  judgement,  with  two  names  denoting  or 
applying  to  the  same  object.  From  this  point  of  view  little  distinction 
can  be  drawn  between  grammatical  subject  and  predicate;  both  become 
predicates  of  the  real  thing,  and  this  real  thing  is  the  logical  subject. 
Hobbes  characteristically  bases  the  grammatico-logical  distinction 
on  a  metaphysical  one;  in  the  common  categorical  proposition  the 
subject-term  is  usually  the  name  of  a  thing  as  a  thing  and  the  predicate 
term  the  name  of  the  thing  as  having  an  accident,  i.  e.,  some  power 
of  action  by  which  it  works  on  our  senses  (I.  3.  3,  p.  32 — 33  M.). 

The  logic  of  Hobbes  is  the  syllogistic  of  Aristotle  with  its  meta- 
physical basis  reversed,  and  matcrialism,  sensationalism  and  nomina- 
lism  carrying  out  in  various  ways  the  principle  that  conceptual 
thought  has  no  independent  validity,  or  evcn  existence.  Now  1  do 
not  assert  that  the  early  Greek  logic  started  from  so  extreme  meta- 
physical priaciples  or  that  as  a  whole  it  had  any  explicit  metaphysical 
basis  at  all.     But  observe  how  dose  Hobbes1  aecount  of  predication 


494  C.  M.   Gillespie, 

is  to  a  certain  commonsense  attitude,  that  of  a  man  A,  who  analyses, 
from  the  standpoint  of  an  external  observer,  a  cönversation  between 
two  others,  B  and  C,  upon  the  nature  of  an  object  which  all  three  can 
see.  The  s  u  b  j  e  c  t  of  discussion  is  the  real  object,  which  A  hears 
named;  he  then  hears  B  and  C  apply  other,  probably  different,  names 
to  the  thing;  these  A  supposes  to  represent  different  ideas  "in  the 
minds"  of  B  and  C.  In  other  words,  the  attitude  is  substantially  that 
of  dialectical  discussion.  Thought  and  things  are  as  widely  separated 
as  possible.  For  Hobbes  the  supposition  of  all  thinking  is  the  existence 
of  a  physical  world  which  affects  men  by  producing  in  them  sensations 
and  ideas,  which  they  express  by  means  of  names.  The  primary 
attitude  of  Greek  dialectic  is  analogous:  the  first  condition  for  any 
discussion  between  A  and  B  is  that  they  agree  as  to  the  existence  of 
a  jtQäyfia,  which  both  can  name.  At  the  outset,  this  jroäyua  is  assumed 
to  exist  in  the  common  course  of  nature,  a  thing,  a  virtue,  a  relation,  etc. 
It  Stands  over  against  the  disputants  as  having  an  independent 
existence,  not  asaconcept  but  as  a  particular  thing  or  things  which 
may  be  named,  thought  of,  dealt  with  in  all  sorts  of  ways,  for  example, 
eaten,  if  it  is  an  apple.  In  the  Piatonic  dialectical  procedure  the  first 
question  b&ci  xi ;  or  xaXsiq  n ;  establishes  the  e  m  p  i  r  i  c  a  1 
basis  of  discussion;  the  empirical  meaning  of  ütgäyfia  as  the  primary 
subject  of  discussion  is  illustrated  by  the  fact  that  Plato  sometimes 
uses  jTQäyfta  xaXov  for  the  object  of  empirical  knowledge  as  opposed 
to  to  xalöv.  For  Aristotle  dialectic  comes  to  mean  the  discussion 
of  a  topic  from  an  indefinite  standpoint,  i.  e.  any  standpoint  that 
might  be  adopted  by  commonsense,  in  distinction  from  the  scientific 
proof  from  scientific  first  principles,  and  in  his  own  practice  dia- 
lectical discussion  takes  the  place  of  induction,  in  the  case  of  the 
ethical  and  political  sciences. 

The  terminology  which  I  have  pointed  out  shows  that  the  early 
Greek  logic  was  in  a  special  sense  a  logic  of  terms  and  names,  not 
of  propositions.  Here  the  dialectical  origin  is  clearly  displayed.  The 
Aristotehan  syllogistic  scheme  has  in  view  a  succession  of  inferences 
in  which  proposition  after  proposition  is  shown  to  be  necessarily 
derived  from  the  original  assumptions :  its  immediate  antecedents  seem 
to  be  the  Piatonic  Classification,  itself  a  development  from  dialectic, 
and  geometrical  methods.  The  dialectical  question,  on  the  other 
hand,  "Is  virtue  teachable?"  tcnds  to  a  discussion  in  which  virtue 


The  Logic  of  Antisthenes.  495 


s 


Stands  as  the  common  snbject  of  the  various  Statements  and  the  nmtual 
relations  of  the  terms  predicable  of  it  are  investigated.  Thns  the 
treatise  in  which  Aristotle  himself  treats  of  the  dialectical  syllogism, 
the  Topics,  is  mainly  taken  up  with  the  Predicables,  classifying  terms 
in  relation  to  a  common  subject. 

I  have  suggested  that  the  similarity  of  the  Hobbesian  and  the 
Greek  dialectical  logic  is  largely  eine  to  their  common  standpoint 
of  commonsense  naturalism.  Bnt  I  would  further  point  ont  that 
the  three  fundamental  principles  of  Hobbes  are  merely  exaggerated 
Statements  of  points  of  view  implied  in  commonsense  everywhere, 
and  which  must  have  been  specially  important  in  the  Greek  thought, 
becanse  the  Piatonic  "theory  of  Ideas"  was  the  first  determined 
attempt  to  get  beyond  them.  Materialism  is  the  dominant  note  of 
the  early  science,  sensationalism  of  the  early  psychology;  thns  in 
the  simile  of  the  waxen  tablet  in  T  h  e  a  e  t  e  t  u  s  191  D  the  idea 
is  regarded  primarily  as  the  revival  of  a  Sensation,  and  Plato  himself 
in  his  statement  of  his  doctrine  of  reminiscence  tends  to  the  nse  of 
language  more  applicable  to  visual  images  than  to  "abstract  ideas". 
The  nominalist  position  that  all  existence  is  particnlar  is  after  all 
the  position  of  naive  commonsense,  and  in  Greece  the  coneeption  of 
another  kind  of  reality,  envisaged  first  by  the  Pythagoreans,  took 
a  form  which  conld  affect  logical  principles  only  in  the  Platonic  idea. 
The  conceptual  logic  of  Aristotle  is  the  off  spring  of  the  "theory  of 
Ideas'"  as  applied  to  logical  questions  in  S  o  p  h  i  s  t  e  s. 

The  difficnlties  of  Antisthenes  arose  from  the  fact  that,  starting 
from  the  crude  view  of  predication  as  the  application  of  names  to 
things,  he  made  explicit  the  nominahsm,  sensationalism,  and  perhaps 
materialism  lipon  which  the  view  rested. 

6.  Hobbes1  views  on  definition  present  many  features  which 
throw  light  on  the  problem  before  us. 

a)  R  e  1  a  t  i  o  n  o  f  the  definition  t  o  the  p  r  o  p  o  - 
s  i  t  i  o  n.  Aristotle,  while  allowing  that  the  proposition  and  the 
definition  resembleone  another  in  form,  distinguishes  them  in  theory, 
primarily  for  existential  reasons,  no  donbt;  for  the  nominal  defi- 
nition cxplains  the  meaning  of  a  term,  while  the  real  definition 
has  for  its  subject  (e.  g.)  t<>  Xsvxm  elvai  (de  Interpret.  16  b  26, 
17  a  9;  Poet.  1457  a  24  cited  by  Prantl,  Geschichte  der  Logik,  1. 141  n). 


496  C.  M.   Gilles  pie, 

But  f or  Hobbes  there  can  be  no  such  distinction :  a  definition  is  indeed 
"the  explication  of  the  meaning  of  a  word",  but  on  further  examination 
it  turns  out  to  be  a  kind  of  proposition.  "Propositions  are  distin- 
guished  iuto  p  rimary  and  not  primary.  P  r  i  m  a  r  y  is  that 
wherein  the  subject  is  explicated  by  a  predicate  of  raany  names,  as 
man  i  s  a  b  o  d y ,  animated,  rational;  for  that  which  is 
eomprehended  in  the  name  man,  is  more  largely  expressed  in  the 
names  b  o  d  y  ,  animated,  rational,  joined  together;  and  it 
is  called  primary,  because  it  is  first  in  ratiocination ;  for  nothing 
can  be  proved,  without  understanding  first  the  name  of  the  thing  in 
question.  Now  primary  propositions  are  nothing  but  definitions 
or  parts  of  definitions."  (I.  3.  9,  p.  36—37  M.)  Hobbes'  theory  of 
predication  may  almost  be  said  to  turn  propositions  into  imperfect 
definitions,  since  the  definition  "a  triangle  is  a  three-sided  figure" 
satisfies  most  adequately  the  condition  that  subject  and  predicate 
are  both  names  of  the  same  thing.  His  treatment  of  definitions  as 
propositions  is  of  course  a  logical  consequence  from  his  general  theory 
of  predication.  Now  the  view  of  the  proposition  as  a  sort  of  subsidiary 
form  of  definition  is  really  implied  in  the  jtQayiia-övofia-Xoyog 
terminology  of  the  Greek  dialectic;  there  are  unmistakeable  traces 
of  this  view  in  the  Topics,  and  in  (B)  the  common  categorical  proposition, 
with  its  complex  Socrates-musical  appears  as  a  subsidiary 
aojoq  to  the  fundamental  type,  the  definition. 

b)The  primary  differentia  of  the  definition. 
"What  distinguishes  the  definition  from  other  kinds  of  propositions  is, 
for  Hobbes,  mainly  the  fact  that  its  predicate  is  Compound.  So, 
according  to  (C),  Antisthenes  denied  that  simple  objects  can  be  defined, 
because  the  defining  term  is  (laxgoq  loyog;  and  Theaetetus 
202  B  contrasts  the  simple  object  which  can  only  be  named  with 
the  complex  object  of  which  a  Compound  name  or  löyoa  can  be 
predicated. 

c)  Definition  i  s  real,  not  nominal.  Hobbes, 
indeed,  regards  all  universal  knowledge  as  knowledge  of  names,  be- 
cause based  on  definitions,  which  are  explications  of  the  meaning  of 
names.  And  yet  his  account  of  definition  itself  as  a  kind  of  proposition 
makes  the  defining  formula  a  predicate  of  the  thing  defined,  not  of 
the  term  defined.  Definition  means  for  him  the  Substitution  of  a 
complex  name  for  a  simple  one.    Now  in  the  Greek  dialectic  not  only 


The  Loeic  of  Antisthenes.  497 


'£> 


is  definition  always  real  definition,  but  its  terminology  discloses  a 
point  of  view  remarkably  like  that  of  Hobbes.  The  treatment  of 
definition  as  the  determination  of  the  meaning  of  terms  as  a  preiiminary 
to  deduetive  proof  is  peculiarly  appropriate  to  mathematical  method, 
bnt  quite  opposed  to  the  spirit  of  dialectic.  There  definition  is  as 
nnich  an  end  as  a  means;  the  question  "what  is  justice?",  "what  is 
knowledge?"  cannot  coneern  merely  the  meaning  of  names;  the 
dialectical  formnlae  si  söti,  ri  loriv  contemplate  real  definition; 
and  real  definition  is  obviously  implied  in  the  Piatonic  view,  regarded 
by  Aristotle  as  the  chief  motive  of  the  "theory  of  ideas",  that  the 
snbject  of  definition  cannot  be  the  changing  thing  of  experience. 
(Metaph.  987  b  1  ff.)  As  for  the  terminology,  I  need  only  say 
that  in  all  the  passages  cited  the  relation  of  koyog  to  ütgäyfia  is 
conceived  as  identical  with  the  relation  of  ovofia  to  jr^äyiia,  as 
in  Hobbes. 

d)  The  snbject  o  f  definition  i  s  not  d  i  s  t  i  n  - 
g  u  i  s  h  e  d  f  r  o  m  the  e  m  p  i  r  i  c  a  1  o  b  j  e  c  t.  For  if  the 
definition  is  a  proposition;  if  the  proposition  means  that  subject  and 
predicate  are  names  of  the  same  thing;  if  the  defining  formula  is 
merely  a  Compound  predicate,  i.  e.  name ;  and  if  all  things  are  particular ; 
it  follows  that  the  formula  of  definition  is,  hke  any  other  name,  the 
name  of  particular  things.  The  Statement  of  Aristotle,  recently  cited, 
that  Plato  distinguished  the  subject  of  the  definition  from  that  of 
the  empirical  proposition,  gains  point  if  we  suppose  that  the  contem- 
porary  logic  implied  the  opposite  view.  Now  the  ucgäy(ia-ovofia- 
Xoyog  terminology  to  which  I  have  so  often  alluded  as  embodying 
the  early  analysis  of  predication  implies  an  attitude  sinülar  to  that 
of  Hobbes.  Real  things  stand  on  one  side,  simple  and  Compound 
names  on  the  other,  and  predication  is  immediately  establishing  a 
relation  between  them.  The  relation  of  Xoyoq  to  jcgayfia  is  conceived 
to  be  the  same  as  that  between  6ro{ua  and  otgayfia.  The  "old  man 
late-learned"  of  Sophistes  251  argues  that  only  one  name  may 
be  applied  to  one  thing,  Antisthenes  in  (B)  that  only  one  löyog  can 
be  so  applied.  The  theory  reported  in  Theaetetus  201  D  ff. 
evidently  makes  the  subject  of  definition  explieitly  empirical;  for 
knowledge  is  true  judgement  supplemented  by  ;.o/oc,  and  this  is 
explained  as  the  further  analysis  of  the  empirical  object  into  simple 
Clements  apprehended  by  sense. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVI.  4.  03 


498  C.  M.  Gilles  pie, 

e)  Inteilsion  i  s  r  e  s  o  1  v  e  d  i  n  t  o  e  x  t  e  n  s  i  o  n. 
Hobbes  virtually  reduces  the  logical  meaning  of  a  term  into  its 
extension,  the  particular  things  of  which  it  is  the  name.  The  name, 
indeed,  (to  use  Meinong's  convenient  distinction,  Über  Annahmen2, 
pp.  24  ff.)  expresses  (ausdrückt)  an  idea  in  the  mind  of  the  Speaker, 
but  it  means  (bedeutet)  only  the  particular  thing  or  things  of  which 
it  is  the  name.  Thus  what  we  call  the  intension  of  the  term  forms 
part  of  the  psychological,  but  not  of  the  logical  meaning  of  the  name. 
For  when  the  ideas  come  to  be  "more  largely"  expressed  in  the  words 
of  the  definition,  these  words  are  regarded  merely  as  a  Compound 
name  denoting  the  same  thing  from  another  point  of  view.  Otherwise 
expressed,  if  predication  means  distinguishing  by  names,  then  the 
ideas  expressed  by  the  name  cannot  be  said  to  be  predicated  of  the 
object;  they  appear  as  the  psychical  antecedents  or  causes  of  the 
utterance,  and  not  as  an  essential  part  of  the  objective  meaning. 
Thus  Hobbes,  while  following  the  scholastic  doctrine  that  the  definition 
gives  the  essence,  regards  this  as  a  group  of  accidents,  i.  e.  powers 
in  the  thing  to  produce  ideas  in  us,  so  that  the  definition  is  the  names 
of  (i.  e.  denotes)  powers  in  the  thing.  ("Definition  .  .  is  a  speech 
signifying  what  we  conceive  of  the  essence  of  any  thing."  I.  5.  7, 
p.  60  M.  "These  causes  of  names  are  the  same  with  the  causes  of  our 
conceptions,  namely,  some  power  of  action,  or  affection  of  the  thing 
conceived,  which  some  call  the  manner  by  which  any  thing  works 
upon  our  senses,  but  by  most  men  they  are  called  accidents."  I.  3.  3, 
p.  32  M.)  As  Hobbes  expresses  it,  the  name,  though  the  name  of  a 
thing,  is  not  a  sign  of  it,  except  in  the  sense  "that  he  that  hears  it 
collects  that  he  that  pronounces  it  thinks  of  a  stone"  (I.  2.  5,  p.  17  M.): 
for  the  hearer  it  is  a  sign  of  an  idea  in  the  speaker's  mind,  for  the  Speaker 
it  is  a  mark  to  recal  ideas  to  the  mind  (I.  2.  1,  p.  14  M.).  In  Hobbes, 
therefore,  we  find  a  peculiar  realist  Interpretation  of  the  meaning  (as 
opposed  to  the  "expression")  of  the  name  as  expanded  in  the  definition; 
it  is  attached  to  the  thing  as  its  powers  or  accidents  rather  than  to 
the  name  itself.  The  usual  Greek  standpoint  is  very  similar.  Where 
we  speak  of  the  meaning  of  a  term,  they  spoke  of  the  essence  of  the 
thing.  Thing  and  essence  on  the  objective  side  correspond  respectively 
to  name  and  definition.  Thus  in  C  r  a  t  y  1  u  s  388  B  the  name  is 
AiaxQirixov  ri/g  orolac;  it  is  only  in  respect  of  its  intension 
that  a  name  can  be  said  to  determine  what  a  thing  is  (//  ?%£(),  but 


The  Logic  of  Antisthenes.  4? 9 

the  intension  only  appears  in  the  objective  aspect  of  the  essence  of 
the  thing.  So  in  C  r  a  t  y  1  u  s  429  B  C  (an  Antisthenean  passage) 
the  name  Hermogenes,  a  significant  Compound  containing  within 
itself  a  definition,  is  applied  to  a  jcgäyfia,  which  has  an  ovo  in  or 
ffivoig,  viz:  descent  from  Hermes,  the  real  nature  of  the  things  denoted 
by  the  term;  thus  what  we  should  call  the  meaning  or  intension  of 
the  term  is  not  attached  to  the  sign  but  only  to  the  thing  signified. 
Plato  dissociated  the  essence  or  conceptual  meaning  of  the  term  from 
the  empirical  jcQayfua  and  gave  it  a  special  relation  to  the  term. 

Thus  Hobbes1  analysis  shows  clearly  that  if  the  conceptual  meaning 
of  the  universal  is  not  recognized,  ideas  can  be  related  to  names  simply 
as  their  causes,  so  that  no  logieal  relation  is  left  to  the  name  except 
that  of  denotation,  since  nothing  is  predicated  of  the  thing  except  the 
name.  It  is  clear  that  before  Plato  the  function  of  the  universal  concept 
was  not  adequately  grasped,  and  as  the  terminology  of  predication 
was  very  like  that  of  Hobbes,  his  doctrines  help  to  explain  some  of 
the  difficulties  of  Antisthenes ;  for  if  no  relation  is  allowed  to  the  name 
except  that  it  is  the  name  of  something,  the  step  to.the  doctrine  of 
one  thing,  one  name  is  a  short  one. 

f )  The  o  b  j  e  c  t  s  o  f  definition  a  r  e  aggregates. 
For  Aristotle  the  organic  unity  of  the  concept  is  guaranteed  by  its 
analysis  into  genus  and  differentia,  the.mutual  relations  of  which 
he  conceives  as  analogous  to  those  between  matter  and  form.  Nominalism 
recognizes  no  such  organic  unity.  Locke  regards  genus  and  species 
as  "sorts"  and  resolves  complex  ideas  into  simple  ones,  subjectively 
distinct  from  each  other  and  with  little  objective  connexion  except 
coexistence.  Hobbes  holds  genus  and  species  to  be  merely  names 
of  names:  "genus  and  universale  are  names  of  names,  and 
not  of  things".  I.  5.  5,  p.  59  M.  He  insists  that  all  conceptual  processes 
can  be  resolved  into  sequences  of  sense-images  (I.  1.  3,  p.  3  M.):  the 
constituent  Clements  of  the  definition  are  names  of  particular  distinct 
ideas  which  follow  each  other  in  our  sense-experience.  Thought  is  a 
process  of  computation  dealing  with  ideas  as  such:  "to  compute  is 
either  to  collect  the  sum  of  many  things  that  are  added  together, 
or  to  know  what  remains  when  one  thing  is  taken  out  of  another"' 
(I.  1.  2,  p.  3  M.).  In  other  words  it  consists  in  adding  and  subtracting 
unitary  ideas  or  the  names  which  are  their  marks.  Addition  means 
forming  Compound  ideas  or  names:    for  example,  man  is  first  "con- 

::::■ 


500  C.  M.  Gillespie, 

ceived  to  be  something  that  has  extension,  which  is  marked  by  the 
word  b  o  d  y.    Body,  therefore,  is  a  simple  n  a  m  e  ,  being  put 
for  that  first  single  conception;  afterwards,  upon  the  sight  of  such 
and  such  motion  another  conception  arises,  for  which  he  is  called  an 
animated  body;  and  this  I  here  call  acompounded  name, 
as  I  do  also  the  name  animal,  which  is  equivalent  toananimated 
body.     And,  in  the  same  manner,  an  animated  rational 
b  o  d  y  ,  as  also  a  m  a  n  ,  which  is  equivalent  to  it,  is  a  more  compounded 
name.     And  by  this  we  see  how  the  composition  of  conceptions  in 
the  mind  is  answerable  to  the  composition  of  names;  for  as  in  the  mind 
one  idea  or  phantasm  to  another,  and  to  this  a  third;  so  to  one  name 
is  added  another  and  another  successively,  and  of  them  all  is  made 
one  compounded  name."    (I.  2.  14,  p.  24  M.)    The  process  of 
subtraction  is  illustrated  by  the  loss  of  the  elements  of  the  idea  of 
man  as  a  man  who  has  been  standing  near  us  moves  further  and 
further  away  (1. 1.  3,  p.  5  M.).  Hobbes'  account  is  a  striking  commentary 
on  the  theory  of  knowledge  reported  in  Theaetetus  201  D  ff. 
There  is  the  same  resolution  of  thought  into  simple  unrelated  sense- 
elements,  each  marked  by  a  name;  the  same  treatment  of  the  Com- 
pound idea  and  its  expanded  name  as  an  aggregate,  exemplified  in 
the  enumeration  of  the  parts  of  Hesiod's  cart  (207  A).    From  so  close 
a   resemblance   we   may   legitimately  infer   similarity   of   premisses. 
So  the   distinctness  and  unrelatedness   of  the   objects  named  is  the 
basis  of  the  denial  of  all  judgements  except  the  identical  judgement  in 
Sophistes  251. 


8)  Burnet,  Early  Greek  Philosophy 2,  p.  367. 

(Fortsetzung  folgt  im   nächsten  Heft.) 


Rezensionen. 

Dr.  Robert    Redslob,    Die  Staatstheorien  der  französischen  National- 
versammlung von  1789.    Leipzig,    Veit    &    Comp.    1912. 

„C'est  la  faute  ä  Rousseau",  dieser  alte  Refrain  aus  dem  bekannten  Lied 
ist  das  Lieblingsmotiv  aller  Kritiker  der  französischen  Revolution  und  der 
von  ihr  geschaffenen  Ordnung.  Die  katholischen  Denker  Frankreichs  und 
die  deutschen  Doktrinare  der  Staatswissenschaft  haben  das  Thema  bis  zum 
Überdruß  variiert.  Rousseau  —  das  ist  der  Gottseibeiuns  für  die  frommen 
Seelen,  der  Erzvater  des  Individualismus,  des  Atomismus  in  der  modernen 
Gesellschaft,  des  Abfalls  von  den  „gottgewollten  Abhängigkeiten."  Es  gehört 
heutzutage  gewissermaßen  zum  guten  Ton,  auf  Rousseau  zu  schimpfen  — 
wenigstens  bei  den  französischen  Intellektuellen,  die  sich  an  Taine  bildeten. 
Taine  war  allerdings  alles  eher  als  traditionsgläubig  und  kirchenfromm,  aber 
seine  Gegnerschaft,  seine  erbitterte  und  oft  so  übertriebene,  ungerechte  Kritik 
der  Männer  und  der  Taten  von  1789,  wurzelte  in  seiner  ganzen  Methode,  in 
seiner  geistigen  Veranlagung.  Er  war  ein  Psychologe.  Und  das  sagt  alles. 
Man  könnte  die  Tainesche  Art  mit  den  Worten  chakterisieren,  die  A  m  i  e  1 
(Journal  intime  I)  von  sich  sagte:  „Die  energische  Subjektivität,  die  selbst- 
vertrauend sich  behauptet,  die  sich  nicht  scheut,  etwas  eigenartiges,  abge- 
schlossenes zu  sein,  die  ihrer  subjektiven  Täuschung  weder  bewußt  ist,  noch 
sich  deren  schämen  werde,  ist  mir  fremd"  ...  Es  ist  eben  die  Eigenschaft 
des  Analytikers,  des  Psychologen,  die  Handlungen  geringer  zu  werten  als 
die  Motive,  die  Wirkung  niedriger  zu  schätzen  als  die  Ursachen.  Taine  ver- 
achtete die  Schöpfer  der  Revolution  von  1789,  weil  sie  zu  wenig  intellektuell 
waren.  Wie  urteilt  er  denn  über  die  Jakobiner?  „Es  sind  abstrakte  Menschen, 
die  keinem  Jahrhundert  und  keinem  Land  angehören,  Abstraktionen,  auf- 
gesprossen unter  dem  metaphysischen  Zauberstab  .  .  .,  ungemein  dürftige 
Residuen,  unendlich  vereinigte  Auszüge  der  menschlichen  Natur".  Man 
könnte  eigentlich  glauben  —  und  Taine  befand  sich  selbst  in  diesem  Glauben 
—  es  werde  hier  den  „Jakobinern"  das  Übermaß  der  Intellektualität,  das 
Überwuchern  des  Gedanklichen  über  das  Praktische  zum  Vorwurf  gemacht. 
Bei  näherem  Zuschauen  bietet  sich  uns  ein  anderer  Aspekt.  Taine  und  seine 
Jünger  verurteilen  die  Männer  des  18.  Jahrhunderts  nur,  weil  diese  zu  wenig 
intellektuell,  gar  so  objektiv,  tatkräftig  waren,  weil  sie  gar  so  mathematisch, 
geradlinig  handelten,  noch  mehr,  weil  sie  ihr  Temperament,  ihre  Leidenschaf  ton. 
ihren  Haß  und  Glauben  hypostasierten,  kurz,  daß  sie  —  menschlich,  allzu 
menschlich  waren  .  .  .  Dieser  Widerspruch  in  Taines  Beurteilung  der  Re- 
volution blieb   übrigens  durch  die  vehemente  Form  seiner  Darstellung  vei- 


502  Rezensionen. 

deckt.  Und  naive  Gemüter,  wie  z.  B.  Bourget  und  Barres,  die  Neuromantiker 
und  ,,Antiintellektualisten"  sprachen  wortgläubig  dem  Meister  nach.  Sie, 
die  eleganten  und  stilgewandten  Schriftsteller,  haben  am  meisten  dazu  bei- 
getragen, die  Revolution  und  vor  allem  den  armen  Jean  Jacques  bei  den 
„Intellektuellen"  zu  diskreditieren.  Tief  ist  die  Sozialphilosophie  eines  Barres 
allerdings  nicht.  Sie  läßt  sich  mit  dem  alten  Aphorismus  des  Erasmus  de- 
finieren. „Spartam  nactus  est,  hanc  adorna."  Der  Mensch  wird  in  ein  Milieu 
hineingeboren,  es  stehe  ihm  somit  nicht  zu,  aus  eigener  Kraft  ein  neues  zu 
schaffen,  die  Fesseln  des  Determinismus,  und  sei  es  auch  bloß  des  sozialen,  zu 
brechen,    oder  gar  sich  zu  isolieren  .  .  . 

Ich  habe  besonders  Barres  hervorgehoben,  weil  er  in  der  letzten  Zeit 
als  der  beredteste  Gegner  Rousseaus  aufgetreten  ist.  Seine  Rede  im  Palais- 
Bourbon  anläßlich  der  Rousseaufeier  zeigte,  daß  in  gewissen  Kreisen  alle 
Übel  und  Mängel  der  modernen  Gesellschaft  noch  immer  auf  das  Schuld- 
konto J.  J.  Rousseaus  gesetzt  werden. 

Wie  steht  es  nun  in  der  Wirklichkeit  mit  der  ,,faute  ä  Rousseau"  ?  Welchen 
Einfluß  hat  die  Lehre  des  „Contrat  social"  auf  die  französische  Revolution 
und  der  von  ihr  geschaffenen  Verfassung  ausgeübt?  Der  Verfasser  des  ein- 
gangs erwähnten  Werkes  hat  sich  nun  der  Aufgabe  unterzogen,  die  Verfassung 
von  1791,  die  von  der  „Assemblee  nationale"  ausgearbeitet  wurde,  unter 
diesem  Gesichtspunkte  zu  untersuchen.  Auf  Grund  einer  eingehenden 
Analyse  der  Hauptpunkte  der  Verfassung,  vor  allem  aber  an  der  Hand  der 
Parlamentsdebatten,  in  denen  die  Anschauungen  der  einzelnen  Abgeordneten 
am  klarsten  zum  Ausdruck  kamen,  gelangt  der  Verfasser  zur  Ansicht,  daß  die 
Arbeit  der  Nationalversammlung  gar  nicht  so  einfach,  so  eindimensional, 
rein  abstrakt  und  bloß  ein  Abklatsch  der  Theorien  Rousseaus  war.  Wie  jede 
andere  menschliche  Tat,  war  auch  die  Verfassung  von  1791  ein  Kompromiß, 
eine  Resultante.  Zwei  Gedankenrichtungen  kämpften  gegeneinander  —  die 
naturrechtliche,  rationale  und  die  empirische.  In  Namen  ausgedrückt  ■ — 
Rousseau  und  Montesquieu.  ,,Die  Nationalversammlung  entlehnt  ihre  de- 
duktive Denkweise  vornehmlich  Rousseau  und  gründet  ihre  geschichtlich- 
politischen Betrachtungen  in  der  Hauptsache  auf  Montesquieu,  —  so  daß 
wir  sagen  können,  daß  die  Arbeit  der  Nationalversammlung  den  hin  und  her 
wogenden  Kampf  zwischen  den  Prinzipien  von  Rousseau  und  Montesquieu 
darstellt.  Eigentümlich  ist  aber  immer  das  Eine:  daß  die  Nationalversamm- 
lung, wo  sie  entschlossen  den  Lehren  von  Montesquieu  folgt,  trotzdem,  wenn 
irgend  möglich,  ihre  Sätze  mit  den  Lehren  von  Rousseau  zu  vereinbaren  sucht, 
mag  eine  noch  so  große  Divergenz  bestehen,  mag  eine  noch  so  künstliche 
Argumentation  notwendig  sein.  So  gewaltig  ist  die  Herrschaft  des  Genfer 
Philosophen,  so  eingewurzelt  die  Scheu,  seine  Dogmen  zu  verleugnen.  Seine 
Lehre  vom  Gemeinwillen  ist  wie  ein  goldner  Faden,  der  sich  durch  das  ganze 
Gedankengewebe  hindurchzieht  und  sich  oft  mit  einem  festen  und  einfachen, 
oft  aber  mit  einem  unsicheren  und  sehr  verschlungenen  Knoten  in  das  Gewebe 
zu  verstricken  sucht."    (1.  c.  3GÜ.) 

Was  hatte  nun  die  Verfassung  von  1791  Rousseau  zu  verdanken?  Doch 
nicht  das  parlamentarische   System,   nicht  das  ganze  schwere    Gerüst    der 


Rezensionen.  503 

zentralisierten   Staatsordnung!      Faßt  man  die  Lehre   Rousseaus   von   ihrer 
praktischen  Seite  ins  Auge,  so  steht  sie  im  vollen  Widerspruch  zur  Tat  der 
französischen   Revolution.     Was   Rousseau   eigentlich    wollte,   das   war,    den 
Menschen  seinen  Willen  wiederzugeben.  Die  ganze  deistische,  überall  Harmonien 
findende,  naturgläubige  Denkart  Rousseaus  führte  ihn  zu  dieser  Anschauung. 
Ebenso  wie  im  Leibnitzschen  System  die  Monaden  trotz  aller  Abgesondertheit 
und  Freiheit  doch  in  ein  bestimmtes  Gefühl  eingeordnet  wurden,  so  setzte 
sich  nach  Rousseau  der  Mensch  von  selbst  in  die  Gesellschaft  ein,  auch  wenn 
er  frei  und  autonom  ist.    „L'homme  vraiment  libre  ne  veut  ce  qu'il  peut  et 
fait  ce  qu'il  plait",  sagte  Rousseau  im  „Emile".     Wären  nun  alle  Menschen 
frei,  so  würde    die  Summe  ihrer  Handlungen  ebenso  gut  und  „gefällig"  (ce 
qu'il  plait")  sein,  wie  jede  einzelne.  Der  metaphysische  Wille  sozusagen  ist  an 
sich  gut,  ob  er  nun  individuell  oder  allgemein,   ob  er  nun   „volonte  gene- 
rale" ist.    Diese  ,, Gemein willenstheorie"  war  seit  jeher  die  Achillesferse  der 
Rousseauschen  Sozialphilosophie,    wie  der  naturrechtlichen  überhaupt.     Und 
Dr.   R  e  d  s  1  o  b  sagt  seinerseits  entschieden  wenig  neues  zur  Bekämpfung 
der  Theorie  der  „Volonte  generale".    Er  nimmt  allerdings  Rousseau  in  Schutz 
gegen  manche  Mißverständnisse,  wie  z.  B.  gegen  Duguit,  der  gegen  Rousseau 
den  Vorwurf  des  zersplitternden  Atomismus  erhebt.    Er  lehnt  aber  wiederum 
die  Grundtheorien  Rousseaus  und  des  rationalen  Staatsrechts,  also  den  Satz 
von  der  natürlichen  Freiheit,  vom  Gemein  willen  und  von  der  Volkssouveränität 
prinzipiell  ab.     Und  gerade  hier  wäre  es  interessant,  den  Faden  wieder  auf- 
zunehmen. 

„Der  Satz  von  der  natürlichen  Freiheit  des  Menschen,  der  die  Philosophie 
der  Aufklärung  und  die  Verhandlungen  der  Nationalversammlungen  durchzieht, 
hat  an  sich  selber  betrachtet,  nur  einen  geringen   Erkenntniswert",  sagt  der 
Verf.  (1.  c.  17).  Und  das  gleiche  behauptet  er  von  den  übrigen  Naturrechts-Prin- 
zipien.  Es  ist  also  die  Empirie,  die  Historik  gegen  die  reine  deduktive  Theorie. 
Es  ist  gewiß  nicht  meine  Aufgabe,  hier  das  Naturrecht  in  Schutz  zu  nehmen. 
Historisch  betrachtet  läßt  sich   kein   einziges  Prinzip  des  Naturrechts  auf- 
rechterhalten.   Wenn  aber  Hobbes  erklärt:  „Jus  gentium  et  jus  naturae  idem 
sunt",  so  hat  dieser  Satz  erkenntnistheoretisch  einen  gewissen   Wahrheits- 
gehalt.   Das  Naturrecht  ist  deshalb  in  Mißkredit  geraten,  weil  es  für  sich  eine 
naturgesetzliche   Kausalität   und   Notwendigkeit   in   Anspruch   nahm.      Faßt 
man  das  „jus  naturae"  in  diesem  Sinne  auf,  so  ist  es  veraltete  Metaphysik. 
Aber  „jus  naturae"  kann  auch  einen  andern  Sinn  haben,  es  kann  als  Sub- 
sumierung  der  Rechtsprinzipien  unter  eine  gewisse  psychologisch  stringente 
Motivenreihe   aufgefaßt   werden.      Die    historische   oder   empirische    Rechts- 
lehre, besonders  aber  die  Staatsrechtslehre,    arbeitet   mit  dem  Begriffe  des 
„Werdens",  die  rationale  aber  mit  dem  des  „Seins".    Nun  ist  aber  Werden 
nur  auch  bloß  eine  Modalität  des  Seins,  das  Nochnichtsein.    Nehmen  wir  eben 
das  Beispiel  des  Satzes  der  „natürlichen  Freiheit".     Für  die  empirische  Be- 
trachtung, für  historische,  kritische,  positive  oder  man  nenne  sie,  wie  man 
will,  ist  die  Behauptung  Rousseaus:  „L'homme  est  ne  libre"  faktisch  eine 
Unrichtigkeit.      Frei  ist  nämlich  bloß  derjenige,  der  sich   keiner  Schranken 
bewußt  ist,  für  den  keine  Hemmungen  bestehen.     Der  Mensch  ist  aber  von 


504  Rezensionen. 

der  Wiege  an  unfrei.    Aber  diese  Freiheit  ist  ein  Desiderat,  ein  zu  erstrebendes* 
Ideal.    Für  den  Naturrechtler  besteht  sie  ja  auch  nur  in  der  Idee.    Es  ist  der 
alte  Streit  zwischen  Nominalismus  und  Realismus.    Aber  wir  wissen  jetzt, 
daß  gerade  der  Nominalismus  einen  großen  methodologischen  und  erkenntnis- 
theoretischen Wert  hatte.    Rousseau  wußte  ja  ebenso  gut,  wie  seine  Gegner, 
daß  der  Mensch  de  facto  nicht  frei  sei.  Aber  er  meinte,  daß  die  logischen  Wahr- 
heiten auch  reellen  Wert  haben,  daß  was  vernünftig  sei  auch  existieren  müsse. 
Zu    solchen    logischen    Wahrheiten    gehören    eben    die    Rousseauschen 
Theorien.     Für  den  Empiriker  sind  sie  einfach  Zukunftsprojektionen,  aber 
ihr  Wert  wird  dadurch  nicht  geringer.     Es  gibt  keinen  einzigen  Grundsatz 
des  ,,Contrat  Social",  der  erkenntnistheoretisch   widerlegt   oder 
methodologisch  untauglich  wäre.     Volkssouveränität  ist  gewiß  eine  strittige 
Theorie.     In  der  Wirklichkeit  ist  das  „Volk"  nicht  souverän.     Aber  um  so 
schlimmer  für  die  Wirklichkeit.    Sie  muß  deshalb  einer  andern  weichen.    Und 
überhaupt  die  Wirklichkeit.     Es  ist  ein  verschwommenes,  im  ewigen  Fluß 
begriffenes,  sich  immer  mauserndes  Etwas.     Die  Wirklichkeit  muß  durch  die 
Ideen  reguliert  und  in  eine  Form  gebracht  werden.   Und  ich  meine,  daß  gerade 
dies  das  große  Verdienst  der  französischen  Revolution  war,  daß  sie  der  Idee 
so  lange  als  möglich  folgten,  daß  sie  mit  den  lieben,  bequemen  Wirklichkeiten 
nicht  paktieren  wollte.     Gewiß,  einem  Malouet,  einem  der  gemäßigtesten 
Mitglieder  der  Nationalversammlung,   dem  Freund   Neckers,   dem  Vermittler 
zwischen  diesem  und  Mirabeau,  konnte  die  Idee  der  Volkssouveränität  usw. 
nicht  recht  in  den  Kram  passen  (,,L'abus  de  ces  deux  mots  Souverainete  du 
peuple  et  Volonte  generale,  a  dejä  exalte  tant  des  tetes,  qu'il  serait  bien  cruel 
que  la  Constitution  rendit  durable  un  tel  delire",  Vgl.  Redslob  a.  a.  O.   44). 
Aber  Malouet  hat  historisch  Unrecht  behalten.      Die  Verfassung  von   1791 
hat  „diesen  Wahnsinn"  sanktioniert  und  die  Welt  hat  dabei  ganz  gut  ab- 
geschnitten.    Die  Wahrheiten  der  Revolution  und  also  auch  Rousseaus  sind 
bis  heute  nicht  erschüttert  und  nicht  widerlegt  worden.      Und  zwar   nicht 
Montesquieus,  sondern  eben  Rousseaus.   Montesquieu  hat  die  Dinge  historisch- 
empirisch gefaßt.    Und  zwar  ohne  Kriterien,  die  einen  perennierenden  Wert 
hätten.      Rousseaus  Ideen  aber  sind  allgemein  und  logisch  zwingend,   weil 
sie  eben  nicht  individuelle,  sondern  generische  sind.     Und  von  diesem  Ge- 
sichtspunkte aus  erscheint  mir  die  Polemik  des  Autors  der  sonst  so  treff- 
lichen Untersuchung  nicht  ganz  gerechtfertigt  und  in    ihrer  philosophischen 
Begründung  unrichtig.      Wohlgemerkt,    ich  stelle    nicht  Rousseau  als  einen 
Großen    im  Reiche  des  Denkens  hin.      Die  Fehler  des  Genfer  Philosophen 
sind   zu  groß,    um  übersehen   werden  zu  können.     Rousseaus    Schwäche  ist 
seine  Philosophie,  die  beinahe  in  Pietismus  verfällt  (Beweis  sein:  „Savoyischer 
Vikar"),    sein  Optimismus  und  Mangel    an    kritischem    Blick.      Aber  eines 
kann  man  ihm  nicht  abstreiten,  und  das  ist  —  Logik.   Der  „Contrat  social" 
ist  logisch  einwandsfrei  konstruiert.     Er  hat  uralte,  richtige  Prinzipien  mit 
bewundernswerter  Schärfe  entwickelt.    Nur  die  Form  ist  es,  die  den  neueren 
Denker  von  ihm  trennt.     Nur  die   Wege    zu  diesen  Problemen   sind   andere 
geworden.     Im  Grunde    aber  haben    wir  Rousseau    nicht  überwunden    und 
werden  ihn  auch  schwerlich  je  überwinden.  ...  Dr.  A.  Coralnik. 


Rezensionen.  505 

E.  A.  Bobroff,  Professor  der  Philosophie  an  der  Universität  Warschau, 
Historische  Einführung  in  die  Psychologie.  170  S.  In  russischer 
Sprache.  Verlag  „Oros",  Petersburg  und  Warschau,  1913. 
Der  Verfasser  gibt  in  der  ersten  Hälfte  des  Buches  auf  Grund  der  Quellen 
eine  klare,  präzise  und  knappe  aber  doch  genügend  vollständige  Darstellung 
der  von  den  alten  griechischen  Philosophen  gelehrten  psychologischen  Theorien, 
in  der  zweiten  bespricht  er  die  neue  Psychologie,  vorzüglich  die  des  17.  Jahr- 
hunderts, die  besonders  wichtig  für  die  Entwicklung  der  Psychologie  ist,  in 
der  fast  alle  die  Probleme  aufgestellt  werden,  die  die  heutigen  Psychologen 
bewegen  und  in  der  die  historischen  Wurzeln  der  Streite  und  Uneinigkeiten 
in  der  heutigen  Psychologie  zu  finden  sind.  Besprochen  werden  nur  philoso- 
phische Seelenlehren,  mystisch-religiöse  Doktrinen  bleiben  unberücksichtigt. 
Der  Verfasser  geht  von  den  psychologischen  Anschauungen  der  primitiven 
Menschen  aus  und  verfolgt  die  Jahrtausende  lange  angestrengte  wissenschaft- 
liche und  philosophische  Arbeit,  die  dem  Dualismus  des  Deskartes  voraus- 
geht. Der  moderne  Mensch  muß  von  den  sehr  komplizierten  Begriffen,  in 
denen  er  zu  denken  gewohnt  ist,  absehen,  um  sich  die  Anschauungen  der 
ältesten  Menschheit  in  ihrer  ganzen  ursprünglichen  Unbestimmtheit  und 
Xebelhaftigkeit  vorzustellen.  Denn  dem  primitiven  Denken  fällt  es  sehr 
schwer,  Seele  und  Leib  auseinander  zu  halten,  und  nur  im  Keime  ist  in  ihm 
der  Dualismus  von  Leib  und  Seele  enthalten.  Diese  dunkle  Vorahnung 
des  Dualismus  ist  nach  Ansicht  des  Verfassers  der  eine  der 
Hauptzüge  der  primitiven  psychologischen  An- 
schauungen. Für  diese  sind  die  hervorstechendsten  Merkmale  der  Seele 
und  des  Lebens:  1.  die  Bewegungsfähigkeit,  2.  das  Atmen,  3.  die  Körper- 
wärme. Die  ersten  Psychologien  bis  Aristoteles  einschließlich  sind  vitalistisch, 
sie  sind  Biologie.  Sie  berücksichtigen  entweder  eine  dieser  physiologischen 
Funktionen,  so  Anaximenes  das  Atmen,  Heraklit  die  Wärme,  oder  alle  drei, 
wie  Demokrit  und  Aristoteles.  Der  zweite  Charakterzug  der 
primitiven  psychologischen  Anschauungen  ist  die 
naive  Materialisation  der  Seele.  Der  primitive  Denker, 
der  die  Lostrennung  der  Seele  vom  Leibe  vollzogen  hat,  fällt  sogleich  wieder 
in  die  alten  Bahnen  zurück  und  verwechselt  Leib  und  Seele.  Die  rein  psychi- 
schen Erscheinungen  sind  ihm  fremd.  Was  er  Seele  nennt,  ist  die  Gesamtheit 
der  physiologischen  Erscheinungen.  Die  ,,rein  psychische"  Seele  haben  die 
griechischen  Philosophen,  selbst  Aristoteles,  nicht  entdeckt.  Die  Vor- 
sokratiker  und  dann  P  1  a  t  o  bereiten  das  psychologische  System  des 
Aristoteles  vor,  der  als  erster  die  Seele  zum  Gegenstand  der  speziellen 
Wissenschaft  der  Psychologie  macht.  Aristoteles'  Psychologie  zeichnet  sich 
durch  merkwürdige  Lebensfähigkeit  aus,  sie  lebt  in  verschiedenen  Umge- 
staltungen 2000  .Jahre,  bis  die  Deskartessche  Reform  der  Philosophie  die 
Psychologie  in  gänzlich  andere  Bahnen  lenkt. 

Des  carte  s  sieht  das  Wesen  der  Seele  im  Bewußtsein,  gibt  ihr  die 
ganz  neue  Definition  als  res  cogitans  und  trennt  sie  endgültig  vom  Körper 
als  gänzlich  raumlos  und  immateriell.  Zwei  Jahrtausende  brauchte  die  europäi- 
sche Philosophie  zum  Übergang  von  Aristoteles  zu  Deskartes.      Aber  auch 


506  Rezensionen. 

Deskartes  rechnet  noch  mit  Aristoteles.  In  der  zweiten  Meditation,  wo  er 
die  Funktionen  der  Seele  der  Reihe  nach  durchnimmt,  hält  er  sich  an  das 
Aristotelische  Schema  von  Tqsmixdv,  xivrjtixöv,  uicd  tfTixov,  6iu.voi\xixöv 
und  vovg.  Trotzdem  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  beiden  eminent. 
Während  bei  Aristoteles  der  vovg  göttlich  ist  und  dem  Menschen  von  der 
Gottheit  nur  leihweise  auf  einige  Zeit  gegeben  wird,  ist  bei  Deskartes  die 
cogitatio  Eigentum  des  Menschen  und  wesentliches  Merkmal  der  individuellen 
menschlichen  Seele.  Der  Idealismus,  die  Philosophie  des  Allgemeinen  als 
Grundlage  der  Psychologie  wird  seit  Deskartes  durch  den  kritischen  Indivi- 
dualismus ersetzt.  Ferner  ist  cogitatio  nicht  nur  Denken,  sondern  auch  Be- 
wußtsein. Während  Aristoteles  die  Seele  als  eine  organische  Kraft  in  der 
Natur  betrachtete,  lehrt  uns  Deskartes  in  der  eigenen  individuellen  Seele 
das  lebendige,  über  allen  Zweifel  erhabene  Ich  zu  sehen,  das  auf  dem  Wege 
der  unmittelbaren  Beobachtung  erschlossen  wird.  Bewußtsein  und 
individuelle  Substanz  sind  die  Grundlagen  der 
neuen  Psychologie.  Dank  diesen  Gesichtspunkten  konnte  Deskartes 
die  Einheit  der  Seele,  die  bei  den  Griechen  verloren  gegangen  war,  wieder- 
herstellen. Er  braucht  die  Teile  und  Schichten  der  Seele  nicht  mehr.  Alle 
Funktionen  der  Seele  sind  Bewußtseinsakte,  die  das  substanzielle  Ich  aus 
sich  schafft  und  denen  es  dadurch  die  Einheit  aufdrückt.  Am  besten  können 
wir  die  Kluft  zwischen  Aristoteles  und  Deskartes  darin  beobachten,  daß 
Aristoteles  seine  Psychologie  auf  der  Metaphysik  aufbaut,  Deskartes  um- 
gekehrt die  Metaphysik  auf  seine  Psychologie  gründet.  Mit  dem  Fortschritt, 
den  die  Psychologie  bei  Deskartes  macht,  hängt  eine  Schwäche  der  Deskartes- 
schen  Psychologie  eng  zusammen:  Leib  und  Seele  sind  bei  Deskartes  aus- 
einander gerissen,  und  die  Wechselbeziehungen  zwischen  ihnen  werden  nicht 
genügend  erklärt.    Dadurch  erhält  dieses  Problem  eine  ganz  neue  Zuspitzung. 

Locke  setzt  Deskartes'  Arbeit  fort,  erhebt  aber  folgenden  starken  Ein- 
wand gegen  ihn:  was  ist  denn  unser  Ich  für  eine  Substanz,  wenn  es  Momente 
gibt,  wie  z.  B.  im  Schlaf,  wann  es  aufhört  zu  existieren  ?  Dieses  Problem' 
löst  L  e  i  b  n  i  z.  Bei  Deskartes  hatte  das  Bewußtsein  einen  qualitativen 
Charakter:  es  ist  res  cogitans  zum  Unterschied  von  der  res  extensa.  Leibniz 
fügt  den  quantitativen  Charakter  hinzu,  indem  er  nachweist,  daß  das  Bewußt- 
sein seiner  Energie  nach  zu  verschiedenen  Zeiten  nicht  eine  und  dieselbe  Größe 
vorstellt,  da  es  bald  stärker,  bald  schwächer  wird.  Im  Wachen  ist  es  intensiver, 
während  des  Schlafs  erreicht  es  sein  minimum,  ist  aber  nicht  =  0,  wie  Locke, 
gemeint  hatte.  Nach  den  Gesetzen  der  Logik  und  Mathematik  kann  kein 
Sein  sich  in  0  verwandeln.  Auch  der  Tod  bedeutet  keinen  absoluten  Unter- 
gang des  Bewußtseins.  Also  ist  das  Bewußtsein  eine  variable  und  unendliche 
Größe.  Der  Begriff  der  Seele  erfährt  durch  Leibniz  eine  Umgestaltung,  indem 
in  die  Seele  auch  die  Sphäre  des  Unbewußten  oder  richtiger  schwach  bewußten 
eingeschlossen  wird.  Leibniz  zieht  die  Schlüsse  aus  der  Entdeckung  Deskartes' 
und  begründet    die    metaphysische     Psychologie. 

Kant  unterwirft  die  metaphysische  Psychologie  einer  unerbittlichen 
Kritik  und  weist  ihre  Hilfe  bei  der  Lösung  erkenntnistheoretischer  Fragen 
von  der  Hand.  Darum  weicht  er  von  dem  von  Deskartes  vorgezeichneten 
kritischen  Wege  ab  und  errichtet  ein  unhaltbares  Gebäude. 


Rezensionen.  507 

Locke  kannte  Leibniz'  Entdeckung  noch  nicht.  Die  metaphysische 
Seite  der  Psychologie  interessierte  ihn  nicht.  Ihn  interessierte  nur,  was  wir 
beim  vollen  Lichte  des  Bewußtseins  in  der  Seele  haben,  in  die  Tiefe,  in  die 
Sphäre  des  Unbewußten  steigt  er  nicht  hinab.  Er  will  erforschen,  wie  sich 
das  Bewußtsein  entwickelt.  Indem  er  dabei  gegen  Deskartes'  angeborene 
Ideen  polemisiert,  stellt  er  sich  auch  in  Gegensatz  zur  modernen  Anschauung 
von  der  Vererbung.  Bei  der  Aufnahme  der  Ideen  verhält  sich  der  Verstand 
passiv.  Dieses  Prinzip  wurde  entscheidend  für  die  englische  Psychologie. 
Die  Aktivität  des  Verstandes  beschränkt  sich  auf  das  Kombinieren  der  ein- 
fachen Ideen  zu  zusammengesetzten,  wobei  wir  nach  Locke  immer  eine  klare 
Vorstellung  von  dem  haben,  was  wir  denken.  Locke  begründet  die  empi- 
rische Richtung  der  Psychologie.  Dabei  will  er  aber  Psycholog 
ohne  Philosophie  sein,  wie  auch  heute  zahllose  Psychologen,  und  ganz  wie 
diese  findet  er  sich  nicht  im  empirischen  Material  zurecht. 

Den  Zyklus  der  großen  Psychologen  beschließt  H  u  m  e.  Er  ist  von 
Deskartes,  Leibniz  und  Locke  abhängig.  Von  Locke  ist  er  abhängig  in  der 
Unterscheidung  einfacher  und  zusammengesetzter  Bewußtseinselemente. 
Auf  Deskartes  und  Leibniz  ist  die  Unterscheidung  von  Impressionen  und 
Ideen  vom  Standpunkte  der  Intensität  und  Klarheit  dieser  Erscheinungen 
des  Bewußtseins  zurückzuführen.  Die  Frage  nach  dem  Ursprung  der  Im- 
pressionen, ob  sie,  wie  Locke  wollte,  Resultate  äußerer  Einwirkung  oder  wie 
Leibniz  lehrte,  Erzeugnisse  unserer  Monade  sind,  wagt  Hume  nicht  zu  ent- 
scheiden. Die  Impressionen  entstehen  aus  unbestimmten  Ursachen,  sind 
zweifellos  die  primären  Elemente  des  Bewußtseins  und  erzeugen  aus  sich 
die  Ideen,  die  nichts  als  schwache  Abdrücke  der  Impressionen  sind.  In  seiner 
Theorie  des  Ich  ist  Hume  originell,  aber  sie  ist  nicht  gelungen.  Seine  Definition 
des  Ich  als  eines  Bündels  von  Perzeptionen  und  sein  Vergleich  des  Ich  mit 
einer  Bühne  zeugen  davon,  daß  er  das  Ich  nicht  von  der  Gesamtheit  der 
Elemente  des  gegebenen  Bewußtseinsmoments  unterscheidet.  Er  vergißt, 
daß  es  eines  lebenden  Ich  bedarf,  um  das  auf  der  Bühne  vor  sich  Gehende 
zu  beobachten.  Diese  Theorie  wiederholen  die  Positivisten,  die  die  reale 
Existenz  des  Ich  leugnen.  Das  Ich  ist  für  sie  nichts  als  eine  mechanisch  ver- 
knüpfte Serie  von  Bewußtseinserscheinungen.  Trotzdem  existiert  die  Idee 
des  Ich.  Doch  wo  kommt  sie  her?  Diesem  Widerspruch  entgeht  man  nur, 
wenn  man  ein  einheitliches  und  identisches  Selbstbewußtsein  anerkennt, 
welches  gleichmäßig  in  jedes  Moment  des  Bewußtseins  eingeht.  Durch  die 
Anwesenheit  des  Ich  ist  die  Existenz  und  der  Verlauf  des  psychischen  Lebens 
in  allen  Erscheinungen  des  Bewußtseins  bedingt.  Daher  ist  das  Ich 
Substanz.  Das  ist  die  metaphysische  Definition  des 
I  c  h.  Die  psychologische  Definition  des  Ich  lautet :  das 
Ich  ist  ein  einheitliches  Element  des  Bewußtseins, 
welches  notwendig  mit  ausnahmslos  jedem  andern 
Bewußt  seinselement    in    Beziehung    steht. 

Es  ist  sehr  zu  bedauern,  daß  dieses  Buch  dem  deutschen  Leser  nicht 
zugänglich  ist.     Besonders  Studierenden  könnte  es  von  großem  Nutzen  sein, 

P.  B  o  k  o  w  n  e  w. 


508  Rezensionen. 

Parodi,  D.:  Le  probleme  nioral  et  la  pensee  contemporaine.  Paris  1910, 
Alcan.  1  vol.  in-12°.  210  p.  2,50  Fr. 
Etüde  historique  et  critique  sur  les  principaux  oourants  de  la  morale 
contemporaine  en  France,  la  morale  biologique  de  Metchnikoff,  la  morale 
sociologique  de  Levy-Bruhl,  Durkheim  et  Belot,  la  morale  des  idees-forces 
de  Fouillee.  L'etude  historique  est  fine,  exacte  et  profonde.  L'etude  critique 
est  dominee  par  certaines  idees  dont  l'ensemble  est  expose  dans  un  dernier 
chapitre  (164 — 200),  sur  lequel  nous  allons  insister.  C'est  la  doctrine  d'un 
rationaliste  tres  informe  et  quelque  peu  desabuse.  La  morale  doit  bien  etre 
rationnelle  puisque  l'honnete  liorame  s'effor9ant  de  choisir  entre  plusieurs 
fins,  cherche  ä  les  juger  impartialement,  ce  qui  veut  dire  d'une  fagon  imper- 
sonnelle  et  rationelle.  Mais  on  sait,  depuis  Kant,  les  difficultes  qui  s'attachent 
ä  une  morale  simplement  rationelle;  eile  reste  formelle,  ne  fournit  ä  la  volonte 
aucune  fin  concrete;  parce  qu'elle  est  formelle,  eile  est  inefficace;  et  parce 
qu'elle  est  absolue,  eile  n'est  susceptible,  ni  de  progres,  ni  d'invention.  Teiles 
sont  les  difficultes  et  voici  les  reponses:  il  ne  peut  pas  y  avoir  d'autre  morale 
qu'une  morale  formelle;  nous  ne  pouvons  suivre  l'auteur  dans  sa  penetrante 
critique  des  principes  materiels,  le  plaisir,  l'utilite,  le  bonheur,  le  bien,  l'obe- 
issance  ä  la  volonte  divine.  Contentons-nous  de  dire  que  pour  lui  ces  pre- 
tendus  fins  ou  biens  indiquent  des  conditions  generales,  auxquelles  doit  etre 
conQue  la  fin  de  l'action,  ou  bien  sont  identiques  ä  la  raison  elle-meme.  Mais 
la  raison  dont  il  s'agit  ici  n'est  pas  une  faculte  capable  de  nous  faire  connaitre 
a  priori  1' ideal  du  bien;  c'est  seulement  la  faculte  organisatrice  et  synthe- 
tique,  capable  de  decouvrir  et  de  mettre  de  la  coherence  et  de  la  legalite  dans 
les  faits,  capable  de  saisir  la  valeur  universelle  et  par  consequent  obligatoire 
de  certains  actes  comme,  dans  la  science,  eile  comprend  l'universalite  de 
certaines  relations.  Mais  comment  donner  couleur  et  vie  ä  la  päle  forme 
rationnelle?  II  ne  peut  etre  question  de  deduire,  suivant  la  formule  kantienne, 
la  matiere  de  la  forme;  c'est  dans  la  vie  elle-meme,  dans  les  fins  que  propcse 
la  vie  individuelle  ou  sociale  que  la  raison  choisit  celle  qui  merite  d'etre  uni- 
versalisee;  on  conQoit  alors  que  cette  fin,  toute  raisonnable  qu'elle  soit,  varie 
avec  les  moeurs  et  la  civilisation ;  cependant  l'auteur  admet  une  certaine 
convergence  et  interpeneration  entre  les  diverses  fins  choisies  par  la  raison. 
Mais  ce  choix  n'est-il  pas  fatal  ä  l'acte  qui  en  est  l'objet?  Dans  la  mesure 
oü  je  le  fais  dependre  de  cemotif,  qu'il  est  raisonnable,  je  l'isole  de  la  vie,  de 
la  motivation  concrete  et  vraiment  efficace;  et  en  effet  l'auteur  n'a  pas  une 
teile  confiance  dans  la  force  du  motif  purement  raisonnable,  qu'il  ne  pense 
devoir  l'assister  de  tous  les  motifs  extra  moraux  qui  peuvent  pousser  dans 
le  meine  sens.  Si  claire  que  paraisse  d'abord  sa  pensee  sur  ce  point,  il  reste 
assez  difficile  de  la  degager;  en  effet,  il  semble  indiquer  deux  voies  au  moins 
pour  renforcer  le  role  de  la  raison  dans  la  vie  pratique:  d'abord  une  sorte 
de  transformation  de  la  raison  en  instinct,  transformation  qui  implique  une 
certaine  harmonie  fonciere  entre  le  fait  et  la  nature  d'une  part,  l'idee  et  la 
raison  de  l'autre  (et  ceci  est  un  postulat  spiritualiste,  p.  204,  205);  et  ensuite 
une  sorte  d'appui  sur  des  motifs  qui  sont  par  eux-memes  entierement  etran- 
gers  ä  la  raison.     Peut-etre  conviendrait-il  de  choisir  entre  ces  deux  voies: 


Rezensionen.  509 

affirme-t-on  ou  nie-t-on  que  la  raison  soit  en  elle-meme  une  force?  Mais  si 
l'on  accepte  la  seconde  voie,  oü  peut-on  prendre  le  droit  de  juger  les  mobiles 
extra  rnoraux  par  la  force  qu'ils  mettent  au  Service  de  la  raison?  Or,  lorsque 
l'auteur  (p.  198  sq.)  prefere  une  morale  laique  ä  une  morale  religieuse,  les 
motifs  de  solidarite  sociale  et  de  pitie  aux  motifs  religieux,  il  senible  bien 
qu'il  considere  moins  la  force  que  le  contenu  des  motifs.  Cet  ouvrage  a  du 
moins  le  merite  de  ne  pas  cacher  toutes  les  difficultes  d'unir  une  raison  par 
elle-meme  peu  efficace  ä  une  force  qui  ne  contient  encore  que  peu  de  raison. 

Emile    Brehier,    Bordeaux. 

Flournoy,  Th.:  La  philosophie  de  William  James;  Saint  Blaise.  Foyer 
solidariste,  1911.     1  vol.  in-12°.     217  p.     2,50  Fr. 
Conference  faite  ä  l'association  chretienne  suisse  d'etudiants,  ä  Sainte 
Croix,  dont  certains  points  ont  ete  longuement  developpes  pour  la  redaction, 
et  ä  laquelle  fait  suite  un  compte  rendu  des  Varietes  de  l'Experience  reli- 
gieuse.    C'est  un  expose  extremement  vivant,  sympathique  et  clair  des  ten- 
dances  philosophiques  de  James.    Tandis  que  1' expose  de  M.  Boutroux  faisait 
ressortir  la  methode  philosophique  du    penseur  americain  et    aboutissait  a 
y  voir  un  rationalisme  de  grand  style,    M.  Flournoy    cherche  surtout  ä  de- 
crire  la  vision  qu'il  avait  de  l'univers.     Nature  d'artiste,  remarquablement 
apte  ä  saisir  ce  qu'il  y  a  en  chaque  chose  d'unique  et  d'irreductible,  James 
fut  encourage  dans  cette  tendance  par  son  maitre  Agassiz  dont  on  connait  le 
mepris  pour  les  idees  generales.  D'autre  part  de  son  pere,  le  reverend  H.  James, 
ami  de  Carlyle  et  d'Emerson,  il  herita  le  sentiment  profond  et  religieux  du 
serieux  de  la  vie  humaine.     II  serait  difficile  de  savoir  laquelle  de  ces  deux 
tendances  etait  predominante  chez  James,  si  son   antirationalisme  et  son 
empirisme  radical  peuvent  etre  consideres  comme  une  introduction  ä  l'apo- 
logetique  religieuse  qui  le  couronne,  ou  si  ses  croyances  religieuses  ä  un  Dieu 
partie  de  l'univers  et  en  rapport  direct  avec  l'äme  humaine  ne  sont  pas  l'abou- 
tissement  de  son  empirisme  radical.    L'horreur  qu'il  avait  des  systemes  philo- 
sophiques fermes,  et  aussi  son  dedain  de  la  coherence  des  idees,  discret  einen  t 
indique  par  le  Conferencier,  expliquent  l'indecision  dans  laquelle  nous  laisse 
ä  ce  sujet  la  lecture  des  oeuvres  de  James.    Au  surplus,  M.  F.,  en  montrant 
comment  la  pensee  de  James  va  du  pragmatisme  ä  l'empirisme  radical,  de 
l'empirisme  au  pluralisme,  du  pluralisme  au  tychisme  et  au  meliorisme,  et 
enfin  du  meliorisme  au  theisme  semble  indiquer  que  la  possibilite  d'une  con- 
viction  religieuse  raisonnable  est  la  veritable  cause  finale  du  developpement 
de  la  pensee  de  James.   Mais  a  un  autre  point  de  vue  la  decouverte  des  verites 
religieuses  apparait  comme  une  application  de  la  methode  empirique.     Nous 
ne  voulons  pas  au  reste  analyser  cette  belle  analyse,  et  nous  nous  conten- 
terons   d'indiquer   d'interessants   extraits   de    la   correspondance    de   James 
qui  nous  sont  communiques  dans  les  notes  (p.  175,  note  1;  opinion  de  James 
en  1892  sur  Secretan  et  Renouvier;  p.  179,  n.  1,  sur  Fechner),  et  un  parallele 
interessant  avec  les  doctrines  de  Bergson  (p.   181 — 187). 

Emile    Brehier,    Bordeaux. 


510  Rezensionen. 

Pierre  Mandonnet:  Des  ecrits  authentiques  de  S.  Thomas  d'Aquin. 
2e  edit.  Fribourg.  1910.  158  p.  in-8°. 
Cet  opuscule  est  indispensable,  corome  introduction  ä  l'etude  du  tho- 
misme.  La  question  d'authenticite  est  resolue  par  l'etude  critique  de  quinze 
catalogues  des  oeuvres  de  Saint  Thomas,  dont  les  plus  importants  datent 
des  vingt  premieres  annees  du  quatorzieme  siecle.  Ils  sont  ramenes  pour 
l'essentiel  ä  trois  catalogues  types,  independants  les  uns  des  autres.  Le  plus 
important  est  un  catalogue  „ofiiciel"  qui  a  ete  insere  dans  le  proces  de  cano- 
nisation  du  saint  en  1319.  II  est  divise  en  trois  sections  dont  la  premiere  ren- 
ferme  les  opuscules,  la  seconde  les  grandes  publications,  et  la  troisieme  les 
ouvrages  rediges  d'apres  d'apres  les  notes  des  lecteurs.  Un  tableau  com- 
paratif  (p.  104  sq.)  resume  en  quelques  pages  les  resultats  de  l'etude  des  cata- 
logues. Emile  Brehier,   Bordeaux. 


-"o"- 


Davy,  Georges:  Durkheim.  1  vol.  in-12°  (de  la  collection:  les  Grands 
philosophes  francais  et  etrangers).  Paris.  Louis  Michaud.  220  p. 
Archambault,  Paul:  Hegel.  1  vol.  de  la  meme  collection.  222  p. 
Petits  volumes  de  vulgarisation,  dont  chacun  contient  une  etude  sur 
l'auteur  et  sa  doctrine,  un  choix  de  textes,  une  bibliographie  sommaire  et 
quelques  gravures.  L'etude  de  M.  Davy  renseignera  d'une  facon  precise  et 
assez  complete  sur  la  sociologie  de  Durkheim;  l'auteur  a,  du  Systeme  qu'il 
etudie,  une  connaissance  tres  approfondie.  Mais  pourquoi  M.  Archambault 
a-t-il  emprunte  presque  tous  les  textes  de  Hegel  ä  la  mauvaise  traduction 
de  Vera,  dont  l'obscurite  est  encore  augmentee  par  des  fautes  d'impressions  ? 
Pourquoi  n' a-t-il  pas  fait  entrer  dans  son  choix  quelques  pages  de  la  si  im- 
portante  Phenomenologie  de  l'Esprit,  ouvrage  non  encore  traduit? 

Emile    Brehier,  Bordeaux. 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.   Deutsche    Literatur. 
Bergmann,  E-,  Die  Philosophie  Guyaus.     Leipzig,  Klinkhardt. 
Caffi,  E-,  Nietzsches  Stellung  zu  Machiavellis  Lehre.     Wien,  Virano. 
Descartes,  Meditationen  über  die  Grundlagen  der  Philosophie.     Übers,   von 

Buchenau.     Leipzig,  Meiner. 
Feigel,  F.,  Der  französische  Neokritizismus  und  seine  religiösen  Folgerungen. 

