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Archiv
für
Philosophie
herausgegeben
von
Ludwig Stein.
Erste Abteilung:
Arcliiv für Geschichte der Philosophie.
BERLIN.
Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf.
1915.
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Archiv
für
Geschichte der Philosophie
herausgegeben
von
Ludw^ig Stein.
XXVin. Band.
Neue Folge.
XXI. Band.
BERLIN.
Druck und V^erlag von Leonhard Simion Nf.
l'J15.
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3
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Inhalt.
Seite
J. War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlecht-
hin? Von Dr. Hubert Rock in Innsbruck 1
II. Zur Philosophie Salomon Maimons. Von Dr. ß. Katz . . 54
III. Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke.
Von Dr. Hermann Büchel 61
IV. Einige Bemerkungen zum Intellektualismus an der Hand
des Leibniz-Clarke'schen Streites. Von Prof. Dr. Job.
Zahlfleisch 129
V. Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. Von
Carl Fries 162
VI. Nietzsche und Schopenhauer. Von Dr. Michael Schwarz
in St. Petersburg l*^ö
VII. L'Oriente e le Origini della Filosofia Greca. Von Ales-
sandro Chiapelli, professore emerito della R. Uni-
versitä di Napoli 19^
Vni. Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie.
Von Karl Zö ekler 257
IX. Paul Deussen. Ein Nachwort zu seinem 70. Geburtstag.
Von Dr. Franz Mockrauer 297
X. Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus.
Von Dr. Kratzer, Regensbnrg 310
XL Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus.
Von Dr. Kratzer, Regensburg (Fortsetzung) 369
XII. Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Dar-
stellung. Von Dr. phil. Luise Krieg 401
XIIL Die Kausalität bei Kant in neuer Beleuchtung. Von Prof.
Dr. Joh. Zahlfleisch 396
XIV. Über die Beziehungen Fichtes und seiner Schule zur Uni-
versität Charkow (Rußland). Ein biographischer Beitrag
von Dr. Paul Stähler, Hochschuldozent 4-24
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. Von Professor Dr.
Horten in Bonn 78 227 837 449
Rezensionen 102 243 353 465
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Geschichte der
Philosophie 126 253 364
Zeitschriftenschau 128 254 365
Zur Besprechung eingegangene Werke 255 367 476
Kantgesellschaft. Zur Eduard von Hartmann- Preisaufgabe . . . 256
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXI. Band, 1. Heft.
1.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft
schlechthin?
Von
Dr. Hubert Rock in Innsbruck.
I.
Ehemals galt die Frage, was unter „Entelechie" zu verstehen
sei, als crux philosophorum. Her mo laus Barbarus soll sich sogar
an den Teufel um Erklärung des vielumstrittenen Wortes gewendet
und von ihm die Auskunft erhalten haben, es bedeute auf gut höllen-
lateinisch so viel wie „perfectihabia'\
Heutzutage darf als philosophisches Hauptkreuz die Frage gelten,
was denn eigentüch unter Philosophie zu verstehen sei, das Wort
nicht im Sinne dieses oder jenes Fachphilosophen, sondern ganz all-
gemein und formal vom Standpunkte des Philosophiehistorikers
genommen.
Gerade die Fachphilosophen sind durch keine andere Frage
so leicht als durch diese in Verlegenheit zu bringen, vorausgesetzt,
daß man ihr so weit nachgegangen ist, um darüber ein Wörtchen
mitreden zu dürfen. Sonst wird man sich selbst unversehens in der
anderen gegrabenen Grube finden. Vorsichtshalber soll man daher
nicht einmal ohne weiteres von Fachphilosophen, sondern von so-
genannten Fachphilosophen sprechen. Fehlt es doch nicht an soge-
nannten Fachphilosophen, denen es wie einem P au Isen vorkommt,
„als hätte schon das Wort einen etwas wunderhchen Klang, nicht
viel anders, als wenn man auch von Dummköpfen von Fach reden
1) Einleitung in die Philosophie (Berlin 1892), S. 42.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 1.
2 Hubert Rock,
wollte". Es gebe wissenschaftliche Forscher mit ., philosophischem""
Geist und ohne solchen. Physiker, Astronomen, Psychologen, Biologen,
Historiker, Metaphysikcr, Soziologen, Moralisten, sie alle könnten
diesen Geist haben oder nicht haben. Philosophie als Spezial-
fach gebe es nicht^j. Um gar nichts zu präjudizieren, soll alsa
bloß von sogenannten Fachphilosophen die Rede sein.
Tatsache ist, daß die sogenannten Fachphilosophen, so paradox
es Mingt, über nichts uneiniger sind, als über die wesenthchen Auf-
gaben des von ihnen vertretenen Fachs. Dies charakterisiert überhaupt
die aus den Ruinen der antiken Philosophie erstandene moderne
Philosophie, die mittelalterhche inbegriffen. Zu keiner Periode aber
bestand ein solcher Wirrwarr von Behauptungen über das "Wesen
der Philosophie, wie er seit dem 18. und vornehmhch im 19. Jahr-
hundert um sich gegriffen hat.
Was verstand man im „philosophischen" Jahrhundert nicht alles
unter Philosophie! In Voltaires ,, Philosophischem Wörterbuch"
(Artikel „Literatur") heißt es darüber: „Unter dem vagen Terminus
Philosophie versteht man bald die Untersuchungen eines Meta-
physikers, bald die Beweisfülmingen eines Mathematikers, bald die
Weisheit eines Menschen, der mit den Illusionen fertig geworden ist".
Diderot sagt, nichts sei jetzt wohlfeiler als der ]S^ame Philosoph;
ein unbekanntes und zurückgezogenes Leben, einige Äußerlichkeiten
von Weisheit samt etwas Lektüre genügten, um diesen Namen Personen
zu lassen, die sich damit unverdientermaßen beehren^). Und das ist
nur eine kleine Blumenlese, die vor allem Christian Wolffs den
„Professor der Menschheit" trefflich kennzeichnende Definition ver-
missen läßt: Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse
possunt (bis aufs Holzspalten hinaus!)^).
Doch erst im Laufe des als das „historische" gepriesenen 19. Jahr-
hunderts ist der sich ins zwanzigste fortsetzende Wirrwarr bis zu dem
Punkte gediehen, daß fast jeder sogenannte Fachphilosoph sich seinen
Begriff von Philosophie nach Beheben zurechtlegt. Dabei handelt es
sich nicht etwa bloß um verschiedenen Grundsätzen entsprechend
verschiedene Gestaltungen und Formulierungen der nämlichen Grund-
2) Oeuvres (Assezat), XVI, 273.
3) Vgl. Zeller, C4eschichte der deutschen Philosophie (München 1873),.
S. 214, 220 f.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 3
bestrebimg, sondern um oft grimdverscliieclene Bestrebungen, die
nichts weiter als den Namen Philosophie miteinander gemein haben.
Was hätte Hegels Wissenschaft vom Absoluten gemein mit
Herbarts Bearbeitung der Begriffe, was Comtes Positivismus mit
Kuno Fischers Selbsterkenntnis des Geistes, was Herbert Spencers
vollkommen vereinheitlichte Erkenntnis mit Riehls allgemeiner
Wissenschafts- und praktischer Weisheitslehre, Avas Dührings Wirk-
hchkeitsphilosophie mit Vaihingers allgemeiner Prinzipiem\issen-
schaft, was Dörings Glücksehgkeitswissenschaft mit Avenarius'
Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Ivraftmaßes, was
Nietzsches geistiger Wille zur Macht mit Wundts allgemeiner
Wissenschaft, die die durch die EinzeMssenschaften vermittelten
allgemeinen Erkenntnisse zu einem widerspruchslosen System ver-
einigt, was Pauls ens Inbegriff aller 'wissenschaftlichen Erkenntnis
mit Gutberlets Erkenntnis aller Dinge aus ihren letzten und höchsten
Gründen?
Insofern ist es für die genannte Periode wkklich ein guter Vergleich,
wenn Windelband bemerkt, es scheine den Philosophen so zu gehen
wie etwa allen den Namen Paul tragenden Individuen, bei denen auch
niemand ein gemeinsames Merkmal aufweisen könnte, um dessen wiUen
sie diesen gemeinsamen Namen trügen'*). Für sämthche Perioden der
Philosophiegeschichte kann der Vergleich, wie gegen Windelband
gezeigt werden soll, freilich nicht in Betracht kommen.
Andererseits ist die Frage nach dem Wesen der Philosophie noch
niemals so eifrig als während der letzten hundert Jahre verhandelt
worden. Eine vollständige Sammlung der ganzen über dieses Thema
produzierten Literatur ergäbe eme ganz ansehnliche Bibliothek. Trotz-
dem stehen sich die sogenannten Fachphilosophen mit iliren Lösungen
der Frage bis zur Stunde schroffer gegenüber als je.
Welche AVandlungen hat doch seit den Tagen des Hippoki-ates, wo
der „philosophische" Arzt gottgleich genannt wurde {hjVQog (piXoöoffoq
lood-sog), die sich mit der „Philosophie'" seitdem so vielfach verschms-
ternde Medizin durchgemacht ! Dennoch waren die Ärzte stets darüber
einig, daß das Wesen der Medizin in der Behandlung und Verhütung
von Krankheit liegt und nicht etwa in der Anatomie oder in der
Physiologie oder in der Pathologie oder in der Diagnostik oder in der
*) Präludien (Freibg. u. Tüb. 1884), „Was ist Plülosophie?" S. 10.
1*
4 Hubert Rock,
Prognostik oder in der Bakteriologie oder in der Pharmakologie oder
in der Rezeptierkunde oder in der Geschichte der Medizin oder in der
Anthropologie oder in der Synopsis sämtlicher Naturwissenschaften
oder in was sonst immer.
Die sogenannten Fachphilosophen allein gewähren der Welt das
absonderliche Schauspiel, daß sie nicht zu wissen scheinen, welches
wenngleich nur in formaler Hinsicht gemeinsame Endziel sie von
Beruf-; wegen anstreben wollen, anstreben sollen, gerade als ob das
Wesen der Philosophie in solcher Zerfahrenheit bestände.
Am absonderlichsten macht dieses Schauspiel, daß, wo die einen
das erste und wichtigste Problem der Philosophie erblicken, die anderen
— und sie bilden weitaus die Mehrzahl — sich anstellen, als ob da gar
kein Problem vorläge, oder daß sie höchstens das scheinbare, nicht
aber das wirkliche Vorhandensein eines Problems anerkennen. i
Zur Minderzahl gehört auch Kant, was merkwiirdigerweise noch
immer nicht die verdiente Beachtung findet, obschon A. Döring
in seinem Aufsatze „Über Kants Lehre von Begriff und Aufgabe der
Philosophie" schon vor nahezu dreißig Jahren mit Nachdruck als auf
„den eigentlichen Herzpunkt des Kantischen Philosophierens" hin-
gewiesen hat^). Näher darauf einzugehen, ist hier nicht der Ort, ab-
gesehen von Kants grundsätzlicher Stellungnahme zum Problem der
Philosophie als solcher oder, um dafür ein einziges Wort zu haben,
zum Philosophieproblem. Ich werde am Schluß darauf zurück-
kommen.
Nicht zuletzt, wenn nicht hauptsächlich unter der Am^egung
Kants hat sich Döring selbst das Philosophieproblem in mehreren
Schriften schärfer und schärfer zum Bewußtsein gebracht. In seiner
ersten diesbezüglichen Schrift „Über den Begriif der Philosophie"
(Dortmund 1878) sagt er: „Genau zu wissen, was die Philosophie ist
und will, ist wichtig für den, der sie betreibt, um über die Richtung,
die sein Forschen zu nehmen hat, sich orientieren zu können und nicht
auf Abwege zu geraten" (S. 1 ff.). Sein Absehen sei nicht auf eine
materiale oder inhaltliche Definition gerichtet, die darauf abziele,
in kürzester Form das von dem betreffenden Denker angebüch oder
wirkhch Erreichte zum Ausdruck zu bringen, sondern auf eine solche
Begriffsbestimmung, die man in Anbetracht dessen, daß der Begriff
5) Preußische Jahrbücher, Bd. 56 S. 464.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 5
in einer den inhaltlich verschiedensten Richtungen und Systemen
gemeinsamen Weise fornuüiert werden soll, eine formale, und in
Anbetracht dessen, daß sie nicht eine Verständigung über die Lösungen
der Probleme, sondern nur eine vorläufige Orientierung über die
Probleme selbst herbeiführen soll, eine orientierende nennen könnte
(S. 3).
Ebenso ist Alois Riehl, der sich mit dem Philosophieproblem
gleichfalls viel beschäftigt hat, dazu nicht zuletzt von Kant an-
geregt worden. Die ihm eigene Auffassung, daß die Philosophie einen
förmlichen Doppelberuf zu erfüllen hätte, schon bei den Alten zu er-
füllen gehabt hätte, ist im Grunde nichts anderes als eine Übertragung
des von Kant gemachten Unterschieds zwischen Schulbegriff und
Weltbegriff der Philosophie auf das Wesen der Philosophie als ge-
schichtlicher Erscheinung. Sein Hauptwerk, „Der philosophische
Kritizismus", enthält im zweiten Teil des zweiten Bandes ein „Die
Philosophie als Problem" überschriebenes Kapitel. Und in der
Schrift „Zur Einführung in die Philosophie der Gegenwart" erklärt
er geradezu: „Das erste philosophische Problem ist heute
die Philosophie selbst als Problem. Was will und soll, — was
war und ist sie?"
Dagegen steht Vaihinger, um einen für viele zu nennen, auf
Seite derjenigen, die vom Vorhandensein eines Philosophieproblems
im Sinne Dörings, Riehls und Genossen keine Notiz nehmen. Sie stellen
sich an, als ob unter Philosophie alle Welt oder wenigstens alle Fach-
kollegen im wesentlichen genau dasselbe verständen wie etwa die
Astronomen und mit ihnen alle Welt unter Astronomie. Bei Vaihinger
nimmt das umsomehr wunder, als er sein lebhaftes Interesse für die
Stellung der Themen zu den schriftlichen philosophischen Prüfungs-
arbeiten durch eine im Jahre 1906 erschienene Schrift bekundet hat,
deren voller Titel lautet: „Die Philosophie in der Staats-
prüfung. Winke für Examinatoren und Examinanden. Zugleich
ein Beitrag zur Frage der philosophischen Propädeutik. Nebst 340
Thematen zu Prüfungsarbeiten". Unter den von ihm gesammelten
340 Themen, die im Laufe der vorausgehenden 20 Jahre bei Ober-
lehrerprüfungen wirklich gestellt und wirklich bearbeitet worden sind,
befindet sich kein einziges über das Philosophieproblem. Und er vermißt
auch kein derartiges Thema, obwohl er es beklagt, daß nicht wenige
von den jungen Leuten sich einen ganz falschen Begriff von Philosophie
6 Hubert Rock,
machten (S. 38), und obwohl er hinsichthch der Kandidaten, die
die Lehrbefähigung in der philosophischen Propädeutik nachzuweisen
haben, die Forderung erhebt, sie müßten, „um mit dem Prüfungs-
reglement zu sprechen, eine allgemeine Übersicht über die
Aufgaben der Philosophie" besitzen (S. 127). Ihm selbst ist
in dieser Schrift Philosophie „Die allgemeine Prinzipienwissenschaft"
(S. 14, 15), „die Universalwissenschaft und Wissenschaft des Univer-
sums" (S. 30). An allen Stellen drängten die Begriffe und Axiome
der Einzelwissenschaften von selbst zur allgemeinen Prinzipien-
wissenschaft hin. Die Begriffe des Raumes, der Zeit, der Materie,
der Bewegung, der Kausalität, des Lebens, des Zweckes, des Handelns,
der Sitte und der Gesittung, der geschichtUchen Entwicklung, des
Wertes, der Vernunft, der Sprache usw. — alle diese Begriffe, auf
denen die Einzelwissenschaften teils basierten oder auf die sie hin-
führten, erforderten eine prinzipielle und allgemeine Erörterung und
diese eben nenne sich Philosophie (S. 14). Ungefähr so sprechen
andere Fachphilosophen auch, ohne sich aber zugleich wie Yaihinger
mit Langes Begriff von Philosophie einverstanden zu erklären, wonach
deren negative Aufgabe darin bestehe zu zeigen, „daß sie selbst als
Wissenschaft unmögHch sei", deren positive Aufgabe darin, Spekulation
zu sein, mit dem Be\\^ißtsein, ,.nur Dichtung, nicht Wahrheit zu
geben"^). Das alles zusammen wäre ge^^iß hinreichend, um eine Aus-
einandersetzung mit dem Philosophieproblem unausweichhch er-
scheinen zu lassen. Vaihinger ist ihr ausge^^ichen.
Solches Ausweichen kennt Windelband nicht. Er ist davon
überzeugt und läßt es sich angelegen sein, uns davon zu überzeugen,
daß das Philosophieproblem sich als ein Trugbild von Problem ent-
puppe, sobald man ihm ernsthch zu Leibe gehe, wie er das am aus-
führlichsten in dem seine ..Präludien" eröffnenden Aufsatze ,,Was ist
Philosophie?" versucht hat. neben dem noch besonders die einschlägigen
Äußerungen in seiner „Geschichte der alten Philosophie" und in seinem
„Lehrbuch der Geschichte der Philosophie" in Betracht kommen.
Frage man die Geschichte und sehe man sich bei denjenigen, die
man Philosophen genannt habe und etwa noch nenne, nach ihrer
8) So in seiner Schrift „Hartmann, Dühring und Lange" (Iserlohn 1876),
S. 18. Daß er sein Einverständnis mit Lange späterhin nicht aufgegeben hat,
zeigt seine kürzlich veröffentUchte , »Philosophie des Als Ob".
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 7
Auffassung dessen um, was sie getrieben hätten und trieben, so erhielten
wir so vielgestaltige und so weit von einander abliegende Antworten,
daß es völlig aussichtslos wäre, diese buntschillernde Mannig-
faltigkeit auf einen einfachen Ausdruck und die ganze Fülle dieser
wechselnden Erscheinungen unter einen einheitUchen Begriff bringen
zu wollen. Oft genug sei freilich der Versuch dazu gemacht worden.
Absehend von den besonderen Inhaltsbestimmungen, mit denen jeder
Philosoph die Quintessenz der von ihm gewonnenen Ansichten und
Einsichten schon in die Aufstellung seiner Aufgabe hineinzulegen
gewöhnt sei, habe man zu einer rein formalen Definition zu ge-
langen gedacht, die von dem "Wechsel der zeithchen und der nationalen
Anschauungen ebenso wie von der Einseitigkeit persönlicher Über-
zeugungen unabhängig und deshalb geeignet wäre, alles unter sich
zu befassen, was je Philosophie genannt worden sei. Aber möge man
dabei die Philosophie als Lebensweisheit oder als Wissenschaft
von den Prinzipien oder wie immer definieren, stets werde die Definition
zu weit oder zu eng erscheinen. Angesichts des Wechsels, den die
Bedeutung des Wortes Philosophie im Laufe der Zeiten durchgemacht
habe, sei es „in alle Wege unmöglich", durch historische Induktion
einen allgemeinen Begriff der Philosophie zu finden, der alle Philosophie
genannten geschichtüchen Erscheinungen umfaßte").
So Windelband, mit dem in bezug auf das Angeführte nicht
wenige Fachkolleoen übereinstimmen. Indes nur äußerhch. Innerlich
widersprechen sie sich dergestalt einander, einander und sich selbst,
daß darin allein ein deutliches Anzeichen für die Falschheit ihrer
äußerlich einmütigen Behauptungen liegt, es gebe kein Philosophie-
problem, weil der vielgesuchte allgemeine Philosophiebegriff ebenso
wenig auffindbar wie die Quadi'atur des Ki'eises oder ein Perpetuum
mobile sein soU.
Auch nach AVundt soll sich auf die Frage, was Philosophie
sei, aus dem Inhalt dessen, was man zu verschiedenen Zeiten und
in verschiedenen Systemen so genannt habe, kaum eine allgemein-
gültige Antwort finden lassen. Seit den Anfängen der hellenischen
Wissenschaft schwanke der Begriff ihres Gegenstandes z\^ischen
völlig entgegengesetzten Auffassungen. Selbst da, wo man sich etwa
') „Was ist Philosophie?", Präludien (Freib. u. Tüb. 1884), S. If., 10.
Vgl. auch Lehrbuch der Gesch. d. Philos. (Tüb. 1912), S. 3.
8 Hubert Rock,
mit einer bloß formalen Begriffsbestimmung begnüge, pflegten sieh
hinter anscheinend verwandten Ausdrücken um so tiefer greifende
Unterschiede zu verbergen. So vielgestaltig und widerspruchsreich
aber das Bild sein möge, das der Inhalt der Philosophie in ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung darbiete, so übereinstimmend soll trotzdem
der Zweck erscheinen, den ,, allzeit bald ausdrücklich, bald un-
ausgesprochen" die Philosophie erstrebt habe. Der Zweck bestehe
überall in der Zusammenfassung der Einzelkenntnisse zu
einer die Forderungen des Verstandes und die Bedürf-
nisse des Gemütes befriedigenden Welt- und Lebens-
anschauung. Freilich sei es die Philosophie nicht allein, die diesen
Zweck zu erreichen strebe, weshalb es nicht genügen würde, ihn zur
Begriffsbestimmung derselben zu verwenden. Zwei andere große
Gebiete menschlicher Geistestätigkeit seien es, die sich hier mit ihr
,,ganz oder teilweise" in dem nämlichen Streben vereinigten. Das
eine sei die Religion, die in dem Augenblick, wo die Philosophie
entstehe, schon als eine fertige Weltanschauung vorhanden sei. Das
andre setze sich aus den einzelnen Erkenntnisgebieten zusammen,
die, in Gestalt der Einzel Wissenschaften allmählich aus der Philo-
sophie hervorgegangen, im Laufe der Zeit eine immer größere Selb-
ständigkeit gewonnen hätten. Zwischen diesen beiden Bereichen
geistigen Lebens nehme daher die Philosophie eine vielfach ungewisse,
bald ihnen verbündete, bald ihnen feindselige, sie bekämpfende und
selbst von ihnen angefochtene Stellung ein^j.
Angenommen, die Philosophie hätte ^\^rklich den von Wundt
bezeichneten Zweck ..allzeit bald ausdrücklich, bald unausgesprochen"
verfolgt, so ist nicht einzusehen, weshalb diese Zweckbezeichnung nicht
die allgemeingültige Lösung des Philosophieproblems bilden soll. Daß
eine Rehgion wie das Christentum den gleichen Zweck „ganz" und daß
ihn die Einzelwissenschaften „teilweise" verfolgen, steht einer solchen
Lösung nicht im Wege. Was bei der Philosophie ein an sich rein theore-
tischer Endzweck wäre, dient beim Christentum als Mittel zu einem
rein praktischen Endzweck, zur Heiligung im Literesse des zu er-
langenden ewigen Heils. Und was bei der Philosophie Hauptzweck
wäre, ist eben bei den Einzelwisscnschaften höchstens Nebenzweck
und das in sehr wechselndem Grade, abgesehen davon, daß von einem
8) System der Philosophie (Leipzig 1889), S. If.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 9
allmählichen Hervorgehen der Einzelwissenschaften aus der „Philo-
sophie", wie gezeigt werden soll, überhaupt nicht die Rede sein kann.
Auch nach Deussen soll sich eine Definition der Philosophie,
die das philosophische Denken gegen die übrige Gedankenwelt ab-
grenzte und dabei allen Erscheinungen, von denen die Geschichte der
Philosophie zu reden habe, gleichmäßig gerecht würde, nicht auf-
stellen lassen. Trotz aller Differenzen aber, die es unmögUch machten,
eine für alle im Verlaufe der Geschichte aufgetretenen Systeme gleich-
mäßig gültige Definition der Philosophie aufzustellen, soll sich doch
„gleichwie ein roter Faden" durch die ganze Geschichte der
Philosophie eine gewisse Übereinstimmung in betreff der Aufgaben
und Ziele der Philosophie erkennen lassen. Erstens nehme die Philo-
sophie immer wieder ,,das Gesamtgebiet alles seiend Vorhandenen"
als ihr Objekt in Anspruch und zweitens sehe sie die Gesamtheit der
empirischen Reahtät als etwas an, das noch der weiteren Erklärung
aus einem .Prinzip" bedürfe. Hienach lasse sich, wenn auch nicht
eine „historische Definition", so doch eine ., Ideal-Definition"
der Philosophie aufstellen, d. h. eine solche, die das Ziel bezeichne,
auf das alle philosophischen Bemühungen aller Zeiten und Länder
gerichtet gewesen seien, wenn auch ein klares Bewußtsein über diese
eigentliche Aufgabe der Philosophie erst im Verlaufe ihrer Geschichte
selbst sich herausgebildet habe und noch zu bilden im Begriffe sei. So
sei denn „alle Philosophie von Hause aus und wesenthch Meta-
physik"^).
Angenommen, es verhielte sich so, wie Deussen meint, so wäre
ja eine solche Ideal-Definition der Philosophie nichts andres als die
angeblich unmögliche historische Definition. Es fragt sich dann bloß,
ob sie den historischen Tatsachen in zureichendem Maße gerecht wd.
Vieles spricht ja dafür, vieles aber dagegen. Wie Deussen selbst ein-
räumt, habe Sokrates als „Analytiker" kein philosophisches System
und somit kein „Prinzip" aufgestellt. Er räumt auch ein, daß Kant
kein Prinzip der Welterklärung aufgestellt habe, freilich mit der Ein-
schränkung, daß dessen Zerlegung des Erfahrungsinhalts in das
Apriorische und Aposteriorische, auf das beiden zugrunde liegende,
wenn auch unerkennbare „Ding an sich" als Prinzip hinweisen
8) Allgemeine Geschichte der Philosophie- (Leipzig 1906), I. Bd. 1. Abt.
S. 1—6.
IQ Hubert Rock,
soll. Das „Ding an sich als Prinzip" der Welterklärung! Als ob Kant
nicht ausdrücklich erklärt hätte: „Was die Dinge an sich sein mögen,
weiß ich nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals
ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann'"^*^). Jeden-
falls wären Dcussens Ideal-Definition gemäß Sokrates und Kant nicht
als echte und rechte Philosophen anzusehen. Männer wie Protagoras,
Ariston von Chios, Musonius Rufus und die ganze Schar der Kyniker,
Kyrenaiker, Skeptiker, Positivisten natürlich ebenfalls nicht. Bei
solchen Ergebnissen muß die Rechnung falsch angesetzt sein.
Auch nach Külpe sollen alle Versuche einer allgemeingültigen
Definition des Wesens der Philosophie scheitern, sobald man dem histo-
rischen Tatbestande dieser Wissenschaft gerecht werden wolle. Es
bleibe daher nichts übrig, als auf eine einheitüche Definition überhaupt
zu verzichten. „Was an der Philosophie wesentlich war, ist und
voraussichthch sein wird", soll sich aber trotzdem „in einer anderen
Form, nämlich durch eine divisive Bestimmung" ausdrücken
lassen. Danach wären drei „ganz verschiedene Aufgaben als philoso-
phische Bestrebungen aller Zeiten" zu bezeichnen. Die erste Auf-
gabe bestehe in der Entwicklung einer umfassenden und in sich ge-
schlossenen Weltanschauung ; Metaphysik sei der alte Name dafür.
Die zweite Aufgabe bestehe in der Untersuchung der Voraussetzungen
aller Wissenschaft. Die dritte ihrem Inhalte nach am meisten
Schwankungen ausgesetzte Aufgabe bestehe in der Vorbereitung neuer
Einzeh\issenschaften und einzelwissenschaftlicher Erkenntnisse. Nur
durch diese dritte Aufgabe werde der Wechsel im Umfange der philo-
sophischen Disziphnen verständlich und nur sie ermögliche es, eine
Kontinuität in dem Entwicklungsgange dessen, was die Philosophie in
den verschiedenen Zeiten gewollt habe und gewesen sei, herzustellen.
Freilich lasse sich kein inneres, notwendiges Kriterium angeben, das
entschiede, wann eine von Philosophen vorbereitete Einzelwissenschaft
zu einer selbständigen Bedeutung gediehen sei; vielmehr pflege dies
von dem rein äußerUchen Gesichtspunkte des angewachsenen Stoffes
oder Umfanges abzuhängen, der es nicht mehr tunlich erscheinen
lasse, diese Einzelwissenschaft als einen Teil der Philosophie zu be-
treiben^^).
1°) Kritik der reinen Vernunft, Elementarlehre, II. Teil, 1. Abt., 2. Buch,
Anhang.
1) Einleitung in die Philosophie (Leipzig 1895), S. 258—262.
ii\
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 11
Als Verlegenheitsauskunft ist diese sogenannte divisive Be-
stimmung eines dreifachen Wesens der Philosophie insofern nicht
übel, als sie besonders drastisch veranschauhcht, welch schweres
Kreuz das Philosophieproblem für manche darstellt und mit welchen
logischen Finten man sich und andre darül)er hinwegzutäuschen unter-
nimmt. Im übrigen lohnt es sich nicht, dabei kritisch zu verweilen.
Dagegen lohnt sich dies bei der plausibler klingenden Verlegenheits-
auskunft Windelbands.
Wenn eine allgemeine Geschichte der Philosophie trotz der Un-
auffindbarkeit eines allgemeinen Begriffs der Philosophie einen ver-
nünftigen Sinn behalten soll, so setzt das nach Windelband voraus,
daß der Wechsel, den der Name Philosophie im Laufe der Jahr-
hunderte erfahren habe, nicht bloße AVillkür und Zufälhgkeit bedeute,
sondern selbst einen vernünftigen Sinn und einen eigentümüchen
Wert besitze. Und so verhalte es sich in der Tat. Nur wenn man sich
die Geschichte des Namens Philosophie klar gemacht habe, werde
man bestimmen können, was in Zukunft mit dem Anspruch auf mehr
als individuelle Gültigkeit berechtigt sei, den Namen zu tragen.
Wie wir den Griechen das Wort verdankten, so auch die erste
Bedeutung der rfüoooffiic. Um die Zeit Piatons, wie es scheine,
ziu- technischen Bezeichnung geworden, bedeute das Wort genau das,
was wu- heute im Deutschen mit dem Wort Wissenschaft be-
zeichneten. Es sei der Name, den ein eben geborenes Kind erhalte.
Die Neugierde des von der Not des Lebens befreiten Kultur-
geistes, der in edler Muße zu forschen beginne, um ohne jeden prak-
tischen Zweck, ohne jedes Hinbücken auf religiöse Erbauung oder
sittliche Veredlung das Wissen nur um seiner selbst willen
zu haben und an ihm als einem absoluten, vöUig unabhängigen Werte
Genuß zu finden, diesen reinen Wissens trieb hätten die Griechen
zuerst entfaltet und seien damit die Schöpfer der Wissenschaft
geworden. So sei die Geschichte der griechischen Philosophie
die Geburtsgeschichte der Wissenschaft; das sei ihr tiefster
Sinn und ihre unvergänghche Bedeutung. Von der Forschung des
Thaies nach dem Urgrund aller Dinge bis zur Logik des Aristoteles
handle es sich um eine große typische Entwicklung, deren Thema
die Wissenschaft bilde. Diese Wissenschaft richte sich deshalb auf
alles, was ül)erhaupt Objekt des Wissens werden könne oder werden
zu können scheine; sie umspanne das All. die ganze VorsteUungswelt.
12 Hubert Rock,
Und SO sei Philosophie anfangs die eine, ungeteilte Wissen-
schaft.
Mit wachsendem Material beginne jedoch die Philosophie sich
zu teilen. Es schieden sich die einzelnen „Philosophien" aus, von
denen jede die Lebensarbeit eines Forschers für sich in Anspruch nehme.
Der griechische Geist trete in das Zeitalter der Spezialwissen-
schaften. Der ursprüngUche Name der Gesamtwissenschaft bleibe
zunächst für die später Metaphysik genannte „erste" Philosophie
des Aristoteles erhalten, in dessen gewaltigem, systematisierendem
Geiste sich jener Differenzierungsprozeß der Philosophie vollzogen habe.
Zugleich trete ein andrer Umstand hinzu, der nicht in der rein
\\issenschaftlichen, sondern in einer allgemeinen Kulturbewegung, im
Aufgehen des Griechentums in den Hellenismus, des Hellenismus in
das römische Eeich seinen Grund gehabt habe. Wo die Geschicke der
äußern Welt vernichtend über ganze Völker und gewaltige Keiche
dahingerollt seien, da habe nur noch im Innern der Persönlichkeit
Glück und Genuß zu winken geschienen. Und so sei für alle Besseren
die Frage nach der rechten Einrichtung des persönlichen
Lebens die wichtigste und brennendste geworden. Vor der Leb-
haftigkeit dieses Interesses sei der reine Wissenstrieb erlahmt. Nur
so weit noch sei die Wissenschaft geschätzt worden, als sie diesem
Interesse habe dienen können. Den Typus dieser Bewegung sähen
wir in der Stoa. Die Unterordnung des Wissens unter das Leben
sei der allgemeine Charakter dieser Zeit und ihr heiße deshalb die
Philosophie eine Lebenskunst und eine Tugendübung. Die
Wissenschaft sei kein Selbstzweck mehr, sondern das vornehmste JVIittel
der Glücksehgkeit. Das neue Organ des menschüchen Geistes, das
die Griechen ent\\ickelt hätten, trete fortan in langdauernde Dienst-
barkeit und wechsle mit den Jahrhunderten bloß den Herrn.
Als Dienerin des Glaubens erscheine die Philosophie in den
langen schweren Lehrjahrhunderten der germanischen Völker.
Philosophie sei da der Versuch wissenschaftlicher Entwicklung und
Begründung von religiösen Überzeugungen.
Durch die Emanzipation von der Alleinherrschaft des mittel-
alterhc.hen Geistes werde auch der Wissenstrieb wieder frei. Die
Philosophie finde in den Idealen Griechenlands das reine Wissen
um seiner selbst willen wieder. Sie streife die ethische und reli-
giöse Zweckbestimmung ab und werde wieder die Gesamtwissenschaft
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 13
vom Weltall, Metaphysik im eigensten Sinne. Allein neben das
metaphysische Interesse trete von Anfang an ein andres, das albnählich
das Übergewicht gewinne. Gerade der Gegensatz der metaphysischen
Systeme erzeuge die Frage, ob überhaupt Metaphysik möglich sei.
Und diese Frage werde verneint.
Indessen, wo die Not am höchsten, sei die Hilfe am nächsten.
]\Iit dem Nachweise der Unmöglichkeit der Methapysik sei eben ein
neuer TMssenszweig entstanden, der eines Namens bedürfe. Neben
die anderen Wissenschaften trete als besondere, scharf bestimmte Dis-
ziplin eine Theorie der Wissenschaft. Auf diese Wissenschaftslehre
übertrage sich der gegenstandlos gewordene Name der Philosophie.
In der ersten Phase also die Wissenschaft selbst und ganz,
sei die Philosophie in der zweiten Phase das Resume aller ein-
zelnen Wissenschaften, in der dritten Phase die Lehre davon, wozu
die Wissenschaft da sei, in der vierten Phase die Theorie der Wissen-
schaft selbst.
Die wichtigste Wandlung, die die Philosophie erfahren habe,
knüpfe sich aber an den Namen Kants. Sie folge unmittelbar auf die
vierte Phase. Dadurch, daß Kant der Philosophie die Aufgabe gestellt
habe, den Wert der Vorstellungen unter dem ki'itischen Gesichtspunkt
der Wahrheit zu untersuchen, sei ein ganz neuer Begriff der
Philosophie eröffnet worden. Allerdings habe bis jetzt viel daran
gefehlt, daß Kants Prinzip verstanden worden und zur Alleinherrschaft
gelangt wäre. Am meisten habe von seinen Nachfolgern Herbart
daran festgehalten. Andi'e hätten seine Resultate sogleich wieder in
eine Metaphysik oder in eine philosophische Universalwissenschaft
umgedeutet, andre die Philosophie auf Erkenntnistheorie zu be-
schränken gedacht. Selbst an solchen Stimmen habe es nicht gefehlt,
die die Philosophie wieder zu einer bloßen Untersuchung dessen
machen wollten, was für die praktischen Lebenszwecke des Menschen
Bedeutung habe^^).
So Windelband im Aufsatze ,.Was ist Philosophie?" So auch
in der „Geschichte der alten Philosophie" und im „Lehrbuch der
Geschichte der Philosophie", ausgenommen, daß das zweite der beiden
Werke neben dem Hinweis auf eine der ersten Phase vorausgehende
Urphase einige Belegstellen und ScheinbelegsteUen für die ganze
Phaseneinteilung enthält.
12) „Was ist Philosophie?" S. 11—27.
14 Hubert Rock,
Was die Urphase betrifft, erfahren wir übrigens sonst nichts, als daß
das erste literarische Auftreten der AVorte qjiXooofftTr und (füoooffia
noch die einfache und zugleich unbestimmte Bedeutung des „Strebens
nach Weisheit" erkennen lassen soll (S. 1).
In Wahrheit ist das „Streben nach Weisheit" bei den Alten stets
die von Anfang an nichts weniger als unbestimmte Grund- und Haupt-
bedingung jener Worte gebheben. Windelband hat bloß ein sehr
schwaches Gehör dafür. Das „Streben nach Weisheit" muß sich schon
so unzweideutig ^^^e in der dritten Phase vernehmbar machen, um
bei ihm gebührendermaßen Audienz zu finden. Er hat eben keine
Sympathie dafür. Desto mehr Sympathie hat er für das Streben danach,
„was im Deutschen Wissenschaft heißt" und für den es an-
gebhch am leibhaftigsten in sich personifizierenden Aristoteles. Die
Sympathie dafür geht bei ihm so weit, daß er sich von ihr verführen
läßt, die antike Philosophie in ,,zwei große Massen" einzuteilen oder
vielmehr auseinanderzureißen, in die griechische und in die helle-
nistisch-römische, mit dem Todesjahr des Aristoteles als äußern
Grenzpunkt. Die griechische Philosophie beginne mit der Verselb-
ständigung desErkenntnistriebes, bewege sich durchgängig um eine
von Nebenzwecken freie Erstrebung des Wissens und vollende
sich in Aristoteles teils durch die allgemeine Theorie der Wissenschaft
(Logik), teils durch den Entwurf eines daraus entwickelten Systems
der Wissenschaften. Aristoteles sei „der wissenschafthche Geist xar
lB,oyj'ir\ „die Verkörperung der griechischen Wissenschaft", in seiner
Philosophie verdichte sich „das Wesen des Griechentums zu
seinem begriffhchen Ausdruck". In der Folgezeit erlösche „die Energie
dieses rein theoretischen Interesses" und erhalte sich nur teil-
weise in der stiUen Arbeit der sachlichen Einzelwissenschaften, wogegen
für die „Philosophie" die praktische Frage nach der Lebens-
weisheit in den Mittelpunkt trete. Das Wissen werde nicht mehr
um seiner selbst willen, sondern nur als ein Mittel zu rechten
Einrichtung des Lebens gesucht. Der bestimmende Grundgesichts-
punkt der Philosophie werde derjenige der Lebensweisheit^^).
Allerdings unterläßt Windelband nicht beizufügen, es verstehe
sich bei der Flüssigkeit aller historischen Einteilungen von selbst,
daß dieser Gegensatz nicht absolut, sondern nur relativ gelte; weder
") Geschichte der alten Philosophie ~ (München 1894), S. 5, 142, 157, 11
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 15
fehle es in der naclmristotelisclien Philosophie vollständig an Be-
strebungen wesentlich theoretischer Art noch unter den rein griechischen
Denkern an solchen, die der Philosophie letztUch praktische Ziele
steckten, wie z. B. die Soki'atikeri*). Aber auch mit dieser Einschrän-
kung ist die Unterscheidung zwischen griechischer und hellenistisch-
römischer Philosophie bei unvoreingenommener Geschichtsforschung
nicht aufrecht zu halten.
In Wirklichkeit ist der bestimmende Grundgesichtspunkt des von
den Alten unter dem Namen Philosophie mit mehr oder weniger
klarem Bewußtsein, wenngleich auf mehr oder weniger getrennten
Wegen Erstrebten sowohl vor als nach der Zeit des Aristoteles derjenige
der Lebensweisheit gewesen, Aristoteles selbst nicht ausgenommen.
„Lebensweisheit" und „Wissenschaft" sind von Anfang an zwei neben-
einander hergehende, sich naturgemäß vielfach vermischende, nie aber
ineinander aufgehende Geistesströmungen. Daß ein und derselbe, wie
es nicht bei Aristoteles allein der Fall ist, die Vertretung der Lebens-
weisheit mit der der Wissenschaft in sich vereinigt, macht die Lebens-
weisheit noch nicht zur Wissenschaft oder die Wissenschaft zur Lebens-
weisheit. Daneben hat es'von Anfang an solche gegeben, die lediglich
als Vertreter der Lebensweisheit oder ledigüch als Vertreter der
Wissenschaft in Betracht kommen. Die Haltlosigkeit von Windel-
bands Phasenunterscheidung ergibt sich aus der Haltlosigkeit seiner
Unterscheidung zwischen griechischer und hellenistisch-römischer Phi-
losophie von selbst.
Der Glaube an „die für das Altertum gültige Gleichung von
Philosophie und Wissenschaft"!^)^ wenigstens für die bis zum
Tode des Aristoteles reichende Periode, die sogenannte Glanzperiode
antiker Philosophie, ist überhaupt sehr verbreitet und bei denjenigen,
die ihn haben, meist derartig eingenistet, daß er ihr Denken gleich
einer längst über eden Zweifel erhabenen philosophiegeschichtlichen
Wahrheit beheiTscht. Windelband hat diesen Glauben bloß in seiner
Weise und nach seinem Bedürfnis formuhert.
Wie Überweg und Comp, es als ausgemachte Tatsache hin-
stellen, daß sich im Altertum der Lihalt der Philosophie „nach all-
") Ibid. S. 6; Tgl. auch S. 86ff., 177.
") Worte Riehls in der Schrift „Zur Einführung in die Philosophie der
Gegenwart" (Leipzig 1903), S. 7.
16 Hubert Rock,
gemeiner Anschauung" mit dem „des menschlichen "Wissens üljer-
haupt" gedeckt habe^'), so Brandis mit der kategorischen Erklärung:
„Bei den Griechen umfaßte die Philosophie ursprünglich alle Wissen-
schaft, die bei ihnen nicht wie bei einigen Völkern des Orients in
Bedürfnissen des physischen Wohlseins, sondern im Trielje zu wissen
ihre erste Veranlassung fand"^^).
Bei Zeller finden wir denselben Glauben, jedoch mehr auf der
Zunge als im Kopf, was seine Aussagen um so wiederspruchsvoller, aber
auch um so merkwürdiger macht. Einerseits soll die Philosophie
bei den Griechen nicht bloß der Einheitspunkt sein, in dem alle
wissenschaftlichen Bestrebungen zusammenhefen, sondern ursprüngUch
das Ganze, das sie alle in sich begreife. Andererseits soll der Name
Philosophie ursprüngUch alle Geistesbildung und alles Streben nach
Bildung bezeichnen. Eine engere Bedeutung scheine er zuerst in der
sophistischen Periode erhalten zu haben, wo er für eine solche Be-
schäftigung mit geistigen Dingen gebraucht werde, die nicht bloß
nebenher, als Sache der Unterhaltung, sondern selbständig als Gegen-
stand einer eigenen ernsthaften Tätigkeit betrieben werde; der Um-
fang dieses Begriffs sei aber noch niclit auf die philosophische
Wissenschaft in der jetzigen Bedeutung des Wortes ,,und überhaupt
nicht auf die Wissenschaft beschränkt, für die vielmehr andre
Benennungen gebräuchlicher sind". Ein bestimmterer Sprach-
gebrauch finde sich erst bei Piaton, der jedoch das sittlicheHan-
deln ebensosehr wie das Wissen zur Philosophie rechne. Aristoteles
begrenze das Gebiet der Philosophie noch genauer, indem er die prak-
tische Tätigkeit von ihr ausschließe. Doch schwanke auch er zwischen
einer weiteren und einer engeren Bedeutung; nach jener werde es für
jede wissenschaftliche Untersuchung und Erkenntnis, nach dieser nur
für die Untersuchungen über die letzten Gründe, die sogenannte
„erste Philosophie" gesetzt. Kaum sei aber hiemit der Anfang zu
einer schärferen Begriffsbestimmung gemacht, so werde sie auch sofort
wieder verlassen, indem die Philosophie in den nacharistotelischen
Schulen teils einseitig praktisch als ÜlDung der Weisheit, Mittel zur
Glücksehgkeit, als L e b e n s w e i s h e i t definiert, teils auch von den
1^) Grundriß der Geschichte der Philosophie des Altertums, 10. Aufl.,
S. 1.
^') Handbuch der Geschichte der Griechisch-Römischen Philosophie (Berlin
1835), I. Teil.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 17
empirischen Wissenschaften zu wenig unterschieden und wohl auch
geradezu mit der Gelehrsamkeit verwechselt werde^^).
Als ob das eine nicht das andi'e rundweg ausschlösse! Entweder
war Philosophie bei den Griechen ursprünglich das alle wissenschaftlichen
Bestrebungen in sich begreifende Ganze, also Wissenschaft schlechthin;
dann hätte es ja ursprünglich an einem bestimmt genug lautenden
Sprachgebrauch nicht gefehlt und dieser wäre erst später verloren
gegangen, Oder es ist eben während des ganzen Altertums nie zu
einem bestimmten Sprachgebrauch gekommen, nicht einmal bei
Aristoteles.
Dagegen erklärt wieder Wundt in seinem Essay „Philosophie
und Wissenschaft" ganz kategorisch: „Den Alten war die Phi-
sophie Wissenschaft überhaupt In der Blütezeit der
hellenischen Philosophie begannen zwar schon einzelne Teile nament-
lich der mathematischen und naturwissenschaftüchen Forschung eine
sorgfältigere Pflege zu finden; sie bheben aber im Zusammenhang
mit der großen Mutterwissenschaft und wurden höchstens als
Anhänge und Ergänzungen derselben betrachtet". Erst in das Zeit-
alter der untergehenden antiken Kultur falle die allmähliche Ent-
wicklung der ihre eigenen Wege wandelnden Einzelwdssenschaften^^).
Ebenso kategorisch heißt es bei Eduard Schwarz in bezug auf
die vorepilvureische Philosophie: ,,Epikur ist der erste griechische
Philosoph, der mit Bewußtsein und Absicht ein System aufgestellt
hat. Er unterscheidet sich dadurch ebenso von P lato und Aristoteles
wie von den Joniern. Für diese alle war die Philosophie Wissen-
schaft, nicht eine neben oder über vielen anderen, sondern die eine
und unteilbare, die alle Erkenntnis umfassen wollte".
Für Epikur dagegen sei die Wissenschaft nicht Ziel, sondern Mittel
gewesen^").
Zum Unterschied von den Genannten suchen sich Theodor
Gomperz und Deussen, namentlich aber Riehl mit dem Glauben
an die Geschichthchkeit der Gleichung von Philosophie und Wissen-
schaft dadurch abzufinden, daß sie die Lebensweisheit mit der Wissen-
schaft begriffhch verquicken, die Lebensweisheit zu einem Bestandteil
^^) Philosophie der Griechen, I^. S. 1 — 5.
1«) Essays (Leipzig 1885), S. 7—9.
^°) Charakterbilder aus der antiken Literatur, II. Reihe 2. Aufl. (Leipzig
1911), S. 32f., 34.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 1. 2
18 Hubert Rock,
der Wissenschaft machen oder daß sie die beiden verkoppeln, sie
zu einem Doppelbegriff stempeln.
Gomperz sagt: „Philosophie war von Haus aus Universal-
wissenschaft und zwar im Sinne des Altertums als eine das Leben
leitende und bestimmende Macht''^^).
Deussen sagt: ,,Das seit Sokrates und Piaton allgemein ge-
bräuchliche Wort Philosophie, ,Liebe zur Weisheit', befaßt ur-
sprünglich alle Wissenschaften; ja noch etwas mehr: denn Weis-
heit {ooffia) ist Wissenschaft {L-riOT/'/inj) mit dem Nebenbegriffc eines
bestimmten Einflusses auf das allgemeine Verhalten des Men-
schen in geistiger und sittlicher Hinsicht"^^^.
Weiter lassen sich Gomperz und Deussen nicht darüber aus. Um
so mitteilsamer ist Riehl, nach dessen Auf fassung die Philosophie im
Altertum einen doppelten Beruf zu erfüllen gehabt hätte. Sie
habe die Stelle der heutigen Wissenschaft vertreten und sei überdies
eine Lehre und Übung praktischsr Lebensweisheit gewesen.
Statt nach einer einzigen Definition zu suchen, die das Wesen der
Philosophie erschöpfen soll, habe man vielmehr eingedenk zu sein,
daß mit ihrem Namen zwei ungleichartige Begriffe verbunden seien.
Auf die Frage, welche Wissenschaft die Philosophie sei, hätte die
Antwort der Alten einfach und bestimmt gelautet: Die Wissenschaft.
Die Philosophie sei die Wissenschaft der Griechen, die Wissenschaft
des griechischen Zeitalters. Niemals aber habe es der Philosophie
genügt, bloße Wissenschaft zu sein. Die Wissenschaft als solche
kenne den Begriff des Wertes nicht. Sie erkenne, aber sie beurteile
nicht. Ohne Werte wäre unsere Lebensfahrt ohne Kompaß. Es sei
dem Menschen notwendig, daß all seinem Handeln und Streben ein
Bild seines Handelns, ein Ideal seines Strebens vorangehe. Er müsse
Lebensanschauungen gestalten, um sein Leben menschlich, geistig
führen zu können. Lebensanschauungen aber seien immer selbst
schon in ge\vissem Grade Lebensführungen: denn man könne
Werte nicht als solche erkennen, ohne sie, innerlich wenigstens, zu er-
leben. Daher sei die Philosophie, die von den Werten ausgehe,
nicht reine Wissenschaft; sie sei mehr als Wissenschaft, etwas anderes
als Wissenschaft: die Kunst der Geistesführung. Und die Phi-
") Griechische Denker, I. Bd. S. 420.
22) Allgemeine Geschichte der Phüosophie, I. Bd. 1. Abt. 2. Aufl. S. 2.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 19
losophen der Lebensanschauung seien daher zugleich die Philosophen
der Geistesführung und Erzieher der Menschheit. Die Geschichte
lehre, daß dieser im höheren Sinne praktische Beruf „ursprünglich
und im Altertum auch vorwiegend" der Beruf des Philosophen
gewesen sei. Thaies, den Begründer der Naturphilosophie, zähle
die Legende zugleich zu den „Sieben Weisen". Parmenides habe
seiner Vaterstadt Elea Gesetze gegeben. Der pythagoreische
Bund habe sich nicht in erster Linie der Pflege der Mathematik und
Naturphilosophie gewidmet, sondern habe eine ethisch-pontische
Lebensgemeinschaft auf der Grundlage der orphischen Theologie ge-
bildet. Pythagoras selbst lebe im Gedächtnis der Geschichte vor
allem als Prophet und Keformator^^).
Schade, daß Kiehls ^Mitteilsamkeit auf einmal versiegt, wenn es die
aufgestellte Gleichung von Philosophie und Wissenschaft geschichtlich
zu begründen gilt. In dieser Hinsicht erfahren w von ihm nicht
mehr als von W^indelband und allen anderen, die für die Kichtig-
keit der Gleichung einstehen. Und das wenige, was wir von ihm
erfahren, stimmt entweder nicht mit sich oder nicht mit den Tat-
sachen überein.
So, wenn er, die Selbständigkeit der Mathematik einräumend,
an einem Orte sagt, es habe im Altertum, „von der Mathematik
abgesehen", keine Wissenschaft neben oder außer der Philosophie
gegeben und auch die Mathematik sei von Piaton nur als Propädeutik
der Dialektik oder der Philosophie betrachtet und dieser damit dienst-
bar gemacht worden^^).
Anderwärts sagt er dagegen, auch ohne die Mathematik aus-
zunehmen: „Daß es im Altertum außer der Philosophie keine Wissen-
schaft gab, ist aus dem Verfahren und aus dem Zeugnis der alten
Denker leicht zu erweisen. Nicht einmal die Mathematik galt
als selbständige Disziplin; Piaton machte sie zur Vorstufe, ja zu einem
Teil der Philosophie. "2^)
Oder wenn er zum Beweise dafür, daß Aristoteles unter Philo-
sophie nie etwas andres verstanden hätte, als was wir unter Wissenschaft
verständen, darauf hinweist, daß dieser sich des Ausdrucks Philosophie
23 \
ä) Der philosophische Kritizismus (Leipzig 1887), II. Bd. 2. Teil S. 2f.
— Zur Einfühlung i. d. Philos. d. Gegenwart, S. 8f., 176f.
24) Der philosophische Kritizismus, II. Bd. 2. Teil S. 2.
25) Zur Einführimg i. d. Philos. d. Gegenwart, S. 7.
2*
20 Hubert Rock,
„nicht selten" (anderwärts heißt es sogar ..mit Vorliebe") in der
Mehrzahl bediene; ,. Philosophien", das bedeute für ihn soviel als
„Wissenschaften"^^).