Tübingen,  Mohr. 
Kriegbaum,  S.,  Der  Ursprung  der  von  Kallikles  in  Piatons  Gorgias  vertretenen 

Anschauungen.     Paderborn,  Schöningh. 
Köhler,  P.,  Der  Begriff  der  Repräsentation  bei  Leibniz.    Bern,  Franc ke. 
Xef,   W.,   Wilhelm   Wundts   Stellung   zur   Erkenntnistheorie  Kants.     Berlin, 

Simion. 
Paulsen,  F.,  System  der  Ethik.     9.  und  10.  Aufl.    Stuttgart,  Cotta. 
Raab,  F.,  Die  Philosophie  von  R.  Avenarius.     Leipzig,  Meiner. 
Riehl,  A.,  Zur  Einführung  in  die  Philosophie  der  Gegenwart.     4.  Aufl.  Leipzig, 

Teubner. 
Rohner,  A,  Das  Schöpfungsproblem  bei  Maimonides,  Albertus  Magnus  und 

Thomas  Aquino.     Münster,  Aschendorff. 
Scharrenbroich,  H.,  Nietzsches  Stellung  zum  Eudamönismus.     Bonn,  Georgi. 
Sieber,  J.,  Carneri  als  Philosoph.    Breslau,  Marcus. 
Spitzer,  H.,  Untersuchungen  zur  Theorie  und  Geschichte  der  Ästhetik.    Graz, 

Leuschner  &  Lubensky. 

B.  Englische    und    amerikanische    Literatur. 

Chatterton-Hill,  Gr.,  The  philosophy  of  Nietzsche.     London,  Ouseley. 

Chatterji,  The  Hindu  Realism.     Allahabad,  The  Indian  Press. 

Field,  G.,  Socrates  and  Plato.     Oxford,  Parker. 

Frank,  H,  Modern  light  on  immortality.     Boston,  Sherman. 

Maekmillan,  R.,  The  crowning  phase  of  the  critical  philosophy.  London. 
Macmillan. 

Merz,  J.,  A  history  of  european  thought  in  the  nineteenth  Century.  Edin- 
burgh, Blackwood. 

Myers,  Ph.,  History  as  past  ethics.     New  York,  Ginn. 

C.  Französische    und    belgische    Literatur. 

Charles,  P.,  La  metaphysique  du  kantisme.     Paris,  Riviere. 
Dedieu,  Montesquieu.      Paris,  Alean. 


512  Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Genil-Perrin,  G.,  Histoire  des  origines  et  de  l'evolution  de  l'idee  de  degene- 

rescence  en  medicine.     Paris,  Leclerc. 
Guyau,  A.,  La  philosophie  et  la  sociologie  de  Fouillee.     Paris,  Alcan. 
Picavet,  Essai  sur  1'  histoire  generale  et  comparee  des  theologies  et  des  philo - 

sophies  medievales.     Paris,  Alcan. 
Poincare,  H.,  Legons  sur  les  hypotheses  cosmogoniques.     Paris,  Herman. 
Probst,  J.  H.,  Caractere  et  origine  des  idees  du  Bienheureux  Raymond  Lulle. 

Toulouse,  Privat. 

D.  Italienische    und    spanische    Literatur. 
Gemelli,  A.,  L' origine  subconsciente  dei  fatti  mistici.     Firenze. 

—  Nuovi  metodi  ed  orizzonti  della  psicologia  sperimentale.  Firenze. 
Lanna,  D.,  La  teoria  della  conoscenza  in  S.  Thomas  d'Aquino.  Firenze. 
Suali,  Introduzione  allo  studio  della  filosofia  indiana.     Pavia,  Mattei. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  Bd.  149,  H.  2.  Müller, 
Gedenkblatt  zu  Deutingers  100.  Geburtstag,  24.  März  1915. 

Zeitschrift  für  positivistische  Philosophie.  Bd.  1,  H.  1.  Kern,  Zur  Er- 
kenntnislehre der  Marburger  Schule.  Der  Inhalt  der  vier  Haupt  - 
Schriften  von  R.  Avenarius,  von  ihrem  Verfasser  selbst  dargestellt. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Bd.  XXVI,  H.  2.  Schmitfranz,  Die  Gestalt  der 
platonischen  Ideenlehre  in  den  Dialogen  „Parmenides"  und  „Sophistes". 
Rolfes,  Zu  dem  Gottesbeweise  des  hl.  Thomas  aus  den  Stufen  der 
Vollkommenheit.  Endres,  Studien  zur  Geschichte  der  Frühscholastik. 
Kopp,  Die  erste  katholische  Kritik  an  Kants  Grundlegung  zur  Meta- 
physik der  Sitten. 

Kant-Studien.  Bd.  XVIII,  H.  1—2.  Messer,  Zum  70.  Geburtstag  H.  Siebecks. 
Kuntze,  Kritischer  Versuch  über  den  Erkenntniswert  des  Analogie- 
begriffes. Buchenau,  Bericht  über  den  V.  Kongreß  für  experimentelle 
Psychologie. 

Imag,  Bd.  II,  H.  2.  Hitschmann,  Schopenhauer.  Winterstein,  Psychoana- 
lytische Anmerkungen  zur  Geschichte  der  Philosophie.  Ferenczi, 
Aus  der  „Psychologie"  von  H.  Lotze. 

Zeitschrift  für  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unterrichts.  Bd.  IL,  H.  1. 
Schermann,  Das  Studium  der  Philosophie  in  der  Deutschordensstadt 
Mergentheim  von  1754  bis  1804. 

—  H.  2.     Herrmann,  Friedrich  Ast  als  Neuhumanist. 

—  H.  3.  Kabitz,  Die  Bildungsgeschichte  des  jungen  Leibhiz.  Beiheft  3. 
Eitle,  Der  Unterricht  in  den  einstigen  württembergischen  Kloster- 
schulen von  155G — 1806. 


Die  neuesten  Erscheinungen  a.  d.  Gebiete  der  Geschichte  d.  Philosophie.     513 

The  Monist.    Vol.  XXTTI,  Nr.  2.    Mark  Twains  Philosophy.    Carus,  H.  Poin- 

care  on  the  relativity  of  space. 
TIn    Hibbert  Journal.     Vol.  XT.  Xr.  3.    Royce,  The  Christian  doctrine  of  life. 

Carpenter,  The  buddhist  doctrine  of  salvation.    Galsworthy,  The  new 

spirit  in  the  drama,    Bacon,  A  Century  of  change  in  new  testament 

criticism . 
The  philosophiml  Review.     Vol.  XXII,  Xr.  3.    Kiueger,   New    aims  and   ten- 

dencies  in  psychology. 
Mi  inj.     1913,  Xr.   SG.    Mackenzie,  A  sketch  of  philosophy  of  order.    Knox, 

W.  James  and  his  philosophy. 
B«  me  de  Meta<physique  et  cle  Monde.     1913,    Xr.  2.     Rivaud,    P.    Tannery, 

historien  de  la  science  antique.     Robin,  Piaton  et  la  science  sociale. 
Revue  philosophique.      1913,    X.   5.      Luquet,  Le  probleme  des  origines  de 

Part   et   l'art    paleolitique.     Barat,   La   psychiatrie  de   Kraepelin,   son 

objet  et  sa  methode. 
Revui    de    philosophie.     1913,    Xr.    5—6—7.     Calvet,    S.    Vincent    de    Paul. 

Demimuid,  Les  premieres  Dames  de  Charite  au  XVIT  siede.     Pacheu, 

Les  mystiques  interpretes  par  les  mystiques. 
Revue   Neo-Scolastique.     1913,   Xr.    78.      Mandonnet,   R.    Bacon   et    la    com- 

position  des  trois  „Opus".     Ghellinck,  Un  catalogue  des  oeuvres  de 

Hygues  de  Saint- Victi. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.   Deutsche    Literatur. 
Barthel,    E-,    Elemente    der   Transzendentalen    Logik.     Straßburg,    DuMont 

Schauberg. 
Bühler,    K.,    Die    Gestaltwahrnehmungen.      1.    Band.     Stuttgart,    Spemann. 
Burckhard,  G.  E.,  Individuum  und  Allgemeinheit  in  Piatos  Politeia.    Halle. 

Xiemeyer. 
Driesch,   H.,   Die  Logik   als  Aufgabe.     Tübingen,  Mohr. 
Eisler,   R.,  Handwörterbuch  der  Philosophie.     Berlin,  Mittler. 
Gabius,  P.,  Denkökonomie  und  Energieprinzip.     Berlin,  Curtius. 
Hasse,  P.,  Das  Wesen  der  Persönlichkeit.    Meerane  i.  S.,  Herzog. 
Heinemann,  F.,  Der  Aufbau  von  Kants  Kritik  der  reinen  Vernunft  und  das 

Problem   der   Zeit.     Gießen,   Töpehnann. 
Klüger,    R.,    Die    pädagogischen    Ansichten    des    Philosophen    Tschirnhaus. 

Leipzig,  Noske. 
Kohler,   J.,  Moderne  Rechtsprobleme.     Leipzig,  Teubner. 
Kraus,  O.,  Piatons  Hippias  Minor.     Prag,  Taußig. 
Kriegbaum,  S.,  Der  Ursprung  der  von  Kalliklcs  in  Piatons  Gorgias  vertretenen 

Anschauungen.     Paderborn,  Schöningh. 


514  Zur  Besprechung  eingegangene   Werke. 

Kultur  der  Gegenwart,  Die.  Herausgegeben  von  P.  Hinneberg.  Teil  T. 
Abteilung  V.  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  von  Wilhelm 
Wundt    u.    a.      Zweite    Aufl.    Leipzig,   Teubner. 

Lipps,    Th.,    Psychologische    Untersuchungen.    Leipzig,    Engelmann. 

Menzer,  P.,  Einleitung  in  die  Philosophie.    Leipzig,  Quelle  Sc  Meyer. 

Meyer,  G.,  Der  Weltknoten.     Straßburg,  Heitz. 

Michelitsch,  A.,  Thomas-Schriften  I.    Wien,  Styria. 

Neumark,  D.,  Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters.  Berlin, 
G.  Reimer. 

Popp,  W.,  Kritische  Entwicklung  des  Assoziationsproblems.    Leipzig,  Barth. 

Rickert,  H.,  Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung.  Tübin- 
gen, Mohr. 

Riehl,   A.,  Philosophie  der  Gegenwart.    4.   Aufl.    Leipzig,  Teubner. 

Rotten,  E-,  Goethes  Urphänomen  und  die  platonische  Idee.  Gießen,  Töpel- 
mann. 

Siegel,  C,  Methodik  des  Unterrichts  in  der  philosophischen  Propädeutik. 
Wien,  Pichler. 

Windelband,  W.,  Die  Prinzipien  der  Logik.    Tübingen,  Mohr. 

B.   Eranzösische    Literatur. 

Annales  de  T Institut  Superieur  de  Philosophie  de  l'Universite  de  Louvain. 

Tome  IL     Annee  1913.     Louvain. 
Faye,  E.  de,  Gnostiques  et  gnosticisme.     Paris,  Leroux. 
Mansion,  A.,  Introduction  ä  la  physique  Aristotelicienne.     Louvain,  Institut 

Superieur  de  Philosophie. 

C.   Englische    Literatur. 
Castro,   M.,   The  respective   Standpoints  of   psychology   and  logic.    Chicago, 

University  of  Chicago  Press. 
Heidel,  W.  A.,  On  certain  fragments  of  the  Pre-Socratics.     Boston. 
More,  P.  E-,  The  drift  of  romaniticism.     London,  Constable. 

D.   Schwedische    Literatur. 
Liljekrantz,  B.,  Höijers  identitetsfilosofi.       Lund,  Gleerup  (Leipzig,  Harrasso- 
witz). 


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Bibliothek  für  Philosophie 

Herausgegeben  von  Ludwig  Stein 
6.  Band 

Beilage  zu  Heft  2  des  Archivs  für  Geschichte  der  Philosophie,  Band  XXVI 

e1 

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1 


Wilhelm  Wundts  Stellung 
zur  Erkenntnistheori 


Von 


Dr.  Willi  Nef 

(St.  Gallen) 


Preis  .Hk.  1,80 


B- 


h. 


BERLIN 

SW48,  Wilhelnistraße  121 
Druck  und  Verlag  von  Leonliard  S  i  m  i  o  n  N  f . 

1913 


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Dieses  Heft  wird  den  Abonnenten  des  Archivs  tttr  Geschichte  der  Philosophie 


Wilhelm  Wundts  Stellung 
zur  Erkenntnistheorie  Kants 


Von 

Dr.  Willi  Nef 

(St.  GaUen) 


Preis  Mk.  1,80 


■H- 


BERLIN 

SW48,  Wilhelmstraße  121 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  Nf. 

1913 


1 


Inhalt. 


Seite 

Vorbemerkung 5 

1.  Kurze  Übersicht  über  Wundts  allgemeinen  erkenntnistheoretischen 
Standpunkt      < 

2.  Wundts  Ansicht  über  Kants  historische  Stellung 8 

3.  Der  Ausgangspunkt  der  Erkenntnistheorie.    Subjekt  und  Objekt  .    .  11 

4.  Die  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit 16 

a)  Die  Analyse  des  Wahrnehmungsinhaltes 16 

b)  Die  Apriorität  der  Anschauungsformen 21 

c)  Die  objektive  Bedeutung  von  Raum  und  Zeit 23 

5.  Die  Stammbegriffe  des  Verstandes 25 

a)  Allgemeines 25 

b)  Die  Substanz 28 

c)  Die  Kausalität      33 

d)  Der  Zweck 38 

6.  Erscheinung,  Wirklichkeit  und  Ding  an  sich 41 


< 


Vorbemerkung. 


Wundts  Erkennntistheorie,  wie  sie  in  seinem  „System  der  Philoso- 
phie", seiner  „Logik"  und  einzelnen  kleineren  Aufsätzen  niedergelegt 
ist,  hat  in  der  neueren  philosophischen  Literatur  wenig  Beachtung 
gefunden.  Der  Grund  hierfür  mag  darin  Hegen,  daß  Wundt  nicht, 
wie  dies  heute  meist  üblich  ist,  seinen  Ausgangspunkt  von  Kant  ge- 
nommen hat,  um  dann  zu  zeigen,  in  welcher  Beziehung  die  Kantische 
Erkenntnislehre  teils  der  Berichtigung,  teils  der  Fortbildung  bedürfe. 
Es  mag  deshalb  einmal  am  Platze  sein,  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnis- 
theorie Kants  möglichst  vollständig  zusammenzustellen,  um  so  allen, 
die  Wundt  nach  dieser  Seite  hin  nicht  beachtet  oder  mißverstanden 
haben,  den  Weg  in  seine  oft  schwierigen  Gedankengänge  zu  bahnen. 
Denjenigen,  die  in  der  Erkenntnistheorie  nicht  wie  Wundt  von  der 
Erfahrung  und  den  einzelnen  Wissenschaften,  sondern  von  Kant 
ausgehen,  werden  auf  diese  Weise  die  Beziehungen  klar  werden,  welche 
dieser  „Realismus"  zu  Kant  besitzt.  Wenn  die  folgenden  Erörte- 
rungen zwar  zeigen  werden,  daß  Wundt  in  wichtigen  Grundfragen 
der  Erkenntnislehre  von  Kant  abweicht,  so  wird  der  idealistische 
Erkenntnistheoretiker  doch  auch  wieder  sehen,  daß  sich  die  realistische 
Richtung  Wundts  in  mancher  Beziehung  mit  der  Lehre  Kants  be- 
rührt. Die  folgenden  Auseinandersetzungen  begnügen  sich  mit 
einer  rein  betrachtenden  Darstellung  von  Wundts  erkenntnis- 
theoretischer Stellung  zu  Kant;  kritische  Erörterungen  über  diesen 
Gegenstand  hoffe  ich  einmal  in  einer  Gesamtdarstellung  derErkenntnis- 
lehre  Wundts  geben  zu  können.1) 


')  Wundts  System  der  Philosophie  (Leipzig  1907 3)  wird  im  Folgen- 
den mit  S,  seine  Logik  (Stuttgart  1906 3)  mit  L,  und  die  Kleinen  Schriften 
(Leipzig  1910,  I.)  mit  Kl.  Sehr,  abgekürzt. 


1 


1.    Kurze    Übersicht    über    Wundts    allgemeinen 
erkenntnistheoretischen   Standpunkt. 

Wundts  allgemeiner  erkenntnistheoretischer  Standpunkt  läßt  sich 
in  Kürze  folgendermaßen  zusammenfassen: 

Die  Erkenntnistheorie  hat  von  dem  uns  unmittelbar  gegebenen 
objektiven  Wahrnehmungsinhalte  auszugehen,  der  mit  dem  Charakter 
der  Objektivität,  der  Realität  gegeben  ist.  Aufgabe  der  Erkenntnis- 
theorie ist,  die  gegebenen  Vorstellungsobjekte  einer  wissenschaftlichen 
Prüfung  zu  unterziehen,  die  gegebene  objektive  Realität  zu  bewahren, 
wo  diese  vorhanden  ist,  und  über  ihre  Existenz  zu  entscheiden,  wo  sie 
dem  Zweifel  ausgesetzt  ist.  Die  wissenschaftliche  Analyse  des  Wahr- 
nehmungsinhaltes führt  dazu,  den  ganzen  qualitativen  Wahrnehmungs- 
inhalt  in  das  Subjekt  zurückzunehmen,  während'  keine  logischen 
Gründe  vorliegen,  an  der  objektiven  Realität  der  übrigen  Eigen- 
schaften des  Wahrnehmungsinhaltes,  an  den  Formen  von  Raum  und 
Zeit,  an  der  Bewegung  und  an  der  zum  Behufe  einer  widerspruchslosen 
Verknüpfung  des  gesamten  Wahrnehmungsinhaltes  hypothetisch  not- 
wendig anzunehmenden  Materie  zu  zweifeln.  Die  Folge  der  Zurück- 
nahme der  Empfindungsqualitäten  in  das  Subjekt  ist  zunächst  die, 
daß  unsere  Vorstellungen  nur  noch  als  Symbole  einer  begrifflich  auf- 
zufassenden Realität  zu  gelten  haben.  Demgemäß  muß  unsere  Gesamt- 
erfahrung von  zwei  Standpunkten  aus  betrachtet  werden:  von  dem 
unmittelbaren  anschaulichen  und  dem  mittelbaren  begrifflichen 
Standpunkte  aus.  Die  erste  Art  der  Betrachtung  ist  die  Aufgabe  der 
Psychologie,  die  zweite  Art  vertritt  die  Naturwissenschaft, 

Was  zunächst  die  mittelbare  oder  objektive  Erfahrung  betrifft, 
so  bieten  für  die  erkenntnistheoretische  Betrachtung  die  formalen  Be- 
griffe des  Raumes  und  der  Zeit,  und  die  Wirklichkeitsbegriffe  der 
Substanz,  der  Kausalität  und  des  Zweckes  das  wesentliche  Interesse. 
Raum  und  Zeit  sind  nicht  subjektive  Anschauungsformen,  sondern  sie 


8  Willi  Nef, 

sind  objektive  Begriffe,  die  Substanz  und  die  Kausalität  sind  zur  Er- 
klärung des  widerspruchlosen  Zusammenhangs  der  ganzen  Erfahrung- 
notwendig  zu  bildende  Begriffe,  der  Zweck  ist  als  subjektives  Be- 
urteilungsprinzip die  Umkehrung  der  Kausalität  und  als  objektives 
Prinzip  kommt  er  in  allen  mit  Willensäußerungen  verbundenen  Er- 
scheinungen in  Betracht.  Für  die  unmittelbare  oder  psychologische 
Erfahrung  fällt  der  Begriff  der  Substanz  als  zur  Erklärung  des  psychi- 
schen Zusammenhangs  unnötig  weg.  Hingegen  kommen  hier  der 
Kausalität,  die  unter  besondern,  von  der  Naturkausalität  abweichenden 
Prinzipien  steht  und  dem  Zweck,  der  im  Geistesleben  die  ausschlag- 
gebende Rolle  spielt,  große  Bedeutung  als  Erkenntnisprinzipien  zu. 
Für  die  Ableitung  aller  Erkenntnisprinzipien  ist  von  maßgebender 
Bedeutung  das  Zusammenwirken  von  anschaulichen  (empirischen) 
und  logischen  Motiven.  Nur  durch  das  Aufeinanderbezogensein  von 
Erfahrung  und  Denken  ist  überhaupt  Erkenntnis  möglich.2) 

2.    W  u  n  d  t  s    Ansicht    über    Kants    historische 

Stellung. 

Um  Kants  allgemeine  Stellung  zum  Erkenntnisproblem  zu  ver- 
stehen, muß  man  sich  darüber  klar  sein,  daß  sich  die  Streitfragen  der 
neueren  vorkantischen  Erkenntnislehre  auf  zwei  im  Grunde  ge- 
nommen verschiedenen  Hauptgebieten  bewegt  haben,  die  aber  sehr 
zum  Schaden  der  Klarheit  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  erkenntnis- 
theoretischen Erörterungen  nicht  immer  scharf  auseinander  gehalten 
werden. 

1.  Aus  den  scholastischen  Streitigkeiten  zwischen  Realismus  und 
Nominalismus  war  der  Erkenntnistheorie  die  Aufgabe  übergeben 
worden,  festzustellen,  ob  die  transzendenten  Glaubensobjekte  zu 
Gegenständen  des  Wissens  erhoben  werden  könnten  oder  nicht.  Diese 
Frage  beschäftigte  die  neueren  Erkenntnistheoretiker  seit  Hobbes 
und  Descartes  ebenso  wie  ihre  älteren  scholastischen  Geistesverwandten. 
Die  eine  Richtung,  die  man  gewöhnlich  als  die  empiristische  bezeichnet, 
die  aber  vielleicht  besser  die  skeptische  genannt  würde,  leugnete  alles 
Wissen  transzendenter  Ideen;  ihr  steht  die  gewöhnlich  sogenannte 


2)  Die    Hauptpunkte    der    Wundtschen    Erkenntnislehre    wurden    hier 
nur  ganz   kurz  zur  allgemeinen   Orientierung  vorausgeschickt. 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  9 


*& 


rationalistische  oder  vielleicht  besser  dogmatisch-ontologische  Ansicht 
gegenüber,  welche  gerade  diese  transzendenten  Ideen  als  Gegenstände 
einer  notwendigen,  der  zufälligen  Erfahrung  vorausgehenden  Er- 
kenntnis nachzuweisen  suchte.    L.  I.  379. 

Diese  Frage  nach  der  Beweisbarkeit  der  Glaubensobjekte  war 
auch  in  Kants  Erkenntnislehre  die  dominierende.  Ihm  gelang  es,  wie 
keinem  vor  ihm,  die  Begriffsdialektik  des  Ontologismus  zu  durch- 
schauen und  darin,  in  der  Zerstörung  des  Ontologismus  durch  seine 
„transzendentale  Dialektik"  sieht  Wundt  eine  „unvergängliche 
Leistung'*  Kants.  L.  I.  384.  Es  ist  zwar  allerdings  ein  bemerkens- 
wertes Zeugnis  für  die  transzendenten  Neigungen  des  menschlichen 
Geistes,  daß  dieser  gleiche  Denker,  der  den  Ontologismus  vernichtet 
hat,  dem  Verhängnis,  das  Unerkennbare  doch  wieder  in  einen  Gegen- 
stand der  Erkenntnis  zu  verwandeln,  nicht  entging.  Gegenüber  der 
schroffen  Ansicht  Humes,  nach  welcher  die  übersinnliche  Welt  nicht 
einmal  Gegenstand  eines  Glaubens  sein  kann,  handelte  es  sich  für 
Kant  darum,  die  Rettung  der  Glaubensobjekte  auf  neuen  Wegen  zu 
versuchen.  „Den  einen  bot  die  praktische  Philosophie  dar;  aber  noch 
einen  anderen  hoffte  Kant  zu  finden,  indem  er  den  Nachweis  zu  führen 
suchte,  daß  von  uns  hinter  den  Erscheinungen,  die  allein  Gegenstand 
der  Erfahrungserkenntnis  seien,  ein  „Ding  an  sich"  vorausgesetzt 
werde,  das,  transzendent,  wie  die  Glaubensobjekte,  wenn  nicht  als 
ein  theoretischer  Beweis,  so  doch  als  ein  Hinweis  auf  dieselben  be- 
trachtet werden  müsse.  Auf  diese  Weise  meinte  Kant  die  Ideen  der 
Freiheit,  der  Unsterblichkeit  und  der  Gottheit  aus  Gegenständen  des 
Glaubens  abermals  in  solche  des  Wissens  umwandeln  zu  können,  zwar 
nicht  eines  Wissens,  das  den  Inhalt  dieser  Ideen  näher  zu  bestimmen 
vermöge,  wie  es  die  ältere  rationalistische  Metaphysik  versucht  hatte, 
sondern  das  auf  die  Überzeugung  von  ihrer  realen  Existenz  sich  be- 
schränke."   L.  I.  383. 

2.  Neben  dieser  metaphysisch  -  erkenntnistheoretisehen  Frage 
über  die  Realität  der  transzendenten  Glaubensobjekte  ging  besonders 
seit  Locke  und  Leibniz  die  spezifisch-erkenntnistheoretische  Frage 
nach  der  Entstehung  der  Erkenntnis  aus  empirschen  und  apriorischen 
Elementen  einher.  Hier  zeigen  sich  die  eigentlichen  Gegensätze 
zwischen  Empirismus  und  Rationalismus  (Apriorismus).  Immer 
schärfer  und  konsequenter  wandte  sich  der  englische  Empirismus  von 
Locke  und  Hume  gegen  den  Apriorismus.     Nach  der  Ansicht  des 


10  Willi   Nef. 

letzteren  Denkers  haben  alle  unsere  wissenschaftlichen  Sätze,  selbst 
die  mathematischen  Größen-  und  Zahlbegriffe  ihre  Quelle  schließlich 
in  Sinneseindrücken.  Unsere  Überzeugung  von  der  Realität  der  Er- 
fahrung hängt  vom  Glauben  an  die  Sinneseindrücke  ab,  ist  also  über- 
haupt nur  Glaubenssache.  Die  Begriffe  sind  identisch  mit  den  Einzel- 
vorstellungen. Da  die  beiden  Fundamentalbegriffe  der  Substanz  und 
Kausalität  nicht  auf  Einzelvorstellungen  zurückgeführt  werden 
können,  so  erscheinen  sie  Hume  als  Produkte  von  Assoziationen,  die 
Substanz  als  eine  simultane,  die  Kausalität  als  eine  sukzessive  Ver- 
bindung von  Vorstellungen.    L.  I.  381  f. 

In  diesen  Streit  zwischen  Apriorismus  und  Empirismus  greift 
Kant  ebenfalls  ein,  indem  er  einen  Mittelweg  einschlägt.  „Mit  den 
Empirikern  erklärt  Kant,  unsere  Erkenntnis  reiche  genau  so  weit  wie 
die  Erfahrung;  er  unterscheidet  sich  von  ihnen  aber  dadurch,  daß 
er  nachzuweisen  sucht,  wie  die  Erfahrung  selbst  durch  a  priori  ge- 
gebene Bedingungen  des  Denkens,  Anschauungsformen  und  Begriffe, 
geformt  werde.  Hatte  selbst  Hume  den  Größe-Zahl-  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  auch  den  Raumbegriffen  eine  Gewißheit  zugeschrieben, 
die  er  aus  der,  wenn  auch  durch  die  Erfahrung  angeregten,  so  doch 
schließlich  subjektiv  vor  sich  gehenden  Entstehung  dieser  Begriffe 
ableitete,  so  betrachtete  Kant  schon  die  Voraussetzungen  jener 
mathematischen  Begriffe,  den  Raum  und  die  Zeit,  als  a  priori  in  uns 
liegende  Anschauungsformen.  Wie  aber  auf  mathematischem  Gebiete 
die  Evidenz,  so  schien  ihm  bei  aller  Erfahrung  der  an  die  Gesetze 
des  Geschehens  sich  knüpfende  Begriff  der  Notwendigkeit  auf  Be- 
dingungen a  priori  hinzuweisen,  die  in  die  Erfahrung  eingehen.  So 
gewann  Kant  seine  Stammbegriffe  des  Verstandes,  bei  deren  Unter- 
suchung auch  ihm  sichtlich  der  Begriff  der  Kausalität  als  Leitstern 
gedient  hat,  an  den  sich  zunächst  derjenige  der  Substanz  anschloß, 
während  die  andern  zum  Teil  erst  durch  die  Ableitung  aus  den  logischen 
Urteilsformen  hinzukamen,  worauf  endlich  dieses  ganze  System  der 
Kategorien  durch  die  mit  vieler  Mühe  konstruierte  Beziehung  zu  den 
allgemeinen  Formen  der  Zeitanschauung  seine  tiefere  Begründung 
fand.  Der  Streit  zwischen  Empirismus  und  Rationalismus  war  damit 
für  Kant  in  einer  vermittelnden  Weise  entschieden,  indem  ihm  alle 
Erkenntnis  gleichzeitig  gebunden  war  an  einen  empirisch  gegebenen 
Inhalt,  den  Stoff  der  Empfindung,  und  an  a  priori  gegebene  Formen, 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  11 

die  Anschauungsformen  und  Kategorien,  die  ihrerseits  wieder  durch 
jenen  „Schematismus  der  Zeit"  untrennbar  verbunden  waren." 
L.  I.  383  f. 

3.    Der    Ausgangspunkt    der    Erkenntnistheorie. 

Subjekt  und  Objekt. 
Gegenüber  dem  einseitigen  Empirismus  Humes  versuchte  Kant 
in  seiner  Erkenntnislehre  die  Allgemeingültigkeit  und  Notwendigkeit 
der  Erkenntnisse,  die  er  aus  bloßer  Erfahrung  nicht  für  nachweisbar 
hielt,  dadurch  zu  retten,  daß  er  dem  Erfahrungsstoff  der  Empfindungen 
die  apriorischen  Formen  von  Raum  und  Zeit  und  der  Verstandes- 
begriffe entgegenstellte.  So  stehen  der  Empfindungsinhalt,  der  auf 
ein  unbekanntes  Ding  an  sich  hinweist,  von  dem  das  Gemüt  affiziert 
wird  und  die  apriorischen  Erkenntnisformen  als  objektive  und  sub- 
jektive Faktoren  des  Erkenntnisvorganges  einander  gegenüber. 
Auf  diese  Weise  erscheinen  das  erkennende  Subjekt  und  das  gegebene 
Objekt,  das  vom  Subjekt  im  Erkenntnisvorgange  geformt  wird,  als 
von  Anfang  an  von  einander  getrennt,  und  der  Erkenntnislehre  kommt 
die  Aufgabe  zu,  zwischen  Subjekt  und  Objekt  eine  Brücke  zu  schlagen. 
Die  ursprüngliche  Trennung  von  Subjekt  und  Objekt  ist  nach  der 
Ansicht  Wundts  ein  von  vorneherein  verfehlter  Ausgangspunkt  der 
Kantschen  wie  auch  anderer  philosophischer  Erkenntnistheorien. 
Unser  Denken  ist  von  Anfang  an  Erkennen,  d.  h.  es  ist  verbunden  mit 
der  Überzeugung  von  der  Wirklichkeit  der  Gedankeninhalte.  Die  ur- 
sprüngliche Einheit  von  Denken  und  Erkennen  ist  daher  zugleich  eine 
Einheit  den  Denkens  und  Seins.  Unser  Erkennen  ist  anfänglich  un- 
mittelbar eins  mit  seinem  Gegenstande.  „Unsere  Vorstel- 
lungen sind  ursprünglich  selbst  die  Objekte.'" 
S.  I.  79.  Dabei  ist  in  dem  ursprünglichen  Vorstellungsobjekt  der  Be- 
griff eines  dem  Subjekt  gegebenen  Objektes  noch  nicht  enthalten, 
sondern  jenes  ist  ein  vollkommen  einheitlicher  realer  Erkenntnisinhalt. 
Als  solcher  ist  es  zunächst  nur  Objekt.  „Darum  ist  es  nun  aber  auch 
nicht  zulässig,  jenes  primäre  Vorstellungsobjekt  als  ein  Etwas  zu 
bezeichnen,  welches  Objekt  und  subjektive  Vorstellung  zugleich 
sei  und  damit  die  Verbindung  von  Subjekt  und  Objekt  als  eine  jeder 
Erkenntnisentwicklung  vorausgehende  Koordination  und  diese  als 
eine  Urtatsache  des  Bewußtseins  zu  betrachten."    S.  I.  80. 


12  Willi   Nef. 

Von  der  Stufe  des  naiven  Erkennens,  in  welcher  die  Vorstellung- 
zugleich das  Objekt  ist,  schreitet  das  Erkennen  allerdings  zur  re- 
flektierenden Form  weiter,  die  das  Objekt  der  Vorstellung  als  ein  von 
dieser  selbst  verschiedenes  ihr  gegenüberstellt.  Eine  Rückkehr  zur 
ursprünglichen  Stufe  ist  freilich  unmöglich.  „Doch  in  der  richtigen 
Überzeugung  von  dieser  Unmöglichkeit  begeht  die  gewöhnliche  philo- 
sophische Weltansicht  den  Fehler,  daß  sie  die  Brücke  ganz  hinter  sich 
abbricht.  Sie  hält  ihren  Standpunkt  reflektierenden  Erkennens  für 
den  ursprünglichen,  aus  dem  möglicherweise  eine  niemals  dagewesene 
Einheit  von  Denken  und  Sein  dereinst  einmal  gewonnen  werden 
könne:  statt  einzusehen,  daß  diese  Einheit  im  Anfang  gegeben  war, 
daß  sie  aber  dem  reflektierenden  Erkennen  unwiederbringlich  verloren 
gegangen  ist."  S.  I.  82.  Fallen  Objekt  und  Vorstellung  ursprünglich 
auseinander,  so  bedarf  es  besonderer  Merkmale  an  dem  Objekt  und 
an  der  Vorstellung,  die  eine  Bürgschaft  dafür  bieten,  daß  beide  einander 
wirklich  entsprechen.  Doch  sind  alle  diese  Versuche,  solche  Merkmale 
aufzufinden,  erfolglos.  „Es  ist,  sobald  einmal  Objekt  und  Vorstellung 
als  ursprünglich  verschiedene  Tatsachen  in  der  Welt  des  Wirklichen 
angenommen  sind,  schlechterdings  nicht  mehr  möglich,  von  der  einen 
zur  andern  hinüberzugelangen,  obgleich  doch  unser  fortwährendes 
Beziehen  der  Vorstellungen  auf  die  Objekte  und  der  Objekte  auf  die 
Vorstellungen  dazu  immer  wieder  auffordert.  Das  endgültige  Ein- 
geständnis dieses  Unvermögens,  zwischen  jener  völlig  bekannten 
Tatsache  der  Vorstellung  und  dieser  völlig  unbekannten  eines  Objektes 
derselben  eine  Beziehung  zu  finden,  besteht  daher  in  der  Fiktion  eines 
„Dinges  an  sich".  Der  objektslosen  Vorstellung  steht  hier  der  Be- 
griff eines  Objektes,  das  niemals  Vorstellung  werden  kann,  als  ihre 
Ergänzung  gegenüber.  Doch  die  Unnatur  beider  Begriffe  zeigt  sich 
auf  das  handgreiflichste  darin,  daß  die  objektslose  Vorstellung  und 
das  nicht  vorstellbare  Objekt  gleichwohl  aufeinander  bezogen  werden 
sollen,  indem  die  Vorstellung  völlig  von  dem  Ding  verschieden  sein 
und  dennoch  auf  dasselbe  hinweisen  soll.  Die  Annahme  eines  solchen 
Hinweises  stützt  man  aber  auf  nichts  anderes  als  eben  darauf,  daß 
das  Merkmal  Objekt  zu  sein  der  Vorstellung  ursprünglich  zukommt. 
Unversehens  fällt  also  hier  die  reflexionsmäßige  Auffassung  in  den 
naiven  Standpunkt  zurück.  Behält  sie  dabei  auch  noch  die  von  ihr 
gewonnenen  Unterscheidungen  bei,  so  verwandelt  sich  das  Ding  an  sich 
in  die  Ursache  unserer  Vorstellungen.     Eine  seltsame  Vermengung 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  13 

unvereinbarer  Gesichtspunkte!  Handelt  es  sich  doch  bei  Ursache 
und  Wirkung  um  das  Verhältnis  gleichartiger  Glieder  eines  Ganzen 
der  Erfahrung,  nicht  um  Beziehungen  zwischen  disparaten  Begriffen, 
von  denen  der  eine  jenseits  aller  Erfahrung  hegt."    S.  I.  83  f. 

Wenn  man  nun  auch  dem  Denken,  das  die  Stufe  der  Reflexion 
erreicht  hat,  nicht  zumuten  kann,  wieder  zu  der  naiven  Auffassung 
zurückzukehren,  so  ist  doch  an  das  Denken  immer  die  Forderung 
zu  stellen,  daß  jede  Vermengung  der  Reflexionsbegriffe  mit  der  ur- 
sprünglichen Anschauung  vermieden  werde.  Der  Transzendentalismus 
steht  mit  dieser  Forderung  nicht  im  Einklang.  „Die  transzendentale 
Erkenntnislehre  ist  objektiver  Realismus,  insofern  sie  ein  unabhängig 
von  der  Vorstellung  existierendes  Ding  annimmt;  und  sie  ist  subjektiver 
Idealismus,  da  sie  alles  Erkennen  nicht  auf  dieses  Dhig,  sondern  auf 
die  Vorstellungen  von  Objekten  als  die  Erscheinungswelt  des  Subjektes 
bezieht.  In  ihren  Begriffskonstruktionen  nimmt  sie  daher  auch  ganz 
den  Weg  des  subjektiven  Idealismus.  Nur  so  viel  hat  sie  von  den 
Voraussetzungen  des  objektiven  Realismus  beibehalten,  um  alles 
Wissen,  das  auf  diesem  Wege  subjektiver  Begriffsbildung  hervor- 
gebracht wird,  in  ein  fragwürdiges  zu  verwandeln,  da  es  sich  nie  auf 
die  unbekannten  wirklichen  Dinge,  sondern  bloß  auf  die  Erscheinungs- 
welt des  denkenden  Subjektes  beziehen  könne."    S.  I.  86  f. 

Von  dem  Vorstellungsobjekt,  dem  die  Bedeutung  des  realen 
Seins  ursprünglich  zukommt,  hat  also  nach  der  Ansicht  Wundts  die 
Erkenntnistheorie  auszugehen.  Wohl  können  sich  durch  die  Be- 
arbeitung des  Vorstellungsobjektes  logische  Motive  ergeben,  die  uns 
nötigen,  Eigenschaften  des  Vorstellungsobjektes  ihrer  Objektivität 
zu  entkleiden  und  in  das  Subjekt  zurückzunehmen.  Doch  darf  uns 
dies  nicht  dazu  verleiten,  die  ganze  Wirklichkeit  zu  zerstören,  um  sie 
dann  mit  Hilfe  des  bloßen  Denkens  wieder  herzustellen.  „Diese  Ver- 
suche sind  von  vornherein  zur  Ohnmacht  verurteilt.  Die  zerstörte 
Wirklichkeit  läßt  sich  mit  Hilfe  des  bloßen  Denkens  nicht  wieder- 
herstellen. Das  einzige  Ergebnis  solchen  Beginnens  bleibt  daher  ein 
fruchtloser  Subjektivismus,  gleichgültig,  ob  er  offen  Farbe  bekennt, 
oder  ob  er  durch  das  Zugeständnis  einer  „Erscheinungswelt'",  hinter 
der  sich  ein  unerkennbares  Sein  verbergen  soll,  eine  Art  relativer  Wirk- 
lichkeit zu  retten  sucht."     S.  I.  91. 

So  können  wir  denn  sagen,  daß  der  Weg,  den  die  Erkenntnis- 
theorie zu  gehen  hat,  gerade  der  umgekehrte  desjenigen  ist,  den  Kant 


14  Willi  Nef. 

und  die  spekulative  Philosophie  eingeschlagen  haben.  „Nicht  objektive 
Realität  zu  schaffen  aus  Elementen,  die  selbst  solche  noch  nicht  ent- 
halten, sondern  objektive  Realität  zu  bewahren,  wo  sie  vorhanden, 
über  ihre  Existenz  zu  entscheiden,  wo  sie  dem  Zweifel  ausgesetzt  ist: 
dies  ist  die  wahre  und  die  allein  lösbare  Aufgabe  der  Erkenntnis- 
wissenschaft. Die  alte  Regel:  aus  nichts  wird  nichts,  behält  auch  hier 
ihre  Geltung.  Wo  keine  Wirklichkeit  ist,  läßt  sich  mit  allen  Künsten 
logischen  Scharfsinns  keine  zuwege  bringen.  In  Wahrheit  erfüllt 
daher  die  Erkenntnislehre,  wenn  sie  nach  jenem  Grundsatze  handelt, 
nur  ein  Postulat,  das  die  Einzelwissenschaften  auf  ihren  besonderen 
Gebieten  bereits  stillschweigend  befolgt  haben."  S.  I.  91  f.  vgl.  auch 
L.  I.  407  ff. 

Nach  der  ganzen  Ausdrucksweise  Kants  in  der  ersten  Auflage  der 
Kritik  der  reinen  Vernunft  mußte  man  dazu  verführt  werden,  die 
Anschauungsformen  und  die  Kategorien  als  subjektive  Formen  im 
Sinne  des  gewöhnlich  sogenannten, subjektiven  Idealismus"  zu  halten. 
Denn  es  finden  sich  zahlreiche  Stellen,  die  auf  eine  solche  Auffassung 
Kants  schließen  ließen.  ,,So  werden  Raum  und  Zeit  als  Bestimmungen 
oder  Verhältnisse  der  Dinge  bezeichnet,  „die  nur  an  der  Form  der 
Anschauung  allein  haften  und  mithin  an  der  subjektiven 
Beschaffenheit  unseres  Gemüts,  ohne  welche  diese 
Prädikate  gar  keinem  Ding  beigelegt  werden  können."  So  wird  ferner 
von  den  Kategorien  hervorgehoben,  daß  sie  sich  auf  einen  „Gegen- 
stand" beziehen,  „der  bloß  in  uns  ist,  weil  eine  bloße  Modifikation 
unserer  Sinnlichkeit  außer  uns  gar  nicht  angetroffen  wird."  Kl.  Sehr. 
I*  189.  Diese  Anschauungen,  die  noch  durch  den  Umstand  verstärkt 
wurden,  daß  Kant  auf  das  nachdrücklichste  den  Stoff  der  Empfindung 
als  einen  „gegebenen"  von  den  dem  erkenneden  Subjekt  angehörenden 
Formen  der  Ordnung  und  Auffassung  der  Dinge  trennte,  übten  eine 
starke  Macht  auf  die  spätere  Fortbildung  des  Erkenntnisproblems  aus. 
„Je  mehr  nun  diese  Formen  als  fertig  vorhandene,  keiner  weiteren  Ab- 
leitung zugängliche  von  ihm  angesehen  wurden,  um  so  mehr  mußte 
hier  die  falsche  Vorstellung  sich  unterschieben,  die  Unterscheidung 
von  Subjekt  und  Objekt  gehe  aller  Erfahrung  voraus,  eine  Vorstellung, 
zu  der  überdies  Kants  Ansicht,  daß  das  „Bewußtsein  unserer  eigenen 
Existenz"  früher  sei  als  jede  äußere  Erfahrung,  fast  mit  Notwendig- 
keit hindrängte."     Kl.  Sehr.  1. 189  f. 

An  einer  Stelle  der  zweiten  Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft, 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  15 

in  der  der  Widerlegung  des  Idealismus  gewidmeten  Partie,  vertritt 
nun  Kant  eine  realistischere  Ansicht,  indem  er  der  unmittelbaren  Er- 
fahrung  objektive  Realität  beimißt.  Dabei  muß  man  allerdings  zu- 
gestehen, daß  bei  Kant  dieser  Gedanke  von  dem  unmittelbaren  Ge- 
gebensein der  äußeren  Erfahrung  möglicherweise  erst  durch  das 
Bestreben,  den  Unterschied  seiner  Lehre  von  derjenigen  Berkeleys  so 
klar  wie  möglich  hervorzuheben,  in  ihm  angeregt  worden  ist.  Mit 
diesem  in  der  Widerlegung  des  Idealismus  ausgesprochenen  Haupt- 
gedanken von  der  unmittelbaren  Realität  der  äußeren  Erfahrung  fühlt 
sich  Wundt  völlig  einig.  „Alle  Zeitbestimmung",  sagt  er  (nämlich 
Kant),  „setzt  etwas  Beharrliches  in  der  Wahrnehmung  voraus.  Dieses 
Beharrliche  kann  aber  nicht  etwas  in  mir  sein,  weil  eben  mein  Dasein 
in  der  Zeit  durch  dieses  Beharrliche  allererst  bestimmt  werden  kann. 
Also  ist  die  Wahrnehmung  dieses  Beharrlichen  nur  durch  ein  Ding 
außer  mir  und  nicht  durch  die  bloße  Vorstellung  eines  Dings 
außer  mir  möglich."  Und  von  diesem  der  „Widerlegung  des  Idealismus" 
gewidmeten  Beweise  meint  er,  daß  in  ihm  „das  Spiel,  welches  der 
Idealismus  trieb,  ihm  mit  mehreren  Rechte  umgekehrt  vergolten  wird." 
„Dieser  nahm  an,  die  einzige  unmittelbare  Erfahrung  sei  die  innere, 
und  daraus  werde  auf  äußere  Dinge  nur  geschlossen.  Allein 
hier  wird  bewiesen,  daß  äußerliche  Erfahrung  eigent- 
lich unmittelbar  sei,  daß  nur  vermittels  ihrer,  zwar  nicht 
das  Bewußtsein  unserer  eigenen  Existenz,  aber  doch  die  Bestimmung 
derselben  in  der  Zeit,  d.  h.  innere  Erfahrung,  möglich  sei."  (System. 
Vorstellung  aller  synthetishcen  Grundsätze,  Postulate  des  empir. 
Denkens.  2.  Auflage.  Widerlegung  des  Idealismus.)  Kl.  Sehr.  I.  187. 
Nach  der  Ansicht  Wundts  „kann  es  wahrlich  nicht  klarer  und  deutlicher 
gesagt  werden,  als  es  von  Kant  in  der  obigen  Stelle  geschieht,  daß 
die  Erfahrung  objektiv  gegebener  Gegenstände  eine  unmittelbare 
ist,  nicht  erst  auf  Schlüssen  oder  sonstigen  das  Objekt  erst  wieder 
aus  dem  Subjekt  hinausversetzenden  Funktionen  beruht.  Das  ist 
aber  genau  dasselbe,  was  ich  mit  den  Worten  ausgedrückt  habe:  „Dem 
ursprünglichen  Vorstellungsobjekt  kommt  das  Merkmal  Objekt 
zu  sein  unmittelbar  zu,  und  die  Trennung  von  Vorstellung  und  Objekt 
ist  erst  ein  späterer  Akt  des  unterscheidenden  Denkens."  Kl.  Sehr. 
I.  188. 

So  sehr  sich  nun  aber  auch  in  der  angeführten  Stelle  der  zweiten 
Auflage  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  eine  realistischere  Färbung 


16  Willi  Nef. 

der  Kantischen  Erkenntnislehre  zeigt,  so  ist  der  Grundgedanke,  der 
durch  das  Werk  geht,  doch  der,  daß  sich  unsere  Erkenntnis  aus  dem 
gegeben  Stoff  der  Empfindung  und  den  subjektiven  Formen  von 
Raum  und  Zeit  und  den  Verstandsbegriffen  bilde.  Den  An- 
schauungsformen und  den  Verstandsbegriffen  schreibt  Kant 
apriorische  Bedeutung  zu,  da  er  nur  auf  diese  Weise  die  allgemein 
gültige  und  notwendige  Erkenntnis  retten  zu  können  glaubt.  Sehen 
wir  nun  zu,  wie  sich  Wundt  zu  diesen  fundamentalen  Teilen  der 
Kantischen  Erkenntnislehre,  zur  Lehre  der  Anschauungs-  und  Ver- 
standesformen stellt. 

4.  Die  A  n  s  c  h  a  u  u  n  g  s  f  o  r  m  e  n  R  a  u  m  und  Z  e  i  t. 
a)  Die  Analyse  des  Wahrnehmungsinhaltes. 
Nach  Kant  sind  Raum  und  Zeit  Anschauungsformen  a  priori. 
Sie  müssen  jeder  einzelnen  Wahrnehmung  vorausgehen,  da  wir  keinen 
Gegenstand  wahrnehmen  können,  ohne  ihn  räumlich  und  zeitlich  zu 
ordnen.  Wenn  Kant  Raum  und  Zeit  als  transzendentale  Formen 
bezeichnete,  so  will  aber  dieser  Ausdruck  nicht  etwa  bedeuten,  daß 
sie  als  leere  Formen  in  uns  liegen,  sondern  daß  sie  Funktionen  des 
Bewußtseins  sind,  die  erst  in  dem  Augenblick  in  Wirksamkeit  treten, 
wo  uns  Empfindungen  gegeben  werden  Daraus  folgt,  daß  auch  die 
Empfindungen  niemals  ohne  jene  ordnenden  Formen  gegeben  sind. 
Die  Begriffe  der  reinen  Empfindung  und  der  reinen  Raum-  und  Zeit- 
anschauung sind  Abstraktionen.  „Bei  der  reinen  Empfindung  ab- 
strahieren wir  ebenso  von  der  Raum-  und  Zeitform,  wie  umgekehrt 
bei  dieser  von  dem  Empfindungsinhalte,  ohne  den  uns  nie  der  Raum 
und  die  Zeit  in  der  Wirklichkeit  gegeben  sein  können.'1     Kl.  Schi-. 

I.  158). 

Hier  sehen  wir  zunächst  wieder  deutlich,  wie  Kant  zwischen 
dem  Empirismus  und  dem  Rationalismus  Mitten  inne  steht  und  wie  er 
in  der  Analyse  des  Wahrnehmungsinhaltes  über  beide  hinausgeht. 
Kant  wies  nach,  wie  Raum  und  Zeit  weder  mit  zu  der  Materie  der 
Empfindung  gehören,  wie  der  Empiriker  Locke  vorausgesetzt  hatte, 
noch  daß  sie  a  priori  in  uns  liegende,  völlig  ohne  sinnliches  Substrat 
denkbare  Begriffe  sind,  wie  die  ältere  rationalistische  Philosophie 
annahm.  „Im  Gegensatz  zu  beiden  stellte  Kant  fest,  daß  Raum  und 
Zeit  durchaus  anschaulich  seien,  da  sie  unmittelbar  in  jede 


Wilhelm  Wundta  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  17 

sinnliche  Wahrnehmung  einsehen  und  ohne  eine  solche  gar  nicht  von 
uns  vorgestellt  werden  können,  daß  sie  aber  zugleich  eine  von  der 
Empfindung  wesentlich  verschiedene  Bedeutung  besitzen,  da  sie 
eben  ordnende  Formen  der  Empfindung,  d.  h.  nicht  selbst  Emp- 
findungen sind;  und  insofern  sie  zu  jeder  Wahrnehmung  gefordert 
werden,  nannte  sie  eben  Kant  apriorische  Formen.  Freilich  aber  hatte 
dieses  a  priori  bei  ihm  einen  ganz  andern  Sinn  als  in  dem  älteren 
Apriorismus.  Es  konnte,  da  die  Anschauungsformen  immer  nur  in  den 
einzelnen  sinnlichen  Wahrnehmungen  wirksam  werden,  nur  bedeuten: 
das  allen  einzelnen  Wahrnehmungen  Gemeinsame,  für  sie  Allgemein- 
gültige."    Kl.  Sehr.  I.  158  f. 

Gegenüber  diesen  verdienstlichen  Leistungen  Kants  sucht  Wundt 
die  kritische  Analyse  des  Wahrnehmungsinhaltes  mit  Rücksicht  auf 
Raum  und  Zeit  weiterzuführen.  Ist  jede  sinnliche  Wahrnehmung 
ein  räumlich-zeitlich  geordneter  Komplex  von  Empfindungen,  so  er- 
hebt sich  die  Frage,  welches  die  logischen  Motive  sind,  die  uns  ver- 
anlassen, die  Anschauungsformen  und  die  Materie  der  Empfindungen 
und  des  weitern  die  beiden  Anschauungsformen  voneinander  zu 
sondern.    Das   ist   eine   Frage,  auf  die  Kant  nicht  eingegangen  ist. 

Der  Grund  zur  logischen  Zerlegung  aller  Wahrnehmungen  in 
einen  stofflichen  und  in  einen  formalen  Bestandteil  liegt  in  der  un- 
abhängigen Variation  der  materialen  und  formalen  Bestandteile  und 
in  der  Konstanz  der  allgemeinen  Eigenschaften  der  formalen  Bestand- 
teile. Die  formalen  Bestandteile  Raum  und  Zeit  können  nicht  geändert 
gedacht  werden,  ohne  daß  zugleich  eine  Änderung  in  dem  Stoff  der 
Empfindungen  eintritt,  während  der  letztere  sich  völlig  verändern 
kann  bei  konstant  bleibender  Raum-  und  Zeitform.  ,,Ein  beliebiger 
Körper  z.  B.  kann  seine  Farbe  ändern,  während  seine  geometrischen 
Eigenschaften  nicht  im  geringsten  variiren:  aber  er  kann  nicht  seine 
Gestalt  ändern,  ohne  daß  entweder  vorhandene  Empfindungen  ver- 
schwinden oder  neue  entstehen.  Wie  der  Raum  zu  den  einzelnen 
gegenständlichen  Vorstellungen,  so  verhält  sich  nun  die  Zeit  zu  der 
Vorstellung  des  Geschehens:  wir  können  uns  inhaltlich  sehr  ver- 
schiedene Ereignisse  in  einem  und  demselben  Zeitverlauf  denken: 
wir  können  uns  aber  nicht  den  Zeitverlauf  geändert  denken,  ohne  daß 
sich  damit  die  Eigenschaften  des  Geschehens  selbst  ändern,  indem 
auch  dann,  wenn  dieses  qualitativ  konstant  bleibt,  jetzt  die  nämlichen 
Zeitteile  mit  andern  Wahrnehmungsinhalten  zusammenfallen. "    S.  I. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (Beilageheft).  2 


18  Willi  Nef. 

105.  Da  s  entscheidende  Motiv  für  die  weitere  logische  Sonderung  der 
Raum-  und  Zeitform  voneinander  liegt  in  der  Tatsache,  daß  beide 
Formen  wieder  unabhängig  voneinander  veränderlich  sind,  indem 
zeitliche  Änderungen  am  Empfindungsinhalt  ohne  begleitende  räum- 
liche, nicht  umgekehrt  räumliche  ohne  zeitliche  denkbar  sind.  „Jener 
Ohne  begleitende  räumliche  Veränderung  geschehende  Zeitverlauf 
vollzieht  sich  dann,  wenn  in  einem  gegebenen  Wahrnehmungsinhalt 
bloß  die  Qualität  der  Empfindung  wechselt."  L.  I.  474.  Jede  Ver- 
änderung der  räumlichen  Ordnung  eines  Wahrnehmungsinhaltes  wird 
aber  zugleich  als  ein  zeitlicher  Vorgang  wahrgenommen.  Dagegen  läßt 
sich  umgekehrt  der  Raum  in  seinen  bloß  formalen  Eigenschaften 
ohne  Rücksicht  auf  die  Zeit,  nicht  aber  die  Zeit  als  ein  bloß  formaler 
Vorgang  ohne  Herbeiziehung  des  Raumes  betrachten.  „Darum  gibt 
es  zwar  eine  reine  Raumlehre,  die  Geometrie,  aber  keine  reine  Zeit- 
lehre, so  daß  die  abstrakte  Behandlung  des  Zeitbegriffs  allein  in  der 
Bewegungslehre,  also  in  zeitlich-räumlicher  Form  möglich  ist."  Kl. 
Sehr.  1.160.  Vgl.  zu  dieser  ganzen  Betrachtung:  System,  I.  104  ff., 
113  ff.,  L.  1.473  f.3) 

Diese  logischen  Unterscheidungen  sind  natürlich  nicht  etwa 
passive  Erlebnisse,  sondern  willkürliche,  von  logischen  Erkenntnis- 
motiven  bestimmte  Eingriffe  des  Beobachters  in  seinen  Anschauungs- 
inhalt, Dabei  betätigen  sich  die  im  Hintergrund  solcher  Unterschei- 
dungen und  Beziehungen  stehenden  logischen  Erkenntnisprinzipien 
der  Identität,  des  Widerspruchs  und  des  Grundes  in  vollkommen  an- 
schaulichen Differenzierungen  und  Verknüpfungen.  „Das  ist  weg- 
weisend für  die  Erkenntnisfunktionen  überhaupt.  Sie  sind  in  den  For- 
men, die  sie  auf  Grund  der  logischen  Analyse  der  Erkenntnismotive 


3)  „Jene  intensive  Seite  der  Zeitanschauung  ist  offenbar  die  Quelle  der 
Auffassung  Kants,  der  in  der  Zeit  die  Anschauungsform  des  inneren 
Sinnes  sieht,  einer  Auffassung,  die  aus  einem  doppelten  Grunde  unzu- 
länglich ist:  einmal  weil  sie  innere  und  äußere  Erfahrung  wie  zwei  verschiedene 
Erfahrungsgebiete  einander  gegenüberstellt,  während  dieselben  doch  nur 
Abstraktionen  aus  einer  und  derselben  realen  Erfahrung  sind  und  sodann, 
weil  bei  ihr  das  logische  Motiv  der  Trennung  der  Zeit-  von  der  Raum- 
anschauung im  Hintergrunde  bleibt.  Dagegen  zeigt  dieses,  daß  gegenüber  den 
veränderlichen  Erscheinungen  die  Zeit  die  allgemeinere  Anschauungsform 
ist,  da  es  rein  zeitliche  Veränderungen  ohne  begleitende  räumliche  gibt,  während 
die  rein  räumliche,  d.  h.  bei  konstanter  Empfindungsqualität  zustande 
kommende  Veränderung  immer  zugleich  eine  zeitliche  ist."     L.  I.  474. 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  19 


'e 


gewinnen,  stets  nur  logische  Abstraktionen  aus  vollkommen  anschau- 
lich gegebenen  Vorgängen,  die  in  letzter  Instanz  auf  ein  willkürlich 
von  dem  erkennenden  Subjekt  auszuführendes  und  dabei  dennoch 
durch  die  Bedingungen  der  Anschauung  selbst  gefordertes  Gedanken- 
experiment zurückgehen."     Kl.  Sehr.  1. 163. 

Dabei  nehmen  nur  die  Begriffe  von  Raum  und  Zeit  und  die  mit 
ihnen  zusammenhängenden  Modifikationen  des  Bewegungsbegriffes  eine 
eigenartige  Stellung  ein,  als  die  in  ihnen  latenten  logischen  Motive 
schon  im  vorwissenschaftlichen  Denken  zu  einer  Sonderung  der  in  der 
Wahrnehmung  gegebenen  Inhalte  in  ihre  begrifflichen  und  doch  in 
diesem  Falle  durchaus  anschaulichen  Substrate  geführt  haben.  „Eben 
dieser  noch  durch  und  durch  anschauliche  Charakter  der  Begriffs- 
bildungen hat  ihnen  im  Unterschied  von  den  sogenannten  „Stamm- 
begriffen des  Verstandes"  bei  Kant  den  Namen  der  Anschauung  s- 
formen    verschafft."     KL  Sehr.  I.  163. 

Diese  sogenannte  reine  Raum-  und  Zeitanschauung  kann  aber  nur 
in  dem  Sinne  eine  Anschauung  genannt  werden,  als  wir  uns  einen  be- 
liebigen, übrigens  völlig  homogenen  Inhalt  vorstellen.  „Sie  ist  aber 
ein  Begriff,  sobald  sich  mit  dieser  Vorstellung  der  Gedanke  ver- 
bindet, der  zur  Vergegenwärtigung  der  Form  gewählte  Inhalt  sei  ein 
gleichgültiger,  und  statt  seiner  könne  daher  jeder  andere  gewählt 
werden."  S.  I.  106.  „Mag  man  aber  auch  wegen  jener  wichtigen  Eigen- 
schaft der  beliebigen  Variation  des  Empfindungsinhaltes  bei  konstant 
erhaltener  Form  den  Ausdruck  Anschauungsformen  beibe- 
halten, so  darf  damit  doch  keineswegs  die  Voraussetzung  verbunden 
werden,  diese  Formen  seien  nicht  zugleich  Begriffe.  Viel- 
mehr liegt  gerade  in  dem  mit  jeder  konkreten  Verwirklichung  der 
Raum-  und  Zeitanschauimg  sich  verbindenden  Gedanken,  daß  der  ge- 
wählte Empfindungsinhalt  an  sich  für  das  Denken  der  Form  gleich- 
gültig sei,  das  Kriterium  einer  wahren  Begriffsbildung."  S.  I.  106  f. 
Vgl.  zur  begrifflichen  Natur  von  Zeil  und  Kaum:  L.  I.  474  f.;  484, 
490  ff. 

Im  Anschluß  an  die  logische  Unterscheidung  der  Kaum-  und  Zeit- 
form vom  E  Qpfindungsinhah  ergibt  sich  als  weitere  Eigenschaft  der 
Anschauungsformen  ihre  Konstanz.  Denn  erst  als  die  Unab- 
hängigkeit von  Raum  und  Zeit  von  dem  Empfindungsinhalte  klar 
gelegt  war,  konnte  die  Vorstellung  entstehen,  der  Inhalt  sei  über- 
haupt  für  die    Eigenschaften   der    Kaum-  und   Zeitform   gleichgültig, 

2* 


20  Willi  Ne  f. 

und  es  müsse  daher  für  die  Betrachtung  dieser  gestattet  sein,  sie  von 
einem  überall  gleichartigen  Inhalt  erfüllt  zu  denken.    S.  I.  106. 

„Auf  dieser  beliebigen  Wahl  des  Empfindungsinhaltes  beruht  nun 
ganz  und  gar  jenes  für  die  selbständige  Behandlung  der  Anschauungs- 
formen wichtigste  Merkmal  der  Konstanz  ihrer  Eigenschaften.  Die 
Eigenschaften  von  Kaum  und  Zeit  werden  konstant  gedacht, 
weil  wir  uns  jeden  beliebigen  Raumteil  aus  dem  ihn  umgebenden 
Räume,  jeden  beliebigen  Zeitteil  aus  dem  Zeitverlauf,  zu  dem  er  ge- 
hört, herausgelöst  und  an  einer  andern  Stelle  des  Raumes  und  der 
Zeit  ohne  Veränderung  eingefügt  denken  können.  Raum  und  Zeit 
sind  also  überall  kongruent  mit  sich  selber,  und  es  läßt  sich  kein 
Empfindungsinhalt  denken,  der  nicht  räumlich  und  zeitlich  geordnet 
wäre."    S.  1. 107.    Vgl.  L.  I.  470,  502. 

Auf  dieser  Konstanz  der  Anschauungsformen  beruht  nun  auch 
die  von  Kant  so  stark  betonte   Notwendigkeit  ,   die  wir  dem 
Raum  und  der  Zeit  und  den  damit  zusammenhängenden  Sätzen  der 
Geometrie  und  reinen  Phoronomie  beilegen.     Nach  Kant  ist  diese 
Notwendigkeit  eine  unmittelbare  Folge  der  Apriorität  der  reinen  Raum- 
und  Zeitanschauung,  da  uns  der  empirische  Empfindungsinhalt  immer 
als  zufällig,  das  Apriorische  aber,  das  als  formale  Bedingung  in  jede 
Erfahrung  eingeht,  als  notwendig  gegeben  sei.    Nun  können  aber  diese 
formalen  Bedingungen  nur  mittels  bestimmter  Merkmale  als  reine 
Formen  erkannt  werden.    „Sie  bilden,  während  der  Stoff  der  Empfin- 
dungen fortwährend  wechseln  kann,  die  in  ihren  allgemeinen  Eigen- 
schaften konstant  bleibenden  Faktoren  der  Wahrnehmung.    Aus 
dieser  Konstanz  folgt  aber  von  selbst,  daß  sich  keine  Vorstellung  ohne 
sie  denken  läßt.    Denn  wir  können  selbstverständlich  in  unseren  Vor- 
stellungen immer  nur  von  denjenigen  Bestandteilen  abstrahieren,  die 
möglicherweise  auch  in  der  wirklichen  Erfahrung  durch  andere  er- 
setzt werden  können.     Nie  aber  können  wir  uns  Bestandteile  hin- 
wegdenken, die  tatsächlich  niemals  fehlen.    Diese  müssen  wir  daher 
nunmehr  als  solche  auffassen,  die,  wie  Kant  sich  ausdrückt,  „Erfah- 
rung allererst  möglich  machen."     Wollte  man  annehmen,  die  Not- 
wendigkeit der  Anschauungsformen  sei  anders  denn  als  eine  tatsäch- 
liche und  unaufhebbare   Konstanz  in  der  Anschauung  zu  denken, 
so  müßte  man  nachweisen,  daß  die  Anschauungsformen  aus  irgend- 
welchen  der   Anschauung   selbst   vorausgehenden   Bedingungen   ab- 
geleitet werden  könnten.  Dies  hat  Kant  nicht  versucht,  ja  er  hat  aus- 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  21 

drücklich  abgelehnt,  daß  es  möglich  sei.  Denn  er  sagt:  „Raum  und 
Zeit  werden  uns  als  Formen  a  priori  gegeben."  Da  sie  uns  nun 
niemals  als  leere,  ohne  jeden  Empfindungsinhalt  vorstellbare  Formen 
gegeben  werden,  so  können  sie  eben  nur  in  der  aus  Empfindung  und 
räumlich-zeitlicher  Form  zusammengesetzten  Anschauung  gegeben 
sein.  Daraus  folgt  aber  unweigerlich,  daß  die  Notwendigkeit  dieser 
Formen  aus  ihrer  Konstanz,  nicht  umgekehrt  die  Konstanz  aus  ihrer 
Notwendigkeit  abgeleitet  werden  kann."     Kl.  Sehr.  1. 165  f. 

So  leitet  Wim  dt  die  Notwendigkeit  von  Raum  und  Zeit 
aus  der  Konstanz,  d.  h.  also  aus  der  Erfahrung  ab.  Kant  glaubte,  daß 
Erfahrungsurteilen  niemals  der  Charakter  der  Notwendigkeit  zu-' 
kommen  könne.  Diesem  Satz  fehlt  jedoch  die  Begründung.  „Wir 
bemerken  im  Gegenteil,  daß  wir  Erfahrungen  für  um  so  unumstöß- 
licher halten,  je  häufiger  sie  eingetroffen  sind.  Wenn  es  daher  aus- 
nahmslose Erfahrungen  gibt,  so  werden  wir  solche  auch  für  notwendig 
halten  müssen.  Nun  können  die  Raumvorstellungen  nur  zu  den  aus- 
nahmslosen Erfahrungen  gehören.  Sie  müssen  als  die  unabänderlichen 
Bestandteile  einer  jeden  äußeren  Erfahrung  betrachtet  werden.4)  Eigen- 
schaften der  Dinge  oder  unserer  Vorstellungen,  die  wir  niemals  er- 
fahren haben,  können  wir  uns  auch  nicht  vorstellen.  In  der  ausnahms- 
losen empirischen  Gültigkeit  der  geometrischen  Sätze  liegt  also  ein 
zureichender  Grund  ihrer  Notwendigkeit."    L.  I.  495. 

b)    Die   Apriorität   der   Anschauungsformen. 

Aus  den  bisherigen  Erörterungen  ergibt  sich,  daß  die  iVpriorität 
der  Anschauungsformen  aus  zwei  Bedingungen  abgeleitet  werden 
kann:  aus  ihrer  Konstanz  beim  Wechsel  der  sonstigen  Bestandteile 
des  Wahrnehmungsinhaltes  und  aus  den  logischen  Bedingungen,  die 
uns  veranlassen,  ihnen  die  Bedeutung  von  Anschauungsformen  mit 
konstanten  Eigenschaften  beizulegen. 

Kant  hat  nur  die  erste  Bedingung  berücksichtigt,  weshalb  Wundt 
findet,  seine  Apriorität  sei  „wie  aus  der  Pistole  geschossen".  Kl.  Sehr. 
L  166.  „Namentlich  die  tatsächlich  vorhandene  apodiktische  Be- 
schaffenheit der  Sätze  der  reinen  Mathematik  ist  ihm  eine  zureichende 
Bürgschaft  der  Apriorität  der  diesen  Sätzen  zugrunde  liegenden 
reinen  Raum-  und  Zeitform.    Da  aber,  wie  vorhin  bemerkt,  die  Not- 


l)  Dasselbe  gilt  für  die  Zeit.     L.   I.   47U. 