Tatsache ist, daß Aristoteles von „Philosophien" im Sinne von
„Wissenschaften" spricht; aber nicht von allen Wissenschaften ohne
Unterschied, sondern im Sinne philosophischer Wissenschaften als
Bestandteile der Philosophie im allgemeinen. Überdies spricht er von
,, Philosophien" im Sinne philosophischer Wissenschaften bloß ein
einziges Mal — also nicht „nicht selten" oder „mit Vorliebe" — ,
und zwar im 1. Kapitel des VI. Buches der „Metaphysik", wo es heißt,
es gebe „drei theoretische Philosophien, eine mathematische, eine
physische, eine theologische". Wo der Ausdruck ,, Philosophien" im
Sinne philosophischer Wissenschaften am ehesten wieder zu erwarten
wäre, wie im 7. Kapitel des XI. Buches der ,,Methapysik", da ver-
missen w ihn; hier heißt es, es gebe ,,drei Arten von theoretischen
Wissenschaften (6jriör//,Mo32'), eine physische, eine mathematische,
eine theologische". Es handelt sich also um eine gelegentliche Ver-
wendung des Ausdrucks ,, Philosophien" im Sinne von philosophischen
AVissenschaften, wie wir ihr auch bei Piaton begegnen, wenn dieser
von OL Iv zaic. (pilooocpiaig jioXvv ygovor diccTQiipavrsg und von
der ,, Geometrie oder irgend einer anderen Philosophie" spricht^').
Wenn übrigens Lelu'e und Übung praktischer Lebensweisheit
nach Riehls eigenem Zugeständnis ..ursprünglich und im Alter-
tum auch vorwiegend" den Beruf der Philosopliie gebildet hat,
warum etwas als förmlichen zweiten Beruf für sie in Anspruch nehmen,
weil es vielleicht nachträglich und nebenbei von emzelnen be-
sonders anspruchsvollen Philosophen in Anspruch genommen worden
ist? Aber auch dafür ist Riehl den Beweis schuldig geblieben. Und
andre haben den Beweis dafür gleichfalls nicht erbracht, ihn zu er-
bringen nicht einmal ernstlich versucht.
Philosophie, behaupte ich, war nach ihrem wesentlichen nnd
einzigen Bernfe den Alten Lebensweisheit, Lehre und Übung der
Lebensweisheit, war es ihnen ursprünglich und ist es ihnen immer
geblieben, niemals aber Wissenschaft schlechthin, auch einem
Aristoteles nicht.
2^) Ibid. S. 7. Der Ausdruck „mit Vorliebe" im Philosoph. Kritizismus,
II. Bd. 2. Teil S. 2.
2") Theaetet 172 u. 143.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 21
Mt folgendem will ich diese These näher begründen.
Es versteht sich von selbst, daß im Rahmen eines Aufsatzes bloß
die Hauptpunkte und auch diese nicht erschöpfend berührt werden
können. Fehlendes aus Eigenem zu ergänzen, wird dem sachkundigen
Leser ohnehin nicht schwer fallen.
IL
^ilo60(fia heißt, etymologisch genommen, Liebe zur ooffla,
Streben nach ooffia. Schon das allein sagt, richtig verstanden,
genug. Aber die wenigsten zeigen dafür das richtige Verständnis.
Unter oocfla ist hier weder alles und jedes Wissen und Können noch
die Wissenschaft schlechthin, sondern eine bestimmte einzelne aoffia,
die Lebensweisheit, gemeint, /) oocpia Iv reo ßlco ^), eine so oder so
beschaffene Lebensführung {oöog tov ßiov, TQ6:xog tov ßiov)^^),
recta vivendi ratio, scientia honeste vivendi, ars rectae vitae agendae,
lex bene honesteque vivendi, regula vitae^), /} mol vor ßiov rtyvtf^),
oder, wenngleich in den Augen des skeptischen Philosophen keine
förmhche ri/yi], so doch immerhin eine gewisse äyor/t], eine cäQEöiq
ßiov .Ttgl tV« // rrol/Mva yirof^dvr/.^^)
Um an einem Beispiel zu demonstrieren, mit welcher Seelen-
taubheit manche geschlagen sind, sei auf R. Haym verwiesen. Seinen
x\rtikel ,, Philosophie" in Ersch und Grubers Enzyklopädie der Wissen-
schaften und Künste leitet Haym mit den AYorten ein: „Zu sagen,
was Philosophie sei, ist keine geringe Mühe". Aber weshalb? Nur
deshalb, weil Haym keine Mühe scheut, die Wortbedeutung von
Philosophie zur Bedeutungslosigkeit zu verflüchtigen, wie folgende
Auslassung ergibt: „Verfolgen wir nun im einzelnen die gjüooofpia,
so brauchte sie nur ein statarisches, unlebendiges Wesen zu sem, um
uns mit der einfachen Antwort heimzuschicken, die sie ja auf der
Stirn trägt: sie sei eben Liebe zur Weisheit. Es fehlt nun aber
-®) Hippokrates, Über das Wohlverhalten, cap. 1.
29) Piaton, Staat, X, 600.
30) L. A. Seneca, Fragmente (III. Bd. S. 422 der Seneca- Ausgabe von
Fr. Haase).
31) Sextus Empiricus, Pyrrhon. Hypotyp. III. cap. 24ff. — Gegen die
Ethiker § 168ff.
^■^) Sextus Empiricus, Pyrrhon. Hypotyp. I. cap. 14 § 145.
22 Hubert Rock,
viel, (laß sie solch ein Wesen ist; vielmehr ein recht lebendiges, sich
entwickelndes, ja in dieser Entwicklung bald einmal langsam, bald
wieder schnell fortschreitendes, auch wohl anhaltendes und scheinbar
zurückgreifendes ist sie. Es nimmt sie deshalb auch wohl nicht wunder,
wenn wk sie etwa fragten, was denn das für eine „Weisheit" sei, zu
der sie die Liebe und weiter dann, eine wie beschaffene Liebe sie sei,
und endlich, ob sie denn auf diese Weise Liebe zur Weisheit sei, daß
sie nach der Weisheit immer nur strebe oder daß sie der Weisheit
bereits recht vertrauhch im Schoß sitze. Und so zeigt es sich, daß
jene Antwort wohl einfacher scheinen mochte, als sie wklich war
und daß es einem W^orte so wenig wie einem Menschen sogleich auf
der Stü-n geschrieben steht, was alles in ihm steckt und wessen man
sich zu üim zu versehen hat."
Wieland ist einer der wenigen Modernen, deren Apperzeptions-
zentrum im vorhegenden Falle richtig funktioniert, wenn er^sagt:
„Die Menschen haben gelebt und vielleicht Jahrtausende gelebt, eh'
einer von ihnen auf den Gedanken kam, daß Leben eine Kunst
sein könnte; und nach aller Wahrscheinhchkeit ist jede andi'e Kunst
schon längst erfunden gewesen, als endlich die scharfsinnigen Griechen
mit andern schönen Wissenschaften und Künsten auch diese berühmte
Kunst zu leben, Philosophie genannt, wo nicht gänzhch erfunden,
doch zuerst in Kunstform gebracht und auf einen hohen Grad der
Verfeinerung getrieben hal)en"^^).
Sachhch eenommen, ist zwischen Lebensweisheit und Liebe zur
licbensweisheit kein Unterschied außer insofern, als ootfia das Ziel,
q)LXoöo(pia die Bewegung zum Ziel bedeutet, oder mit S e n e c a s Worten :
„Weisheit (sapientia) ist die vollkommen gute Beschaffenheit des
menschlichen Geistes. Philosophie 'st Liebe zur Weisheit und Streben
nach ihi-. Diese weist dahin, w^ohin jene gelangt ist. Woher die Philo-
sophie ihren Kamen hat, i?t ohne weiteres klar; denn der Name selbst
gibt es kund^^)." (piXoöocfia ist nur ein Bescheidenheitsausdruck an
Stehe des zu anmaßend klingenden Ausdrucks cotpia. Ebenso verhält
es sieh mit den ^Ausdrücken (filoaoffoq und ooffog.
Wenn es wahr ist, daß erst der ausgesprochene Begriff der voll-
endete Begriff und die Namengebung ganz eigentlich die Begriffs-
33) SämtUche Werke (Leipzig 1857), 29. Bd. S. 153.
3«) Epistol. 89, 4.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 23
Schöpfung sei^'^), so vermügen wir sogar den Zeitpunkt aufs Jahr an-
zugeben, von dem sn der BegTiff der oocfta im Sinne von Lebens-
weisheit bei den Griechen allgemeines Sprach- und Gedankengut
wurde. Es ist das Jahr, in dem D?masias Archon in Athen war^^).
Damals erhielt nämlich Thaies nach dem glaubwürdigen Zeugnis des
Demetrius Phalereus als erster den um dieselbe Zeit sechs andern her-
vorragenden Männern verhehenen Ehrennamen eines aocpog. Die
Annahme, daß die Verleihung des Ehrennamens an Thaies auf dessen
Voraussagung einer im Jahre 585 v. Chr. eingetretenen Sonnen-
finsternis zurückzuführen sei=^^), entbehrt nicht der Wahrschein-
hchkeit. Aber diese Voraussagung wäre dann bloß als nächster Anlaß
zu betrachten, nicht als eigentlicher Grund. Den eigentlichen Grund
haben wii- offenbar in der von Thaies an den Tag gelegten Lebens-
weisheit zu suchen. Dafür spricht vor allem, daß die übrigen oor/o/,
Blas, Pittakus, Solon, Kleobulus, Myson und Chilon, die mit Thaies
vorzugsweise als die „Sieben Weisen" aufgeführt zu werden pflegen,
lauter Vertreter der Lebensweisheit sind; der als Weisheitspreis aus-
gesetzte Dreifuß wii'd geradezu als äd^Xov aQerfjg bezeichnetes). Dafür
spricht auch die ausdrücküche Angabe, daß Thaies der ü-acjQia (pvöixt'i
sich ^£ra za Ttolitixä, also erst im vorgeschritteneren Alter, gewidmet
habe^ö), während er im Jahre 585 noch nicht älter als iO Jahre ge-
wesen zu sein scheint.
Gleichwie ooq)6g bezeichnete öocf lor t] g ursprünghch einen
Mann, der sich in irgend einer oorfUc oder Kunstfertigkeit auszeichnete.
Besonders Musikkundige und Dichter hießen so. Noch von Kratinos
wurden Homer und Hesiod lobenderweise so genannt. Aus dieser
Bedeutung entwickelte sich die engere eines auf wissenschafthchem und
die noch engere eines auf philosophischem, die Lebensweisheit be-
treffendem Gebiete sich Auszeichnenden. Diogenes von Appollonia
nannte seine Vorgänger, die jonischen Physiologen, Sophisten. Wenn
Herodot einen Solon und Pythagoras, wenn Isokrates und Androtion
35) AI. Riehl, Beiträge zur Logik {Vierteljahrsschrift f. wissenschaftl.
Philos., 16. Jahrg. S. 4).
36) Diog. Laert. I, 22. (Nach Zeller, Philos. d. Griechen, I', S. 181,
das Jahr 586, nach Diels, Vorsokratiker, das Jahr 582 v. Chr.)
") Vgl. Döring, Gesch. d. griech. Philosophie, I, 19f.
38) Diog. Laert. I, 30.
39) Diog. Laert. I, 22.
24 Hubert Rock,
die Sieben AVeisen insgesamt als Sophisten bezeichneten, so ist dies
gleichbedeutend mit Weisen im engsten Sinne, mit Vertretern der
Lebensweisheit, mit Philosophen, zu nehmen. Zugleich unterlagen
beide Ausdrücke insofern einem Bedeutungswandel, als man sich ge-
wöhnte, zwischen dem mit irgend einer oocpia begabten öo(jpoc und
dem seine Art Weisheit andre lehrenden oocpiOTf'ig zu unterscheiden.
Bei diesem Sprachgebrauch verblieb es auch dann, als „Sophist" die
Nebenbedeutung eines Schein- und Afterphilosophen angenommen
hatte, und es ist bei ihm bis zum Ausgang des Altertums verblieben.
Ein guter Beleg für den zwischen dem Weisen als solchem und dem
Weisheitslehrer gemachten Unterschied ist der Euripideische Vers:
(iiöw 6 o (fi i C)T )'i V , (xjTic oiy^ avT(~) öorpog.
Bei der Angabe des Isokrates, Solon habe unter den Bürgern
Athens zuerst den Beinamen ooffiarfjg erhalten, ist dieser hier ehrend
gemeinte Beiname im Sinne von Weisheitslehrer, von Lebensweisheits-
lehrer, zu verstehen. Das geht aus dem Zusammenhang, in dem die
Angabe erscheint, und geht aus andern beachtenswerten, wenngleich
bis jetzt kaum beachteten Angaben und Umständen hervor. Danach
dürfen wir Solon geradezu als Vorläufer des Protagoras, ja als Vater
jener Lebensweisheitsrichtung betrachten, die in Protagoras ihren
bewußtesten und typischesten Vertreter gefunden hat.
Isokrates sagt: ,,Es erregt meinen Unwillen, wenn ich sehe, daß
es dem Sykophantentum besser als der Philosophie ergeht, daß
jenes der Ankläger, diese die Verurteilte ist. Wer von den Alten hätte
erwartet, daß es dazu kommen werde, besonders bei euch, die ihr
auf Weisheit stolzer als andre seid? Unter unseren Vorfahren ver-
hielt es sich durchaus nicht so; sie bewunderten vielmehr die so-
genannten Sophisten und schätzten deren Schüler glücklich, die
Sykophanten aber hielten sie für Urheber der meisten Übel. Der beste
Beweis liegt darin, daß sie Solon, der zuerst unter den Bürgern diesen
Beinamen erhielt, Vorsteher des Staates zu sein würdigten, hinsichtlich
der Sykophanten aber gaben sie strengere Gesetze als hinsichtlich
andrer Leute^^) "
Nach dieser Stelle zu schließen, wäre Solon gar ein beruf s maß ig er
Vorläufer des Protagoras, wenn nicht dessen erster berufsmäßiger
Vorläufer gewesen. Davon kann freilich keine Rede sein. Förnüichen
") Orationes ed. Benseler-Blass, XV {JJeot uvridoGHoc), 312, 313.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 25
Unterricht hat er nie erteilt, auch privaterweise nie erteilt. Sonst
wäre gewiß irgend eine Notiz darüber bei Diogenes Laertius oder ander-
wärts auf uns gekommen. Aber er hat durch Wort und Tat wie ein
„Sophist" gewirkt und als unberufsmäßiger Sophist auf Zeitgenossen
und Nachgeborene tieferen Einfluß als Protagoras unter den berufs-
mäßigen Sophisten ausgeübt. Ebenso kann keine Rede davon sein,
daß sich die berufsmäßigen Sophisten jemals allgemeiner Anerkennung
zu erfreuen gehabt hätten. Gerade in Athen ist von jeher das Gegenteil
der Fall gewesen. Isokrates hat das am besten gewußt. "Was ihn zum
Lobredner der Vergangenheit werden läßt, ist nichts als der Groll über
das Sophisten wie ihm das Leben verbitternde Athen seiner eigenen
Zeit. Denn Isokrates selbst hat sich in erster Linie nicht als Lehrer
der Redekunst gefühlt, sondern als Sophist, als Philosoph und Lehrer
der Philosophie als Lebensweisheit. Wenn es dem Sykophantentum,
wie er klagt, besser als der Philosophie ergeht, so haben wir dabei
nicht etwa an die Philosophie schlechthin zu denken, sondern an das,
was er unter Philosophie versteht, an seine philosophische Richtung.
Und er versteht unter tp i / o o o cf l a im wesentlichen dasselbe, was bis
auf seine Zeit seit Solon unter der „sogenannten aoffla'' ver-
standen worden ist: eine besondere Richtung der Lebensweisheit,
ethisch-politische Lebensweisheit zum praktischen Gebrauch.
Wenn wir von Protagoras im Platonischen Gespräch gleichen
Namens hören, er sei der erste gewesen, der sich frank und frei für
einen Sophisten im Sinne eines Lehrers der „Bildung und Tugend"
oder der „Wohlberatenheit {tvßov?Ja) in privaten und öffenthchen
Angelegenheiten, im Sinne eines Lebensweisheitslehrers also,
erklärt habe^^), so herrscht allgemeine Übereinstimmung darüber,
daß dies als geschichtHche Tatsache zu betrachten sei*'^). Warum
soll dann nicht auch das Übrige wenigstens in der Hauptsache so zu
betrachten sein, die Protagoras in den Mund gelegte Angabe nämlich,
die oocpiOTixrj xiyvr] sei schon alt, bisher jedoch aus Furcht vor dem
Gehässigen der Sache unter irgend einem Deckmantel ausgeübt worden,
so von Homer, Hesiod, Simonides unter dem Deckmantel der
Poesie, von Orpheus undMusäos unter dem des Mysterien- und
Orakelwesens, von Ikkos und Herodikos unter dem der Turnkunst,
41) Platon, Protag. 317, 349, 318.
42) Vgl. Zeller, Philos. d. Griech., 1% 1049. Gomperz, Griech. Denker,
I, 335. Döring, Gesch. d. griech. Philos., I, 308.
26 Hubert Rock,
von Agathoklcs und Pythokleides unter dem der Tonkunst'*^)?
Weil die Genannten, wie Zeller meint, noch keinen „förmlichen
Unterricht'' erteilt hätten und daher keine „eigentlichen Sophisten"
gewesen seien?'**) Als ob die schulmäßige Form nach bestimmten
Preislagen und nicht Inhalt und Geist der Belehrung das Entscheidende
wäre! Als ob der als Musiklehrer verkappte Sophist Dämon, der
einen Perikles zum Schüler gehabt hat, nicht ein würdiger Vorgänger
des Protagoras gewesen wäre! Als ob die Zeichnung, die Plutarch
von ihm entwirft, nicht aufs Haar zur Angabe des Platonischen Prota-
goras stimmte! Plutarch sagt: „Dieser Dämon, ein Sophist ersten
Ranges, der er war {crxQog Sr aoffi6T//g), scheint sich hinter dem
Namen der Musik versteckt zu haben, um seine Stärke vor der Menge
geheim zu halten, während er gleichsam das Amt eines Einsalbers
und Kampfmeisters bei dem angehenden pohtischen Athleten Perikles
versah. Doch bheb es nicht verborgen, daß er die Leier als Deckmantel
beimtzte, sondern er wurde als einer, der sich mit großen Plänen
tnig und für die Tyrannis eingenommen war, durch das Scherben-
gericht verbannt und von den Komikern zur Zielscheibe ihres Witzes
genommen*^)."
Ein Seitenstück dazu, dessen Kenntnis wir gleichfalls Plutarch
verdanken, stellt Mnesiphilos, der Lehrer und Berater des The-
mistokles, dar, der somit als ein älterer Zeitgenosse Dämons anzusehen
ist. Über ihn heißt es bei Plutarch, er sei weder ein „Rhetor" noch
einer von den „Physiker" genannten „Philosophen" gewesen,
sondern habe sich berufsmäßig mit der in politischer Geschick-
lichkeit und praktischer Einsicht bestehenden „sogenannten
Weisheit" beschäftigt und gewissermaßen die von Solon aus-
gehende „Richtung" aufrecht erhalten, während diejenigen, die
diese Weisheit später mit Prozeßkünsten verbunden und in ihrem
Unterricht das Schwergewicht von den praktischen Angelegenheiten
auf die Reden verlegt hätten, „Sophisten" genannt worden wären*^).
") Piaton, Protag. 316.
") Zeller, Philos. d. Griechen, I», S. 1050, 2 u. S. 1079.
*^) Plut., Perikles, cap. 4.
") Plut., Themistokles, cap. 2: Mu/lov ovv uv Ti,g TtgoGi/ot, toTc
MvijGtcpClov TU' OBuiGTOxlia toö (PqsuooCov ^tjXoJT^r yfViG&ui Xiyovatv,
oviB orJTOoog orrog ovts töiv (pvCixiZv xXi]d^iVT(jt}v (piXoGÖcptov, ukXü
T/;v xaXovfJ srr^r aofpiav, ovGuv Öe dstvörrjTU tvoAvtixiIv xut
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 27
Wessen Schüler Mnesiphilos selbst war, ist uns nicht überliefert.
Aber überliefert ist uns, daß Dämon des Lamprokles, Lamprokles
des Agathokles, Agathokles des Musikers und Pythagoreers Pytho-
kleides Schüler war^"), von denen Agathokles und Pythokleides
unter den vom Platonischen Protagoras als Vorgänger Genannten
sich befinden. Da hätten wir denn eine ganze Abfolge von verkappten
„Sophisten", eine Öiadoyt] von Vertretern der „sogenannten Goff^kC
solonisch-protagoreisch-isokratischer Richtung, eine Abfolge, deren
ältestes GHed, Pythokleides, dem Zeitalter des Solon nicht mehr-
fernsteht und deren jüngstes Ghed, Dämon, ein Zeitgenosse des
Protagoras ist, des ersten erklärten Vertreters der „sogenannten
Was unter den übrigen vom Platonischen Protagoras als Vor-
gänger Genannten zunächst Homer betrifft, so wäre es allerdings
lächerlich, den historischen Homer zu einem als Dichter verkappten
Sophisten zu machen, aber auch ein ]\Iiß Verständnis, es so aufzufassen.
Tatsache ist, daß die Homerischen Gedichte von den Alten schon früh
als Lehrbücher der Lebensweisheit ebenso hoch wie als Dichtungen
geschätzt worden sind. Dieser Homer, der Homer der Schule fürs
Leben, und nicht der historische, kommt hier allein in Frage. Strabon
leiht nicht bloß der eigenen, sondern der im Altertum vorherrschenden
Überzeugung Ausdruck, wenn er gerade mit Rücksicht auf Homer
sagt, die Alten nannten die Poesie „eine Art erster Philosophie"
{ffi}.ooog:iar rira jrQcoTr/v), die uns von Jugend auf ins Leben einführe
und auf dem Wege der Unterhaltung Sitten, Leidenschaften und
Handlungen lehre (L 2, 3). Noch Horaz geht in seiner Wertschätzung
Homers als Philosophen so weit, daß er ihm das Zeugnis ausstellt,
über Schönes und Häßhches, ülDer Nützhches und Nutzloses „klarer
und besser" als ein Chi-ysipp und Krantor zu reden (Epist. I. 2).
Indü-ekt ergibt sich diese Wertschätzung Homers aus den besonders
von Xenophanes, Heraklit, Piaton gegen ihn gerichteten Angriffen.
Ähnlich wie mit Homer steht es mit Hesiod. Simonides whd
nachgerühmt, daß der anziehende Dichter zugleich „Denker und
öoaaTi]Qtov GvvsGtv, lTii.Tr]Ssvii.a TrsTtoir^uirov xal SiuGoj^ot'Tog
Sgttsq u'Cqegiv ex 6iadoyJ]Q utiö ^oltovog' >]r d i^erd tuvtu dixaiuxulg
fji'^urrsg liyvaig xut lusTayuyörTec dni tiüv TTod'ieujv T)]v äaxijau' im Tovg
Xöyovg, 00(ßiGTUi nooüriyoosvd'r^auv.
'") Scholia in AIcibiad. prim. Piatonis.
28 Hubert Rock,
Weiser" (doctus sapiensque) gewesen sei*^). Orpheus und Musäos
sind von griechischen Philosophiehistorikern zu den ältesten Philo-
sophen gezählt worden*^). Bei Ikkos und Herodikos steht wenigstens
der Annahme nichts im Wege, daß sie als „Sophisten" Genossen eines
Dämon und Mnesiphilos gewesen sein werden.
Umsomchr fällt es auf, daß der Platonische Protagoras über die
Sieben Weisen mit Schweigen hinweggeht. Nicht einmal Solon wird
von ihm erwähnt. Der Grund dafür liegt darin, daß Piaton die Sieben
als seine eigenen Vorgänger in Anspruch nimmt und daher nicht als
Sophisten von dem ihm unsympathischen protagoreischen Schlage,
sondern als Sophisten, wie sie sein sollten, und somit als Vertreter
echter Philosophie betrachtet wissen will. Dies geschieht in einer die
Rede des Protagoras äußerlich parodierenden Rede des Soki-ates,
worin die ,,Sophisten" der Kreter und Lakedämonier ihrer Spruch-
weisheit wegen ausdi-ücklich als die ältesten Vertreter der ,,Philo-
Sophie" gerühmt werden. Ebendeshalb hätten von den Jetztlebenden
und von den Alten manche eingesehen, daß das Lakonisieren weit
mehr im „Pilosophieren" als in der Liebe zur Gymnastik be-
stehe {(piXoöofpizTr fj (fL'AoyviwaötElv), wohlwissend, daß die Fähig-
keit, solche Aussprüche zu tun, nur einem durch und durch gebildeten
Manne eigen sei, Männern wie Thaies, Pittakos, Bias, Solon, Kleobulos,
Myson, Chilon, die alle Nacheiferer, Liebhaber und Schüler der lake-
dämonischen Bildung gewesen seien, wie denn überhaupt eine gewisse
lakonische Kürze die „Philosophie" der Alten charakterisiere^").
Nach Gomperz läge darin freihch nichts weiter als eine „lustige
Fiktion"^^). Spricht aber dagegen nicht schon der Umstand, daß ein
Historiker, Philosoph und Piatonkenner wie Plutarch die von
„einigen" gemachte Bemerkung, das Lakonisieren bestehe mehr im
„Philosophieren" als in der Liebe zur Gymnastik, durchaus ernst
nimmt und ihre Richtigkeit bestätigt? ^2) Vollends dagegen spricht
die ganze von Plutarch entworfene Zeichnung Lykurgs, da sie nicht
nur mit dem Kern der Platonischen Auffassung übereinstimmt, son-
dern auch ihn geschichthch zu begiiinden versucht. Man wende nicht
*^) Cic. De natur. deor. I, 22.
*9) Diog. L., Prooem. 3 & 5.
50) Plat., Protag. 342, 343.
5^) Griech. Denker, II, 257.
5-) Plutarch, Lykurg, cap. 20.
^Ya^ Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 29
ein. daß Plutarchs Biographie Lykurgs gerade den geschichtlichen
Gehalt vermissen lasse. So viel ist gewiß, daß diese Biographie keine
Ausgebui-t der Phantasie Plutarchs ist, sondern als mit kritischem
Auge geschaffene Kopie älterer Geschichtsbilder gelten will und gelten
darf^^). "Wenn sein Lykurg als ausgeführtes Musterbild der von Piaton
flüchtig skizzierten lakedämonischen Sophisten erscheint, so erhellt
daraus, daß sich der Biograph hinsichthch dieses Punktes derselben
historischen Tradition wie Jahrhunderte vor ihm Piaton angeschlossen
hat. Derselben historischen Tradition entspricht es, wenn Plutarch
kein Bedenken träo-t, Lykurg mit Piaton, Diogenes, Zeno auf eine
Linie zu stellen, und nur insofern einen Unterschied zwischen ihnen
findet, als diese bloß Schriften und Denksprüche hinterlassen hätten,
jener aber durch die Tat einen unnachahmlichen Staat zu Tage ge-
fördert und den Leugnern des wirklichenVorhandenseins eines „Weisen"
den ganzen Staat als „philosophierend" {(füoaoffovaar) demonstriert
habe^^j.
Auch über einen jener alten kretischen „Sophisten", die Piaton im
Auge hat, erhalten wü' von Plutai'ch nähere Kunde. Sein Name war
Thaies. Als Zeitgenosse Lykurgs^^) ist er viel älter als Thaies von
Milet. Nach Plutarchs Darstellung hatte sich Lykiurg, bevor er seine
Staats- und Lebensreform zu Hause ins "Werk setzte, in Kreta auf-
gehalten, wo er die politischen Eim'ichtungen eifrig studierte und mit
den angesehensten Männern verkehrte, darunter mit Thaies, einem
der dortigen ,, Weisen und Staatsmänner" [ooffcöv xcu xohTixcöv),
der zugleich Dichter war. Ihn bewog Lykurg zu einer moralischen
Kunst- und Missionsreise nach Sparta, die vom gewünschten Erfolg
geki'önt wurde. ..Denn seine Gesänge waren Reden, die durch den
ruhigen und besänftigenden Charakter ihrer Melodien und Rhythmen
zu Gehorsam und Eintracht ermunterten. Auf diese Weise w^irde die
Sinnesart der Zuhörenden unvermerkt gemildert und dem Streben
nach dem Guten geneigt gemacht, während bis dahin gegenseitige
Feindseligkeit geherrscht hatte, so daß jener dem Lykurg gewisser-
maßen die Bahn zur Erziehung der Lakedämonier gebrochen hat^^)."
Was Diodor an Chilon besonders lobenswert findet, indem er
ihn mit den Philosophen seines eigenen Zeitalters, das des Cäsar und
53) cap. 1. 55) Diog L^ i 38_
°*) cap. 31. 56) Plutarch, Lykurg, cap. 4.
30 Hubert Rock,
Augustus, vergleicht, ist Solon nicht weniger eigen, über den wir ja
unter den Sieben Weisen geschichtlich am besten informiert sind.
Diodor sagt: „Bei Chilon stimmt, was sonst selten angetroffen wird,
Leben und Lehre iiberein. Während man bei der Mehrzahl der heutigen
Philosophen zwar die schönste Sprache, aber die schlechteste Hand-
lungsweise findet, kurz einen Widerspruch zwischen dem Ernst und
der Einsicht ihrer Forderungen und deren Betätigung, hat Chilon
dagegen viel Denkwürdiges gedacht und verkündet und damit die
Übung der Tugend bei allen Handlungen zeitlebens verknüpft^')."
Aber hat denn, fragt man vielleicht, nicht schon Dikäarch
geurteilt, daß die Sieben weder „Weise" noch „Philosophen", wenn-
gleich ganz verständige und zur Gesetzgebung tüchtige Männer,
gewesen seien? ^^) Folgt denn aber, frage ich, nicht gerade daraus,
daß die Sieben von den Alten gemeinhin als Weise oder Philosophen
rubriziert worden sind? Ist das nicht der Grund, aus dem Diogenes
Laertius als gewissenhafter Geschichtskompilator das die öffenthche
Meinung kassierende Urteil Dikäarchs registriert hat? Daß Philosophen
einander das Recht auf Führung des Philosophentitels absprechen,
ist ja nichts Ungewöhnhches. Wie oft hört man, das Mittelalter stelle
in bezug auf eigentliche Philosophie eine einzige große Lücke dar.
Vom Standpunkte einer bestimmten Philosophie oder philosophischen
Richtung mag eine solche Auffassung völlig berechtigt sein. Der
Philosophiehistoriker kann und darf sich nicht danach richten. Sonst
käme er entweder gar nicht dazu, die Feder anzusetzen, oder vermöchte
uns höchstens die Geschichte einer bestimmten philosophischen
Richtung zu bieten, während doch sein eigentliches Thema der Kampf
bilden sollte, den die gegnerischen philosophischen Richtungen um
die Vorherrschaft im Leben führen, ihre Siege und Niederlagen, ihre
Fortschritte und Rückschritte samt allen daraus für Gesellschaft und
Lidividuum erwachsenden nützlichen und schädlichen Folgen, der
wahre Kulturkampf. Nicht anders verhält es sich mit Dikäarchs
Urteil über die Sieben, möge es sich von dessen philosophischem Stand-
punkte als berechtigt erweisen oder nicht. Für den Philosophiehistoriker
ist es unmaßgeblich und nmß es unmaßgeblich sein.
Das Geschichtsbild, das wü- uns von Solon zu machen haben,
ist wahrlich nicht das eines Mannes, dem nichts weiter als gesunder
^') IX, 8.
68) Diog. L., I, 40.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 31
Hausverstand in privaten und öffentlichen Angelegenheiten nach-
zuriihmen wäre. Das ist das Bild eines großen Geistes und edlen
Charakters und eines ebenso einsichtigen wie charaktervollen Staats-
mannes, zu dem sich nicht viele würdige Parallelen auftreiben lassen.
Wenn Philosophie Lebensweisheit ist, theoretische und praktische
Lebensweisheit — und das ist sie auch nach Dikäarch^^) — • dann
ist Solon ein Weiser oder Philosoph gewesen, oder es verdient überhaupt
niemand so genannt zu werden, Dikäarch nicht ausgenommen.
Plutarch steht in seiner Biographie Solons nicht an, diesen
als Weisen oder Philosophen zu behandeln. Er spricht von dessen
öOffia und ffuoöoffiu (cap. 3 u. 27), nennt ihn einen ooffiag Igaor/jQ
(eap. 2) und oocfög (cap. 3. u. 28), der in Ägypten mit Psenophis von
HehopoHs und Sonchis von Sais, den gelehrtesten {loyLcoräroic) unter
den Priestern „philosophiert" habe (ovi'effÜM(j6q//Gf) (cap. 26), der
gleich den meisten oorfol hauptsächlich den „poütischen'' Teil der
..ethischen Philosophie" gepflegt, in der ..Physik" aber beschränkten
und altvaterischen Ansichten gehuldigt habe (cap. 3).
Solon selbst steht nicht an, von seiner oo(phj zu sprechen. Denn
niemand als sich hat er zunächst im Auge bei den Versen:
Jener, vor allem geül)t in den Gaben der himnüischen Musen,
Hat das regelnde Maß lieblicher Weisheit gelernt^'').
Bei Herodot leitet Krösus seine Unterredung mit dem ..Sophisten"
Solon folgendermaßen ein: „Mein Freund von Athen, schon vielfach
ist das Gerücht zu uns geckungen sowohl von deiner Weisheit {ao(fir/)
als von deinem Wandern, daß Du als Philosophierender des
Studiums wegen (ffi2.oOfpkov d-eo)Qif]c si'vsxsr) einen großen Teil
der Erde bereist hast^^)." „Des Studiums wegen" {d-ccoQUjq eivsxsp
oder, wie es bei Plutarch heißt, jto).vjieiQiag tvey.a zcd lOrogiag ^')
vielgereiste Männer waren auch die sogenannten LogogTaphen. Mit
dem Zusätze (fü.oo(pkor zu B^ecoQUjQ tiv8y.iv soll eben ausgediiickt
werden, daß Solon aus Liebe zur öofp'n], zur Lebensweisheit, seine
Studienreisen unternommen hat.
Isokrates ist dadurch merkwürdig, daß er die solonische Richtung
der „sogenannten Weisheit" als erklärter berufsmäßiger Sophist noch
^9) Vgl. Zeller, Philos. d. Griechen, II, 2^ S. 892.
«0) „Lehren für sich selbst", V. 51, 52.
61) I, 29 & 30.
62) Solon, cap. 2.
go Hubert Rock,
im 4. Jahrhundort, also im Zeitalter eines Piaton und Aristoteles,
vertritt, sie als deren philosophischer Nebenbuhler vertritt und dafür
das Wort Philosophie als Kunstausdruck gebraucht, auf eine Art und
Weise gebraucht, die zwar nicht zur Annahme berechtigt, sie aber
nahelegt, daß das Wort zuerst im Kreise von Vertretern der „so-
genannten Weisheit" solonischer Richtung und zur Bezeichnung dafür
als Kunstausdruck aufgekommen ist, und die jedenfalls schlagend
beweist, wie weit entfernt dieser Kunstausdruck bei seinem Auf-
kommen davon gewesen ist, genau dasselbe wie im De^itschen das
Wort Wissenschaft zu bedeuten. Isokrates beklagt es vielmehr als
ein Symptom der zu seiner Zeit im Staate eingerissenen Verwirrung,
daß sogar die Worte ihrer natürlichen Bedeutung entkleidet und von
den edelsten auf die elendsten Beschäftigungen übertragen würden.
Von denen, die das Notwendigste versäumten und in die Phantastereien
{rsQaToXoymc) „der alten Sophisten" vernarrt seien, sage man, daß
sie philosophierten {rf(?.oüo(fur), von solchen dagegen nicht, die
Dinge lernten und betrieben, die sich auf die gute Verwaltung des
eigenen Hauswesens und der öffentlichen Angelegenheiten bezögen,
um deren willen man doch sich anstrengen, philosophieren {(fUooo-
(f7jxeov) und alles tun müsse^^) Deshalb wolle er sich der von
einigen sogenannten Philosophie gegenüber (r/}r xaXoi\uivrjv
vjto xLvcov (pLXoöOfpiav) mhQXrQÜ der wohl mit Recht den Namen
tragenden (t;/?' dr/Mirnq av j'oin^ofjtrrjr) bestimmter erklären.
Da es seines Erachtens nicht in der Natur der Menschen hege, eine
Wissenschaft {ejnCT/jfctjv) zu erwerben, durch deren Besitz wir in
die Lage kämen zu wissen, was wir in jedem vorkommenden Falle
zu tun und zu sagen hätten, so halte er die für Weise {oorpovg), die
in ihren Urteilen meistens das Beste zu treffen vermöchten, für
Philosophen {cfi2oa6(povc) aber, die sich mit dem beschäftigten,
wodurch sie am schnellsten eine solche Einsicht erlangen könnten.
Eine Kunst {rtyrtj), die imstande wäre, Tugend und Gerechtigkeit
denjenigen einzupflanzen, die von Natur eine geringe Anlage hierzu
besäßen, hätte es weder früher noch jetzt gegeben. Dagegen würden
sie tüchtiger und besser werden, wenn sie vor allem ihre Ehre darin
suchten, gut zu reden und ihre Zuhörer zu überzeugen. Wer ernstlich
darauf ausgehe, werde auch die Tugend nicht vernachlässigen, sondern
«3) Orat. XV, 283, 285.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 33
darauf halten, bei seinen Mitbürgern im besten Rufe zu stehen, da
die Rede des Ehrenmannes schon an sich eine große Überzeugungskraft
besitze*'^). Die von den Vorfahren überlieferte Bildung {mudsia) ver-
achte er so wenig, daß er sogar die in seinen Tagen eingeführte, nämlich
die Beschäftigung mit Geometrie, Astronomie und Disputierübungen,
als für die Jugend nicht unnützlich gelten lasse^^). Philosophie
(ffiÄoöoffia) dürfe man weder für das Reden noch für das Handeln
einen unmittelbaren Nutzen gewährende Studien freilich nicht nennen,
wohl aber eine Geistesübung und Vorschule der Philosophie
{yvfij'aöiav rfjg ipvyj/Q ocal jtaQaoxeviji^ cpilooorflag). Einige Zeit möge
ihnen die Jugend immerhin widmen. Doch dürfe sie ihren Geist dabei
nicht vertrocknen, noch zu den Lehren „der alten Sophisten" sich
verirren lassen, von denen einige behaupteten, die Zahl der Elemente
sei unendlich, Empedokles, es gebe deren vier, Jon drei, Alkmäon
zwei, Parmenides und Mehssus eins, Gorgias keins^^). Um wahrhaft
gebildet zu heißen, müsse man die täglich vorkommenden Geschäfte
out zu behandeln verstehen, müsse man ein Urteil besitzen, das meistens
das Rechte und Nützliche treffe, müsse man im Umgang mit den Men-
schen den unter allen Umständen gebotenen humanen Ton zu wahren
suchen, müsse man immer Herr seiner Lüste sein und das Unglück
mit männlicher Würde tragen, müsse man endlich, was das Größte
sei, auch im Glück seiner besseren Natur stets treu bleiben*^' ).
Solche Denkungsart und Sprache wäre ganz unerklärlich hei
einem Manne, dessen Zeitalter den Kunstausdruck Philosophie geprägt
haben sollte, um damit die Wissenschaft schlechthin zu bezeichnen,
erklärt sich aber von selbst, wenn er in formaler Übereinstimmung
mit seinem Zeitalter Lehre und Übung praktischer Lebensweisheit
darunter verstanden hat. So erklärt sich auch, wie Piaton am Schlüsse
des „Phädrus" dazu kommt, seinem „Genossen" und „Liebling"
Isokrates das Kompliment zu machen, es wäre kein Wunder, wenn
dieser mit der Zeit von den „Reden" infolge einer Art göttlichen
Dranges zu „Höherem" hingelenkt würde; denn es sei „von Natur
eine gewisse Philosophie in der Denkungsart des Mannes" {(pvösi /«(>
tvsöTL Tig (piXoöocpia rfi tov drÖQog ducvoia). Es liegt darin nicht
. «4) Orat. XV, 270—280.
65) XII. (Panathen.) 26, 27; XV. 261—265.
66) XV. 266—268.
6^) XII. 30—32.
Archiv für Gesoliiclite der Philosophie. XXVIII. 1.
34 Hubert Rock,
allein Achtung davor, was Isokrates Philosophie nennt, Sondern zu-
gleich die Anerkennung, daß es sich dabei in der Tat um Philosophie
handelt, wenngleich um eine Form derselben, die Piaton unzureichend
erscheint.
Schade, daß sich hinsichtlich der Frage, wer ffüoao(fia an
Stelle von oorfia in Kurs gebracht habe, bloß das eine mit Sicherheit
ausmachen läßt, daß es der im späteren Altertum dafür ausgegebene
Pythagoras nicht gewesen ist. Wenn sich aber auch das über
Pythagoras mit Bezug darauf Überlieferte nicht bewahrheitet, ist es
doch "ut erfunden. Von ihm darf man im Sinne der Alten sagen:
Jeder Zoll ein Philosoph. So Idassisch hat sich das Wesen aller Philo-
sophie nicht einmal in Sokrates verkörpert. Was Philosophie als
Lebensweisheit heißt, findet sich bei Pythagoras zwar nicht in die
Form einer schulgerechten Definition gebracht, dafür aber um so an-
schaulicher in die Wirklichkeit übersetzt, in eine Wirklichkeit, die
mit der der antiken Philosophie auf weite Strecken und der Dauer
nach ganz mit ihr zusammenfällt. Ohne Pythagoras kein Piaton und
ohne sie kein Neupythagoreismus und kein Neuplatonismus. Die
Alten haben dies zu würdigen verstanden und haben deshalb Pythagoras
und nicht Sokrates oder einen andern Vertreter der Lebensweisheit
zum Urheber der Ausdrücke Philosophie und Philosoph gemacht.
Unseren sogenannten Fachphilosophen genügt freilich eine solche
bis heute sich fortsetzende Wirksamkeit nicht, um Pythagoras als
„Philosophen" anzuerkennen, was von Windelband damit be-
gründet wird, daß Pythagoras im Lichte der historischen Kritik ,,nur
als eine Art von Religionsstifter" erscheine, „ein Mann von groß-
artiger ethisch-politischer Wirkung, die unter den Anregungen und
Vorbedingungen des wissenschaftlichen Lebens in Hellas einen be-
deutenden Platz einnimmt", daß aber weder Piaton noch Aristoteles
etwas von einer „Philosophie des Pythagoras" wüßten, sondern nur
von einer „Philosophie der sogenannten Pythagoreer", der sogenannten
Zahlenlehre^^). So oder ähnlich äußern sich die meisten. Eine löbliche
Ausnahme bildet Schopenhauer, nach dessen Auffassung Pythagoras
,, Philosoph im ganzen und großen Sinne dieses Wortes" gewesen ist^^).
*^) Geschichte der alten Philosophie, 2. Aufl., S. 21.
*^) Schopenhauers handschriftlicher Nachlaß, herausg. v. Grisebach,
II, 35.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 35
Pythagoras nur eine Art von Religionsstifter? Als ob nicht jede
entwickeltere Philosophie eine Art Pieligion, als ob nicht jede ent-
wickeltere Religion eine Art Philosophie wäre, das heißt Lehre und
Übung einer bestimmten, mehr oder weniger in ein theoretisches und
praktisches System gebrachten Art von Lebensweisheit!
„Das Christentum — sagt einer seiner modernen Apologeten —
ist die Ordnung des menschlichen Lebens nach den Lehren Jesu
Christi'O)." Ebenso sind die Philosophien eines Pythagoras,
Piaton, Epikur nichts anderes als Lebensordnungssysteme nach
den Lehren der Genannten. Zahlenlehre, Ideenlehre, Atomistik sind
Wissenszweige, die nicht ihrer selbst wegen, sondern als Mittel neben
andern Mitteln zu Lebensordnungszwecken gepflegt werden. Wenn
Piaton nicht von einer „Philosophie des Pythagoras" spricht, so
spricht er dafür, was um so deutlicher ist, von einem IIv&ayoQaiog
TQOJrog Tov ßiov'^). Denselben vQOJtog rov ßiov hat Alkidamas
im Auge, wenn er sagt: Sijßfjöir clita oi jiQootäTca cfiÄGOoffoi
lytvovTO yML svöati^tovr/otr i) jigIlq'^).
Eine Art von Religionsstifter also wäre Pythagoras. Sonst wäre
er eben kein Philosoph im ganzen und großen Sinne des Wortes ge-
wesen. Aber „nur" eine Art von Rehgionsstifter? Als ob er nicht
zugleich „ein hervorragendes mathematisches Talent, der Begründer
der Akustik und ein bahnbrechender Förderer der Astronomie" ge-
wesen wäre'^)! Diese Vielseitigkeit ist es ja, die Heraklit als .To/r-
imUri lästert, als Viel wisser ei, durch die Pythagoras nicht ge-
lernt hätte, ,, Verstand zu haben"'").
Noch schärfer und lehrreicher ist ein andres Verdikt Heraklits
über Pythagoras, lehrreich auch als ältester Beleg dafür, daß die
Griechen vom Anbeginn ihrer wissenschaftlichen und philosophischen
oder Lebensweisheitsbestrebungen zwischen beiden unterschieden
haben. Es ist Fragment 129 bei Diels. Da jedoch Zweifel an seiner
Echtheit aufgetaucht sind, zusammen mit mancherlei Mißverständ-
'") Christ. H. Vosen, Das Christentum und die Einsprüche seiner
Gegner, 5. Aufl. {Freiburg i. Br. 1905), S. 1.
^1) Staat, X, 600.
'-) Aristot., Rhet. II, cap. 23.
'3) Gomperz, Griech. Denker, I, 81. Vgl. auch Zeller, Philos. d.
Griechen, 1% 476 — 479.
"*) Fragm. 40 bei Diels.
30 Hubert Rock,
nisson, haben wir es desto genauer in Augenschein zu nehmen. Das
Fragment lautet:
JIv{hcr/(')(>//Q Mv/jOäQ'/or i ötoq hjr fjaxi/Oer dvSf^K'jJtcov jiaXiOTCt
jrcüTcov y-cd IxXe^dfitvoQ tuvtuq xäg Ovyyfjaffdg tJTOi7J0aTO tarror
oofphjv, jtoXvfi afhsbjv, xaxortyi'bjr.
Ich übersetze : Pythagoras, des Mnesarchos Sohn, hat von allen
Menschen am meisten AVissenschaft getrieben und diese Schriften
auswählend, hat er sich seine eigene Weisheit, Vielwisserei, After-
kunst zurecht gemacht.
Nach Diels wäre das Fragment, obschon Sprache und Stil echt
klängen, entweder aus andern echten Stellen ungeschickt zusammen-
gesetzt oder es wären wenigstens die Worte xavtaQ rag övyyQaffäo. oder
UXt^cqiBvog Tccvrag rag ovyyQcupdg als interpoliert auszuscheiden.
Denn erstens sei das Zitat mit der notorischen Fälschung eines
Pythagorasbuches verquickt. Zweitens sei ravrag, dem Sinne nach
auf iöTOQUir zu beziehen, sehr hart. Drittens sei die Erwähnung
von Schriften des Pythagoras, weshalb das Zitat beigebracht werde,
eine historische Unmöglichkeit'-^).
In Wahrheit handelt es sich um nichts weiter, als daß der Un-
genannte, den Diogenes Laertius (VIIL 6) samt dem Zitat als
Gewährsmann für die angebhche Schriftstellerei des Pythagoras bei-
bringt, aus dem Fragment mehr herausgelesen hat, als darin steht.
Darin steht bloß, daß Pythagoras sich „seine eigene Weisheit, Viel-
wisserei, Afterkunst" auf Grund fleißigster Benutzung von das Gebiet
der lOTOQui betreffenden Schriften, nicht aber, daß er sich selbst
Sclu'iften daraus „zurecht gemacht" habe. Der Ungenannte hat eben
das Ijtou'iöaro falsch ausgelegt. Das ist alles. Dafür ist doch
Heraklit nicht verantW'Ortlich zu machen. Was das auf Iötoqujv zu
beziehende xavxag angeht, so nimmt es sich nur dann so hart aus,
wenn man iotoqu/ mit Diels im Sinne von „Forschung" versteht.
iöTOQb] bedeutet hier aber nicht „Forschung", sondern das Er-
forschte, die Kunde, die Wissenschaft. In Heraklits Augen
ist ja Pythagoras kein wissenschaftlicher Forscher, sondern ein bloßer
Vielwisser, ein Vielwisser wie Hesiod, Xenophanes, Hekatäus (Frag-
ment 40). Anderseits geht es wieder zu weit, Nvenn es bei Diehls
heißt, Heraklit sehe mit Verachtung auf die großen Entdeckungen
■5) H. Diels, Herakleitos von Ephesos, 2. Aufl. (Berlin 1909), S. 49.
A\'ar Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin ? 37
seiner Landsleute, obgleich er sie benutze und an ihrem physikalischen
Standpunkte prinzipiell festhalte, weil ihm, der Höheres wolle, ,,die
bisherige Naturforschung'' als ,, eitel Polymathie" erschiene, die nicht
denken lehre^^). Das ist eben nicht der Fall. Nichts liegt Heraklit
ferner, als die gesamte bisherige Naturforschung für eitle Polymathie
zu halten. Vielmehr verhält es sich damit so, wie Gomperz von
ihm sagt: „Von Anaximander war er nachhaltig beeinflußt worden
und er stattet ihm seinen Dank ab, indem er ihn so wenig als Thaies
und Anaximenes unter die geschmähten Meister des Vielwissens
einreiht''"^").
Wie sehr Heraklit die Igt oq l fj eines Thaies, Anaximander,
Anaximenes schätzt, bezeugt seine Forderung: ,,Gar vieler Dinge
kundig müssen philosophische Männer sein" (Fragment 35:
yj}// /«(> fr fid/M xoÄlüv i'oroQag ffiZoo6(povg avÖQaq eirai).
„Philosophische" Männer oder, wie Diels gut wörthch über-
setzt, „weisheitsliebende" Männer! Während nach Wilamowitz
nur ev (.ii'üa jioXXoiv 'toroQag authentisch sein soll, cfiXoaofforg
ärdQccQ also nicht, wäre nach Diels, der auch diesen Ausdruck für echt
nimmt, Heraklit im Gegenteil derjenige gewesen, dem ,,der Ge-
brauch, ja die Prägung von f/^2oöor/oc" zuzutrauen sei''^). Zweifellos
wäre Gocfovc: ar^Qccg dem Sprachgebrauche Heraklits und seiner
Zeit gemäßer als (piXo(j6g)ovg avÖQag. Eine andre Alternative käme
aber hier nicht in Frage und diese ändert am Sinne der Forderung
nichts. Ob ,, weise" oder ,, weisheitsliebende Männer" zu lesen ist,
bedingt keinen sachlichen Unterschied, es wäre denn, daß rpiXooog^og
bei Heraklit nicht den etymologisch gewöhnhchen Sinn, sondern einen
davon abweichenden hätte. Und nach der Interpretation von Diels
wäre es allerdings so. Sie ist jedoch falsch.
Heraklits Philosophie, meint Diels, sei nicht jonische Natur-
forschung. Die Naturwissenschaft verdanke ihm nichts. Der Philosoph
von Ephesus suche „aus der menschhchen Seele die Weltseele, aus
der Physik die Metaphysik zu erschheßen". Das sei ,,der Kern seiner
Philosophie". In Fragment 41 künde er: „In einer einzigen Aufgabe
besteht die Weisheit, die Intelligenz zu begreifen, die da das All durch-
waltet. Die eine ewige Weisheit (tV ro oo(f6r), die mit der Gottheit
"^) Herakleitos von Ephesos, 2. Aufl., S. XI.
•") Griechische Denker, I, 51.
'8) Herakleitos von Ephesos, S. X, XVI, 25.
38 Hubert Rock,
zusammenfalle, gelte es zu enthüllen. Und die das vermöchten, seien
die Männer, die „das Weise lieben" {(fiXooocfoi ardQsgy^}.
Warum schweigt aber Diels dabei über das wichtige Fragment 112?
Das Fragment lautet: „Verständigsein ist die größte Tugend und die
AVeisheit besteht darin, die Wahrheit zu reden und auf die Katur
horchend zu handeln" {ooxf {)ortiv^^) (((jerf) fieyiorj/, xccl aoffhi
(cXfjthta /Jytiv y.al jroielv y.ara ffiinr IjrcdorraQ). Warum schweigt
er über die ebenso \vichtige Angabe bei Klemens von Alexandrien, daß
Heraklit das Lebensziel {tov ßiov xiloo) in die svagtonißii setzt?
Zur richtigen Interpretation von ffiXoooffog bei Heraklit, die
Echtheit vorausgesetzt, hat man auf alle diese Stellen, auf die von
Diels benutzten und die von ihm unbenutzt gelassenen, gleichermaßen
Bedacht zu nehmen. Dann gelangt man zu folgendem Ergebnis.
<PU(')0O(f>oc ist nicht gleich 6 (f'ümv rn ooffor im Sinne von ror
ko-/ov, sondern es ist gleich 6 fpikcov T))r öoqbjv. ^offi?/ ist Theorie
und Praxis der Lebensweisheit. Nach ihrer theoretischen Seite besteht
sie in der Erkenntnis der alles durch alles regierenden Weltvernunft;
deshalb müssen weisheitshebende Männer gar vieler Dinge kundig
sein. Nach ihrer praktischen Seite besteht sie darin, die Wahrheit
zu reden und auf die Natur horchend zu handeln; deshalb ist Ver-
ständigsein die größte Tugend.