22  Willi  Ne  f. 

wendigkeit  von  Raum  und  Zeit  aus  ihrer  tatsächlichen  Konstanz 
nicht  umgekehrt  diese  aus  jener  abgeleitet  werden  kann,  so  erscheint  jene 
Apriorität  selbst  als  eine  solche  „ex  eventu".  Wir  mögen  ihr  immer- 
hin die  Bedeutung  beilegen,  wir  seien,  noch  bevor  wir  eine  einzelne 
neue  Erfahrung  machen,  berechtigt  mit  voller  Gewißheit  anzunehmen, 
daß  auch  diese  den  allgemeinen  Eigenschaften  von  Raum  und  Zeit 
unterworfen  sei.  Aber  eine  solche  Voraussage  gründet  sich  doch  nur 
auf  die  durch  die  Konstanz  der  formalen  Eigenschaften  unserer  em- 
pirischen Vorstellungen  herbeigeführte  Unmöglichkeit,  uns  einen 
andern  Wahrnehmungsinhalt  vorzustellen,  als  eben  einen  räumlich 
'und  zeitlich  geordneten.  Eine  derartige  Apriorität  wird  man  jedoch, 
sofern  man,  wie  es  von  Kant  geschieht,  auf  eine  Begründung  über- 
haupt nicht  reflektiert,  nur  eine  tatsächlich  gegebene  nennen  können. 
So  gewiß  es  also  ist,  daß  Kant  hier  über  eine  vorausgesetzte,  aber  nicht 
bewiesene  Apriorität  nicht  hinauskommt,  so  wünschenswert  scheint 
es  eben  darum,  in  diesem  Punkte  die  Kantischen  Aufstellungen  zu  er- 
gänzen."   Kl.  Sehr.  1. 166. 

Wir  haben  nun  ja  gerade  von  Kant  gelernt,  daß  das  Apriori, 
wenn  es  überhaupt  zulässig  sein  soll,  nur  in  den  die  Erfahrung  ord- 
nenden Begriffen  und  Anschauungsformen  und  daher  niemals  iso- 
liert von  dem  Wahrnehmungsinhalte  gegeben  sein  kann.  Es  können 
also  nur  logische  Motive  sein,  die  uns  veranlassen,  gewisse  Bestandteile 
der  Anschauung  als  a  priori  notwendig,  andere  als  bloß  empirisch 
gegeben  anzusehen. 

Und  in  der  Tat  sind  es  ja  logische  Motive,  aus  denen  wir  die 
räumlich-zeitliche  Form  von  dem  Empfindungsinhalt  und  dann  inner- 
halb jener  Form  den  Raum  wieder  von  der  Zeit  trennen. 

„Diese  Unterscheidungen  geschehen  durchaus  in  anschaulichen 
Formen,  in  Gedankenexperimenten,  in  denen  der  Inhalt  der  Wahr- 
nehmung willkürlich  variiert  wird.  Abstrakt  betrachtet  geschehen  sie 
aber  nach  den  allgemeinen  Gesetzen  des  logischen  Denkens,  indem 
wir  bei  Veränderungen  der  Wahrnehmung  das  übereinstimmend 
Bleibende  als  übereinstimmend,  das  sich  Verändernde  als  verschieden 
auffassen  nach  Maßgabe  des  Satzes  der  Identität  und  des  Satzes 
vom  Widerspruch,  und  indem  wir  an  jede  formale  Änderung  eine 
Änderung  in  der  Materie  der  Empfindung  als  Folge  gebunden  er- 
kennen nach  dem  Satz  des  Grundes.  So  sind  bei  der  Auffindung  jener 
Eigenschaften  von  Raum  und  Zeit,  denen  diese  ihre  Wertunterschei- 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  23 

dun«;  von  dem  Empfindungsinhalte  verdanken,  und  auf  denen  zugleich 
die  Feststellung  ihrer  Konstanz  beruht,  überall  die  allgemeinen  Denk- 
gesetze wirksam.  Die  Anwendung  dieser  letzteren  wird  angeregt  durch 
das  in  der  Erfahrung  Gegebene.  Aber  sie  selbst  sind  in  uns  liegende 
Funktionen,  ohne  die  sich  die  Scheidung  in  Anschauungsformen  und 
Materie  der  Empfindung  niemals  vollziehen  könnte."  Kl.  Sehr.  1. 167 f. 

So  ist  denn  die  wahre  Apriorität  der  Anschauungsformen  eine 
logische  und  die  Empiristen,  die  behaupten,  Raum  und  Zeit  gehörten 
mit  zum  Empfindungsinhalt  und  seien  von  andern  Empfindungen 
nur  durch  ihre  größere  Wichtigkeit  für  die  Interpretation  der  wirk- 
lichen Welt  unterschieden,  haben  unrecht.     Kl.  Sehr.  I.  167. 

Bei  dieser  Ableitung  des  a  priori  sind  nicht  Raum  und  Zeit  selbst, 
sondern  die  Denkfunktionen,  die  zu  ihrer  Sonderung  vom  übrigen 
Wahrnehmungsinhalt  geführt  haben,  als  das  eigentliche  Apriori  an- 
erkannt. Die  obige  Untersuchung  hat  gezeigt,  daß  die  Begriffe  von 
Raum  und  Zeit  den  Erfahrungsinhalt  voraussetzen,  daß  sie  selbst 
aber  aus  logischen  Motiven  entspringen,  die  zugleich  auf  bestimmte 
Eigenschaften  desWrahrnehmungsinhaltes  selbst  zurückweisen.  „Damit 
ist  freilich  das  Apriori  an  eine  andere  Stelle  gerückt,  als  wo  man  es 
gesucht  hatte.  Nicht  in  der  fertigen  Raum-  und  Zeitform  ist  es  ent- 
halten, wie  der  alte  Apriorismus  und  vermöge  eines  halben  Rück- 
falls in  diesen  noch  Kant  annahm,  sondern  in  den  logischen 
Funktionen,  die  zur  Abstraktion  der  reinen 
Raum-  und  Zeitanschauung  führen.  Hiermit  ist 
das  Apriori  dahin  verlegt,  wo  es  immer  bestehen  bleiben  wird,  und 
wo  es  allein  seine  rechtmäßige  Stelle  hat.  Doch  diese  Zurückver- 
legung  bringt  es  zugleich  mit  sich,  daß  die  logisch  abgeleiteten  An- 
schau uniformen  selbst  nicht  als  reine  Schöpfungen  des  Denkens 
oder  der  Einbildungskraft  oder  auch  nur  einer  subjektiven  Anschauungs- 
funktion  anzusehen  sind,  wie  Kant  annahm,  sondern  als  Erzeugnisse, 
die  aus  der  Bearbeitung  der  dem  Denken  gegebenen  Objekte  ent- 
standen sind,  und  die  gleichzeitig  in  diesen  Objekten  selbst  und  in 
den  sie  in  ihre  Faktoren  zerlegenden  Funktionen  des  Denken s  ihren 
Ursprung  haben."    Kl.  Sehr.  I.  168  f. 

c)   Die   objektive  Bedeutung  von  Zeit  und  Bau m. 

Nachdem  die  kritische  Analyse  des  Wahrnehmungsinhaltes  voll- 
zogen ist,  nachdem  der  Empfindungsinhalt  von  den  Anschauungs- 


24  Willi  Nef. 

formen  getrennt  ist,  und  diese  letzteren  selbst  wieder  durch  logische 
Motive  in  Zeit  und  Raum  geschieden  sind,  läßt  sich  die  Frage  nach 
der    objektiven    Bedeutung    der    Anschauungsformen    beantworten. 
Nach  der  Ansicht  Kants  sind  Raum  und  Zeit  subjektive  Formen  der 
Anschauung,  die  zwar  zugleich  objektive  Normen  sind,  nach  denen 
die  Gegenstände  unseres  Erkennens  sich  richten  müssen.  L.  I.  476,  479f . 
Nun  haben  wir,  wie  wir  oben  gesehen  haben,  in  der  Erkenntnistheorie 
von  dem  objektiv  gegebenen  Wahrnehmungsinhalte  auszugehen,  und 
wir  haben  an  einzelnen  Elementen  desselben  ihre  Realität  erst  dann 
aufzuheben,  wenn  wir  infolge  von  Widersprüchen,  die  unsere  Erfah- 
rung zeigt,  dazu  berechtigte  Gründe  finden.    Das  erkennende  Subjekt 
wird  bei  der  Vergleichung  und  Verknüpfung  der  Erfahrungen  durch 
mannigfache    Widersprüche,    in    die    verschiedene    Wahrnehmungen 
miteinander  treten,  schließlich  gezwungen,  den  ganzen  qualitativen 
Empfindungsinhalt  in  das  Subjekt  zurückzunehmen,  da  nur  unter 
dieser  Voraussetzung  eine  widerspruchsfreie  Verbindung  der  einzelnen 
Erfahrungen  möglich  ist;  eine  solche  Nötigung,  die  objektive  Bedeutung 
der  konstant  bleibenden  formalen  Bestandteile  der  Wahrnehmung  auf- 
zuheben, tritt  aber  niemals  ein.    S.  I.  135.    „Denn  der  Raum  wie  die 
Zeit  sind  ursprünglich  gegebene   Tatsachen,   die   durch   die   wider- 
spruchslose Konstanz,  in  der  sie  Bestandteile  der  Erfahrung  bilden, 
den  Charakter  objektiver  Allgemeingültigkeit  bewahren."     L.  I.  502 
Mit  dieser  erkenntnistheoretischen  Überlegung  stimmt  denn  auch  das 
Verhalten  der  Wissenschaft  überein,  indem  innerhalb  der  empirischen 
Naturauffassung  nie  Stimmen  laut  geworden  sind,  die  eine  objektive 
Realität  von  Raum,  Zeit  und  Bewegung  geleugnet  hätten,  während 
die  Zweifel  an  der  Wirklichkeit  der  Empfindungen  schon  in  die  An- 
fänge der  Naturphilosophie  zurückreichen.     S.  I.  136. 

Bei  aller  Konstanz  der  objektiven  Eigenschaften  der  Anschauungs- 
formen fehlen  nun  Widersprüche  innerhalb  der  einzelnen  Wahr- 
nehmungen nicht,  so  daß  sich  die  Überzeugung  entwickeln  mußte, 
daß  subjektive  Elemente  in  unsere  Anschauungen  eingehen.  Diese 
Überzeugung  ist  bei  der  Raumanschauung  viel  später  entstanden, 
als  bei  der  Zeitanschauung,  so  daß  denn  die  Annahme  einer  objektiven 
Realität  der  Anschauungsform  bei  dem  Raum  fester  wurzelt  als  bei 
der  Zeit.  L.  I.  503  f.  Sucht  man  nun  aber  die  zwischen  den  einzelnen 
Wahrnehmungen  vorhandenen  Widersprüche  zu  lösen,  so  daß  man 
die  Anschauungsformen  von  allen  Elementen  befreit,  deren  subjektiver 


^YilheIm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  25 

Ursprung  nachgewiesen  ist,  „so  bleibt  als  Rest  die  jener  an- 
schaulichen Form  entsprechende  begriffliche 
Ordnung  eines  objektiv  gegebenen  Mannig- 
faltigen."   L.  I.  505. 

Da  die  objektive  Feststellung  der  anschaulichen  Ordnung  der 
Dinge  überall  die  Elimination  der  rein  subjektiven  Faktoren  der 
Wahrnehmung  erfordert,  so  sind  die  objektiven  Anschauungsformen 
nicht  mit  den  Formen  unserer  Wahrnehmung  identisch,  sondern  sie 
sind  aus  ihnen  gewonnene  abstrakte  Begriffe.  „Nicht  bloß  für  den 
empirischen,  sondern  auch  für  den  erkenntnistheoretischen  Gebrauch 
bedürfen  wir  durchaus  der  psychologisch  in  unserem  Bewußtsein 
entstandenen  Anschauungsformen,  denen  wir  demnach  unter  dem 
Vorbehalt,  daß  sie  subjektive  Rekonstruktionen  eines  objektiv 
Gegebenen  sind,  Realität  zugestehen.  Nur  das  eine  wird  von  der 
Erkenntnistheorie  gefordert,  daß  sie  die  Elemente,  die  in  unsere  Auf- 
fassung der  Dinge  eingehen,  nach  ihrem  Ursprung  unterscheide,  und 
daß  sie  demnach  begrifflich  feststelle,  was  unabhängig  von 
unseren  Anschauungsformen  als  der  objektive  Begriff  einer  jeden 
Betätigung  der  Anschaungsf  Miktionen  vorauszusetzen  sei."  L.  I.  506. 
Auf  diese  Weise  werden  also  die  sinnlichen  Anschauungen  des  Raumes 
und  der  Zeit  zu  Symbolen  der  im  Begriff  zu  erfassenden  Ordnung  der 
Objekte.      S.  I.  137. 


o. 


Die   Stamm  begriffe   des   Verstandes. 


a)  Allgemeines. 

Kant  hat  gezeigt,  „daß  es  Kategorien  überhaupt  geben 
müsse,  d.  h.  daß  alle  Ordnung  des  Mannigfaltigen  der  Erfahrung  durch 
allgemeine  Begriffe  zustande  komme,  die  in  dem  denkenden  Subjekt, 
in  der  „Synthesis  der  reinen  Apperzeption"  ihre  Quelle  haben,  und 
daß,  um  eine  solche  Synthesis  möglich  zu  machen,  schon  die  formalen 
Bedingungen  der  sinnlichen  Anschauung  die  erforderlichen  Eigen- 
schaften besitzen  müssen."  Kl.  Sehr.  I.  169.  Trotzdem  finden  wir 
weder  in  seiner  Ableitung  der  Kategorien  aus  den  Urteilsformen, 
noch  in  seiner  „Deduktion  der  reinen  Verstandesbegriffe",  noch  in  seiner 
Lehre  von  dem  Schematismus  der  reinen  Verstandesbegriffe  eine  eigent- 
liche Deduktion  der  einzelnen  Verstandesbegriffe.  Die  Kategorien 
werden  bei  Kant  überall  als  gegeben  vorausgesetzt,  sie  können,  wie 


26  Willi   Nef. 

die  Anschauungsformen  aufgesucht,  aber  nicht  im  eigentlichen  Sinne 
deduziert  werden.  „Was  Kant  die  „Deduktion  der  reinen  Verstandes- 
begriffe" nennt,  ist  daher  keine  eigentliche  Deduktion,  sondern  ledig- 
lich der  allgemeine  Nachweis,  daß  die  Begriffe,  nach  denen  wir  das 
Mannigfaltige  der  Erscheinungen  einheitlich  ordnen,  uns  nicht  von 
außen  gegeben  sind,  sondern  von  unserem  Verstände  erzeugt  werden, 
und  daß  jene  Ordnung  nicht  möglich  wäre  ohne  die  „transzendentale 
Einheit  der  Apperzeption",  d.  h.  ohne  jene  Einheit  des  Selbstbewußt- 
seins, die  eine  Synthesis  der  Erscheinungen  überhaupt  erst  möglich 
macht.  Mit  dieser  Zurückführung  der  ordnenden  Verstandesbegriffe 
auf  da?  denkende  Subjekt  ist  jedoch  die  Aufgabe,  die  logischen  Motive 
im  einzelnen  nachzuweisen,  die  zur  Bildung  der  Kategorien  geführt 
haben,  weder  gelöst  noch  auch  überflüssig  geworden.  Wohl  mag 
das  künstliche  Gerüste  der  Architektonik  der  Urteilsformen  und 
Kategorien  das  täuschende  Bild  einer  solchen  Ableitung  hervorrufen. 
Eine  symmetrische  Klassifikation  ist  gleichwohl  keine  wirkliche 
Ableitung,  und  wenn  zwei  Einteilungen  sich  wechselseitig  stützen,  so 
ist  damit  nicht  gesagt,  daß  sie  beide  keiner  weiteren  Stütze  bedürfen. 
Im  vorliegenden  Falle  wird  man  nun  um  so  mehr  nach  einer  solchen 
suchen  müssen,  als  die  Kantische  Klassifikation  der  Urteilsformen, 
wie  schon  Fichte  richtig  gesehen  hat,  ein  Zurückgehen  auf  die  Fun- 
damentalgesetze des  Denkens  vermissen  läßt.  Hier  ist  also  ein  erster 
Punkt  geben,  wo  eine  Fortbildung  der  Kantischen  Lehre  einzusetzen 
hat.'1    kl.  Sehr.  I.  170  f. 

Dazu  kommt  noch  ein  weiterer  Punkt.  Eine  der  wichtigsten 
Erkenntnisse  der  transzendentalen  Ästhetik  war  die,  daß  Raum  und 
Zeit  nicht  als  leere  Formen,  sondern  immer  nur  gebunden  an  eine 
Materie  der  Empfindungen  gegeben  sein  können;  ebenso  bezeichnet 
der  Satz:  „Begriffe  ohne  Anschauungen  sind  blind,  Anschauungen 
ohne  Begriffe  sind  leer"  vielleicht  den  wichtigsten  Fortschritt  der 
Kantischen  Lehre  von  der  Verstandeserkenntnis.  Diese  beiden  Grund- 
sätze bedeuten,  daß  alle  Erfahrung  begrifflich  und  anschaulich  geformt 
und  an  Empfindungen  gebunden  ist,  daß  also  keiner  dieser  Bestand- 
teile in  Wirklichkeit  jemals  ohne  den  andern  vorkommen  kann.  „Damit 
ist  aber  auch  die  unerläßliche  Aufgabe  gestellt,  hier  in  ähnlicher  Weise, 
wie  wir  es  bei  der  Unterscheidung  der  Anschauungsformen  von  der 
Materie  der  Empfindungen  versuchten,  die  logischen  Motive  nach- 
zuweisen, die  zur  Scheidung  der  begrifflichen  Formen  der  Erkenntnis 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  27 

von  der  realiter  ursprünglich  ungeteilten  Erfahrung  geführt  haben. 
Überflüssig  würde  ja  ein  solcher  Nachweis  nur  dann  sein,  wenn  man 
annehmen  wollte,  daß  die  Begriffsformen  getrennt  von  dem  Stoff  der 
Erfahrung  vorkommen  und  demgemäß  getrennt  von  uns  aufgefaßt 
werden  könnten."  Kl.  Sehr.  I.  171.  Die  Trennung,  die  unser  Denken 
vollzieht,  muß  auf  irgend  welchen  Bedingungen  beruhen,  die  eine 
logische  Scheidung  möglich  machen. 

„Nun  wird  man  Kant  zugeben,  daß  von  vornherein  eine  nähere 
Beziehung  der  allgemeinen  Begriffsformen  zu  den  Anschauunps- 
formen  als  zu  dem  Stoff  der  Empfindung  vorauszusetzen  ist.  Denn 
nur  die  Anschauungsformen  besitzen  die  Allgemeingültigkeit,  die 
wir  auch  für  die  allgemeinen  Verstandesbegriffe  fordern."  Kl.  Sehr.  I. 
171.  Dabei  aber  wurde  Kants  Einsicht  in  die  Entstehung  der  Ver- 
standesbegriffe dadurch  getrübt,  daß  er  die  Zeit  als  die  Form  des 
inneren  ,den  Raum  als  die  Form  des  äußeren  Sinnes  ansah,  so  daß  er 
die  Lehre  vom  Schematismus  des  reinen  Verstandes  nur  auf  die  formalen 
Bedingungen  der  Zeit,  nicht  aber  auf  die  des  Raumes  stützte.  So 
wird  die  Forderung,  daß  alle  Erkenntnis  anschaulich  und  begrifflich 
zugleich  sei,  nicht  erfüllt;  es  ist  eben  nicht  richtig,  daß  es  Vorstellungen 
von  bloß  zeitlicher  Beschaffenheit  gibt,  sondern  alle  Vorstellungen 
haben  eine  räumlich-zeitliche  Form.  Somit  kann  das  sinnliche  Schema 
der  Kategorien  nur  dadurch  gewonnen  werden,  daß  man  nachweist, 
welchen  zeitlichen  und  räumlichen  Bedingungen  die  Anwendung 
eines  Begriffes  auf  die  Anschauung  unterworfen  ist.  Vgl.  Kl.  Sehr. 
I.  172. 

„Doch  nicht  bloß  zu  vervollständigen  wird  durch  die  Berück- 
sichtigung der  gesamten  formalen  Bedingungen  der  Anschauung 
die  Kantische  Auffassung  sein,  auch  der  Weg,  den  er  bei  der  Auf- 
suchung der  Schemata  einschlug,  wird  nicht  beibehalten  werden 
können,  sofern  man  nur  im  Sinne  seiner  eigenen  ursprünglichen  Vor- 
aussetzungen folgerichtig  verfahren  will.  Kant  setzt  nämlich  die 
Kategorien  als  gegeben  voraus  und  untersucht  dann,  welches  Zeit- 
schema einer  jeden  entsprechen  möge.  Da  uns  jedoch  niemals  reine 
Begriffe  getrennt  von  einem  Anschauungsinhalte  gegeben  sind,  so 
werden  wir  vielmehr  umgekehrt  zu  fragen  haben,  durch  welche  logi- 
schen Motive  der  Vorstellungsinhalt  die  Bildung  bestimmter  Begriffe 
herausfordert."    Kl.  Sehr.  I.  172  f. 

Nun  behauptet  man  zwar  und  auch  Kant  isl  zum  Teil  dieser  An- 


28  Willi    Nef. 

sieht,  die  Kategorien  seien  Begriffe,  die  bei  jeder  Erfahrung  in  Wirk- 
samkeit treten.  So  denke  man  sich  zu  jedem  Gegenstande  sofort  die 
Begriffe  der  Einheit,  Realität,  des  Daseins,  der  Substanz  hinzu,  zu 
jeder  Aufeinanderfolge  von  Ereignissen  die  Kausalität  usw.  Doch 
steht  diese  Behauptung  in  schroffem  Gegensatze  zur  Erfahrung. 
Die  Erfahrung  bietet  uns  zwar  die  Gelegenheit,  diese  Begriffe  an- 
zuwenden, ohne  daß  wir  sie  aber  sofort  jeder  Erfahrung  gegenüber 
anwenden  müssen.  „Gesetzt  z.  B.,  wir  nehmen  einen  Gegenstand  wahr, 
und  zugegeben,  daß  wir  auf  ihn  die  Kategorie  der  Einheit  anwenden, 
was  geschieht,  wenn  wir  infolge  genauerer  Beobachtung  oder  selb- 
ständiger Bewegungen  eines  Teils  des  Gegenstandes  auch  diesen  Teil 
als  ein  Einzelnes,  also  als  eine  Einheit  auffassen?  Wir  haben  offenbar 
infolge  hinzutretender  Anschauungsbedingungen  die  Kategorie  der 
Einheit  jetzt  auf  ein  Objekt  angewandt,  auf  das  wir  sie  zuvor  nicht 
anwandten.  Gerade  so  müssen  aber  von  Anfang  an  bestimmte  Merk- 
male uns  veranlassen,  überhaupt  den  Gegenstand  als  einen  einzelnen 
aufzufassen.  Oder  es  sei  uns  ein  Körper  gegeben.  Warum  wenden  wir 
auf  ihn  den  Begriff  der  Substanz  an?  Gewiß  nicht,  weil  uns  der  Körper 
a  priori  als  Körper  gegeben  ist,  denn  das  ist  er  überhaupt  nicht,  sondern 
weil  er  sich  durch  gewisse  Merkmale  als  relativ  beharrend  unterscheidet 
von  andern  Vorstellungen.  Nicht  minder  bedarf  es  bestimmter  Kri- 
terien, um  zwei  aufeinanderfolgende  Ereignisse  in  das  Verhältnis  der 
Kausalität  zu  bringen.  Kurz,  in  allen  Fällen  sehen  wir,  daß  die  An- 
wendung der  Kategorien  bestimmte  Eigenschaften  der  Gegenstände 
vorausetzt,  die  überall  erst  die  logischen  Kriterien  für  jene  Anwendung 
abgeben."     Kl.  Sehr.  I.  174. 

Es  ist  Aufgabe  der  speziellen  Erkenntnistheorie,  zu  zeigen,  wie 
durch  das  Zusammenwirken  der  Anschauungen  und  der  Denkfunktionen 
die  Kategorien  entstehen.  Wundt  hat  in  seinem  System  der  Philosophie 
und  in  seiner  Logik  diese  Aufgabe  mit  Rücksicht  auf  die  drei  wichtigsten 
Stammbegriffe  der  Substanz,  der  Kausalität  und  des  Zweckes  zu  lösen 
versucht. 

b)    Die    Substanz. 

Die  Kategorien  können,  wie  gerade  Kant  gezeigt  hat,  nur  ge- 
bunden an  die  Anschauungen  vorkommen.  So  müssen  diese  An- 
wendungsbedingungen immer  zugleich  als  ihre  Entstehungs* 
begingungen  angesehen  werden,  d.  h.  sie  sind  die  in  der  An- 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  29 

schauung  gelegenen  Bedingungen,  durch  die  unser  Denken  zur  Bildung 
des  Begriffes  veranlaßt  wird.  Es  ist  ein  Gewinn  für  die  Erkenntnis- 
lehre, wenn  es  sich  zeigt,  daß  nicht  die  fertigen  Kategorien  in  uns 
liegen,  sondern  nur  die  Denkfunktionen,  aus  denen  unter  bestimmten 
Bedingungen  der  Anschauung  die  Kategorien  entstehen.     Kl.  Sehr. 

I.  174. 

Nun  hat  Kant  eine  solche  Ableitung  des  Begriffes  der  Substanz 
aus  den  Anschauungsbedingungen  und  den  Denkfunktionen  nicht 
vollführt,  sondern  er  hat  die  Kategorie  der  Substanz  als  gegeben  voraus- 
gesetzt. „Der  „Grundsatz  der  Beharrlichkeit"  wird  zunächst  von  Kant 
aus  der  Anschauungsform  der  Zeit  bewiesen.  Das  Mannigfaltige, 
meint  er,  könne  nicht  n  a  c  h  e  i  n  a  nder  vorgestellt  werden,  wenn 
nicht  etwas  das  jederzeit  ist,  d.  h.  etwas  Bleibendes  und 
Beharrliches  zugrunde  liege.  Das  Beharrliche  sei  daher  „das 
Substratum  der  empirischen  Vorstellung  der  Zeit  selbst,  an  welchem 
alle  Zeitbestimmung  allein  möglich  ist."  Der  Wechsel  treffe  „die  Zeit 
selbst  nicht,  sondern  nur  die  Erscheinungen  in  der  Zeit."  „Wollte 
man  der  Zeit  selbst  eine  Folge  nacheinander  beilegen,  so  müßte  man 
noch  eine  andere  Zeit  denken,  in  der  diese  Folge  möglich  wäre." 
Durch  das  Beharrliche  endlich  bekomme  allein  „das  Dasein 
in  verschiedenen  Teilen  der  Zeitreihe  nacheinander  eine  Größe, 
die  man  Dauer  nennt."  „Nun  kann"  —  so  lautet  der  wichtige 
Schluß  dieses  „Beweises"  „die  Zeit  an  sich  selbst  nicht  wahr- 
genommen werden;  mithin  ist  dieses  Beharrliche  an  den  Erscheinungen 
das  Substratum  aller  Zeitbestimmung"  oder,  wie  es  in  der  zweiten 
Auflage  heißt:  „folglich  muß  in  den  Gegenständen  der  Wahrnehmung, 
d.  h.  den  Erscheinungen,  das  Substrat  anzutreffen  sein,  welches  die  Zeit 
überhaupt  vorstellt,  und  an  dem  aller  Wechsel  oder  Zugleichsein  durch 
das  Verhältnis  der  Erscheinungen  zu  demselben  in  der  Apprehensimi 
wahrgenommen  werden  kann."     Kl.  Sehr.  I.  176. 

Der  Fehler  dieser  Kantschen  Ableitung  liegt  nach  der  Ansicht 
Wundts  darin,  daß  Kant  das  relativ  beharrliche  Substrat  der  Er- 
scheinungen in  das  absolut  Beharrliche  der  Substanz  umwandelt. 
Wohl  ist  es  richtig,  daß  alle  Zeitanschauum>-  „Dauer  im  Wechsel" 
voraussetzt,  und  daß  das  Substrat  dazu  in  dn\  Erscheinungen  liegen 
muß.  Ohne  die  Verbindung  von  Beharrlichkeit  und  Veränderung 
würde  eine  Zeitanschauuni;-  nicht  entstehen  können.  Auch  kann  man 
zugestehen,    daß    ZU    dieser    Auffassung    die    ..transzendentalen"    Be- 


30  Willi   Nef. 

dingungen  in  uns  liegen  müssen.  „Aber  mit  allem  dem  ist  doch  nur 
bewiesen:  1.  daß  zur  Zeitvorstellung  wechselnde  neben  relativ  be- 
harrenden Erscheinungen  gegeben  sein  müssen,  wie  uns  denn  solche 
in  der  Tat  stets  in  der  Erfahrung  gegeben  sind,  und  2.  daß  unsere 
Erkenntnisfunktionen  zur  Auffassung  dieses  Beharrens  im  "Wechsel 
geeignet  sein  müssen."  Kl.  Sehr.  I.  177.  Daß  aber  ein  absolut 
beharrendes  Substratum  aller  Erscheinungen  vorauszusetzen  sei, 
ist  nicht  im  geringsten  bewiesen.  "Wenn  wir  den  wirklichen  logischen 
wie  anschaulichen  Ursprung  des  Substanzbegriffes  auffinden  wollen, 
so  haben  wir  von  den  Bedingungen  der  Erscheinungswelt,  und  zwar 
von  den  in  den  Anschauungsformen  gegebenen  Bedingungen  auszugehen. 
Dabei  sind  zwei  Formen  oder  Entwicklungsstufen  des  Substanzbegriffs 
von  einander  zu  sondern:  „der  Substanzbegriff  der  Erfahrung  im 
gewöhnlichen  Sinne  des  "Wortes,  und  der  Substanzbegriff  der  Wissen- 
schaft. Der  erstere  ist  natürlich  derjenige,  von  dem  allein  gesagt 
werden  kann,  daß  er  ein  unerläßlicher  Bestandteil  aller  Erfahrung 
sei.  Der  zweite  dagegen  ist  zuerst  auf  rein  spekulativem  "Wege  in  der 
Philosophie  entstanden  und  dann  von  hier  aus  in  die  Naturwissenschaft 
übertragen  worden."  Kl.  Sehr.  1. 178.  Kant  hat  diese  beiden  Substanz- 
begriffe, die  kurz  als  der  empirische  und  der  spekulative  bezeichnet 
werden  mögen,  nicht  geschieden.  „Der  Anwendung  nach  deckt  sich 
zwar  seine  Kategorie  der  Substanz  mit  dem  empirischen  Substanz- 
begriff. Denn  sie  soll  ja  der  Begriff  sein,  durch  den  überhaupt  erst 
die  empirische  Auffassung  einzelner  Gegenstände  möglich  werde. 
Auch  werden  die  transzendenten  Gestaltungen  des  spekulativen 
Substanzbegriffs,  wie  sie  in  der  vorangegangenen  rationalistischen 
Philosophie  entstanden  waren,  ausdrücklich  von  Kant  abgelehnt 
und  dem  Begriff  des  unerkennbaren  „Ding  an  sich"  subsumiert.  Daß 
aber  gleichwohl  die  Ausläufer  dieses  spekulativen  Substanzbegriffs 
in  der  Naturwissenschaft  von  ihm  mit  dem  ursprünglichen  empirischen 
Substanzbegriff  vermengt  werden,  geht  klar  aus  seiner  Formulierung 
des  Gesetzes  des  „Beharrens  der  Substanz"  und  aus  seinen  Erläute- 
rungen hierzu  hervor."     Kl.  Sehr.  I.  178. 

Den  empirischen  Substanzbegriff  können  wir  nun  nur  dann  in 
seiner  ursprünglichen  Gestalt  feststellen,  wenn  wir  von  allem  abstra- 
hieren was  uns  wissenschaftliche  Erfahrung  und  Überlieferung  zu 
ihm  hinzudenken  lassen.  Auf  diesen  ursprünglichen  Inhalt  zurück- 
geführt ist  aber  der  empirische  Substanzbegriff  identisch  mit  dem 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  ol 

Begriff  des  empirischen  Dings.  Der  Dingbegriff  bildet  dann  die  logische 
Grundlage  für  die  Ausbi  düng  des  Substanzbegriffs  der  spekulativen 
Philosophie  und  der  Naturwissenschaft.  Wir  haben  deshalb  zu  fragen, 
was  die  Erfahrung  unter  einem  Ding  verstehe. 

Die  logischen  Motive,  die  uns  veranlassen,  eine  bestimmte  Summe 
von  Wahrnehmungen  ein  Ding  zu  nennen,  sind  die  der  r  ä  u  m  - 
liehen  Selbständigkeit  und  der  zeitlichen 
Stetigkeit  der  Veränderungen.  Es  gehört  zu  einem 
Ding,  daß  sich  die  räumliche  Umgebung  desselben  verändert,  während 
es  selbst  unverändert  bleibt,  und  daß  aller  Wechsel  der  Eigenschaften 
so  erfolgen  muß,  daß  ein  Zustand  stetig  in  den  andern  überführt. 
„Wenn  ein  Ding  stetig  vom  Orte  A  nach  einem  andern  Orte  B  über- 
geht, so  ist  es  für  uns  dasselbe  Ding;  wenn  aber  bei  A  ein  Ding  ver- 
schwindet, bei  B  eins  entsteht,  so  gelten  uns  beide  für  verschiedene 
Dinge.1'  Kl.  Sehr.  I.  180.  L.  I.  149  ff.  S.  I.  252  ff.  „Diese  Bedingungen 
beziehen  sich  auf  die  b  e  i  d  e  n  formalen  Eigenschaften  unserer  Vor- 
stellungen, den  Raum  und  die  Zeit.  Sie  entsprechen  also  der  oben 
hervorgehobenen  allgemeinen  Forderung,  daß  die  allgemein  gültigen 
formalen  Merkmale,  die  zeitlich-räumlichen,  die  anschaulichen  Grund- 
lagen der  Kategorien  abgeben  müssen,  weil  alle  Vorstellungen  räumlich 
und  zeitlich  zugleich  sind.  Zugleich  ersieht  man  aber,  daß,  gerade  so 
wie  dies  bei  der  Ableitung  der  Anschauungsformen  geschehen  war, 
nun  auch  bei  der  Kategorie  der  Substanz  die  Apriorität  des  Begriffs 
eine  wesentlich  andere  Bedeutung  gewinnt,  und  daß  sie  außerdem  mit 
der  Voraussetzung,  die  Kategorie  sei  eine  a  priori  wirksame  Funktion, 
kein  in  uns  feststehender  Begriff,  in  bessere  Übereinstimmung  gelangt. 
Denn  offenbar  ist  es  auch  hier  nicht  mehr  der  Begriff  der  Substanz 
selbst,  der  als  a  priori  in  uns  liegend  anzunehmen  ist,  sondern  das  ver- 
gleichende und  beziehende  Denken,  das  jenen  Begriff  eines  bei  dem 
Wechsel  seiner  Eigenschaften  beharrenden  Dings  unter  dem  Einfluß 
der  angegebenen  Bedingungen  der  Anschauung  mit  logischer  Not- 
wendigkeit entwickelt."    Kl.  Sehr.  I.  180. 

Zu  den  objektiven  Kriterien  der  räumlichen  Selbständigkeit  und 
zeitlichen  Stetigkeit  tritt  nun  aber  bei  der  Ausbildung  dt^s  Ding- 
begriffs als  wichtiges  Merkmal  das  subjektive  der  einheitlichen 
Apperzeption.  Die  Dinge  könnten  uns  nicht  dazu  zwingen,  ihnen 
räumliche  Selbständigkeit  und  zeitliche  Stetigkeit  beizulegen,  wenn 
nicht  unser  Denken  befähigt  wäre,  die  getrennten  AVahrnehmungsakte 


32  Willi   Nef. 

in  einer  einheitlichen  Apperzeption  zn  verbinden.  „Diese  Fähigkeit 
besitzt  aber  das  Denken  nur  vermöge  der  einheitlichen  Natur  unseres 
Selbstbewußtseins.  Die  Selbständigkeit  unseres  Ich  und  der  stetige 
Zusammenhang  unserer  psychischen  Vorgänge  werfen  ihren  Reflex 
auf  die  Dinge  außer  uns.  Da  das  unmittelbare  Kriterium  der  Selb- 
ständigkeit, das  wir  in  unserem  Bewußtsein  tragen,  die  willkürliche 
Beschaffenheit  unseres  Denkens  und  Handelns,  auf  die  Dinge  nicht 
anwendbar  ist,  so  tritt  bei  ihnen  das  mittelbare  Kriterium  der  räum- 
lichen Koexistenz,  das  in  der  Koexistenz  unseres  eigenen  Körpers 
mit  unserem  denkenden  Ich  sein  Vorbild  hat,  ergänzend  ein.  So  wird 
das  nächste  objektive  Ding,  das  wir  unterscheiden,  unser  eigener 
Körper,  und  die  weiteren  Gegenstände  richten  sich  nach  den  Merk- 
malen der  Selbständigkeit  und  Stetigkeit,  die  wir  an  jenem  nächsten 
Objekt  unserer  Wahrnehmung  auffanden. tl  L.  1.455.  So  können  wir  die 
Entwicklung  des  Dingbegriffs  als  eine  apperzeptive  Synthese  be- 
zeichnen, die  auf  simultanen  und  sukzessiven  Assoziationen  beruht. 

An  dieser  Stelle  betont  Wundt  das  große  Verdienst  Kants,  daß  er 
den  Schwerpunkt  der  Entwicklung  des  Dingbegriffes  in  die  Einheit 
der  Apperzeption  verlegt  hat,  „worunter  er  eben  nichts  anderes  als 
die  Selbständigkeit  und  Stetigkeit  unseres  denkenden  Selbstbewußt- 
seins versteht,  vermöge  deren,  nachdem  die  erforderlichen  objektiven 
Kriterien  gegeben  sind,  nun  unser  Denken  jenen  Machtspruch  aus- 
führe, der  den  Begriff  verwirklicht."    L.  I.  455. 

In  dem  relativ  beharrlichen  Dingbegriff  haben  wir  die  anschauliche 
und  logische  Grundlage  kennen  gelernt,  von  der  aus  die  Philosophie 
und  die  Naturwissenschaft  in  der  weiteren  Ausbildung  des  Substanz- 
begriffs ausgegangen  sind.  Sowohl  in  seinem  System  der  Philosophie 
als  in  seiner  Logik  und  einzelnen  Aufsätzen  der  philosophischen  Studien 
hat  Wundt  die  weitere  spekulative  Entwicklung  des  Substanzbegriffs 
ausführlich  verfolgt.  (S.  I.  252  ff.  L.  I.  515  ff.  Kl.  Sehr.  I.  181  ff.) 
Da  eine  eingehende  Betrachtung  dieser  Ableitungen  uns  zu  weit  von 
Kant  wegführen  würde,  so  muß  darauf  verzichtet  werden.  Nur  mit 
einigen  Worten  möge  der  Gedankengang  Wundts  angedeutet  werden. 

Die  philosophische  Spekulation  verwandelte  die  relativen  Eigen- 
schaften des  Dingbegriffs  in  absolute.  Sie  ging  vom  abstrakten  Begriff 
des  Seins  aus,  dem  die  drei  Gegensätze  des  Nichtseienden,  des  Scheins 
und  des  Werdens  entgegengesetzt  wurden.  In  der  weitern  Entwicklung 
wandelten  sich  die  Gegensätze  in  Bestimmungen  des  Seins  um,  wodurch 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  33 

das  Sein  in  die  Substanz  überging.  Das  Nichts  konnte  selbstverständlich 
kein  Akzidens  der  Substanz  werden,  wohl  aber  wandelte  sich  der 
Schein  in  die  Erscheinung,  das  Werden  in  die  Kausalität  der  Substanz 
um.  Die  Substanz  wurde  so  die  allein  wirklich  beharrende  Grundlage 
der  Dinge  und  alle  Veränderlichkeit  der  Erscheinungen  wurde  auf 
die  kausale  Wirksamkeit  der  Substanz  zurückgeführt. 

Der  Naturwissenschaft  ist  es  um  einen  widerspruchslosen  Zusam- 
menhang aller  äußern  Erscheinungen  zu  tun.  Auch  sie  ging  vom  Er- 
fahrungsbegriff  des  Dinges  mit  veränderlichen  Eigenschaften  aus 
und  sie  wurde  genötigt,  denselben  so  lange  zu  berichtigen,  bis  sie  beim 
Begriff  der  Substanz  mit  konstanten  Eigenschaften  angelangt  war. 
Dabei  kam  die  Naturwissenschaft  zu  dem  Ergebnis,  dieselben  Eigen- 
schaften des  Substanzbegriffes  zu  postulieren,  zu  denen  auch  die 
spekulative  Philosophie  gelangt  war:  die  Einfachheit,  die  Wirksam- 
keit und  die  Beharrlichkeit  der  Materie. 

Was  endlich  den  Substanzbegriff  der  Psychologie  betrifft,  so  ist 
Wundt  der  Ansicht,  daß  hier  keine  berechtigten  empirischen  oder 
logischen  Gründe  vorliegen,  die  zur  Bildung  eines  Substanzbegriffes 
führen  müssen.  Das  Subjekt  ist  sich  selbst  unmittelbar  gegeben,  so 
daß  hier  die  Frage  nach  einem  etwaigen  Substrat  desselben  gar  nicht 
entstehen  kann. 

So  verlockend  es  wäre,  auf  alle  diese  Fragen  näher  einzutreten, 
so  mögen  diese  wenigen  Andeutungen  genügen.  Sollte  doch  in  dieser 
ganzen  Betrachtung  über  den  Substanzbegriff  in  erster  Linie  nur  ge- 
zeigt werden,  daß  die  Substanz  gleich  allen  Verstandesbegriffen,  die 
Synthesis  der  Anschauung  und  die  Einheit  der  Apperzeption  in  bezug 
auf  diese  Synthesis  voraussetze.  „Denn  jeder  Verstandesbegriff  ist 
eine  Einheitsfunktion,  die  sich  auf  ein  Mannigfaltiges  in  der  An- 
schauung bezieht.  Er  bedarf  also  einer  schon  in  der  Anschauung  vor- 
bereiteten Verbindung  des  Mannigfaltigen.  Der  Begriff  selbst  aber 
besteht  dann  in  einer  logischen  Ordnung  der  Teile  des  Mannigfaltigen 
zur  Einheit."    Kl.  Sehr.  I.  175. 

c)    Die    Kausalität. 

Der  Begriff  der  Kausalität  hat  sich  ursprünglich  im  Anschluß 
an  denjenigen  der  Substanz  entwickelt.  Die  Gegenstände  galten 
als  Ursachen,  von  denen  die  Wirkungen,  die  Tätigkeiten  der  Dinge, 
ausgingen.      Im   Laufe   der  wissenschaftlichen  und  philosophischen 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (Boilageheft).  3 


34  Willi   Nef. 

Entwicklung  trat  an  die  Stelle  der  substantiellen  Kausalität  die  aktuelle, 
nach  welcher  Ursache  und  Wirkung  Ereignisse  sind,  die  nur  in  dem 
Verhältnisse,  in  das  sie  gebracht  werden,  jene  Bedeutung  annehmen, 
während  in  anderem  Zusammenhange  auch  die  Ursache  als  Wirkung 
und  die  Wirkung  als  Ursache  gedacht  werden  kann.     S.  I.  282  ff. 

In  der  Philosophie  bedeutet  Hume  den  großen  Wendepunkt 
mit  Rücksicht  auf  die  Einführung  des  aktuellen  Kausalitätsbegriffes. 
„Das  Verdienst,  das  sich  Hume  um  die  philosophische  Untersuchung 
der  Kausalität  erworben,  besteht  aber  vor  allem  darin,  daß  er  die 
Auffassung  der  Ursache  als  einer  Sache  beseitigte  und  dadurch 
eigentlich  zum  ersten  Male  mit  Bewußtsein  und  folgerichtig  den 
Begriff  der  Ursache  im  Sinn  derjenigen  Entwicklung  vollendete, 
die  in  den  Erfahrungswissenschaften  begonnen  hatte."     L.   I.  579. 

Diesen  grundlegenden  Gedanken,  daß  die  Kausalität  ein  Prinzip 
sei,  das  die  empirische  Aufeinanderfolge  der  Erscheinungen  beherrsche, 
hat  sich  Kant  vollständig  zu  eigen  gemacht.  Dagegen  entfernt  er 
sich  um  so  weiter  von  ihm  in  seiner  Ansicht  über  den  Ursprung  dieses 
Prinzips.  „Die  Kausalität  gehört  ihm  zu  den  Stammbegriffen  des 
Verstandes ,  welche  Erfahrung  erst  möglich  machen  und  darum  der 
Erfahrung  vorangehen."  L.  I.  581.  Den  Beweis  dafür  leitet  Kant 
daraus  ab,  daß  weder  die  Auffassung  der  zeitlichen  Sukzession  noch 
die  der  zeitlichen  Koexistenz  möglich  wäre  ohne  ein  festes  Gesetz, 
durch  das  die  Aufeinanderfolge  wie  das  Zugleichsein  der  Erscheinungen 
beherrscht  werde. 

Wundt  hält  diese  Beweisführung  für  unrichtig;  zunächst  nimmt 
er  aber  Kant  gegenüber  Vorwürfen,  die  ihm  von  Schopenhauer  und 
Laas  gemacht  worden  sind,  in  Schutz.  (Schopenhauer,  Werke,  Bd.  1, 
S.  91;  Laas,  Kants  Analogien  der  Erfahrung,  S.  194).  „Schopen- 
hauer hat  in  dieser  Beweisführung  einen  „offenbaren  Zirkel"  gefunden: 
aus  der  Notwendigkeit  der  Folge  von  Ursache  und  Wirkung  solle  nach 
Kant  die  Sukzession  der  Erscheinungen  erkannt  werden,  und  doch 
sei  erst  aus  der  empirischen  Sukzession  zu  entscheiden,  was  Ursache 
und  was  Wirkung  sei.  Dieser  Vorwurf  ist  jedoch  ungerechtfertigt, 
Die  allgemeine  Bedingung,  unter  der  uns  jede  Sukzession  von  Er- 
scheinungen gegeben  sein  muß,  schließt  die  einzelne  Aufeinander- 
folge, die  uns  notwendig  durch  die  Erfahrung  gegeben  wird,  keines- 
wegs ein."  „Ebensowenig  ist  der  Vorwurf  zulässig,  die  Kantische 
Anschauung  setze  mit  Hume  das  bloße  Folgen  an  die  Stelle  des  Er- 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  35 

folgens.  (Laas.)  Ist  dieser  Einwand  schon  Hume  gegenüber  nicht 
berechtigt,  so  ist  er  es  hier  noch  weniger,  da  Kants  Gedankengang 
durchaus  getragen  ist  von  der  Idee  eines  notwendigen  Zusammen- 
hangs aller  Kausalbeziehungen  und  Wechselwirkungen.  Die  durch- 
gängige Kausalität  der  Natur  muß  den  zwingenden  Grund  dafür 
enthalten,  daß  eine  Erscheinung  A  einer  andern  B  vorangeht  oder 
mit  ihr  zugleich  ist,  auch  wenn  beide  keineswegs  in  dem  Verhältnis 
unmittelbarer  Kausalität  oder  Wechselwirkung  stehen.  Nur  darum 
können  wir  urteilen,  daß  Erscheinungen  objektiv  sich  folgen 
oder  zugleich  sind,  weil  alle  Erfahrungen  in  bezug  auf  ihre  Zeit- 
bestimmung einer  strengen  Gesetzmäßigkeit  gehorchen."    L.  I.  581  f. 

Die  Behauptungen,  auf  die  sich  der  Kantsehe  Beweis  stützt, 
sind  aber  angesichts  der  Tatsachen  der  Wahrnehmung  im  höchsten 
Grade  unwahrscheinlich.  „Die  Assoziation  der  Vorstellungen  und 
selbst  die  zufällige  Folge  der  äußeren  Sinneseindrücke .  fassen  wir 
als  eine  Sukzession  auf,  in  der  jeder  einzelnen  Vorstellung  ihre  Stelle 
in  der  Zeit  auf  das  bestimmteste  angewiesen  ist,  ohne  daß  doch  das 
Bewußtsein  einer  objektiven  Gesetzmäßigkeit  dieser  Reihenfolge 
dabei  vorhanden  wäre.  Ebenso  ist  daran  zu  erinnern,  daß  jene  An- 
schauung einer  unabänderlichen  Regelmäßigkeit  des  Geschehens, 
auf  der  Kants  Deduktion  fußt,  ein  spätes  Produkt  der  intellektuellen 
Entwicklung  ist,  an  das  wir  eine  so  primitive  Vorstellung  wie  die 
der  zeitlichen  Aufeinanderfolge  nicht  binden  können.  In  der  Tat 
ist  das  Verhältnis  das  umgekehrte:  wir  bedürfen  zur  Erklärung  der 
Zeitanschauung  nirgends  des  Kausalbegriffs,  wohl  aber  können  wir 
uns  von  diesem  keine  Rechenschaft  geben  ohne  die  Zeitanschauung. 
Der  Kantische  Beweis  ist  darum  noch  kein  Zirkel:  denn  wenn  der 
Kausalbegriff,  wie  er  voraussetzt,  in  uns  vor  jeder  Zeitanschauung 
wirksam  wäre,  so  würde  die  Regelmäßigkeit  der  zeitlichen  Sukzession 
notwendig  aus  diesem  Begriffe  folgen.  Aber  jener  Beweis  widerspricht 
der  wirklichen  Entwicklung  unserer  Vorstellungen.  Diese  zeigt,  daß 
die  Zeitanschauung  die  allgemeinere  Form  ist,  die  das  unregelmäßige 
ebenso  wie  das  regelmäßige  Geschehen  umfaßt,  und  daß  sie  daher, 
wie  Kant  in  seiner  Lehre  vom  Schematismus  des  reinen  Verstandes 
mit  Recht  annimmt,  die  Bedingung  unserer  Erkenntnis  der  Kausalität, 
daß  sie  aber  nicht,  wie  er  in  der  Erörterung  der  Analogien  voraus- 
setzt, ihrerseits  umgekehrt  durch  die  Kausalität  bedingt  ist."  L.  I.  582. 

Die  Geschichte  der  Wissenschaft  zeigt,  daß  sich  die  Allgemein- 

3* 


36  Willi  Nef. 

gültigkeit  und  Notwendigkeit  des  Kausalprinzips  erst  allmählich 
durchgesetzt  hat,  so  daß  seine  Apriorität  nicht  denkbar  ist ;  umgekehrt 
kann  das  Prinzip  nicht  ausschließlich  aus  der  Erfahrung  stammen, 
da  wir  an  die  Erfahrung  mit  der  logischen  Forderung  der  Allgemein- 
gültigkeit der  Kausalität  treten.  Dieses  ganze  Verhältnis  ist  uns 
also  nur  unter  der  Voraussetzung  begreiflich,  daß  hier  von  Anfang 
an  logische  und  empirische  Motive  zusammen- 
wirken.    L.  I.  600. 

Die  logischen  Motive  des  Kausalprinzips  hängen  mit  dem  Satz 
vom  Grunde  zusammen.  Dieser  geht  auf  den  Zusammenhang  von 
Denkakten,  das  Kausalprinzip  auf  den  Zusammenhang  von  Er- 
eignissen. „Wenn  jener  gestattet,  ein  bestimmtes  Urteil  zu  folgern 
vermöge  anderer  Urteile,  die  gegeben  sind,  so  gestattet  dieses  unter 
Umständen  Ereignisse  vorauszusagen  aus  andern  Ereignissen,  die 
uns  als  deren  Ursachen  bekannt  sind."  L.  I.  602.  Nun  kann  die 
Wirkung  zwar  im  allgemeinen  nur  dann  aus  den  gegebenen  Ursachen 
erschlossen  werden,  wenn  die  betreffende  Kausalbeziehung  aus  der 
Erfahrung  bekannt  ist.  In  diesem  Fall  ist  eine  Beziehung  des  Kausal- 
prinzips auf  den  Satz  vom  Grunde  ungenügend.  Anders  wird  die 
Sache,  wenn  die  Wirkung  selbst  da  vorausgesagt  werden  kann,  wo 
sie  unmittelbar  gar  nicht  beobachtet  wurde.  „Die  Zurück- 
führung  der  Kausalität  auf  den  Erkenntnis- 
grund würde  dann,  aber  auch  nur  dann  be- 
rechtigt sein,  wenn  die  Ursachen  als  Prä- 
missen benützt  werden  könnten,  aus  denen 
ohne  Rücksicht  auf  bestätigende  Beobach- 
tungen die  Wirkungen  zu  erschließen  wären. 
Dann  wird  ja  der  Schluß  nichts  anderes  sein  als  eine  denkende  Nach- 
erzeugung des  kausalen  Vorgangs;  was  in  der  Erfahrung  als  Ursache 
sich  darstellte,  wird  zum  Grund,  was  als  Wirkung  zur  Folge." 
L.  I.  602  f. 

Wenn  man  nun  auch  von  einer  solchen  Ableitung  aller  einzelnen 
kausalen  Zusammenhänge  aus  einer  begrenzten  Anzahl  ursprünglicher 
Tatsachen  der  Erfahrung  noch  sehr  entfernt  ist,  so  sind  doch  einzelne 
Gebiete,  wie  die  Mechanik  und  die  Physik  weit  in  diese  Behandlung 
der  Kausalprobleme  eingetreten.  „Die  meisten  Gesetze,  die  für  die 
Bewegung  schwerer  Körper  gelten,  sind  ursprünglich  experimentell 
ermittelt   und   dann   aus   allgemeineren   Voraussetzungen   abgeleitet 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  37 

worden;  andere  wurden  zuerst  aus  solchen  Voraussetzungen  oder 
aus  andern  Gesetzen  deduziert  und  dann  nachträglich  durch 
die  Beobachtung  verifiziert.  So  hat  man  das  Pendelgesetz 
durch  Beobachtung  gefunden,  hierauf  aber  als  notwendige  Folge 
aus  den  allgemeinen  Gesetzen  der  Schwere  abgeleitet,  während 
dagegen  Galilei  das  Parabelgesetz  für  die  Wurfbewegungen  zu- 
erst aus  dem  Prinzip  der  Trägheit  und  dem  des  freien  Falls 
ableitete  und  dann  durch  die  Beobachtung  annähernd  bestätigte. 
Auf  diese  Weise  ist  es  das  unverkennbare,  aber  freilich  in  seinem 
letzten  Ziel  unvollendbare  Streben  der  neueren  Physik,  alle  Natur- 
ereignisse einem  einzigen  Zusammenhang  von  Gründen  und  Folgen 
unterzuordnen."     L.  I.  603. 

Geht  so  auf  der  einen  Seite  das  Kausalprinzip  aus  dem  Satz 
vom  Grunde  hervor,  so  ist  es  trotzdem  nicht  mit  ihm  identisch,  indem 
nun  die  Erfahrung  die  Form  seiner  Anwendung  bestimmt.  „Diese 
Form  muß  sich  richten  einerseits  nach  den  allgemeinen  Anschauungs- 
formen  der  Zeit  und  des  Raumes,  anderseits  nach  den  allgemeinen 
Bedingungen,  die  der  Inhalt  der  Erfahrung  hinzubringt.  Vermöge 
der  in  den  Anschauungsformen  gegebenen  Bedingungen  kommt  in 
das  Kausalprinzip  die  Bestimmung  der  Aufeinanderfolge  der  kausal 
verbundenen  Erscheinungen.  Die  Raumanschauung  fügt  hierzu 
für  die  objektive  Erfahrung  noch  die  weitere  Bestimmung, 
daß  Ursache  und  Wirkung  irgendwie  räumlich  getrennt  sind,  da  sonst 
zu  ihrer  Unterscheidung  kein  Anlaß  gegeben  wäre."  L.  I.  605.  Unter 
den  sämtlichen  Bedingungen,  die  bei  dem  Eintritt  einer  Erscheinung 
wirksam  sind,  ist  jeweils  durch  die  Erfahrung  zu  bestimmen,  welche 
im  engeren  Sinne  als  Ursache  zu  bezeichnen  sei.  Im  Gebiete  der 
äußeren  Erfahrung,  wo  die  Erscheinungen  einer  Maßbeziehung  unter- 
worfen werden  können,  bietet  die  Äquivalenz  der  Ursachen  und 
Wirkungen  das  wesentliche  Mittel  dieser  Unterscheidung.    L.  I.  604. 

So  trägt  also  das  Kausalprinzip,  wie  der  Begriff  der  Substanz, 
wiederum  den  doppelten  Charakter  einer  empirischen  Regel  und 
eines  logischen  Postulates  an  sich.  „Tatsächlich  fügt  sich  ihm  überall 
die  Erfahrung,  sobald  wir  zu  einer  Erkenntnis  der  empirischen  Zu- 
sammenhänge durchgedrungen  sind;  und  zugleich  ist  diese  Tatsache 
eine  wesentlich?  Bürgschaft  dafür,  daß  zwischen  unserem  Denken 
und  den  Objekten  der  Erfahrung  eine  Beziehung  besteht,  vermöge 
deren  die  letzteren  ebenso  den  Nonnen  des  Denkens  adäquat  sind, 


38  Willi   Ne  f. 

wie  dieses  sich  von  seinen  Objekten  bestimmen  läßt,  eine  Wechsel- 
wirkung, ohne  welche  überhaupt  Erkenntnis  unmöglich  wäre.  Deshalb 
wird  das  Kausalprinzip  als  eine  Regel  angesehen,  die  für  alle  Erfahrung 
gelten  muß,  und  es  ist  eben  damit  eine  Forderung,  die  wir  jeder 
einzelnen  Erfahrung  entgegenbringen,  und  gegen  die  uns  ein  Wider- 
spruch als  äquivalent  der  Bestreitung  der  Axiome  des  logischen 
Denkens  selbst  gilt.  Denn  was  sollte  in  der  Tat  die  Gültigkeit  dieser 
noch  bedeuten,  wenn  die  Objekte  mangelten,  auf  die  sie  anwendbar 
wären?"     L.  I.  604. 

d)    Der   Z  w  e  c  k. 

Das  Kausalprinzip  ergab  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  aus  der 
Anwendung  des  Satzes  vom  Grund  auf  die  Erfahrung.  Der  Satz  vom 
Grund  läßt  noch  eine  andere  empirische  Beziehung  zu,  die  zum  Zweck- 
prinzip führt,  Das  Zweckprinzip  unterscheidet  sich  von  dem  Kausal- 
prinzip nur  dadurch,  daß  die  Kausalität  von  dem  Grund  zur  Folge 
fortschreitet,  während  der  Zweck  von  der  Folge  zum  Grunde  zurück- 
geht. So  sind  diese  Prinzipien  die  beiden  einzigen  möglichen  empiri- 
schen Gestaltungen  des  Satzes  vom  Grunde.  „Das  allgemeinere  von 
beiden  ist  aber  das  Kausalprinzip,  als  dessen  unter  speziellen  Be- 
dingungen eintretende  Umformung  das  Zweckprinzip  betrachtet 
werden  kann."    L.  I.  563. 

Nach  der  Kantischen  Auffassung  ist  das  Zweckprinzip  ein  Hilfs- 
prinzip neben  dem  der  Kausalität;  es  hat  überall  da  einzutreten, 
wo  die  Kausalität  nicht  ausreicht.  Dieses  Verhältnis  beider  Begriffe 
möchte  Kant  dadurch  begründen,  daß  er  den  Zweck  als  ein  Produkt 
der  reflektierenden  Urteilskraft  bezeichnet.  Die  Urteilskraft  nimmt 
eine  eigentümliche  Mittelstellung  zwischen  Verstand  und  Vernunft 
ein.  Dem  Verstand  entsprechen  die  Naturgesetze,  welche  die  Objekte 
unseres  theoretischen  Erkennens  ausmachen,  der  Vernunft  die  prak- 
tischen Gesetze,  die  aus  dem  Freiheitsbegriff  entspringen.  Die  Kluft, 
die  zwischen  diesen  beiden  Begriffen  entsteht,  soll  die  Urteilskraft 
ausfüllen,  indem  sie  den  Zweckbegriff,  der  ursprünglich  dem  Gebiet 
des  freien  Handelns  entnommen  ist,  auf  die  Natur  übertragen  soll. 
Nach  Kant  ist  die  Urteilskraft  dasjenige  Vermögen  unseres  Geistes, 
durch  das  wir  das  Besondere  dem  Allgemeinen  subsumieren.  Da 
nun  die  allgemeinen  Naturgesetze  ihren  Grund  in  unserem  Verstände 
haben,  so  muß  unsere  reflektierende  Urteilskraft  die  Natur  in  sofern 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zvir  Erkenntnistheorie  Kants.  39 


- 


zweckmäßig  auffassen,  als  sich  auf  diese  die  Funktionen  unseres 
Verstandes  anwenden  lassen.  „Aus  dieser  Übereinstimmung  der 
Objekte  des  Erkennens  mit  der  Erkenntnisfunktion  geht  zunächst 
eine  subjektive  oder  formale  Zweckmäßigkeit  hervor."  „Außerdem 
können  wir  nun  unser  eigenes  Erkenntnisvermögen  gleichsam  in  die 
Natur  hinausversetzen.  Wir  können  uns  fragen,  ob  das  Einzelne, 
gleichwie  es  mit  dem  allgemeinen  Begriff,  dem  wir  es  subjektiv  unter- 
ordnen, übereinstimmen  muß,  so  auch  mit  dem  Ganzen,  zu  dem  es 
gehört,  als  dem  Allgemeinen,  unter  dem  es  objektiv  enthalten  ist, 
übereinstimme.  Hier  ist  es  ein  Prinzip  der  objektiven  Zweckmäßigkeit, 
das  wir  jedoch  niemals  anzuwenden  vermöchten,  wenn  wir  uns  nicht 
zuvor  jenes  Prinzips  der  subjektiven  Zweckmäßigkeit  bei  allem  unserem 
Erkennen  inne  würden."    L.  I.  624. 

Diese  Theorie  bringt  nach  der  Ansicht  Wundts  in  sehr  gekünstelter 
Weise  den  Naturzweck  mit  dem  formalen  Zweckbegriff  und  beide 
wieder  mit  dem  Schematismus  der  Seelenvermögen  in  Verbindung, 
wodurch  die  wissenschaftliche  Stellung  des  Zweckbegriffs  eine  un- 
sichere und  schwankende  wird.  Der  durch  die  Übertragung  aus  dem 
Gebiet  des  freien  Handelns  auf  die  Natur  postulierte  Zweckbegriff 
kann  nie  zeigen,  wie  das  einzelne  entstehen  muß,  sondern  nur,  wie 
es  in  Übereinstimmung  mit  dem  Ganzen,  zu  dem  es  gehört,  gedacht 
werden  kann,  so  daß  bloß  eine  Methode  subjektiver  Reflexion  zu- 
stande kommt.  „Diese  kann  daher  in  Wirklichkeit  jene  Kluft  zwischen 
Freiheit  und  Naturnotwendigkeit  niemals  ausfüllen,  sondern  sie 
kann  höchstens  unserem  Denken  die  allgemeine  Möglichkeit  nahe 
bringen,  daß  sie  an  sich  —  obgleich  niemals  in  unserer  wirklichen 
Erkenntnis  —  ausfüllbar  sei.  Hierdurch  wird  aber  das  Zweckprinzip 
selbst  zu  einem  nicht  der  Kausalität  koordinierten  Grundgesetze, 
sondern  zu  einem  bloßen  Hilfsprinzip,  wie  sich  auch  schon  darin 
verrät,  daß  in  Kants  theoretischem  Hauptwerk  der  Zweckbegriff 
nicht  einmal  erwähnt  wird."    L.  I.  625. 

„  Eine  noch  größere  Schwierigkeit  erwächst  der  Kantischen  Teleologie 
auf  ihrem  eigenen  Boden  infolge  des  Übergangs  von  der  subjektiven 
zur  objektiven  Zweckmäßigkeit,  den  sie  zu  gewinnen  sucht.  Die 
Unterordnung  der  Erfahrung  unter  allgemeine  Begriffe  und  die  Ver- 
bindung der  einzelnen  Teile  eines  Objekts  zu  einem  Ganzen  sind  zwei 
Vorgänge,  die  höchstens  in  dem  allgemeinen  Begriff  der  Subsumtion 
übereinstimmen.     Aber  selbst  dieser  Begriff  wird  in  beiden  Fällen 


40  Willi  Nef. 

in  sehr  verschiedenem  Sinne  gebraucht.  Nur  bei  der  subjektiven 
Zweckmäßigkeit  handelt  es  sich  um  eine  wirkliche  Subsumtion  unter 
allgemeine  Begriffe,  und  zwar  um  eine  notwendige,  weil  ohne  jene 
allgemeinen  Begriffe  nach  Kant  überhaupt  keine  Erfahrung  möglich 
ist.  Im  zweiten  Fall  handelt  es  sich  dagegen  vielmehr  um  eine  wechsel- 
seitige Beziehung  der  Teile  und  des  Ganzen,  die  auszuführen  oder 
nicht  vollkommen  in  unserer  Macht  steht.  So  hebt  denn  auch  Kant 
ausdrücklich  hervor,  daß  die  Übertragung  des  Prinzips  der  subjektiven 
Zweckmäßigkeit  auf  die  Objekte  der  Natur  keineswegs  überall  sich 
vollziehe,  sondern  daß  wir  sie  vorzugsweise  auf  einzelne  Natur- 
produkte anwenden,  nämlich  auf  die  o  r  g  a  n  i  s  c  h  e  n.  In  dieser 
Beziehung  ist  daher  der  Zweck  wiederum  ein  bloßes  Hilfsprinzip, 
das  herbeigezogen  werden  soll,  sobald  man  mit  der  Erklärung  durch 
mechanische  Kausalität  nicht  ausreicht.  Denn  obgleich  Kant  die 
allgemeine  Denkbarkeit  einer  Erklärung  der  lebenden  Natur  nach 
mechanischen  Gesetzen  zugestand,  so  leugnete  er  doch  die  praktische 
Möglichkeit  einer  solchen  Erklärung  ganz  und  gar:  auch  nur  die  Er- 
zeugung eines  Strohhalms  nach  mechanischen  Gesetzen  darzutun, 
werde  allezeit  unmöglich  sein.  Man  kann  zugeben,  daß  der  Zustand 
der  biologischen  Wissenschaften  zu  Kants  und  beinahe  noch  zu  unseren 
Zeiten  diesen  Verzicht  begreiflich  erscheinen  läßt.  Gleichwohl  hätte 
er  nicht  ausgesprochen  werden  können,  wenn  nicht  von  vornherein 
die  logische  Bestimmung  des  Zweckprinzips  eine  unsichere  gewesen 
wäre."     L.  I.  625 — 626. 

Wird  nach  dem  Prinzip  des  Wissenschaftlich  allein  haltbaren 
aktuellen  Kausalitätsbegriffs  die  Ursache  sowohl  wie  die  Wirkung  als 
ein  Vorgang,  ein  Ereignis  aufgefaßt,  so  ist  uns  die  Möglichkeit  ge- 
boten, die  progressive  Richtung  der  Kausalbetrachtung  in  eine  re- 
gressive umzuwandeln.  Die  regressive  aber  ist  die  nach  dem  Prinzip 
des  Zweckes.  Auf  diese  Weise  wird  der  Zweck  zur  Umkehrung  des 
Kausalprinzipes  und  zu  einem,  diesem  koordinierten  Erkenntnis- 
prinzip. Was  in  der  Kausalbetrachtung  Ursache  war,  wird  in  der 
teleologischen  zum  Mittel,  was  sich  dort  als  Wirkung  zeigte,  wird 
hier  zum  Zweck.  Es  gibt  keinen  Zusammenhang  von  Ereignissen, 
der  nicht  gleichzeitig  unter  dem  kausalen  und  unter  dem  teleolo- 
gischen Gesichtspunkte  betrachtet  werden  könnte.  S.  I.  309  ff.  „Wenn 
wir  von  den  Pump  wirkungen  des  Herzens  zu  der  Bewegung  des  Blutes 
in  den  Gefäßen  übergehen,  so  sind  jene  die  Ursachen  der  letzteren; 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  41 

wenn  wir  umgekehrt  von  der  Blutbewegung  in  den  Gefäßen  auf  die 
Herzaktion  zurückgehen,  so  ist  die  erstere  der  Zweck,  der  durch  die 
letztere  erreicht  wird."    L.  I.  631. 

Es  gibt  kein  Erscheinungsgebiet,  auf  das  nicht  neben  dem  Kausal- 
das  Zweckprinzip  anwendbar  wäre.  Niemals  schließen  beide  Prinzipien 
sich  aus  und  insbesondere  ist  die  Anwendung  des  Zweckprinzips 
nur  unter  der  Voraussetzung  der  gleichzeitigen  Gültigkeit  des  Kausal- 
prinzips möglich.  „Denn  stets  ist  diejenige  Ordnung  der  Erscheinungen, 
bei  der  wir  von  dem  Bedingenden  zu  dem  Bedingten  fortschreiten, 
eine  Ordnung  nach  Kausalität,  diejenige  dagegen,  bei  der  wir  von  dem 
Bedingten  zur  Bedingung  zurückgehen,  eine  Ordnung  nach  dem 
Zweck.  Auf  diese  Weise  entspringen  Kausalität  und  Zweck  aus  den 
zwei  einzig  möglichen  logischen  Gesichtspunkten,  unter  denen  wil- 
den Satz  des  Grundes  auf  einen  Zusammenhang  des  Ge- 
schehens anwenden  können. 

Auch  das  Zweckprinzip  ist  daher  diesem  Satz  unterzuordnen. 
Es  entspringt  gleich  dem  Kausalprinzip  aus  dessen  Anwendung  auf 
die  Erfahrung.  Bei  der  Kausalität  wird  der  Grund  zur  Ursache,  die 
Folge  zur  Wirkung;  bei  der  Zweckbetrachtung  wird  die  Folge  zum 
Zweck,  der  Grund  zum  Mittel.  Das  Kausalprinzip  ist  die  näher  liegende 
Anwendung,  weil  es  die  unserem  logischen  Denken  unmittelbar  inne- 
wohnende Richtung  vom  Grund  zur  Folge  einhält.  Aber  wie  wir  schon 
in  unserem  Denken  diese  Richtung  umkehren  können,  indem  wir 
uns  fragen,  welches  der  Grund  zu  einem  gegebenen  Urteil  sei,  d.  h. 
welche  andern  Urteile  wir  als  Prämissen  voraussetzen  müssen,  damit 
daraus  ein  gegebenes  als  Schluß  hervorgehe,  so  können  wir  auch  in 
der  logischen  Verbindung  der  Erfahrungen  die  Frage  stellen:  was 
muß  vorausgehen,  wenn  ein  gegebener  Erfolg  eintreten  soll?  Sobald 
dies  geschieht,  handeln  wir  nach  dem  Zweckprinzip."    L.  I.  632  f. 


6.    Erscheinung,   Ding   an   sich    und   Wirk- 
lichkeit. 

Alle  Erkenntnis  entsteht  nach  der  Ansicht  Kants  aus  einem  Stoff, 
der  gegeben  ist  und  den  die  Materie  ordnenden  Anschauungs-  und 
Verstandesfonnen.  Der  Betrachtung  dieser  Formen  schenkte  Kant 
eine  große  Aufmerksamkeit,  dagegen  vernachlässigte  er  sehr  die 
Beachtung  des  Stoffes  der  Erkenntnis.     Fast  könnte  man  glauben, 


42  Willi   Nef. 

meint  Wundt,  die  Beschäftigung  mit  dem  sinnlichen  Stoff  sei  unter 
der  Würde  des  Philosophen  gelegen.  Dieser  Fehler  der  Vernachlässigung 
des  objektiv  Gegebenen  gereichte  der  Kantischen  Erkennt nislehre 
zu  großem  Schaden,  er  ist  ein  Grundfehler,  der  sich  in  allen  einzelnen 
Untersuchungen  bemerkbar  macht,  und  der  „das  Ergebnis  dieser 
Erkenntniskritik  auch  dann  in  Frage  stellen  würde,  wenn  man  sich 
entschließen  wollte,  die  gezwungenen  und  willkürlichen  Feststellungen 
im  einzelnen,  die  besonders  in  der  Architektonik  der  Kategorientafel 
mit  ihrem  über  alle  Teile  des  Systems  sich  erstreckenden  Schematismus 
ihren  Ausdruck  finden,  um  der  Bedeutung  des  Ganzen  willen  mit  in 
den  Kauf  zu  nehmen."    Kl.  Sehr.  I.  193. 

Kant  tut  das  objektiv  Gegebene  mit  dem  einen  Begriff  der  „Materie 
der  Empfindung"  ab,  ohne  sich  darum  zu  kümmern,  ob  diese  Materie 
nicht  doch  in  den  verschiedenen  Fällen  eine  verschiedene  ist,  und 
in  wiefern  solche  Unterschiede  mit  den  Anschauungsformen  und 
Verstandesbegriffen  in  einer  Weise  zusammenhängen,  durch  die 
diese  Funktionen  selbst  erst  verständlich  werden.  „Für  Kant  ist 
dieser  Stoff  der  Empfindung  in  der  Tat  wenig  verschieden  von  dem 
platonischen  ///}  oV."  Kl.  Sehr.  I.  193.  Es  war  eine  irrige  Meinung 
Kants,  zu  glauben,  die  in  uns  liegenden  Funktionen  des  Erkennens 
lassen  sich  ohne  Rücksicht  auf  den  Stoff  herauslösen.  Dieser  Stand- 
punkt, nach  welchem  die  Materie  der  Empfindung  überall  als  das 
gleiche,  an  sich  indifferente  Substrat  der  Erkenntnisfunktionen  er- 
scheint,  ist  in  Wahrheit  von  der  alten  Annahme  angeborener  Ideen, 
die  fertig  in  uns  liegen  sollen,  nur  wenig  verschieden.  „Schließt  doch 
dies  die  Voraussetzung  ein,  jede  beliebige  Empfindung  könne  alle 
apriorischen  Funktionen,  Anschauungsformen  und  Begriffe,  zumal 
auslösen.  Hier  kann  man  in  der  Tat  zweifeln,  ob  nicht  auch  ein  Leibniz 
oder  selbst  ein  Descartes  mit  dieser  Auffassung  des  Apriori  sich  hätten 
einverstanden  erklären  können."     Kl.  Sehr.  1.  194. 

Dem  gegebenen  Stoff  der  Empfindung  standen  bei  Kant  die 
dem  erkennenden  Subjekt  angehörenden  Formen  der  Ordnung  und 
Auffassung  der  Dinge  getrennt  gegenüber.  „Je  mehr  nun  diese  Formen 
als  fertig  vorhandene,  keiner  weiteren  Ableitung  zugängliche  von 
ihm  angesehen  wurden,  um  so  mehr  mußte  hier  die  falsche  Vorstellung 
sich  unterschieben,  die  Unterscheidung  von  Subjekt  und  Objekt  »ehe 
aller  Erfahrung  voraus,  eine  Vorstellung,  zu  der  überdies  Kants  An- 
sicht,  daß   „das   Bewußtsein  unserer  eigenen  Existenz"   früher  sei 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  43 

als   jede    äußere   Erfahrung,   fast   mit    Notwendigkeit   hindrängte.'1 
Kl.  Sehr.  I.  189  f. 

Dies  führte  Kant  zu  dem  verhängnisvollen  Irrtum  der  Gegen- 
überstellung von  Erscheinung  und  Ding  an  sich,  an  Stelle  des  richtigen 
Gegensatzes  von  Erscheinung  und  Wirklichkeit.     Das  Ding  an  sich 
ist  nach  dieser  einen  erkenntnistheoretischen  Bedeutung  das  unbe- 
kannte Substrat,  von  dem  wir  in  der  Empfindung  „affiziert"  werden; 
dieses  unbekannte  Substrat  wandelt  sich  durch  die  ordnenden  Formen 
unseres  Erkennens  in  die  „Erscheinung"  um.  Diese  Gegenüberstellung 
wirkte  denn  auch  verhängnisvoll  auf  die  neuere  Erkenntnistheorie 
ein.     Da  die  Objekte  der  Erfahrung  als  Erscheinungen  angesehen 
wurden,  die  nur  im  „Gemüt"  des  erkennenden  Subjektes  ihre  Stelle 
haben,  so  drehte  sich  die  Erkenntnistheorie  zum  großen  Teil  um  die 
Frage,  wie  es  kommen  möge,  daß  die  Objekte  aus  dem  Gemüt  wiederum 
nach  außen  versetzt  werden.     Man  sah  nicht  ein,  daß  diese  Frage 
über  das  sogenannte  Problem  der  Außenwelt  von  vornherein  falsch 
gestellt  war,  da  sie  von  einer  falschen  Voraussetzung,  der  ursprüng- 
lichen  Trennung   von   Subjekt   und   Objekt   ausgeht,   während   das 
Hauptproblem,    das    die    Kantische   Erkenntnislehre   unerledigt   ge- 
lassen, das  Verhältnis  der  Denkfunktionen  zu  dem  Stoff  der  Er- 
fahrung, unberücksichtigt  geblieben  ist.   vgl.  Kl.  Sehr.  I.  191  und  196. 
In  die  Kantische  Gegenüberstellung  von  Erscheinung  und  Ding 
an  sich  mischten  sich  nun  aber  auch  noch  metaphysische  und  ethische 
Motive,  die  dem  Ding  an  sich  neben  dem  oben  angeführten  Sinne 
eine  zweite  Bedeutung  gaben.    Die  Erscheinung  würde  in  ihrer  Be- 
deutung mit  dem  Schein  zusammenfallen,   wenn  nicht  hinter  der 
Erscheinung  als  das  eigentlich  Wirkliche  ein  transzendenter  Gegen- 
stand vorauszusetzen  wäre.      Dieses  übersinnliche  Substrat,   dessen 
Kant  für  seine  Ethik  zu  bedürfen  glaubte,  ist  die  absolute  Substanz 
der  älteren  spekulativen  Philosophie.    Diese  Idee  liegt  vermöge  der 
ihr   beigelegten    Prädikate   der   absoluten   Unendlichkeit   oder   Ein- 
fachheit   usw.  von    vornherein  außerhalb  der  Erfahrungserkenntnis, 
so  daß  auch  Anschauungsformen  und  Verstandesbegriffe  selbstver- 
ständlich keine  Anwendung  auf  sie  finden  können.     Vgl.  Kl.  Sehr. 
I.  189  f.  und  196  f. 

Sehen  wir  nun  zu,  welche  Kritik  Wundt  an  diesen  Anschauungen 
Kants  übt.  Gesteht  man  zu,  daß  sich  alles  Erkennen  auf  ein  Ge- 
g  e  b  e  n  e  s   bezieht,  so  besteht  die  erste  und  notwendigste  Aufgabe 


44  Willi   Ne  f. 

der  Erkenntnistheorie  darin,  nachzuweisen,  wie  dieses  Gegebene  be- 
schaffen sein  müsse,  wenn  die  Erkenntnisfunktionen  sich  an  ihm 
wirksam  erweisen  sollen,  und  welche  Erkenntnisfunktionen  hinwiederum 
erforderlich  seien,  -wenn  das  Gegebene  so  in  seine  Teile  sich  gliedern 
soll,  und  wenn  zwischen  diesen  Teilen  solche  logische  Beziehungen 
sich  herstellen,  wie  es  in  Wirklichkeit  geschieht.   „Mit  andern  Worten: 
es  müssen  die  Korrelationen  ermittelt  werden,   die  nach  Maßgabe 
der    wirklichen    Erkenntnisentwicklung    zwischen    Stoff    und    Form 
der  Erkenntnis  bestehen.     Aus  dieser  Fundamentalaufgabe  der  Er- 
kenntnistheorie  ergeben   sich  vor   allen  Dingen   zwei  Folgerungen: 
eine  negative  und  eine  positive.    Die  erstere  besteht  darin,  daß  das 
„Ding  an  sich"  nicht  bloß  ein  jenseits  der  Wirklichkeit  hegender, 
sondern  ein  unmöglicher  Begriff  ist,  der  bei  Kant  eben  nur  aus  dem 
Bedürfnis  entspringt,   dem  objektiven  Glied  jener   Korrelation  des 
Gegebenen  zu  unseren  Erkenntnisfunktionen  ein  imaginäres  Objekt 
zu  substituieren.   Diese  Substitution  ist  hinfällig,  weil  die  ganze  Wirk- 
lichkeit in  nichts  anderem  als  in  der  Einheit  der  Erkenntnisfunktionen 
und  ihren  im  Gegebenen  vorauszusetzenden  Korrelationen  zu  ihnen 
besteht,  eine  außerhalb  dieser  stehende  Wirklichkeit  aber  eine  völlig- 
leere  und  willkürliche  Fiktion  ist.     Die  zweite,  positive  Folgerung 
besteht  darin,   daß  das  Erkennen  keine  bloß  subjektive  Tätigkeit 
unseres  Denkens,  sondern  daß  es  im  gleichen  Maße  an  ein  objektives 
Geschehen  gebunden  ist,  insofern  eben  unser  Denken  im  Erkennen 
genau  die  Wege  einhalten  muß,  die  ihm  durch  seine  Korrelationen 
zum  Gegebenen  selbst  vorgezeichnet  werden.    In  dieser  Gebundenheit 
des  subjektiven  Erkenntnisaktes  an  die  Eigenschaften  und  Verhält- 
nisse der  gegebenen  Wirklichkeit  besteht  die  wahre    Einheit 
des   Denkens   und   Seins,  im  Gegensatze  zu  jener  falschen, 
unter  der  man  eine  durch  die  alleinige  Macht  des  Denkens  erzeugte 
Wirklichkeit  des  Seins  verstand.    Daß  die  uns  gegebene  Wirklichkeit 
den  Denkgesetzen,  nach  denen  wir  sie  ordnen,  konform  sein  müsse, 
das  ist  ja  in  der  Tat  die  Forderung,  ohne  die  keine  Erkenntnis  und 
darum  auch  keine  Erkenntnistheorie  bestehen  kann.    Da  aber  beide 
Faktoren,  das  denkende  Subjekt  und  das  gedachte  Objekt,  unab- 
änderlich   zusammengehören,    so    sind   beide   in   dieser   Verbindung- 
gleichzeitig  das  „Ding  an  sich",  das  sich  erst  in  unserer  Reflexion 
in  jene  beiden  Faktoren  scheidet,  und  die  „Erscheinung",  die  sich 
eben  nur  dadurch  von  dem  bloßen  Schein  unterscheidet,  daß  sie  das 


Wilhelm  Wur.dts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  45 

Ding  selbst  ist.  Schein  und  Erscheinung  würden  dagegen  unrettbar 
in  ihrer  Bedeutung  zusammenfließen,  wenn  hinter  der  Erscheinung 
als  das  eigentlich  Wirkliche  ein  transzendenter  Gegenstand  voraus- 
zusetzen wäre."     Kl.  Sehr.  I.  196—197. 

Durch  diese  Kritik  der  Kantischen  Lehre  sind  wir  denn  zugleich 
bei  einem  der  Fundamentalsätze  der  Wundtschen  Erkenntnislehre 
angelangt,    Die  Frage  nach  dem  Verhältnis  der  subjektiven  und  ob- 
jektiven Faktoren  des  Erkennens  müssen  wir  dahin  beantworten, 
daß  dieses  Verhältnis  dies  der  Einheit  ist,  die  sich  zwar  in  der 
denkenden  Betrachtung  der  Dinge  in  ihre  Teile  gliedert,  bei  deren 
Betrachtung  man  aber  immer  wieder  der  Einheit  eingedenk  bleiben 
muß,  aus  der  sie  entsprungen  sind.    Diese  Einheit  des  erkennenden 
Subjektes  und  der  erkannten  Objekte  hat  dann  für  die  verschiedenen 
Faktoren   des   Erkenntnisprozesses   wieder  verschiedene   Bedeutung. 
Die   Qualität  der  Empfindungen  hat  die  Wissenschaft  auf  Grund 
einer   Jahrhunderte   dauernden   Arbeit  in   das   erkennende   Subjekt 
zurückverwiesen;   dadurch  sind  Licht  und  Schall  und  die  übrigen 
Empfindungen   nicht    aus    der    Wirklichkeit    selbst    verschwunden; 
,,aber  sie  sind  zu  den  zurückbleibenden  objektiven  Inhalten  in  ein 
Verhältnis  der  Ergänzung  getreten,  die  sich  überall  mit  jenen 
wieder  verbinden  muß  und  von  selbst  verbindet,  wo  unsere  eigene 
volle  Persönlichkeit  mit  dem  gesamten  Inhalt  der  Erscheinungswelt 
in  Beziehung  tritt."    Kl.  Sehr.  I.  198.    Auch  mit  Rücksicht  auf  die 
ordnenden  Formen  der  Anschauungen  und  Verstandesbegriffe  bilden 
Subjekt  und  Objekt  eine  Einheit.     „Bei  jeder  Begriffsbildung  aber, 
von  der  begrifflichen  Sonderung  der  Anschauungsformen  an  bis  herauf 
zu  den  begrifflichen  Formen  der  Ordnung  der  Erscheinungen,   ist 
unser  Denken  an  Eigenschaften  und  Veränderungen  der  objektiven 
Erscheinungswelt  gebunden,  die  den  Denkformen  adäquat  sein  müssen, 
wenn  diese  überhaupt  entstehen  sollen.    Hier  ist  dann  die  Sonderung 
der  an  sich  ungeteilten  räumlich-zeitlichen  Anschauungsform  in  den 
Raum  und  die  Zeit,  diese  einfachste  unter  den  subjektiv-objektiven 
Denkfunktionen,   vorbildlich  für   alle  weiteren   Gedankenbüdungen. 
Die  Ergänzung  verwandelt  sich  also  bei  allen  diesen  formalen  Inhalten 
unserer   Erkenntnis    in    eine   notwendige    Korrelatio  n."       Kl. 
Sehr.  I.  199. 

Im  Hinblick  auf  das  Verhältnis  von  Subjekt  und  Objekt  können 
wir  an  ein  Wort  Fichtes  anknüpfen:  „das  Licht  außer  mir  ist  das 


46  Willi  Ne f. 

Licht  in  mir,  und  ich  selbst  bin  das  Licht"  —  um  ihm  nach  den  oben 
gegebenen  Erörterungen  die  zutreffendere  Form  zu  geben:  „Den 
Gesetzen  der  Erscheinungen  außer  mir  entsprechen  die  Gesetze  des 
Denkens  in  mir,  denn  es  ist  dieselbe  Vernunft,  die  in  der  gegenständ- 
lichen Welt,  und  die  in  mir  selber  wirksam  ist."     Kl.  Sehr.  I.  199. 

Noch  ist  ein  Wort  über  die  Zeitfolge,  in  welcher  Subjekt  und 
Objekt,  diese  beiden  Faktoren  alles  Denkens  und  Erkennens  selbst 
zu  unserer  Erkenntnis  gelangen,  beizufügen.  Das  Gegebene  und  das 
erkennende  Subjekt  stehen  in  einer  an  sich  unlösbaren  Korrelation 
zueinander,  sie  können  jedoch  als  zusammengehörige  Glieder  eines 
Erkenntnisprozesses  nur  sukzessiv  erkannt  werden.  Es  ist  unab- 
weislich,  daß  die  objektiven  Bedingungen  den  subjektiven  Motiven  des 
Denkens  vorangehen,  wie  etwa  auf  physiologischem  Gebiet  der  objektive 
Reiz  der  subjektiven  Empfindung  vorausgeht.  Für  unser  unterscheiden- 
des Denken  ist  das  Objekt  früher  als  das  Subjekt,  Vgl.  Kl.  Sehr.  200 ff. 

„Diese  Priorität  des  objektivierten  Denkens  reflektiert  sich  denn 
auch  nicht  bloß  in  der  Psychologie  der  individuellen  Bewußtseins- 
entwicklung, in  der  diese  Selbstunterscheidimg  bekanntlich  ein  relativ 
später  Akt  ist,  sondern  —  was  hier  von  entscheidendem  Gewicht 
ist  —  sie  findet  ihren  deutlichen  Ausdruck  in  der  Entwicklung  der 
wissenschaftlichen  Erkenntnis,  die  überall  von  einem 
naiven  Objektivismus  ausgegangen  ist,  um,  nach  mannigfachen 
Kämpfen  zwischen  dieser  naiven  und  der  allmählich  sich  dagegen 
erhebenden  kritischen  Betrachtungsweise,  der  Erkenntnis  zu  weichen, 
daß  beide,  Subjekt  und  Objekt,  allezeit  zusammengehören,  daß  aber 
dieses  Verhältnis  wechselseitiger  Bedingtheit  zugleich  eine  ent- 
sprechende Scheidung  der  wissenschaftlichen  Erkenntnisgebiete  for- 
dert, wie  sie  auf  der  einen  Seite  in  der  Naturwissenschaft,  auf  der 
andern  in  der  Psychologie  und  den  sich  auf  ihr  erhebenden  Geisteswissen- 
schaften verwirklicht  ist,  Damit  weist  dieses  Verhältnis  die  Erkenntnis- 
theorie selbst  auf  den  Weg  hin,  der  zwischen  den  einseitigen  subjektivis- 
tischen  und  objektivistischen  Richtungen  mitten  hindurchgeht,  um  dem 
allgemeinen  Gang  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis  das  wesentliche 
Material  für  die  Analyse  der  Erkenntnisstufen  zu  entnehmen."  Kl. 
Sehr.  I.  201  f. 

Damit  mögen  diese  Betrachtungen  abgeschlossen  werden.  Zeigten 
sie  auch  vorzugsweise,  daß  Wundt  in  vieler  Beziehung  einen  Kant 


Wilhelm  Wundts  Stellung  zur  Erkenntnistheorie  Kants.  47 

entgegengesetzten  oder  mindestens  einen  von  ihm  verschiedenen 
Standpunkt  vertritt,  so  kamen  doch  auch  wieder  an  dem  einen  und 
andern  Orte  Berührungspunkte  zwischen  den  beiden  Erkenntnis- 
lehren zum  Vorschein.  Bei  aller  Kritik  weiß  Wundt  aber  die  Schärfe 
des  Kantischen  Denkens  zu  würdigen.  So  ist  Wundt  der  Ansicht, 
daß  Kant  an  Tiefe  des  Denkens  ebenso  den  seichten  Eklektizismus 
der  Wolffianer  und  Popularphilosophen,  die  ihm  vorausgingen,  über- 
rage, wie  an  Strenge  und  Behutsamkeit  die  spekulative  Philosophie, 
die  nach  ihm  gekommen  ist.  „Das  allein  würde  schon  den  Vorzug 
erklären  und  rechtfertigen,  der  ihm  heute  zuteil  wird."  Kl.  Sehr.  I.  150. 
Durch  die  sorgfältige  Ausführung  des  Kategorienschemas,  die  De- 
duktion der  Kategorien  und  den  mit  wunderbarem  Scharfsinn  durch- 
geführten Schematismus  der  Zeitformen,  wird  die  „Kritik  auch  dann, 
wenn  man  sie  längst  zu  den  verflossenen  Systemen  zählen  wird,  immer 
noch  den  Wert  eines  für  die  Übung  in  philosophischem  Denken  un- 
übertrefflichen Werkes  bewahren."  Kl.  Sehr.  I.  203.  Auf  der  andern 
Seite  sollen  wir  uns  aber  davor  hüten,  Kant  wie  einen  Lebenden 
unter  Lebenden  zu  betrachten.  „Wir  sollen  nicht  annehmen,  daß  die 
Voraussetzungen,  unter  denen  sein  Denken  und  Fühlen  stand,  die 
nämlichen  gewesen  sind,  die  für  uns  heute  gelten.  Wir  sollen  nicht, 
auch  nicht  für  die  Spanne  eines  Jahrhunderts,  in  den  Fehler  der 
mittelalterlichen  Scholastik  zurückfallen  und  uns  einer  Autorität 
unterwerfen,  die  gewesen  ist  und  nie  mehr  sein  wird."  Kl.  Sehr.  I.  151. 
Wir  sollen  uns  hüten,  im  Anschluß  an  Kant  in  jenen  Fehler  zurück- 
zufallen, für  den  Kant  selbst  das  bezeichnende  Wort  Dogmatis- 
mus  geschaffen  hat. 


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Bibliothek  für  Philosophie 

Herausgegeben  von  Ludwig  Stein 
7.  Band 
Beilage  zu  Heft  3  des  Archivs  für  Geschichte  der  Philosophie,  Band  XXVI 

D  — 


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Das  Ich  als  Dolmetsch  für 
die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich 

Eine  Studie  über  die  metaphysischen 
Grundlagen  des  Erkenntnisverfahrens 


Preis  Ml£.  1,30 


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BERLIN 

SW48,  Wilhelmstraße  12  L 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Siinion  N  f. 

1913 


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Ek A\ 


Dieses  Heft  wird  den  Abonnenten  des  Archivs  für  Geschichte  der  Philosophie 


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Das  Ich  als  Dolmetsch  für 
die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich 

Eine  Studie  über  die  metaphysischen 
Grundlagen  des  Erkenntnisverfahrens 


Von 

H.  G.  Opitz 


Preis  I»Ik.  1,30 


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BERLIN 

SW48,  Wilhelmstraße  121 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  N  f . 

1913 


1. 


Dem  Nestor  unter  den   Philosophen  der  Gegenwart 

Sr.  Exzellenz  dem  Wirklichen  Geheimen  Rat 
Professor  Dr.  Wundt  in   Leipzig 


in   dankbarer  Verehrung  gewidmet 


vom 


Verfasser- 


• 

b 


V  o  r  b  e  m  e  r  k  u  n  u 


-• 


„Die  einen,  die  Franzosen  und  Italiener,  bestrebt  die  Natur  durch 
die  Philosophie  zu  vermenschlichen,  der  Deutsche  dagegen  eifrigst, 
bemüht,  allen  Anthropomorphismus  zu  überwinden.  Um  es  vorweg- 
zunehmen: man  schied  nicht  mit  dem  Bewußtsein  einer  erreichten 
gegenseitigen  Verständigung,  sondern  mit  dem  Gefühl,  in  völlig  ge- 
trennte Welten  geblickt  zu  haben.''  In  diese  Worte  faßt  Dr.  Falter 
in  den  Kantstudien,  Bd.  XVI,  Heft  2  und  3  S.  275  ff.  seinen  Bericht 
über  das  Ergebnis  des  4.  internationalen  Philosophenkongresses  zu 
Bologna  zusammen.  Nicht  bloß  in  zwei  verschiedene  Welten  aber, 
so  möchten  wir  hinzufügen,  sondern  auch  in  einen  förmlichen  Ab- 
grund blickt  man  nach  diesen  Verhandlungen,  einen  Abgrund  nämlich 
der  völligen  R a 1 1  o  s i  g  k  e  i  t  und  s  c  h  w  a  nkendste  n 
Unsicherheit,  in  dem  sich  leider  Gottes  immer  noch  und  in 
der  Gegenwart  vielleicht  mehr  als  je  die  Philosophie  befindet.  Demi 
nicht  etwa  bloß  um  Einzelfragen,  und  wären  sie  auch 
die  wichtigsten  gewesen,  auch  nicht  bloß  um  die  fundamentale  Frage 
nach  den  Aufgaben  und  dem  Gebiete  der  Philosophie,  die  einen  früheren 
Kongreß,  allerdings  ebenfalls  ergebnislos,  beschäftigt  hat,  handelte 
es  sich  bei  jenen  Erörterungen,  sondern  es  handelte  sich  bei  ihnen  um 
die  für  die  Philosophie  fundamentalste  aller  Fragen 
nämlich  die  Frage:  was  ist  Philosophie  überhaupt,  ist  sie  Wissen- 
schaft also  in  ihrem  Auf-  und  Ausbau  an  die  Grundsätze  des  gesetz- 
mäßigen Erkennens  gebunden,  oder  ist  sie  etwas  mehr  der  Kunst 
wesensverwandtes,  worauf  die  Darlegungen  Boutrouxs  auf  jenem 
Kongresse  hinauskamen,  oder  beruht  sie  ihrem  ganzen  Wesen  und 
Inhalt  nach  auf  einer  Art  inneren  Erlebens,  für  das  man  die  sonst  in 
anderin   Sinne    gebrauchte    Bezeichnung  „Intuition"    in  Anspruch 


6  H.  G.  Opitz, 

nimmt,  wie  es  der  zur  Zeit  unter  den  französischen  am  meisten  ge- 
nannte Philosoph  Bergson  annehmen  zu  sollen  glaubt,  oder  was  ist 
die  Philosophie  sonst?  Nichts  Geringeres  also  als  die  Frage,  ob  die 
Philosophie  im  Reiche  des  Geistes  überhaupt  ein  definierbarer  Vor- 
stellungskreis, mit  andern  Worten,  ob  sie  in  diesem  Reiche  überhaupt 
existenzberechtigt  ist,  nichts  Geringeres  als  diese  Frage  ist  es,  was 
bei  jenen  Verhandlungen  zur  Erörterung  stand.  Man  denke:  im  Reiche 
des  Geistes  somit  in  dem  Reiche,  in  dem  sie  die  geborene  Herrscherin 
sein  sollte,  in  dem  Reiche,  in  dem  ihr  der  Thronsessel  gebührt,  in 
diesem  ganzen  großen  Reiche  sucht  die  Philosophie  auch  gegenwärtig, 
also  nach  Jahrtausenden  •unsäglicher  Mühen,  die  auf  sie  verwendet 
worden  sind,  noch  nach  einem  Plätzchen,  und  wäre  es  auch 
das  allerbescheidenste  nur,  leider  aber  —  vergeblich.  Ist 
aber  unter  solchen  Verhältnissen  nicht  weniger  als  Alles 
streitig,  so  muß  die  Philosophie  gegenwärtig  ganz  offenbar, 
um  sich  überhaupt  die  Existenzberechtigung  zu  ermöglichen, 
wieder  ganz  von  vorn  also  von  den  allerersten  Anfangsgründen  be- 
ginnen, muß  sie  zurückgehen  auf  die  Grundlagen  alles  menschlichen 
Vorstellens,  muß  sie  somit  bei  der  Feststellung  des  Erkenntnis- 
Verfahrens  wieder  anfangen  und  an  der  Hand  seiner  Lehren 
nachzuweisen  suchen,  daß  neben  den  sonstigen  geistigen  Vorstellungs- 
kreisen: den  Einzelwissenschaften,  der  Kunst  und  der  Religion  über- 
haupt noch  Raum,  noch  berechtigter  Anlaß  zur  Etablierung  eines 
Vorstellungskreises  ist,  wie  man  ihn  in  Gestalt  der  Philosophie  bisher 
besessen  zu  haben  glaubt.  Tut  sie  das  nicht,  überläßt  sie  sich  vielmehr 
auch  ferner  ihrem  bisherigen  sorglosen  und  durchaus  ungeregelten 
Umherschweifen  auf  allen  nur  möglichen  Geistesgebieten, 
so  ist  alles  ihr  Mühen  und  Arbeiten  von  vornherein  eitel 
und  vergeblich.  Als  unverantwortlich  ja  fast  als  gewissenlos 
gegenüber  der  Philosophie  selbst  muß  man  es  daher  bezeichnen, 
wenn  man  fortfährt,  sich  bei  ihr  mit  andern  Fragen  zu  befassen, 
solange  noch  diese  allererste  und  fundamentalste,  diese  eigentliche 
Lebensfrage  für  sie  bestritten  und  offen  ist,  Man  gleicht  ja , 
verfährt  man  anders,  bei  seinem  Vorgehen  geradezu  einem  Sinnlosen, 
der  nichts  Geringeres  unternimmt,  als  über  das  offene  Meer  den 
Schienenstrang  für  eine  Eisenbahn  zu  legen.  Einsichtige  Philosophen 
der  Gegenwart  haben  das  auch  richtig  durchgefühlt  und  ihre  Bestre- 
bungen danach  eingerichtet.  Insbesondere  hat  Vaihinger  unter  solchen 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  7 

Umständen  gerade  im  richtigen  Zeitpunkte  sein  schon  so  vielbesproche- 
nes Werk  über  die  „Philosophie  des  Als-Ob",  das  auch  dem  Kongresse" 
zu  Bologna  überreicht  worden,  erscheinen  lassen  und  dadurch  die 
Aufmerksamkeit  auf  die  Frage  gelenkt,  die  nach  dem  Obigen  im 
Grunde  genommen  zurzeit  nicht  bloß  zuerst  sondern  allein  die 
Philosophie  beschäftigen  dürfte. 

Zur  Lösung  dieser  Frage  sollen  nun  auch  die  nachstehenden 
Darlegungen  einen  Beitrag  liefern.  Durch  die  gründliche  Unter- 
suchung unseres  Erkenntnisverfahrens  nach  seinen  metaphysischen 
Unterlagen  hin  soll  durch  sie  gegenüber  namentlich  der  Verhand- 
lungen auf  dem  Kongresse  in  Bologna  ein  Zweifaches  festgestellt 
werden:  einmal,  daß  die  deutsche  Philosophie  im  Rechte  ist,  wenn 
sie  im  Anschlüsse  an  Kant  für  die  Philosophie  unbedingt  den  Cha- 
rakter der  reinen  Wissenschaftlichkeit  in  Anspruch  nimmt,  und  dem- 
nächst, daß  das  an  sich  richtig  erkannte  Moment,  das  gegenwärtig 
für  die  französische  und  italienische  Philosophie  vorwiegend  be- 
stimmend ist:  die  unserem  Erkenntnisverfahren  durchgängig  zu- 
grundeliegende Symbolisierung  und  Anthropomorphosierung  des 
Erkenntnisstoffes  nicht  zu  einer  Neuorientierung  der  Philosophie 
an  s  i  c  h  .  sondern  nur  zu  einer  solchen  im  Verhältnisse  d  e  r 
Philosophie  zur  Religion  führen  kann  und  wird.  Zu 
diesem  Zweck  gilt  es  also  und  ist  es  unvermeidlich,  im  Nachstenden 
wenn  auch  nur  in  den  allgemeinsten  Umrissen,  so  doch  die  Frage 
nach  dem  Wesen  unseres  Erkenntnisverfahrens  nochmals  von  Grund 
aus  aufzurollen,  und  zwar  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  bei  diesem 
Vorgehen  stellenweise  Allbekanntes  wiederholen  zu  müssen. 

A  1  1  g  e  m  e  i  n  e  s      ü  b  e  r      d  a  s      E  r  k  e  n  n  t  n  i  s  v  e  r  f  a  h  r  e  n. 

Das  Erkenntnisverfahren  als  solches  hat  es  lediglich  mit  den 
f  o  r  m  a  1  e  n  Vorgängen  zu  tun,  nach  denen  sich  unser  Erkennen 
in  seinen  beiden  llauptstadien:  dem  Sammeln  und  dem  Bearbeiten 
des  Erkenntnisstoffes  vollzieht.  Die  materielle  Unterlage  des 
Erkenntnisverfahrens,  der  Erkenntnisstoff  selbst,  kommt  hierbei 
um;  insoweit  in  Betracht,  als  es  zur  Feststellung  jener  rein  formalen 
Vorgänge  unerläßlich  ist.  Die  Lehre  vom  Erkenntnisverfahren, 
die  Erkenntnislehre,  Erkenntnistheorie,  gehörl  daher  ihrem  ganzen 
Umfang  nach  zur  Psychologie.     Die  Lehre  von  den  G  r  Li  n  d  1  a  ge  n 


g  EL  G.  Opitz, 

unseres    Erkenntnisverfahrens    dagegen    betrifft    das    Verhältnis    in 
dem    das    Erkenntnisverfahren    zum    Erkenntnisgegenstande    steht, 
also   die   Beziehungen   zwischen   der    inneren   Erscheinung    unseres 
Ich   zur  Welt  der  Dinge  und  gehört  daher  nicht  zur  Psychologie 
sondern  zur  Metaphysik1).    In  dieser  bewegt  sie  sich  auf  dem 
Gebiet  des  Problems,     das  man    als   das   „Erkenntiüsproblem"   zu 
bezeichnen  pflegt.     In  der  Natur  aller  Wissenschaften  liegt  es  ohne 
weiteres  begründet,  daß  man  bei  ihnen  Einzelfragen  schlechterdings 
nicht  mit  Erfolg  behandeln  kann,  wenn  man  nicht  zuvor  Stellung 
zu   den    Grundfra  g  e  n  ,    zu    den    Unterlagen   und    V  o  r  - 
aussetz ungen   der  betreffenden  Wissenschaft  genommen  hat, 
Bei    den    Naturwissenschaften    geschieht    dies    in    der    Regel    still- 
schweigend, da  man  sich  bei  ihnen  im  vornherein  darüber  einig  ist. 
daß  sie  sämtlich  auf  empirischer  Grundlage  beruhen.    Anders  bei  der 
Metaphysik.    Hier  hat  man  sich  bekanntlich  trotz  jahrtau  sendlangen 
heißesten  Bemühens  noch  auf  keinem  der  zahlreichen  Gebiete  auf 
eine  feste  Grundanschauung  zu  einigen  vermocht.     Soviel  Systeme 
man  bei  der  Metaphysik  bisher  aufgestellt  hat,  so  viele  sind  deren 
vielmehr  auch  beim  weiteren  Fortschreiten  der  Erörterungen  wieder 
verworfen  worden.    Nun  kommt  es  ja  leider  nur  zu  häufig  vor,  daß 
man,  unbekümmert  um  diesen  Umstand,  auch  auf  metaphysischem 
Gebiete  ins  Blaue  hinein  philosophiert,  ohne  sich  auf  eine  bestimmte 
Grundanschauung  zu    stützen,   ja    selbst   ohne  sich    auch   nur    der 
Notwendigkeit    einer     bestimmten     Grundanschauung    bewußt     zu 
werden.      Freilich    hat    sich    das    aber    an    der    Philosophie    auch 
bitter    genug    gerächt,      Denn    eben    darin    liegt    ja    der    Haupt- 
grund   der    bedauerlichen    Zerfahrenheit,    in    der    sich    die    Meta- 
physik   und    überhaupt    die    ganze    Philosophie   auch    gegenwärtig 
noch  befindet,  liegt  der  Hauptgrund  dafür,  daß  Niemand  auf  diesem 
Gebiete,  wie  man  so  sagt,  weiß,  was  gehauen  und  gestochen  ist,  und 
daß  die  Ppilosophie  auch  heute  noch  alles  weniger  als  das  Verdienst 
hat,  die  Daseinswidersprüche  gelöst  oder  auch  nur  zu  ihrer  Lösung 
wesentlich  beigetragen   zu  haben.      Beurteilt   namentlich   an   dieser 
Verfassung  der  Philosophie   selbst,  können  jene   Widersprüche   der 
Menschheit  vielmehr  nur  um  so  heller  und  greller  erscheinen.     Nein, 


l)  Siehe  des  Verfassers  Grundriß  einer  Seinswissenscliaft  Ia.  Erkenntnis- 


ehre S.  8  fg. 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  9 

will  man  das  ganze  Gebäude  der  philosophischen  Argumentation 
nicht  geradezu  in  die  Luft  errichten,  so  muß  es  auch  bei  der  Behand- 
lung metaphysischer  Fragen  das  Allererste  sein,  zu  dem  Grund- 
problem, zu  dem  die  betreffende  Frage  gehört,  Stellung  zu  nehmen. 
Wenn  es  einen  Gerichtshof  für  diese  Dinge  gäbe,  so  dürfte  ohne  diese 
Voraussetzung  auf  dem  Gebiete  der  Philosophie  überhaupt  Niemand 
zum  Wort  gelassen  werden.  Geschähe  das,  dann  würde  wenigstens 
zunächst  Ordnung  und  Übersicht  in  die  philosophische  Diskussion 
kommen,  nicht  aber  würden,  wie  es  jetzt  der  Fall  ist,  und  wie  es  Goethe 
so  treffend  ironisiert:  „alle  zwar  nacheinand  e  r  aber  nicht 
miteinan  der  reden." 

Auch  beim  Erkenntnisprobleme  stehen  sich  bekanntlich   unge- 
zählte Grundanschauungen  gegenüber.  Es  gilt  daher  auch  bei  unserem, 
die  metaphysischen  Grundlagen  der  Erkenntnis  betreffenden  Gegen- 
stand vor  allem  andern  Stellung  zu  den  Grundanschauungen  dieses 
letzteren  Problems  zu  nehmen.    Diese  Stellungnahme  aber  kann  fin- 
den, der  auch  für  metaphysische  Probleme  den  positiven  Stand- 
punkt  als   den   allein  wissenschaftlichen   und   darum   allein   frucht- 
bringenden und  berechtigten  ansieht,  nicht   zweifelhaft  sein.      Das 
von  diesem  Standpunkt  allein  in  Frage  kommende  System  ist  und  kann 
nicht  das  als  Idealismus  bezeichnete  System  sein,  bei  dem  alles  Er- 
kennbare und  Erkannte  lediglich  als  Erzeugnis  unseres  Ich  aufgefaßt 
wird.    Denn  diese  Auffassung  führt  letzten  Endes  durch  ihre  völlige 
Verneinung  der  Existenz  der  Außenwelt  zum  Inimaterialismus  und 
Solipsismus,  damit  aber  zur  völligen  Verrückung  jedes  natürlichen 
Standpunkts,  ja  zur  kompletten  Sinnlosigkeit.  Aber  auch  der  Realismus 
kann  diese  taugliche  Unterlage  nicht  abgeben,  denn  er  verfällt  in  den 
entgegengesetzten  Fehler,  indem  er  das  Erkannte  mit  der  Wirklich- 
keit ohne  Weiteres  gleichsetzt  und  damit  die  unveräußerlichen  Ein- 
sichten völlig  ausschaltet,  die  man  bei  tieferem  Eindringen  in  die 
P^rkenntnisvorgängo  erhält.     Eine  taugliche  Unterlage  für  das  Er- 
kenntnisprobleirj   kann  vielmehr  nur  die  hiernach   allein  noch   ver- 
bleibende  und    in    Betracht   kommende   Grundanschauung  abgeben, 
die  man  als  ,,1  d  eal-Realis  m  u  st-  oder  „P  h  ä  n  o  m  e  n  a  I  i  s  - 
mus"2)  bezeichnet.      Nach  diesem  System   wird  die  reale  Existenz 


2)  Empiriokritizismus  (Avenarius),  idealistischer  Positivismus  und  Rela- 
tivismus. 


10  H.  G.   Opitz, 

einer  unabhängig  von  unserem  Ich  bestehenden  Außenwelt  als  Wesens- 
welt, als  Welt  der  Wirklichkeit  anerkannt.  Diese  Wesenswelt,  dessen 
hat  man  sich  zu  bescheiden,  entzieht  sich  als  solche  zwar  völlig  unserer 
Erkennbarkeit,  wohl  aber,  das  sind  wir  durch  eine  den  Charakter 
des  Naturgesetzes  an  sich  tragende  Denknotwendigkeit  gezwungen, 
anzunehmen,  beeinflußt  (affiziert)  sie  durch  ihre  „kosmischen  An- 
stöße'" unabhängig  von  unserem  Willen  die  Wahrnehmungen  unserer 
äußeren  Sinne  dergestalt,  daß  sie  für  deren  Inhalt  allein  maßgebend 
wird  und  damit  die  Unterlagen  für  die  Herstellung  wenigstens  des 
E  r  s  c  li  e  i  n  u  n  g  s  b  i  1  d  s  der  Welt  in  uns  bietet.  Die  erkenntnis- 
theoretische Grundanschauung  also  keines  Geringeren  als  des  großen 
Königsberger  Weisen  vom  „Ding  an  sich"  als  dem  Absolut-Realen, 
die  er  selbst  als  „transzendentalen  Idealismus"  oder  „Phänomenalis- 
mus" bezeichnet  hat,  ist  es,  die  man  seiner  Auffassung  zugrunde  legen 
muß,  wenn  man  vom  metaphysischen  Standpunkte  aus  zu  einer 
wissenschaftli  c  h  e  n  Lösung  der  Frage  nach  den  Grundlagen 
unseres  Erkenntnisverfahrens  gelangen  will.  In  der  Tat  hat  Kant 
durch  die  Aufstellung  jener  seiner  Lehre  vom  transzendentalen 
Idealismus  oder  Phänomenalismus  der  Philosophie  unvergängliche 
Dienste  erwiesen.  Und  zwar  beruhen  diese  Verdien  stein  einem  Doppelten. 
Zunächst  hat  er  mit  dieser  Lehre  für  die  Psychologie  einerseits  jede 
weitere  Erörterung  über  das  hinter  der  Erscheinung  stehende  Wesen 
ebenso  des  Erkennens  wie  der  Seele  selbst  abgeschnitten  und  die 
Psychologie  damit  aus  dem  alles  verwirrenden  Nebel  befreit,  in  den 
sie  durch  die  unzulässige  Hereinziehung  anderer  metaphysischer  Ge- 
sichtspunkte geraten  war,  anderseits  sie  ausschließlich  auf  die  innere 
Beobachtung  also  die  Erfahrung  verwiesen,  hierdurch  aber  die  Bahn 
zur  positive  n  und  damit  allein  wissenschaftlichen 
Behandlung  der  Psychologie  freigemacht.  Zum  andern  aber  hat  Kant 
durch  jene  seine  Lehre  eben  damit,  daß  er  für  die  Psychologie  den 
positiven  Boden  bereitet,  auch  für  die  Metaphysik,  die  sich  nur  auf  die 
Psychologie  aufbaut  und  aufbauen  darf,  erst  eine  feste  Unterlage 
geschaffen,  auf  der  nunmehr  auch  sie  ein  wissenschaftliches  Gebäude 
zu  errichten  in  die  Lage  versetzt  worden  ist,  Nun  hat  Kant  zwar 
für  seine  Philosophie  selbst  den  nurgedachten  Nutzen  aus  seiner 
Lehre  vom  Phänomenalismus  nicht,  wenigstens  nicht  voll  gezogen. 
Kant  gleicht  in  dieser  Hinsicht  vielmehr  jenem  großen  Gesetzgeber 
des  auserwählten  Volks,  der  vom  Berge  Nebo  herab  das  gelobte  Land, 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  11 

zu  dem  er  sein  Volk  geführt,  zwar  erblicken  aber  nicht  selbst  betreten 
sollte.  Denn  er  selbst  hat  sich  jene  Möglichkeit  abgeschnitten,  und 
zwar  hinsichtlich  der  Psychologie  dadurch,  daß  er  diese  durch  ihre 
Zuweisung  zur  bloßen  Anthropologie  überhaupt  aus  dem  Kreise  der 
Philosophie  heraus  verwies  und  an  ihre  Stelle  seine  lediglich  erkenntnis- 
theoretische, aber  auch  die  Sache  nicht  einmal  treffende  oder  fördernde 
Lehre  von  den  ,, reinen  Begriffen"  setzte,  hinsichtlich  der  Metaphysik 
aber  dadurch,  daß  er  dieser  bloß  regulativen  nicht  aber  konstitutiven 
Wert  zuerkannte  und  ihr  damit  überhaupt  den  Charakter  einer  Wissen- 
schaft absprach.  Trotzdem  wird  durch  alles  das  der  Wert  jenes  Grund- 
satzes selbst  und  seine  bahnbrechende  Bedeutung  für  die  Philosophie 
in  keiner  Weise  angetastet  oder  eingeschränkt.  Diese  bahnbrechende 
Eigenschaft  bleibt  vielmehr  dem  unerachtet  durchaus  bestehen  und 
sie  bekundet  sich  auch  praktisch  dadurch  immer  von  Neuem  aufs 
Drastischste,  daß  man,  so  oft  auch  nach  Aufstellung  dieses  Grund- 
satzes Versuche  gemacht  worden  sind,  für  die  Philosophie  eine  andere 
Basis  zu  gewinnen,  —  man  denke  nur  an  die  gesamte  Spekulation 
nach  Kant  —  sich  doch  stets  gezwungen  sah,  nach  mehr  oder  minder 
verfehlten  Versuchen  beschämt  von  jenen  Abwegen  zurückzuschleichen 
(Schopenhauer)  und  sich  wieder  dem  von  Kant  gewiesenen  Wege 
zuzuwenden,  der  unter  allen  allein  zum  Ziele  führen  kann.  In  der 
Tat  nur.  dieser  Weg,  daran  muß  unbedingt  festgehalten  werden, 
vermag  die  Philosophie  aus  ihrer  gegenwärtigen  unseligen  Lage, 
bei  der  namentlich  im  Hinblick  auf  die  immer  glänzender  sich  ge- 
staltenden Erfolge  der  Naturwissenschaften  auch  die  treusten  An- 
hänger an  ihr  irre  zu  werden  beginnen,  zu  befreien  und  sie  zu  einer 
fruchtbaren  Wissenschaft  zu  machen,  ja  selbst  ihr  die  Wege  zur 
„königlichen"  Wissenschaft  zu  bahnen,  die  sie  ihrem  ganzen  Wesen 
und  ihrer  Sendung  nach  unter  den  Wissenschaften  sein  soll. 

Freilich  setzt  das  voraus,  daß  man  sich  hierbei  von  den  Irrwegen 
freihält,  durch  deren  Betreten  Kant  selbst  bei  der  Ausgestaltung 
jener  Grundanschauung  namentlich  infolge  seiner  Lehre  von  der 
aphoristischen  Erkenntnis  und  der  hieran  geknüpften  Theorie  von  (\v\\ 
reinen  Begriffen,  nicht  weniger  aber  durch  seine  Lehre  von  den  syn- 
thetischen und  analytischen  Urteilen,  sowie  durch  die  Unterscheidung 
der  konstitutiven  und  regulativen  Erkenntnisse  und  die  an 
die  letztere  geknüpfte  Lehre  von  den  „Ideen"  seinerseits  sich  uui 
den   Erfolg   gebracht  hat,    der   von    ihm   hierbei   äugest reld    worden. 


12  H.  G.  Opitz, 

Und  sicherlich  würde  die  durch  den  Neukantianismus,  der  ja  bekannt- 
lich eine  große  Anzahl  der  bedeutendsten  Köpfe  unter  den  Philosophen 
der  Gegenwart  zu  seinen  Anhängern  zählt,  sowie  die  durch  Vaihinger 
gegründete  Kantgesellschaft  mit  der  von  ihr  unterstützten  Zeit- 
schrift „Kantstu dien"  in  großem  Stile  angebahnte  Rückkehr  zu 
Kant  bereits  jetzt  noch  viel  namhaftere  Ergebnisse  für  die  Philosophie 
gezeitigt  haben,  hätte  sie  noch  einen  stärkeren  Ton  auf  die  Klar- 
und  Richtigstellung  gerade  jener  Abwege  Kants  gelegt,  als  es  tat- 
sächlich bisher  geschehen  ist.  Auch  von  dem  gegenwärtig  berechtigtes 
Aufsehen  erregenden  Werke  Vaihingers  über  die  „Philosophie  des 
Als-Ob"  läßt  sich  nun  zwar  nicht  schlechthin  sagen,  daß  es  die  nur 
gekennzeichnete  präjudizielle  Aufgabe  bereits  voll  erfüllt  hätte. 
Trotzdem  kann  man  von  diesem  Werke  wohl  behaupten,  daß  es  wie 
kein  anderes  vor  ihm  geeignet  ist,  die  volle  Erkenntnis  und  Durch- 
führung der  Grundanschauung  vom  Ideal-Realismus  anzubahnen 
und  dadurch  in  der  Tat  eine  neue  Epoche  für  die  Philosophie  herauf- 
zuführen.  Denn  Vaihinger  leitet  uns  durch  sein  Werk  wenn  schon 
nicht  auf  jenen  von  Kant  angewiesenen  Heerweg  zur  wahren  Erkenntnis 
selbst,  wohl  aber  führt  er  uns  überall  unmittelbar  neben  ihm  her, 
und  es  bedarf  nur  noch  weniger  Schritte  zur  Seite,  um  auf  jenen  Heer- 
weg selbst  herüber  zu  treten  und  auf  ihm  zum  erwünschten  Ziele  zu 
gelangen.  Das  Letztere,  nachdem  es  Vaihinger  so  wirksam  vorbereitet, 
gar  herbeiführen  zu  helfen,  dazu  sollen  die  nachstehenden  Darlegungen 
über  die  metaphysischen  Grundlagen  unseres  Erkenntnisverfahrens 
dienen,  und  wir  werden  diese  Darlegungen  nunmehr  damit  einleiten, 
daß  wir  zunächst  aufzeigen,  wie  an  der  Hand  der  ideal-realistischen 
Grundanschauimg  die  grundlegenden  Vorstellungen  von  einem  Nicht- 
Ich  und  einer  Außenwelt  in  uns  erzeugt  werden,  um  dann  zur  Dar- 
stellung der  Formen  und  Gesichtspunkte,  nach  denen  sich  unsere  Er- 
kenntnis dieser  Außenwelt  selbst  vollzieht,  überzugehen. 

N  i  c  h  t  - 1  c  h.    Außenwelt, 

Auch  bei  den  Wahrnehmungen,  die  wir  mittelst  des  i  n  n  e  r  e  n 
Sinnes  machen,  liegen  die  Verhältnisse  nicht  so,  daß  bei  ihnen  überall 
und  unbedingt  unser  Wille  für  Inhalt  und  Gegenstand  dieser  Wahr- 
nehmungen bestimmend  wäre.  Wie  unser  inneres  Ich  vielmehr  in 
seiner  Einrichtung  und  Betätigung,  in  der  Charakteranlage  und  in- 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  13 

tellektuellen  Befähigung,  in  der  Art  seiner  Vorstellungs-  und  Willens- 
bildung an  bestimmte,  unserer  Willkür  entzogene  Gesetze  gebunden 
ist,  so  können  naturgemäß  auch  die  Beobachtungen,  die  wir  mittelst 
des  inneren  Sinnes  an  unserem  Ich  vornehmen,  den  Inhalt  der  inneren 
Wahrnehmungen  nicht  ihrerseits  etwa  frei  und  nach  Willkür  be- 
stimmen. Sondern  dieser  Inhalt  wird  auch  bei  ihnen  unserem  Ich 
diktiert  und  aufgenötigt,  ist  also  auch  bei  ihnen  ein  von  unserem  Ich 
unabhängiger.  Immerhin  nehmen  wir  aber  doch  bei  diesem  Teil 
unserer  Vorstellungen  auch  nichts  auße r  unserem  Ich  wahr,  nehmen 
wir  zwar  eine  Gebundenheit  aber  doch  immer  nur  eine  solche  unserer 
selbst,  durch  uns  selbst,  nur  eine  solche  unseres  Ich  durch  dieses 
Ich  selbst  wahr.  Wesentlich  anders  bei  den  Wahrnehmungen  der 
äußere  n  Sinne.  Hier  bleibt  zwar  der  Inhalt  der  Wahrnehmungen 
durchaus  ebenfalls  nur  das  Erzeugnis  unseres  inneren  Ich,  bei  dem 
sich  unmittelbar  miterzeugend  außer  unserem  Ich  nichts  beteiligt. 
Dennoch  wird  der  Inhalt  dieser  Wahrnehmungen  nicht  von  unserem 
Ich  bestimmt,  sondern  von  einem  Etwas,  das  nicht  von  unserem  Willen 
abhängig  ist,  das  nicht  mit  unserem  Ich  zusammenfällt,  nicht  an 
unser  Ich  gebunden  und  nicht  mit  unserem  Ich  identisch  sein  kann. 
Wenn  wir  die  Augen  aufschlagen,  so  steht  es  nicht  bei  uns,  zu  be- 
stimmen, was  wir  dann  sehen.  Sondern  unsere  Sinne  müssen  aufnehmen 
und  können  nur  wiedergeben,  was  ihnen  von  außen  entgegengebracht 
wird.  „Bei  dem  Akte  des  Wahrnehmens  ist  das  denkende  Empfinden 
dv*  betr.  Gegenstandes  mein.  Dieser  selbst  aber  als  das  bestimmte 
Ziel  meines  denkenden  Empfindens  wird  mir  aufgezwungen." 
(Schwarzkopff) 3).  Der  von  unseren  Sinnen  wahrgenommene  Gegen- 
stand stellt  sich  sonach  als  etwas  von  unserem  Willen  völlig  unab- 
hängiges und  selbständiges  dar,  unabhängig  und  selbständig  sowohl 
seinem  Entstehen  und  Vergehen  als  seinen  Eigenschaften  und  seiner 
Betätigung,  seiner  Entwicklung  und  seinen  sonstigen  Geschicken  nach, 
mit  einem  Worte,  er  stellt  sich  unserem  Ich  gegenüber  als  Nich  t  - 
Ich  dar. 

Die  gekennzeichnete  Abhängigkeit  und  Unselbständigkeit  des 
Inhalts  unserer  äußeren  Wahrnehmungen  bedingt  aber  doch  zunächst 
und  solange  nicht  Weiteres  dazu  kommt,  nur  diese  letztere  Vorstellung, 

!)  Dessen  geistvolle  Schrift:  „Das  Wesen  der  Erkenntnis"  in  den  Kant- 
studien Bd.  XVI,  Heft  4  S.  464  f fg.  sehr  einseitig  und  mit  wenig  Verständnis 
beurteilt  wird. 


14  H.  <:.  Opitz, 

nur  die  Vorstellung  von  einem  Nicht-Ich,  nicht  aber  bedingt  sie  auch 
die  Vorstellung  von  etwas  außer  uns  im  Räume,  also  die 
Vorstellung  von  einer  Außenwel  t.  Denn  das,  was  unser  Auge 
an  Farben  und  Lichteindrücken  wahrnimmt  —  und  diese  sind  es  allein, 
die  beim  Sehen  wahrgenommen  werden  —  braucht  noch  nicht  Gegen- 
stand außer  uns  im  Räume  zu  sein,  ebenso  wie  die  Farben  eines  Ge- 
mäldes nur  Farben  nicht  aber  die  Gegenstände  selbst  bilden,  die  sie 
darstellen  sollen.  Um  uns  etwas  als  außer  uns  im  Räume  befindlich 
vorzustellen,  dazu  gehört  vielmehr  auch  noch,  daß  wir  uns  durch  die 
eigene  Betätigung  im  Räume  des  Vorhandenseins  des  letzteren  be- 
wußt werden,  gehört  somit  vor  Allem  die  Möglichkeit  der  Änderung 
unseres  Standpunktes  im  Räume,  mit  andern  Worten  die  Be- 
wegungsfreiheit unseres  Körpers,  durch  die  namentlich  auch 
die  Betätigung  des  Sinnes  ermöglicht  wird,  durch  den  wir  neben  dem 
Auge  die  Vorstellung  von  der  plastischen  Eigenschaft  also  von  dem 
räumlichen  Vor-  und  Zurücktreten  der  Gegenstände,  ihren  Tiefen- 
verhältnissen, erhalten:  des  Tastsinns.  Nur  wenn  diese  Bewegungs- 
freiheit unseres  Körpers  und  unseres  Auges  sowie  die  Betätigung 
des  Tastsinnes  den  sonstigen  Sinneswahrnehmungen  hinzutritt, 
erkennen  wir  die  Gegenstände  als  außer  uns  im  Räume  befindlich, 
bildet  sich  in  uns  neben  der  Vorstellung  von  einem  Nicht-Ich  auch 
noch  die  Vorstellung  von  der  A  u  ß  e  n  w  e  1 1 4). 

Was  nun  das  Erkennen  dieser  Außenwelt  anlangt,  so  geht  daraus, 
daß  wir  die  Außenwelt  nur  mit  Hilfe  und  auf  Grund  der  Wahrneh- 
mungen der  äußeren  Sinne  erkennen  können,  hervor,  daß  das,  was 
wir  in  solcher  Weise  erkennen,  niemals  mit  dem  Wesen,  niemals 
mit  der  Wirklichkeit  selbst  zusammenfallen,  niemals  Wesen  und 
Wirklichkeit  selbst  sein  kann,  sondern  immer  nur  W  i  e  d  e  r  g  a  b  e  , 
Abbild,  „Vorstellung"  der  Wirklichkeit  ist,  Aber  auch  als 
Wiedergabe  und  Abbild  entsprechen  die  Wahrnehmungen  von  der 
Außenwelt  nicht  ihrem  Gegenstande,  dem  Wirklichen.     Die  Farben- 


4)  „Es  ist  zum  Mindesten  fraglich,  ob  das  vollständig  ruhende  Doppel- 
auge jemals  einen  stereometrischen  Raum  sich  konstruieren  könnte.  Aber 
unsere  Augen  bewegen  sich,  der  Akkomodationsmuskel  spielt,  der  Kopf  wird 
gedreht,  der  ganze  Körper  vorwärts  bewegt,  die  Gesichtsempfindungen  weiden 
durch  Betasten  kontrolliert  und  so  eine  große  Summe  neuer  assozierter  Ee- 
wegungs-  und  Tastvorstellungen  erworben.  Durch  diese  Assoziation  eihält 
unsere  Gesichtswahrnehmung  erst  ihren  stereometrischen  Chaiakter"  (Ziehen). 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  L5 

und  Lichtempfindungen  des  Auges  geben  keineswegs  die  Äther- 
Schwingungen,  die  Tonempfindungen  keineswegs  die  Luftschwingungen, 
der  Geruch  keineswegs  die  Gegenstandsteile  wieder,  durch  die  die 
gedachten  Empfindungen  hervorgerufen  werden  und  deren  Abbild 
sie  sein  sollten.  Trotz  dieser  unbestreibaren  Inkongruenz  unserer 
Sinneswahrnehmungen  mit  der  Wirklichkeit  steht  aber  doch  das  Eine 
ebenso  unumstößlich  fest,  nämlich  daß  das  mit  Hilfe  der  Sinnes- 
wahrnehmungen gewonnene,  nach  dem  Gesagten  nur  als  „E  r  - 
scheinungsbil  d"  sich  darstellende  Weltbild,  mag  es  auch 
mit  der  Wirklichkeit  nicht  zusammenfallen,  sondern  nur  ein  Abbild 
darstellen,  doch  das  Einzige  ist,  was  wir  von  der  Wirklichkeit  und 
dessen  Wesen  zunächst  erkennen  können.  Denn  alle  die  Behauptungen 
über  ein  unmittelbares  Erfassen  des  Erkenntnisgegenstandes,  die 
man  unter  der  Bezeichnung  „unmittelbares,  visionäres  Schauen". 
„Intuition'",  „Divination",  „substantielles  Wissen"  oder  wie  man 
es  sonst  noch  genannt  hat,  in  die  Philosophie  einzuführen  gesucht 
hat,  sie  haben  sich  sämtlich  als  eitel  Schaumschlägerei,  als  Blasen 
erwiesen,  die  im  gärenden  Kessel  der  Spekulation  nach  oben  getrieben 
worden,  lediglich  um  an  der  Hohles  nicht  duldenden  Luft  zu  zerplatzen. 
I  );i  nun  aber  eine  Daseinsführung  ohne  Vorstellung  von  der  Außen- 
welt völlig  unmöglich  und  anderseits  als  Erkenntnismittel  für  die 
Außenwelt  nur  jenes  Erscheinungsbild  gegeben  ist,  so  bleibt  also 
und  solange,  bis  zu  dem  bisherigen  nicht  noch  ein  weiteres  Erkennen 
hinzu  kommt,  schlechterdings  nichts  übrig,  als  jenes  bloße  Erschei- 
nungsbild vorläufig  für  die  Wirklichkeit  selbst  zu  nehmen, 
es  an  die  Stelle  der  Wirklichkeit  zu  setzen  und  allem  unseren  weiteren 
Erkennen  als  a  1 1  e  i  n  i  g  e  u  n  d  a  u  s  s  ch  1  i  e  ß  1  i  c h  e  Unterlage  zu  gründe 
zu  legen.  „Wir  vermögen  zwar  einen  strikten  Nachweis  irgend  welcher 
Realität  nicht  zu  erbringen.  Da  wir  sie  aber  gebrauchen,  so  postulieren 
wir  Realität  und  setzen  sie"  (Külpe).  Dabei  bleibt  das  Wesen,  die 
Wirklichkeit  als  Ur-  und  Hintergrund  des  Erscheinungsbildes  trotz- 
dem noch  durchaus  bestehen  und  macht  sich  auch  praktisch  fort- 
während noch  in  dieser  seiner  Eigenschaft,  und  zwar  in  doppelter 
Beziehung  geltend.  Einmal  insofern  als  die  Gestaltung  des  Erschei- 
nungsbildes nicht  von  unserem  Willen  abhängig  ist,  sondern  maß-, 
form-  und  gesetzgebend  für  dasselbe  allein  jenes  außer  uns  ange- 
nommene Absolut-Reale  bleibt  und  sodann  insofern,  als  uns  die  Er- 
kenntnis von  der  bloßen  Erscheinungsnatur  des  Weltbildes  der  An- 


II)  H.  G.  Opitz, 

sporn  wird,  dieses  Bild  durch  dessen  unausgesetzte  weitere  Prüfung 
auf  seinen  Wirklichkeitsgehalt  immer  eingehender  zu  untersuchen 
und  dadurch  seinem  Urbilde  immer  mehr  anzunähern. 

Was  aber  gegenüber  dem  sich  in  solcher  Weise  vollziehenden  Erken- 
nen unser  „W  i  s  s  e  n"  von  der  Außenwelt  anlangt,  so  ergibt  sich  für 
dieses  aus  dem  dargestellten  Wesen  unseres  Erkennens  folgendes.  Mit 
unserem  Erkennen  von  der  Außenwelt,  das  nach  dem  Gesagten  einer 
fortwährenden  Vertiefung  im  Sinne  der  weiteren  Annäherung  an 
das  Wirkliche  fähig  und  bedürftig  ist,  demnach  aber  in  seinen  Unter- 
lagen der  Ergänzung  und  Veränderung  unterliegt,  ruht  nach  alledem 
auch  unser  gesamtes  Wissen  von  der  Außenwelt  auf  s  c  h  w  a  n  k  e  n  - 
der  Grundlage,  ist  auch  all  unser  Wissen  dazu  verurteilt,  alle  die 
Schwankungen  mitzumachen,  die  diese  seine  Grund-  und  Unterlage 
erleidet,  jenachdem  sie  durch  tieferes  Eindringen  in  die  Wirklich- 
keit sich  ändert  oder  ergänzt  wird.  Daraus  folgt,  daß  innerhalb  des 
Rahmens  des  so  angetanen  Erkenntnisverfahrens  eine  u  nbe  dingt 
sichere  Erkenntnis,  ein  unbedingt  sicheres,  d.  h.  der 
Wirklichkeit  gleichkommendes  Wissen  von  vorn- 
herein ausgeschlossen  ist.  Selbst  das  Wissen,  das  wir  als 
„exaktes"  zu  bezeichnen  pflegen,  ist  sonach  von  diesem  Standpunkte, 
vom  Standpunkte  des  Wesens  und  der  Wirklichkeit  aus,  kein  unbedingtes 
Wissen,  sondern  ebenfalls  nur  ein  Wissen  mit  Vorbehalt  und  unter 
Bedingungen.  Wie  wir  aber  im  Mangel  aller  und  jeder  weiteren 
Erkenntnismöglichkeit  das  als  Wirklichkeit  ansehen  müssen  und 
aliein  unserem  weiteren  Erkennen  zugrunde  legen  können,  was  uns 
durch  die  Sinneswahrnehmungen  vermittelt  wird,  also  das  Erschei- 
nungsbild der  Welt,  so  verwandelt  sich  auch  der  Begriff  „Wissen", 
der  an  sich  die  Übereinstimmung  unserer  Verstellungen  mit  der  Wirk- 
lichkeit bedeutet,  nunmehr  dahin,  daß  er  die  Übereinstimmung  nicht 
mehr  mit  der  Wirklichkeit,  sondern  mit  dem  bloßen,  auf  gesetzmäßigem 
Wege  gewonnenen  Erscheinungsbilde  bedeutet  und  demgemäß  auch 
verschiedener  Abstufungen,  Grade,  fähig  ist,  je  nachdem  die  betreffen- 
den Vorstellungen  durch  die  vorhandene,  die  tatsächlich  gegebene 
Erkenntnisunterlage  ihre  Beglaubigung  finden  oder  nicht. 