Hinsichthch der svaQtijTfjOig als Lebensziel möge Döring das
Wort haben. Er sagt: „Daß es ungeschichthch ist, Heraklit schon
den erst viel später auftauchenden Begriff des Lebensziels beizulegen,
bedarf keines Beweises. Das Richtige in dieser Angabe besteht darin,
daß er mit großer Emphase die Vernünftigkeit der Welt-
ordnung pries, sowie daß er in der Erkenntnis dieser Vernünftigkeit
eine hohe Freudigkeit und Zufriedenheit empfand und eine volle An-
passung an dieselbe auch im praktischen Verhalten als notwendig
forderte. Es ist eine Art religiöser Grundstimmung dem Weltgrunde
und der Welteinrichtung gegenüber, aus der auch die entsprechende
'*) Herakleitos von Ephesos, 2. Aufl., S. IX u. X.
*") TÖ (pQOVHv, wie Diels statt cwfpooviXv schreibt, ist keine Verbesse-
rung, wenn es „Denken" bedeuten soll. Heraklit meint hier dasselbe, was
Epikur (Diog. L. X, 132) mit den Worten ausdrückt: TotTvüv 6e Ttüvrtov
uQyt] xui t6 liiiyiGTOi' dyad'ov (fQÖrrjaig. diu xui yit,lo60((>iac rifJUVTegov
vTTÜo/ei (pn6vr\at,c, «§ ^g ul Xomul iruGut nefpvxaüiv uoetui xtX.
81) Herakleitos von Ephesos, 2. Aufl., S. 14.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 39
Lebenshaltung hervorgeht Daß er auch das Wort „Wohl-
gefallen" selbst schon gebraucht hat, ist nicht unwahrscheinlich;
jedenfalls aber Wird durch dasselbe die ihn beherrschende Grund-
stimmung, das beherrschende Glücksgefühl aus der freudigen Zu-
stimmung zur Weltordnung nicht als bloße resignierte Unterwerfung
unter das Unabänderhche, sondern auf Grund der Erkenntnis von
ihrer Trefflichkeit und ihrer Übereinstimmung mit unseren wahren
Bedürfnissen treffend bezeichnete^)."
Demgemäß ist unter der oorfuj des Pythagoras, auf die als Viel-
wisserei und Afterkunst Fragment 129 Bezug nimmt, die von jenem
vertretene Lebensweisheit gemeint. 2::oqhi bedeutet hier dasselbe,
was später fftlocjoffia genannt wurde: Lehre und Übung der Lebens-
weisheit. Zugleich bedeutet es hier ein bestimmtes Lebensweisheits-
system, das des Pythagoras, im Gegensatz zu Fragment 112, wo es
Herakhts eigenes Lebensweisheitssystem bedeutet. Wer dafür kein
Ohr hat, versteht das ganze Fragment nicht, wie man an Zeller
sieht, der da meint, aus Heraklits Worten lasse sich nicht entscheiden,
ob die geschmähte Weisheit des Pythagoras „in wissenschaftlicher
Erkenntnis oder in theologischen Lehren oder in praktischen Be-
strebungen" bestehen solF^^^ in Wahrheit ist das alles miteinander
gemeint, insofern sich eben die öocfhi des Pythagoras daraus zusammen-
setzt.
Um auf die Interpretation von doxtiv lOTortit/r in Fragment 129
zurückzukommen, so handelt es sich um eine Wendung, die, an sich
genommen, allerdings nichts weniger als eindeutig ist. Daher die
verschieden lautenden Übersetzungen und Erklärungen, denen man
zu begegnen pflegt. So übersetzt Ambrosius Camaldulensis:
„se historia rerum exercuit". Aldobrandinus: „in historia
laboravit". Meibom ins folgt der Übersetzung des Ambrosius.
Menagius bemerkt: „ut recte Casaubonus omnium hominimi
maxime fuit polyhistor". Borheck: „Pythagoras ... hat sich . . .
auf die Geschichte gelegt". Hübner und Cobet: „polystistor
fuit". Zell er bemerkt: „Unter der Iotoqui verstehe ich die Nach-
fraoe bei andern, im Unterschied zu dem Selbstgefundenen' -s*).
82) Geschichte der griech. Philosophie, I, 95f.
83) Philos. d. Griechen, V, 476.
8*) Ibid. S. 309.
40 Hubert Rock,
Gompcrz: „BM Forschung und Erkundung getrieben"^-"').
Döring: „Pythagoras habe . . . sich des Erkundens befhssen"^^).
Diels: „Pythagoras . . . hat . . . sich der Forschung befhssen"^').
Burnet: „Pythagoras had pursued scientific investigation^^^).
Nestle: „Pythagoras . . . ging ... auf Kenntnisse aus"^").
An sich genommen, kann ja doxfir lOTociifjv alle diese Bedeutungen
haben und sogar noch um eine mehr, nänüich die des Erforschten,
der Kunde, der "Wissenschaft. Gerade die zuletzt erwähnte Be-
deutung aber hat man meines AVissens zur Interpretation nie heran-
gezogen, obschon sie sich hierzu auch insofern am geeignetsten er-
weist, als der Text nicht beschnitten zu werden braucht. Da ich
Fragment 129 schon demgemäß übersetzt und interpretiert habe,
schulde ich nur noch die tiefere Begründung dafür. Diese beruht auf
der selten beachteten und bis jetzt nie recht gewürdigten Tatsache, daß
der landläufige Kunstausdruck, den die Griechen zur Bezeichnung
dessen, was wir unter Wissenschaft, zumal unter Wissenschaft
im engsten und strengsten Sinne verstehen, vom sechsten bis
ins vierte Jahrhundert hinein verwendet haben, um ihn nach und
nach mit IjtiOT/jfrr/ zu vertauschen, i a r o (> / a gelautet hat, loTOQia
und nicht ocxfia oder cfiÄooorfAa.
AusdrückUch l)ezeugt ist dieser Sprachgebrauch von loTOQia
zuerst für Pythagoras in der oft zitierten, aber ebenso oft miß-
verstandenen Notiz des Jamblichus (Vita Pyth. 89): lyMitiTo dt
// yscoiieTQLa jtqoc Ilrf^cr/ÖQOv i ö r o (> / «. Wie nämlich Jamblichus
zu berichten weiß, wären die Pythagoreer zur Veröffentlichung der
Geometrie dadurch bewogen worden, daß einer der Ihrigen, der
sein Vermögen eingebüßt hatte, die Erlaubnis erhielt, sich durch
Unterricht in der Geometrie fortzubringen. Im Anschluß daran folgt
die angeführte Notiz.
Jannerys^°) falsche Interpretation der ganzen Stelle ist schon
von andern, darunter von Gomperz, abgelehnt worden. Was Gomperz
*^) Griechische Denker, I, 81.
s^) Gesch. d. griech. Philos. I, 55.
8") Herakleitos v. Ephes., 2. Aufl., S. 49.
88) Early Greek Philosophy (London 1908), S. 107.
8») Die Vorsokratiker (Jena 1908), S. 115.
9«) Sur le Secret dans l'Ecole de Pythagore ( Arch. f. Gesch. d. Philos., I, 28ff.)
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 41
selbst^i) ^]3ej. (jej^ Sprachgebrauch von iöTOQia vorhriiigt, ist indes
gleichfalls nicht stichhaltig. Erstens ist es nicht richtig, daß bei Heraklit
die lOTOfih/ so ziemlich mit unfruchtbarem Vielwissen indentifiziert
werde ; darüber sprach ich mich schon oben aus. Zweitens ist es nicht
richtig, daß toroQuc in jener Zeit so viel wie „Wissenschaft und
Erudition überhaupt im weitesten Sinne" bedeute. Vielmehr ist
der gebräuchhche Ausch'uck dafür ooffia. Alle hnogia ist <jorpia. aber
nicht alle ooffJa ist icroQla. Belegstellen folgen. Drittens ist es nicht
richtig, daß die Geometrie in pythagoreischen Kreisen loroQia genannt
worden sei, weil sie als „die Wissenschaft par excellence"
gegolten habe. Von einer solchen Rangstellung unter den in pythago-
reischen Kreisen kultivierten Wissenschaften könnte wohl in bezug
auf die Arithmetik, doch nicht in bezug auf die Geometrie die Rede
sein. Sonst hieße es nicht bei Archytas: „Meines Erachtens zeichnet
sich die Arithmetik hinsichtlich der andern Weisheit (.-roTi räv
äXXav öorfiav) vor den andern Künsten, ja sogar vor der Geometrie
dadurch aus, daß sie deuthcher behandelt, was sie behandeln will.
Denn die Geometrie beweist, wo die andern Künste im Stich lassen,
und wo die Geometrie wiederum versagt, bringt die Arithmetik sowohl
Beweise zu stände wie auch die Darlegung der Formen, wenn es sich
um irgend eine Behandlung der Formen handelt^^)."
Das Fragment ist außerdem dadurch bemerkenswert, wie Archytas
von der oor/ia spricht. Arithmetik und Geometrie nebst andern
„Künsten", bei denen wir in erster Linie an Harmonik, Mechanik,
Astronomie zu denken haben, werden von ihm zur „andern" oocfia
gerechnet. Das schließt in sich, daß es eine von der „andern" zu
unterscheidende ooffia gibt, so eng beide in gewisser Hinsicht zu-
sammengehören mögen. Worin soll nun bei einem Pythagoreer und
einem solchen Musterpythagoreer, wie Archytas einer war^^), diese
oofpla bestehen als in Lehre und Übung Pythagoreischer Lebens-
weisheit, des nv9-cr/6Q£ioc tqojtoc tov ßiov'^ Damit ist zugleich das
Verhältnis angedeutet, in dem die „andre" ooffia zur ooffia als Lebens-
weisheit steht. Ihrer selbst wegen betrieben, ist die ,, andre" ijo(pia
eine selbständige oorfia, im Dienste Pythagoreischer Lebensweisheit
81) Die Apologie der Heilkunst (Sitzungsberichte d. kaiserl. Akad. d.
Wissenschaften in Wien, philosoph.-histor. Klasse, Wien 1890, 120. Bd. S. 96).
^^) Fragment 4 bei Diels, Vorsokratiker.
Vgl. S trabe, VI, S. 280. — Cic. Cat. m. 12. — Valer. Max. IV, 1.
93 >
42 Hubert Rock,
betrieben, wird sie zu einem Bestandteil des Pythagoreischen Lebens-
weisheitssystems.
Dasselbe Verhältnis findet sich in der Notiz des Jamblichus
angedeutet, nm- mit dem Unterschied, daß darin die von Archytas
erwähnte „andre" aofflcc den Namen ujtoqUc trägt. Was will denn
die Notiz überhaupt besagen? Daß die Geometrie von Pythagoras
ioTOQia ,, genannt" worden sei? Was täte das zur Sache ? Nichts und
wieder nichts. Kann ly.altiro nicht auch bedeuten, die Geometrie
sei von Pythagoras zur toroQuc gerechnet worden? So ver-
standen, wird die Notiz erst zu einem in den Zusammenhang passen-
den und um ergänzenden Satz. AVenn der verarmte Pythagoreer
sich durch Unterricht in der Geometrie fortbringen durfte, so war
ihm die Erlaubnis dazu mit Rücksicht darauf erteilt worden, daß
Pythagoras die Geometrie nicht zu der als esoterisch zu wahrenden
(jO(fia im engsten Sinne, zur Lebensweisheit, sondern zur loTOQia,
zur Wissenschaft gerechnet hatte. Das ist es augenscheinlich,
was Jamblichus mit der Notiz zum Ausdruck bringen will. Die
Geometrie als solche war ja auch niemals eine Monopolwissenschaft
der Pythagoreer, selbst unter Pythagoras nicht, zu dessen Blütezeit
schon ungefähr ein halbes Jahrhundert seit dem Aufkonmien dieser
Wissenschaft bei den Hellenen durch das Verdienst des Thaies ver-
flossen war.
Ein jeden Kommentar entbehrüch machendes Beispiel dafür, daß
oo(/ia die Wissenschaft im weitesten Sinne, lOTOQia die Wissenschaft
im engsten und strengsten Sinne bezeichnete, hegt in der Stelle des
Platonischen „Phädon" vor, wo Sokrates auf das Interesse zu
sprechen kommt, das er in seiner Jugend an „derjenigen Weisheit"
genommen hatte, „die sie Naturwissenschaft nennen" {ravrtjc t/jl:
ooffjiuQ, yv dij y.cüovoi JteQi (fvöscoq iörogiav , p. 96). Hier
stellt oocpia den weiteren, toroQia den engeren Begirff von Wissen-
schaft dar.
Ein Beispiel dafür, wo umgekehrt loroQta im Sinne der Wissen-
schaft den weiteren, aof/ia im Sinne der Lebensweisheit den engeren
Begriff darstellt, haben wir in einem an Hippokrates gerichteten
Briefe Pseudo-Demokrits vor uns. Darin heißt es: „Alle Menschen,
mein Hippoki-ates, müssen sich auf die Heilkunst verstehen, da es
schön und zugleich zuträghch fürs Leben ist, besonders diejenigen,
die auf wissenschaftliche und literarische Bildung Anspruch erheben.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 43
Ich halte nämhch die Weisheitskunde für die Schwester und Ge-
nossin der Heilkunde. ,Denn die Weisheit reinigt die Seele von den
Leidenschaften, die Heilkunde beseitigt die Krankheiten des Körpers.'
{i OTOQi // r öo(f 1)1 g yuQ doxto) hjTQixf/g ddeXr/f/r xai ^vroixov.
,oorph/ fiev yccQ ^vy/jr araQvtrai jiaD-tcor, IrjtQty.tj 6s vovOovq
öciimrcrr d(f cuqütcu'' .^'^). öoffirj iitv /«(> xrl. ist freies Zitat
nach Demokrit (Fragment 31 bei Diels). Da der Verfasser des Briefes
ooffir/v oo(phjg nicht schreiben wollte und konnte, schrieb er eben
ioTOQu/v (jO(fbjg.
Wo dagegen oofpia im weitesten Sinne von Wissenschaft neben
oor/t« im Sinne von Lebensweisheit gebraucht whd , wie dies in der
hippoki'atischen Schrift IltQi tvayjif^toavrrjg geschieht, da wird oorpia
im Sinne von Lebensweisheit gleich eingangs durch die Beifügung
Irr rö /:? / ro erläutert. Die Schrift beginnt: „Es ist keine unverständige
Behauptung, daß die Weisheit (r/yr oo(phji') zu vielem nützlich ist,
diejenige nänüich, die sich aufs Leben bezieht {ravTr/i' de t/]v h r<ö
^jlci). Denn die meisten (seil, oo(fiai) scheinen aus Neugier entstanden
zu sein; ich rede von denjenigen, die sich mit zu nichts Brauchbarem
befassen". In dieser Schrift kommt auch der oft zitierte Satz vor:
'h/TQog ya(t cfi/.öorxpog iood-tog. Der mit einem Gott zu vergleichende
„philosophische" Arzt ist aber nicht der herkömnüichen falschen
Interpretation gemäß der ,, naturphilosophisch" gebildete Arzt, sondern
der die oo(pb/ tr tcö ßio) mit seiner Kunst vereinigende Arzt^^).
Zur Bestätigung dafür, daß lOvoQia im früheren Altertum
„AVissenschaft und Erudition überhaupt im weitesten Sinne"
bedeutet hätte, werden wir von Goraperz auf die Verse des Euripides
verwiesen, die mit den Worten anheben: „"OXßiog oorig xT/g IcxoQiag
toye fiäd^tiGir"'. Die als Fragment 910 gezählten Verse lauten in wört-
hcher Übersetzung: „Glückselig, wer sich Kenntnis der loTOQia erwarb,
weder auf der Mitbürger Leid noch auf ungerechte Handlungen
sinnend, sondern die nicht alternde Ordnung der Natur betrachtet,
wozu sie besteht und auf welcherlei Art und Weise ^^). Bei solchen setzt
sich niemals ein Gedanke an Übeltaten fest."
^*) Diels, Vorsokratiker, ,, Demokrit", cap. 6.
^") Ausführlicheres darüber in meiner Abhandlung: Das hippokratische
Wort von der Gottgleichheit des „philosophischen" Arztes (Arch. f. Gesch.
d. Medizin, Bd. VII, Heft 4, S. 253—272).
'*®) Ich lese mit Nestle (Euripides, S. 393) nrjB GvviGrr^ und mit
Überweg-Prächter (Gesch. d. Philos. d. Altertums, 10. Aufl., S. 75)
44 Hubert Rock,
Das heißt man dodi wahrlich nicht der Polyhistorie das Wort
reden, sondern bloß jener oocfia, yr ö/) xaXorOi .-reQi (fvöscog loTo^iav,
mit Piaton zu sprechen, während sie bei Euripides einfach lorooia
heißt. Damit klärt sich aber zugleich die Bedeutung dieses Ausdrucks
bei Heraklit wie bei Jamblichus zu völliger Durchsichtigkeit. Der
Ausdruck hat eben nicht um* zur Bezeichnung der Wissenschaft im
engsten und strengsten Sinne, abstrakt genommen, gedient, sondern
auch zur Bezeichnung der dabei in erster Linie in Betracht kommenden
konkreten Wissenschaften, der Naturwissenschaften und der
mathematischen Wissenschaften. Bei Euripides und Jamblichus
dient er ganz augenscheinlich dazu, bei Heraklit dürfen wir es er-
schließen.
Besonders lehiTeich ist die Stelle in der hippoki'atischen Schrift
IliQL dQ-/airjQ b/TQiyJjc, wo der Verfasser sich gegen die Behauptung
einiger Ärzte und „Sophisten'' kehrt, man könne die Heilkunde nicht
verstehen, ohne zuerst aus der „Philosophie" von der Art des
Empedokles oder andrer, die über die Katur geschrieben hätten,
gelernt zu haben, was der Mensch sei, ruf welche Weise er entstanden
und woraus er ursprünglich zusammengefügt worden sei. Das sei
ein Irrtum. Ein sicheres Wissen über die Natur (des Menschen) sei
nur durch die gehörige Beherrschung der Heilkunde selbst zu ge-
winnen. Bis dahin fehle indes noch viel, bis zu jener Wissenschaft
(ioTOQia) nämlich, genau zu wissen, was der Mensch sei, durch
welche Ursachen er entstehe und so weiter^').
Die Stelle und überhaupt die ganze Schrift ist deshalb besonders
lehrreich, weil sie die Haltlosigkeit der Gleichung zwischen Philosophie
und Wissenschaft schlechthin, soweit sich diese auf die Heilkunde als
solche und als Naturwissenschaft miterstrecken soll, &d oculos de-
monstriert. Die Einlassung der Heilkunde mit der ..Philosophie"',
nicht mit der Philosophie als Lebensweisheit, sondern ?<.ls ..Natur-
philosophie", ist in des Verfassers Augen ein Unfug, ein neuer, vor
noch nicht langer Zeit eingerissener Unfug, demgegenüber er für die
„alte" Medizin als die auf dem richtigen wissenschaftlichen AVege
befindliche mit Feuereifer in die Schranken tritt.
Cornelius Celsus weiß freiUch etwas anderes zu berichten.
Aber mit welcher Kritiklosigkeit! Um so mehr muß man staunen,
*") Nach dem Text der Ausgabe von Küh lewein (Leipzig 1894), cap. 20.
War Philoosphie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 45
daß ihm die Modernen ebenso kritiklos nachzusclireiben pflegen.
Er sagt: ,, Anfangs wurde die Heilkunde für einen Teil der Weisheit
(sapientiae pars) gehalten, so daß beides, die Heilung der Krank-
heiten und die Naturbetrachtung, von denselben Urhebern herstammte,
von denjenigen die erste vorzugsweise Erforschenden nämlich, die
ihre Körperki'äfte durch untätiges Nachdenken und durch Nacht-
wachen geschwächt hatten. Daher sind nach der Überlieferung viele
Lehrer der Weisheit (sapientiae) darin erfahren gewesen, worunter
Pythagoras, Empedokles und Demokrit die berühmtesten
sind. Der von einigen für einen Schüler Demokiits angesehene Hippo-
krates von Kos aber, unstreitig der erste unter allen denkwürdigen
Männern, hat diese Wissenschaft vom Studium der Weisheit getrennt
(ab studio sapientiae disciplinam hanc separavit), ein
durch Kunstleistung und Darstellungsgabe gleich hervorragender
Mann^sj.
Gerade die Schrift über die alte Heilkunde legt davon Zeugnis
ab, daß man zur Zeit des Hippofa-ates nicht im entferntesten daran
gedacht hat, die Heilkunde für einen „Teil'" der „AVeisheit" zu halten.
Wie sich die Heilkunde nach der ausdrücklichen Erklärung des Ver-
fassers bis dahin selbständig entwickelt hatte, so wird sie nach seiner
Überzeugung nur dann Fortschritte machen, w^enn sie, auf dem ein-
geschlagenen Wege verharrend, der ,, Philosophie'' weiterhin den
Rücken zukehrt^*'). Insofern ist es also ganz unhistorisch, daß Hippo-
krates die Heilkunde vom Studium der ,, Weisheit" getrennt haben
soll. Die Schrift IIsqI £toy?](ioovvr/g, auf die ich schon einmal bezug
genommen habe, läßt uns im Gegenteil gar keine andere Wahl als
die Annahme, daß die dort verkündete Forderung des usTc'r/tii'
T/]i' ooffhjv eg t/)v bjTQixi])' y.cci t/]v ujTQixijr tg TtjV oorfbjv auf
Hippoki'ates selbst zurückzuführen ist, mag die Schrift ihn zum Ver-
fasser haben oder nicht. Denn es ist nicht jedermanns Sache, eine
so sinnige Forderung zu erheben. Der Standpunkt, den der Verfasser
zur „Philosophie" (ooffi)/) einnimmt, Hegt in der Mitte zwischen den
vom Verfasser über die alte Heilkunde und von dessen Gegnern unter
Ärzten und ,, Sophisten" eingenommenen Standpunkten. Soweit
die Philosophie Lebensweisheit ist. brauchbare Lebensweisheit, soll
**) De medicina, reo. Daremberg (Leipzig 1891), Prooemium, S. 2.
99) Vgl. cap. 1, 2, 15, 20.
46 H u b c r t R ö c k ,
sie in die Heilkunde eingeführt werden; ujtqoc yaQ r///o(jor/o-'
Um aber bräuchbare Lebensweisheit zu sein, Ijedarf die Philoso-
phie ihrerseits zu ihrem theoretischen Unterbau der Einführung-
der von der „alten" Heilkunde befolgten streng wissenschaftlichen
Forschungsmethode^^*^).
Gegen die Philosophie als Lebensweisheit hat üljrigens der Ver-
fasser der Schrift über die alte Heilkunde nichts einzuwenden. Sein
Ausfall gegen die „Philosophie" ist einzig und allein gegen die von
der ]\"atur des Menschen handelnde von der Art des Empedokles
und anderer „Sophisten" samt deren ärztlicher Gefolgschaft gerichtet,
gegen sogenannte iS^aturphilosophie also zum Unterschied von
Naturwissenschaft. So ist auch seine Entgegensetzung zwischen
<f)üoooffh/ und iotoqI?/ zu verstehen, der entsprechend er die
Ausgestaltung einer wirklichen AVissenschaft von der menschlichen
jS'atur erst nach vielen Bemühungen in nicht absehbarer Zukunft erhofft.
Daß lOTOQiri hier ..in geringschätzigem Sinne" gebraucht werde,
wie Gomperz, das Wort mit „Gelahrtheit" übersetzend, annimmt,
ist deshalb ein Mißverständnis. Andererseits geht es nicht weit genug,
wenn Gomperz sagt, „Hie Fiktion, hie Realität" laute der Schlacht-
ruf in dem vom Verfasser der Schrift über die alte Heilkunde auf der
ganzen Linie eröffneten Kampfe „gegen die Auswüchse und gegen
die Mängel der Naturphilosophie"^^^).
Sogenannter Natm-philosophie als solcher, nicht bloß deren
Auswüchsen und Mängeln wird hier der Iviieg erklärt.
Sogenannter Naturphilosophie! Von Naturphilosophie wird
ja in so schwankendem Sinne gesprochen, daß man sich in jedem
einzebien Falle nicht klar genug zum Bewußtsein bringen kann, um
was es sich eigentlich handeln soll.
Ist es nicht allmähhch fast zu einem Axiom geworden, daß die
Philosophie mit Thaies begonnen habe, doch wohlgemerkt nicht etwa
mit Thaies als dem Weisesten der Sieben Weisen, sondern mit dem
„Naturphilosophen" Thaies, und daß sie bis zum Auftreten desSokrates
„Naturphilosophie" gebheben sei? Über die Gründe dieser Auf-
^o") Vgl. meine Abhandlung: Das hippokratische Wort von der Gott-
gleichheit des „philosophischen" Arztes.
101) Die Apologie der Heilkunst (Wien 1890), S. 96. — Griechische Denker,
1, 242, 238.
War Pliilosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 47
fassung sind aber die Philosophiehistoriker nicht einmal mit sich seilest
im reinen, geschweige denn untereina.nder.
So gibt Zeller an, nnter den Alten sei Aristoteles der erste, der
Thaies für den „Anfangspunkt der Philosophie" erklärt habe. Ander-
wärts gibt er dagegen an, es sei ,, zunächst allerdings nicht die
griechische Philosophie überhaupt, sondern nur die älteste Physik",
deren d{r/rf/6g Thaies von Aristoteles genannt werde^'^^).
Zeller widerspricht sich also selbst, wenn er jene Stelle der
Aristotelischen Metaphysik, wo Thaies als o xT^c Toucvvfjg aQ/r/yog
rfüoijoffiac figuriert^o^), bald so auslegt, daß Thaies für den Ur-
heber der Philosophie überhaupt, bald so, daß er „nur" für den
Urheber der ältesten Physik erklärt werde.
In Wirklichkeit hat bei Aristoteles weder das eine, noch das
andere statt. Das eine nicht, weil ja Thaies ausdrücklich für den
Urheber einer besonderen ,, Philosophie" (rz/s roiavzfjq fpilooogjlag)
erklärt wird. Welcher besonderen ,, Philosophie" nun? Der ältesten
Physik? Mit nichten!
In welchem Zusammenhang kommt denn Aristoteles überhaupt
dazu, Thaies zum (coyjjyog rz/g Toiavrtjg ffiloCjorpiag zu erklären?
Auf der Suche nach den Anfängen der ,, Physik"? Nein, sondern
auf der Suche nach der ihm vorschwebenden Ijcioti'hu] tcöv :;rQ0JTC)r
dfiy/ör '/ML Tojv airu'jr-^'^), indem er zunächst eine kritische
Musterung über seine wirkhchen oder angel3lichen Vorgänger abhält.