Auch  die  Philosophie  oder  Seinswissenschaft,  der  das  Verdienst 
gebührt,  das  dargelegte  Wesen  unserer  nur  hypothetischen  und  proble- 
matischen Erkenntnis  von  der  Außenwelt  aufgedeckt  zu  haben,  so 
unsägliche  Anstrengungen  sie  gemacht  hat,  sich  andere  Erkenntnis- 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  17 

mittel  und  einen  andern  Erkenntnisweg  beizulegen,  wofür  für  alle 
Zeiten  das  bezeichnendste  Beispiel  das  Bestreben  der  sogenannten 
Identitäts-Philosophie,  Subjekt  und  Objekt,  Denken  und  Sein  in 
Eins  zu  setzen,  bleiben  wird,  auch  die  Philosophie  hat  für  ihr  Vor- 
gehen und  Verfahren  platterdings  keine  anderen  Erkenntnismittel, 
als  sie  die  profane  Erkenntnis  hat  und  muß  sich  demnach  trotz  allen 
Sträubens  in  den  Gedanken  finden,  muß  sich  dabei  bescheiden,  daß. 
wenn  sie  Wissenschaft  sein  will,  auch  sie  nur  das  Erscheinungsbild 
der  Außenwelt,  wie  es  mit  Hilfe  der  äußeren  Sinne  gewonnen  wird, 
zugrundelegen  und  ihr  Wissensgebäude  auf  ihm  allein  errichten  kann. 
Allein  dann,  wenn  sie  auf  dieses  Weltbild  als  das  Positive,  das  „Ge- 
gebene" ihre  Erkenntnis*?  gründet,  vermag  sie  diesen  Erkenntnissen 
zwar  nicht  unbedingt  festen  aber  doch  den  festesten  Halt  zu  geben, 
den  menschliches  Wissen  überhaupt  haben  kann.  Jede  andere  Unter- 
lage, mag  sie  nun  in  dem  sogenannten  unmittelbaren  Schauen  oder 
in  bloß  logischen  Konstruktionen  oder  gar  bloß  auf  Phantasie  be- 
ruhen, kann  dieser  Erkenntnis  gegenüber  überall  nur  eine  will- 
kürliche, nur  eine  gestalt-  und  haltlose,  jedenfalls 
aber  niemals  eine  wissenschaftliche  sein,  die  doch  die 
philosophische  Erkenntnis  unter  allen  Umständen  sein  soll.  Man 
bezeichnet  die  Richtung  der  Philosophie,  die  sich  dementsprechend 
ausschließlich  auf  das  „Gegebene"  stützt,  als  Positivismu  s. 
Sie  ist  nach  dem  Dargelegten  die  Richtung,  die  unter  allen  allein  auf 
Wissenschaftlichkeit  Anspruch  erheben  kann.  Auch  die  Philosophie 
stützt  sich  somit  im  Positivismus  zwar  letzten  Endes  ebenfalls  auf 
die  E  r  f  a  h  r  u  n  g.  Trotzdem  fällt  sie  deshalb  in  ihrer  Methode 
noch  nicht  mit  den  übrigen  Wissenschaften  zusammen,  unterscheidet 
sich  vielmehr  immer  noch  sehr  wesentlich  von  ihnen.  Denn  sie  bleibt 
nicht  wie  diese  bei  der  Erfahrung  stehen,  sondern  sie  greift  über  diese 
hinaus  in  das  Gebiet  des  Unendlichen  und  Unbedingten,  hierbei 
von  der  durchaus  richtigen  Annahme  ausgehend,  daß  unsere  Erkennt- 
nis zwar  nicht  nach  ihrem  Ursprung  wohl  aber  nach  ihrem  E  n  d  - 
und  Ausgangspunkte  hin  über  die  Erfahrung  hinaus  ge- 
langen und  damit  auch  eine  Unterlage  für  die  Metaphysik  gewinnen 
kann.  Wie  der  Mensch,  der  den  festen  Boden  der  Erde  unter  sich  hat, 
nicht  vom  Schwindel  gepackt  wird  bei  dem  Gedanken  daran,  daß  diese 
unsere  Erde  frei  und  anscheinend  haltlos  im  Äthermeer  schwimmt, 
wie   er  sich   vielmehr   auf  jenem   seinem    festen    Standpunkt   sicher 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie  (Beilageheft)  2 


18  H.   G.  Opitz, 

und  von  ihm  allein  aus  in  der  Lage  fühlt,  zu  sein  und  sich  auszuwirken, 
so  darf  sich  auch  der  Philosoph  bei  dem  Gedanken  an  das  im  Äther- 
meere der  Wesenswelt  anscheinend  haltlos  schwebende  Erscheinungs- 
bild der  Welt  nicht  vom  Schwindel  packen  lassen,  darf  er  nicht  seine 
sichere  Erfahrungs-Grundlage  aufgeben,  sondern  auch  er  muß  von 
ihr  aus  seine  Aufgabe  zu  lösen  suchen  und  kann  sie  nur  von  ihr  aus 
lösen. 

Die   Voraussetzungen   des   Erkennens   der 

Außenwelt. 

Nun  aber  kommen  wir  zu  der  eigentlichen  Frage  unserer  Dar- 
stellung, zu  der  Frage:  in  welchem  Verhältnisse  steht  das,  was  uns 
unsere  äußeren  Sinne  in  der  dargestellten  Weise  als  Daten,  als  Unter- 
lage, als  Vorwurf  für  die  Erzeugung  des  Wiltbildes  liefern,  zu  unserem 
sonstigen,  den  Stoff  verarbeitenden  Erkenntnisverfahren,  mit  andern 
Worten,  auf  welchem  Wege  bringen  wir  jenen  Erkenntnisgegenstand 
unserem  Verständnisse  näher?  Das,  was  allein  die  Sinne  uns  an  solchen 
Daten  liefern,  ist  zunächst  nichts  als  ein  buntes  Gemisch  von  Farben- 
und  Lichtempfindungen,  von  Tastempfindungen,  Gehörs-,  Geruchs- 
und Geschmacksempfindungen,  die  wir  bildlich  und  ganz  in  Über- 
einstimmung mit  der  ideal-realistischen  Grundauffassung  als  „Ein- 
drücke" bezeichnen,  unseren  Verstand  dabei  gewissermaßen  einer 
Wachstafel  oder  der  Walze  in  einem  Phonographen  mit  ihrer  Emp- 
fänglichkeit zur  Aufnahme  aller  möglichen  Eindrucksspuren  ver- 
gleichend. Eine  so  beschaffene  Wiedergabe  der  Außenwelt  ist  selbst- 
verständlich an  und  für  sich  zunächst  für  unsere  Daseinsführung. 
und  zwar  sowohl  in  praktischer  wie  theoretischer,  in  leiblicher  wie 
geistiger  Beziehung  gleich  wert-  und  bedeutungslos.  Sie  kann  Wert 
und  Bedeutung  für  uns  nur  erst  dann  und  insoweit  erhalten,  wenn 
und  insoweit  wir  jenes  bunte  Gewühl  von  Sinnesempfindungen  ent- 
wirren, ordnen,  regeln  also  die  betr.  Ercheinungen  unserem  auf  diese 
Ordnung  und  Regelung  angewiesenen  Verständnis  näher  bringen. 
Was  heißt  das  aber:  die  Außenwelt  in  solcher  Gestalt  unserem  Ver- 
ständnis näher  bringen  und  worin  besteht  dieses  Näherbringen,  wie 
vollzieht  es  sich?  Zweierlei  steht  hier  von  vornherein  und  unbedingt 
fest,  nämlich  einmal  ergibt  sich  auf  formellem  Gebiete  als  uner- 
läßliche Voraussetzung  für  ein  Verstehen  der  Außenwelt  die,  daß 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  H> 

unser  Erkenntnisverfahren  im  Verhältnis  zur  Außenwelt  vor  allen 
Dingen  seiner  äußeren  Anlage  und  Ei  n  r  i  c  h  t  u  n  g  nach 
so  angetan  sein  muß,  daß  uns  durch  sie  ein  Verständnis  der  Außen- 
welt ermöglicht  wird.  Da  der  Erkenntnisstoff  der  Außenwelt  uns 
vollständig  unabhängig  von  unserem  inneren  Ich  entgegengebracht 
wird,  so  wäre  das  Gegenteil,  nämlich  daß  dieser  Stoff  sich  durch  seine 
vollständige  Inkongruenz  mit  der  Einrichtung  unseres  Erkenntnis- 
Verfahrens  der  Zugänglich keit  des  letzteren  völlig  entzöge,  nicht 
unmöglich,  und  in  diesem  Falle  natürlich  jedes  Verständnis  der 
Außenwelt  für  uns  von  vornherein  ausgeschlossen.  Die  zweite  Voraus- 
setzung liegt  auf  materielle  m  Gebiete  und  besteht  darin,  daß, 
da  wir  zur  Erkenntnis  der  Außenwelt  in  materieller  Hinsicht  schlechter- 
dings nichts  weiter  mitbringen,  als  die  Kenntnis  von  unserem  inneren 
Ich,  die  Außenwelt  nur  dann  und  insoweit  unserem  Verständnisse 
zugängig  ist,  als  die  Kenntnis  von  unserem  inneren  Ich.es  ermöglicht. 
In  beiden  Beziehungen  ergibt  sich  also  als  unumstößliche  und  funda- 
mentale Tatsache  die,  daß  das  Eindringen  in  das  Verständinis  der 
Außenwelt  in  nichts  Anderem  besteht  und  bestehen  kann,  als  darin, 
daß  wir  die  Außenwelt  in  irgendwelcher  Weise 
unserem    inneren    Ich    in    Beziehung    bringen 


z  u 


ö    >j  ±  i  ü  _ 


und  daß  nur,  insoweit  uns  dies  gelingt,  eine  Erkenntnis  der  Außenwelt 
möglich  ist. 

Untersuchen  wir  nun  dieses  In-Beziehung-Bringen  der  Außen- 
welt zu  unserem  inneren  Ich,  das  Verfahren  hierbei  und  seine  Vor- 
aussetzungen näher  und  zwar  zunächst: 

1.    in  formeller  Hinsicht, 

in  Hinsicht  also  auf  die  äußere  Einrichtung  und  An- 
1  ;i  g e  der  Außenwelt  einerseits  und  unseres  Erkennt- 
n  i  s  v  e  r  in  ö  g  e  n  s  anderseits,  so  ergibt  sieh  folgendes.  Das  Material, 
das  uns  die  Sinne  namentlich  aber  ^U'v  vollkommenste  und  univer- 
sellste unter  ihnen,  das  Auge,  von  (\vv  Außenwell  liefern,  kennt  nach 
keiner  Richtung  hin  ein  Ende  oder  Grenzen,  de  mehr  wir  diesem  Mate- 
riale  nachgehen,  umsomehr  von  ihm  drängt  sieh  uns  auf.  um  so  mehr 
werden  wir  gewahr,  dal.)  es  nach  allen  Richtungen  hin  unermeßlich 
und  unerschöpflich  ist.  Einem  solchen  Materiale  würde  unser  Er- 
kenntnisvermögen   nur   entsprechen,    wenn    es    in    seiner    Aufnahme- 

2* 


20  H.  G.  Opitz, 

fähigkeit    ebenfalls    unermeßlich    und    unerschöpflich,    insbesondere 
aber  imstande  wäre,  das  ihm  als  Ganzes  und  Gleichzeitiges  Entgegen- 
tretende auch   seinerseits  als   Ganzes  und  gleichzeitig   zu  erfassen. 
Nur  dann,  wenn  es  diese  Eigenschaften  aufwiese,  würde  unser  Er- 
kenntnisvermögen seinem  Erkenntnisstoffe  angepaßt  und  gewachsen 
sein.  Wie  unendlich  viel  beschränkter  und  kleiner  stellt  sich  demgegen- 
über aber  in  Wirklichkeit  unsere  Erkenntnitifähigkeit?    Alles  weniger 
als  aufs  Erkennen  des  Ganzen  und  dessen  gleichzeitige  Aufnahme 
eingerichtet,  vermag  es  von  dem  Ganzen  gleichzeitig  und  mit  einem 
Male  nur  kleine  und  kleinste  Ausschnitte  aufzunehmen.    Wie  unserm 
Auge  die  Außenwelt  in  Gestalt  eines  großen  Meeres  von  Farben  und 
Lichteindrücken  als  ein  Ganzes  gegenübertritt,  wie  wir  aber,  wenn  wir 
von  diesem  Farben-  und  Lichtmeer  etwas  genauer  erkennen  wollen, 
den  betr.  Teil  des  vor  uns  befindlichen  Bildes    in  den  sogenannten 
„Blickpunkt"  bringen  müssen  und  dieser  Blickpunkt  immer  mu- 
rinen sehr  kleinen  Teil  des  ganzen  Bildes  umfaßt,  in  derselben  Weise 
vermag  auch  unser  geistiges  Auge  das  vor  ihm  liegende  Weltbild 
nur  dann  seinem  Verständnisse  näher  zu  bringen,  wenn  wir  dieses 
Bild  in  kleinste  Teile,  fast  möchte  man  sagen,  in  Punkte  zerlegen 
und  so  in  den  geistigen  „Blickpunkt"  bringen,  wenn  wir  es  mit  dem 
geistigen  Auge  gewissermaßen  wie  mit  der  Hand  „begreifen",  also  in 
„Begriffe"  bringen.    Je  größer  diese  Ausschnitte,  diese  Teile  sind,  um 
so  dunkler,  allgemeiner,  verschwommener  sind  die  Begriffe  von  ihnen, 
je  kleiner,  um  so  mehr  sind  sie  der  Deutung  und  Erfassung  zugänglich, 
also  um  so  „deutlicher"  und  „faßlicher"  sind  sie. 

Das  Weltbild  muß  in  dieser  Weise  also  durch  die  „Enge"  der  Be- 
griffe hindurchgehen,  um  von  uns  verstanden  zu  werden.  Das  ist 
es,  was  wir  damit  sagen  wollen,  wenn  wir  unsere  Erkenntnis  als  „Teil- 
erkenntnis", als  „Begriffs"-,  als  „Diskursiverkenntnis"  bezeichnen. 
In  solcher  Weise  ist  unser  Erkenntnisvermögen  seinem  äußeren 
Umfang  nach,  um  es  einmal  so  zu  bezeichnen,  eingerichtet.  Nun 
fragt  sich  aber,  ob  dieser  Eigenschaft  als  Teil-  oder  Begriffserkenntnis 
auch  die  Einrichtung  der  mittelst  seiner  zu  erkennenden  Außenwelt 
entspricht,  ob  die  Außenwelt,  die  uns  an  sich  als  Ganzes  gegenüber- 
tritt, also  sich  auch  ihrerseits  in  solche  Teile  überhaupt  zerlegen 
läßt,  wie  es  diese  Begriffserkenntnis  erfordert.  Es  ließe  sich  ganz  wohl 
denken,  daß  dem  nicht  so  wäre,  und  tatsächlich  ist  dem  auch  nicht 
bloß  bei  großen  Teilen,  sondern  sogar  bei  dem  weitaus  größten  Teile 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  21 

der  Außenwelt  nicht  so.  Den  allergrößten  Teil  der  Außenwelt  bildet 
das  den  Weltraum  ausfüllende  Äthermeer.  Dieses  Äthermeer  hat 
tatsächlich  die  Eigenschaft,  daß  es  weder  für  das  Auge  noch  für  den 
Verstand  nach  den  äußeren  Eindrücken  teilbar  ist.  Es  stellt  sich 
uns  äußerlich  vielmehr  als  ein  einheitliches  großes  Ganzes  und  daher 
unserer  Teil-  oder  Begriffserkenntnis  als  gänzlich  unzugänglich  dar. 
Ebenso  ist  das  bei  dem  uns  umgebenden  Luftmeer  und  dem  den 
größten  Teile  der  Erdoberfläche  bedeckenden  Weltmeere  der  Fall. 
Wäre  die  ganze  Welt  so  eingerichtet  wie  diese  ihre  Teile,  so  würde 
auch  sie  unserem  Verständnisse  beinahe  völlig  unzugänglich  sein. 
In  Wirklichkeit  ist  sie  aber  nicht,  wenigstens  nicht  überall  in  der 
gedachten  Weise,  sondern  so  eingerichtet,  daß  es  auch  andere  Teile 
und  dabei,  was  von  besonderer  Bedeutung  ist,  vorwiegend  in  der 
rmgebung  des  Menschen  gibt,  die  eine  Zerlegung  in  weitere  und  solche 
Teile,  wie  sie  unserem  Begriffsvermögen  entsprechen,  ihrerseits  zulassen, 
ein  Umstand,  der  für  uns  so  wichtig  ist,  daß  uns  durch  um  überhaupt 
erst  eine  Daseinsführimg  auf  diesem  Planeten  ermöglicht  wird.  Und 
zwar  ist  der  Stoff,  den  diese  Teile  der  Außenwelt  liefern,  nicht  bloß 
teilbar  nach  den  Wahrnehmungen  der  einzelnen  Sinne,  sondern  auch 
die  Wahrnehmungen  jedes  einzelnen  Sinnes  wiederum  weisen  Ver- 
schiedenheiten in  unzähligen  Abstufungen  auf,  nach  denen  wir  eine 
Teilung  dieses  Erkenntnisstoffes  angemessen  unserem  Begriffsver- 
mögen vorzunehmen  in  die  Lage  kommen,  und  auf  die  wir  nun  das 
ganze  Gebäude  unserer  weiteren  Erkenntnis  errichten  können. 

Durch  diese  Teilung  des  Erkenntnisstoffs,  und  zwar  nur  erst 
durch  sie  tritt  nun  für  unser  Erkenntnisverfahren,  soll  anders  aus 
den  Sinneswahrnehmungen  ein  Weltbild  werden,  die  Notwendigkeit 
an  uns  heran,  die  in  solcher  Weise  künstlich  gebildeten,  unter  sich 
zusammenhangslosen  Teile  des  Erkenntnisbildes  zu  einander  auch 
wieder  künstlich  in  Beziehung  zu  bringen,  und  zwar  ist  es  das  Erste 
hierbei,  sie  in  ihrer  Folge  neben  einander  zu  ordnen.  Diese  Ordnung 
der  Teile  in  ihrer  Folge  n  e  b  e  n  e  i  n  a  n  d  e  r  bezeichnen  wir  als  die 
Ordnung  der  Dinge  im  ..Kaum".  Der  Begriff  „Raum"  ist  hiernach 
eist  infolge  (\i>v  geschilderten  Teilung  des  F>kenntnisstoffs  entstanden 
und  bedeutet  somit  das  Verhältnis,  in  dem  die  bei  dieser  Teilung  sich 
ergebenden  Gegenstände  der  Außenwelt  in  ihrer  Folge  nebeneinander 
zu   sich    stehen  5).      Es  geht  hieraus   ohne  weiteres  hervor,   daß  der 

6)  ..Der  Raum  ist  ein  abstraktes  Onlnui  l'ssnsUiu"  (Mach). 


22  H.  G.   Opitz, 

Raum  nichts  Gegenständliches,  nichts  unseren  äußeren  Sinnen  Wahr- 
nehmbares, sondern  schlechterdings  nur  der  für  uns  durch  die  Eigen- 
schaft unserer  Erkenntnis  als  Teilerkenntnis  nötig  gewordene  Be- 
griff (Reihen-,  Beziehungs-,  Verhältnisgriff)  von  der  Folge  der  Gegen- 
stände nebeneinander  ist,  eine  zwar  ohne  weiteres  einleuchtende  und 
unumstößliche  Wahrheit,  aber  eine  Wahrheit,  deren  Entdeckung 
erst  Kant  vorbehalten  gewesen  ist,  und  die  leider  auch  trotz  Kant 
immer  noch  dann  und  wann  angezweifelt  wird. 

Da  unsere  Erkenntnis  aber  auch  in  dem  weiteren  Sinne  nur  eine 
Teilerkenntnis  ist,  daß  wir  gleichzeitig  nur  einen  Gedanken  denken 
können,  und  unser  Weltbild  sonach  aus  nicht  gleichzeitig,  sondern 
nacheinander  entstandenen  Vorstellungen  besteht,  so  macht 
sich  infolge  der  nurgedachten  Eigenschaft  unserer  Erkenntnis  außer 
der  Ordnung  der  Dinge  nebeneinander,  der  Ordnung  also  im  Räume,* 
auch  eine  solche  noch  nacheinander  erforderlich,  und  für  diese 
haben  wir  die  Bezeichnung  „Zeit",  von  der  inbezug  auf  ihre  Ent- 
stehung und  Gegenständlichkeit  durchaus  dasselbe  gilt,  was  eben  über 
den  Begriff  „Raum"  gesagt  worden  ist. 

Auch  dadurch,  daß  sich  die  Außenwelt  der  Eigenschaft  unserer 
Erkenntnis  als  Teil-  oder  Begriffserkenntnis  entsprechend  in  Teile 
zerlegen  und  so  zu  unserem  Ich  in  Beziehung  bringen  läßt,  würde 
unserer  Erkenntnis  jedoch  noch  nicht  viel  geholfen  sein,  wenn  die 
Außenwelt  nicht  auch  in  andern  ebenso  wesentlichen  Beziehungen 
in  ihrer  Einrichtung  der  Anlage  unseres  Erkenntnisvermögens  ent- 
gegenkäme. Unser  Begriffsvermögen  nämlich  ist  in  seiner  Aufnahme- 
fähigkeit nicht  so  verschwenderisch  ausgestattet,  daß  es  —  natürlich 
nur  nacheinander,  und  mit  dem  Gedächtnis,  da  wir  gleichzeitig  eben 
mehr  als  Einen  Gedanken  nicht  denken  können  —  so  unzählig  viele 
Begriffe  bilden  und  in  sich  aufbewahren  könnte,  wie  es  an  sich  der 
ihm  gegenüberstehende  Erkenntnisstoff  erheischte.  Sondern  wie  die 
Begriffe  in  uns  meist  nur  mühsam  und  unter  längerem  Zeitauf  wände 
gebildet  werden,  so  sind  es  auch  verhältnismäßig,  im  Verhältnis 
nämlich  zu  dem  unbegrenzten  Erkenntnisstoff,  selbst  bei  der  längsten 
Lebensdauer  doch  nur  wenige  Begriffe,  die  wir  uns  bilden  und  dauernd 
,in  uns  festhalten  können.  Wäre  nun  die  Außenwelt  so  angetan,  daß 
sich  die  durch  Begriffe  ausscheidbaren  Teile  von  ihr  in  fortwährendem 
Wechsel  befänden,  kein  Gegenstand  also  in  den  nächsten  Augen- 
blicken schon  mehr  unseren  Sinnen  als  derselbe  erschiene,  sondern 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  23 

jede  Erscheinung  im  kürzesten  Zeiträume  die  andere  verdrängte  und 
ablöste,  so  würde  mit  dem  Sehwinden  des  betr.  Gegenstandes  auch 
der  über  diesen  gebildete  Begriff  für  uns  wertlos  werden,  und  da  es 
nur  eine  sehr  beschränkte  Anzahl  Begriffe  ist,  die  wir  uns  überhaupt 
bilden  können,  so  würde  dann  unser  Erkenntnisvermögen  der  Welt 
als  seinem  Erkenntnisgegenstande  unter  solchen  Umständen  natürlich 
vollständig  hilflos  gegenüberstehen.  Und  in  der  Tat  gibt  es  auch  große 
Teile  der  Außenwelt,  bei  denen  das  der  Fall  ist,  so  bei  den  Wolken- 
Gebilden  und  sonstigen  Erscheinungen,  die  im  Lufträume  über  uns, 
so  bei  den  Wellen  und  sonstigen  Veränderungen,  die  im  Meere  auf- 
treten. Uns  von  den  nurgedachten  Erscheinungen,  den  einzelnen 
Wolken  am  Himmel,  den  einzelnen  Wellen  im  Meere,  Begriffe  zu  bilden, 
würde  bei  deren  Flüchtigkeit  nach  Lage  der  Sache  meist  völlig  wert- 
und  bedeutungslos  sein,  fehlt  doch  für  ihre  Verwendbarkeit  jede 
weitere  Gelegenheit.  Auch  hier  aber  zeigt  es  sich,  daß  die  Außenwelt 
als  Erkenntnisgegenstand  wenigstens  bei  zahlreichen  ihrer  Teile 
eine  entgegenkommende  ist,  denn  sie  weist  eine  solche  Einrichtung 
auf,  daß  diese  Teile  längere  Zeit  keinem  Wechsel,  keiner  Veränderung 
unterworfen  sind,  mithin  also  längere  Zeit  hindurch  unseren  Sinnen 
als  dieselben  erscheinen  und  wir  sie  so  als  festen  Besitzstand 
unseres  Erkenntnisschatzes  ansehen  und  verwerten  können.  Das 
Gesagte  gilt  insbesondere  von  den  festen  Teilen  der  Außenwelt,  der 
Erdrinde,  den  Gesteinen,  den  Mineralien,  aber  nicht  minder  auch 
von  der  Mehrzahl  der  Lebewesen,  Menschen,  Tiere,  Pflanzen,  die 
sämtlich  ihre  äußere  und  innere  Verfassung  längere  Zeit  beibehalten, 
sonach  für  unser  Erkenntnisvermögen  dieselben  bleiben  und  daher 
auch  eine  dauernde  Verwendung  der  für  sie  gebildeten  Begriffe 
gestatten.  Bei  allen  diesen  Gegenständen  verzinst  sich  sozusagen 
das  in  die  Begriffe  gesteckte  Kapital  durch  deren  längere  und  häufigere 
Verwendbarkeit  mehr  oder  minder  reichlich,  während  es  im  entgegen- 
gesetzten Falle  vergeblich  aufgewendet  ist. 

Aber  auch  damit  würde  die  Erkenntnisfähigkeit  noch  nicht  eine 
solche  werden,  dal.)  sie  uns  eine  unseren  Bedürfnissen  entsprechende 
Daseinsführung  auf  diesem  Planeten  möglich  machte.  Die  verhältnis- 
mäßig kleine  Anzahl  von  Begriffen,  die  wir  uns  auch  bei  der  längsten 
Lebensdauer  zu  bilden,  und  die  noch  viel  kleinere  Anzahl,  die  wir 
dauernd  im  Gedächtnis  festzuhalten  vermögen,  würde  zu  dem  ge- 
dachten Zwecke  auch  nicht  entfernt  ausreichen,  träte  nicht    den  bis- 


24  H.   G.   Opitz, 

her  festgestellten  Einrichtungen  der  Außenwelt  noch  die  weitere 
hinzu,  die  wir  als  Einrichtung  der  „Gruppenerscheinunge  n" 
bezeichnen  können.  Mit  diesen  Gruppenerscheinungen  aber  hat  es 
folgende  Bewandtnis. 

Auch  hier  müssen  wir  von  der  durch  die  Rücksicht  auf  die  Unab- 
hängigkeit der  Außenwelt  von  unserem  Ich  nahegelegten  Möglichkeit 
ausgehen,  daß  die  Außenwelt  in  dem  nur  berührten  Punkte  nicht  nach 
den  Erfordernissen  unseres  Erkenntnisvermögens  eingerichtet  wäre. 
Das  letztere  würde  dann  der  Fall  sein,  wenn  alle  die  einzelnen  Er- 
scheinungen der  Außenwelt,   die  unserer  Erfassung  durch   Begriffe 
zugängig  sind,  so  von  einander  verschieden  wären,  daß  sich  keiner 
von  ihnen  unter  einen  gemeinsame  n  Begriff  zusammenfassen 
ließe.   Wir  stünden  dann  mit  unserem  Erkenntnisvermögen  und  seiner 
bettelhaft    geringen  Anzahl   von  Begriffen    einer  Welt    gegenüber, 
die  selbst  mit  dem  Millionenfachen  dieser  Anzahl  von  Begriffen  für 
uns  noch  unzugänglich  sein  würde.  „Wäre  der  Gang  der  Natur  nicht 
objektiv  so  geregelt,  daß  wir  auf  subjektiver  Seite  zur  Konzeption 
von  Allgemeinbegriffen  genötigt  werden,  ginge  der  Weltlauf  chaotisch 
oder  launenhaft  von  statten,  so  wäre  unser  Verstand  der  Natur  gegen- 
über zur  Ohnmacht  verurteilt"  (Liebmann).     Auch  hier  aber  tritt 
die  wunderbare  Erscheinung  ein,  daß  die  Natur,  „als  wollte  sie,  ein 
williges  Lasttier,  das  Joch  des  in  enge  Schranken  gebannten  und 
deshalb  unebenbürtigen  Menschengeistes   dennoch  auf  ihren  Nacken 
nehmen",  dem  Menschen  ihren  Rücken  bietet,  ja  ihm  auch  die  Zügel 
zu  ihrer  Beherrschung  selbst  in  die  Hand  legt,  indem  sie  durch  ihre 
Einrichtung  hier  der  menschlichen  Erkenntnis  nicht  bloß  entgegen- 
kommt, sondern  ihr  der  sonst  hilflosen  und  ohnmächtigen  so  recht 
eigentlich  sogar,  wie  man  so  sagt,  erst  auf  die  Beine  hilft,    Nicht  bloß 
unter  den  Lebewesen  nämlich,  sondern  auch  in  der  leblosen  Natur 
und  nicht  bloß  unter  den  körperlichen  Dingen,  sondern  auch  unter 
den  körperlosen,  räumlichen  und  zeitlichen  Erscheinungen,  gibt  es 
solche,  die  sich  in  Millionen,  ja  Milliarden  Fällen  in  ihren  wesent- 
lichen äußeren  und  inneren  Eigenschaften  dermaßen  gleichen,  daß 
wir  sie  sämtlich  unter  einen    u  n  d  denselbe  n  Begriff  bringen 


r>)  ,,Alle  unsere  Bemühungen,  die  Welt  in  Gedanken  abzuspiegeln,  wären 
fruchtlos,  wenn  es  nicht  gelänge,  in  dem  bunten  Wechsel  Bleibendes  zu  finden" 
(Mach). 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  25 

können.      Nehmen  wir  unter  ungezählten  Fällen  nur  das   Beispiel 
etwa  einer  Hammelherde    an,    so  brauchen  wir  von  dieser  Herde 
bloß  e  i  n  Tier  nach  seiner  äußeren  und  inneren  Körperbesehaffen- 
heit,   nach   seiner  geistigen   Veranlagung,   nach   seinen  körperlichen 
und  geistigen  Eiitwicklungszuständen,  nach  seiner  Lebensweise  usw. 
erforscht    zu  haben,  um  damit  die  nurgedachten  Verhältnisse  auch 
bei  den  sämtlichen  übrigen  Tieren  dieser  Gattung  bei  der  ganzen 
Herde,  ja  bei  allen  dergleichen  Tieren  auf  der  ganzen  Erde  überhaupt 
mit  gleicher  Genauigkeit  zu  kennen.    Dasselbe  ist  der  Fall,  wenn  wir 
auch   nur   eine   von   den   Tausenden   Fichtenbäumen   eines   Waldes, 
von  den  Millionen  Getreidepflanzen  eines  Feldes  oder  Grashalmen 
einer  Wiese,  auch  nur  ein  Stück  Schiefer  oder  Granit  oder  Sandstein 
eines  vor  uns  befindlichen  Felsens  kennen.     In  allen  diesen  Fällen 
sind  wir  bei  dem  bloßen  Anblick  jenes  Gegenstandes,  auf  Grund  schon 
der  äußeren   Eigenschaften   (Leiteigenschaften),   auch   wenn   er  uns 
vorher  noch  nie  unter  die  Augen  gekommen  ist,  wir  also  von  dessen 
Dasein  noch  nicht  die  mindeste  Kenntnis  hatten,  doch  ohne  weiteres 
in  der  Lage,  alle  die  Eigenschaften  (Begleiteigenschaften)  zu  kennen, 
die  wir  von  dem  einzelnen,  zu  dieser  Gruppe  gehörigen  Gegenstand 
vorher  festgestellt  und  kennen  gelernt  haben.    Welcher  ganz  enorme 
Vorteil   für   unsere   Erkenntnis   in   diesem   Bestehen   von   Gruppen- 
erscheinungen,    die    uns    die    sogenannten    „abgezogenen"    Begriffe 
ermöglichen,  liegt,  leuchtet  ohne  weiteres  ein.   Durch  das  Bestehen  der 
Gruppenerscheinungen  und  nur  erst  durch  sie  erhalten  wir  die  Möglich- 
keit zur  Feststellung  der  Naturgesetze  und  damit  auch  die  Möglich- 
keit der  Herrschaft  über  die  Außenwelt.   Die  ganze  Naturwissenschaft 
und  die  ganze  praktische  Tätigkeit  des  Menschen  zielt  darauf  ab, 
Erscheinungen  der  gedachten  Art  aufzufinden  und  sich   mit  ihnen 
zu  umgeben.  Em  solche  Gruppenerscheinungen  zu  ermitteln,  zergrübelt 
der  Mensch   sein   Gehirn,    „beschleicht   der   Weise   den   schaffenden 
Geist,  sucht  er  das  vertrauteGesetzin  des  Zufalls  grausenden 
Wundern"  (Schiller).   Zu  alledem  also  wird  unsere  Erkenntnis  nur  be- 
fähigt  durch  das  Bestehen  jener  Erscheinungen,  die  sich  vom  Stand- 
punkte der  Natur  aus  als  Herden-  als  Gruppenerscheinungen,  vom 
Standpunkte  unseres  Erkennens  aus  aber  als  die  Ermöglichung  einer 
wunderbaren,  unsere  Erkenntnisfähigkeit  mit  einem  Schlage  millionen- 
fach potenzierenden  Ö  k  o  n  o  m  i  e    u  n  s  e  r  e  s  D  e  n  k  a  p  p  a  r  a  t  s 
darstellen.       „Wo    solche    Gruppenerscheinungen    vorhanden    sind, 


26  H.  G.  Opitz, 

wächst  die  Macht  und  die  Herrschaft  des  Menschen  ins  Ungemessene, 
wo  sie  fehlen,  steht  der  Mensch  vor  den  Wundern  der  Schöpfung 
dem  Kinde  gleich  hilflos  und  verlassen  da." 

IL    In   materieller    Hinsicht. 

Die  bisherigen  Untersuchungen  haben  ergeben,  daß  die  Außen- 
welt in  ihrer  formellen  Einrichtung  und  Verfassung  in  vielen 
Stücken  der  formellen  Einrichtung  und  Anlage  unseres  Erkenntnis- 
vermögens und  Erkenntnisverfahrens  entspricht,  Unser  Erkenntnis- 
verfahren hat  die  Natur  einer  Teil-  oder  Begriffserkenntnis:  die  Außen- 
welt kommt  dem  entgegen,  indem  sie  sich  diesem  Vermögen  angemessen 
in  Teile  zerlegen  läßt,  Unser  Erkenntnisverfahren  setzt  zu  seiner 
wirksamen  Betätigung  eine  gewisse  Beständigkeit  der  in  der  Außen- 
welt auftretenden  Erscheinungen  voraus:  die  Außenwelt  entspricht 
dem,  indem  sie  tatsächlich  Erscheinungen  von  solcher  Beständigkeit 
aufweist.  Unser  Erkenntnisvermögen  bedarf,  um  uns  eine  entsprechende 
Daseinsführung  zu  ermöglichen,  der  in  der  Bildung  von  Kollektiv- 
begriffen (abgezogenen  Begriffen)  bestehenden  Ökonomie  des  Denkens: 
die  Außenwelt  bietet  diese  Möglichkeit  durch  das  Auftreten  von 
Gruppenerscheinungen  bei  ihr. 

Es  würde  nun  eine  weitere  in  das  Gebiet  der  Metaphysik  fallende 
Aufgabe  sein,  eine  Aufgabe,  die  ebenfalls  den  Vorzug  hätte,  sich  auf 
positivem  Gebiete  zu  bewegen,  näher  zu  untersuchen  und  festzustellen, 
wie  sich  der  nach  der  Einrichtung  unseres  Erkenntnisvermögens 
nicht  erkennbare  Teil  der  Außenwelt  quantitativ  und  qualitativ 
zu  den  erkennbaren  Teilen  verhält,  ferner  ob  das  Auftreten  von 
Gruppenerscheinungen  sowie  die  dadurch  ermöglichten  abgezogenen 
Begriffe  im  letzten  Grunde  mit  den  Platonschen  „Ideen"  zusammen- 
hängt, also  in  dem  über  der  Welt  ausgebreiteten  Netz  von  gewissen 
höheren,  vorbildlichen  Vorstellungen  begründet  ist,  ebenso  ob  in  allen 
den  obengedachten  Beziehungen  überhaupt  die  Welt  auf  unser  Er- 
kenntnisvermögen oder  nicht  vielmehr  unser  Erkenntnisvermögen 
auf  die  Welt  zugeschnitten  ist.  Alles  dies  näher  zu  erörtern  aber 
muß  einer  andern  Gelegenheit  vorbehalten  werden.  Jetzt  gilt  es 
vielmehr,  auch  der  andern  Aufgabe  noch  gerecht  zu  werden,  nämlich 
die  Voraussetzungen  festzustellen,  die  in  materieller  Beziehung, 
d.  h.  in  Beziehung  auf  das  räumliche  und  zeitliche  Verhalten  der 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  27 

Außenwelt  und  dessen  inneren  Zusammenhänge  an  unser  Erkenntnis- 
verfahren  gestellt  werden. 

Wenn  die  Außenwelt  verstehen  nach  dem  Obigen  gleichbedeutend 
ist  mit :  die  Außenwelt  mit  unserem  inneren  Ich  in  Beziehung  bringen, 
und  dieses  wiederum  zur  Voraussetzung  hat,  daß  die  Außenwelt  in 
gewissem  Sinne  unserem  inneren  Ich  angepaßt,  homogen,  gleich- 
geartet ist,  so  geht  daraus  hervor,  daß  auch  das  Verstehen  der  inneren 
Zusammenhänge  der  Außenwelt  in  räumlicher  und  zeitlicher  Hin- 
sicht von  dem  Umstände  abhängig  ist,  daß  wir  Vorgänge  in 
unserem  Ich  auf  die  Vorgänge  auf  die  Außen- 
w  e  1 1  b  e  z  i  e  h  e  n  ,  d.  h.  ü  b  e  r  t  r  a  gen,  entsprechend  anwenden, 
und  daß  wir  nur  insoweit,  als  dies  möglich  ist,  in 
das  Verständnis  der  Außenwelt  in  materieller 
Beziehung  eindringen  können.  Zur  Erkenntnis  der 
Außenwelt  können  wir  also  nicht  u  n  m  i  1 1  e  1  b  a  r  gelangen,  sondern 
müssen  wir,  das  liegt  hierin,  uns  an  die  Innenwelt  wenden,  müssen 
bei  dieser  eine  Anleihe  machen,  können  wir  also  schlechterdings  nur 
auf  diesem  TT  m  w  e  g  e  ,  auf  dem  Umwege  über  die  Erkenntnis  der 
Innenwelt  gelangen.  Das  Nachstehende  wird  dies  bis  zur  Evidenz 
dartun. 

a)    In    räumlicher    B  e  z  i  e  h  u  n  g. 

Unsere  Erkenntnis,  das  ist  oben  dargelegt  worden  und  darauf 
müssen  wir  als  die  Grundlage  auch  des  Folgenden  nochmals  zurück- 
kommen, ist  Teil-  oder  Begriffserkenntnis.  Der  Erkenntnisstoff  muß 
bei  ihr  durch  die  Enge  des  Begrifs  hindurchgehen,  indem  er  zu  diesem 
Zwecke  zu  teilen,  also  in  Ausschnitte  kleiner  und  kleinster  Art  zu 
zerlegen  ist.  Soll  aber  aus  diesen  Teilen  ein  Weltbild  werden, 
so  können  sie  nicht  gesondert  nebeneinander  bestehen  bleiben,  sondern 
müssen  geordnet,  d.  h.  müssen  zueinander  räumlich  und  zeitlich 
wieder  in  Beziehung  gebracht  werden.  Erst  dadurch  können  wir  das 
Teilprodukt  dem  Ganzen  als  der  Wirklichkeit  wieder  nähern.  Das 
Erkenntnisverfahren  in  dieser  Beziehung  ist  sonach  ein  fortwährendes 
Teilen,  um  wieder  zu  vereinigen,  ein  Trennen,  um  wieder  zu  verbinden, 
ein  Auseinanderlegen,  um  wieder  zusammenzulegen,  jenem  Geduld- 
spiele unserer  Kinderwelt  nicht  unähnlich,  bei  dem  ein  auf  1 1 » » 1  z, 
geklebtes  Bild  in  kleine  und  unregelmäßige  Teile  zerschnitten  und 
dem  Kinde  nun  die  Aufgabe  gestellt  wird,  diese  Teile  nach  Maßgabe 


28  H.  G.  Opitz  , 

und  an  der  Hand  des  aufgeklebten  Bildes  zu  dem  ursprünglichen  Ganzen 
wieder  zusammenzusetzen.  „Das  Wesen  unseres  begrifflichen  Denkens 
besteht  in  der  Auflösung  der  Anschauungskomplexe,  es  besteht  in 
der  inneren  Organisierung  der  Anschauung;  Analysis  und  Synthysis 
sind  die  beiden  Seiten  des  Prozesses"  (Pauken).  „Wie  der  Scheide- 
künstler, so  findet  auch  der  Philosoph  nur  durch  Auflösung  die  Ver- 
bindung" (Schiller).  Hier  nun  entstellt  aber  sofort  die  weitere  Frage: 
nach  welchen  Gesichtspunkten,  Grundsätzen, 
Richtlinien  ist  die  geschilderte  Trennung  und  Verbindung 
der  einzelnen  Teile  des  Weltbildes  vorzunehmen,  worin  besteht  „die 
innere  Organisierung  der  Anschauung",  die  Paulsen  bei  seiner  nur- 
angezogenen Charakterisierung  im  Auge  hat,  welches  ist,  um  beim 
obigen  Vergleiche  zu  bleiben,  das  Bild,  nach  dem  wir  uns  bei  dem 
großen  Erkenntnisspiele  der  Wiederverbindung  und  Wiedervereinigung 
der  begrifflich  gesonderten  Teile  der  Welt  zu  richten  haben?  Das 
äußere,  uns  durch  das  Auge  gelieferte,  bloß  die  Oberfläche  der  Dinge 
wiedergebende  Bild  von  der  Außenwelt  kann  es  nicht  sein,  denn  das 
haben  wir  ja  eben  durch  die  Begriffsbildung  in  Teile  zerlegt  und  da- 
durch aufgelöst  und  zerstört.  Wenn  es  aber  nicht  dieses  bloß  äußere 
Bild  sein  kann,  an  das  wir  uns  zu  halten  haben,  dann  sind  wir  mit 
unseren  Erkenntnismitteln  für  die  Außenwelt  zu  Ende.  Denn 
weitere  solche  Erkenntnismittel  außer  den  äußeren  Sinnen,  wir  mögen 
unser  Erkenntnisvermögen  nach  welchen  Richtungen  hin  immer  durch- 
forschen, stehen  uns  nicht  zur  Verfügung.  Es  bleibt  somit  schlechter- 
dings nichts  übrig,  was  uns  bei  unserem  Werke  als  Unterlage,  Anhalt, 
Richtlinie  dienen  kann,  als  uns  an  unser  Inneres  zu  halten  und 
hier  kann  einen  Anhalt  nur  bieten:  das  Bildvondeminneren 
Ich,  das  wir  in  uns  tragen.  „Mag  unser  Erkenntnisvermögen  aus 
der  Außenwelt  ununterbrochen  Stoffe  aufnehmen,  prägen  muß  sie 
ihn  durch  die  formgebende  Schöpferkraft,  die  von  innen  stammt" 
(Liebmann).  Schlechterdings  nur  die  Vorstellungen  von  unserem 
inneren  Ich  also  sind  es,  die  uns  auch  in  materieller  Beziehung  die  Mittel 
zur  Auslegung  und  Ausdeutung  der  Erscheinungen  der  Außenwelt 
bieten  können.  Und  zwar  ist  es  hier,  wo  es  gilt,  diese  Erscheinungen 
gewissermaßen  räumlich  zu  ordnen,  die  Vorstellung  von  der  S  u  1)  - 
Stanzeigenschaft  unseres  inneren  Ich,  die  allein  als  „form- 
gebende Schöpferkraft"  helfend  einspringen  kann,  der  Substanz- 
eigenschaft  als  der  Ur-  und  Grundtatsache  unseres  gesamten  Erkennens 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  "29 

und  Seins,  die  von  demselben  Liebmann  mit  Recht  als  die  „Funda- 
mentalbedingung  aller  Psychologie"  bezeichnet  wird.   Diese  Substanz- 
eigenschaft  unseres  inneren  Ich  aber  besteht  darin,  daß  unser  Ich 
der  einheitliche,  bei  allen  Wandlungen  es  selbst  bleibende,  mit  sich 
selbst  also  stets  identische  Träger  aller  unserer  Lebensäußerungen  ist. 
Der  „Träger"  aller  unserer  Lebensäußerungen,  insofern  diese  ausnahms- 
los auf  dem  Ich  als  der  Quelle,  dem  Ausgangspunkte,  dem  Ursprung 
und  der  Unterlage  beruhen,  von    ihm  ausgehen   auf  dasselbe  zurück- 
zuführen sind.    Der  „einheitliche"  Träger,  insofern  sich  unser  inneres 
Ich  nicht  aus  den  verschiedenen  einzelnen  Lebensäußerungen  zusammen- 
setzt, nicht  ein  bloßes  Häufungsprodukt,  bloßes  Summationsphänomen, 
sondern  der  um-  und  zusammenfassende  höhere  Kenner,  das  Einheit- 
liche dem  Mannigfaltigen,  das  Ganze  den  Teilen  gegenüber  ist.    Der 
„mit  sich   selbst   stets  identisch  bleibende"   Träger  endlich,  indem 
unser  Ich  auch  das  zeitlich  Aufeinanderfolgende  und  sich  Wandelnde 
zur  Einheit  zurückführt,  das  Frühere  und  Spätere,  Gegenwart  und 
Zukunft  in  sich  in  Eins  verschmilzt 7).    Diese  Ur-  und  Grundtatsache 
unseres  ganzen  Seins  und  Erkennens  sie  wird  nicht  mittelbar  von  uns 
vorgestellt,  sondern  unmittelbar  geschaut  und  erlebt.     „Sie  ist  die 
reine    Apperzeption,    weil   sie    dasjenige    Selbstbewußtsein   ist,    was, 
indem  es  die  Vorstellung  Ich  hervorbringt,  alle  andern  begleitet  und 
in  allem  Bewußtsein  ein  und  dieselbe  ist,  von  keiner  begleitet  weiden 
kann"    (Kant).       Ohne    selbst   irgendwelche    Vorstellungen    voraus- 
zusetzen, ist  sie  die  Voraussetzung  aller  Vorstellungen.  Als  unmittelbar 
Geschautes  ist  sie  die  einzige  Vorstellung,  bei  der  Vorstellung  und 
Vorgestelltes,   Denken   und   Sein   zusammenfallen,   ist   sie   die   Vor- 
stellung, die  ausnahmslos  allen  Menschen,  die  jemals  waren,  sind, 
oder  noch  sein  werden,  eigen  ist  und  aus  allen  diesen  Gründen  weder 
eines  Beweises  bedarf  noch  fähig  ist.    „Diese  innere  Einheit  erleben  wir 
unmittelbarer  als  alles  andere.   Ja  sie  befähigt  uns  überhaupt  erst, 
des  andern  inne  zu  werden"  (Schwarzkopff).    Wie  wir  nun  praktisch 
mit  Hilfe  der  Vorstellung  von  der  Substanzeigenschaft  unseres  inneren 
Ich  auch  den  Weg  zur  Ordnung  dv*  uns  durch  die  äußeren  Wahr- 
nehmungen gelieferten  Erkenntnisstoffs  im  Sinne  der  Verschmelzung 


7)  „Er  (der  Mensch)  erlebt  dabei  sich  selbst  als  den  inneren  Einheitspunkt 
aller  dieser  verschiedenen  Seiten  seiner  Betätigung.  Ja,  gleichsam  als  die 
durchhaltende,  dauernde,  innere  Einheitslinie,  in  der  sich  alles  das  befindet, 
was  er  nacheinander  erfahren  und  getan  hat"  (»Schwarzkopff). 


30  H.  G.  Opitz, 

und  Wiedervereinigung  der  begrifflich  gesonderten  Teile  der  Außen- 
welt finden,  das  soll  im  Folgenden  gezeigt  werden. 

Verfolgen  wir  die  Vorgänge  beim  Erkennen  der  Außenwelt  in 
ihren  Einzelheiten,  so  sehen  wir,  wenn  wir  die  Augen  aufschlagen, 
vor  uns  ein  großes  Farben-  und  Lichtmeer,  das  zwar  nach  der  Ver- 
schiedenheit der  Eindrücke  auch  unter  sich  verschiedene  Gegenstände 
anzudeuten  scheint,  uns  aber  an  sich  ohne  allen  und  jeden  Anhalt 
dafür  läßt,  wie  wir  diese  verschiedenen  Gegenstände  aussondern  und 
ausdeuten  können.   Hier  nur  ist's  eben  der  einzige  Weg,  der  sich  uns 
bietet,  um  zum  Letzteren  zu  gelangen,  daß  wir  von  den  unzähligen 
verschiedenen  Wahrnehmungen  einzelne  aussondern  und  nun  nach 
der   Vorstellung   von   der   Substanzeigenschaft   unseres   inneren   Ich 
zu  diesen  Wahrnehmungen  den  Träger,  d.  h.  das  aufsuchen,  was 
unserem  inneren  Ich  gleich  als  der  zusammenfassende,  der  verein- 
heitlichende Untergrund  und  Ausgangspunkt  alle  jene  verschiedene 
Wahrnehmungen  hervorbringt,    Wir  wollen  dies  an  einem  praktischen 
Beispiel  klarzumachen  suchen.     Wir  sehen  etwas  vor  uns,  das  wir 
später  als  einen  Baum  erkennen.     Wir  bemerken  durch  eine  ganze 
Kette  von  Beobachtungen,  bei  denen  wir  alle  Sinne  zur  Hilfe  nehmen, 
daß,  wenn  der  Wind  weht,  sich  die  Blätter  des  Baums  zwar  bewegen, 
aber  schließlich  immer  wieder  an  ihre  alte  Stelle  in  der  Umgebung 
zurückkehren,  wir  bemerken,  daß  Blätter,  Zweige  und  Äste  mit  dem 
Stamm  in  Verbindung  stehen,  wir  bemerken,  daß  sie  sämtlich  von 
dem  Stamm  ausgehen,  daß  der  Stamm  sie  alle  hervorbringt,  trägt 
und  zusammenhält.    Wir  bilden  uns  infolge  alles  dessen  die  Vorstellung 
von  dem  Baume  als  dem  Träger  aller  der  verschiedenen  Wahrneh- 
mungen an  den  Zweigen,  Ästen,  dem  Stamm  usw.,  die  bis  dahin  unver- 
mittelt nebeneinander  standen,   erkennen  also,   daß  der  Baum  ein 
Gegenstand  für  sich  ist  und  alle  jene  Sinneswahrnehmungen,  die  wir 
an  seinen  Teilen  gemacht  haben:  Farben,  verschiedene  Härte,  ver- 
schiedene    Geschmacksempfindungen,     verschiedene     Gerüche    usw. 
nichts  Selbständiges,  nicht  selbst  Gegenstände,  sondern  nur  Eigen- 
schaft e  n  des  Baumes  sind,  der  als  der  einheitliche  Träger  durch 
den  Wandel  und  Wechsel  dieser  Eigenschaften  nicht  berührt  wird, 
sondern   durch   alle  Wandlungen  hindurch   derselbe  bleibt.      Damit 
haben  wir  nach  dem  Vorbilde  von  der  Substanzeigenschaft  unseres 
inneren  Ich  in  Gestalt  des  Baumes  zunächst  ebenfalls  eine  Substanz  ge- 
funden, die  uns  für  die  Erkennung  des  Baumes  und  seiner  Eigen- 


Das  Ich  als   Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  31 

schaften  alle  die  Dienste  leistet,  die  uns  die  Vorstellung  der  Substanz- 
eigenschaft  für  die  Erkennung  unseres  Ich  leistet.  TsTun  aber  fällen 
wir  den  Baum  und  überzeugen  uns,  indem  wir  das  Holz  verbrennen, 
daß  sieh  ein  Teil  dieses  Holzes  hierbei  in  Asche,  ein  anderer  Teil  in 
eine  gasförmige  Flüssigkeit  verwandelt,  und  daß  jene  Asche,  sowie 
diese  Gase  gegenüber  denen  des  Holzes  völlig  neue  Eigenschaften  auf- 
weisen. Hieraus  erkennen  wir,  daß  unsere  Auffassung  des  Baums 
als  einer  Substanz  nicht  den  Tatsachen  entspricht,  daß  in  Wirklich- 
keit vielmehr  auch  der  Baum  nicht  der  Träger  aller  der  Eigenschaften 
war,  die  wir  an  ihm  wahrgenommen  hatten,  sondern  die  nach  dem 
Verbrennen  des  Holzes  bleibende  Asche  und  Gase  allein  zugrunde 
lagen  und  sich  somit  ihrerseits  nunmehr  als  das  Dauernde,  als  das 
Bleibende,  somit  als  Substanz  erweisen.  Nun  aber  bleiben  wir  auch 
hierbei  nicht  stehen,  sondern  stellen  durch  Experiment  fest,  daß  sich 
auch  an  der  vom  Holze  zurückgebliebenen  Asche,  sowie  den  gas- 
förmigen Teilen  die  Teilungs-  und  Zerlegungsoperationen  fortsetzen 
lassen,  und  wie  sich  hierbei  ergibt,  daß  auch  diese  sich  in  der  Retorte 
und  dem  Kolben  des  Chemikers  in  andere  Körper  zerlegen  lassen, 
nämlich  die  Gase  in  Kohlenstoff,  Wasserstoff,  Sauerstoff,  die  Asche  in 
Schwefelsäure,  Kieselsäure,  Phosphorsäure  usw.  Aber  auch  diese 
letzteren  Bestandteile  lassen  eine  weitere  Zerlegung  in  Teile  zu:  die 
Schwefelsäure  in  Wasserstoff,  Schwefel  und  Sauerstoff,  die  Phosphor- 
säure in  Wasserstoff,  Phosphor  und  Sauerstoff  usw.  Damit  ist  der 
Beweis  geführt,  daß  auch  der  Asche  und  den  Gasen  nicht  Substanz- 
eigenschaft zukommt,  sondern  diese  Bolle  nunmehr  von  deren  Be- 
standteilen oder  Stoffen  übernommen  wird.  Auch  bei  diesen  letzteren 
Stoffen  versucht  nun  der  Chemiker  zwar  eine  weitere  Zerfällung, 
und  die  überraschenden  Erfahrungen,  die  man  seit  dessen  Entdeckung 
mit  den  Umbildungen  des  Radiums  gemacht  hat,  sprechen  dafür, 
daß  die  Möglichkeit  der  Auffindung  weiterer  Stoffe  als  Substanzen 
auch  hier  noch  nicht  abgeschlossen  ist.  Bisher  haben  diese  Bestre- 
bungen aber  noch  zu  keinem  greifbaren  Erfolg  geführt,  so  daß  man 
gegenwärtig  noch  die  etwa  80  Stoffe,  bei  denen  sich  alle  Bemühungen 
zu  weiterer  Zerlegung  als  vergeblich  erwiesen,  als  Substanzen,  somit 
als  Träger  aller  nur  immer  in  der  Welt  vorkommenden  und  vorhan- 
denen Eigenschaften,  als  die  Materie  gegenüber  der  bloßen  Form, 
als  das  Bleibende  und  Umwandelbare  gegenüber  dem  Wandelbaren, 
als  die  Substanz  also  gegenüber  dem  Akzidens  auffaJßl    und  sie  in 


32  H.  G.  Opitz, 

dieser  Eigenschaft  mit  der  Bezeichnung  „Grundstoffe",  „Elemente", 
zu  belegen  pflegt. 

Wir  haben  in  diesem  Beispiel  das  Vorbild,  das  Paradigma,  nach 
dem  sich  alle  unsere  Bestrebungen,  die  inneren  Beziehungen  zwischen 
den  räumlichen  Teilen  der  Außenwelt  aufzudecken,  vollziehen,  das 
Beispiel,  das  sich  ausnahmslos  bei  allen  diesen  Bestrebungen  wieder- 
holt und  das  durch  diese  Wiederholungen  dem  in  Rede  stehenden 
Grundsatz  auch  seine  unumstößliche  praktische  Beglaubigung  gibt. 

Damit  aber  haben  wir  dargetan,  was  wir  oben  als  Grundsatz 
aufgestellt:  unser  ganzes  Erkenntnisverfahren  stellt  sich  in  diesem 
Punkte  dar  als  ein  einziger  großer  Akt  des  Trennens  und  Verbindens 
der  begrifflichen  Teile  der  Außenwelt  nach  dem  Gesichtspunkte  und 
Vorbild,  das  uns  die  Vorstellung  von  der  S  u  b  s  t  a  n  z  e  i  g  e  n  s  c  h  a  f  t 
unseres  inneren  Ich  und  deren  Verwertung  für  die  Erkenntnis  der 
Innenwelt  an  die  Hand  gibt. 

b)    In    zeitlicher    Beziehung. 

Mit  ganz  besonderer  Deutlichkeit  tritt  aber  der  Umstand,  daß 
wir  bei  der  Erkenntnis  der  Außenwelt  auf  unser  inneres  Ich  und  die 
Vorgänge  bei  ihm  zurückgreifen  müssen  und  lediglich  durch  sie  den 
Zugang  auch  zum  Verständnis  der  Außenwelt  finden,  bei  dem  inneren 
Zusammenhang  der  zeitlichen  Erscheinungen  hervor.  Ist  der 
Satz  richtig,  daß  wir  die  Außenwelt  nur  auf  dem  Umwege  über  unser 
inneres  Ich  und  nur  soweit  erkennen  können,  als  sie  unserem  inneren 
Ich  gleicht,  und  dieser  Satz  hat  sich  bis  jetzt,  wie  wir  gesehen  haben, 
voll  bewährt,  so  müssen  von  den  Dingen  der  Außenwelt,  die  wir 
auf  diesem  Wege  erkennen,  diejenigen  am  Allerdeutlichsten  für  uns 
erkennbar  sein,  auf  die  wir  das  Meiste  von  unserem  inneren  Ich  über- 
tragen können,  die  uns  also  am  Ähnlichsten  sind,  und  es  muß  dem- 
gemäß auch  die  Erkennbarkeit  in  demselben  Maße  geringer  werden, 
in  dem  die  Dinge  der  Außenwelt  sich  in  ihrem  geistigen  Wesen  und 
ihren  Eigenschaften  von  unserem  inneren  Ich  entfernen.  Und  siehe 
da,  dieser  Grundsatz  er  trifft  auch  überall,  wohin  wir  blicken,  in 
deutlichst  erkennbarer  Weise  zu.  Am  allerähnlichsten  sind  uns  von 
allen  Dingen  der  Außenwelt  unsere  Mitmenschen.  Unsere  Mitmenschen 
gehören  als  außer  uns  im  Räume  befindlich  leiblich  und  geistig  für 
uns  ebenfalls  zur  Außenwelt.  Das  zeigt  sich  schon  darin,  daß  wir  auch 
von  ihnen,  und  zwar  auch  in  geistiger  Beziehung,  wie  von  allen  andern 


Das  Ich  als  Dolmtsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  33 

Teilen  der  Außenwelt  schlechterdings  nur  auf  dem  Umwege  und  durch 
das  Mittel  der  äußeren  Sinne  etwas  erkennen  können.    Ein  unmittel- 
barer Verkehr  von  Geist  zu  Geist,  ein  Verkehr,  bei  dem  wir  uns  ohne 
äußere    Ausdrucksmitte]    unseren    Mitmenschen    mitteilen    könnten, 
ist  völlig  ausgeschlossen  und  findet  nicht  statt.    Für  die  Behauptung 
des  Gegenteils  gebricht  es  bislang  trotz  aller  Verwahrung,  die  hiergegen 
die  Anhänger  dv^  Spiritismus  und  Okkultismus  einlegen,  doch  noch 
an  aller  und  jeder  Tatsachen-Beglaubigung.    Sind  uns  aber  von  allen 
Dingen  außer  uns  unsere   Mitmenschen  geistig  am  allerähnlichsten, 
so  muß  auch  das  an  unseren  Mitmenschen,  bei  dem  diese  Ähnlichkeit 
am  meisten  platzgreift,  also  der  Geist,  die  Seele,  unserer  Mitmenschen, 
unserer  Erkenntnis  am  Zugänglichsten  sein.    Und  daß  das  tatsächlich 
der  Fall,  darüber  kann  wohl  nicht  der  geringste  Zweifel  obwalten. 
Diese   geistige  Ähnlichkeit   unserer  Mitmenschen   würden   wir,  auch 
wenn  dev  Mensch  nicht  in  Gestalt  der  artikulierten  Sprache  besondere 
Mittel  eingeführt  hätte,  um  sein  Inneres  den  Mitmenschen  zu  erkennen 
zu   geben,    ohne  weiteres  schon  aus  seiner  körperlichen  Ähnlichkeit 
im  ganzen  und  allen  seinen  Teilen  schließen.    Man  denke  nur  daran, 
wie  sich  schon  am  bloßen  Mienen-  und  Geberdenspiele  im  Gesichte  des 
Menschen  bisweilen  die  geheimsten  Gedanken,  die  sich  in  der  Seele 
abspielen,  ablesen  lassen,  wie  selbst  unwillkürliche  Geberden  z.   B. 
beim  Schreck,  beim  Erstaunen,  bei  der  Überraschung,  bei  Schmerz- 
empfindungen usw.  die  innere  Stimmung  dv^  Menschen  nach  außen 
deutlich  bekunden.    Der  Mensch,  und  er  allein  unter  allen  Geschöpfen, 
hat    aber   von  seiner  Vernunftfreiheit  Gebrauch    machend,  hierüber 
auch  noch  das  wunderbare  Mittel  der  artikulierten  Sprache  erfunden, 
um  seine  inneren  Vorgänge  den  Mitmenschen  mitzuteilen,  dv\-  artiku- 
lierten Sprache,  die  in  ihren  einzelnen  Teilen:    Hauptwörtern,  Eigen- 
schaftswörtern, Bindewörtern,  dein  Satzbau  usw.  genau  den  einzelnen 
Stadien    nachgebildet    ist,   in   denen   sich    unsere   Erkenntnis   bei   der 
Bildung  der  Begriffe,   der  Urteile,   der  Schlußfolgerungen  vollzieht, 
der  artikulierten  Sprache,  die  sich  einem  Gewände  gleich  den  geheimsten 
und  feinsten  Fallen  unserer  Seele  anschmiegt   und  alle  ihre   Kegungen 
von   der  stürmischsten    Leidenschaft    bis   zu   den   zartesten   Gefühlen, 
alle    ihre    Vorstellungen    über     das    Erhabenste     wie    das    Niedrigste 
den   Mitmenschen    zur    Kenntnis   zu    bringen   ermöglicht.      Auch    hier 
aber  stimmt  es  mir  mit  dem  von    uns   aufgestellten  Grundsätze   iiber- 
ein  und  ist  und  bleibt  es  für  die  Erkenntnis  der  inneren  Vorgange 

Archiv  im-  Geschichte  der  Phüosophie  (liuilagehoft).  3 


34  H.  G.  Opitz, 

beim  Mitmenschen  überall  die  unbedingte  Voraussetzung,  daß  wir 
selbst  derjenigen  Gefühle  und  Vorstellungen  fähig  sind  und  sie  in 
uns  betätigen,  die  wir  bei  Andern  erkennen  wollen.  Wenn  und  soweit 
diese  Voraussetzung  nicht  zutrifft,  dann  und  insoweit  versagt  auch 
das  Mittel  der  Sprache  wie  jedes  sonstige  äußere  Ausdrucksmittel 
zur  gegenseitigen  Verständigung.  Kur  was  wir  in  unserem  Ich  erst 
vorgedacht  und  vorgefühlt  haben,  oder  doch  nachzudenken  und  nach- 
zufühlen imstande  sind,  nur  das  läßt  sich  dem  Mitmenschen  erkennbar 
machen  oder  bei  ihm  erkennen.  Bei  einem  Blinden  und  Tauben  werden 
wir  uns  stets  vergeblich  bemühen,  durch  die  Sprache  Vorstellungen 
von  Farben  oder  Tönen,  bei  dem  für  die  Musik  Unempfänglichen, 
das  Verständnis  für  symphonische  Tonschöpfungen  hervorzurufen. 
Es  geht  aber  aus  alledem  auch  weiter  hervor,  daß  wir  bei  der  Aufnahme 
von  Vorstellungen  durch  das  Mittel  der  Sprache  uns  nicht  bloß  emp- 
fangend, sondern  gleichzeitig  auch  schaffend  und  erzeugen  d 
beteiligen,  und  daß  daher  der  Mitteilende  und  der  Empfangende 
sich  stets  geistig  ebenbürtig  sein  müssen,  wenn  eine  Verständigung 
vor  sich  gehen  soll.  „Wer  die  Fausttragödie,  dieses  einzigartige  Werk 
tiefsinnigen  dichterischen  Schaffens,  wer  die  vollendeten  sympho- 
nischen Harmonien  eines  Beethoven,  wer  den  Geist  der  gewaltigen, 
schöpferisch  unerreichten  Tondichtungen  eines  Wagner  voll  in  sich 
aufzunehmen  vermag,  der  ist  insoweit  seelisch  einem  Goethe,  einem 
Beethoven,  einem  Wagner  auch  kongenial."  Versteigt  sich  der  Mensch 
aber  nicht  sogar  zum  Allerkühnsten  auf  dem  Gebiete  der  Mitteilung 
durch  das  Mittel  des  inneren  Ich  an  Andere,  wenn  er  für  seine  Mit- 
menschen in  den  Personen  seiner  Dramen,  Epen,  Romane  in  seinem 
Innern  selbst  geistige  Menschengestalten  erzeugt  und  sie  auf  der 
Bühne  mit  Fleisch  und  Bein  bekleidet,  um  sie  zu  der  Menschheit 
reden  zu  lassen !  So  sehen  wir,  daß  der  Mensch  bei  seiner  Erkenntnis 
der  Außenwelt  in  der  Erkenntnis  insbesondere  des  Mitmenschen  die 
höchsten  Triumphe  feiert,  gleichzeitig  damit  aber  auch,  daß  hier 
überall  der  Grundsatz,  nach  dem  wir  von  der  Außenwelt  nur  erkennen 
können,  was  wir  von  unserem  inneren  Ich  auf  sie  zu  übertragen  ver- 
mögen und  was  durch  diese  erst  hindurchgegangen  ist,  seine  denk- 
bar stärkste  Bewährung  findet. 

Und  nun  das  Erkennen  des  tierischen  Geistes. 
Sofern  der  Mensch  drei  verschiedene  Leben  in  sich  lebt: 
das     eigentlich     menschliche,     das     Vernunft-Leben,      ferner      das 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  35 

tierische  (animalische),  und  das  Pflanzen-  (bloß  vegetative)  Leben, 
und  die  beiden  ersteren  Arten  des  Lebens  mit  Bewußtsein  verbunden 
sind,  umfaßt  er  an  sich  geistig  auch  das  geistige  Leben  des  Tieres 
seinem  vollen  Umfang  nach  mit  und  muß  daher  nach  unserem  Grund- 
satze  ebenso  volle  Kenntnis  des  Geisteslebens  des  Tieres  haben  wie 
vom  Geistesleben  des  Menschen.  Das  trifft  in  Wirklichkeil  auch  in- 
bezug  auf  die  M  ö  gliehkeit  zu,  leidet  aber  starke  Einschränkung 
inbezug  auf  die  Tatsächlichkeit  dieses  Erkennens.  Hinsicht- 
lich der  Möglichkeit  des  Erkennens  ist  ohne  weiteres  anzunehmen, 
daß  diese  überall  da  vorliegt,  wo  das  Tier  in  unseren  äußeren  Sinnen 
erkennbarer  Weise  innere  Vorgänge  bekundet.  Hier  werden  uns  die 
Vorgänge  in  der  Tierseele  ebenso  erkennbar  wie  die  in  der  Seele  unserer 
Mitmenschen.  Wenn  ein  Hund  mit  lautem  Bellen  schweifwedelnd 
und  sonst  unter  allen  Zeichen  innerer  Freude  an  seinem  Herrn,  von 
dem  er  abgekommen  und  den  er  lange  vergeblich  gesucht  hat,  in 
die  Höhe  springt,  ihn  förmlich  liebkost,  wenn  ein  Fohlen,  aus  der 
Stallhaft  befreit,  auf  freiem  Wiesenplane  sich  laut  wiehernd  in  tollsten 
Sprüngen  ergeht,  dann  können  wir  mit  voller  Sicherheit  annehmen, 
daß  sich  in  der  Seele  dieser  Tiere  ganz  ähnliche  Gefühle  abspielen, 
wie  die,  wenn  wir  in  unserer  Seele  Freude  empfinden.  Freilich  wird 
die  p  r  a  k  t  i  s  c  h  e  Möglichkeit,  innere  Vorgänge  beim  Tiere  zu 
erkennen,  dadurch  erheblich  abgeschwächt,  daß  dem  Tier  das  Mittel 
versagt  ist,  das,  wie  wir  gesehen  haben,  beim  Menschen  die  Über- 
mittlung der  Vorstellungen  und  Gefühle  an  Andere  in  geradezu  un- 
übertrefflicher Weise  ermöglichte:  die  artikulierte  Sprache,  und  ferner 
dadurch,  daß  die  Hervorbringung  von  Ausdrucksbewegungen  bei 
den  Tieren  um  so  mehr  zurücktritt  und  demzufolge  die  Möglichkeit 
des  Erkennens  innerer  Vorgänge  bei  ihm  um  so  stärker  gemindert 
wird,  je  weiter  die  Tiere  in  ihrer  geistigen  Organisation  herabsteigen, 
um  schließlich  bei  den  niedrigst  organisierten  Tieren  fast  ganz  auf- 
zuhören. 

Ebenso  bewährl  sich  unser  Grundsatz  schließlich  aber  auch 
bei  den  Pflanzen.  Käme  uns  das  rein  vegetative  Leben,  das  wir 
mit  den  Pflanzen  und  den  Tieren  gemein  haben,  und  das  sich  auch  bei 
uns  in  Gestalt  von  physiologischen  Vorgängen  vollzieht,  ebenso  zum 
Bewußtsein  wie  unser  Vernunftleben  und  unser  animalisches  Leben. 
dann  würden  wir  auch  das  vegetative  Leben  bei  dvu  Pflanzen  seinen 
inneren  Zusammenhängen   und  seinem   Wesen   nach   verstehen.      Da 

3* 


$6  H.  G.  Opitz, 

diese  Voraussetzung  aber  nicht  zutrifft  und  mithin  jede  Möglichkeit 
der  Übertragung  innerer  Vorgänge  bei  uns  auf  die  Außenwelt  aus- 
geschlossen ist,  ist  uns  auch  die  Erkenntnis  der  geistigen  Vorgänge 
bei  den  Pflanzen  gänzlich  versagt. 

Bei  der  k  ö  r  p  e  r  I  i  c  h  e  n  Außenwelt  hatten  wir  den  Vorteil, 
den  Stoff,  die  Materie  unmittelbar  mit  den  äußeren  Sinnen  wahrzu- 
nehmen und  daher  in  demselben  Maße  deutlichere  Vorstellungen 
von  ihr  zu  erhalten,  als  die  Wahrnehmungen  der  äußeren  Sinne  in 
uns  überhaupt  deutlichere  Vorstellungen  hervorrufen,  als  die  des 
inneren  Sinns.  Der  Anblick  einer  Farbe,  das  Fühlen  eines  harten 
Gegenstandes,  das  Hören  eines  Tones  erzeugt  deutlichere  Vorstellungen 
in  uns  als  das  Bewußtsein  von  der  Bildung  eines  Gedankens  oder  eines 
Gefühls.  Dafür  sind  uns  aber  auch  die  Einblicke  in  die  inneren  Zu- 
sammenhänge der  zeitlichen  Erscheinungen  bei  den  Dingen  der  körper- 
lichen Außenwelt  um  so  spärlicher  zugemessen.  Wir  haben  oben 
gesehen,  daß  wir  uns  bei  der  körperlichen  Außenwelt  vermöge  der 
Übertragung  der  Substanzeigenschaft  unseres  inneren  Ich  den  inneren 
Zusammenhang  der  räumlichen  Erscheinungen  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  zugängig  machen  konnten.  Dagegen  entfällt  bei  ihnen  die 
Möglichkeit  der  Übertragung  unserer  inneren  Vorgänge  auf  die  zeit- 
lichen Erscheinungen,  soweit  erstere  in  Vorstellen  und  Wollen  be- 
stehen, vollständig.  Bekanntlich  geht  die  Theorie  von  der  Allbeseelung, 
dem  Hylozoismus,  Panpsyehismus  hierin  vom  Gegenteile  aus.  Was 
von  den  Anhängern  dieser  Theorie  zur  Begründung  ihrer  abweichenden 
Anschauung  vorgebracht  zu  werden  pflegt,  ist  aber  und  bleibt  doch 
mehr  oder  minder  bloßes  Erzeugnis  der  Phantasie.  Gleichwohl  ist 
auch  bei  den  zeitlichen  Erscheinungen  der  körperlichen  Außenwelt 
die  Übertragung  unserer  inneren  Vorgänge,  wenn  schon  nur  in  sehr 
beschränktem  Maße  aber  doch  noch  gegeben  und  möglich.  Wäre 
dem  nicht  so,  so  würde  der  größte  und  wichtigste  Teil  der  Natur- 
wissenschaften namentlich  aber  die  Physiologie,  Physik  und  Chemie 
gänzlich  ausfallen.  Wir  müssen  aber,  um  das  Nähere  in  diesem  Punkte 
festzustellen,  unterscheiden  zwischen  der  organischen  und  der  nicht 
oiganischen  Körperwelt. 

Bei  der  organischen  Körperwelt  bezeichnen  wir  die  zeit- 
lichen Vorgänge  als  physiologische,  Das  Verständnis  für  sie  winde  für 
uns  ganz  verschlossen  bleiben,  wenn  wir  nicht  auch  zu  ihnen  auf  dem 
Umwege  über  unser  inneres  Ich  uns  einen  Zugang  verschaffen  könnten. 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  37 

Einen  solchen  Zugang  gibt  es  aber  auch  bei  ihnen,  und  zwar  insofern, 
als  wir  von  den  inneren  Vorgängen  bei  uns  den  auf  sie  übertragen 
können,   den   wir  als   ,,Z  w  eckzusa  m  in  enlia  n  g"   bezeichnen. 
Unter  den  mit   dem  Willen   zusammenhängenden   Vorgängen   beim 
Menschen    spielt    die    Zweekvorstellung    eine    der    bedeut- 
samsten Rollen.     Das  geht  schon  daraus  hervor,  daß  mit  jeder  von 
unserem   Willen  hervorgebrachten  Handlung  ein  Zweck  verbunden 
sinn  m  u  ß  ,  wobei  die  Handlung  selbst  als  Mittel  dient.    Diese  Vor- 
stellung vom  Zweck  bietet  uns  nun  auch  das  Mittel,  und  zwar  das 
einzige  Mittel,  durch  ihre  Übertragung  auf  den  inneren  Zusammen- 
hang der  zeitlichen   Erscheinungen  bei  der   Körperwelt   diesen   Zu- 
sammenhang  ebenfalls  unserem  Verständnisse  zimänoiu'  zu  machen. 
Diese  Übertragungsmöglichkeit  ergibt  sich  aber  in  allen  den  Fällen, 
wo  die  spätere  physiologische  Erscheinung  mit  der  früheren  in  solchem 
Zusammenhange  steht,  daß,  wären  beide  von  Menschen  herbeigeführt, 
die  ersteren  sich  als  das  Mittel,  die  letztere  als  der  Zweck  darstellen 
würde.    Wir  müssen  uns  also  hier  in  die  Lage  versetzen,  als  stünden 
wir  vor  einem  Menschenwerke.     Nehmen  wir  an,  wir  fänden  zufällig 
eine  Uhr,  so  würden  wir,  auch  ohne  daß  wir  von  der  Herstelluno;  der 
Uhr   durch   Menschenhand   Kenntnis  haben,   doch   mit  unbedingter 
Bestimmtheit  wissen,  daß  die  einzelnen  Teile  dieser  Uhr  zu  dem  Zwecke 
her-  und  zusammengestellt  sind,    um    den  Zeiger    auf  dem   Ziffer- 
blatt in  Bewegung  zu  setzen  und  dem  Menschen  dadurch  die  Tages- 
stunden anzuzeigen.    Das  wissen  wir  mit  unbedingter  Bestimmtheit. 
Genau  in  derselben  Weise  aber  auch  schließen  wir  daraus,  daß  in 
einem  körperlichen  Organismus  die  eine  physiologische  Erscheinung 
durch  ihre  ganze  Einrichtung  eine  andere  derartige  Erscheinunu'  erst 
bedingl  und  ermöglicht,  auf  den  weiteren  Umstand,  daß  diese  beiden 
Erscheinungen  nach  dem  Gesichtspunkte  vom  Zweckzusammenhang 
unter  einander  in  Verbindung  stehen.     Wir  schließen  es  nicht  bloß, 
sondern  wir  m  ü  s  s  e  n  es  schließen.     Denn  ohne  dies  würde  uns  die 
ganze  wunderbare  Welt  d^>  Organischen  in  ihren  inneren  Zusammen- 
hängen schlechterdings  unverständlich  und  damit  für  uns  wert-  und 
bedeutungslos    bleiben,    oder    doch    wenigstens    den    Einwirkungen 
unserseits  sich  entziehen,  deren  Ausübung  für  uns  im  Interesse  unserer 
Daseinsführung    von    höchstem     Werte    i^t.     wie    dies    beispielsweise 
bei  der  medizinischen  Wissenschaft  der  Fall  ist.    Ja  wir  sehen  es  hier 
förmlich,  wie  die  Zweekvorstellung  uns  an  der  Hand  nimmt  und  uns 


38  H.  G.  Opitz, 

zum  Verständnis  jener  Vorgänge  hinleitet,  nicht  bloß  das,  sondern 
auch  wie  sie  uns  geradezu  hinnötigt.  Und  so  ist  denn  tatsächlich  auch 
der  in  Rede  stehende  metaphysische  Vorgang  der  Übertragung  und 
Anwendung  des  Zweckgedankens  auf  die  physiologischen  Erscheinungen 
das  Fundament,  auf  dem  die  ganze  Wissenschaft  über  die  zeitlichen 
Vorgänge  in  den  Körpern  der  Lebewesen:  die  Physiologie  aufgebaut 
ist,  und  die  allen  ihren  Untersuchungen  die  Richtung  gibt. 

Kommen  wir  nun  schließlich  zu  der  n  i  c  h  t  o  r  g  a  n  i  s  c  h  e  n 
Körperwelt,  so  versagt  auch  hier  die  Möglichkeit  der  Übertragung 
innerer  Vorgänge  auf  die  Außenwelt  und  damit  die  Erschließung 
ihres  Verständnisses  wenigstens  nicht  vollständig.  Allerdings  aber 
müssen  wir  hierbei  auf  der  Skala  dieser  Übertragbarkeit  bis  auf  die 
unterste  Stufe  herabsteigen.  Konnten  wir  bei  unseren  Mitmenschen 
die  übertragbarkeit  der  gesamten  inneren  Vorgänge  bei  uns,  bei  den 
Tieren  wenigstens  die  Übertragbarkeit  dieser  Vorgänge  nach  Hinweg- 
denkung  dessen,  was  wir  als  Vernunft  bezeichnen,  feststellen  und 
konnten  wir  bei  den  physiologischen  Erscheinungen  der  organischen 
Körperwelt  wenigstens  noch  die  inhaltreiche  und  unendlicher  Mannig- 
faltigkeit fähige  Vorstellung  vom  Zweck  als  Schlüssel  zum  Verständnis 
verwenden,  so  bleibt  uns  zur  Erklärung  und  zum  Verständnis  der 
zeitlichen  Vorgänge  bei  der  Außenwelt  nur  noch  die  Übertragung 
einer  Vorstellung  übrig,  und  das  ist  die  Vorstellung  von  der  in 
uns  wirkenden  K  r  a  f  t. 

Wir  gewahren  die  ununterbrochene  Aufeinanderfolge  unzähliger 
zeitlicher  Erscheinungen  in  der  nichtorganischen  Außenwelt.  Unter 
diesen  Erscheinungen  nehmen  wir  auch  solche  wahr,  die  einander 
immer  und  überall  in  derselben  Weise  folgen.  Diese  letztere  Wahr- 
nehmung kann  uns  nun  wohl  zu  dem  Schlüsse  führen,  daß  die  beob- 
achtete Aufeinanderfolge  für  alle  Zeiten  dieselbe  bleiben  werde. 
Aber  damit  ist  noch  in  keiner  Weise  für  den  i  n  n  e  r  e  n  Zusammen- 
hang dieser  Erscheinungen  etwas  gefördert.  Die  gedachte  Aufein- 
anderfolge hat  in  dieser  Gestalt  vielmehr  zunächst  lediglich  den  Cha- 
rakter der  bloß  äußere  n  und  zufälligen  Aneinanderreihung 
der  Erscheinungen.  Dafür,  warum  und  aus  welchem  Grund  sich  eine 
solche  Aufeinanderfolge  vollzieht,  welches  innere  Band  zwischen  den 
betreffenden  Erscheinungen  besteht,  und  ob  die  Aufeinanderfolge  eine 
bloß  zufällige  oder  eine  notwendige  ist,  darüber  sagt  jene  bloße  Tat- 
sachenkenntnis  nicht  das  Mindeste  aus.   Da  nun  kommt  uns  wiederum 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Nicht-Ich.  39 

eine  Vorstellung  von  inneren  Vorgängen  bei  uns  selbst,  und  zwar 
diesmal  die  Vorstellung  von  der  in  uns  wirkenden  Kraft  zu  Hilfe. 
Der  Wille  unseres  inneren  Ich  vermag  auf  unser  körperliches  Ich 
in  der  Weise  einzuwirken,  daß,  wenn  er  auf  die  Herbeiführung  einer 
körperliehen  Tätigkeit  gerichtet  ist,  diese  Tätigkeit  unter  normalen 
Verhältnissen  auch  in  allen  Fällen  eintritt,  und  zwar  tritt  diese  Tätig- 
keit in  allen  Fällen  so  ein,  daß  sie  auch  in  ihrem  quantitativen  sowohl 
als  qualitativen  Auftreten  den  Richtungen  unseres  Willens  entspricht. 
Will  jemand  die  Arme  oder  die  Beine  bewegen,  so  tritt  nicht  bloß 
eine  Bewegung  gerade  dieser  Gliedmaßen  überhaupt,  sondern  sie 
tirtt  auch  in  ihren  Einzelheiten:  in  ihrer  Richtung,  ihrer  Stärke, 
ihrer  Dauer  genau  in  der  Weise  ein,  wie  sie  mit  dem  Willen  beab- 
sichtigt worden.  Oder  man  vergegenwärtige  sich  die  Tätigkeit  der 
Hände  und  Finger  beim  Klavierspielen,  wie  da  Hände  und  Finger 
den  minutiösesten  Impulsen  des  Willens  folgen,  wie  namentlich  bei 
den  Bewegungen  der  Finger  auf  den  Tasten  neben  der  sonstigen  unend- 
lichen Mannigfaltigkeit  der  Hand-  und  Fingerstellungen  die  Ent- 
fernungen häufig  nach  Millimetern  abgemessen,  wie  der  Anschlag, 
um  das  herbeizuführen,  was  man  bei  der  Musik  mit  „Phrasierung" 
bezeichnet,  überall  in  den  feinsten  Abstufungen  ausgeführt  werden 
muß.  In  solch  bis  ins  Kleinste  reichender  Weise  folgen  hier  die  äußeren 
Tätigkeiten  der  Gliedmaßen  dem  Willen.  Hierdurch  allenthalben 
aber  bildet  sich  in  uns  die  Vorstellung  von  den  inneren  Beziehungen 
unseres  Willens  zu  der  von  ihm  herbeigeführten  Tätigkeit,  und  wir 
bringen  diese  Vorstellung  auch  sprachlich  zum  besonderen  Ausdruck, 
nämlich  dadurch,  daß  wir  unseren  Willen  mit  der  Bezeichnung 
„Ursache",  die  von  ihm  erzeugte  Tätigkeit  mit  der  Bezeichnung 
„Wirkung"'  belegen,  das  betr.  Verhältnis  selbst  also  als  das  von 
„U  r  s  a  c  h  e  u  n  d  W  i  r  k  u  n  g"  bezeichnen.  „Ursache  und  Wirkung 
sind  nur  der  abstrakte  Ausdruck  für  Wille  und  Handlung"  (Vaihingen. 
Wo  wir  also  in  der  körperlichen  Außenwelt  ein  derartiges  im  voraus 
genau  zu  bestimmendes  Verhältnis  zwischen  der  vorausgehenden  und 
der  nachfolgenden  Erscheinung  antreffen,  da  übertragen  wir  die 
Vorstellung  von  drv  Kraft  auf  sie  und  bezeichnen  dieses  Verhältnis 
im  Gegensatz  zu:  „Bedingen  und  Bedingtsein" 8)  ebenfalls  als  das 
der  Ursache  und  Wirkung. 


8)  „Ursächliche  Folge  unterscheidet  sich  von  zeitlicher  Folge  auch, 
wenn  diese  vollkommen  regelmäßig  ist.  durch  die  Konstanz  der  Größe,  die 
das  Vorangehende  mit  dem  Folgenden  einheitlich  verbindet"  (Riehl). 


40  H.   G.  Opitz, 

Der  Vorteil  dieser  Erkenntnismanipulation  ist  ein  zutageliegender. 
Denn  nunmehr  bleiben  jene  Erscheinungen  für  uns  bei  aller  äußeren 
Regelmäßigkeit  ihres  Auftretens  doch  nicht  mehr  bloß  zufällige 
und  zusammenhangslose,  sondern  wir  erkennen  in  ihnen  einer  mit 
Unfehlbarkeit  wirkenden  Kraft  entsprungene,  im  Voraus  geordnete, 
unter  sich  n  o  t  w  e  n  d  i  g  v  e  r  b  u  n  d  e  n  e  Erscheinungen.  Mit 
dieser  Erkenntnis  eröffnet  sich  für  uns  nunmehr  auch  erst  die  Möglich- 
keit, jene  Kräfte  unter  einander  auch  wissenschaftlich  in  Verbindung 
zu  setzen,  sie  zu  analysieren  und  zu  klassifizieren  und  dadurch  in 
vielen  Fällen  anscheinend  ganz  verschiedene  Folgeerscheinungen 
unter  dieselben  Gesetze  zu  bringen.  Die  Wissenschaft,  die  diesem 
Zwecke  dient,  ist  die  P  h  y  s  i  k.  Wie  die  Physiologie  bei  den  Lebe- 
wesen die  nach  dem  Gesichtspunkte  des  Zweckzusammenhangs, 
so  hat  die  Physik  bei  der  toten  Natur  die  nach  dem  Gesichtspunkte 
der  Kraft  unter  sich  zusammenhängenden  Erscheinungen  zu  unter- 
suchen und  festzustellen.  Wo  sie  diesen  Zusammenhang  findet, 
bereichert  sie  nicht  bloß  unsere  Erkenntnis,  sondern  steigert  auch 
durch  deren  praktische  Verwendbarkeit,  und  zwar  bis  zu  einem 
früher  nie  geahnten  Grad  die  Möglichkeit  der  Beherrschung  der  Außen- 
welt. Und  wir  wissen,  bis  zu  welchem  Grade  namentlich  dank  der 
Naturwissenschaften  diese  Beherrschung  ihr  schon  gelungen  ist. 
Wo  der  Mensch  jenen  Zusammenhang  noch  nicht  gefunden  hat,  be- 
müht er  sich  wenigstens,  ihn  noch  aufzufinden,  und  die  Blätter  der 
Geschichte  der  Kultur  sind  voll  beschrieben  mit  den  Bestrebungen, 
die  die  Menschheit  seit  ihrem  Bestehen  auf  diesem  Gebiete  betätigt 
hat.  Jenachdem  die  Außenwelt  sich  diesen  unseren  Bestrebungen 
zugängig  erweist,  steht  sie  uns  -  -  ein  sprechender  Beweis  noch  dazu 
dafür,  wie  das  Bestehen  dieser  inneren  Verwandtschaft  sogar  auf  das 
Gemüt  zurückwirkt  —  als  vertraut,  verwandt,  heimisch,  wesens- 
gleich, im  andern  Falle  als  kalt,  unnahbar,  seelenlos,  abstoßend  gegen- 
über. 

Schlußbemerkung. 

Wir  sind  damit  am  Ende  dieses  Teils  unserer  Untersuchungen 
angekommen.  Überblicken  wir  das  Vorgeführte  noch  einmal,  so  hat 
sich  aus  diesen  Darlegungen  das  Eine  mit  unumstößlicher  Gewißheit 
ergeben,  nämlich,  daß  wir  die  inneren  Zusammenhänge  der  Außen- 
welt —  die  geistige  und  körperliche  Welt  eingeschlossen  —  nicht 


Das  Ich  als  Dolmetsch  für  die  Erkenntnis  des  Xicht-Ich.  41 

unmittelbar  erkennen  können,  sondern  daß  dieses  Erkennen 
überall  bloß  möglich  ist  durch  das  Mittel  der  Übertragung 
der  inneren  Erscheinung  unseres  Ich  auf  die 
Außenwelt,  daß  somit  dieser  Teil  unseres  Erkenntnisverfahrens 
durchweg  in  nichts  anderem  und  weiteren  besteht,  als  in  der  Zurück- 
führimg der  Außenwelt  auf  unser  inneres  Ich  oder  umgekehrt  in  der 
Übertragung  unseres  inneren  Ich  auf  die  Außenwelt,  mit  andern 
Worten  in  nichts  anderem  als  in  einer  im  Wege  der  Übertragung, 
Analogisierung,  Symbolisierung,  herbeigeführten:  Ver-Ichung, 
Beseelung,  V  e  r  m  e  n  s  c  h  1  i  c  h  u  n  g  ,  Anthropomor- 
phosierung  der  Außenwelt  nach  dem  Grundsatze  Augustins : 
„Gleiches  kann  nur  mit  Gleichem  erkannt  werden."9)  Das  ist  das 
große  Schlußergebnis  aller  auf  diesem  Gebiete  anzustellenden  Unter- 
suchungen. Mit  Recht  sagt  Kirchner:  „Der  Mensch  anthropomor- 
phosiert,  indem  er  begreift,"  wie  man  auch  Wundt  zustimmen  muß, 
wenn  er  in  trefflicher  Weise  ausführt:  „Der  kosmische  Organismus 
ist  nur  die  äußere  Hülle,  hinter  der  sich  ein  geistiges  Schaffen,  ein 
Streben,  Fühlen  und  Empfinden  verbirgt,  dem  gleichend,  das  wir  in 
uns  selbst  erleben.     Die  Natur  ist  die  Vorstufe  des  Geistes." 

Mit  alledem  aber  kommen  wir  zu  dem  gewiß  manchem  über- 
raschenden Ergebnis,  daß  im  Grunde  und  an  sich  nur  die  äußeren  Sinne 
für  die  Erkennung  der  Außenwelt  eingerichtet,  nur  sie  zur  Vermittlung 
der  Erkenntnis  von  ihr  geeignet  sind,  daß  .dagegen,  wenn  wir  über 
die  Wahrnehmungen  der  Sinne  hinaus  noch  von  den  inneren  Zusammen- 
hängen der  Außenwelt  etwas  zu  erkennen  glauben,  wir  in  diesen 
Zusammenhängen  in  Wirklichkeit  nicht  die  Zusammenhänge  der 
Außenwelt,  sondern  nur  die  unseres  inneren  Ich  wiedererkennen,  die 
wir  in  die  Außenwelt  hineintragen.  In  welchen  Abgrund  von  selt- 
samsten Möglichkeiten  aber  läßt  und  diese  Erkenntnis  blicken!  Ist, 
so  fragen  wir  uns  unter  solchen  Umständen,  die  Außenwelt  nur  das, 
was  wir  auf  diesem  ihr  wesensfremden  Wege  von  uns  auf  sie  über- 
tragen? Oder  spielen  sich  in  der  Außenwelt  in  Wirklichkeit  ganz 
andere  Vorgänge  ;il),  als  die,  die  wir  auf  Grund  solch  bloß  mittelbarer 


9)  Nur  was  wir  d  urch  Analogie  mitunsselber  zu  verstehen 
vermögen,  nur  das  können  wir  überhaupt  von  der  Veit  verstehen"  (v.  Hait- 
mann).  „Je  mehr  dem  Menschen  gewiß  wird,  alle  Dinge  geistig  ur.d  wissen- 
schaftlich durch  seine  eigene  Organisation  zu  sehen,  desto 
mehr  muß  ihm  alles  Sinnliche  von  geistiger  Kraft  getragen  erscheinen"  (Eucki  n). 


42  H.  G.  Opitz, 

Erkenntnis  annehmen  zu  dürfen  glauben?  Vorgänge,  die  nur  einem 
ganz  andern  geistigen  Auge  als  dem  unseren  erkennbar  sind,  dem 
unsrigen  aber  in  Ewigkeit  verschlossen  bleiben  werden?  Oder  ist  diese 
Außenwelt  ein  Wesen  wie  wir  selbst,  ist  sie  ein  großer  beseelter  Organis- 
mus, der  in  das  steinere  Kleid  seiner  Weltkörper  gekleidet,  ein  dem 
unsrigen  ähnliches  Leben  lebt,  seine  eigenen  Gefühlsregungen  hat, 
seine  eigene  Sprache  spricht,  eine  Sprache,  deren  Laute  der  Sturm 
und  der  Donner,  deren  Gesang  die  Sphärenmusik  ist,  nur  daß  uns  zum 
Verständnis  jener  Sprache  der  Schlüssel  der  Grammatik,  zum  Ver- 
ständnis dieser  Musik  der  Schlüssel  des  Kontrapunkts  fehlt?  Tief- 
erschauernd und  im  niederdrückenden  Gefühl  unserer  völligen  geistigen 
Ohnmacht  stehen  wir  vor  diesen  Möglichkeiten.  Wir  möchte  sie 
ergründen  ? 

Kehren  wir  aber  zur  Sache  selbst  zurück,  so  wird  man  aus  dem 
Obigen  unschwer  erkennen,  daß  in  dem  geschilderten  Hergang  und 
Wesen  des  Erkennens  der  Außenwelt,  den  dargestellten  metaphysischen 
Grundlagen  unseres  Erkenntnis  Verfahrens  auch  der  Ursprung  der  von 
Kant  aufgestellten  Lehre  von  den  Illusionen  und  „heuristi- 
schen F  i  k  t  i  o  n  e  n",  also  von  dem  „Als-  0  b"  zu  finden  ist, 
dem  Vaihinger  sein  obengedachtes  Werk  gewidmet  hat.  Nur  freilich 
wird  aus  den  obigen  Untersuchungen  Kant  gegenüber  gleichzeitig 
auch  klar  geworden  sein,  wie  recht  Vaihinger  hat,  wenn  er  davon  aus- 
geht, daß  das,  was  Kant  als  „Illusionen"  oder  „heuristische  Fiktionen" 
bezeichnet,  nicht  bloß  den  von  Kant  zu  den  „Ideen"  gerechneten 
Gottesvorstellungen,  sondern  auch  unserem  gesamten  Natur- 
erkennen und  damit  selbst  den  Naturwissenschaften 
zugrunde  liegt.  Welch  bedeutende  Fernsicht  sich  aber  durch  diese 
Erkenntnis  auf  die  Beurteilung  der  Frage  eröffnet,  welcher  Wirk- 
lichkeitsgehalt jenen,  den  Gottesvorstellungen,  im  Gegensatze  zu 
diesen,  den  naturwissenschaftlichen  Vorstellungen,  zukommt,  und 
wie  auf  der  mit  dem  Obigen  gewonnenen  Basis  die  gesamte  Philosophie 
erst  ihr  bestimmtes  Gepräge  und  eine  ebenso  sichere  als  sonst  taug- 
liche Grundlage  für  den  Aufbau  inbesondere  auch  der  Metaphysik 
erhält,  das  dürfte  ohne  weiteres  und  schon  hier  einleuchten,  soll  aber 
in  seinen  Einzelheiten  für  die  Ausführungen  in  einer  weiteren  Abhand- 
lung vorbehalten  bleiben. 


Druck  von  Leonhard  Simion  Nf.  in  Berlin  SW.  48. 


Archiv  für  Philosophie 

Herausgegeben  von  Ludwig  Stein 

Beilage 

zu  Heft  4  des  Archivs  für  Geschichte  der  Philosophie,  Band  XXVI 

3 

1  —  D  C£»5i  D  II 


Die 


w 


Wissenschaft  Demokrits 


und  ihr  Einfluß  auf  die  moderne  Naturwissenschaft. 


Von 

Dr.  Louis  Lö 

herausgegeben  von 

Leopold  Löwenheim. 


H- 


BERLIN 

SW48,  Wilhelmstraße  121 

Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  N  f. 

1913 

Dieses  Heft  wird  den  Abonnenten  des  Archivs  für  Geschichte  der  Philnsnnhis 


Einleitun  g. 


Die  Grenzscheide  zwischen  Mittelalter  und  Neuzeit  wird  bezeichnet 
nicht  durch  die  Reformation,  welche  auf  Länder,  wie  Italien  und 
Frankreich,  die  für  die  Entwicklung  der  neuen  Ideen  bahnbrechend 
gewesen  sind,  gar  keinen  tiefer  gehenden  Einfluß  gehabt  hat,  sondern 
durch  die  Vernichtung  der  mittelalterliehen  Weltanschauung,  welche 
in  ihren  beiden  Formen,  Scholastik  und  Mystik,  als  die  Verknüpfung 
des  Christentums  mit  der  Aristotelischen  Philosophie  charakterisiert 
werden  kann.  Dieser  Umschwung  in  den  Anschauungen  der  Völker 
hat  sich  zwar  während  des  ganzen  16.  Jahrhunderts  vorbereitet, 
aber  die  Stimmen,  welche  sich  im  16.  Jahrhundert  gegen  Aristoteles 
erhoben,  vermochten  seine  Autorität  nur  zu  erschüttern,  nicht  zu 
brechen.  Vollbracht  wurde  der  Umschwung  durch  einen  einzigen 
Mann,  welcher  das  System  des  Aristoteles,  nachdem  es  fast  zwei  Jahr- 
tausende die  Welt  beherrscht  hatte,  mit  starker  Hand  zertrümmert 
und  sii  für  immer  beseitigt  hat.  Dieser  Mann  ist  Galileo  Galilei,  denn 
I  ialilei  ist  nicht  nur  der  Vater  der  Physik  und  der  gesamten  modernen 
Na  t  n r Wissenschaft1),  sondern  auch  der  Vater  der  neueren  Philosophie2 ), 
deren  erste   Vertreter,   Baco  v.   Verulam,  der  um  die  Verbreitung 


1)  Ebensowenig  wie  in  Baco  v.  Verulam  vermag  ich  in  Leonardo  da 
Vinci,  obwohl  er  nicht  nur  in  der  Kunst,  sondern  auch  in  der  Wissenschaft 
ungleich  bedeutender  ist  als  Baco,  den  Vater  der  modernen  Naturwissen- 
schaft zu  erblicken.  Wenn  er  auch  hinsichtlich  verschiedener  Einzelheiten 
einen  Fortschritt  ^.bracht  hat,  so  ließ  er  doch  die  allgemeinen  Prinzipien 
unberührt.  Denn  weder  die  Behauptung,  da  Li  er  das  Beharrungsgesetz  ver- 
kündet, noch  daß  er  das  allgemeine  ( Iravitationsgesetz  ausgesprochen  habe, 
ist  richtig. 

-)  Vgl.  TÖnnies,  Anmerkungen  über  die  Philosophie  des  llohhes;  Viertel- 
jahresschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  III,  Leipzig  IST!»,  p.  4öö  und 
Natorp,  Philosophische  Monatshefte  Will.  Heidelberg  L882,  p.  224, 

Archiv  für  -\  stematiscliu  Philosophie  (Beilageheit).  1 


2  Louis   Löwen  heim, 

naturwissenschaftlichen  Denkens  hochverdiente  Schriftsteller  Pierre 
Gassendi  und  der  scharfsinnige  und  konsequente  Denker  Thomas 
Hobbcs  durchaus  von  Galilei  abhängig  sind. 

Was  zunächst  Baco  anbetrifft,  so  findet  sich  in  einem  an  ihn 
gerichteten  Brief  folgende  Stelle  (der  Brief  ist  abgedruckt  bei  Libri, 
Histoire  des  Sciences  mathematiques  IV,  Halle  1865,  p.  466):  „Es 
wird  Eurer  Lordschaft  lieb  sein,  daß  dieser  Tage  ein  gewisser  Herr 
Richard  White  mit  mir  zusammen  war,  welcher  sich  einige  Zeit  in 
Florenz  aufgehalten  hat  und  jetzt  nach  England  gegangen  ist  ...  . 
Dieser  Herr  White  ist  ein  verschwiegener  und  verständiger  Ehren- 
mann, obgleich  er  ein  wenig  gutmütig,  um  nicht  zu  sagen  dumm, 
zu  sein  scheint;  und  er  hat  in  seinen  Händen  alle  Werke,  wie  ich 
annehme,  von  Galilei,  gedruckte  und  ungedruckte.  Er  hat  seine  Ab- 
handlung über  Ebbe  und  Flut,  welche  niemals  gedruckt  wurde,  ebenso, 
wie  seine  Abhandlung  über  die  Legierung  von  Metallen.  Die  gedruckten 
Werke,  welche  sich  in  seiner  Hand  befinden,  sind  folgende:  Der 
Nuncius  sidereus,  die  Sonnenflecken  und  drittens  die  Abhandlung 
über  die  schwimmenden  Korper,  entstanden  bei  Gelegenheit  einer 
Disputation  unter  den  Gelehrten  in  Florenz  über  das,  was  Archimedes 
über  die  schwimmenden  Körper  geschrieben  hat.  Ich  habe  mir  ge- 
dacht, daß  es  Eurer  Lordschaft  nicht  unangenehm  sein  würde,  diese 
Abhandlungen  des  Mannes  zu  sehen."  Dieser  Brief  ist  datiert  vom 
April  1619,  und  im  Jahre  1620  erschien  Bacos  Novum  Organum. 
Vor  diesem  Werke  hat  aber  Baco  keine  philosophischen  Schriften 
veröffentlicht,  mit  einziger  Ausnahme  des  wenig  bedeutenden  Essays 
on  the  proficience  and  avancement  of  learning,  den  er  nach  dem  Er- 
scheinen des  Novum  Organum  zu  seiner  Abhandlung  De  dignitate  et 
augmentis  scientiarum  umarbeitete. 

Die  Erneuerung  der  antiken  Atomistik,  welche  den  Haupt- 
ruhmestitel Gassendis  bildet,  ist  in  Wahrheit  das  Werk  Galileis, 
wie  aus  folgender  Stelle  einer  im  Jahre  1612  erschienenen  Abhandlung 
Galileis  hervorgehen  dürfte:  „Wenn  wir  uns  zu  einer  andern  Be- 
trachtung der  Natur  des  Wassers  und  der  übrigen  Flüssigkeiten 
bequemen  würden,  so  würden  wir  vielleicht  bemerken,  daß  die  Kon- 
stitution ihrer  Teile  derart  ist,  daß  sie  nicht  allein  der  Teilung  nicht 
widerstrebt,  sondern  daß  gar  nichts  da  ist,  was  zu  teilen  wäre,  so 
daß  der  Widerstand,  den  man  bemerkt,  wenn  man  sich  im  Wasser 
bewegt,  ähnlich  demjenigen  wäre,  welchen  wir  empfinden,  wenn  wir 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  3 

durch  eine  große  Menge  von  Personen  vorwärts  gehen,  wo  wir  uns 
gehindert    fühlen,    nicht    infolge    der    Schwierigkeit, 
welche  wir  bei  der  Teilung  haben,  d  a  j  a  n  i  e  m  a  n  d 
von     denen    geteilt     wird,     aus     denen     sich     die 
M  enge   z  u  s  a  m  m  e  n  s  e  t  z  t ,    s  0  n  d  e  r  n    n  u  r   dabei,   d  i  e 
Personen    zur    Seite    zu    schieben,    welche    s  c  h  o n 
geteilt    und    nicht    verbunden    s  i  n  d.        Und    ebenso 
empfinden  wir  Widerstand,  wenn  wir  ein  Holz  in  einen  Sandberg 
treibe»,  nicht  weil  irgend  ein  Teil  des  Sandes  zu  teilen  wäre,  sondern 
nur  wegzuschieben.    Es  gibt  aber  zwei  Arten,  die  Korper  zu  durch- 
dringen, eine  bei  denjenigen,  deren  Teile  kontinuierlich  wären  —  und 
hier  scheint  die  Teilung  notwendig  zu  sein  — ,  die  andere  bei  einem 
Aggregate  von  Teilen,  welche  nicht  kontinuierlich,  sondern  nur  be- 
nachbart sind;  und  hier  ist  es  nicht  nötig  zu  teilen,  sondern  nur  zu  be- 
wegen.    Nun  bin  ich  nicht  schlüssig,  ob  das  Wasser  und  die  andern 
Flüssigkeiten  angesehen  werden  müssen  als  kontinuierliche  oder  nur 
als  benachbarte  Teile.    Ich    bin    aber    geneigt,    eher    zu 
glauben,    daß    es    benachbarte    Teile    sind...., 
und  dazu  führt  mich  der  Umstand,  daß  ich  einen  großen  Unterschied 
wahrnehme   zwischen   dem   Zusammenhang   der   Teile   eines  harten 
Körpers  und  dem  Zusammenhang  derselben  Teile,  wenn  eben  derselbe 
Körper  flüssig  und  fließend  gemacht  ist.    Denn  wenn  ich  z.  B.  eine 
Quantität  Silber  oder  ein  anderes  hartes  und  kaltes  Metall  nehme, 
so  werde  ich  bei  der  Teilung  desselben  in  zwei  Teile  nicht  allein  den 
Widerstand  fühlen,  den  man  fühlen  würde,  wenn  man  sie  nur  bewegte, 
sondern  noch  einen  andern  unvergleichlich  größeren,  welcher  von  der 
wie  immer  gearteten  Kraft  abhängt,  welche  sie  zusammenhält.    Und 
wenn  wir  so  die  besagten  beiden  Teile  wieder  in  zwei  neue  teilen  wollen, 
und  so  immer  weiter,  so  werden  wir  fortwährend  ähnliche  Widerstände 
finden,  die  aber  immer  geringer  werden,  je  kleiner  die  zu  trennenden 
Teile  sind.    Wenn  wir  aber  schließlich  bei  der  Anwendung  der  feinsten 
und  schärfsten   Instrumente,   wie  der  sehr  zarten  und  feinen  Teile 
des  Feuers,  es   vielleicht  in  seine  Letzten   und   kleinsten 
Teilchen  auflösen,  so  wird  in  diesen  nicht  allein  kein  der 
Teilung    entgegengesetzter    Widerstand    mein-    sein,    sondern    auch 
n  i.c  h  t  das  V  e  r  m  ö  g  e  n  ,  w  e  i  t  e  r  g  e  t  e  i  1 1  z  u   w  o  r  d  e  n." 
(Le  Opere  di  Galileo  Galilei,  herausgegeben  von  Alberi,  Florenz  L842 
bis  1865,  K)  Bde.;  XII.  p.  57—58.)    Nicht  nur  der  Gedanke,  sondern 

l* 


4  L  o  u  i  s   L  ö  w  e  n  h  e  i  m  ,  . 

selbst  der  Vergleich  der  Atome  mit  menschlichen  Individuen,  die  sich 
in  einem  Gedränge  befinden,  rührt  von  Demokrit  her;  vgl.  p.  38. 
Dieselbe  Anschauung  wie  in  der  zitierten  Stelle  finden  wir  wieder  in 
einer  20  Jahre  später  erschienenen  Schrift  Galileis,  worin  es  heißt: 
„Ich  habe  mich  nicht  recht  mit  dieser  substantiellen  Veränderung 
befreunden  können,  ....  wodurch  eine  Materie  dergestalt  verändert 
werden  soll,  daß  man  notwendig  sagen  muß,  daß  jene  vollständig 
zerstört  sei,  indem  nichts  von  ihrem  ursprünglichen  Sein  zurückbleibt, 
und  daß  ein  anderer  von  jener  durchaus  verschiedener  Körper  ent- 
standen sei ;  und  wenn  ich  mir  einen  Körper  in  einer  gewissen  Erschei- 
nung und  kurze  Zeit  darauf  in  einer  andern  sehr  verschiedenen  Er- 
scheinung vorstelle,  so  halte  ich  es  nicht  für  unmöglich,  daß  dies  aus 
einer  einfachen  Umlagerung  seiner  Teile  sich  ergeben  kann,  ohne  daß 
etwas  zerstört  oder  von  neuem  erzeugt  wird."  (Opere  I  p.  47.)  Die 
von  Laßwitz  in  einem  Aufsatz  der  Vierteljahrsschrift  für  wissen- 
schaftliche Philosophie  (Bd.  XII  und  XIII),  sowie  in  seinem  größeren 
Werke  (Laßwitz,  Geschichte  der  Atomistik  vom  Mittelalter  Ins  Newton, 
Hamburg  und  Leipzig  1890,  IL  Bd.  p.  40—55)  vertretene  Auffassung 
von  Galileis  Ansichten  über  die  Materie  stützt  sich  lediglich  auf  eine 
Analyse  der  Discorsi,  jenes  Werkes,  welches  Galilei  am  Abend  seines 
Lebens  verfaßt  hat,  als  er  seine  Ansicht  über  die  Konstitution  der 
Materie  geändert  hatte,  während  sie  das,  was  Galilei  über  die  Kon- 
stitution der  Materie  veröffentlichte,  als  er  auf  der  Höhe  seines  Könnens 
stand,  teils  ignoriert,  wie  den  sehr  charakteristischen  Vergleich  der 
Atome  mit  den  Individuen  einer  Menschenmenge,  teils  gewaltsam 
so  interpretiert,  daß  eine  Übereinstimmung  mit  den  Discorsi  erzielt 
wird.  Aber  die  Wirkung,  welche  Galileis  Ansichten  über  die  Materie 
auf  die  wissenschaftliche  Entwicklung  der  Menschheit  ausgeübt 
haben,  beruht  nicht  auf  den  Ansichten,  welche  er  am  Ende  seines 
Lebens  vorgebracht  hat,  sondern  vielmehr  auf  denen,  welche  er  vertreten 
hatte,  als  er  in  der  Blüte  seiner  Jahre  stand.  Die  Verkennung  dieser 
Bedeutung  Galileis  führte  Laßnitz  dazu,  in  Sennert,  der  mit  seiner 
Atomistik  erst  im  Jahre  1619,  also  7  Jahre  nach  Galilei  und  höchst 
wahrscheinlich  beeinflußt  durch  Galilei  auftrat,  den  Erneuerer  der 
demokritischen  Atomistik  zu  erblicken.  (Laßwitz  a.  a.  0.  I  p.  440: 
„Dagegen  ist  er  [Sennert]  sich  wohl  bewußt,  daß  seine  Ansicht  sich 
an  die  Atomistik  Demokrits  eng  anschließt."  p.  441:  „Tu  diesen 
Ausführungen  [Sennerts]  ist  die  Korpuskulartheorie  so  bewußt  aus- 


Die  Wissenschaft   Demokrits.  5 

gesprochen,  daß  wir  vom  Jahre  1619  ab  die  Erneuerung  der  physika- 
lischen Atomistik  datieren  müssen.'") 

Was  drittens  Hobbes  anbetrifft,  so  sagt  Tönnies  a.  a.  0.  p.  459: 
„Gerade  in  jener  neuen  Wissenschaft,  durch  deren  Begründung  Galilei 
die  scholastische  Physik  überwand,  hat  auch  das  gesamte  Denken 
des  Hobbes  seine  Wurzel."  Daß  Hobbes  ein  Schüler  des  Baco  von 
Yerulam  sei,  nennt  er  eine  seltsame  und  gänzlich  unwahre  Fabel. 
Bei  Robertson  (Hobbes,  Edinburgh  and  London  1886)  p.  41 — 42  steht : 
„Die  neue  Doktrin  nahm  in  der  kürzesten  Zeit  den  Namen  Philo- 
sophie an,  weil  sie  entdeckt  war  nach  dem  Wiederaufleben  der  Literatur, 
in  welcher,  wie  es  auch  mit  Aristoteles  und  Plato  sein  mag,  jedenfalls 
andere  griechische  Philosophen,  frühere  und  spätere,  wie  Demokrit 
und  Epikur,  ihre  ganze  Theorie  der  Welt  und  der  Menschen  auf  eine 
physikalische  Betrachtung  sich  bewegender  Atome  gegründet  hatten. 
1  n  d  e  m  Geiste  einer  solchen  mechanischen 
Philosophie  oder  physikalischen  Wissenschaft 
begann  Hobbes  jetzt  zu  denke  n.  Wir  können  seinen 
Gedanken  mit  dem  des  Cartesius  vergleichen;  aber  der  Impuls 
kam  i  h  in  v  o  n  d  e  n  physikalischen  Räso  n  n  e  m  e  n  t  s 
Galileis/'  p.  20  Anm.  steht:  „Niemals  erwähnt  er  (Hobbes) 
Baco,  wie  er  Galilei,  Keppler,  Harvcy  und  andere  unter  den  ihm  vor- 
angegangenen Gründern  der  neuen  Naturphilosophie  erwähnt.'1 
p.  35 — 36:  „Auf  der  dritten  Reise  war  schließlich  die  Zeit  gekommen . 
wo  er  (Hobbes)  die  großen  wissenschaftlichen  Entdeckungen  dieser 
Generation  schätzen  und  den  Mann  verstehen  konnte,  welcher  sie 
gemacht  hatte.  Vater  Galilei  hatte  den  ersten  Anspruch  auf  seine 
Huldigung  als  der  Entdecker  der  Bewegungsgesetze  ....  Bevor 
dieses  letzte  Unglück  (Schwäche  und  Blindheit)  ihn  (Galilei)  befiel, 
muß  ihn  Hobbes  zu  Florenz  im  April  1636,  wenn  nicht  im  voran- 
gegangenen Jahre,  gesehen  haben.  Gewürdigt  einer  intimeren  Ver- 
traulichkeit mit  dem  bejahrten  Entdecker,  empfand  und  behielt  er 
immer  die  tiefste  Achtung  vor  dem  Manne,  , welcher  zuerst  die  Pforten 
der  universellen  Naturphilosophie  eröffnete".  Um  Galilei  war  eine 
Menge  aktiver  Schüler  gruppiert;  und  in  andern  Städten,  besonders 
in  Pisa,  seinem  Geburtsort,  gab  es  Leute,  welche  die  neue  physikalische 
Wissenschaft,  energisch  förderten  oder  weitere  philosophische  An- 
wendungen ihrer  Prinzipien  zu  machen  suchten,  wie  Hobbes  selbst. 
Mit  einem  der  ausgezeichnetsten  unter  diesen  letzteren,  Berigardus 


0  Louis   L  ü  w  e  n  h  c  i  m  , 

mit  Namen,  Professor  der  Philosophie  zu  Pisa,  trat  er,  wie  hachge- 
wiesen  werden  kann,  in  spezielle  Beziehungen."    Bei  Libri,  Galileo 
( ialilei ;  I  Sein  Leben  und  seine  Werke,  aus  dem  Französischen  mit 
Anmerkungen  von  Carove,  Siegen  und  Wiesbaden  1842,  p.  83  Anm. 
steht:   „Im  November  1634  wrar  er  (Galilei)  von  Bellosguardo  auf  eine 
Villa  auf  Monte  Ripaldi  im  Kirchspiel  Arcetri  gezogen,  wo  ihn  bald 
darauf  Hobbes  mit  seinem  Zögling,   dem  Grafen  von  Devonshirc, 
besuchte.   Galilei  soll  ihm  die  erste  Idee  gegeben  haben,  die  Sittenlehre 
mit  geometrischer  Art  zu  behandeln  und  sie  so  zu  mathematischer 
Gewißheit  zu  bringen."    Nach  Tönnies  (Arch.  f.  Gesch.  d.  Phil.  III, 
Berlin  1890,  p.  232)  sagt  Kästner:    „Joh.  Albert  de  Soria,  ehemaliger 
Lehrer  der  Universität  Pisa,  versichert,   Galilei  habe  dein  Hobbes 
auf    einem    Spaziergang   beim   großherzoglichen    Lustschloß    Poggio 
Imperiale  die  erste  Idee  gegeben,  die  Sittenlehre  durch  Behandlung 
nach  geometrischer  Art  zur  mathematischen  Gewißheit  zu  bringen." 
Nach  meiner  Ansicht  zeigt  die  Erkenntnistheorie  von  Hobbes  eine 
solche  Übereinstimmung  mit  der  demokritisch-galileischen  Erkenntnis- 
theorie, daß  auch  hier  eine  direkte  Einwirkung  nicht  zu  bezweifeln  ist." 
Diese   von   Galilei  beeinflußten   Philosophen  hinterließen  ihren 
Nachfolgern  die  Aufgabe,  die  von  ihnen  ausgebildete  Weltanschauung 
der  modernen  Naturwissenschaft  mit  dem  Christentum  zu  verknüpfen, 
eine  Aufgabe,  deren  verschiedene  Lösungsversuche  den  eigentlichen 
Inhalt  der  neueren  Philosophie  ausmachen,   deren  Koryphäen  von 
Gartesius  bis  Kant  einschließlich  sich  unausgesetzt  mit  dieser  Auf- 
gabe beschäftigt  haben.    Von  der  modernen  Philosophie  ist  aber  die 
moderne  Literatur,  die  moderne  Kunst  und  die  moderne  Pädagogik 
abhängig.     Und  Galilei  kann  daher  mit  vollem  Recht 
als    der    Vater    der    Neuzeit    bezeichnet    werden. 
Trotzdem  ist  mit  einziger  Ausnahme  einer  wertvollen  Abhandlung 
Wohlwills  in  der  Zeitschrift  für  Völkerpsychologie  bisher  über  Galilei 
noch  fast  gar  nichts  geschrieben  worden.     Und  doch   ist,    seitdem 
Favaro  durch  seine  im  Jahre  1884  erschienene  Schrift  Alberis  Ver- 
öffentlichung  der   Jugendschriften   Galileis   wesentlich   ergänzt  hat, 
ein  so  reiches  auf  unsern  Gegenstand  bezügliches  Material  vorhanden, 
daß  ich,  ohne  im  Besitz  von  Handschriften  zu  sein,  imstande  zu  sein 
glaube,  ein  deutliches  Bild  vom  Entwicklungsgange  Galileis  zu  geben. 
Jeder  Mensch  ist  der  Sohn  seiner  Zeit;  und  selbst  die  bedeutendsten 
änner  stehen  auf  den  Schultern  ihrer  Vorgänger.     Nur  bei  Galilei 


Die  Wissenschaft  Demokiits.  7 

scheint  es  anders  zu  sein.  Denn  nach  der  herrschenden  Auffassung 
hat  Galilei  die  vom  Altertum  überlieferte  und  während  des  ganzen 
Mittelalters  herrschende  Physik  beseitigt  und  aus  eigener  Kraft 
durch  ein  wohl  durchdachtes  System  ersetzt.  Aber  wenn  wir  uns  den 
Entwicklungsgang  Galileis  näher  ansehen,  so  finden  wir,  daß  er  selbst 
gesteht,  mehr  Jahre  auf  das  Studium  der  Philosophie  als  Monate 
auf  das  der  Mathematik  verwendet  zu  haben  (Opere  VI  p.  99),  und 
daß  sein  Schüler  Viviani  uns  mitteilt,  daß  er  sich  3 — 4  Jahre  eifrig 
mit  Philosophie  beschäftigte  und  fleißig  die  Werke  von  Aristoteles, 
von  Plato  und  anderer  antiker  Philosophen  gelesen  habe.  (Viviani, 
vita  di  Galileo  Galilei,  abgedruckt  in  den  Opere  di  Galilei,  heraus- 
gegeben von  Alberi  XV,  p.  331.)  Wenn  Viviani  glaubte,  daß  Galilei 
auch  den  Plato  gelesen  habe,  so  ist  das  freilich  ein  Irrtum,  der  sich 
dadurch  erklärt,  daß  Galilei  sich  wiederholt  anerkennend  über  Plato 
ausgesprochen  hat.  Aber  gerade  diese  Anerkennung  beruht  auf  Un- 
kenntnis dessen,  was  Plato  in  Wirklichkeit  gelehrt  hat,  und  diese  Un- 
kenntnis beweist,  daß  Galilei  ihn  nicht  gelesen  hat,  was  umso 
merkwürdiger  ist,  als  man  zu  seiner  Zeit  in  Italien  allgemein  für 
Plato  schwärmte.  Daß  er  aber  die  physikalischen  Schriften  des 
Aristoteles  genau  studiert  hat,  ist  selbstverständlich,  da  er  nicht  nur 
gegen  Aristoteles  im  allgemeinen,  sondern  gegen  ganz  bestimmte 
Stellen  seiner  Schriften  polemisiert.  Ich  behaupte  aber,  daß  er  nicht 
nur  diese  Schriften  selbst,  sondern  auch  den  sehr  umfangreichen 
Kommentar  des  Simplicius  zu  denselben  gelesen  hat.  Dies  wird  zu- 
nächst dadurch  wahrscheinlich,  daß  er  sowTohl  in  seinem  astronomi- 
schen als  auch  in  seinem  mechanischen  Hauptwerk  (Dialogo  dei 
massimi  sistemi  Tolemaico  e  Copernicano  und  Dialoghi  delle  nuovc 
scienze,  gewöhnlich  kurz  zitiert  als  Discorsi)  den  Vertreter  der 
aristotelischen  Ansichten  Simplicius  genannt  hat.  Denn  dies  hat 
seinen  Grund  nicht,  wie  seine  Feinde  behaupteten,  darin,  daß  er  die 
Anhänger  des  Aristoteles  als  Einfaltspinsel  hinstellen  wollte,  sondern 
vielmehr,  wie  er  selbst  in  Opere  I  p.  12  sagt,  darin,  daß  es  ihm  passend 
erschien,  dem  Vertreter  der  aristotelischen  Ansichten,  bei  dem  er 
eine  übertriebene  Neigung  zu  dem  Kommentator  Simplicius  voraus- 
setzte, den  Namen  des  von  ihm  so  verehrten  Schriftstellers  zu  lassen. 
Wichtiger  aber  ist,  daß  Galilei  zu  einer  Zeit,  wo  er  das  Beharrungs- 
gesetz noch  nicht  kannte,  und  überhaupt  noch  vielfach  in  aristotelischen 
Anschauungen   befangen   war,   uns   erzählt,   er  sei    unabhängig   von 


8  Louis   L  ö  w  e  n  h  c  i  m  , 

Hipparch  auf  dieselbe  Erklärung  der  Tatsachen  gekommen,  welche 
bei  schweren,  in  die  Höhe  geworfenen  Körpern  beobachtet  werden, 
wie  dieser,  und  habe  erst  2  Monate,  nachdem  er  diese  Erklärung 
gefunden,  aus  seiner  Lektüre  ersehen,  daß  Hipparch  dieselbe  Theorie 
aufgestellt  habe.  Galilei  sagt  (Favaro,  Alcuni  scritti  inediti  di  Galileo 
Galilei,  Roma  1884,  p.  109—110):  „Da  der  schwere  Körper  sich  beim 
Fall  anfangs  langsamer  bewegt,  so  ist  es  notwendig,  daß  er  im  Anfange 
seiner  Bewegung  weniger  schwer  sei  als  in  der  Mitte,  und  am  Ende  der- 
selben, da  ....  die  Schnelligkeit  und  Langsamkeit  sich  nach  der 
Schwere  und  Leichtigkeit  richtet.  Wenn  also  gefunden  ist,  wie  und 
warum  der  Körper  im  Anfang  seiner  Bewegung  weniger  schwer  ist, 
so  wird  eine  sichere  Ursache  dafür  gefunden  sein,  warum  er  lang- 
samer fällt.  Aber  die  natürliche  und  innere  Schwere  des  Körpers  ist 
sicher  nicht  vermindert,  da  weder  sein  Volumen  noch  seine  Dichtig- 
keit vermindert  ist.  Es  bleibt  also  nur  übrig,  daß  jene  Veränderung  der 

Schwere  widernatürlich  und  akzessorisch  ist Aber  jene  Schwere 

vermindert  sich  nicht  durch  die  Schwere  des  Mediums ;  denn  das  Medium 
ist  im  Anfang  der  Bewegung  dasselbe  wie  in  der  Mitte  derselben.  Es 
bleibt  also  nur  übrig,  daß  die  Schwere  des  Körpers  durch  irgendeine 
äußerliche  und  von  außen  kommende  Gewalt  vermindert  worden  ist. 
....  Aber  die  von  dem  Werfenden  mitgeteilte  Kraft  vermindert 
nicht  nur  zuweilen  die  Schwere  des  schweren  Körpers,  sondern  macht 
ihn  auch  öfter  so  leicht,  daß  er  mit  großer  Geschwindigkeit  nach  oben 
fliegt  ....  Sicher,  behaupte  ich,  ist  es  jene  von  dem  Werfenden 
mitgeteilte  Kraft,  welche  die  natürliche  Bewegung  im  Anfange  lang- 
samer macht  ....  Dazu,  daß  ein  schwerer  Körper  sich  gewaltsam 
nach  oben  bewegen  kann,  ist  eine  Kraft  notwendig,  die  größer  ist, 
als  die  widerstehende  Schwere,  sonst  könnte  die  widerstehende  Schwere 
nicht  überwunden  werden  und  folglich  der  schwere  Körper  nicht  nach 

oben  gehen Da  aber  diese  Kraft,  wie  gezeigt  ist,  kontinuierlich 

schwächer  wird,  so  wird  sie  endlich  so  vermindert  sein,  daß  sie  die 
Schwere  des  Körpers  nicht  mehr  überwindet;  und  dann  wird  sie  den 
Körper  nicht  weiter  treiben.  Aber  deswegen  wird  doch  am  Ende 
der  gewaltsamen  Bewegung  jene  mitgeteilte  Kraft  nicht  vernichtet 
sein;  sondern  sie  wird  nur  so  vermindert  sein,  daß  sie  die  Schwere 
des  Körpers  nicht  mehr  überwindet;  aber  sie  wird  jener  gleichkommen; 
und,  um  es  mit  einem  Worte  zu  sagen,  es  wird  die  nach  oben  treibende 
Kraft,  d.  h.  die  Leichtigkeit  in  dem  Körper  nicht  mehr  überwiegen; 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  0 

sondern  dieselbe  wird  der  Schwere  des  Körpers  gleich  geworden  sein; 
und  dann  wird  in  dem  letzten  Punkte  der  gewaltsamen  Bewegung 
der  Körper  weder  schwer  noch  leicht  sein.  Aber  wenn  die  mitgeteilte 
Kraft  weiter  in  ihrer  AVeise  abnimmt,  so  beginnt  die  Schwere  des 
Körpers  das  Übergewicht  zu  erlangen,  weswegen  auch  der  Körper 
sich  anschickt,  zu  fallen.  Aber  weil  im  Beginn  dieses  Fallens  noch  viel 
von  der  nach  oben  treibenden  Kraft,  d.  h.  der  Leichtigkeit  vorhanden 
ist,  so  kommt  es,  daß  die  eigene  Schwere  des  Körpers  durch  diese 
Leichtigkeit  vermindert  wird  und  folglich  die  Bewegung  im  Anfange 
langsamer  geschieht,  Und  weil  wieder  jene  äußere  Kraft  weiter  ab- 
nimmt, so  wird  die  Schwere  des  Körpers,  welche  einen  geringeren  Wider- 
stand findet,  vermehrt;  und  der  Körper  bewegt  sich  noch  schneller, 
und  dies  halte  ich  für  die  wahre  Ursache. der  Beschleunigung  der 
Bewegung.  Als  ich  mir  diese  ausgedacht  hatte  und  etwa  2  Monate 
später  las,  was  Alexander  hierüber  schreibt,  habe  ich  daraus  gesehen, 
daß  dies  auch  die  Meinung  jenes  sehr  gelehrten  Philosophen  gewesen 
ist,  der  von  einem  sehr  gelehrten  Manne  gelobt  worden  ist,  nämlich 
von  Ptolemäus,  von  dem  Hipparch  hochgeschätzt  und  in  seiner  ganzen 
eine  große  Konstruktion  enthaltenden  Schrift  durch  das  höchste 
Lob  ausgezeichnet  wird.  Dies  also  hielt  auch  Hipparch  nach  dem 
Bericht  des  Alexander  für  die  Ursache  der  Beschleunigung  der  natür- 
lichen Bewegung."  Nun  wissen  wir  aber  (Wohlwill,  Zeitschr.  f. 
Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  XV,  Berlin  1884,  p.  383 
Ins  384),  daß  die  Mitteilung  dieser  Theorie  des  Hipparch  sich  bei 
Simplicius  findet  (Simplicii  commentarius  in  IV  libros  Aristotelis  de 
caelo,  herausgegeben  von  Karsten,  Utrecht  1865,  p.  119  b— 120  a). 
Da  nun  Simplicius  seine  Mitteilungen  aus  dem  Kommentar  des 
Alexander  von  Aphrodisias  schöpft,  der  sie  seinerseits  wieder  einer  ver- 
loren gegangenen  Schrift  des  Hipparch  entnimmt,  und  da  auch  der 
Kommentar  des  Alexander  verloren  gegangen  ist,  so  kann  sie  Galilei 
nicht  wohl  wo  anders  als  bei  Simplicius  gelesen  haben.  Entscheidend 
endlich  scheint  mir  zu  sein,  daß  Galilei  bei  der  Besprechung  einer 
Aristotelesstelle  (de  coelo  IV  6,  p.  313  a)  wiederholt  von  Gold  spricht3), 

:!)  Opere  XII  p.  83:  „Er  (Aristoteles)  bringt  dann  eine  andere  Behauptung 
vor,  welche  ebenso  unrichtig  zu  sein  scheint,  nämlich  daß  einige  l)inge  wegen 
ihrer  Kleinheit  in  der  Luft  schwimmen,  wie  die  ganz  kleinen  Teilchen  von 
Erdstaub  und  die  feinen  Blätter  geschlagenen  Goldes."  p.  90:  „Ich  wende 
mich  zu  dem  Text  des  Aristoteles,  worin  er  sich  anschickt,  die  wahren  Ursachen 


10  Louis  Löwenheim, 

obgleich  in  der  Stelle  des  Aristoteles  gar  nicht  vom  Gold  die  Kcde 
ist,  wohl  aber  in  dem  Kommentar  des  Simplicius  zu  dieser  Stelle 
(Simplicius  zu  de  coelo,  ed.  Karsten,  p.  322  1)).  Galilei  hat  also  nicht 
nur  die  physikalischen  Schriften  des  Aristoteles,  sondern  auch  den 
Kommentar  des  Simplicius  zu  denselben  studiert. 

Da  nun  Aristoteles  bei  Auseinandersetzung  einer  Ansicht  be- 
kanntlich gern  die  ihr  widersprechenden  Ansichten  früherer 
Philosophen  zu  widerlegen  sucht,  und  da  Simplicius  in  solchen 
Fällen  genauere  Nachrichten  über  jene  Ansichten  der  Früheren 
zu  geben  pflegt,  so  mußte  Galilei  aus  diesem  seinem  Studium 
eine  ziemlich  genaue  Kenntnis  der  älteren  griechischen  Philosophie 
gewinnen,  während  ihm  die  nacharistotelische  Philosophie  un- 
bekannt bleiben  konnte.  Was  die  Fallgesetze  betrifft,  deren  richtige 
Aufstellung  bekanntlich  das  Hauptverdienst  Galileis  ist,  so  polemi- 
sieren hier  Aristoteles  und  Simplicius  hauptsächlich  gegen  Demokrit, 
Wenn  nun  die  Fallgesetze  des  Aristoteles  im  Gegensatz  stehen  zu 
denjenigen  Demokrits,  die  Fallgesetze  Galileis  aber,  wie  jedermann 
weiß,  im  Gegensatz  zu  denen  Aristoteles,  so  liegt  der  Gedanke  nahe, 
ob  nicht  vielleicht  die  Fallgcsetze  Galileis  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
übereinstimmen  werden  mit  denjenigen  Demokrits.  Soweit  dies  der 
Fall  ist,  müssen  wir  nach  dem  Gesagten  Galilei  als  abhängig  von 
Demokrit  betrachten. 

Die  Ansicht,  daß  der  Ursprung  der  modernen  Naturwissenschaft 
auf  einen  der  sogenannten  vorsokratischen  Philosophen  zurück- 
gehen soll,  wird  vielen  auffallend,  wenn  nicht  gar  abenteuerlich  er- 
scheinen, obgleich  diese  Ansicht  unter  den  Zeitgenossen 
Galileis  allgemein  verbreitet  war.  Selbst  Natorp, 
welcher  die  große  Ähnlichkeit  zwischen  den  Ansichten  Demokrits 
und  Galileis  richtig  erkannt  hat,  glaubte  doch  jeden  Einfluß  Demokrits 
auf  Galilei  entschieden  in  Abrede  stellen  zu  sollen  4).    Wer  übrigens 


anzugeben,  woher  es  komme,  daß  die  feinen  Platten  von  Eisen  oder  Blei 
auf  dem  Wasser  schwimmen,  und  sogar  das  Gold  selbst,  wenn  es  zu  ganz 
feinen  Blättern  verfeinert  ist,  und  die  kleinen  Staubteilchen  nicht  allein  im 
Wasser,  sondern  auch  in  der  Luft  sich  schwimmend  umhertreiben." 

4)  Natorp,  Galilei  als  Philosoph.  Philosophische  Monatshefte  XVIII, 
Heidelberg  1882,  p.  213 — 214  Die  Widerlegung  von  Natorps  Ausführungen 
findet  sich  in:  Löwenheim,  Der  Einfluß  Demokrits  auf  Galilei.  Arch.  f.  Gesch. 
d.  Philos.  VII  2,  p.  232—233. 


.Dir   Wissenschaft    I  >r krits.  11 

mit   der  griechischen  Philosophie  einigermaßen   vertraut  ist,  wird 
auch  über  die  Bedeutung  der  folgenden  Stelle  aus  einer  Jugendschrift 
Galileis  nicht  im  Zweifel  sein  (Favaro,  alcuni  scritti  inediti  di  Galilelo 
( ialilei,  Roma  1884,  p.  55):  „Wenn  also  Aristoteles  und  die  übrigen  Phi- 
losophen damit  zufrieden  wären,  als  leicht  das  anzunehmen,  was  wir 
weniger  schwer  nennen,  so  würden  auch  wir  keine  Beschwerde  dabei 
finden,  diese  Benennung   ,leicht'   zuzulassen.     Aber  da  sie  wollten, 
daß  es  auch  einen  gewissen  leichten  Körper  geben  soll,  der  dies  schlecht- 
hin wäre,  und  jeder  Schwere  entbehrte,  so  haben  wir  versucht,  diese 
Ansicht,  die  wir  als  geradezu  scheußlich  verabscheuen,  auf  jede  Weise 
und   von    Grund   aus   bis   auf   das   tz   auszurotten.     Deswegen 
w  erden     wir    hinsichtlich     dieser    Mein  u  n  g    d  e  r 
Alten,  welche  Aristoteles  vergebens  i  m  v  i  e  r  t e  n 
Buche  seiner  Schrift  ü  b  e  r  das  H  i  m  m  e  1  s  g  e  b  ä  u  d  e 
zu    widerlegen    sucht,    das    von    Aristoteles    Zu- 
r  ü  c  k  gewiesene    behaupten,    das    von    ihm    Behauptete 
aber    zurückweisen    und    in    dieser  Weise    seine    an    diesem    Orte 
folgenden  Zurückweisungen  und  Behauptungen    einer  Kritik  unter- 
werfen." 

Gewiß  wird  es  nicht  an  solchen  fehlen,  welche  für  die  Bedeutung, 
die  ich  hier  den  Gedanken  Demokrits  beimesse,  nur  ein  mitleidiges 
Lächeln  haben  werden.     Helmholtz  sagt  in  seinem  Vortrag,    „Das 
Denken  in  der  Medizin":     „Oberflächliche  Ähnlichkeiten  finden   ist 
leicht  ....  Unter  einer  großen  Zahl  solcher  Einfälle  werden  ja  auch 
wohl  einige  sein  müssen,  die  sich  schließlich  als  halb  oder  ganz  richtig 
erweisen :   es  wäre   ja  geradezu   ein   Kunststück,   i  m  m  e  r   falsch    zu 
raten.  ...    In  den  Lctterkästen  eines  Buchdruckers  liegt  alle  Weis- 
heit der  Welt  zusammen,  die  schon  gefunden  ist  und  noch  gefunden 
werden  kann:  man  müßte  nur  wissen,  wie  man  die  Lettern  zusammen-? 
zuordnen  hat.     So  sind  auch  in  dvn   Hunderten  von  Schriften  und 
Schriftchen,    die    alljährlich    erscheinen,    über   Äther,    Beschaffenheit 
der  Atome,  Theorie  der  Wahrnehmung,  ebenso  wie  über  das  Wesen 
der  asthenischen   Fieber  und  der   Karzinome  gewiß  sehen  längst  alle 
zartesten     Nüanzierungen    der    möglichen     Hypothesen    erschöpft; 
und  unter  diesen   müssen  notwendig  viele   Bruchstücke  der  richtigen 
Theorie  sein.     Wer  sie  nur  zu  linden  wüßte!     Ich  heb"  dies  hervor, 
um   Ihnen  klar  zu  machen,  daß  diese  Literatur  der  ungeprüften  und 
unbestätigten  Spekulationen  gar  keinen  Wert  für  den  Fortschritt  der 


12  -Louis  Low  e  nhei  m  , 

Wissenschaft  hat."  Es  gibt  viele  Personen,  welche  mit  Dubois-Rey- 
mond  (vgl.  seinen  Vortrag:  „Kulturgeschichte  und  Naturwissenschaft") 
der  Ansicht  sind,  daß  diese  Charakteristik  auf  alle  griechischen  Natur- 
forscher oder  wenigstens  auf  alle  der  voralexandrinischen  Zeit  sehr 
gut  paßt.  Aber  nach  meiner  Ansicht  gibt  es  zwei  Kriterien,  um  die 
echten  Forscher  von  jenen  Pseudoforschern,  welche  Helmholtz  schildert, 
zu  unterscheiden,  ein  inneres  und  ein  äußeres.  Das  innere  Kriterium 
besteht  darin,  daß  die  echten  Forscher  ihre  Ansichten  nicht  nur  aus- 
sprechen, sondern  auch  begründen,  sei  es  durch  logische  Ableitung 
aus  allgemeinen  Prinzipien,  sei  es  durch  Erfahrung  und  Experiment; 
das  äußere  besteht  darin,  daß  sie  auf  solche  Männer,  deren  wissen- 
schaftliche Bedeutung  unbestritten  ist,  maßgebenden  Einfluß  zu 
gewinnen  pflegen,  i  Ich  werde  zu  zeigen  suchen,  daß  sowohl  das  innere 
wie  das  äußere  Kriterium  dafür  spricht,  daß  den  auf  Mechanik  und 
Astronomie  bezüglichen  Ansichten  Demokrits  wissenschaftliche  Be- 
deutung zukommt  und  daß  daher  die  unter  den  Naturforschern  all- 
gemein verbreitete  Anschauung,  daß  Aristoteles  der  erste  bedeutende 
Naturforscher  gewesen  sei,  durchaus  unrichtig  ist,  daß  viel- 
mehr naturwissenschaftliches  Denken  bei 
Dcmokrit  in  einem  unvergleichlich  höherem 
Grade  zu  finden  ist  a  1  s  b  e  i  A  r  i  s  t  o  t  e  1  e  s.  Als  Beweis 
dafür,  daß  sich  in  der  letzten  Zeit  doch  ein  Wandel  der  Anschauungen 
zu  vollziehen  beginnt,  führe  ich  an,  daß  Haeckel  zwar  in  der  1870 
erschienenen  2.  Auflage  seiner  „Natürlichen  Schöpfungsgeschichte" 
p.  69  geschrieben  hat:  „Nur  einen  Mann  müssen  wir  hier  aus- 
nahmsweise hervorheben,  den  größten  und  den  einzigen  wahrhaft 
großen  Naturforscher  des  Altertums  und  des  Mittelalters,  einen  der 
erhabensten  Genien  aller  Zeiten:  Aristoteles",  daß  er  aber  diese 
Worte  in  der  1889  erschienenen  8.  Auflage  nicht  wiederholt  hat. 