Von diesen hätten die ersten der Mehrzahl nach die materiellen Ur-
sachen für die alleinigen Prinzipien aller Dinge angesehen; Thaies,
o Tfjg Toiavxr/g aQ'/jjyog (ftÄoöorpiag, das Wasser^"^). Unter der
Toiavrr/ <piko6og:ia, deren Urheber Thaies wegen der Lehre, daß
alles aus dem Wasser entstanden sei, gewesen sein soll, ist demnach
eine Vorstufe zu der von Aristoteles oocfia schlechthin und Erste
Philosophie, auch theologische Philosophie und theologische Wissen-
schaft genannten Metaphysik zu verstehen, nicht aber die älteste
Physik.
Freilich ist dies um so seltsamer, als Aristoteles lehrt, wenn es
keine andere Substanz außer den von Natur bestehenden gäbe, so
1Ö2) Philosophie der Griechen, 1% 74. — 1% 185, 186.
i"3) I, 3, 983b, 20.
'"') I, 2, 982b, 9.
10^) I, .3.
48 ii u b e r t Rock,
wäre die Physik die Erste Wissenschaft; gebe es aber noch eine andere,
eine unbewegte Substanz, so müsse auch die Wissenschaft von ihr
eine andere sein und das sei die Erste Philosophie^"^). Mit solcher
,, Philosophie" hat doch die Lehre, daß alles aus dem Wasser entstanden
sei, niclit das mindeste zu schaffen.
Das Allerseltsamste ist, daß es vor Döring niemand eingefallen
zu sein scheint, daran ernstlich Anstoß zu nehmen. So mächtig wirkt
die Autorität des Stagiriten noch immer nach. Döring findet Aristoteles
,,an dieser Stelle von der Tendenz beherrscht, die geschichtliche Ent-
wicklung in etwas gewaltsamer Weise einer Konstruktion zu unter-
ziehen"^*''). Und so verhält es sich in der Tat. Gewaltsame Begriffs-
konstruktion geht hier mit gew'altsamer Geschichtskonstruktion
Hand in Hand.
Ob das einem Zell er entgangen ist? Ganz entgangen gewiß nicht.
\venngleich er keinerlei Einwendung zu erheben hat. Sonst wäre er
wohl kaum darauf verfallen, das Falsche stillschweigend durch etwas
an sich Richtiges zu ersetzen, indem er eben Aristoteles mit Thaies
die älteste Physik eröffnen läßt. Das entspricht nicht bloß den
geschichtlichen Tatsachen, sondern entspricht auch der bei den Alten
vorherrschenden und von einer auf dem Gebiete der Wissenschafts-
geschichte so maßgebenden Autorität wie Theophrast geteilten
Auffassung.
In Theophrasts 4>voiy.al dö^ai lesen wir: &air/Q dl jtqcöto^
jiu{K'.6tÖ0Tai T i] }' JTfQl ffi'öscog ioTO{>ifcr rote: EÄlfjöi)-
Da hätten wir wieder den Ausdruck >) .~t tQ l fp v otcog iöt o (> / a
in dem mit den jüngeren Ausdrücken (pvoioloyia und (pvoixf/
gleichbedeutenden von Naturwissenschaft. Zeller bezeichnet
denn auch Theophrasts Werk ganz richtig als „Geschichte der
Physik"!"^), nicht wie BäumkeriiOj und Döring^^^) als „Geschichte
der Naturphilosophie". Wenn Naturphilosophie dasselbe wie
Naturwissenschaft bedeuten soll, so liegt kein Grund vor, den ersten
106) VI, 1, 1026a, 27; XI, 7, 1064b, 10.
"^) Gesch. d. griech. Philos. I, 2ö.
108) Diels, Doxographi graeci, S. 475.
109) Philos. d. Griech., lll\ 812.
110) Das Problem der Materie (Münster 1890), S. 8.
111) Gesch. d. griech. Philos., I, 10.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 49
Ausdruck dem zweiten vorzuziehen. Wenn Naturphilosophie aber
nicht dasselbe wie Naturwissenschaft bedeuten soll, so fragt es sich,
was der Unterschied zwischen beiden sei und weshalb jener Ausdruck
vor diesem den Vorzug verdiene. Darum kümmern sich jedoch
Bäumker und Döring nicht. Noch willkürlicher und kreführender
ist es, wenn Gomperz"^) und Überweg-Prächter^^) ^q <PvOiyMl
doscu als „Philosophiegeschichte", als „erste Geschichte der Philo-
sophie" bezeichnen.
Dessenungeachtet bereitet es Zeller selbst kein Bedenken,
Thaies als „Stifter der jonischen Naturphilosophie" hinzustellen
sowie die gesamte vorsoki-atische Philosophie „ihrem Inhalt und
Zweck nach" abwechselnd als Physik und als Naturphilosophie
zu charakterisieren^^*), als ob z^vischen Physik und Naturphilosophie
kein Unterschied wäre oder doch im Sinne der Alten keiner zu machen
wäre. Das ist falsch.
,, Physik" bedeutet bei den Alten zweierlei: „Naturwissenschaft"
und „Naturphilosophie". Wie cpvaioloyia ist cpvoixr/ ein später auf-
gekommener Ausdruck für den älteren :t:6qI (fvotojQ iGxoQia im
Sinne von Naturwissenschaft als einer besonderen oofpia, ohne ein
Verhältnis zur ooffia Ir tcö ßico mitauszudrücken. Wo dies aus-
geckückt werden soll und zwar so, daß „Physik" als Teil der (paoöoffia
erscheint, da handelt es sich um ., Naturphilosophie" {(filooofpia
fpvoiyji) im eigentlichen Sinne der Alten, dem es insofern an lüar-
heit nicht gebricht. In diesem Sinne gehört die „Naturphilosophie"
zum theoretischen Unterbau der Philosophie als Lebensweisheit. Sie
gehört jedoch nicht notwendig dazu. Sie kann fehlen oder wenigstens
eine so untergeordnete Rolle spielen, daß sie aufhört, einen eigenen
Teil der Philosophie zu bilden. Das hängt eben ganz davon ab, worin
die Philosophie als praktische Ausübung einer bestimmten Lebens-
weisheitslehre bestehen soll. Ariston von Chios steht mit seiner
Ausschließung der Physik von der Philosophie nicht allein. Wenn
es von Ar is tipp heißt, daß er, das höchste Gut in die Lust, das
scMmmste Übel in den Schmerz setzend, „die übrige Physiologie"
{rtiv uXlrjV (pvoio^.oyiav) ausgeschlossen und erklärt habe, das
einzig Nützhche sei die Untersuchung, „was dir Böses und Gutes in
112) Griech. Denker III, 362 f.
113) Gesch. d. Philos. d. Altertums, 10. Aufl., S. 14.
11*) Philos. d. Griechen, I^, 180, 159 f., 164.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII, 1. • 4
50 Hubert Rock,
deinem Hause gescheh"n sei^^^), so ist er darin nur seinem Meister
Sokrates gefolgt.
Vor Xenokrates und Aristoteles hat es die seither be-
liebte Dreiteilung der Philosophie in Logik, Physik und Ethik über-
haupt nicht gegeben, wenn sie auch „dvmfn.i"' bei Piaton an-
zutreffen ist^^^). Den Namen Physik gebraucht Piaton noch nicht i^^).
Dem übrigens seltenen Namen (pLXoooqia (fvaix/j begegnen wir
zum ersten Mal bei Aristoteles^^^). Sonst sprechen die Alten vor-
zugsweise vom „physikalischen Teil" der Philosophie. Der Sache nach
ist aber die so verstandene Naturphilosophie schon bei Pythagoras,
Xenophanes, Parmenides, Heraklit, Empedokles, De-
mo kr it vorhanden. Die ,, Physik" ist bei ihnen nicht wie bei Thaies,
Anaximander, Anaximenes, Anaxagoras, Leukipp um ihrer selbst
wegen gepflegte jrtQi ffvOsoq loroQia, sondern dient ihnen als
Weltanschauungslehre zur theoretischen Begründung und Eecht-
fertigung ihrer Lebensweisheitsbestrebungen.
Warum drückt sich der Verfasser der Schrift über die
alte Heilkunde in betreff der „naturphilosophischen" Ärzte und
Sophisten so ungelenk aus? Er sagt nämhch (cap. 20): rsivti dl
avxolq 6 Xoyog eg cpi2o6o(ph/r, xaihccjreQ 'EffjreöoyJJ/c y (IXloi ot
jtsqI fpvcscoq ysyQccfpaoir. Das ist doch kein grammatisch ein-
wandfreier Satz. Warum spricht er nicht einfach von der cpiZoaocph/
(pvoiycTj des Empedokles und anderer? Einfach deshalb, weil man von
<p(?.ooog)i7] (pvaixtj damals noch nicht gesprochen hat. So spricht er
denn von Vertretern der (pilooocpb], „die über die Natur geschrieben
haben", worin bei ihm, wie schon hervorgehoben -wurde, nicht bloß
eine Unterscheidung zwischen <pilooog)(r/ {cpvöixrj) und {jtsQi (pvoao^c)
loroQifj, sondern zugleich eine Imtische Entgegensetzung der
beiden liegt. „Naturphilosophie" ist von seinem naturwissenschaft-
hchen Standpunkte nichts anderes als Afterwissenschaft von der Natur.
Theophrast macht diesen Unterschied nicht und von seinem
Standpunkte als Historiker der „Physik" mit Recht. Physikalische
Lehrmeinungen bleiben ihm physikahsche Lehrmeinungen, gleich-
^^^) Diels, Doxographi graeci, S. 581.
11«) Sext. Empir. adv. niath. VII, 16.
11^) Vgl. Zeller, Philos. d. Griech., 11*, 585.
iiä) Metaphys., VII, 11, 1037a, 14: rrjg (pvGixijg xal devTiouc cpilo-
Gocftug.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 51
viel, ob sie ihm wahr oder falsch erscheinen und ob sie von Natur-
forschern oder von Naturphilosophen herrühren mögen. Der Historiker
ist dazu um so mehr gezwungen, als die Naturwissenschaft nicht
immer richtige Wege und die Naturphilosophie nicht immer falsche
zu wandeln braucht, abgesehen davon, daß man Naturforscher und
Naturphilosoph zugleich sein kann, wofür Theophrast selbst ein
Beispiel ist. Auch Aristoteles ist ein Beispiel dafür. Nur hinkt
bei diesem der Naturforscher dem Naturphilosophen nach, während
es sich bei seinem Schüler, Freunde, Mitarbeiter und Nachfolger im
Scholarchat umgekehrt verhält. Beide aber sind gleichermaßen Bei-
spiele dafür, daß auch in der Epoche, wo sich nach Windelband
in der Philosophie das Wesen des Griechentums zu seinem begriff-
hchen Ausdruck verdichtet haben soll, der bestimmende Grund-
gesichtspunkt geradeso wie beim Hellenismus derjenige der Lebens-
weisheit gewesen ist,
Theophrast betreffend ist uns darüber folgender wahrscheinlich
aus seiner Schrift UtQ} evöaifioviag stammender Ausspruch
auf lateinisch überliefert: Omnis auctoritas philosophiae consistit
inbeata vita comparanda; beate enim vivendi cupiditate incensi
omnes sumus^^^). Dasselbe könnte Epikur gesagt haben und er hat
es mit anderen Worten gesagt.
Wenngleich uns Aristoteles betreffend kein einzelner Ausspruch
von solcher Bestimmtheit überüefert ist, so könnte er ihn doch eben-
sogut getan haben. Seine ethisch-politischen Schriften nehmen sich
aus wie ein Kommentar dazu. Mathematik, Physik und Erste Philo-
sophie, die drei „theoretischen Philosophien", werden zwar für be-
gehrenswerter {cuQtrcoreQcu) und die Erste Philosophie für die be-
gehrenswerteste ^2"), die Politik aber in dem die Ethik mitumfassenden
Sinne, /} jteQl za dvd-Qojjnra rpuoöofpia, wird für die wichtigste
und vorzugsweise führende Wissenschaft {xvqicotcct/j xal iidhora
agyitrATorix/j) erklärt, von deren Entscheidung es sogar abhängen
soll, welche Wissenschaften in den Staaten notwendig seien, welche
jeder einzelne zu lernen habe und bis zu welchem Grade^^^). Und
das im Interesse der Glücksehgkeit {tvöaLfiovia), die das Endziel
aller menschUchen Tätigkeit bilde, aber nur im Staate als „der Ge-
119) Cic. De fin. V, cap. 29.
120) Metaphys. VI, cap. 1.
121) Eth. Nicomach. I, cap. 1.
4*
52 Hubert Rock,
meinschaft von Geschlechtern und Ortschaften zu einem vollkommenen
und sich selbst genügenden und das heißt zu einem glückseligen und
sittlich guten Leben" zu verwirklichen^^^) ^^i j)[q Politik kenne
daher keine größere Sorge, als die Bürger „so und so beschaffen, sie
tüchtig und zur Betätigung des Edlen fähig zu machen" ^2^). Sie
gipfelt denn auch in der Aufstellung eines Musterstaats.
Und das soll der Philosoph sein, von dem Zeller angibt, daß
er das Gebiet der Philosophie noch genauer als Piaton begrenze,
indem er die praktische Tätigkeit von ihr ausschließe^^i-)?
Welche Verblendung! Piaton betreffend bemerkt dagegen Zeller
ganz richtig: „Während w unter Philosophie nur eine bestimmte
Weise des Denkens zu verstehen pflegen, so ist sie dem Plato ebenso
wesentlich eine Sache des Lebens, ja dieses praktische Ele-
ment ist bei ihm das erste, die allgemeine Grundlage, ohne die er
sich das theoretische gar nicht zu denken weiß^^^)." Nun, genau das
Nämliche findet bei Aristoteles statt, soweit er Philosoph zu
heißen verdient. Wo dies nicht stattfindet, dort scheidet sich eben
der (filoöofpoQ vom Naturforscher, vom Logiker, vom Rhetoriker,
vom Historiker, vom Kunstgelehrten, kurz vom ^l16)myoq, vom
öyolaöTixöq.
Einzelne Philosophen hat es freilich im Altertum gegeben, die
auf den Einfall gerieten, die Philosophie als die große Mutterwissen-
schaft und, nicht zufrieden damit, als Universallehrmeisterin zu
feiern. So besonders Posidonius. Nach Posidonius wäre nicht
allein die Geometrie als wh-ldicher Teil (pars) der Philosophie an-
zusehen, sondern alle sogenannten freien Künste (artes liberales)
sollten eine Rolle innerhalb der Philosophie für sich beanspruchen
dürfen^^e^^ Aber auch die gewöhnhchen und niedrigen Künste der
Handwerker (artes volgares et sordidae opificum) sollten von der
Philosophie erfunden sein^^-^^ go daß Seneca, der diese ungeschichtKche
Auffassung der Philosophie scharf und treffend kritisiert, spöttisch
bemerkt, es hätte nicht viel gefehlt, daß Posidonius auch das Schuster-
handwerk als Erfindung der Philosophen ausgegeben hätte^"^^). Die
Entgleisung erklärt sich daraus, daß Posidonius ebensosehr Poly-
122) Polit. III, cap. 9. 126) Senec. Epist. mor. 88, 24.
1") Eth. Nicomach. I, cap. 10. ^^') Ibid. 88, 21; 90, 7.
124) Philos. d. Griechen, I^, 2. i^s) jbid. 90, 23.
1") Philos. d. Griechen, IIS 609.
War Philosophie den Alten jemals Wissenschaft schlechthin? 53
histor als eigentlicher Philosoph und zugleich ein in „Hyppi'beln"
schwelgender Schönredner gewesen ist^^^), worauf Seneca anspielt,
wenn er sagt, es sei unglaublich, wie leicht der „Zauber der Rede"
(dulcedo orationis) selbst große Männer von der Wahrheit abführt '^^).
„Die Hauptaufgabe der Philosophie" lag aber auch für ihn, wie Zeller
bezeugt, ,, ausgesprochenermaßen in der Ethik, sie ist die Seele des
ganzen Systems"^^').
Zum Schluß möchte ich bloß noch kurz darauf hinweisen, welche
Stellung Kant zum Philosophieproblem eingenommen hat.
„In der Bedeutung, wie die Alten das Wort verstanden," heißt
es in der ,,Iü'itik der praktischen Vernunft", war Philosophie
„eine Anweisung zu dem Begriffe, worin das höchste Gut zu setzen
und zum Verhalten, durch welches es zu erwerben sei." Weiter heißt
es: ,,Es wäre gut, wenn wir dieses Wort bei seiner alten
Bedeutung ließen, als eine Lehre vom höchsten Gut, sofern
die Vernunft bestrebt ist, es darin zur Wissenschaft zu bringen."
Anderwärts heißt es noch entsprechender im Sinne der Alten: „Der
Name der Philosophie .... seine erste Bedeutung: einer
wissenschaftlichen Lebensweisheit". — „Sie ist das, was
schon ihr Name anzeigt: „Weisheitsforschung". — „Der prak-
tische Philosoph, der Lehre der Weisheit durch Lehre und Bei-
spiel, ist der eigentliche Philosoph"^^').
Wieder ist os Haym, der dies „minder natürhc.h und mehr
hereingetrafien"^^^) findet, derselbe Haym, der schon im Jahre 1857
den „Zurück auf Kant" !-Rufern mit den Worten präludierte: „Schon
recht, wenn man nicht müde wird, auf den ehrlichen Weg Kants
zurückzuweisen"^ ^^). Wo aber sind die „Zurück-auf-Kantl"- Rufer,
die sich den Rat des Meisters, das Wort Philosophie bei seiner
alten und ersten Bedeutung einer wissenschaftlichen Lebens-
weisheit zu lassen, zu Herzen genommen hätten?
129) Strab. III, 2, 9.
"0) Senec. Epist. mor. 90, 20.
131) Philos. d. Griechen, IV^, 577.
132) Kants Werke, herausg. von Rosenkranz: I, 621, 655; III, 185.
133) Ersch und Grubers Allgem. Encyklop., III. Sekt. 24. Teil, S. 10.
i'4) Hegel und seine Zeit (Berlin 1857), S. 468.
II.
Zur Philosophie Salomon Maimons.
Von
Dr. B. Katz in München.
In den letzten Jahren hat nns der deutsche Büchermarkt zwei
sehr ^Yertvolle Neudinicke längst vergriffener Bücher von Salomon
Maimon gebracht. Der eine dieser Neudrucke, der sich mehr an
den Kultlirhistoriker wendet, ist Maimons Autobiographie (heraus-
gegeben von Jakob Fromer, 1911, München). Der zweite, rein philo-
sophischen Inhaltes ist Maimons „Versuch einer neuen Logik" (heraus-
gegeben von der Kantgesellschaft, Berlin 1912). Im Jahre 1912 ist
auch das umfangreiche Buch von Friedrich Kuntze, „Die Philosophie
Salomon Maimons", erschienen, das in gewisser Beziehung als eine
Ergänzung zu den eben erwähnten Neudrucken betrachtet werden
dürfte, da nach dem Lesen dieser Werke ein Bedürfnis nach einer all-
seitigen und gründlichen Kenntnis dieser eigentümlichen Philosophie
wachgerufen wird. Dieses Buch von Kuntze, dem ohne Zweifel ein
gründliches Quellenstudium zugrunde liegt, läßt indes in mancher
Beziehung einiges zu wünschen übrig, worauf ich hier hinweisen
möchte.
Zuerst wäre hinsichtlich des Planes zu bemerken, daß dieser nicht
ganz glücklich gewählt sei. Kuntze war nämlich bemüht, alles aus
der Philosophie Maimons in seinem Buch aufzunehmen, aber diese
allzusehr ins Einzelne gehende Darstellung erschwert manchmal dem
Leser das Erfassen des Hauptsächhchen, des Eigentümlichen in der
Mainionischen Philosophie. Wenn auch Maimon seine Gedanken
„über eben dieselben Gegenstände bei verschiedenen Gelegenheiten
und in verschiedenen Verbindungen auf ganz verschiedene Arten"
(Vorrede zum „Versuch einer neuen Loigk", BerUn 1912, S. XXVI)
erörtert und ent\\ickelt, so ist m.E. eine Darstellung dieser verschiedenen
Zur Philosophie Salomon Maimons. 55
Erörterimgen, falls sie der Sache nach nichts neues hinzufügen, gegen-
standslos. Die vielen Darstellungen eines und desselben Gebietes
(der transzendentalen Ästhetik etwa) oder desselben Problems (z. B.
des Ichproblems) machen deshalb einen Eindruck der Zerrissenheit,
des künsthch Zusammengenommenen, weil sie nicht aus einem Prinzip,
sondern ganz isohert, wie sie in den verschiedenen Werken Maimons
vorliegen, behandelt werden. So haben wir einerseits eine Darstellung
der transzendentalen Ästhetik nach dem ,, Versuch über die Trans-
zendentalphilosophie", anderseits aber auch eine DarsteUuug desselben
Gebietes, nach dem „Versuch einer neuen Logik" und den ,,Ivritische
Untersuchungen". Dasselbe Verfahren begegnet uns bei der Behand-
lung der transzendentalen Analytik und Dialektik. Bedenkt man,
daß Kuntze die unzählig vielen Probleme, die in diese Gebiete hinein-
gehören, nach eben diesem Prinzip, oder besser gesagt, nach gar
keinem Prinzip, behandelt, so wd einem jeden die Unzulänglichkeit
dieses Planes einleuchten. War nun Kuntze wenig bemüht, Maimons
Philosophie als ein Ganzes darzustellen, so vermissen wir auch bei
ihm hinsichtlich vieler einzelner Probleme Klarheit und Bestimmtheit.
Wir finden z. B. in seinem Buche nngends eine Erklärung, warum
Maimon in seinem Erstüngs werke, dem ,, Versuch über die Trph."
den synthetischen Charakter der mathematischen Sätze nicht zu-
gibt, in seinen späteren Werken dagegen den Kantischen Standpunkt
vertritt. „Daß die Mathem.atik synthetische Sätze hat," heißt es
in den ,, Streif ereien im Gebiete der Philosophie", über die Progressen
der Philosophie (S. 50), ,,ist außer allem Zweifel, und mich wundert,
wie man noch darüber streiten kann ? . . . Wodurch ist aber die kii-
tische Philosophie imstande zu beweisen, daß wir synthetische Er-
fahrungssätze haben?" In eben denselben „Streifereien" („Philo-
sophischer Briefwechsel") gibt Maimon sogar ein Imterium an, nach
dem man eine objektive Notwendigkeit von einer subjektiven unter-
scheiden könnte: ,,Die Objekte dir Wahrnehmung setzen eine Be-
dingung im Subjekt voraus, wenn ilire Verhältnisse als notwendig
erkannt werden können. Die Objekte der Mathematik hingegen
setzen keine solche Bedingung im Subjekte voraus. Ich denke
die gerade Linie notwendig als die kiü'zeste; ich mag sie zum ersten-
mal vorstellen oder ihre Vorstellung schon oft wiederholt haben. Das
Urteil hingegen: Feuer schnülzt das Wachs, ist notwendig bei mii-
erst nach einer vom Zufall oder von meinem WiUen a])hängenden
56 B. Katz,
öfteren AVicderholung dieser Walirneliniuni,' entstanden, es ist also
hier bloß eine subjektive Nötigung, alier keine ol3Jektive Notwendig-
keit" (S. 193). Man vergleiche diese angeführte Stelle mit den S. 172
bis 175 im „Vers. üb. d. Trph.", wo Maimon den synthetischen Cha-
ralrter der mathematischen Sätze eindeutig bezweifelt. Im Gegensatz
zu dem eben Angeführten äußert sich Maimon, daß das Urteil: ,,Eine
gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punlrten" daher rühren
kann, „weil ich es immer so wahrgenommen habe, daher ist es bei
mir subjelrtiv zur Notwendigkeit geworden" (S. 173). Maimon gibt
auch den Begriff der objektiven Notwendigkeit nicht zu, weil der
Ausdruck ,, objektive Notwendigkeit" gar keine Bedeutung hat, ,, in-
dem Notwendigkeit immer einen subjektiven Zwang etwas als wahr
anzunehmen bedeutet" (S. 175), Wo mag der Grund für diese zwei
entgegengesetzte Behauptungen liegen? Wir finden auch bei Kuntze
gar keine Antwort, nach welcher Seite Maimon bemüht war, die Kan-
tische Philosophie fortzubilden. Liegt doch einerseits bei Maimon
ein Bestreben vor, ,,Leibnizen mit der Kritik der reinen Vernunft aus-
zusöhnen" (über die Progressen der Philosophie, S. 29), anderseits
aber ein Versuch zu zeigen, daß „der Unterschied zwischen dem Hume-
schen Skeptizismus und dem Kantischen nicht so groß ist, wie man
uns überreden will (Philosophisches Wörterbuch, S. 221).
Auch in der Darstellung des Satzes der Bestimmbarkeit fehlen
m. E. l)ei Kuntze Erläuterungen, die für das Verständnis unentbehrlich
sind. Der Ausgangspunkt der Kantischen Erkenntnistheorie ist be-
kanntlich die Frage nach der MögMchkeit synthetischer Urteile a priori.
AVeder die mathematischen, noch die naturwissenschafthchen Urteile
können nach Kant ihre Begründung in dem Satze des Widerspiuches
finden, weil man diesem zufolge die gerade Linie z. B. mit eben-
demselben Recht nicht als die kürzeste denken könnte („gerade"
und „nicht die kürzeste" widersprechen einander nicht). Kant sah
sich deshalb gezwungen, ganz andere Prinzipien für die Begründung
der mathematischen und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse an-
zunehmen. Nun sind aber nach Maimon die von Kant aufgestellten
Prinzipien für die Begründung der realen Wissenschaften nicht hin-
reichend. MögMchkeit der Darstellung sei nämUch deshalb kein Prinzip
a priori, weil man vor der wirklichen Konstruktion eines ein-
zelnen Objektes nie a priori behaupten kann, ob es darstellbar sei
oder nicht. Wir denken dieses bestimmte Objelvt auf diese bestimmte
Zur Philosophie Salomon Maimons 57
Art (ein Dreieck etwa als Raum in cli-ei Linien eingeschlossen), nicht
weil wir es einun allgemeinen Gesetze gemäß so und nicht anders
denken müssen, sondern weil es in der Konstruktion nicht anders dar-
gestellt wird. Die Ivi'itik der reinen Vernunft gibt somit kein Merkmal
an, woran man a priori erkennen könnte, ob ein gegebenes Objekt
darstellbar sei oder nicht. Maimon greift aber auch das zweite Prinzip
(Möglichkeit der Erfahrung) der Kantischen Erkenntnistheorie an,
weil sie Erfahi'ung (im Kantischen Sinne) als ein unbewiesenes Fak-
tum voraussetzt, „ein Skeptiker aber, der Erfahrung selbst in Zweifel
zieht, wird auch die Reahtät dieser Prinzipien bezweifeln" (Streifereien
im Gebiete der Philosophie, Philosophischer Briefwechsel, S. 191).