Da  man  bei  dem  Namen  Galileis  zunächst  an  seinen  bekannten 
Prozeß  zu  denken  pflegt,  so  hat  man  sich  daran  gewöhnt,  das  Werk 
Galileis  als  die  Fortsetzung  desjenigen  des  Kopernikus  zu  betrachten; 
ja,  es  ist  die  Ansicht  ausgesprochen  worden,  daß  der  einzige  scharfe 
Luftzug,  der  mit  dem  Wagnis  des  Kopernikus  aus  der  Unendlichkeit 
hereingedrungen  sei,  genügt  habe,  um  das  ganze  Kartenhaus  der 
aristotelischen  Weltanschauung  umzublasen.  Hier  aber  wird  gezeigt 
werden,  daß  Galileis  Zertrümmerung  der  aristotelischen  Physik  im 
Gegensatz  zu  Kopernikus  geschah,  der  zu  seinem  Satze,  daß  nicht  die 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  13 

Erde,  sondern  der  Himmel  ruht,  durch  konsequente  Weiterbildung 
aristotelischer  Anschauungen  gelangt  war  und  von  dem  Galilei  weiter 
nichts  als  das  heliozentrische  System  angenommen  hat.     Wohl  war 
sich  Galilei  bei  seiner  Opposition  gegen  die  Ansichten  des  Aristoteles 
der    Abhängigkeit    von    einem    epochemachenden    Denker    bewußt. 
Dieser  war  aber  nicht  Kopernikus,  sondern  Demokrit,  der  bereits 
ein  Jahrhundert  vor  Aristoteles  wirkte,  und  zu  dem  zurückzukehren 
Galilei  mit  genialem  Blick  als  die  erste  Vorbedingung  für  jeden  Fort- 
schritt auf  wissenschaftlichem  Gebiete  erkannte.    Dessen  Lehre  von 
der  Unendlichkeit  des  Weltalls  war   dem  Geiste   eines  Galilei  sym- 
pathischer als  die  Annahme  des  geschlossenen  Rings,    welchen  das 
Weltsystem  sowohl  nach   Aristoteles  wie  nach   Kopernikus  bildet; 
sein  Gedanke,  daß  im  Himmel  wie  auf  Erden  alles  im  ewigen  Wechsel 
kreist,  schien  Galilei  richtiger  als  der  von  Kopernikus  festgehaltene 
Gedanke  des  Aristoteles,  daß  zwar  auf  der  unvollkommenen  Erde 
alles  vergänglich    und  im  ewigen  Wechsel  begriffen,    in    den  voll- 
kommenen Himmelsräumen  dagegen  aHes  unvergänglich  und  unab- 
änderlich sei;  seine  Lehre  von  der  Subjektivität  der  Sinnesqualitäten, 
welche   während   des   ganzen   Mittelalters   verschollen   war,   machte 
Galilei  zu  der  seinigen  und  damit  zum  Mittelpunkt  der  gesamten 
modernen  Philosophie;  und  seine  Physik,  die  an  wissenschaftlichem 
Wert  der  des  Aristoteles  weit  überlegen  ist,  gewann  auf  das  ganze 
Denken  Galileis  einen  solchen  Einfluß,  daß  dieser  geradezu  als  der 
Schüler  Demokrits  bezeichnet  werden  muß.     Wenn  wir  in  Langes 
Geschichte  des  Materialismus  die  Bemerkung  finden,  daß  bald  nach 
Baco  die  Atomistik,  und  zwar  vorläufig  in  der  Gestalt,  welche  Epikur 
ihr  gegeben,  zur  Grundlage  der  modernen  Naturwissenschaft  erhoben 
worden  sei,  so  wird  hier  dargetan  werden,  daß  durch  Galilei  bereits 
vor  Baco  die  Atomistik,  und  zwar  zunächst  in  der  Gestalt,  welche 
Demokrit   ihr  gegeben,   zur  Grundlage  der  modernen  Naturwissen- 
schaft gemacht  worden  ist.    Hingewiesen  wurde  Galilei  auf  Demokrit 
durch  Archimedes,  der  einerseits  ebenfalls  als  der  Schüler  Demokrits, 
anderseits  aber  als  der  Lehrer  Galileis  zu  betrachten  ist.    Nachdem 
Galilei   die   Schule  des  Archimedes  durchgemacht  hatte,  wandte  er 
sich  dem  Lehrer  seines  Lehrers  zu,  um  von  diesem  noch  vieles  zu 
lernen,  was  ihn  Archimedes  nicht  hatte  lehren  können.    Und  indem 
nun  Galileis  scharfer  Geist  die  Gedankenwelt  Demokrits  durch   die 
seit    den    /eilen    Demokrits    weit    Fortgeschrittene    Mathematik    ver- 


14  L  o  u  i  s   L  ö  \v  e  n  h  e  i  m  , 

tiefte,  konnte  er  zu  Anschauungen  gelangen,  welche  seinem  Zeitalter 
völlig  fremd  waren  und  eine  neue  Zeit  inaugurierten. 

Der  Beweis  dieser  Behauptungen  bildet  den  Inhalt  meines  Werkes, 
von  dem  sich  aber  zwei  Dritteile  ausschließlich  mit  Demokrit  und 
seinem  Einfluß  auf  das  Altertum  beschäftigen.  Daß  alle  bisherigen 
Darstellungen  der  griechischen  Philosophie  Plato  und  Aristoteles 
in  einseitiger  Weise  hervorheben,  liegt  an  der  Beschaffenheit  unserer 
Quellen,  welche  bisher,  wie  mir  scheint,  von  naturwissenschaftlicher 
Seite  ebensowenig  wie  von  philologisch-philosophischer  Seite  mit  der 
nötigen  Kritik  betrachtet  worden  sind.  Wenn  der  Engländer  Grotc 
zuerst  erkannt  hat,  daß  alle  aus  dem  Altertum  auf  uns  gekommenen 
Darstellungen  der  politischen  Geschichte  Griechenlands  von 
einem  einzigen  Parteistandpunkt  aus  geschrieben  sind,  daß  wir  also, 
wenn  wir  uns  ein  objektives  Bild  von  der  politischen  Ent- 
wicklung der  Griechen  machen  wollen,  nicht  mit  den  Augen  der 
Thucydides  und  Xenophon  sehen  dürfen,  so  muß  dieser  wichtige 
Fortschritt  nach  meiner  Ansicht  durch  die  weitere  Erkenntnis  er- 
gänzt werden,  daß  auch  die  auf  uns  gekommenen  antiken  Dar- 
stellungen der  griechischen  Philosophie  fast  alle  von  dem- 
selben Parteistandpunkt  aus  geschrieben  sind,  daß  wir  also,  wenn 
wir  uns  ein  objektives  Bild  von  der  Entwicklung  des  griechischen 
Denkens  machen  wollen,  nicht  mit  den  Augen  des  Plato  und 
Aristoteles  und  ihrer  Kommentatoren  sehen  dürfen.  Tun  wir  dies 
nicht,  so  werden  wir  der  allgemein  verbreiteten  Meinung,  daß  Plato 
und  Aristoteles  die  bedeutendsten  Denker  des  Altertums  gewesen 
seien  und  stets  dafür  gegolten  haben,  in  keiner  Weise  zustimmen 
können.  Vielmehr  wird  hier  gezeigt  werden,  daß  Demokrit,  der  Haupt- 
vertreter der  im  besten  Sinne  des  Wortes  fortschrittlichen  Wissen- 
schaft des  5.  Jahrhunderts,  nicht  nur  verdient,  über  Plato  und 
Aristoteles  gestellt  zu  werden,  wie  bereits  der  geistreiche  Verfasser 
der  Geschichte  des  Materialismus  angedeutet  hat,  sondern  auch  fak- 
tisch von  den  Griechen  über  jene  beiden  Vertreter  der  nach  dem 
unglücklichen  Ausgang  des  peloponesischen  Krieges  eingetretenen 
Reaktionszeit  gestellt  worden  ist,  und  daß  erst  durch  die  Körner 
die  entgegengesetzte  Anschauung  aufkam,  welche  dann  auf  das  Mittel- 
alter übergegangen  ist,  so  daß  der  oberflächliche  Aristoteles,  dem 
für  die  großen  Errungenschaften  Demokrits  alles  Verständnis  fehlte, 
und  der  daher  gar  nicht  imstande  war,  die  vorangegangene  Wissen- 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  15 

schaft  der  Griechen  auch  nur  zusammenzufassen,  geschweige  denn 
weiterzuführen,  im  Mittelalter  als  „der  Meister  derer,  die  da  wissen"  ge- 
feiert werden  konnte,  ein  deutliches  Zeichen,  wie  weit  die  mittelalter- 
liche Wissenschaft  im  Vergleich  zur  griechischen  zurückgegangen 
war.  Nachdem  dann  in  den  beiden  ersten  Bänden  dargetan  ist,  daß 
Demokrit  der  Hauptvertreter  der  antiken  Wissenschaft  ist,  Plato  und 
Aristoteles  dagegen  auf  die  Entwicklung  der  Wissenschaft  lediglich 
einen  hemmenden  Einfluß  gehabt  haben,  wird  dann  im  dritten  Baude 
weiter  gezeigt  werden,  wie  die  römisch-mittelalterliche  Anschauung 
von  der  Bedeutung  des  Aristoteles  im  17.  Jahrhundert  durch  Galilei 
zerstört  worden  ist,  der  unter  Beseitigung  der  Philosophie  des  Aristo- 
teles, welche  den  Fortschritt  der  Menschheit  solange  aufgehalten 
hatte,  sowohl  die  moderne  Naturwissenschaft  wie  die  moderne  Philo- 
sophie auf  der  Grundlage  aufbaute,  welche  einst  Demokrit,  der  größte 
Denker  des  Altertums,  gelegt  hatte;  und  vielleicht  wird  dieser  Teil 
meines  Werkes  auf  unsere  Schätzung  der  griechischen  Philosophie 
und  auf  unsere  Ansichten  über  die  Stellung,  welche  derselben  in  der 
Gesamtentwicklung  der  menschlichen  Kultur  zukommt,  nicht  ohne 
Einfluß  bleiben.  In  den  Schlußbetrachtungen  endlich  wird  gezeigt 
werden,  wie,  nachdem  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  die  Kämpfe 
des  17.  allmählich  in  Vergessenheit  geraten  waren,  im  19.  Jahrhundert, 
im  Zeitalter  der  Romantik,  im  Anschluß  an  die  römisch-mittelalter- 
liche Anschauung  die  unhistorische  Ansicht  sich  Geltung  verschaffte, 
daß  Demokrit  für  die  wissenschaftliche  Entwicklung  ohne  alle  Be- 
deutung gewesen  sei,  Plato  und  Aristoteles  aber  für  ihre  Zeit  von 
epochemachender  Bedeutung,  welche  nicht  dadurch  beeinträchtigt 
werden  könne  daß  ihre  Anschauungen  nicht  mit  denjenigen  An- 
schauungen übereinstimmen,  welche  die  moderne  Zeit  aus  eigener 
Kraft  geschaffen  habe.  Die  Urheber  dieser  Anschauungsweise  sind 
Schleiermacher  und  Hegel,  deren  Ansichten,  wenn  sie  auch  auf  allen 
Übrigen  Gebieten  überwunden  sind,  doch  in  der  allgemein  ange- 
nommenen Auffassung  der  Geschichte  der  Philosophie  noch  heut»1 
nachwirken.  Emanzipieren  wir  uns  auch  auf  diesem  Gebiete  von 
jener  Richtung,  welche  man  häufig  euphemistisch  als  Idealismus, 
richtiger  aber  als  Romantik  bezeichnet,  so  zeigt  sich,  daß  das  moderne 
Denken,  weil  davon  entfernt  mit  einer  Negation  der  griechischen 
Philosophie  zu  beginnen,  vielmehr  mit  einer  engen  Anlehnung  an 
die  griechische   Philosophie   begonnen   hat.      Denn   die  erste   Tat    der 


\Q  Louis   Löwen  heim, 

modernen  Philosophie  besteht  darin,   von  den  beiden   Richtungen 
des  antiken  Denkens  diejenige  zu  verwerfen,  welche  bei  den  Römern 
und  während  des  Mittelalters  die  herrschende  war,  um  zu  derjenigen 
zurückzukehren,  welche  bei  den  Griechen  die  herrschende  gewesen  ist. 
Somit   erscheint   der   Beginn   der  modernen  Philosophie,   an  deren 
Spitze  nicht  Baco,  sondern  Galilei  steht,  als  die  Krönung  des  Gebäudes 
der  Renaissance.    Denn  die  Renaissance,  welche  mit  einer  Vertiefung 
in  die  Gedankenwelt  der  Alten  begann,  hat  dazu  geführt,  von  den 
Römern,  deren  Kultur  die  germanischen  und  romanischen  Völker 
im  Laufe  des  Mittelalters  angenommen  hatten,  zurückzukehren  zu 
den  Lehrmeistern  der  Römer,  den  Griechen.     Und  in  diesem  Sinne 
kann  die  Renaissancezeit  als  die  Grenzscheide  zwischen  Mittelalter 
und  Neuzeit  angesehen  werden,  jener  beiden  auf  das  Altertum  folgen- 
den Perioden,   welche  man  seit  der   Renaissancezeit  immer  unter- 
schieden hat,   deren   Unterscheidung   aber   die  heutigen   Historiker 
(im  Anschluß  an  Rankes  Weltgeschichte,  welche  dieselbe  nicht  kennt) 
aufzugeben  im  Begriff  sind,  meiner  Ansicht  nach  mit  Unrecht.    Denn 
der  wesentliche   Unterschied   zwischen   diesen   beiden   wohl   unter- 
schiedenen Perioden  besteht  darin,  daß  alle  Gedanken  des  Mittel- 
alters auf  den  Anschauungen  der  römischen  Welt  aufgebaut  sind, 
während  alle  Errungenschaften  der  Neuzeit  auf  der  von  den  Griechen 
gelegten  Grundlage  beruhen.    Auf  geistigem  Gebiete  ist  also  der  Be- 
ginn der  Neuzeit,  wenn  sie  auch  nicht  mit  einer  solchen  politischen 
Umwälzung  anhebt  wie  das  Mittelalter,  doch  von  einschneidender 
Bedeutung  gewesen  als  der  Beginn  des  Mittelalters.   Denn  in  geistiger 
Beziehung  bildet  die  Zeit  der  Römerherrschaft  und  das  Mittelalter 
eine    zusammenhängende    Periode,    welche    sich    charakterisiert    als 
Unterbrechung  der  fortschreitenden  Entwicklung,  die  im  Beginn  der 
Neuzeit  ungefähr  in  dem  Punkte  einsetzt,  wo  die  griechische  Ent- 
wicklung aufgehört  hatte,  so  daß  also  die   griechische    Kultur    die 
unmittelbare  Voraussetzung  unserer  modernen  Kultur  bildet.     Und 
vielleicht  kann  mein  Werk  dazu  beitragen,  diese  Erkenntnis  in  weitere 
Kreise  zu  tragen  und  den  von  vielen  ausgezeichneten  Forschern  ge- 
teilten Wahn  zu  zerstören,  als  ob  zwischen  der  griechischen  Philoso- 
phie und  der  modernen  Naturwissenschaft  ein  Gegensatz  bestehe, 
während     in    Wirklichkeit     die     griechische    Philosophie 
die  notwendige  Grundlage    bildet,   mit   welcher 
d  i  e  m  o  (lerne  N  a  t  u  r  w  i  s  s  e  n  S  c  h  a  f  t  steht  und  fällt. 


Die  Wissenschaft  Dernokrits.  17 

Die  hier  ausgesprochenen  allgemeinen  Ansichten  stehen  mir 
unerschütterlich  fest;  hinsichtlich  der  Einzelheiten  muß  ich  trotz 
aller  auf  dieselben  verwandten  Mühe  und  Sorgfalt  um  diejenige  Nach- 
sicht bitten,  deren  ein  so  umfassendes  Unternehmen  wie  das  meinige 
stets  bedarf.  Wenn  im  einzelnen  meine  etwaigen  Irrtümer  teils  durch 
diejenigen,  welche  in  der  Philologie  bewanderter  sind  als  ich,  teils 
durch  diejenigen,  welche  in  der  Naturwissenschaft  bewanderter 
sind  als  ich,  berichtigt  sind,  so  werden  meine  allgemeinen  Ansichten 
dadurch  nicht  berührt  sein,  sondern,  wie  ich  zuversichtlieh  hoffe, 
beim  weiteren  Fortgang  der  Forschung  sich  bewähren. 

Die  M  e  c  h  a  n  i  k  und  Kosmogonie  De  m  o  k  r  i  t  s. 

1.  Die  Lehre  von  der  ursprünglichen   Be  w  e  g  u  n  g 

vom   S  t  o  ß. 

Demokrit  kennt  drei  Arten  der  Bewegung,  nämlich  die  ursprüng- 
liche Bewegung,  die  durch  Stoß  hervorgerufene  Bewegung  und  die 
Bewegung  infolge  der  Schwere. 

Um  Dernokrits  Ansichten  über  die  ursprüngliche  Bewegung 
richtig  würdigen  zu  können,  müssen  wir  uns  zunächst  die  Stellung 
vergegenwärtigen,  welche  die  atomistische  Philosophie  in  der  Gesamt- 
entwicklung der  griechischen  Philosophie  einnimmt.  Sein  Lehrer 
Leucipp  hatte  den  Hylozoisten  zugegeben,  daß  den  sinnlich  wahr- 
nehmbaren Dingen,  die  im  fortwährenden  Wechsel  begriffen  sind, 
Kealität  zukomme,  den  Eleaten  dagegen,  daß  es  auch  etwas  wahrhaft 
Seiendes  im  Sinne  der  Eleaten  gäbe,  d.  h.  etwas,  das  ungeworden, 
unzerstörbar  und  ewig  unveränderlich  ist,  und  daß  dieses,  da  alles 
Sichtbare  Veränderungen  zeigt,  unsichtbar  sein  müsse.  Das  sinnlich 
Wahrnehmbare  war  ihm  durch  die  Erfahrung  gegeben.  Das  ewig 
Unveränderliche  mußte  er  suchen.  Da  er  aber  nicht  die  Sinneswahr- 
nehmungen  als  leeren  Schein  betrachtete,  so  konnte  er  nicht  wie 
die  Eleaten  bei  der  Konstruktion  des  Nichtwahrnehmbaren  seiner 
Phantasie  die  Zügel  schießen  lassen,  sondern  mußte  es  vielmehr 
so  bestimmen,  daß  es  mit  der  Sinneswahrnehiniing  im  Einklang  ist, 
daß  es  also  das  darstellt,  was  in  (\vn  fortwährend  sich  verändernden 
Dingen  ewig  unverändert  bleibt.  Leucipp  ist  demnach  jener  Weise, 
welcher  es  zuerst  als  Aufgabe  der  Wissenschaft  erkannte,  daß  sie 
„sucht   den  ruhenden  Pol  in  der  Erscheinungen  Flucht".     Kr  sagte 

Archiv  für  systematische  Philosophie  (Beilageheft).  - 


18  Louis  LÖwenhe im, 

sich  nun,  daß,  da  die  Sinneswahrnehmung  eine  Vielheit  zeigt,  auch 
das  unveränderlich  Bleibende,  wenn  anders  es  mit  der  Sinneswahr- 
nehmung  im  Einklang  sein  soll,  nicht,  wie  die  Eleaten  glaubten,  eine 
Einheit  bilden  könne,  sondern  vielmehr  aus  vielen,  ja  sogar  aus  un- 
endlich vielen  Dingen  bestehen  müsse.  Wenn  nun  diese  Dinge  un- 
veränderlich sein  sollen,  so  dürfen  sie  auch  nicht  teilbar  sein;  und 
er  nannte  sie  daher  Atome  (d.  h.  Unteilbares).  Wenn  aber  lediglich 
diese  unsichtbaren  Atome  das  wahrhaft  Seiende  darstellen,  die  sinn- 
lich wahrnehmbaren  Dinge  aber  doch  existieren  sollen,  so  müssen 
diese  aus  den  Atomen  zusammengesetzt  sein;  die  Atome  müssen  also 
die  letzten  unzerlegbaren  Bestandteile  der  sichtbaren  Dinge  bilden. 
Und  so  kam  Leucipp  auf  den  Gedanken,  daß  die  Atome  nur  wegen  ihrer 
Kleinheit  für  uns  unsichtbar  sind.  Ist  aber  alles  aus  Atomen  zusammen- 
gesetzt, so  müssen  sich  auch  alle  Vorgänge  in  der  Natur  aus  den  Eigen- 
schaften der  Atome  erklären,  und  zwar  nach  dem  Kausalgesetz, 
das  Leucipp  zum  erstenmal  mit  voller  Klarheit  aussprach.  Die  Atome 
erscheinen  daher  als  die  Ursachen  aller  Vorgänge  in  der  Natur.  In- 
dem also  Leucipp  den  Wechsel  der  Erscheinungen  auf  die  Eigen- 
schaften der  Atome  zurückzuführen  suchte,  erkannte  er  es  als  seine 
Aufgabe,  die  unveränderlich  bleibenden  Ursachen  der  Naturvorgänge 
aufzusuchen.  Und  ich  halte  dies  für  eine  der  wichtigsten  Errungen- 
schaften der  griechischen  Philosophie.  Wie  schwer  es  der  Menschheit 
geworden  ist,  zu  dieser  uns  heute  so  selbstverständlich  erscheinenden 
Erkenntnis  durchzudringen,  ersehen  wir  daraus,  daß  sie  der  gesamten 
altorientalischen  Weltweisheit  sowie  den  griechischen  Philosophen 
vor  Leucipp  unbekannt  war,  ja,  daß  selbst  Plato  noch  die  Ansicht 
aussprechen  konnte,  daß  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  lediglich  in 
der  Betrachtung  des  ewig  unveränderlich  Bleibenden  bestehe,  während 
die  Zurückführung  der  Erscheinungen  der  sichtbaren  Dinge  auf  jenes 
unveränderlich  Bleibende  lediglich  eine  unwissenschaftliche  Spielerei 
sei5),  und  daß  sogar  in  derjenigen  philosophischen  Entwicklungsreihe, 
welche  mit  (artesius  anhebt,  jene  Erkenntnis  keineswegs  immer  so 
klar  hervortritt,  wie  einerseits  bei  den  griechischen  Atomisten  und 
anderseits  bei  Helmholtz.     Leucipp  aber  erkannte  weiter,  dal.)  die 


B)  In  Timaeus  24,  p.  59  C  charakterisier*  er  die  Betrachtung  des  Wechsels 
in  den  sinnlich  wahrnehmbaren  Dingen,  also  das,  was  wir  heute  als  Physik 
und  Chemie  bezeichnen,  als  , .artige  Kürzweil". 


b 


Die  Wissenschaft    Dcmokrits.  10 

Aufgabe,  den  Wechsel  der  Erscheinungen  kausal  durch  das  ewig  un- 
veränderlich Bleibende  zu  erklären,  nur  dann  lösbar  ist,  wenn  es 
gelingt,  alle  Naturyorgänge  auf  Bewegung  zurückzuführen6).  Den 
Eleaten  gab  er  zu,  dal.)  die  Zulassung  der  Bewegung  die  Annall  ine 
eines  leeren  Raumes  notwendig  mache.  Ihrem  Sophisma  gegenüber. 
daß  ein  leerer  Kaum  nicht  existieren  könne,  weil  es  ein  Widerspruch 
in  sich  wäre,  daß  das  Nichtseiende  sei,  wußte  er  sich  nicht  anders 
zu  hellen,  als  mit  der  Behauptung,  daß  das  Nichtseiende  ebensogut 
existiere  wie  das  Seiende.  (Simplicius  in  Phys.  7  a.  Dox.  Gr.  p.  4S.",.  | 
Mochte  dies  auch  paradox  klingen,  so  wollte  er  sich  doch  nicht  durch 
Spitzfindigkeiten  von  der  Erkenntnis  abbringen  lassen,  daß  es  die 
Aufgabe  der  Wissenschaft  sei,  alle  Naturvorgänge  auf  Bewegung  zu- 
rückzuführen "').  Bekanntlich  ist  auch  diese  zweite  Forderung  wie 
die  erste  von  der  heutigen  Physik  akzeptiert  worden. 

Wir  können  uns  aber  nur  schwer  einen  Begriff  davon  machen, 
wie  neu  und  fremdartig  dieselben  damals  erschienen.  Aristoteles  war 
noch  mindestens  ein  Jahrhundert  nach  Leucipp  völlig  außerstande, 
die  Gedanken  Leucipps  auch  nur  zu  verstehen.    Er  sagt  (de  coel.  111  4, 


6)  Aristoteles,  welcher  den  Begriff  der  Bewegung  im  weiteren  Sinne 
nimmt,  und  daher  drei  Arten  der  Bewegung  unterscheidet,  nämlich  1.  qualita- 
tive Veränderung,  2.  Zunahme  und  Abnähme,  :S.  räumliche  Bewegung  (Physik 
V  2,  p.  226a),  sagt  in  der  Physik  VIII  9,  p.  2(35  b:  , .Diese  (es  sind  die  Atomisten 

gemeint)  sagen,  daß  die  Natur  in  räumlicher  Bewegung   bewegt   weide 

Y<Mi  den  übrigen  Bewegungen  aber  meinen  sie,  komme  keine  den  ursprüng- 
lichen Dingen,  sondern  erst  den  aus  diesen  bestehenden  zu;  sie  sagen  nämlich, 
Zunahme  und  Abnahme  und  qualitative  Änderung  finde  statt,  indem  die 
unteilbaren   Körpersich  verbinden  und  trennen." 

7)  Demokril  ersetzte  seine  Lehre  durch  die  richtigere  hehre,  daß  das 
beere    eine    Negation    sei    ( Tl  leiuist  i  i    paraphrases    Aristotelis    Phys.    IV    8,    ed. 

Spengel,  Leipzig  L866,  I,  |>.  292    -293).    Wenn  Plutarch  sagt:  „Er  (Demokrit) 

trifft  die  Bestimmung,  daß  das  Jclifs  um  nichts  mehr  als  das  Nichts  sei.  indem 
er  bht-,  den  Körper,  Nichts  das  beere  nennt,  da  auch  dieses  eine  gewisse 
Natur  und  ein  eigenes  Wesen  habe"  (Plut.  adv.  Cot.  4,  p.   1  I  L9),  so  dürfte  dies 

auf  einer  Verwechslung  Dcmokrits  mit  Leucipp  beruhen.  Denn  Themistius 
müßte,  wenn  -eine  Behauptung  falsch  wäre,  dieselbe  ganz  aus  der  Luft  ge- 
griffen haben,  wahrend  Plutarch  nur  die  naheliegende  Verwechslung  von 
Leucipp  und  Demokril  begangen  zu  haben  braucht.  Wenn  Themistius  den 
aristotelischen  Ausdruck  uriQrjfftg  gebraucht,  von  dem  wir  übrigens  gar  nicht 
mit  Bestimmtheit  wissen  können,  ob  Demokril  ihn  noch  nicht  gehabt  hat, 
so  würde  daraus  höchstens  folgen,  daß  Themistius  den  Demokril  nicht  wörtlich 
/it  iert. 


20  Louis  to  \v  e  n  li  e  i  m  , 

p.  303  a):  „Indem  sie  (Leucipp  und  Demokrit)  von  unteilbaren 
Körpern  sprechen,  müssen  sie  notwendig  mit  der  Mathematik  in 
Konflikt  geraten  und  vieles  von  dem  leugnen,  was  die  gewöhnliche 
Meinung  annimmt  und  was  in  der  Sinneswahrnehmung  erscheint 
....  Zugleich  aber  müssen  sie  auch  sich  selbst  widersprechen  .... 
Denn  es  wäre  nicht  möglieh,  daß  sie  (Luft,  Erde  und  Wasser)  aus- 
einander entstünden  ....  Sie  behaupten  aber,  daß  Wasser,  Luft 
und  Erde  so  auseinander  entstehen."  Aristoteles  hat  also  erstens  nicht 
eingesehen,  daß  die  mathematische  Teilbarkeit  der  Körper,  welche 
ins  Unendliche  geht,  nicht  hindert,  daß  der  physischen  Teilbarkeit 
derselben  eine  bestimmte  Grenze  gesetzt  sein  kann.  Zweitens  hat  er 
nicht  verstanden,  daß  die  Atomisten  nicht  von  den  sichtbaren  Teilen 
der  Körper,  deren  Teilbarkeit  uns  die  Sinneswahrnehmung  zeigt, 
sondern  von  den  unsichtbaren  Teilchen  derselben,  über  welche  die 
Sinneswahrnehmung  nichts  aussagen  kann,  behaupteten,  daß  sie 
unteilbar  seien.  Und  drittens  ist  es  ihm  nicht  zum  Bewußtsein  ge- 
kommen, daß  die  Atomisten  die  Entstehung  von  Wasser,  Luft  und 
Erde  auseinander  nicht  erklären,  sondern  vielmehr  in  Abrede  stellen 
wollten.  Wie  wenig  er  den  Gedanken  unsichtbarer  Atome  zu  fassen 
vermochte,  sieht  man  noch  deutlicher  aus  folgender  Stelle  (de  gen. 
et  corr.  \  9,  p.  327  a):  „Diese  Ansicht  hebt  die  qualitative  Änderung 
auf ;  wir  sehen  aber,  daß  derselbe  Körper,  während  er  kon- 
tinuierlich ist,  bald  flüssig,  bald  starr  ist;  und  er  hat  nicht  durch 
Trennung  und  Zusammensetzung  diese  Zuständsänderung  erfahren 
und  auch  nicht  durch  Lage  und  Ordnung  (der  Atome),  wie  Demokrit 
sagt;  denn  weder  durch  Veränderung  der  Lage  noch  durch  Ver- 
änderung der  Ordnung  ist  er  aus  dem  flüssigen  Zustand  in  den  starren 
Zustand  übergegangen."  Die  letzte  Behauptung  ist  natürlich  nur 
verständlich,  wenn  Aristoteles  glaubte,  daß  man  die  von  Leucipp 
und  Demokrit  bei  der  Veränderung  des  Aggregatzustandes  voraus- 
gesetzte Änderung  in  der  Lage  der  Atome  sehen  könnte.  Vielleicht 
noch  drastischer  tritt  das  Mißverständnis  des  Aristoteles  in  folgender 
Stelle  hervor  (de  coel.  III  8,  p.  306  b):  „Überhaupt  aber  ist  der  Ver- 
such, den  einfachen  Körpern  eine  bestimmte  Form  zu  geben,  unver- 
nünftig ....  Es  zeigt  sich,  daß  alle  einfachen  Körper,  zumeist  aber 
das  Wasser  und  die  Luft,  durch  den  sie  umfassenden  Ort  geformt 
werden.  Dal.)  nun  die  Gestalt  des  Elements  dieselbe  bleibe,  ist  un- 
möglich;  denn  dann   würde  nicht  das  Ganze  allseitig  dasjenige  he- 


Die  Wissenschaft  Demokrils.  21 

rühren,  von  dem  es  umfaßt  wird."  Aristoteles  denkt  sieh  also  die 
Wasseratome  so  groß,  daß  eine  bestimmte  Gestalt  derselben  hindern 
würde,  daß  das  Wasser  die  Form  eines  beliebig  starken  Gefäßes  an- 
nimmt. Am  auffallendsten  aber  ist  folgende  Stelle  (Met.  I  4,  p.  985  b): 
„Sowie  diejenigen,  welche  die  zugrunde  liegende  Substanz  als  eine 
Einheit  annehmen,  das  Übrige  durch  die  Zustände  derselben  ent- 
stehen lassen,  auf  dieselbe  Weise  setzen  auch  diese  (Leucipp  und 
Demokrit)  das  Dünne  und  das  Dichte  als  Prinzipien  der 
Zustände  behaupten  dann,  daß  deren  Unterschiede  die  Ursachen  der 
übrigen  Dinge  seien."  Aristoteles  hat  also  hier  das  Kontinuierliche 
und  das  Leere  mit  dem  Dichten  und  Dünnen  verwechselt.  Und  wenn 
wir  nicht  in  der  Lage  wären,  seinen  Irrtum  durch  andere  Stellen  teils 
des  Aristoteles  selbst,  teils  anderer  Zeugen  zu  korrigieren,  so  würden 
wir  uns  auf  Grund  dieser  Stelle  eine  ganz  falsche  Ansicht  von  der 
Philosophie  der  Atomisten  bilden  müssen.  Wir  lernen  aber  daraus, 
daß  die  Autorität  des  Aristoteles  auch  auf  dem  einzigen  Gebiete, 
wo  sie  noch  heute  fast  unbestritten  gilt,  nämlich  auf  dem  Gebiete; 
der  Geschichte  der  griechischen  Philosophie  keineswegs  eine  so  un- 
bedingte ist,  wie  man  gewöhnlich  annimmt,  was  uns  später  für  andere 
Punkte  von  Wichtigkeit  sein  wird.  Wie  unzuverlässig  Aristoteles 
ist,  sieht  man  auch  daraus,  daß  er  bald  sagt,  von  seinen  Vorgängern 
hätten  die  einen  Erde,  die  andern  Feuer,  die  dritten  Luft,  die  vierten 
Wasser  als  Natur  des  Seienden  angenommen  (Phys.  II  1,  p.  193  a), 
bald  wieder,  sie  hätten  wohl  Feuer,  Wasser  und  Luft,  niemals 
aber  die  Erde  als  Prinzip  angenommen  (Met.  I  8,  p.  988  b), 
bald  endlich,  sie  hätten  das  unbeschränkt  Eine  wohl  als  Wasser 
oder  Luft,  niemals  aber  als  Feuer  oder  Erde  bezeichnet  (Phys.  III  ö, 
p.  205  a). 

Man  pflegt  die  Philosophie  Leucipps  an  diejenige  der  Eleateu 
anzuknüpfen.  Mit  Unrecht.  Denn  in  einer  von  Diels  auf  Theophrast 
zurückgeführten  Stelle  des  Simplicius  (in  Phys.  7  a.  Dox.  Gr.  p.  483) 
heißt  es  sehr  richtig,  daß  Leucipp  (kn  entgegengesetzten  Weg  be- 
schritt wie  die  Eleaten.  In  der  Tat  ist  die  Philosophie  der  Eleaten 
von  derjenigen  Leucipps  mehr  verschieden  als  seihst  von  derjenigen 
der  Hylozoisten.  Denn  trotz  vieler  Gegensätze  sahen  doch  beide 
Schulen  das  letzte  der  Welt  zugrunde  liegende  Prinzip  als  etwas 
Einheitliches  an.  Diesen  echt  orientalischen  Gedanken  hatten  beide 
vom  Orient  aufgenommen;  Leucipp  erst  hat  mit  dem  Gedanken,  daß 


22  L  o  u  i s   L 5  w  enhei  m  , 

der  Welt  eine  Vielheit  zugrunde  hege,  die  vollständige  Emanzipation 
des  abendländischen  Denkens  vom  orientalischen  vollzogen. 

Demokrit  ging  nun  konsequent  weiter.  Wenn  wirklieh,  sagte  er 
sich,  die  Aufgabe  der  Wissenschaft  darin  bestellt,  den  Wechsel  der 
Erscheinungen  auf  ewig  Unveränderliches  zurückzuführen,  so  ist 
dieselbe  auch  erfüllt,  wenn  diese  Zurückführung  gelungen  ist.  Die 
Wissenschaft  hat  also  nur  die  Änderungen  der  Zustände  zu 
erklären;  und  ein  Zustand,  der  unveränderlich  bleibt,  bedarf  keiner 
Erklärung.  Er  muß  diesen  Gedanken  mit  ganz  besonderem  Nach- 
druck hervorgehoben  haben;  denn  in  den  vielfach  verworrenen  Be- 
richten über  seine  Lehre  treten  nur  wenige  Punkte  mit  solcher  Klar- 
heit hervor  wie  gerade  dieser.  Von  den  zahlreichen  Stellen,  welche 
darüber  berichten,  scheint  mir  am  klarsten  die  folgende  zu  sein 
(Scholia  in  Arist.  collegit  Brandis,  edidit  acad.  regia  Boruss.  Berlin 
1836,  p.  428):  ,,Er  (Aristoteles)  billigt  es  nicht,  wenn  Demokrit  die 
natürlichen  Ursachen  auf  das  Prinzip  zurückführt,  daß  auch  der 
frühere  Zustand  so  war,  indem  er  (Demokrit)  es  nicht  für  richtig 
hält,  von  dem,  was  immer  in  gleicher  Weise  ist,  noch  einen  Anfang 
und  eine  Ursache  zu  suchen."  In  der  Stelle,  auf  welche  sich  dies 
Zitat  bezieht  (Ar.  Phys.  VIII  1,  p.  252  a— b)  verwechselt  Aristoteles, 
der  die  Begriffe  nicht  so  scharf  zu  unterscheiden  vermochte,  wie  Demo- 
krit, bei  seiner  Bekämpfung  dieses  Philosophen  die  beiden  Begriffe 
„Ursache"  und  ,, Grund"  mit  einander.  Wir  können  dies  damit  ent- 
schuldigen, daß  die  griechische  Sprache  für  beide  Begriffe  denselben 
Ausdruck  hat.  Aber  Demokrit  wußte  sehr  wohl,  daß  die  Sprache 
nur  eine  menschliche  Festsetzung  ist,  welche  notwendig  die  Unvoll- 
kommenheiten  der  Zeit  an  sich  tragen  muß,  in  welcher  sie  entstanden, 
und  von  der  sich  daher  der  Philosoph  unter  Umständen  frei  machen 
muß,  während  Aristoteles  in  der  Sprache  eine  tiefe  Urweisheit  erblickte. 
Wie  logisch  Demokrit  dachte,  dafür  gibt  eine  andere  Stelle  des 
Aristoteles,  welche  sich  auf  dasselbe  Prinzip  bezieht,  einen  sehr  inter- 
essanten Beleg  (Ar.  Gen.  an.  II  6,  p.  742  b):  „Nicht  schön  aber  ist 
die  Auseinandersetzung  über  die  Notwendigkeit  des  Warum  bei  denen, 
welche  sagen,  daß  es  immer  so  geschieht,  und  wie  Demokrit  aus 
Abdera  meinen,  daß  dies  hierbei  ein  Prinzip  sei,  weil  es  von  dem, 
was  (ewig  und8))  grenzenlos  ist,  keinen  Anfang  gebe;  das  Warum 

8)  Die  von  mir  eingeklammerten  Worte,  welche  den  logischen  Zusammen- 
hang etwas  verdunkeln,  halte  ich  für  einen  nicht  von  Demokrit  herrührenden 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  -'■> 

aber  sei  ein  Anfang  und  das  Ewige  grenzenlos;  wenn  man  also  nach 
dem  Warum  bei  einem  I  tinge  dieser  Art  frage,  so  heiße  das,  meint  er, 
den  Anfang  von  etwas  suchen,  was  grenzenlos  ist.'"  In  der  Tat  ist 
es  ein  vollkommen  richtiger  Gedanke,  daß  das  Frauen  nach  der  Ur- 
sache eines  Zustandes  voraussetzt,  daß  dieser  Zustand  einmal  hervor- 
gerufen ward,  also  nicht  ewig  ist. 

Das  Prinzip,  das  hier  von  Demokrit  ausgesprochen  ist,  begegnet 
uns  wieder  in  der  Vorrede  von  Helmholtz  zur  deutschen  Übersetzung 
des  Handbuches  der  theoretischen  Physik  von  Thompson  und  Tait, 
in  welcher  er  gegen  Zöllner  die  Möglichkeit  verteidigt,  daß  organische 
Keime  durch  Meteorsteine  andern  Weltkörpern  zugeführt  werden 
können.  In  dieser  Auseinandersetzung  liegt  der  Gedanke  zugrunde, 
daß,  wenn  organisches  Leben  von  Ewigkeit  her  besteht,  damit  der 
Begreiflichkeit  der  Natur  nach  dem  Kausalitätsgesetze  vollkommen 
«renügt  ist  und  wir  daher  keine.  Ursachen  mehr  für  das  organische 
Leben  zu  suchen  haben,  also  genau  dasselbe  Prinzip,  das  Demokrit 
zuerst  ausgesprochen  und  Aristoteles  bekämpft  hat. 

Dieses  Prinzip  hat  nun  Demokrit  auf  die  ursprüngliche  Be- 
wegung der  Atome  angewendet.  Er  dachte  sich,  daß  dieselben  sich 
von  Ewigkeit  her  in  Bewegung  befinden9),  und  daß  diese  ewige  Be- 
wegung keiner  Erklärung  bedarf,  weil  wir  nicht  für  das  von  Ewigkeit 
her  Bestehende,  sondern  nur  für  die  Veränderung  desselben  eine  Ur- 
sache  zu  suchen  haben.  Dies  zeigt  folgende  Stelle  Ciceros  (de  fin. 
bonorum  et  malorum  I  6,  17):  „(Demokrit  meint  .-.,.)  und  diese 
Bewegung  der  Atome  müsse  aus  keinem  Prinzip,  sondern  daraus 
verstanden  werden,  dal.)  sie  seit  ewiger  Zeit  besteht."'  Aristoteles, 
welcher  zwar  im  Gegensatz  zu  Plato  anerkannte,  daß  es  die  Aufgabe 
der  Wissenschaft  sei,  den  Wechsel  der  Erscheinungen  auf  ewig  Un- 
veränderliches zurückzuführen,  dem  aber  die  logische  Konsequenz 
eines  Demokril  fehlte,  hat  hiergegen  folgendermaßen  polemisiert 
i  Met.  I  4,  p.  985  bi:  ..Die  Untersuchung  aber  darüber,  weher  oder  wie 
dem  Seienden  Bewegung  zukommt,  haben  auch  diese  (die  Atomisten) 


Zusatz,  wobei  ich  es  dahingestellt  sein  lasse,  ob  sie  von  Aristoteles  oder  von 
einem  späteren    Abschreiber  herrühren. 

°)  Ar.  Phys.  VIII  1,  p.  250  h:  ..Alle  diejenigen,  welche  sagen,  daß  es 
unendlich  viele  Welten  gehe,  und  daß  die  einen  derselben  entstehen,  die  andern 
aber  vergehen  (hiermit  sind,  wie  wir  später  sehen  werden,  die  Atomisten  ge- 
meint), behaupten,  daß  immer  Bewegung  sei. 


24 


Louis   L  ö  w  e  n  h  e  i  in  , 


gleich  den  andern  leichtsinnig  beiseite  gelassen."  Wenn  Zeller  des- 
wegen sagt,  daß  Aristoteles  den  Atomisten  den  Vorwurf  machen  kann, 
daß  sie  die  Ursache  der  Bewegung  nicht  gehörig  untersucht  haben, 
so  gibt  er  leider  hier  dem  Aristoteles  recht,  wo  derselbe  eine  Theorie 
Demokrits  bekämpft,  welche,  wie  wir  sogleich  sehen  werden,  für  die 
moderne  Naturwissenschaft  von  grundlegender  Bedeutung  geworden  ist. 
Die  angeführten  Stellen  müssen  wir  uns  gegenwärtig  halten, 
wenn  wir  eine  Stelle  des  Simplicius  in  ihrer  ganzen  Tragweite  ver- 
stehen wollen,  die  uns  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Mechanik 
Demokrits  geben  wird.  Die  Aristotelesstelle  (de  coel.  II 1,  p.  284  a), 
welche  Simplicius  erklären  will,  lautet:  „Weder  darf  man  annehmen, 
daß  sich  die  Sache  so  verhalte,  wie  der  Mythus  der  Alten  erzählt, 
welche  sagen,  daß  er  (der  Himmel)  zu  seiner  Erhaltung  eines  gewissen 
Atlas  bedürfe  —  es  scheinen  nämlich  auch  diejenigen,  welche  diese 
Sage  ersannen,  dieselbe  Annahme  wie  die  Späteren  gehabt  zu  haben; 
denn  gerade  so,  als  ob  alle  oberen  Körper  schwer  und  erdig  wären, 
stellten  diese  Späteren  unter  den  Himmel  in  mythischer  Weise  eine 
beseelte  Notwendigkeit 10)  —  weder  also  darf  man  es  dieser  Weise 
annehmen,  noch,  daß  der  Himmel  durch  den  Wirbel  eine  schnellere 
Bewegung  erlange,  als  seine  eigene  Wucht  sei,  und  dadurch  noch 
so  lange  Zeit  sich  halte,  wie  Empedokles  sagt."  Hierzu  gibt  nun  Sim- 
plicius einen  Kommentar  (zu  de  coelo  p.  167  b — 168  a).  Auf  die 
Wichtigkeit  dieser  Stelle  hat  zuerst  A.  v.  Humboldt  aufmerksam 
gemacht  (Kosmos  III,  Stuttgart  und  Tübingen  1850,  p.  27  Anm.  12). 
Neuerdings  hat  wieder  Wohlwill  darauf  hingewiesen  (Zeitschr.  für 
Völkerpsychologie  und  Sprachwissenschaft  XIV,  Berlin  1883,  p.  372.) 
Da  aber  beide  Forscher  die  Stelle  nicht  mit  den  vorher  von  mir  be- 
sprochenen Stellen  in  Zusammenhang  gebracht  haben,  so  ist,  wie  ich 
glaube,  beiden  die  volle  Bedeutung  derselben  nicht  klar  geworden. 
Der  Kommentar  heißt:  „Die  einen  führen  eine  mythische  Not- 
wendigkeit dafür  ein,  daß  der  Himmel  nicht  fällt,  sondern 
oben  bleibt,  und  seinen  Umschwung  macht,  wie  Homer,  der 
vom  Atlas  sagt:  ....  Die  andern  aber  geben  eine  physische 
Notwendigkeit  als  Grund  dafür  an,  daß  der  Wirbel  nicht  hernieder- 
fällt, indem  er  sein  eigenes  Gewicht,  das  geringer  sei,  überwinden 
soll,  wie  Empedokles  sagt  und  Anaxagoras.    Aber  was  die  Sage  über 


10)  Hiermit  sind  Plato  und  seine  Anhänger  gemeint. 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  25 

den  Atlas  betrifft.  .  .  .  Aber  auch  das  ist  nicht  richtig,  daß  durch 
den  schnellen  Wirbel  des  ätherischen  Körpers,  da  (.Ue  der  eigenen 
Schwere  folgende  Bewegung  des  Himmels  selbst  wie  der  Erde  ge- 
ringer sei,  die  Kreisbewegung  des  Himmels  und  der  Stillstand  der 
Erde  in  der  Mitte  ewig  beharre,  wie  Empedokles  zu  sagen  schien  und 
Anaxagoras  und  Demokrit.  Sie  behaupten  nämlich,  wenn  auch  so- 
wohl der  ätherische  Körper  wie  die  Erde  schwer  sei,  so  werden  doch, 
da  ihre  Kreisbewegung  schneller  sei  als  ihre  der  eigenen  Wucht  nach 
unten  folgende  Bewegung  und  daher  jene  diese  überwinde,  sowohl 
die  Erde,  welche  in  der  Mitte  feststehe,  als  auch  der  Himmel,  der  sich 
um  dieselbe  drehe,  an  ihrem  Orte  beharren,  gerade  so  wie  das  Wasser 
in  der  Trinkschale  nicht  ausfließe,  wenn  die  Schale  im  Kreise  herum- 
geschwungen werde,  wenn  nur  die  Kreisbewegung  schneller  geschieht 
als  die  Bewegung  des  Wassers  nach  unten."  Die  hier  wenig  nahe- 
liegende Erwähnung  der  Sage  vom  Atlas  scheint  zufällig  zu  sein. 
Aber  es  ist  auffallend,  daß  Plato  im  Phadon  p.  99  B— C,  wo  er  von 
diesen  Theorien  spricht,  ebenfalls  die  Sage  vom  Atlas  hineinzieht. 
Hiernach  scheint  es  fast,  als  ob  Empedokles  oder  Demokrit  gesagt 
hätte,  daß  das  Kausalgesetz  der  Atlas  ist,  der  in  Wahrheit 
das  Himmelsgebäude  trägt. 

Nun  ist  zunächst  bemerkenswert,  daß  weder  in  der  Aristoteles- 
steile,  wo  nur  von  Empedokles  die  Rede  ist,  noch  an  derjenigen  Stelle 
des  Simplicius,  wo  nur  von  Empedokles  und  Anaxagoras  die  Rede 
ist,  die  Kreisbewegung  des  Himmels  als  ewig  bezeichnet  wird,  sondern 
daß  dies  nur  an  derjenigen  Stelle  des  Simplicius  geschieht,  wo  von 
Demokrit  die  Rede  ist.  Allerdings  wird  hier  Demokrit  nicht  allein 
erwähnt,  sondern  in  Verbindung  mit  Empedokles  und  Anaxagoras; 
aber  Simplicius  bedient  sich  hier  des  Ausspruchs  „scheinen".  Wir 
müssen  demnach  annehmen,  daß  Empedokles  die  Theorie  aufstellte, 
daß  die  Himmelskörper  deswegen  nicht  herniederfallen,  weil  die  Kraft, 
welche  sie  antreibt,  sich  im  Kreise  zu  bewegen,  stärker  ist  als  die 
Schwere,  welche  sie  nach  unten  zieht,  Anaxagoras  diese  Theorie 
unverändert  annahm,  Demokrit  aber  hinzufügte,  daß  diese  Kreis- 
bewegung ewig  beharre,  und  Simplicius  hierauf,  wenn  auch  mit  Un- 
recht, den  Schluß  zog,  daß  Empedokles  und  Anaxagoras  es  ebenso 
gemeint  haben  werden.  Denn  wenn  Simplicius  am  Schlüsse  Unserer 
Stelle  im  Anschluß  an  Aristoteles  dagegen  polemisiert,  daß' eine  solche 
Bewegung,    welche   dem   Aristoteliker   als    widernatürlich    erscheint, 


26  Louis  Löwenheim, 

für  immer  bestehen  bleiben  könnte,  so  muß  mindestens  einer  der  Ge- 
nannten behauptet  haben,  daß  sie  ewig  dauert;  und  wenn  es  alle 
drei  getan  hätten,  so  wäre  der  Ausdruck  „scheinen"  unverständlich. 
I  )ieses  e  i  n  e  Wort  „ewig"  ist  aber  von  außerordentlicher  Wichtig- 
keit. Denn  daraus  ersehen  wir,  daß  Demokrit  aus  seinem  Prinzip, 
daß  wir  nicht  für  die  Zustände,  sondern  für  die  Änderungen  der  Zu- 
stände Ursachen  zu  suchen  haben,  daß  also  für  die  Fortdauer  einer 
einmal  vorhandenen  Bewegung  keine  Ursache  zu  suchen  ist,  bereits 
den  Schluß  gezogen  hat,  daß  eine  einmal  vorhandene  Bewegung, 
wenn  keine  Ursache  vorhanden  ist,  welche  sie  ändert,  ewig  in  gleicher 
Weise  fortdauert.  Dieses  Prinzip  können  wir  als  das  Beharrungs- 
gesetz bezeichnen. 

Ferner  dürfen  wir  aus  unserer  Stelle  schließen,  daß  Demokrit 
das  Bcharrungsgesetz  angewandt  hat  zur  Erklärung  der  aus  den 
Vorstellungen  von  Gauklern  (Simplicius  zu  de  coelo  ed.  Karsten, 
p.  235  b— 44)  bekannten  Tatsache,  daß  Wasser,  welches  sich  in  einem 
im  Kreise  geschwungenen  Gefäße  befindet,  auch  dann  nicht  ausfließt, 
wenn  die  Öffnung  des  Gefäßes  nach  unten  gekehrt  ist.  Auch  hier  hat 
Empcdokles  eigentlich  nur  die  Tatsache  formuliert,  daß  in  einem  solchen 
Falle  die  Schwere  nicht  zur  Wirksamkeit  gelangt,  sondern  daß  das 
Gefäß  mit  seinem  Inhalt  trotz  der  Schwere  seine  Kreisbewegung 
fortsetzt.  (Ar.  de  coel.  II  13,  p.  295  a),  während  Demokrit,  wie  wir 
annehmen  können,  diese  Tatsache  auf  das  allgemeine  Prinzip  zurück- 
geführt hat,  daß  eine  einmal  vorhandene  Bewegung,  wenn  sie  nicht 
durch  eine  größere  Kraft  überwunden  wird,  ewig  beharrt.  Demokrit 
ist  also  der  erste,  welcher  die  Erscheinungen  der  Zentrifugalkraft 
auf  das  Beharrungsgesetz  zurückgeführt  hat. 

Endlich  ergibt  sich  aus  unserer  Stelle,  daß  nach  Demokrits  An- 
sicht ein  in  Kreisbewegung  befindlicher  Körper  die  Kreisbewegung 
ewig  beibehält,  wenn  keine  Kraft  auf  ihn  wirkt.  Er  lehrt  also  ganz 
richtig,  daß  ein  in  Bewegung  befindlicher  Körper,  auf  den  keine  Kraft 
wirkt,  seine  Bewegung  nicht  ändert,  weder  in  bezug  auf  Geschwindig- 
keit, noch  in  bezug  auf  Richtung,  und  ich  erblicke  hierin 
die  genialste  und  folgenreichste  Leistung 
der  griechischen  Philosophie.  Er  glaubte  aber 
fälschlich,  daß  die  Kreislinie  eine  ebenso  einfache  Linie  sei,  wie  die 
gerade  Linie,  und  daß  daher  ein  in  Bewegung  befindlicher  Körper, 
wenn  er  seine  Richtung  nicht  ändert,  fortfährt,  sich  im  Kreise  zu 


Die  Wissenschaft  Demokrlts.  '11 

bewegen.  Unmöglich  aber  konnte  die  moderne  Physik  die  Beschleu- 
nigung zum  Maß  der  Kraft  machen,  bevor  jemand  mit  solcher  Energie 
wie  Demokrit  darauf  hingewiesen  hatte,  daß  wir  für  die  unveränderte 
Fortdauer  einer  einmal  vorhandenen  Bewegung  keine  Ursache  zu 
suchen  haben. 

Das  Beharrungsgesetz  hängt  aufs  Innigste  zusammen  mit  der 
Definition  der  Kraft  als  Ursache  der  Änderung  der  Bewegung.  Denn 
aus  dem  Demokritischen  Prinzip,  daß  wir  für  die  unveränderte 
Fortdauer  einer  Bewegung  keine  Ursache  zu  suchen  haben,  ergibt 
sich  zunächst  die  Definition  der  Kraft  als  Ursache  der  Änderung  der 
Bewegung;  und  aus  dieser  Definition  der  Kraft  folgt  erst  das  Behar- 
rungsgesetz  n).  Hat  nun  vielleicht  Demokrit  schon  die  Kraft  in 
dieser  Weise  definiert?  Keine  Überlieferung  gibt  davon  direkte  Kunde. 
Wir  lesen  aber  bei  Aristoteles  (Met.  IX  1,  p.  1046  a):  „Alle  diejenigen 
Bedeutungen  aber  (des  Begriffs  der  Kraft),  welche  sich  auf  denselben 
Begriff  beziehen,  sind  gewisse  Prinzipien;  und  man  bezieht  sie  auf 
eine  einzige  Grundkraft;  und  diese  ist  das  Prinzip  der  Veränderung, 
das  sich  in  einem  andern  oder  wenigstens,  insofern  es  ein  anderes  ist, 
befindet."  Met.  1X8,  p.  1049  b  steht:  „Ich  spreche  aber  von  einer 
Kraft  nicht  allein  in  dem  definierten  Sinne,  wonach  sie  das  eine 
Andciung  hervorbringende  Prinzip  ist,  welches  sich  in  einem  andern 
oder  wenigstens,  insofern  es  ein  anderes  ist,  befindet,  sondern  über- 
haupt von  einer  Kraft,  als  von  jedem  Prinzip,  das  Bewegung  oder 
Kühe  hervorbringt."  Met.  V  12,  p.  1019  a  steht:  „Kraft  heißt  das 
Prinzip  der  Bewegung  oder  der  Veränderung,  das  sich  in  einem  andern 
oder  wenigstens,  insofern  es  ein  anderes  ist,  befindet."  Offenbar 
polemisiert  Aristoteles  an  der  zweiten  Stelle  gegen  die  an  der  ersten 
mitgeteilte  Definition  der  Kraft;  und  an  der  dritten  Stelle,  wo  er, 
wie  der  Zusammenhang  zeigt,  die  Bedeutung  der  termini  technici 
erläutern  will,  gibt  er  eine  Difinition  der  Kraft,  welche  die  an  der 


.  n)  Vgl.  Kirchhoff:  Über  das  Ziel  der  Xaturwissenscahften,  Heidel- 
berg 1805,  p.  6,  wo  auf  das  deutlichste  ausgesprochen  wird,  daß  das  Beharrun<:s- 
gesetz  kein  Erfahrungsgesetz  ist,  sondern  eine  logische  Folge  aus  unserer 
Definition  der  Kraft.  Darin  wich  aber  Kirchhoff  von  Helmholtz  ab,  daß  er 
die  Definition  der  Kraft,  aus  welcher  sich  das  Beharrungsgesetz  ergibt,  damit 
begründete,  daß  mit  ihrer  Hilfe  die  in  der  Natur  vorkommenden  Bewegungen 
am  einfachsten  beschrieben  werden  können,  Helmholtz  dagegen  damit,  daß 
es  die  Aufgabe  der  Naturwissenschaft  nicht  ist,  für  die  Fortdauer  dir  Be- 
wegungen, sondern  für  die  Änderung  der  Bewegungen  Ursachen  aufzusuchen. 


28  Louis   Löwenheim, 

ersten  Stelle  mitgeteilte  Definition  und  seine  eigene,  an  der  zweiten 
Stelle  gegebene  Definition  zusammenfaßt.  Hiernach  müssen  wir  an- 
nehmen, daß  die  an  der  ersten  Stelle  mitgeteilte  Definition  die  in  der 
damaligen  Naturwissenschaft  übliche  war.  Und  diese  kann  von 
keinem  andern  als  Demokrit  herrühren,  da  der  Zusammenhang  dieser 
Definition  mit  dem  Demokritischen  Beharrungsgesetz  unverkennbar 
ist.  In  der  Tat  klingt  die  Bestimmung  ,,in  einem  andern  oder  wenigstens, 
insofern  es  ein  anderes  ist",  ganz  demokritisch  (vgl.  p.  206).  Dagegen 
wird  Demokrit  statt  des  Ausdrucks  „Prinzip"  den  Ausdruck  „Ur- 
sache" gebraucht  haben;  denn  der  Ausdruck  „Prinzip"  klingt  mehr 
aristotelisch  als  demokritisch.  Demokrit  wird  also  die  Kraft  folgender- 
maßen definiert  haben:  „Kraft  ist  die  Ursache  einer  Änderung,  die 
sich  in  einem  andern  oder  wenigstens,  insofern  es  ein  anderes  ist, 
befindet." 

Kehren  wir  nun  zur  ursprünglichen  Bewegung  der  Atome  zu- 
rück. Über  die  Richtung,  die  diese  ursprüngliche  Bewegung  nach 
Ansicht  der  Atomisten  hat,  sind  drei  verschiedene  Ansichten  auf- 
gestellt worden.  Dilthey 12)  hält  die  Urbewegung  der  Atomisten 
für  eine  Wirbelbewegung,  d.  h.  für  eine  Kreisbewegung  der  Atome, 
Zeller  für  eine  senkrechte  Bewegung  nach  unten  (I  b5  p.  872 — 886), 
Brieger13)  und  Liepmann14)  für  eine  geradlinige  Bewegung  nach  ver- 
schiedenen Richtungen.  Brieger  gibt  zwar  als  Urbewegung  die  Wirbel- 
bewTgung  an;  da  er  aber  darunter  nicht  wie  Dilthey  eine  Kreis- 
bewegung versteht,  sondern  vielmehr  „ein  wirres  Durcheinander- 
fliegen nach  verschiedenen  Richtungen",  so  bildet  er  nicht  mit  Dilthey, 
sondern  mit  Liepmann  zusammen  eine  Gruppe. 

Dilthey  führt  für  seine  Ansicht  eine  Reihe  von  Stellen  an,  welche 
beweisen  sollen  einerseits,  daß  der  Anfangszustand  nicht  der  senk- 
rechte Fall  der  Atome  sein  kann,  anderseits,  daß  er  eine  Wirbel- 
bewegung ist.  Für  uns  kommen  hier  nur  diejenigen  Stellen  in  Be- 
tracht, welche  positiv  dafür  sprechen  sollen,  daß  die  ursprüngliche 
Bewegung  nach  Demokrit  eine  Wirbelbewegung  ist;  und  dies  sind 


12)  Dilthey,  Einleitung  in  die  Geisteswissenschaften   I.      Leipzig  1883, 
p.  214—215. 

13)  Brieger,  Die  Urbewegung  der  Atome  und  die  Weltentstehung  bei 
Leucipp  und  Demokrit,  Programmabhandlung,  Halle  1884. 

14)  Liepmann,     Die    Mechanik     der    Leucipp-Demokritischen     Atome. 
Leipziger  Inaugural-Dissertation,  Berlin  1885. 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  29 

unter  den  von  Dilthey  angezogenen  Stellen  nur  zwei.  Die  eine  steht 
in  dem  zweiten  der  von  Laertius-Diogenes  (X  90)  mitgeteilten  Briefe 
Epikurs  und  lautet:  „Nach  dem  angenommenen  Dogma  muß  not- 
wendig nicht  nur  eine  Ansammlung  und  eine  Wirbelbewegung  in 
dem  leeren  Raum  stattfinden,  in  welchem  eine  Weltbildung  möglich 
sein  soll,  sowie  eine  Vermehrung  des  Stoffs,  bis  ein  Auseinanderprallen 
stattfindet,  wie  jemand  von  den  sogenannten  Naturforschern  sagt." 
Daß  „jemand  von  den  sogenannten  Naturforschern"  hier  nur  Demokrit 
sein  kann,  gebe  ich  zu.  Aus  unserer  Stelle  folgt  aber  nur,  daß  nach 
Demokrit  der  Weltbildimg  eine  Wirbelbewegung  vorangegangen  ist, 
dagegen  keineswegs,  daß  diese  das  Ursprüngliche  ist.  Die  zwei.te 
Stelle  steht  in  dem  Bericht  des  Diogenes  über  die  Lehre  Demokrits 
(IX  44—45)  und  lautet :  „Die  Atome  aber  sind  unbegrenzt  in  Ansehung 
ihrer  Größe  und  Zahl.  Sie  bewegen  sich  aber  wirbelnd  im  All  Und 
so  erzeugen  sie  alles  Zusammengesetzte,  Feuer,  Wasser,  Luft  und 
Erde  ..'..,  und  alles  geschieht  mit  Notwendigkeit,  indem  der  Wirbel 
die  Ursache  der  Erzeugung  aller  Dinge  ist."  Diese  Stelle  macht  aller- 
dings den  Eindruck,  als  ob  der  Wirbel  der  Urzustand  sei;  es  ist  die 
einzige  Stelle,  welche  sich  für  die  Ansicht  Diltheys  geltend  machen 
läßt.  Da  aber  Diogenes  ein  sehr  oberflächlicher  und  unklarer  Schrift- 
steller ist,  dürfen  wir  bei  ihm  keineswegs  jedes  Wort  auf  die  Goldwage 
legen.  Jedenfalls  kann  diese  ziemlich  unklar  gehaltene  Stelle  gar  nicht 
in  Betracht  kommen  gegenüber  der  folgenden  ganz  klaren  Stelle 
eines  besseren  Schriftstellers,  welche  deutlich  zeigt,  daß  der  Wirbel 
nicht  der  Urzustand  ist,  sondern  vielmehr  aus  einem  früheren  Zu- 
stand hervorgegangen  ist  (Simpl.  in  Phys.  p.«  731),  Dox.  Gr.  p.  327): 
„Demokrit  scheint  an  der  Stelle,  wo  er  sagt,  daß  ein  Wirbel  sich  aus 
dem  -(ranzen  gleichartiger  Gestatten  abgeschieden  habe,  .....  .den- 
selben von  selbst  und  durch  Zufall  entstehen  zu  lassen." 