Maimon wiU nun einen Grundsatz ausfindig machen, der dieselbe
Bedeutung für die realen Wissenschaften haben soll, welche der
Satz des Widerspruches für die Logik hat, d. h. so wie wh- von dem
letzteren a priori aussagen können, daß er die Bedingung aller Objekte
überhaupt ist, so soll dieser Satz die Beding img a priori eines jeden
realen Objekts überhaupt sein. Maimon nennt diesen Grundsatz
„Satz der Bestimmbarkeit". Nach diesem machen zwei Vorstellungen
dann und um- dann eine reelle Einheit aus, wenn sie in einem ein-
seitigen Verhältnis zueinander stehen, d. h. dann, wenn die eine
dieser Vorstellungen auch an sich ohne die andere vorgestellt werden,
die andere dagegen nur in Verbindung mit der zweiten gedacht
werden kann. Ein „rechter Winkel", ein „rechfcwinldiges Dreieck"
sind deshalb reelle und nicht logische Objekte, weil ihre Glieder diesem
Gresetze gemäß verknüpft sind (Winkel kann auch ohne seine Be-
stimmung ,, rechter" gedacht werden, nicht aber umgekehrt, dasselbe
ist auch bei dem rechtwinkligen Dreieck). Der Satz der Bestimmbar-
keit und nicht die Anschauung ist somit nach Maimon der Grund der
Objektivität. Dieser Satz der Bestimmbarkeit, der schon in dem Erst-
lingswerke aufgestellt worden ist, wird als Verstandesprinzip auf-
gefaßt und die mathematischen Objekte werden als denkuotwenclig
betrachtet, weil ihnen dieses Verstandesprinzip zugrunde liegt. .,Ein
Dreieck z. B. ist eine vom Verstände (nach dem Gesetze der Bestimm-
barkeit und der Bestimmung) hervorgebrachte Einheit" (Vers. üb.
d. Trph." S. 21). Nun begegnet uns aber schon im „Philosophischen
Wörterbuch" eine ganz andere Auffassung. Hier vertritt die Ein-
bildungski'aft die Funktion des Verstandes und die mathematischen
Objekte werden als ,, notwendige Erdichtungen" (Philosophisches
58 B. Katz,
Wörterbuch S. 37) betrachtet. Auch die Kategorien werden hier als
..transzendentale Erdichtungen der Einbildungslvraft" (Philosophisches
Wörterbuch S. 20) aufgefaßt. Kuntze referiert freihch von diesen
verschiedenen Zuständen, die der Satz der Bestimmbarkeit angenommen
hat (S. 52 — 68); wir finden aber nhgends darüber Aufschluß, aus
welchen Gründen Maimon sich gezwungen sah, diese Änderungen
vorzunehmen. Die sein* wichtige Frage von dem Verhältnis der Ein-
bildungskraft zum Verstände, wh*d von Kuntze fast gar nicht berührt,
denn die Bemerkung, ,,daß auch Kant über das Wesen der Einbildungs-
kraft sich nicht mit vollkommener Eindeutigkeit ausgesprochen hat"
(S. 360), wird doch kaum als eine Erklärung gelten können.
Zum Schlüsse möchte ich noch bemerken, daß es völlig unverständ-
hch ist, warum Kuntze flu* die Darstellung eines so tief- und scharf-
sinnigen Philosophen, wie Maimon war, eine Methode wählte, die
ganz ungeeignet ist, dem Leser das Verständnis dieser Philosophie
näherzm'ücken. In diesem umfangreichen Buche gehört ein sehr
kleiner Teil dem Verfasser selbst an, der größte Teil dagegen whd
meist (also auch dort, wo Kuntze darstellt und nicht zitiert) wörtUch
aus Maimons Werken ohne jede Erklärung wiedergegeben. Ich könnte
unzählig viele Beispiele als Beleg flu- diese Behauptung heranziehen,
weil ja das ganze Buch nach eben diesem Plan angelegt ist, aber das
NRirde zu weit führen, ich begnüge mich also nur mit einem einzigen.
Am Anfange des Bucehs macht uns Kuntze mit Maimons erkenntnis-
theoretischem Standpunkte, mit jenem Maimonischen Ideahsmus
bekannt, als dessen Kennzeichen Kuntze eine „besondere Auffassung
von der Bewußtseinsimmanenz der Gegenstände des Erkennens und
durch eine besondere Skepsis gegenüber der Realität der empirischen
Erkenntnis" (S. 40) bezeichnet. Als eine Erörterung dieses eben er-
wähnten Immanenzproblems führt Kuntze eine Stelle aus dem Ver-
suche über die Transzendentalphilosophie an, wo es heißt, daß Maimon
„mit dem IdeaUsten die subjektive Immanenz von Materie und Form
behauptet und zugleich mit dem Reahsten, daß Materie und Form der
Anschauung einen objektiven Grund haben müsse. Wähi*end aber
der Reahst diesen objektiven Grund, d. i. diese Objekte als an sich be-
stimmt annimmt, sieht Maimon in ihnen bloß Ideen, die nur durch die
AVahrnehmung und in dieser bestimmt werden, wie die Differentiale
durch ihre Integrale" (S. 41). Diese Stelle, die Kuntze ohne jede Er-
klärung wörthch aus dem Vers. üb. d. Trph. überträgt, genügt m. E,
Zur Philosophie Salomon Maimons. 59
bei ^Yeitenl nicht, dem Leser irgendwelche bestimmte Vorstellung von
Maimons Auffassung der Materie zu geben, weil der Leser doch nicht
weiß, was Maimon unter ..Ideen" versteht. Aber auch anf Seite 73,
wo Kuntze den Begriff der Materie in einem anderen Zusammenhange
behandelt, fehlt eine klare Auseinandersetzung dieses Begriffes.
„Maimon", heißt es hier ^Yiederura, „sieht in den Dingen nur Ideen
oder an sich voUkommen unbestimmte Objekte, die nur durch die
Wahrnehmung und in der Wahrnehmung bestimmt sind, wie die
Differentiale durch die Integrale." Da nun Kuntze die systematische
Bedeutung der Ideen für die Philosophie Maimons nicht klar genug
dargestellt hat, so möchte ich hier in aller Kürze dies nachholen.
Maimon erklärt in seinem letzten Werke ,,Ivricisehe Untersuchungen",
daß er unter Ideen Vorstellungen verstellt, ,,die nicht in einem Ob-
jekte völlig darstellbar sind, zu deren völligen Darstellung aber man
sich immer nähern kann, bis ins Unendliche" (S. 155). Dieser Er-
klärung zufolge sind die unendlich kleinen Größen, die ^rationalen
Zahlen Ideen. Es gibt nämlich keine Zahl, weder unter den ganzen,
noch unter den gebrochenen, deren Produkt gleich zwei wäre, und
doch können wir uns einer solchen Zahl bis ins Unendliche nähern;
|/2 ist somit eine Idee. Für Maimon ist auch die Materie, die ein un-
vollständiges Bewußtsein bedeutet, eine Idee, denn, ..diese Unvoll-
ständigkeit des Bewußtseins kann von einem bestimmten Bewußtsein
bis zum völligen Mchts dm'ch eine abnehmende Keihe von Graden
gedacht werden, folglich ist das bloß Gegebene (dasjenige, was ohne
alles Bewußtsein der Vorstellungskraft gegenwärtig ist) eine bloße
Idee von der Grenze dieser Keihe, zu der {me etwa zu einer irratio-
nalen Zahl) man sich immer nähern, die man aber nie erreichen kann".
(Vers. üb. d. Trph. S. 409—20).
Maimon nennt deshalb die Materie „Differential" oder ,.ein un-
endlich kleines", weil auch diese in der Mathematik als Grenzverhält-
nisse eines unendlichen Prozesses betrachtet werden müssen. So
wie wir aber in der höheren Mathematik zur Lösung konki-eter Auf-
gaben gezwungen sind, unendHch kleine Größen einzuführen, ob-
gleich diese als selbständige Größen nicht existieren, so können wir
auch die Materie als etwas ansehen, dem zwar keine selbständige
Existenz zukommt, die aber doch den Grund der Existenz bildet.
Maimon glaubte durch seine Vorstellung der Materie die Frage:
quid juris (die Anwendung reiner Verstandesformen auf x\nschauungen)
60 B. Katz.
lösen zu können und er bezeichnet deshalb, mit Recht, das meta-
physisch unendhch Kleine als real, weil doch auch für den Mathe-
matiker nur derjenige Begriff für real gilt, der zur Begründung oder
zur Erfindung neuer Wahrheiten verhilft. Man muß nach Maimnn
eine jede Vorstellung, z. B. die Vorstellung „rot", um sie begreifen
zu können, aus unendlich vielen an sich unselbständigen Bewußt-
scinselementen zusammengesetzt denken, genau so, wie man jede
uns in der Anschauung gegebene Linie aus unzähUg \ielen Punkten
bestehend denken muß. Es gibt somit unzähhg viele unselbständige
Vorstellungen im Denken überhaupt, die an sich, ehe sie durch die
Verstandesformen verknüpft worden sind, noch gar kein Bewußtsein
ergeben. Erst dadurch, daß der Verstand diese Elemente durch seine
Verstandesformen verknüpft, werden sie zu reellen Objekten und
können uns vermittelst der Anschauungsformen der Einbildungs-
kraft (Raum und Zeit) bewaißt werden; der Verstand ist somit nach
Maimon der Schöpfer der Welt. Aus den Wirkungen aber der Ein-
bildungslvraft (Maimon nennt dieselbe eine ,,Nachäfferin des Ver-
standes"), die die sinnlichen Gegenstände in Zeit und Raum ordnet,
müssen w 1 r auf die Wirkungen des Verstandes schUeßen. Wir müssen
demgemäß voraussetzen, daß die Aufeinanderfolge sinnlicher Ob-
jekte nach einer Regel in der Zeitfolge in dem logischen Verhältnis,
w^orin die Differentiale miteinander stehen, begründet ist. Wenn
es nun wahr ist, daß wir Erfahrungsurteile (im Kantischen Sinne)
haben, so ist nach Maimons Theorie die Frage: quid juris dadurch
zu erklären, daß die reinen Verstandesbegriffe auf die Elemente der
Erscheinungen apphziert w^erden. Diese Elemente, die einen Grenz-
begriff zwischen dem reinen Denken und der Anschauung bilden,
wodurch beide rechtmäßig verbunden werden, sind nach Maimon
real. Sie sind, so wie die Differentiale dy, dx in Ansehung der An-
schauung gleich o; „ihre Verhältnisse aber sind nicht gleich o, son-
dern können in den aus ihnen entspringenden Anschauungen be-
stimmt angegeben w^erden" (Vers. üb. d. Trph. S. 33). Man wird,
so glaube ich, jetzt verstehen können, w^arum Maimon die Materie
als Differential ansieht, weil auch sie nur im Zusammenhange, nicht
aber als selbständige Größe betrachtet w^erden darf.
Aus diesen Bemerkungen wird man ersehen können, daß Kuntzes
Buch das Wesenthche vermissen läßt: eine einheitliche und syste-
matische Darstellung der Maimonischen Philosophie.
III.
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke.
Von
Dr. Hermann Büchel.
Lockes Einfluß auf die Philosophie der neueren Zeit, besonders
bis zu Kant und die Beherrschung der enghsehen Gedankenwelt
bis auf unsere Tage dm- h ihn ist unschwer festzustellen. Weniger
leicht ist der Einfluß Lockes auf das Erziehungswesen der Völker zu
umschreiben. Er gehört närahch zu den pädagogischen Denkern, denen
unmittelbarer praktischer Erfol»' in größerem Umfange zunächst ver-
sagt bheb. An den gelehrten Schulen Englands haben sich seine päda-
gogischen Gedanken, z. B. die über eine mildere Schulzucht, erst
im 19. Jahrhundert dm'chgesetzt und dieser Erfolg hing auch von
Geistern zweiten Grades ab, bei denen die Gedankengänge und -einflüsse
nicht immer deutüch erkennbar sind. Das letztere ist auch sonst in der
Geschichte der Pädagogik nicht selten, wo außer den rein pädago-
gischen noch religiöse, soziologische und pohtische Einflüsse sich be-
sonders stark geltend machen, so daß die Teilkräfte in ihrer endhchen
Resultante oft nur sozusagen gefühlsmäßig auseinander zu halten
sind.
Das gilt besonders auch für den großen Nachfahren Lockes, den
Gefühlsmenschen, den Repubhkaner, den Genfer Puritaner J. J.
Rousseau. Durch diesen weltfremden Schwärmer sind Lockes Gedanken
hindurchgegangen, um auf die Welt zu wirken, in anderer Form, anders
geschhffen, mit anderem Glänze, gepaart mit neuen Ideen und, der
Kampfeswkung wegen, in verzerrte Form gebracht. Rousseau hat
nicht zum wenigsten außer durch seine Werke und deren Stil und
Formen, auch durch sein Leben gewkt, das zwar ki'anldiaft war,
aber doch von großen Gedanken getragen wurde. Das ist bei
einem Pädagogen immer von nicht zu unterschätzendem Werte.
62 Hermann Büchel,
Wie sehr versdiieden von den Einsiedler von Montmorency, von
seiner Art und Weise, die Welt denkend und fühlend zu erfassen, ist
das Leben Lockes. Es wirde ausgefüllt von der Suche nach der Wahr-
heit. Er kannte die Welt von mancherlei Seiten, war Arzt, praktischer
Naturwissenschaftler und Philosoph, daneben aber auch matter of
fact Briton. Er entwickelte die von Descartes begründete empirische
Psychologie weiter und war insofern das Haupt einer Schule, um dessen
Fahnen sich sammelten: in Franla-eich Coiulillac, in Deutschland
Herbart, in England Hume, die Schotten, und dann eben die Vertreter
der neueren Psychologie. Daneben ist Locke als der Begründer
einer Erkenntnislehre als selbständigen Faches anzusehen.
Locke stand aber auch mitten im politischen Leben; er wirkte
sozial und ist im gewissen Sinne der Vater des neuzeitlichen Ver-
fassungslebens. Er hat u. a. in dem Streit um die Neugestaltung
Englands nach der Vertreibung der Stuarts den Grundsatz der Trennung
von gesetzgebender und ausübender Gewalt mit Bestimmtheit ent-
wickelt. Er kämpfte und entbehrte auch für seine Ansichten und lebte
lange Zeit freiwillig oder verfolgt in der Verbannung. Als Beamter.
Hauslehrer, Pohtiker und Schriftsteller stand er im Leben ; als letzterer
war er auch mittelbar einer der Mitbegründer der englischen Volks-
wirtschaftslehre.
Das sind eine Anzahl von Seiten und Zügen, die das Bild eines
Philosophen ergeben, wie er auf dem Festland, in Deutschland jeden-
falls, selten oder gar nicht vorhanden ist, in England aber noch heute
vorkommt: der gentleman, der sich im täglichen Leben nach allen
Seiten betätigt und aus diesem Leben seine Philosophie praktisch
schöpft. Das ist wichtig, auch für die Beurteilung seiner Pädagogik.
Locke ist der Begründer des enghschen Sensuahsmus. Nicht ge-
wisse allgemeine Sätze sind nach ihm im Bewußtsein vorhanden,
die sich dann etwa durch die Erfahrung mit Lihalt füllen, sondern
die sinnliche Erfahrung ist der Ursprung unserer Erkenntnis. Die
Sinne geben uns zuerst einfache Ideen ^), d. h. bei ihm Vor-
stellungen etwa im Sinne Herbarts. Nach Locke kann der
menschhsche Geist „allein durch die Ausübung der ihm ange-
^) Daneben gibt es aber auch moralische und abstrakte „Ideen", und
es ist wicht' g, daß diese nicht vernachlässigt werden. Conduct of the
Unterstanding § 9.
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 63
borenen Fähigkeiten gewisse allgemeine Wahrheiten oder Ideen (aus
den einfachen) unfehlbar erreichen". Einfache Wahrheiten sind die
Töne, Farben, das Widerstandsgefühl des Tastsinns, Vorstellungen
der Ausdehnung und Bewegung. Aus der Summe häufiger derartiger
einfacher Ideen entsteht die allgemeine Vorstellung, mit anderen
Worten: zur Empfindung, der Sensation, gestellt sich die Reflexion ^),
und diese beiden allein gewähren die Erkenntnis, die also von der
Erfahrung auf die Seele, ursprünghch nichts als a white paper, ge-
schrieben ist.
Der menschhche Geist nimmt also die Sinneseindrücke ledighch
auf und fügt sie zu allgemeinen Vorstellungen zusammen, die er dann
durch Worte festlegt. Die Worte werden durch Gedanken verbunden.
Damit hört aber schon die Sicherheit der menschhchen Erfahrung
auf, der Irrtum beginnt.
Es kann hier nicht auf die mant^hmal noch etwas unklare Lockesche
Erkenntnislehre eingegangen werden. Wichtig ist für das Folgende so-
wohl als auch füi- die Stellung Lockes zum pedantischen Humanismus
die Betonung der Idee und der sinnhchen Walirnehmung vor den
Worten. Die spätere Pädagogik der Humanisten, der Ciceronianis-
mus, legte allen Wert auf Worte und grammatische Formen. Der
ReaHsmus, der sich frühzeitig, z. B. bei Rabelais, geltend machte,
drang auf Sachen, auf den Inhalt der Formen. Bei Locke wird dieser
Reahsmus auch natm"^\issenschafthch.
Locke selbst war als Kind seiner Zeit, als fleißiger Westminster-
schüler und Student von Oxford dm'chaus humanistisch gebildet.
Er war auch selbst Lektor und Repetitor des Griechischen, bevor er ins
politische Leben übertrat. In den Famihen seiner Freunde und Be-
kannten beobachtete er in dieser Zeit das Leben der Ivinder und
machte sich darüber die Gedanken, die er in Briefen an seinen Freund
Clarke 1684 und 1685 aussprach und die 1693 in Buchform, ziemhch
ungeordnet, als Sonie thoughts concerning Education erschienen. Sie
wiirden schon 1695 von Corte ins Französische und von anderen in
verschiedene Sprachen übersetzt. Rousseau, Helvetius, Leibnitz be-
faßten sich mit ihnen.
Locke vereinigt verschiedene erzieherische Richtungen in sich.
-) die am besten streng folgerichtig ohne Sprung wie in der Mathe-
matik vor sich geht.
64 Hermann Büchel,
In der Hauptsache ist er aber der bedeutendste Vertreter derjenigen,
die von den Engländern the disciplinary genannt wird, der es nämlich
eher um die Art des Lernens als einer geistigen und sittlichen Zucht,
als um das Gelernte und dessen Form zu tun ist. Er unterscheidet
sich darin etwas von Rabelais, von dem er sonst beeinflußt ist. Dieser
stellt entgegen dem Formalismus des ]\Iittelalters ein allerdings weit
über einzelmenschhches Maß hinausgehendes Bildungsziel auf, in
dem auch eine unheimliche Menge von Lernstoff vorkommt. Es ist
das Bildungsideal für die Menschheit, Gargantua eine Verkörperung
dieser.
Locke umschreibt das Ziel der Erziehung folgendermaßen:
,,Das große Werk des Erziehers ist to fashion the carriage and
to form the mind ; in seinem Zögüng gute Gebräuche (habits j und die
Grundsätze der Tugend und Weisheit festzulegen. To work him into
a love and Imitation of what is exellent and praiseworthy, und ihm
in der Verfolgung davon (dieser Ziele) Ivraft, Tätigkeitsdrang und
Ausdauer zu verleihen. Die Studien, welche er ihn machen läßt, sind
nm* Übungen seiner Fähigkeiten und Ausnutzung seiner Zeit, um
ihn von Schlendi'ian und Müßiggang abzuhalten, ihm Anwendung zu
lehren und ihn an Mühen zu gewöhnen, ihm ein wenig Verständnis
für dasjenige zu verschaffen, was seine eigene Tätigkeit vervollstän-
digen muß."
Das ist die allgemeine Erziehungs Vorschrift, die übrigens für
Söhne höherer Stände gedacht ist. Die wichtigsten Grundsätze Lockes
sind: 1. in der körperlichen Erziehung die Abhärtung, 2. in der geistigen
Erziehung der praktische Nutzen, 3. in der morahschen Erziehung
der Grundsatz der Ehre als Regel für die Leitung freier Menschen.
Unter praktischem, Nutzen ist nicht nur der fürs Leben gemeint, sondern
auch der sitthche und der für die Ausbildung der Fähigkeiten des
Schülers; dieser soll weniger die Dinge gelernt bekommen, als viel-
mehr lernen, selbst zu denken und zu arbeiten.
Die Ziele der Lockeschen Erziehung sind Körperkraft, Tugend
und Kenntnisse oder an einer anderen Stelle: die Gesundheit voraus-
gesetzt, Tugend, Weisheit, Benehmen (breeding) und Kenntnisse,
in dieser Reihenfolge nach ihrer Wichtigkeit geordnet. Die Gesund-
heit ist das Wichtigste.
Die „Gedanken über Erziehung" beginnen schon mit einem
packend ausgearbeiteten Satz: ,,Ein gesunder Geist in einem ge-
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 6o
sunden Körper ist eine kurze aber ausreichende Beschreibung eines
GHickszustandes in dieser Welt."
Auf die Erreichung seines Bildungszieles muß bei Locke die ganze
Erziehungsarbeit gerichtet sein. Welcher Art diese Erziehung ist,
geht aus folgendem hervor: „ wie die Stärke des Körpers haupt-
sächhch darin liegt, Mühen zu ertragen, so auch diejenige des Geistes,
und der große Grundsatz aller Tugend und alles Wertes hegt darin:
daß der Mann imstande ist, sich selbst seine eigenen Wünsche zu
versagen, seinen eigenen Neigungen zu widersprechen und nur dem
zu folgen, was die Vernunft als Bestes rät."
Die Lockesche Erziehung ist hart, stoisch, auf Ausbildung aller
Fähigkeiten und einer in ihrer Art aristoki-atischen Lebensanschauung
gerichtet, die nämhch ihr Ziel in allgemeiner Vollkommenheit und
Bildung und in der gemeinnützigen Tätigkeit, wie sie vom gentleman
verlangt wird, sieht. Locke fragt überall, ob etwas nützhch, d. h.
nützhch im Sinne dieses Lebensbildes ist. Dabei gerät er natürlich
in Widerspruch mit der herkömmhchen Pädagogik, wie sie sich aus dem
sehr früh pedantisch und formahstisch gewordenen Humanismus
entwickelt hatte. Abgesehen davon, daß Locke die Bildungsaufgabe
nicht mehr in der Aneignung der sprachlich-grammatischen Form
erbückte, war er auch gegen die oft barbarische Schulzucht und für
eine auf freundüche Unterstützung begründete Erziehungsweise.
Seine Gedanken und Worte zu diesem letzteren Punkte erinnern
übrigens häufig an ähnhche in Fenelons Education des filles, die 1680
o-eschrieben wurde. Locke war von 1676—1679 in Frankreich und
stand auch nachher noch mit diesem Lande in Verbindung, so daß
eine Beeinflussung möglich erscheint, was hier aber nicht weiter un-
tersucht werden soll. Inhalthch war nämlich die Lockesche Erziehung
weniger mit derjenigen Fenelons als vielmehr-, wenn ein zeitgenössisches
französisches Beispiel herangezogen werden soll, mit der der Kleinen
Schulen von Port-Royal zu vergleichen, die allerings schon 1660
aufgehoben worden sind. Es haben aber weniger diese lileinen Schulen
als die Schriften der Männer von Port-Royal im allgemeinen auf die
Welt gewirkt und Locke hat diese sicher gekannt. 3) Auch die Männer
3) La Logique der Port-Royalisten ; Nicole, L'Inducation d'un Prince;
Lancelot, Methodes; Amauld, Grammaire; Reglement d'etudes dans les
;ettres humaines; dann Custel, Varet, Jacqueline Pascal.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 1. 5
66 Hermann Büchel,
von Port-Royal vertraten den Realismus gegenüber den Jesuiten.
Nicole sagt: „Les Lumieres des enfants etant toujours tres depen-
dantes der sens, il faut, autant qu'il est possible, attacher aux sens
les Instructions qu'on veut leur donner, et les faire entrer non seule-
ment par Touie mais par la vue." Also schon sensualistisch-realistisch.
Den Jesuiten gegenüber wurde auch in den Schulen von Port-Royal
der größte Nachdruck auf eigenes Denken und Urteilen der Schüler
gelegt und dessen Pflege und Bildung betrieben, fast manchmal mit
denselben Worten wie bei Locke. Auch von dem, Orden des Oratoire
dürfte Locke mancherlei erworben haben. Namenthch die Ansichten
der Port-Royalisten und der Streit um sie erfüllte, als Locke in
Montpellier und Paris war, ganz Frankreich, ja die gebildete Welt.
Von seinem erzieherischen Standpunkte und von seiner oben
im Umriß gezeichneten sensuahstischen Erkenntnislehre aus, nahm
Locke auch das Handwerk als ein Bildungsmittel in Anspruch. Wegen
des letzteren Grundes steht Locke über Rousseau. Dieser läßt Emile
ebenfalls ein Handwerk erlernen, aber aus einem praktischen und
aus einem politisch-morahschen, nicht aus einem psychologisch-
erzieherischen Grund. Rousseau spricht nämhch im Emile (1762)
und auch in den Considerations sur le gouvernement de Pologne etc.
(1772) folgende prophetische Meinung aus: „Ich sehe alle Staaten
Europas ihrem Untergange entgegengehen." Wegen dieser Um-
wälzungen, die auch soziale sein werden, soU Emile ein Handwerk
können, als eine Waffe im Kampf ums Dasein, wenn er nämhch.
was selir möghch ist, sein Vermögen verhert.
Ferner ist Rousseau der sittenstrenge Repubhkaner, der citoyen.
der selbst auf Pensionen und Vorteile verzichtet und sich durch Hand-
arbeit, durch Notenschreiben ernährt. Jeder, der nicht arbeitet, ist
nach ihm ein Dieb, ein fripon. Er nimmt die bekannte Proud'honsche
Erklärung des Eigentums dem Gedanken nach schon voraus. Eine
Walii'heit gibt es eben auch im Hohlspiegel einer ki'anken Seele. Das
sphärische Bild muß in die Ebene des gewöhnhchen Menschenver-
standes umgerechnet werden. Der große Vorkämpfer einer neuen
Siehe Dr. H. Büchel, Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei J. J.