Zeller  beginnt  seine  Auseinandersetzung  mit  den  Worten  (I  b\ 
p.  872):  „Auch  die  ursprüngliche  Bewegung  der  Atome  müssen  sie 
(die  Atomisten)  ....  für  die  notwendige  Wirkung  natürlicher  Ur- 
sachen gehalten  haben.'-  Hieraus  ersehen  wir  bereits,  dal.)  Zeller  zu 
seiner  Ansicht  über  den  Urzustand  der  Atome  dadurch  gelangt  ist, 
daß  er  die  große  Bedeutung  des  Beharrungsgesetzes  im  System 
Demokrits  nicht  genügend  gewürdigt  hat;  denn  aus  diesem  Gesetz 
folgt  ja,  daß  wir  niemals  für  eine  Bewegung,  sondern  immer  nur  für 
die  Änderung  einer  Bewegung  eine  Ursache  zu  suchen  haben.     Die 


30  Louis   L  ö  w  o  n  h  e  i  m  , 

Anschauung  also,  daß  die  Schwerkraft  die  Ursache  der  ursprünglichen 
Bewegung  sei,  würde  der  ganzen  Denkweise  Bemokrits  widersprechen. 
Zeller  sucht  diesen  Einwand,  den  man  gegen  seine  Annahme  machen 
kann,  folgendermaßen  zu  entkräften  (Ib5,  p.  883):  „Nun  bemerken 
freilich  Aristoteles  und  Theophrast,  Demokrit  habe  es  ...  .  sogar 
ausdrücklich  abgelehnt,  für  das,  was  immer  war,  einen  Entstehungs- 
grund anzugeben.  Allein  aus  der  letzteren  Angabe  folgt  doch,  auch 
wenn  sie  sich  auf  die  erste  Bewegung  der  Atome  bezieht,  nicht  mehr, 
als  daß  Demokrit  der  Ansicht  war,  die  Erklärung  der  Erscheinungen 
aus  ihren  Ursachen  finde  an  dieser  ersten  Bewegung  ihre  Grenze. 
Was  für  eine  Art  von  Bewegung  diese  war,  ist  hierfür  vollkommen 
gleichgültig;  und  es  läßt  sich  schlechterdings  nicht  absehen,  warum 
Demokrit  nicht  hätte  sagen  können:  ,,daß  alle  Körper  schwer  sind, 
d.  h.  daß  alle  im  Leeren  fallen  (denn  dieses  beides  ist  gleichbedeutend), 
ist  unbestreitbar;  warum  es  so  ist,  weiß  ich  nicht;  genug,  daß  es 
immer  so  war."  Auch  das  Übrige  beweist  nichts  gegen  die  hier  ent- 
wickelte Ansicht,  Wenn  Demokrit  den  Fall  der  Körper  im  Leeren 
zwar  für  selbstverständlich,  aber  für  nicht  weiter  erklärbar  hielt,  so 
ist  es  ganz  natürlich,  daß  er  es  unterließ,  die  Ursache  desselben  zu 
untersuchen  oder  auch  nur  anzugeben."  Man  wird  zugeben,  daß  es 
etwas  ganz  anderes  ist,  ob  jemand  sagt:  „Für  die  ursprüngliche  Be- 
wegung suche  ich  keine  Ursache,  weil  ich  es  nicht  für  richtig  halte, 
von  dem,  was  immer  in  gleicher  Weise  ist,  eine  Ursache  zu  suchen," 
oder:  „Warum  alle  Körper  im  Leeren  fallen,  weiß  ich  nicht;  genug, 
daß  es  immer  so  war".  Und  ebenso  klar  scheint  mir  zu  sein,  daß, 
wenn  Demokrit  gelehrt  hätte,  daß  die  ursprüngliche  Bewegung  der 
Atome  durch  die  Schwerkraft  hervorgebracht  wird,  Aristoteles  nicht 
hätte  sagen  können:  „Woher  dem  Seienden  Bewegung  zukommt, 
haben  die  Atomisten  nicht  untersucht."  Aristoteles  behauptet  aber 
nicht  nur,  daß  die  Atomisten  die  Ursache  der  Bewegung  nicht  unter- 
sucht haben,  sondern  daß  sie  auch  ihre  Richtung  nicht  angegeben 
haben.  Er  sagt  (de  coel.  III 2,  p.  300  b):  „Leucipp  und  Demokrit, 
welche  sagen,  daß  die  Urkörper  im  unendlichen  leeren  Raum  sich 
immer  bewegen,  müssen  sagen,  welches  diese  Bewegung  ist,  und  welches 
ihre  natürliche  Bewegung  ist.  Denn  wenn  ein  Element  vom  andern 
gewaltsam  bewegt  wird,  so  muß  notwendig  auch  jedes  eine  natür- 
liche Bewegung  haben,  gegen  welche  die  gewaltsame  stattfindet." 
Hätten  die  Atomisten  gelehrt,  daß  die  ursprüngliche  Bewegung  der 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  31 

Atome  senkrecht  nach  unten  gerichtet  sei,  so  hätte  Aristoteles  ihnen 
nicht  die  Frage  entgegenhalten  können,  welches  denn  die.  ursprüng- 
liche und  natürliche  Bewegung  der  Atome  sei,  da  doch  jede  gewalt- 
same Bewegung  eine  natürliche  voraussetzt.  Zeller  sucht  sich  mit 
dieser  Stelle  folgendermaßen  abzufinden:  „Was  er  (Aristoteles) 
behauptet,  ist  ja  nicht,  daß  sich  Demokrit  und  Leucippus  bei  der 
Bewegung  der  Atome  keine  bestimmte  Bewegung  g  e  d  a  c  h  t , 
sondern  nur,  daß  sie  sich  darüber  nicht  erklärt  haben,  was 
für  eine  Bewegung  sie  den  Atomen  als  ihre  Urbewegung  zuschreiben. 
Zeller  gibt  also  hier  zu,  daß  Demokrit  die  Ansicht,  die  er  ihm  mit 
solcher  Bestimmtheit  beilegt,  gar  nicht  ausgesprochen,  sondern  nur 
gedacht  hat.  Zeller  versucht  dann  das,  was  Demokrit  weiter  gedacht 
hat,  aus  seinem  übrigen  System  zu  rekonstruieren.  Aristoteles  hat 
es  freilich  nicht  vermocht.  Denn  er  hält  den  Atomisten  nicht  nur 
die  Frage  entgegen,  ob  die  anfangslose  Bewegung  der  Atome  eine 
natürliche  oder  gewaltsame  sei  (obgleich  diese  erst  von  Plato  und 
Aristoteles  aufgebrachten  Begriffe  in  dem  System  Demokrits  ebenso 
unmöglich  sind  wie  in  dem  System  der  modernen  Naturwissenschaft), 
sondern  auch  die  Frage,  welches  ihre  Bewegung  im  unendlichen 
leeren  Raum  sei.  Was  ferner  das  von  Zeller  angezogene  Aristoteles- 
fragment betrifft,  so  bedeutet  hier  der  Ausdruck  „einfallen",  wie 
sich  aus  einer  später  p.  84  anzuführenden  Parallelstelle  ergibt,  nichts 
anderes  als  „auf  einander  stoßen";  das  Fragment  beweist  somit 
nicht,  daß  sich  die  Atomisten  die  ursprüngliche  Bewegung  als  einen 
Fall,  d.  h.  eine  senkrecht  nach  unten  gerichtete  Bewegung  vorgestellt 
haben.  Wir  sind  aber  imstande,  den  direkten  Beweis  zu  führen,  daß 
Demokrit  unmöglich  gelehrt  haben  kann,  daß  die  ursprüngliche 
Bewegung  der  Atome  nach  unten  gerichtet  ist. 

Die  Atomisten  dachten  sich  den  Kaum  unendlich  groß  (Plut. 
Kpit,  I  18  Dox.  Gr.  p.  316.)  Welche  Bedeutung  diese  großartige  An- 
schauung für  jene  frühe  Zeit  hatte,  ersieht  man  daraus,  daß  zwei 
.Jahrhunderte  nach  Demokrit  der  große  Archimedes  sich  noch  die 
Aufgabe  stellte,  eine  Zahl  zu  finden,  welche  jedenfalls  größer 
wäre,  als  die  Anzahl  der  Sandkörner,  die  den  gesamten  Weltraum 
auszufüllen  vermögen.  Und  wir  werden  später  sehen,  daß  unsere 
moderne  Anschauung  von  der  Unendlichkeit  des  Wellalls  durch 
Zurückgehen  auf  die  Philosophie  Demokrits  entstanden  ist  (bei 
Gidrdane  Bruno  zuerst).    Nun  gibt  es  aber  im  unterschiedslosen  unend- 


32  Louis   Löwenheim, 

liehen  Raum  weder  ein  Oben  noch  ein  Unten.  Auch  Zeller  verkennt 
dies  nicht.  Er  denkt  sich  aber  die  Atomisten  so  kindlich,  daß  sie 
diesen  so  naheliegenden  Einwand  gegen  ihre  angebliche  Annahme, 
daß  die  Urbewegung  der  Atone  nach  unten  gerichtet  sei,  nicht  bemerkt 
hätten.  Und  er  behauptet,  daß  Aristoteles  dem  Demokrit  nach- 
weise, daß  es  im  unendlichen  Raum  kein  Oben  und  Unten  gibt  (II  b3,* 
p.  412).  Zur  Stütze  dieser  Ansicht  führt  er  zwei  Stellen  an  (Ar.  Phys. 
IV  8,  p.  214  b— 215  a  und  de  eoel.  17,  p.  275  b—  276  a),  in  denen 
Aristoteles  der  Behauptung  der  Atomisten,  daß  die  Existenz  eines 
leeren  Raums  die  notwendige  Bedingung  für  die  Existenz  der  Bewegung 
sei,  die  Behauptung  entgegensetzt,  daß  vielmehr  gerade  im  Gegen- 
teil, wenn  ein  leerer  Raum  existiert,  keine  Bewegung  existieren  könne, 
und  bei  dem  Versuche,  diese  kühne  Behauptung  zu  beweisen, 
den  allgemein  zugestandenen  Satz  benutzt,  daß  im  unendlichen 
leeren  Raum  keine  Richtung  vor  der  andern  ausgezeichnet  ist.  Zeller 
schließt  daraus,  daß  Aristoteles  den  Atomisten  das  Bedenken  ent- 
gegen halten  kann,  daß  es  im  unendlichen  leeren  Raum  kein  Oben 
und  Unten  gibt.  Demokrit  würde,  wenn  ihm  zu  seiner  Zeit  ein  so 
oberflächliches  >  Bedenken  gegen  die  Existenz  des  leeren  Raumes 
entgegen  gehalten  worden  wäre,  vermutlich  dasselbe  geantwortet 
haben,  was  die  moderne  Naturwissenschaft  auf  dieses  Bedenken 
erwidern  würde,  nämlich  daß  zwar  im  vollkommen  leeren  Raum 
allerdings  keine  Richtung  vor  der  andern  ausgezeichnet  ist,  daß  aber, 
wenn  im  leeren  Raum  nur  zwei  Atome  oder  genauer  zwei  materielle 
Punkte  existieren,  dadurch  eine  Richtung  bestimmt  ist,  und  daß 
dies  genügt,  um  eine  Bewegung  möglich  zu  machen,  während .  die 
Existenz  eines  Oben  und  Unten  keine  notwendige  Bedingung  für 
das  Vorhandensein  von  Bewegung  ist,  Die  Aristotelesstellen  können 
also  in  keiner  Weise  beweisen,  daß  ein  Denker  wie  Demokrit  sich  nicht 
darüber  klar  gewesen  sein  sollte,  daß.  es  im  unterschiedlosen  unend- 
lichen Raum  kein  Oben  und  Unten  geben  kann.  Nach  anderen  Stellen 
aber  hat  Demokrit  ausdrücklich  gelehrt,  daß  es  im  unendlichen  Raum 
kein  Oben  und  Unten  gibt.  Wir  lesen  nämlich  bei  Simplicius  (zu 
de  coelo  p.  300  a):  „Er  (Aristoteles)  wendet  sich  dabei  gegen  diejenigen, 
welche  der  Meinung  waren,  daß  es  in  der  Welt  kein  Oben  und  Unten 
gäbe  (oder:  welche  nicht  der  Meinung  waren,  daß  es  in  der  Welt 
ein  Oben  und  Unten  gäbe).  Dieser  Meinung  waren  aber  Anaximander 
und   Demokrit,  weil  sie  das  All  als  unendlich  voraussetzten."     Ich 


Die  Wissenschaft  Deruokrits.  3 


q 


wüßte  nicht,  wie  man  diese  Stelle  anders  auffassen  könnte  als  sp, 
daß  Anaximander  und  Demokrit  den  Raum  als  unendlich  voraus- 
setzten und  daraus  die  Folgerung  zogen,  daß  es  im  "Weltall  kein  Oben 
und  Unten  gäbe,  und  daß  Aristoteles  es  ist,  welcher  dagegen  pole- 
misierte. Das  letztere  erklärt  sich  dadurch,  daß  Aristoteles  im  Gegen- 
satz zu  den  Atonalsten,  welche  sich  zwar  nicht  das  ganze  Wertgebäude, 
wohl  aber  unsere  Welt  einmal  entstanden  dachten,  angenommen 
hat,  daß  unsere  Welt  mit  der  Erde  in  der  Mitte  seit  Ewigkeit  her 
besteht,  und  nun  den  Erdmittelpunkt  als  den  untersten  Punkt  des 
ganzen  Weltalls  bezeichnete  und  die  übrigen  Punkte  des  Weltalls  als 
umso  höher,  je  weiter  sie  vom  Erdmittelpunkt  entfernt  sind,  und 
daher  lehrte,  daß  es  in  der  Welt  stets  ein  Oben  und  Unten  gegeben  habe. 
Endlich  heißt  es  bei  Cicero  (fin.  I  6,  17):  „Jener  (Demokrit)  meint, 
daß  die  sogenannten  Atome  ....  im  unendlichen  leeren  Raum, 
in  welchem  kein  Oben  und  Unten,  keine  Mitte,  kein  Letztes  und 
kein  Äußerstes  sei  (Cicero  sagt  nicht  „ist",  sondern  „sei"),  sich 
so  bewegen,  daß  sie  durch  Zusammenstöße  untereinander  in  Beziehung 
treten."  Es  kann  somit  kein  Zweifel  darüber  sein,  daß  Demokrit 
lehrte,  daß  der  Raum  unendlich  ist  und  daß  es  im  unendlichen  Raum 
kein  Oben  und  kein  Unten  gibt.  Er  kann  daher  nicht  gelehrt  haben, 
daß  die  ursprüngliche  Bewegung  der  Atome  senkrecht  nach  unten 
gerichtet  ist. 

Nun  führt  aber  Zeller  (Ib5,  p.  877  ff.)  eine  ganze  Reihe  von 
Stellen  an,  welche  direkt  beweisen  sollen,  daß  sich  Demokrit  die  ur- 
sprüngliche Bewegung  der  Atome  in  der  Tat  senkrecht  nach  unten 
gerichtet  dachte.  Die  erste  steht  bei  Simplicius  (in  Phys.  p.  310  a) 
und  sagt  allerdings  deutlich,  daß  Demokrit  die  ursprüngliche  Bewegung 
der  Atome  sich  durch  die  Schwere  hervorgebracht  und  folglich  senk- 
recht nach  unten  gerichtet  dachte.  Aber  ich  behaupte,  daß  Simplicius 
in  diesem  Punkte  unglaubwürdig  ist.  Denn  derselbe  Simplicius  sagt 
a.  a.  0.  ]).  9  b:  „Demokrit  sagt,  daß  die  Atome  von  Natur  unbewegt 
seien  und  behauptet,  daß  sie  durch  den  Stoß  in  Bewegung  gesetzt 
werden."  Hier  meint  also  Simplicius,  daß  Demokrit  eine  ursprüngliche 
Bewegung  der  Atome  überhaupt  nicht  angenommen  habe  und  daß  nach 
ihm  ihre  erste  Bewegung  nicht  durch  die  Schwere,  sondern  durch  den 
Stoß  hervorgerufen  sei.  Es  kann  also  nicht  im  mindesten  zweifelhaft 
sein,  daß  Simplicius  hinsichtlich  der  Frage  nach  der  ursprünglichen 
Bewegung,  welche  die  Atomisten  etwa  ihren  Atomen  erteilten,  durchaus 

Archiv  für  systematische  Philosophie  (Beilageheft).  3 


34  Louis   Löwen  heim, 

unglaubwürdig  ist,  da  er  in  diesem  Punkte  sich  selbst  widerspricht. 
Und  die  übrigen  Stellen,  welche  Zeller  für  seine  Ansicht  ins  Feld 
führt,  scheinen  mir  gar  keine  beweisende  Kraft  zu  haben.  Wir  wollen 
sie  der  Reihe  nach  durchgehen. 

Zunächst  führt  er  eine  Stelle  des  Theophrast  und  eine  Stelle  des 
Simplicius  an,  in  denen  mit  keinem  Worte  erwähnt  ist,  daß  hier  über- 
haupt von  der  ursprünglichen  Bewegung  der  Atome  die  Rede 
ist,  d.  h.  von  derjenigen  Bewegung,  welche  vor  der  Bildung  unserer 
Welt  stattfand;  daß  aber  Demokrit  in  der  gebildeten  Welt  sich  alle 
Körper  der  Schwere  unterworfen  dachte,  hat  noch  niemand  bestritten. 
Zeller  fährt  dann  fort:  „Schon  Plato  bestreitet  (Timaeus  62  C)  die 
Meinung,  daß  es  in  der  Welt  ein  Unten  und  Oben  im  strengen  Sinne 
gebe  und  daß  alle  Körper  sich  nach  unten  und  nur  gezwungen  nach 
oben  bewegen.      Er  kennt    also  bereits  eine  Theorie,  welche,  wie 
Demokrit  bei  Simplicius,  den  Fall  für  die  einzige  natürliche  Bewegung 
der  Körper,  das  Aufsteigen  des  Feuers  oder  der  Luft  für  eine  gewalt- 
same hielt.    Diese  Ansicht  hegt  aber  nicht  allein   der  gewöhnlichen 
Anschauung   fern;    sondern  sie  wird    uns    auch    von    keinem    der 
vorplatonischen  Physiker  außer  Demokrit  berichtet.     Es  hat  daher 
alle  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  daß  Plato  hier  ihn  und  keinen  andern 
im  Auge  hat."    Diese  Worte  zeigen  zunächst  sehr  charakteristisch, 
wie  sehr  sich  Zeller  gewöhnt  hat,  die  ganze  griechische  Philosophie 
mit  den  Augen  des  Aristoteles  zu  betrachten.     Denn  die  Begriffe 
der  natürlichen  und  gewaltsamen  Bewegung  sind,  wie  bereits  erwähnt, 
Aristotelische   Begriffe,   welche   weder   Demokrit   noch   die  heutige 
Naturwissenschaft  kennt.    (Auch  p.  873  spricht  Zeller  beim  System 
Demokrits  von  der  natürlichen  Bahn  der  Atome.)     Die  angeführte 
Platostelle  beginnt  nun  (Timaeus  26,  p.  62  C— E):    „Das  Schwere 
und  Leichte  aber  dürfte  am  deutlichsten  seine  Natur  offenbaren, 
wenn  es  zugleich  mit  der  sogenannten  Natur  des  Unten  und  Oben 
untersucht  würde.     Denn  daß  es  von  Natur  zwei  entgegengesetzte 
Orte  gebe,  die  das  All  in  zwei  Teile  zerlegen,  einen  unteren  Ort,  zu 
dem  alles  getrieben  wird,  was  körperliches  Volumen  besitzt,  und  einen 
oberen  Ort,  zu  dem  alles  nur  unfreiwillig  geht,  das  darf  man  durchaus 

nicht  für  richtig  halten.    Denn ".  Plato  bereitet  dann  hier  die 

später  von  Aristoteles  gegebene  Definition  des  Oben  und  Unten  vor. 
Es  ist  nun  durchaus  nicht  selbstverständlich,  daß  die  hier  bekämpften 
Ansichten  alle  derselben  Schule  angehören,  sondern  sehr  gut  denkbar, 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  35 

daß  Plato  einerseits  die  Ansicht  der  unwissenschaftlichen  Menge  be- 
kämpft, daß  es  ein  absolutes  Unten  und  Oben  gäbe,  anderseits  die 
Ansicht  der  Atomisten,  daß  in  unserer  Welt  alle  Körper  schwer  seien, 
der  Plato  und  Aristoteles  die  Ansicht  entgegensetzten,  daß  es  leichte 
und  schwere  Körper  gebe,  von  denen  die  ersteren  ebenso  nach  oben, 
wie  die  letzteren  nach  unten  gezogen  werden.  Daß  Plato  die  Anschau- 
ungen der  unwissenschaftlichen  Menge  und  die  der  Atomisten  in 
eine  m  Atem  nennt,  kann  uns  nicht  wunder  nehmen,  da  in  dem  aus 
weiteren  Kreisen  sich  zusammensetzenden  athenischen  Publikum, 
an  das  Plato  sich  wandte,  eine  Kombination  beider  Anschauungen 
vielleicht  sehr  verbreitet  war.  Sollte  aber  Plato  auch  bei  der  Anschau- 
ung, daß  es  ein  absolutes  Unten  und  Oben  gibt,  die  Atomisten  im 
Auge  haben,  so  würde  daraus  weiter  nichts  folgen,  als  daß  er  das 
System  der  Atomisten  mißverstanden  hat.  Jedenfalls  ist  in  der  ganzen 
Stelle  von  der  ursprünglichen  Bewegung  der  Atome  keine  Rede,  und 
ebendies  gilt  auch  von  den  Worten  des  Ekphantus  und  des  Aristoteles, 
welche  Zeller  weiter  zur  Stütze  seiner  Ansicht  anführt.  Nun  erst  gibt 
er  solche  Stellen  an,  welche  sich  wirklich  auf  die  ursprüngliche  Be- 
wegung der  Atome  beziehen.  Die  erste  derselben  ist  eine  Stellle  des 
Lukrez,  von  der  Zeller  annimmt,  daß  sie  sich  gegen  den  von  Lukrez 
nicht  genannten  Demokrit  richtet.  Nun  beginnt  aber  diese  Stelle 
mit  den  Worten  (II,  225):  „Wenn  nun  vielleicht  irgend 
jemand  glaubt."  Lukrez  polemisiert  also  nicht  gegen  eine  be- 
stimmte Person,  sondern  macht  sich  selbst  einen  Einwand,  den  viel- 
leicht jemand  erheben  könnte.  Diese  kurze  Bemerkung  möge  hier 
genügen;  ich  werde  die  in  Rede  stehende  Stelle,  auf  welche  Zeller  großes 
Gewicht  zu  legen  scheint,  später  p.  70  ausführlich  besprechen. 
Mit  dieser  Stelle  steht  nun  eine  Cicerostelle  im  Zusammenhang, 
welche  Zeller  ebenfalls  für  seine  Ansicht  ins  Feld  führt  und  welche 
ich  gleichfalls  später  p.  71  besprechen  werde.  Zeller  hebt  dann  ferner 
hervor,  daß  Diogenes  bei  der  Darstellung  der  atomistischen  Theorie 
sagt,  daß  bei  der  Weltbildung  die  Körper  in  einen  leeren  Raum  ein- 
fallen (IX,  30);  (nicht  das  Wort  „fallen",  sondern  das  Wort  „einfallen" 
gebraucht  Diogenes),  so  meint  er  damit  offenbar  nur,  daß  sie  in  einen 
leeren  Raum  eindringen;  denn  Diogenes  ist  wahrhaftig  nicht  der 
Schriftsteller,  bei  dem  man  jedes  Wort  auf  die  Goldwage  legen  darf. 
Zeller  führt  dann  noch  eine  Stelle  des  Scholiasten  Alexander  an, 
woraus  sich  ergebe]]  soll,  daß  dieser  den  Fall  der  Atome  im  Leeren 

3* 


36  Louis   Löwen  heim, 

als  die  gemeinsame  Voraussetzung  aller  atomistisehen  Theorien  be- 
trachtet. Aber  Alexander  sagt,  daß  das,  was  er  Epikur  entgegenhält, 
vielleicht  auch  gegen  Leucipp  und  Demokrit  sagen  lasse,  worin 
liegt,  daß  er  nicht  sicher  weiß,  wohin  die  Lehre  der  älteren  Atomisten 
in  diesem  Punkte  ging.  Und  wenn  das  griechische  Wort  lömq, 
das  ich  mit  „vielleicht"  übersetzte,  auch  nicht  immer  diese  Bedeutung 
hat,  so  kann  es  doch  diese  Bedeutung  haben.  Und  es  kann  daher 
die  angeführte  Stelle  nicht  eine  aus  zahlreichen  andern  Stellen  ge- 
wonnene Überzeugung  erschüttern.  Wenn  Zeller  dann  noch  hervor- 
hebt, daß  uns  berichtet  werde,  daß  nach  Demokrit  die  Atome,  wenn 
sie  aufeinander  stoßen,  einander  einholen,  was  eine  Bewegung  in 
der  gleichen  Bichtung  voraussetzte,  so  gebe  ich  zu,  daß  in  dem  deutschen 
Wort  „einholen"  liegt,  daß  die  verglichenen  Bewegungen  gleiche 
Richtung  haben,  kann  aber  nicht  zugeben,  daß  dies  auch  in  dem 
griechischen  Wort  tjcilafißaveir  Hegt,  welches  Zeller  mit  „ein- 
holen" übersetzt. 

Endlich  glaubt  Zeller  seine  Ansicht  noch  durch  eine  ganz  eigen- 
tümliche Betrachtung  annehmbar  machen  zu  können.  Er  sagt: 
„Das  Gleiche  (daß  der  Fall  der  Atome  im  Leeren  die  gemeinsame 
Voraussetzung  aller  atomistisehen  Theorien  ist)  ergibt  sich  aber  auch 
aus  der  Angabe,  das  Leere  sei  den  Atomisten  zufolge  der  Grund  der 
Bewegung.  Kann  mit  diesem  Satze  auch  nicht  gesagt  sein  sollen, 
daß  sie  dem  Leeren,  d.  h.  dem  Mchtseienden  eine  bewegende  Kraft 
beigelegt  haben,  so  darf  man  ihn  doch  ebensowenig  so  deuten,  als  ob 
es  nur  für  die  Bedingung  erklärt  werden  sollte,  ohne  die  keine  Be- 
wegung möglich  wäre ;  sondern  die  Meinung  kann  nur  d  i  e  sein,  daß 
nach  ihrer  Ansicht  die  Bewegung  der  Körper  von  selbst  eintrete, 
wenn  sie  sich  im  Leeren  befinden.  Die  einzige  Bewegung  aber,  von 
der  sich  dies,  die  Schwere  der  Atome  vorausgesetzt,  von  selbst  zu 
verstehen  scheint,  ist  die  Fallbewegung."  Die  Ansicht,  die  Atomisten 
hätten  gelehrt,  daß  das  Leere  der  Grund  der  Bewegung  sei,  stammt 
aus  Aristoteles.  Nun  sagt  aber  Aristoteles  selbst  (Phys.  IV  7,  p.  214  a): 
„Sie  (es  ist  die  Rede  von  denen,  welche  die  Existenz  des  leeren  Raumes 
behaupten,  womit  die  Atomisten  gemeint  sind)  meinen  aber,  daß  der 
leere  Raum  in  dem  Sinne  Grund  der  Bewegung  sei,  daß  in  demselben 
die  Bewegung  vor  sich  geht."  Daß  das  Leere  der  Grund  der  Bewegung 
sei,  ist  also  nur  ein  unklarer  Aristotelischer  Ausdruck  für  die  ein- 
fache Lehre  der  Atomisten,  daß  das  Leere  die  Bedingung  ist,  ohne 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  37 

die  keine  Bewegung  möglich  ist.  Und  wenn  Zeller  hervorhebt,  daß 
Eudemus  den  Demokrit  wegen  der  eigentümlichen  Lehre,  daß  das 
Leere  der  Grund  der  Bewegung  sei,  apostrophierte,  so  möchte  ich 
darauf  erwidern,  daß  Eudemus  diese  Auffassung  der  Lehre  Demokrits 
aus  Aristoteles  geschöpft  haben  wird. 

Die  Ansicht  Zellers  ist  also  ebensowenig  haltbar,  wie  diejenige 
Diltheys.  Wie  dachten  sich  nun  die  Atomisten  die  ursprüngliche 
Bewegung  der  Atome?  Es  ist  darüber  nichts  überliefert.  Und  doch  ist 
die  Frage  leicht  zu  entscheiden.  Wir  haben  gesehen,  daß  ihnen 
Aristoteles  vorwirft,  daß  sie  nicht  sagen,  welches  die  ursprüngliche 
Bewegung  der  Atome  ist.  Und  da  wir  auch  bei  andern  Schriftstellern 
nichts  darüber  finden,  so  können  wir  nicht  daran  zweifeln,  daß  die 
Atomisten  sich  über  die  Richtung  der  urprünglichen  Bewegung  gar 
nicht  geäußert  haben.  Und  daraus  müssen  wir  notwendig  schheßen, 
daß  sie  dieser  ursprünglichen  Bewegung  gar  keine  bestimmte  Richtung 
gegeben  haben,  sondern  annahmen,  daß  die  verschiedenen  Atome 
sich  in  verschiedener  Richtung  bewegten,  so  daß  alle  möglichen  Rich- 
tungen vertreten  waren. 

Zu  demselben  Ergebnis  gelangen  wir  auch  von  einem  ganz  andern 
Gesichtspunkte  aus.  In  einer  auf  Theophrast  zurückgehenden  Stelle 
des  Simplicius  heißt  es  (in  Phys.  7  a,  Dox.  Gr.  p.  483 — 484):  „Dieser 
(Leucipp)  nahm  die  Atome  als  die  in  unendlicher  Zahl  vorhandenen 
und  immer  bewegten  Elemente  an  und  dachte  sich  die  bei  ihnen 
vorkommende  Anzahl  von  Gestalten  unendlich  groß,  weil  kein  Grund 
vorhanden  sei,  warum  ihre  Gestalt  eher  diese  als  jene  sein  solle  .... 
In  ähnlicher  Weise  aber  nahm  auch  sein  Gefährte  Demokrit  aus  Ab- 
dera  das  Volle  und  das  Leere  als  Prinzipien  an  ....  ;  und  sie  be- 
haupten, daß  die  Anzahl  der  unter  den  Atomen  vorkommenden  Ge- 
stalten unendlich  groß  sei,  weil  kein  Grund  vorhanden  sei,  warum  ihre 
Gestalt  eher  diese  als  jene  sein  solle.  Denn  dies  geben  sie  selbst  als 
Grund  für  die  unendliche  Anzahl  der  Gestalten  an."  Diese  Schluß- 
weise werden  nun  die  Atomisten  auch  auf  die  Richtung  der  ursprüng- 
lichen Bewegung  angewandt  und  sich  gesagt  haben,  daß  hier  jede 
Richtung  vertreten  sein  müsse,  weil  kein  Grund  vorhanden  ist,  war- 
um im  unendlichen  unterschiedlosen  Räume  eine  Richtung  vor  der 
andern  bevorzugt  sein  sollte.  Ich  bin  somit  in  der  Lage,  mich  der 
von  Brieger  und  Liepmann  vertretenen  Ansicht  anschließen  zu  können. 
Wenn  Brieger  freilich  sagt:    ,,daß  sich  Demokrit  bei  dem  Durchein- 


38  Louis    Löwen  heim, 

anderfliegen  die  horizontale  Bewegung  vorherrschend  gedacht  hat. 
vermute  ich,  ohne  es  beweisen  zu  können"  (a.  a.  0.  p.  13),  so  kann  ich 
dem  in  keiner  Weise  zustimmen,  da  es  im  unendlichen  unterschied- 
losen Räume  keine  horizontale  Richtung  gibt. 

Fragen  wir  endlich,  ob  sich  die  Atomisten  che  ursprüngliche 
Bewegung  der  Atome  mit  zunehmender,  gleichbleibender  oder  ab- 
nehmender Geschwindigkeit  vor  sich  gehend  dachten,  so  wird  zwar 
hierüber  nichts  überliefert;  doch  läßt  sich  die  Frage  aus  dem  System 
der  Atomisten  mit  ziemlicher  Sicherheit  beantworten.  Demokrit 
wird  aus  dem  Beharrungsgesetz  geschlossen  haben,  daß  die  Atome, 
solange  sie  nicht  in  die  Sphäre  ihrer  gegenseitigen  Wirksamkeit  ge- 
langen, mit  unveränderter  Geschwindigkeit  sich  weiterbewegen  müssen. 
Und  auch  Leucipp  wird  bereits  zu  demselben  Ergebnis  gekommen 
sein  und  es  damit  begründet  haben,  daß  kein  Grund  vorhanden  ist, 
warum  ihre  Geschwindigkeit  eher  zunehmen  als  abnehmen,  oder  eher 
abnehmen  als  zunehmen  sollte. 

Die  ursprüngliche  Bewegung  der  Atome  wird  nun  dadurch 
modifiziert,  daß  die  Atome  aufeinander  stoßen.  So  lesen  wir  bei 
Stobaeus  ecl.  phys.  ed.  Heer,  p.  348:  „Demokrit  sagt,  daß  die  Ur- 
körper  ....  im  unendlichen  Raum  durch  Aufeinanderstoßen  in 
Bewegung  gesetzt  werden."  Und  bei  Alexander  v.  Aphrodisias  ad 
Met.  14,  p.  27,  20  heißt  es:  „Diese  (Leucipp  und  Demokrit)  sagen 
nämlich,  daß  die  Atome  gegen  einander  schlagen  und  aufeinander 
stoßen  und  so  in  Bewegung  gesetzt  werden."  Natürlich  muß  ein 
solches  Aufeinanderstoßen  um  so  häufiger  in  einer  bestimmten  Zeit 
geschehen,  je  mehr  Atome  sich  in  einem  bestimmten  Raum  befinden. 

Es  wird  uns  darüber  berichtet  (Seneca,  Naturales  Quaest.  V2): 
„Demokrit  sagt:  "Wenn  in  einem  schmalen  leeren  Raum  viele  Körper- 
chen sind,  die  er  Atome  nennt,  so  erfolge  ein  Wind.  Dagegen  sei 
der  Zustand  der  Luft  ruhig  und  still,  wenn  in  einem  großen  leeren 
Raum  wenig  Körperchen  sind.  Denn  sowie  man  auf  einem  Platz 
oder  einem  Wege,  solange  wenige  da  sind,  ohne  Gedränge  geht,  da- 
gegen da,  wo  eine  Menge  in  einem  engen  Raum  zusammenkommt, 
ein  Konflikt  der  einen  mit  den  andern  entsteht,  so  müssen  notwendig 
auch  in  dem  Raum,  von  welchem  wir  umgeben  sind,  wenn  viele  Körper 
einen  kleinen  Raum  erfüllen,  die  einen  an  die  andern  geraten  und  sich 
stoßen  und  zurückgestoßen  werden  und  sich  verwickeln  und  zusammen- 
gedrängt werden,  wodurch  ein  Wind  entsteht,  da  jene  Körper,  welche 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  39 

miteinander  in  Konflikt  gerieten,  sich  aufeinander  stürzten  und  nach 
langem  und  zweifelhaftem  Schwanken  ihre  Richtung  änderten.  Wo 
dagegen  in  einem  großen  und  weiten  Raum  wenig  Körper  sich  be- 
finden, da  können  sie  Stöße  weder  erteilen  noch  empfangen." 

2.   Die    Lehre   von   der   Schwere    und   von    der   all- 
gemeinen   Anziehung. 

Demokrit  wußte,  daß  alle  Körper  schwer  sind.  Denn  Simplicius 
sagt  ausdrücklich  (zu  de  coel.  p.  314  b):  ,,Die  Anhänger  Demokrits 
meinen,  daß  alle  Körper  schwer  sind."  Höchst  wahrscheinlich  war 
Leucipp  bereits  derselben  Meinung.  Doch  hat  Demokrit  keineswegs 
nur  nachgesprochen,  was  Leucipp  vor  ihm  gesagt  hatte,  denn  der 
Lehre  Leucipps.  daß  alle  Körper  schwer  sind,  hatte  vor  dem  Auf- 
treten Demokrits  Anaxagoras  eine  andere  Lehre  entgegengesetzt, 
welche  sich  den  Tatsachen  besser  anzusehließen  schien.  Laertius 
Diogenes  berichtet  uns  darüber  (II  8):  „Von  den  Körpern  aber 
haben  (nach  der  Lehre  des  Anaxagoras)  die  schweren  den  unteren 
Ort  inne,  wie  die  Erde,  die  leichten  aber  den  oberen  Ort,  wie  das 
Feuer,  Wasser  und  Luft  aber  den  mittleren  Ort."  Anaxagoras  lehrte 
also,  daß  nicht  alle  Körper  schwer  sind,  sondern  daß  es  leichte  und 
schwere  Körper  gibt,  und  daß  das  Feuer  zu  den  leichten  gehört. 
Wenn  freilich  Diogenes  hinzufügt,  daß  Wasser  und  Luft  nach  der 
Lehre  des  Anaxagoras  eine  mittlere  Stellung  einnahmen,  so  beruht 
dies  höchst  wahrscheinlich  auf  einer  Verwechslung  mit  der  Lehre 
des  Aristoteles.  Denn  Anaxagoras  unterschied  Feuer  oder  Äther 
einerseits  und  Luft,  Wasser.  Erde  und  Gesteine  anderseits.  Daß  er 
aber  das  Feuer  als  den  leichten  nach  oben  strebenden  Körper  von 
den  schweren  nach  unten  strebenden  Körpern  unterschieden  habe, 
werden  wir  glauben  können,  da  es  durch  Aristoteles  bestätigt  wird, 
welcher  in  Meteor.  II  7  säst:  ..Anaxagoras  behauptet,  daß  der  Äther 
von  Natur  bestimmt  sei.  sich  nach  oben  zu  bewegen."  Eine  indirekte 
Bestätigung  gibt  auch  die  Stelle  des  Simplicius  zu  de  coelo  p.  121b: 
„Man  muß  aber  wissen,  daß  Straton  und  Epikur  nicht  allein  sagten, 
daß  alle  Körper  schwer  seien  ....  Denn  auch  diejenigen,  welche 
behaupteten,  daß  es  kontinuierliche  Atome  gäbe,  sagten,  daß  diese 
seli wer  seien.""  Denn  wenn  außer  Straton  und  Epikur  unter  den  grie- 
chischen Philosophen  nur  die  Atomisten  behaupteten,  daß  alle  Körper 
seh  wer  seien,  so  kann  es  Anaxagoras  nicht  behauptet  haben.    Warum 


40  Louis   Löwenheim, 

er  sich  der  Ansicht  Leucipps  nicht  anschloß,  ist  leicht  zu  sehen.  Denn 
die  tägliche  Erfahrung  zeigt  uns  ja,  daß  das  Feuer  nicht  fällt,  sondern 
aufsteigt.  Wenn  also  Demokrit  nach  dem  Auftreten  des  Anaxagoras 
die  Ansicht  Leucipps,  daß  alle  Körper  schwer  sind,  aufrecht  erhalten 
wollte,  so  mußte  er  eine  Theorie  ersinnen,  welche  diese  Erscheinung 
erklärt,  Worin  diese  Theorie  bestand,  ersehen  wir  aus  folgender  Stelle 
des  Simplicius  (zu  de  coelo  p.  254  b):  „Die  Anhänger  Demokrits 
und  später  Epikur  behaupten,  daß  alle  Atome  gleichartig,  und  zwar 
schwer  seien;  dadurch  aber,  daß  gewisse  von  ihnen  schwerer  seien, 
sänken  diese  wieder  und  die  leichteren  würden  von  ihnen  gestoßen 
und  so  in  die  Höhe  getrieben;  und  so,  sagen  sie,  scheine  es,  als  ob 
die  einen  leicht,  die  andern  schwer  seien."  Wir  dürfen  hier  keinen 
Anstoß  daran  nehmen,  daß  Simplicius,  der  nach  Aristoteles  lebte, 
das  Wort  „leicht"  bald  in  dem  Sinne  Demokrits  gebraucht,  wo  es 
ebenso  wie  bei  uns  nichts  anderes  bedeutet  als  weniger  schwer,  bald 
in  dem  Sinne  Aristoteles,  der  absolut  leichte  Körper  kennt,  welche 
ebenso  immer  nach  oben  streben,  wie  die  schweren  Körper  immer  nach 
unten  streben.  Simplicius  will  sagen,  daß  nach  Demokrit  leichte 
Körper  im  Sinne  des  Aristoteles  nicht  existieren,  sondern  der  Schein 
der  Existenz  solcher  Körper  nur  dadurch  erzeugt  wird,  daß  die  weniger 
schweren  Atome  durch  die  schwereren  in  die  Höhe  getrieben  werden. 
Wir  lernen  also  aus  unserer  Stelle  die  Theorie  Demokrits  kennen, 
daß  es  von  dem  Medium,  in  welchem  sich  ein  Körper  befindet,  ab- 
hängt, ob  er  steigt  oder  fällt,  da  nach  ihm  das  Aufsteigen  eines  Körpers 
nur  dann  stattfinden  kann,  wenn  er  von  den  schwereren  Atomen 
des  umgebenden  Mediums  in  die  Höhe  getrieben  wird,  seine  eigenen 
Atome  also  weniger  schwer  sind,  als  die  des  Mediums,  während  er 
im  entgegengesetzten  Falle,  da  alle  Körper  schwer  sind,  zu  Boden 
fallen  muß.  Die  wenigen  Worte  des  Simplicius, 
welche  uns  dies  mitteilen,  sind,  wie  wir  im 
dritten  Bande  sehen  werden,  für  die  Geschichte 
der  Wissenschaft  geradezu  von  entscheiden- 
der Bedeutung  geworden.  Wir  müssen  daher  etwas 
länger  dabei  verweilen,  um  genau  zu  untersuchen,  wie  dieselben  zu 
verstehen  sind. 

Eine  zweite  Stelle  des  Simplicius,  welche  sich  auf  denselben 
Gegenstand  bezieht,  lautet  (zu  de  coelo  p.  314  b):  „Die  Anhänger 
Demokrits  meinen,  daß  alle  Körper  schwer  seien;  das  Feuer  aber 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  41 

werde,  weil  es  weniger  schwer  sei,  von  andern  Körpern,  die  ihm  den 
Platz  wegnehmen,  verdrängt  und  nach  oben  getrieben;  und  deswegen 
scheine  es  leicht  zu  sein  ....  Nichts  hindert  aber,  daß  auch  das 
Feuer  und  alle  andern  Körper  schwer  sind."  Diese  Stelle  führt  uns 
aber  nicht  weiter,  da  sie  nur  eine  Anwendung  des  in  der  vorigen 
Stelle  allgemein  Gesagten  auf  das  Feuer  enthält.  Eine  etwas  aus- 
führlichere Auseinandersetzung  finden  wir  bei  Lukrez  (II  184 — 215), 
welcher  das  System  Epikurs  darstellt,  der  sich  in  den  meisten  Punkten 
an  Demokrit  anschließt.  Diese  Stelle  ist  recht  geeignet,  den  Ge- 
danken Demokrits  populär  zu  veranschaulichen.  Aber  freilich. 
wissenschaftliche  Genauigkeit  werden  wir  weder  von  dem  oberfläch- 
lichen Epikur,  noch  von  dem  poetischen  Lukrez  erwarten  können; 
und  den  dort  ausgesprochenen  Satz,  daß  die  Geschwindigkeit,  mit 
der  Holz  im  Wasser  aufsteigt,  von  der  Kraft  abhängt,  mit  der  es 
in  das  Wasser  hineingestoßen  ist,  würde  Demokrit  schwerlich  unter- 
schreiben. Wir  müssen  uns  daher  nach  einer  andern  Möglichkeit 
umsehen,  über  die  in  unserer  Simpliciusstelle  angedeutete  Theorie 
Demokrits  näheren  Aufschluß  zu  erhalten. 

Diese  Möglichkeit  wird  nun  geboten  durch  Demokrits  Erklärung 
der  merkwürdigen  Tatsache,  daß  dünne  Metallplatten  auf  Wasser 
schwimmen,  was  dem  Prinzip,  daß  schwere  Körper  in  einem  leichten 
Medium  stets  fallen  müssen,  zu  widersprechen  scheint.  Diese,  wie 
es  scheint,  von  Demokrit  entdeckte  Erscheinung  erklärt  sich  nach 
der  zuerst  von  Galilei  ausgesprochenen  und  von  der  heutigen  Natur- 
wissenschaft angenommenen  Auffassung  dadurch,  daß  diese  Platten 
so  weit  einsinken,  daß  das  Volumen  der  verdrängten  Wassermasse 
größer  ist,  als  das  Volumen  der  Metallplatte  und  daher  das  Gewicht 
der  verdrängten  Wassermasse  gleich  sein  kann  dem  Gewicht  der 
Platte  und  der  über  der  Platte  bis  zur  Oberfläche  des  Wassers  befind' 
liehen  Luft.  Wrie  Demokrit  sich  zu  der  Sache  stellte,  erfahren  wir 
ans  folgender  Stelle  des  Aristoteles  (de  coelo.  IV  6,  p.  313  a — b): 
...Jener  (Demokrit)  behauptet  nämlich  (betreffs  der  erwähnten  Er- 
scheinung), daß  die  aus  dem  Wasser  aufsteigenden  warmen  Körper 
von  den  schweren  Körpern  die  flachen  festhalten,  während  die  schmalen 
du  ichfielen;  denn  auf  diese  stießen  nur  wenige  von  ihnen.  Es  müßte 
aber  in  der  Luft  dies  in  noch  höherem  Maße  geschehen,  wie  auch 
jener  selbst  sich  diesen  Einwand  macht.  Aber  nachdem  er  ihn  ge- 
macht, widerlegt  er  ihn  mir  schwach.    Er  behauptet  nämlich,  daß  der 


42  Louis   Löwen  heim, 

öovc  nicht  auf  eine  Stelle  hindränge,  indem  er  öovg  die  Bewegung 
der  aufsteigenden  Körper  nennt."  Was  das  eigentümliche  Wort  <>orc 
betrifft,  so  teilt  uns  Plato  mit,  daß  man  in  Lakonien  so  eine  schnelle 
Bewegung  nannte  (Kratylus  26,  p.  412  B).  Nun  schrieb  Demokrit 
zwar  nicht  dorisch,  sondern  ionisch;  aber  wir  dürfen  wohl  annehmen, 
daß,  wenn  ein  dem  Attischen  fremdes  Wort  in  Lakonien  und  in 
Ionien  gebraucht  wurde,  es  hier  wie  dort  denselben  Begriff  bezeichnete. 
Wir  ersehen  nun  aus  unserer  Aristotelesstelle,  daß  Demokrit  durch  die 
in  Rede  stehende  Erscheinung,  welche  seinem  Prinzip  widersprach, 
sich  weder  veranlaßt  sah,  sein  Prinzip  aufzugeben,  noch  die  Erschei- 
nung in  Abrede  zu  stellen  oder  zu  ignorieren,  sondern  daß  er  bemüht 
war,  die  Erscheinung  mit  seinem  Prinzip  in  Einklang  zu  bringen. 
Seine  Erklärung  ist  zwar  nicht  richtig,  aber  sehr  geistreich.  In  ähn- 
licher Weise,  wie  wir  die  Tatsache,  daß  eiserne  Gegenstände,  wenn 
sie  sich  in  einem  Boote  befinden,  nicht  untergehen,  dadurch  erklären, 
daß  sie  durch  das  Boot,  das  leichter  ist  als  Wasser,  gehalten  werden, 
dachte  sich  Demokrit,  daß  die  auf  dem  Wasser  schwimmenden  Eisen- 
oder Bleiplatten  gehalten  würden  von  unsichtbaren  Wärmekörperehen, 
von  Körpern  also,  die  er  sich  sehr  leicht  dachte,  da  man  im  Altertum 
das  Feuer  als  den  leichtesten  Körper  ansah,  und  von  denen  er  daher 
annahm,  daß  sie  in  jedem  Medium  aufsteigen.  Galilei  hat  diese  Theorie 
Demokrits  eingehend  besprochen  und  sie  nicht  schlechthin  verworfen, 
sondern  unter  bestimmten  Verhältnissen  für  zulässig  erklärt.  Die 
interessante  Stelle  lautet  (Opere  di  Galileo  Galilei  XII,  p.  66—68): 
„Demokrit  hat  in  diesem  speziellen  Fall  besser  philosophiert  als 
Aristoteles.    Aber  ich  will  deswegen  nicht  behaupten,  daß  Demokrit 

richtig  philosophiert  habe Vielmehr  zeigt  uns  die  Erfahrung, 

daß  ein  Körper,  der  beispielsweise  die  Gestalt  einer  Kugel  hat  und 
der  kaum  oder  nur  sehr  langsam  untergeht,  dies  auch  tun  wird,  und 
auch  herabsinken  wird,  wenn  er  in  eine  ganz  platte  Gestalt  gebracht 
ist."  Galilei  macht  dann  zweitens  gegen  Demokrit  geltend,  daß  nach 
seiner  Theorie  ein  Körper,  der  im  Wasser  langsam  untersinkt,  nach 
Erhitzung  des  Wassers  aufsteigen  müßte,  und  fährt  dann  fort:  „Aber 
Demokrit  merke  sich  15),  daß  dies  nur  statt  hat,  wenn  es  sich  darum 
handelt,  Platten  von  Stoffen,  welche  nur  wenig  schwerer  als  Wasser 


15)  Diese  uns  komisch  erscheinende  Aufforderung  an  einen  Mann,  der 
seit  zwei  Jahrtausenden  nicht  mehr  unter  den  Lebenden  weilte,  zeigt  recht 
deutlich,  wie  lebhaft  sich  Galilei  mit  Demokrit  beschäftigt  haben  muß. 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  43 

oder  außerordentlich  dünn  sind,  in  die  Höhe  zu  hellen  und  oben  zu 
halten.  Aber  bei  Stoffen,  welche  sehr  schwer  sind  und  eine  gewisse 
Dicke  haben,  wie  Platten  von  Blei  oder  andern  Metallen,  bleibt  eine 
solche  Wirkung  vollständig  aus  ....  Aber  um  uns  zu  Aristoteles 
zu  wenden,  so  scheint  mir,  daß  er  noch  bedeutend  frostiger  den 
Demokrit  widerlegt  als  eben  dieser  Demokrit  es  für  Aristoteles  mit 
dem  Einwand  tut,  den  er  sich  selbst  macht.''  Wie  hatte  nun  Demokrit 
diesen  Einwand  widerlegt,  daß  die  warmen  Körperchen,  wenn  sie 
die  Metallplatten  im  Wasser  oben  erhielten,  es  noch  mehr  in  der  Luft 
tun  müßten?  Unsere  sehr  unklare  Aristotelesstelle  gibt  uns  darüber 
keine  genügende  Auskunft.  Glücklicherweise  besitzen  wir  aber  zu 
dieser  Stelle  einen  ausführlichen  Kommentar  des  Simplicius  (zu  de 
coelo  p.  322  b),  welcher  uns  nicht  nur  über  Demokrits  Erklärung 
der  in  Rede  stehenden  speziellen  Erscheinung,  sondern  auch  über 
seine  allgemeine  Theorie  wichtigen  Aufschluß  gewähren  wird. 

Dieser  Kommentar  spricht  nach  Auseinandersetzung  des  Sach- 
verhaltes von  dem  Einwand,  daß  in  der  Luft  die  dünnen  Platten 
noch  mehr  getragen  würden  als  im  WTasser;  „denn  in  der  Luft  seien 
mehr  Wärmeatome  als  im  WTasser.  Nachdem  Demokrit  so  in  schöner 
Weise  einen  Einwand  erhoben  hatte,  brachte  er  die  Widerlegung  in 
schwacher  und  kraftloser  Weise  vor.  Er  sagt  nämlich,  daß  deswegen 
in  der  Luft  die  flachen  Körper  von  den  hervorquellenden  Wärme- 
atomen nicht  oben  gehalten  werden,  weil  sich  diese  in  der  Luft,  da 
sie  dünn  und  ausgedehnt  sei,  nicht  verdichteten  wie  im  Wasser. 
Wenn  sie  nun  zerstreut  sind,  so  drängt  ihre  Bewegung  nicht  auf  eine 
einzige  Stelle  hin,  so  daß  sie  das  darüber  Befindliche  halten  könnten, 
wenn  es  flach  ist,  während  im  Wasser,  da  es  dichter  und  unnachgiebiger 
ist,  die  gewaltsam  emporgetriebenen  Wärmeatome  mehr  zusammen- 
schlagen und  sich  verdichten."  Wir  dürfen  nun  natürlich  durch  die 
Verachtung,  mit  welcher  Aristoteles  und  Simplieius  auf  Demokrits 
Widerlegung  des  von  ihm  selbst  erhobenen  Einwandes  herabblicken, 
uns  nicht  beirren  lassen,  sondern  müssen  unsere  Stelle  dazu  benutzen, 
um  in  objektiver  Weise  die  der  Theorie  Demokrits  zugrunde  liegende 
Anschauung  festzustellen. 

Der  Kommentar  des  Simplicius  zeichnet  sich  keineswegs  durch 
eine  größere  Klarheit  vor  der  Aristotelesstelle  aus,  sondern  nur  durch 
größere  Ausführlichkeit,  welche  es  uns  aber  möglich  machen  wird, 
von  der  Theorie  Demokrits  eine  ganz  klare  Vorstellung  zu  gewinnen. 


44  Louis   Löwen  heim, 

Auf  den  ersten  Blick  erscheint  es  ganz  unverständlich,  daß  nach 
Demokrit  zwar  in  der  Luft  mehr  Feueratome  vorhanden  sein  sollen 
als  im  Wasser,  was  doch  nur  heißen  kann,  daß  in  einem  gleichen  Raum 
in  der  Luft  mehr  Feueratome  enthalten  sind  als  im  Wasser,  und  daß 
dennoch  diese  Feueratome  sich  im  Wasser  mehr  verdichten  sollen 
als  in  der  Luft,  was  doch  nur  heißen  kann,  daß  in  einem  gleichen 
Raum  im  Wasser  mehr  Feueratome  enthalten  sind  als  in  der  Luft. 
Einen  Anhalt,  wie  dies  zu  verstehen  ist,  geben  uns  aber  die  Worte, 
daß  „im  Wasser  die  gewaltsam  emporgetriebenen  Feueratome  mehr 
zusammenschlagen  und  sich  verdichten".  Denn  daraus  müssen  wir 
schließen,  daß  die  Aufwärtsbewegung  der  Feueratome  im  Wasser 
lebhafter  geschieht  als  in  der  Luft,  und  daß  dies  die  Ursache  ist,  warum 
sie  im  Wasser  enger  aneinander  geraten.  Solange  freilich  die  aufwärts 
steigenden  Feueratome  keinen  Widerstand  finden,  kann,  wenn  nur 
die  Bewegung  gleichmäßig  geschieht,  die  Anzahl  der  in  einem  be- 
stimmten Augenblick  in  einer  Horizontalebene  von  bestimmter  Größe 
vorhandenen  Atome  nicht  abhängig  sein  von  der  Geschwindigkeit, 
mit  welcher  sie  aufsteigen,  sondern  nur  von  der  Dichtigkeit,  mit 
welcher  sie  in  dem  Mittel,  in  dem  sie  sich  befinden,  verteilt  sind. 
Nun  wird  den  Feueratomen  weder  innerhalb  der  Wassermasse  Wider- 
stand entgegengesetzt,  noch  an  der  Grenze  von  Wasser  und  Luft, 
da  sie  ja  in  der  Luft  ebensowohl  wie  im  Wasser  aufsteigen,  wohl  aber 
an  der  Grenze  der  auf  dem  Wasser  schwimmenden  Metallplatten, 
welche  sie  nicht  zu  durchdringen  vermögen.  Demokrit  muß  sich  also 
denken,  daß  die  in  einem  bestimmten  Raum  vorhandene  Anzahl  von 
Feueratomen  zwar  im  allgemeinen  in  der  Luft  größer  ist  als  im  Wasser, 
dagegen  unmittelbar  unter  den  Metallplatten  im  Wasser  größer  als 
in  der  Luft.  Nehmen  wir  zunächst  der  Einfachheit  wegen  an,  daß 
diese  Anzahl  im  allgemeinen  in  der  Luft  ebenso  groß  wäre  als  im  Wasser, 
so  haben  wir  uns  vorzustellen,  daß  an  denjenigen  Stellen,  wo  keine 
Metallplatten  auf  dem  Wasser  schwimmen,  die  Anzahl  der  in  einer 
Horizontalebene  vorhandenen  Feueratome  in  jeder  Horizontalebene 
dieselbe  bleibt,  im  Wasser  sowTohl  wie  in  der  Luft,  da  sie  in  der  Luft 
zwrar  langsamer  aufsteigen,  aber  alle  um  gleich  viel  langsamer,  daß 
dagegen  an  denjenigen  Stellen,  wto  Metallplatten  auf  dem  Wasser 
hegen,  das  Auf  steigen  der  Feueratome  nicht  geradlinig  geschehen  kann, 
da  dieselben,  an  der  Grenze  der  Metallplatten  angelangt,  sich  zunächst 
horizontal  längs  der  Metallplatten  bis  zu  deren  Ende  bewegen  müssen, 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  45 

bevor  sie  in  der  Luft  aufsteigen  können,  und  daß  dadurch  die  Anzahl 
der  in  einer  Horizontalebene  vorhandenen  Feueratome  vermehrt 
wird.  Dies  würde  nun  zwar  auch  der  Fall  sein,  wenn  sich  die  Metall- 
platten in  der  Luft  befinden  würden.  Aber  um  wieviel  die  Anzahl 
der  in  einer  Horizontalebene  befindlichen  Feueratome  vermehrt  wird, 
das  hängt  offenbar  ab  von  dem  Verhältnis  der  Geschwindigkeit, 
mit  welcher  die  Feueratome  aufsteigen,  zu  der  Geschwindigkeit, 
mit  welcher  sie  sich  horizontal  längs  der  Metallplatten  bewegen. 
Denken  wir  uns  nun,  daß  die  Geschwindigkeit,  mit  welcher  sich  die 
Feueratome  längs  der  Metallplatten  bewegen,  dieselbe  ist,  mögen  diese 
Platten  auf  dem  Wasser  oder  in  der  Luft  hegen,  während  die  Ge- 
schwindigkeit, mit  welcher  sie  aufsteigen,  im  Wasser  größer  ist  als 
in  der  Luft,  so  muß  die  Vermehrung  der  Feueratome  an  den  Grenzen 
der  Metallplatten  größer  sein,  wenn  die  Metallplatten  auf  dem  Wasser 
liegen  als  wenn  sie  in  der  Luft  hegen  würden,  und  wenn  nur  das  Auf- 
steigen der  Feueratome  im  Wasser  um  genügend  viel  schneller  ge- 
schieht als  in  der  Luft,  so  kann  dies  auch  dann  noch  stattfinden, 
wenn  im  allgemeinen  in  der  Luft  mehr  Feueratome  enthalten  sind  als 
im  Wasser.  Der  Theorie  Demokrits  Hegt  also  die  Voraussetzung  zu- 
grunde, daß  die  Feueratome  im  Wasser  schneller  aufsteigen  als  in  der 
Luft.  Dies  wird  dadurch  bestätigt,  daß  Demokrit,  wie  wir  aus  unserer 
Simpliciusstelle  sehen,  das  Wasser  als  „unnachgiebiger"  bezeichnet 
als  die  Luft;  denn  das  kann  doch  nur  heißen,  daß  das  Wasser  einen 
in  dasselbe  eindringenden  Körper  mit  größerer  Energie  heraustreibt 
als  die  Luft,  Warum  nahm  nun  Demokrit  an,  daß  das  Feuer  im  Wasser 
schneller  aufsteigt  als  in  der  Luft?  Auch  hierüber  gibt  uns  unsere 
Simpliciusstelle  Auskunft;  es  wird  hier  nämlich  als  Grund  angegeben, 
daß  die  Luft  dünner,  das  Wasser  dichter  ist.  So  sind  wir  durch  unsere 
trockene  Erörterung  zu  dem  wichtigen  Ergebnis  gelangt,  d  a  ß  n  a  c  h 
der  Lehre  Demokrits  ein  Körper,  der  leichter 
ist  als  das  umgebende  Medium  und  daher  darin 
aufsteigt,  dies  mit  umso  größerer  Geschwindig- 
keit tut,  je  dichter  dieses  Medium  ist. 

Von  der  außerordentlichen  Bedeutung,  welche  dieser  Satz 
Demokrits  für  die  gesamte  Geschichte  der  Wissenschaft  gehabt  hat, 
kann  man  sich  daraus  einen  Begriff  machen,  daß  Aristoteles  dem  Satz 
Demokrits  den  Satz  entgegenstellte,  daß  ein  Körper,  der  in  die  Höhe 
steigt,  dies  umso  schneller  tut,  je  dünner  das  Medium  ist,  in  welchem 


46  Louis   Löwen  heim, 

das  Aufsteigen  geschieht,  da  der  aufsteigende  Körper  nicht  durch 
das  umgebende  Medium  in  die  Höhe  getrieben  werde,  sondern  infolge 
einer  ihm  innewohnenden  Kraft  in  die  Höhe  steige,  welche  durch  den 
Widerstand  des  Mediums  umso  weniger  beeinträchtigt  werden  könne, 
je  dünner  dieses  Medium  ist;  daß  ferner  die  epochemachende  Ab- 
handlung des  Archimedes  über  die  schwimmenden  Körper,  worin 
das  berühmte  Archimedische  Prinzip  vorkommt,  ganz  auf  der  Vor- 
aussetzung basiert  ist,  daß  die  Kraft,  mit  der  ein  fester  Körper  in 
einer  Flüssigkeit  aufsteigt,  umso  größer  ist,  je  dichter  die  Flüssigkeit 
ist,  und  daß  endlich  Galilei  andeutet,  daß  dies  Letztere  der  Grund 
gewesen  sei,  warum  er  für  Demokrit  gegen  Aristoteles  Partei  genommen 
habe. 

Wir  fragen  nun  weiter,  wohin  sich  Demokrit  die  Schwere  gerichtet 
dachte.  Hierauf  gibt  uns  unsere  Überlieferung  eine  ganz  präzise 
Antwort.  Denn  wir  lesen  bei  Aristoteles  (de  coelo  IV  4,  p.  311b): 
„Einige  meinen,  daß  alle  Körper  schwer  seien.  Denn  daß  etwas 
Schweres  existiert  und  immer  nach  dem  Mittelpunkt  geht,  lehren 
auch  einige  andere ;  es  existiert  aber  in  gleicher  Weise  auch  das  Leichte." 
Nun  lehrten  aber  vor  Aristoteles  nur  die  Atomisten,  daß  alle  Körper 
schwer  sind,  und  da  die  beiden  Sätze  unserer  Stelle  durch  „denn" 
verbunden  sind,  so  sind  einige  andere  des  zweiten  Satzes  identisch 
mit  „einige"  des  ersten  Satzes  und  werden  nur  insofern  andere  ge- 
nannt, als  sie  von  Aristoteles  verschieden  sind.  Unzulässig  dagegen 
erscheint  es  mir,  die  Stelle  so  aufzufassen,  daß  danach  einige  Philo- 
sophen lehren,  daß  alle  Körper  schwer  seien,  andere  dagegen,  daß 
manche  Körper  schwer  seien  und  nach  dem  Mittelpunkt  gehen,  und 
manche  Körper  leicht  seien.  Um  jedoch  jeden  Zweifel  zu  zerstreuen, 
sagt  Simplicius  ausdrücklich  (zu  de  coelo,  p.  314  b):  „Die  Anhänger 
Demokrits  meinen,  daß  alle  Körper  schwer  seien  ....  Diese  aber 
lehren,  daß  das  Schwere  allein  existiere  und  daß  dies  immer  nach  dem 
Mittelpunkt  gehe."  Demokrit  wußte  also  schon,  daß  die  durch  die 
Schwere  bestimmte  Richtung  nach  unten  nichts  anderes  bedeutet, 
als  die  Richtung  nach  dem  Mittelpunkt  der  Erde. 

Demokrit  legte  sich  nun  ferner  die  Frage  vor,  warum  der  eine 
Körper  schwerer  ist,  als  der  andere.  Er  griff  diese  Frage  in  durchaus 
wissenschaftlicher  Weise  an,  indem  er  gemäß  seiner  atomistischen 
Theorie  zunächst  untersuchte,  ob  und  eventuell  warum  die  ver- 
schiedenen Atome  verschieden  schwer  sind.  Wie  er  hierüber  dachte, 


Die  Wissenschaft  Demokrits.  47 

zeigt  folgender  Bericht  des  Theophrast  (de  sensibus  61):  „Schweres 
nun  und  Leichtes  unterscheidet  Demokrit  nach  der  Größe.  Wenn 
nämlich  jedes  einzelne  unterschieden  würde,  so  würde  es,  wenn  es 
auch  hinsichtlich  der  Gestalt  Unterschiede  zeigte,  naturgemäß  sein 
Gewicht  je  nach  seiner  Größe  haben."  Und  ebenso  sagt  Aristoteles 
(de  gen.  et  corr.  18,  p.  526  a):  „Demokrit  sagt,  daß  jedes  der  Atome 
je  nach  seiner  größeren  Ausdehnung  schwerer  sei."  Demokrit  lehrte 
also,  daß  das  Gewicht  der  Atome  sich  wie  ihre  Größe  verhalte. 

Sehen  wir  nun  zu,  wie  dieser  Satz  Demokrits  sich  in  der  modernen 
Terminologie  ausdrücken  würde.  Die  moderne  Physik  unterscheidet 
die  beiden  im  gewöhnlichen  Leben  nicht  unterschiedenen  Begriffe 
„Schwere"  und  „Gewicht"  und  definiert  die  Schwere  eines  Körpers 
als  das  Verhältnis  seines  Gewichts  zu  seiner  Masse  oder  als  das  Ge- 
wicht der  Masseneinheit.  Die  antike  Physik  hat  diesen  Begriff  der 
Schwere  nie  gehabt  und  konnte  ihn  nicht  haben,  weil  der  Begriff 
der  Masse  ein  moderner  ist.  Wir  dürfen  also  streng  genommen,  wenn 
von  einem  einzelnen  Körper  die  Rede  ist,  kein  griechisches  Wort 
durch  „Schwere"  übersetzen.  Da  wir  nun  einen  Körper  schwerer 
nennen  als  einen  andern  (nicht  dann,  wenn  er  eine  größere  Schwere 
besitzt,  was  niemals  zutrifft,  da  alle  Körper  gleiche  Schwere  haben, 
sondern)  wenn  er  ein  größeres  Gewicht  besitzt,  so  haben  wir  das  Wort 
ßdgog,  das  mit  ßctQvg  =  schwer  zusammenhängt,  (nicht  durch 
„Schwere",  sondern)  durch  „Gewicht"  zu  übersetzen.  ßaQoc, 
lyur  können  wir  mit  „schwersein"  wiedergeben.  Wenn  übrigens 
das  Wort  ßägoc  nicht  von  einem  einzelnen  Körper,  sondern  allgemein 
gebraucht  wird,  so  können  wir  es  durch  „Schwere"  übersetzen,  da 
unser  deutsches  Wort  „Schwere",  wenn  es  nicht  auf  einen  einzelnen 
Körper  bezogen  wird,  nur  eine  Abkürzung  für  „Schwerkraft"  ist 
und  auch  das  griechische  Wort  ßaQog  in  diesem  Sinne  gebraucht 
wird.  (Selbst  Galilei  hat  den  physikalischen  Begriff  der  Masse  noch 
nicht  gekannt.  Wenn  man  bei  physikalischen  Erörterungen  das 
griechische  Wort  öyxog  durch  „Masse"  übersetzt,  so  ist  das  eine 
falsche  Übersetzung.) 

Wie  lautet  nun  der  Satz  Demokrits,  wenn  wir  die  modernen 
Begriffe  Masse  und  Schwere  darauf  anwenden?  Da  die  Atome  Demo- 
krits alle  gleichartig  sind,  so  ist  ihre  Masse  ihrer  Größe  proportional. 
Wenn  also  Demokrit  lehrte,  daß  das  Gewicht  der  Atome  ihrer  Größe 
proportional  ist,  so  ist  nach  seiner  Lehre  auch  das  Gewicht  der  Atome 


48  Louis    Löwenheim, 

ihrer  Masse  proportional,  folglich  das  Verhältnis  des  Gewichts  zu 
ihrer  Masse  oder  die  Schwere  für  alle  Atome  dieselbe.  Wenn  also 
Zeller  sagt,  daß  nach  der  Lehre  Demokrits  die  Atome  an  Schwere 
ebenso  verschieden  sein  müssen  wie  an  Größe  (I  b5,  p.  860),  so  kann 
ich  das  nicht  zugeben  16).  Denn  wenn  wir  nur  wiedergeben  wollen, 
was  Demokrit  wirklich  gelehrt  hat,  so  dürfen  wir  den  Ausdruck 
„Schwere"  überhaupt  nicht  anwenden;  und  wenn  wir  seine  Lehre 
in  die  moderne  Terminologie  übertragen  wollen,  so  müssen  wir  sagen, 
daß  nach  seiner  Lehre  alle  Atome  gleiche  Schwere  haben. 

Soviel  über  das  Gewicht  der  Atome.  Was  Demokrit  über  das 
Gewicht  der  zusammengesetzten  Körper  lehrte,  geht  aus  folgendem 
Bericht  des  Theophrast  a.  a.  0.  hervor:  „Aber  in  den  gemischten 
Körpern  sei  das  Leichtere  dasjenige,  welches  mehr  leeren  Kaum  ent- 
halte, das  Schwere  aber  dasjenige,  welches  weniger  leeren  Kaum  ent- 
halte." 

Ausführlicher  ist  Aristoteles  in  folgender  Stelle,  welche 
sich     offenbar     auf     die     Atomisten     bezieht     (de     coelo     IV  2. 

p.   308  b — 309  a):     „ Denn     es     zeigt    sich,     daß     einige 

Körper  hinsichtlich  üires  Volumens  zwar  kleiner  sind,  trotzdem 
aber  schwerer.  Es  ist  also  offenbar,  daß  es  nicht  genügt  zu  sagen, 
daß  das  Gleichschwere  aus  gleichen  Urbestandteilen  zusammen- 
gesetzt sei;  denn  dann  hätte  es  gleiches  Volumen  ....  Da  sich  nun 
zeigt,  daß  sich  nicht  alle  zusammengesetzten  Körper  auf  gleiche 
Weise  verhalten,  sondern  wir  sehen,  daß  viele  mit  geringerem  Volumen 
schwerer  sind,  wie  z.  B.  Erz  schwerer  ist  als  Wolle,  so  meinen  und 
sagen  einige,  ....  daß  das  Leere,  wenn  es  in  die  Körper  hinein- 
genommen werde,  dieselben  leichter  mache  und  bewirke,  daß  zu- 
weilen das  Größere  leichter  sei;  denn  es  enthalte  einen  größeren 
leeren  Kaum.  Durch  diesen  sei  nämlich  häufig  das  aus  gleichen  oder 
selbst    kleineren    Körpern    Zusammengesetzte     hinsichtlich     seines 


1<s)  Es  liegt  der  Gedanke  nahe,  daß  Zeller  hier  nur  den  Ausdruck  ...Schwere" 
anstatt  des  Ausdrucks  „Gewicht"  gebraucht  hat,  wie  dies  bei  Nichtphysikern 
üblich  ist.  Indes  Zeller  vertritt,  wie  wir  sehen  werden,  die  Ansicht,  daß  nach 
Demokrit  die  größeren  Atome  mit  größerer  Geschwindigkeit  falle  i.  Daraus 
nun,  daß  die  Atome  verschiedenes  Gewicht  besitzen,  folgt  in  keiner  Weise, 
daß  sie  verschieden  schnell  fallen;  wenn  sie  aber  verschiedene  Schwere  be- 
säßen, so  würde  daraus  in  der  Tat  folgen,  daß  sie  verschieden  schnell  fallen 
müssen. 


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