Rousseau, ,, Arbeitsschule" 1914;
Derselbe: Die Erziehung zum Arbeitsstaat bei J. J. Ronsseau, „Preuß.
Volksschullehrerinnen-Zeitnng, 1914.
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 67
Zeit erhebt das adelige Recht der Arbeit auf den Altar des freien
Bürgertums. Bis dahin hatte in der Welt in verschiedenen Formen
ein Bildungsideal geherrscht^), das Träger voraussetzte, die nicht mit
der Hand zu arbeiten brauchten ; auch das humanistische war in dieser
Beziehung nichts anderes als das griechische, das heißt also dasjenige
eines Volkes von Sklavenhaltern. Rousseau, der Dichter und Prophet,
zündete dem neuen Zeitalter der Arbeit zuerst die Fackeln an.
Dagegen hat Rousseau das Hauptwerk kaum von der Seite der
Erkenntnislehre aus angesehen, die bei ihm überhaupt schlecht ausge-
bildet war und leicht in das Gebiet des Gefühlsmäßigen zerfloß oder
zm'ücktrat vor dem Bestreben, aus dialektischen Gründen einseitig
zugespitzte Forderungen wie Kanonenkugebi ins Kampfge\^immel
zu schmettern. An ganz anderer Stelle des Emile wird auch der
induktiv-intuitive Erkenntnis wert der Handarbeit anerkannt, aber
nirgends mit Beziehung auf das Handwerk.
Anders bei Locke. Bei ihm ergibt sich die Handarbeit als Er-
ziehungsmittel nicht nur aus praktisch-sitthchen, sondern auch aus
sensualistischen Gründen. Man muß dies allerdings aus gelegenthchen
Worten und Bemerkungen erkennen. Wie es Locke auch sonst an
systematischer Bestimmtheit zuweilen fehlt, so gilt dies ganz be-
sonders für seine „Gedanken über Erziehung". Di^se verzichten
ihi-er ganzen Entstehung nach ül3erhaupt auf Systematik, aber
auch darauf, etwa pädagogische Forderungen auf deuthch aus-
geprägte erkenntnistheoretische Sätze ausdrücklich zurückzuführen.
In dem Buche verlangt Locke u. a., daß der Schüler auch Tanzen,
Fechten, Musik lernt, um als Angehöriger der oberen Stände sich ange-
messen bewegen zu können. Im Anschluß daran wd in § 201 che
Forderung aufgestellt, daß derselbe ZögUng möghchst mehi'ere Hand-
werke lerne ; eines soU er aber besonders können. Locke sagt, der Be-
schäftigungstrieb der Kinder müsse auf etwas Nützhches hingelenkt
werden. Das ergäbe zwei Vorteile: 1. die erlangte Geschickhch-
keit oder Gewandtheit (Skill) nicht allein in Sprachen und Wissen-
schaften, sondern auch in Malen, Drechseln, in Gärtnerei, tempering
(Modelüeren?) und Eisenarbeiten und in allen anderen Künsten ist
an und für sich „wert, daß man sie hat"; 2. kann die Übung der Ge-
sundheit nützüch sein.
*) Es hat seine große Bedeutung heute noch nicht verloren.
n
68 Hermann Büc hei,
Beachtenswert ist für das Folgende, wie er hier (zu 1), Skill so-
wohl auf Sprachen und AVissenschaften als auch auf Handwerke zu-
gleich anwendet.
Die Kinder müssen sonst in der Schule Kenntnisse durch Be-
schäftigungen erwerben, die durchaus nicht immer der Gesundheit zu-
träghch sind, wie z. B. Schreiben und Lesen. ,, Andere manual arts"
wii'ken dem entgegen und verschaffen dexterity und skill. So mag
Gesundheit und geistige Hebung vereinigt werden, wonnt noch die
Annehmhchkeit verbunden ist, daß das Lernen spielend durch ,. Er-
holung" geschieht.
Locke untersucht nun mehrere „Handwerke". Vom Malen hält
er nichts, weil „schlechte Malerei eins der schlechtesten Dinge der
Welt ist" und eine gewisse Geschickhchkeit zu erlangen zu viel Zeit
erfordert. Dann ist eben doch eines gentlemans ernstere Beschäftigung
das Studium. Erholung davon sollte in einer Körper Übung erfolgen,
die den Greist entbindet, was beim Malen nicht der Fall ist. Man sieht
an diesem Beispiel, in dem er eine in der Hauptsache geistige Ai'beit
wegen der eigenthch nm' zufälhg mit ihr verbundenen körperlichen
ganz als letztere anspricht, daß Locke sich, wie auch in anderen Fällen,
hier keinen klaren Begriff gebildet hat. Seine Einschätzung der Malerei
entsprach zwar einer ge^\^ssen Übung des ]\Iittelalters, war aber zu
Lockes Zeiten schon in der ganzen Kultmnvelt verlassen.
Soviel ist allerdings richtig, daß mit jedem Handwerk geistige
Arbeit verbunden ist, aber nur selten in dem Maße wie bei der Malerei,
wenn eben nicht das Handwerk zur Kunst wd. Locke empfiehlt
Gärtnerei oder Landwirtschaft im Allgemeinen usw. (husbanchy) —
wie später Rousseau — , dann Holzarbeit, z. B.Zimmerei, Schreinerei,
Drechslerei, die am meisten geistige Erholung gewähren. x\n anderer
Stelle empfiehlt er noch als Gewerbe, die zu lernen sind. Gravieren,
Ai'beiten in Eisen, Messing und Silber, das Schneiden, Schleifen und
Einsetzen kostbarer Steine, das Schleifen optischer Gläser. Man sieht
wieder eine systemlose Aufzählung.
In den sehr* ungeordneten und unzusammenhängenden Ab-
schnitten wird an einer Stelle nur der Gedanke der geistigen Erholung
betont, um diese pädagogische Forderung zu unterstützen. Es folgt
aber gleich ein Abschnitt, in dem darauf hinge^^^esen wü*d, daß die
großen Männer des Altertums Handarbeit mit ihrer AVürde als Staats-
männer und Heerführer vereinigen konnten. Daß Locke nicht nur eine
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 69
Erholung durch Handarbeit lediglich im landläufigen Sinne des ge-
schäftigen Müßiggangs, sondern daß er Erholung im Sinne seiner
Erziehungslehre verstand und geistige und sitthche Zwecke damit
verfolgte, das geht aus seinem Hinweis auf Gideon, Cincinnatus, Cato
dem Älteren hervor, die große Heerführer und Staatsmänner, daneben
aber auch tüchtige Pflüger und Bauern waren. „Ihr Geschick mit
dem Flegel und dem Pflug (dexterous handling) verhinderte ihr Ge-
schick (skill) in "Waffen nicht, noch machte es sie weniger tüchtig
in den Künsten des Kiieges und der Regierung ; sie waren große Heer-
führer und Staatsmänner, wie auch Haushalter (husbandmen)."
„C3n-us hielt Gärtnerei so wenig unter der Würde und Größe eines
Thi'ones, als er Xenophon ein großes Feld mit Obstbäumen zeigte, die
alle von' ihm gepflanzt waren."
Daß Erholung bei diesem Handwerksbetrieb nicht einfach ein
spielendes Zeit verbringen, sondern ein Aus- und Umspannen des
Geistes ist, geht noch aus mancherlei anderen Bemerkungen Lockes
hervor. „Recreation soll nichts Müßiges sein, sondern den ermüdeten
Teil durch Wechsel der Beschäftigung erleichtern." ÜlDung und Ge-
schick in einem Handwerk bringen den Menschen auch bald dazu,
daß er ein Entzücken darin findet, so daß eine eigenthche Erholung,
nicht bloß eine Ermüdung von dem Handwerk zu erwarten ist. Inso-
fern steht es auch jedenfalls weit über dem bloßen Spiel, mit dem
„Personen und Damen von Stand so \äel Zeit vergeuden". Nach-
dem diese Art Spiel vorüber ist, bleibt nämlich nichts übrig; anders
beün Handwerk, das in der Erziehung erfrischen und doch etwas
erzeugen soU, was hinterher von Xutzen sein wh'd — Xutzen im
Sinne des Lockeschen Bildungsideals und des Zweckes und Geistes
des ganzen Buches.
NachdrücUich stellte Locke das Handwerk der Zeitvergeudung
dm'ch gewöhnhche Spiele gegenüber, die er verurteilt und bekämpft.
Nm* Eitelkeit und Größenwahn haben diese letzteren hervorgebracht
und den Glauben erzeugt, ,,daß das Lernen oder die Betätigung bei
einer nützhchen Sache nicht die Erholung eines gentlemans sein
könnte. Daher kommen Karten, Würfel und Trinken, Künste, an
denen ein vernünftiger Mann tili corrupted by custom nur wenig
Vergnügen finden kaim." Man sieht, ein Stück hausbackener
commonsense !
Daneben muß man aber beachten, welche Vorteile Locke von
70 Hermann Büchel,
dem Handwerk erwartet und wie er sich darüber ausdi-üekt. Er wendet
näniKch für Gewandtheit und Geschick, wie in dem obigen Beispiel
von Gideon usw. dexterity and skill wiederholt nebeneinander an.
Beide Worte bedeuten z. B. bei Shakespeare nicht nur die körper-
liche, sondern auch die geistige Gewandtheit. Es kommen also unter
diesen Bezeichnungen in Betracht einmal die unmittelbar auf hand-
werksmäßiger Übung beruhende Stärkung und Ausbildung der Muskeln
und das unbewußte ebenfalls übungs- und handwerksmäßige Zu-
sammenwirken gewisser Muskel- und Nervengruppen. Durch die
von Locke verlangte Erlernung mehrerer Handwerke wird eben auch
eine Übung solcher Muskelgruppen in verschiedener Zusammensetzung
und eine allgemeinere Geschicldichkeit erreicht.
Daneben bedeuten aber beide Worte auch eine Fähigkeit und Ge-
wandtheit auf geistigem Gebiete. Dexterous kommt bei Locke in
diesem Sinn vor wie auch bei Shakespeare z. B. in den Lustigen Weibern
von Windsor im vierten Akt (Dexterity of wit) und skill in arms in
der oben angefülu'ten Stelle von Locke soll offenbar nicht die Fecht-
kimst bedeuten, sondern die Kunst des großen Heerfülu'ers, ähnlich
wie an anderer Stelle ebenfalls bei Locke Skill in politics. Es handelt
sich eben darum daß bei der praktischen Ausübung eines Gewerbes
nicht nur die oben erwähnte körperhche Geschicklichkeit, sondern
auch eine Ausbildung des Geistes besonders durch unmittelbares
Erschauen von allgemeinen Beziehungen z\\ischen den Dingen er-
folgt. Bekannthch erwartete Goethe diesen letzteren Erfolg ebenfalls
von der Handarbeit, und die neuere Heilpädagogik sucht sogar
Fehler des geistigen Lebens, der Sprache usw. auch durch körper-
liche Arbeit zu bekämpfen.
Zweifellos ist sich Locke über diese erkenntnistheoretische Seite
der Sache nicht ganz klar geworden. Daß sie ihm aber vorgeschwebt
hat und daß er sie ausdrücken wollte, scheint mir unter anderem aus
der wederholten Anwendung der beiden erwähnten Worte nebenein-
ander hervorzugehen.
Übrigens sagt Locke an anderer Stelle, daß der junge Mann sich
nicht etwa nur in dem Gewerbe erholen, sondern daß er an dem in
seinem Stande übhchen Spielen teilnehmen soll. Offenbar meint er
diesmal edlere. Der Zögling habe aber Zeit genug, um beinahe jedes
Gewerbe hinzuzulernen. Eine Stunde des Tages in einem nützlichen
Gewerbe verbracht, tue vieles, um den gewöhnhchen lasterhaften.
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke
o^
unnützen und gefähi'liclien Zeitvertreib auszumerzen — daraufkommt
Locke immer wieder zmück — und dexterity und skill in
hunderten von nützlichen Dingen zu verschaffen. Es wird sich jeden-
falls ein Handwerk finden, das dem Geschmack des Schülers ent-
spricht. Wenn aber die Eltern sich daran stoßen sollten, daß ihr Sohn
ein solches lernt, so gibt es die kaufmännischen Fächer, die doch für
jeden unbedingt notwendig sind. Jeder gentleman sollte schon der
Verwaltung seines Vermögens wegen kaufmännische Buchführung
gut lernen. Diese ist aber auch, und das erkennt Locke sehr richtig,
,,mehr eine Sache des Verstandes als Arithmetik". Er stellt also
Buchführung über diese. Dazu, und um zu erkemien, daß er
sich bei der praktischen Arbeit auch großen geistigen jS^utzen
verspricht, muß man vergleichen, was er an anderer, übrigens
besonders angeordneter Stelle über Arithmetik sagt (a, a. 0.
§ 180). Danach ist sie „die leichteste und folghch erste Art des ver-
nünftigen Denkens", zu welchem der Geist gewöhnhch gelangt. Der
Mensch kann davon nicht genug können und nicht früh genug damit
anfangen. Übrigens nimmt Locke anscheinend nm* eine Erkenntnis
a priori in der Mathematik an. Über deren Bildungswert schreibt er
in dem Conduct of the understanding §§ 6 und 7: Sie „sollte gelehrt
werden allen denen, welche Zeit und Gelegenheit haben, nicht gerade
um Mathematiker zu werden, sondern um aus ihnen vernünftige
Wesen zu machen". Zu dem letzteren gibt uns die Natm- ,,mu' che
Saat". Wh* sind geboren, um, wenn es uns gefällt, vernünftige Wesen
zu werden, aber nm Übung und Gebrauch macht uns dazu, und wir
sind es in der Tat nm- insofern, als Tätigkeit und x\nwendung uns
getragen haben. „Ich habe ]\Iatheniatik als einen Weg angeführt,
um in dem Geist die Gewohnheit festzulegen, vernünftig, folgerichtig
und geordnet zu denken."
Auf die Wichtigkeit der kaufmännischen Fächer für die geistige
Bildung geht Locke nicht weiter ein. Er erwähnt nicht, daß die Buch-
fühi'ung ebenso folgerichtige Schlußfolgerungen erfordert, wie die
Mathematik, und daß sie dazu z\^1ngt, die Fälle des täghchen Lebens
aus ihrem Zusammenhang loszulösen und in ihren wichtigsten Be-
ziehungen mathematisch, d. h. nach Größenwerten zu behandeln.
Ebenfalls erwähnt er den kaufmännischen Briefstil nicht, der doch die
beste Schule sein kann fiu- einfache Sprache und klaren und bestimmten
Ausdruck. Locke verlangt nm-, daß der Zögüng die kaufmännische
72 Hermann Büchel,
Buclifülirung dazu verwende, um über seine Einnahmen und Aus-
gaben einen Überblick zu gewinnen. Dabei soll der Vater dieses Mittel
aber nicht benutzen, um kleinlich über Heller und Pfennig Auskunft
zu verlangen. Dem Sohn soll Selbständigkeit eingeräumt, aber er soll
auch an Ordnung in seinen Angelegenheiten gewöhnt werden. Das
gehört zu einer guten Erziehung, ziu^ AVeisheit und dem breeding.
Bei der Mannigfaltigkeit der Handwerke, che Locke wiederholt
üi* seine Zöghnge vorschlägt, könnte man an Zersphtterung denken;
aber er sieht das anders an. Das Geschäft des Erziehers ist nicht das,
die Schüler ,, vollkommen in jeder Wissenschaft zu machen, sondern
die Geister zu öffnen und sie zu befähigen, sich selbst ihnen zu widmen".
Sie sollen ,,in alle Arten von Kenntnissen hineinsehen und ihi* Ver-
ständnis an einem so weiten Vorrat von Kenntnissen üben. Aber
ich schlage es nicht als eine Mannigfaltigkeit und einen Vorrat von
Kenntnissen vor, sondern als eine Mannigfaltigkeit des Denkens, als
einen Zuwachs der Ki'aft und Tätigkeit des Geistes, nicht als eine
Erweiterung seiner Besitztümer."
Hier steht offenbar Locke ganz auf dem Boden Rabelais'. Dieser
will, daß der Unterricht möghchst recreation et amusement. Locke
daß er recreation sei. Bei Rabelais und bei Locke ist aber recreation
im Unterricht genau dasselbe, ledighch eine Abwechslung in der Be-
schäftigung, zm* teilweisen Entspannung, und zm* Inanspruchnahme
anderer Seiten und Ki-äfte des Schülers.') Bei Rabelais und bei Locke
ist der Schüler ununterbrochen beschäftigt ; sein Geist immer in Be-
wegung. Auch Gargantua lernt alles möglichst, indem er es selbst
in die Hand nimmt, besieht, untersucht oder herstellt, auf Spazier-
gängen usw. Er besucht die Läden der Goldschnüede, Gießereien,
chemische Kabinette, Werkstätten aller Art. Gargantua soll arbeiten
lernen; wenn es regnet, sägt und hackt er Holz, drischt er usw. Es
sind dies also Ai'beiten, die offenbar nm* wegen ihrer Gütererzeugung
sozialsitthchen Wert haben. Daß aber Rabelais auch den größten Nach-
di'uck auf sinnliche Erfahrung legt, im Gegensatz zu dem abstrakt forma-
hstischen Lernbetrieb der Scholastiker und dem pedantisch gram-
matischen der späteren Humanisten, das geht aus seiner Forderung
hervor, daß Gargantua auch eingehend Anatomie treiben und eine
tiefe Kenntnis der „andern Welt erlangen soll, welche der Mensch
^) Auch das Oratoire und Port- Royal vertraten ähnliche Forderungen.
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 73
ist", ein Gedanke von ungehewer Kühnheit in jenen Zeiten. Die
Renaissance hatte gerade erst die Natur entdeckt ; ihr wird schon der
Mensch als „eine andere Welt" gegenübergestellt und damit aus der
bescheidenen Stellung herausgehoben, in welche er diu'ch die Ver-
neinung des Christentums geraten war. Der Morgen graut eines neuen
Zeitalters der Natur- imd Menschenwissenschaft und dahin schwinden
tlie Dogmen und Formen der Scholastik. Man muß beobachten, daß
solche kühne Geistesblitze ins Reich des Menschen und der Natur
sehr leicht das vom Fanatismus immer sehr trocken gehaltene Holz
der Scheiterhaufen entzünden konnte. Oder aber ein so kühner Geist
konnte wie Roger Bacon während stiller Jalu'zehnte im Moder feuchter
Kerker dahindämmern.
Rabelais hat nicht erheblich unmittelbar auf seine Zeitgenossen
gewirkt. Er gehört zu denen, deren Wirken erst lange nach ihrem
Leben anhebt. Aber er steht doch an den Mai'ksteinen einer neuen
Zeit. Eine neue Art der Welterkenntnis kündet sich an. Zimächst
folgt jedoch der enge Pedantismus der späteren Humanisten, in Frank-
reich die oberflächliche, schöngeistig formahstische Erziehung der
Jesuiten, die nur notdürftig Ai'istoteles und Thomas mit etwas huma-
nistischem Geist verhüllt. Es fehlt dieser Erziehung noch jede psycho-
logische und erkenntnistheoretische Grundlage. Da begründet Des-
cartes eine neue Philosophie. Ihn nehmen später Ideahsmus und
Materialismus *^) gleichermaßen als Vater in Anspruch, Seine
Erkenntnislehre wnd jedenfalls weitergebildet von Locke, dem
sie auch als Grimdlage zu seiner Erziehungslehre dient. Das kommt
aber, wie wir schon betont haben, besonders in seinem aphoristisch
gehaltenen erzieherischen Hauptwerk nicht mit systematischer Be-
stimmtheit zum Ausdruck. Es fehlt seiner Erziehungslehre der folge-
richtige Aufbau, die Ordnung des Stoffs und die „mathematisch"
fortschreitende Entwicklung der Gedanken und Schlußfolgerungen
vollständig, die er selbst an anderer Stelle, z. B. im Anfang des Con-
duct of the understanding als Hauptsache bei jeder Suche nach der
Wahrheit hinstellt.
Insbesondere, was uns hier angeht, hat Locke den sittlich und
geistig bildenden Wert der Handarbeit erkannt. Aber er streift nur
die sitthche Wirkung auf den Einzelnen, und zwar im Sinne eines
^) z. B. La Mettric.
74 Hermann Büchel,
Moralpredigers. Er beachtet nicht oder hebt wenigstens nicht her-
vor die Ein^^irkung der i\j'beit auf die Willensbiklung, auf das sitt-
lich-ästhetische Urteil, wenigstens soweit das Verhältnis zur mensch-
lichen Gesellschaft in Betracht kommt. Die soziale Seite der Frao;e
bleibt anders wie bei Kousseau vollständig unbeachtet.
Ebenso hat Locke die Bedeutung des Handwerks für die geistige
Erziehung wenigstens unklar erkannt. Eine eingehende erkenntnis-
theoretische Wertung fehlt aber ebenfalls gänzlich. Locke kannte
auch offenbar selbst die Handwerke, die er empfiehlt, zum Teil nur
ungenau oder gar nicht und eine systematische Würdigung der Hand-
werke überhaupt fehlt natürlich ebenfalls. In seinen übrigen Büchern,
insbesondere im Conduct of understanding, ist das Handwerk als
Bildungsmittel nicht erwähnt, aber die ersten Paragraphen der letzteren
Schrift geben ein Bild darüber, welche Forderungen der Philosoph
bezüghch der allgemeinen Bildung stellt, die nämlich ganz allge-
mein und aus den Tiefen des täghchen Lebens geschöpft sein soll.
Lockes Gedanken über Erziehung sind für ihre Zeit nicht neu,
auch die über das Handwerk nicht. Die letzteren treten lange vorher
auf z. B. bei den Juden, und es ist sehr möghch, daß Rabelais auch
aus dieser Quelle, besonders bei Talmudisten oder gelehrten Juden
Anregung geschöpft hat. Wir sehen dann dieselbe Forderung der
pralvtischen Betätigung durch Handarbeit, außer bei Rabelais auch
in den Schulen des Oratoire, z. B. bei Laniy. Bei Locke ist seine
ganze Erziehungslehre und die Handarbeit als Erziehungsmittel
imr ein wesenthcher und sinngemäßer Bestandteil seiner sensua-
hstischen Philosophie, herausgewachsen aus der ganzen PersönHchkeit.
Daß Lockes Buch so wenig unmittelbaren praktischen Erfolg
gehabt hat, dürfte den oben beschriebenen Mängeln zuzuschreiben
sein, die auch nicht durch dichterischen Schwung ausgeghchen wurden,
wie etwa bei Rousseau. Es ist aber nicht zu bezweifeln, daß Locke,
wenn auch nicht sofort, auf dem Gebiete der Erziehung nachgewirkt
hat, nur ist das Maß schwer festzulegen, weil, wie schon erwähnt,
eben auf diesem Gebiete die verschiedensten Einflüsse in Betracht
kommen. Schon seit den Anfängen des Humanismus machte sich
eine Richtung zum Realismus geltend — gegenüber dem pedantisch-
humanistischen Betonen der Formen — der sich immer mehr nach
der soziologischen und naturwissenschafthchen Seite aus\\'uchs. was
ganz von selbst von diesen zwei Seiten aus zu einer anderen Ein-
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 75
Schätzung der Handarbeit fühi'en mußte. Und dann war auf
religiösem Gebiet sowohl mit der calvinistisch-demokratischen als
auch der jansenistischen Richtung natmnotwendig ein Zug zur
strengen von den Formen absehenden sachHchen Wahrheit ') und zur
demokratischen Gerechtigkeit verbunden, welche letztere von dem
Standpunkte der für alle gleichen Würde des Christenmenschen aus
die herkömmhche Geringschätzung der Arbeit und ihre Vernach-
lässigung bei der Erziehung als ungerecht und unwahr empfinden
mußte.
Solche Einflüsse sind außer den Lockeschen jedenfalls bei Rousseau
besonders stark gewesen. Dessen pädagogisches Hauptwerk hat sicher-
hch vom Standpunkte jeder Erziehungs- und Seelenlehre aus die
größten Fehler, die übrigens zum Teil auf dialektische Absicht zurück-
zuführen sind. Größer als die Fehler sind aber die Vorzüge, vor allem
der, daß es in vollendeter Form aus einem heißen und übervollen
Herzen heraus geschiieben ist. Das verschaffte ihm, anders wie dem
Buche Lockes, den gewaltigen Erfolg, der, weil er sich auch auf die
Gesetzgebung erstreckt, noch heute anhält und auch die Wertschätzung
der Handarbeit als Erziehungsmittel in sich begreift. In Franki-eich
begründete Bernard de St. Pierre seine Ecoles de la Patrie im Geiste
Rousseaus, den die Jakobiner noch übertreiben. Josephe Chenier ver-
langt in der gesetzgebenden Ansammlung, daß Rousseaus Grund-
sätze in der öff entheben Erziehung ai gewendet werden. Starke,
durch ein schwieriges Handwerk geübte Menschen zu erziehen ver-
langt Bouquier und Le Peletier St. Fargeau will Spartaner heranziehen:
„sie schlafen hart, leben einfach, die Arbeit ilirer Hände ist ihre
Hauptbeschäftigung. "
Übrigens waren die meisten dieser Männer, besonders auch
Lakanal, der Verfasser des Schulgesetzes vom 29. Brumaire HI, philo-
sophisch von Condillac beeinfhißt, dem Schüler Lockes.
Aus diesem Kochen der revolutionären Nationalseele hat sich
die allgemeine französische Volksschule entwickelt, die seit der Zeit
der Revolution die Handarbeit in Holz, Eisen und anderem, in Feld-
■) Daß der religiöse Zug zur Wahrheit auch einen Realismus auf
geistigem und künstlerischem Gebiet bedingt, läßt sich aus der Geschichte
des Oratoire und von Port-Royal erkennen. Über die Kunst der letzteren
s. Academiciens d'autrefois (L'art de l'ancien France) p. Fontaine, Paris,
Laurens 1914.
76 Hermann Büchel,
und Gartenbau und, ;ie nach der geographischen Lage, auch manchmal
Schiffahrt auf ihrem Lohrjjlan hat; das gilt besonders für die Ecoles
normales superieures und die ihnen entsprechenden Ecoles professio-
nelles.
In England ist etwas ähnhches erst in der neuen, dm-ch Gesetz
von 1888 allgemeiner ausgestalteten Volksschule wenigstens grund-
sätzhch durchgedrungen.
Im größten Umfange wird die Handarbeit als Erziehungs- und
Bildungsmittel in allen Schulen der Vereinigten Staaten verwendet.
Hier whkt al^er in der Hauptsache deutscher Geist. Es sind die An-
sichten der Philantropisten, Pestalozzis, Goethes, Diesterwegs, Fichtes,
die z. B. Horace Mann, den Schulorganisator von Massachussets, in
den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts dort eingeführt hat.
Im Vaterlande dieser Gedanken hat sich dagegen der, wenigstens
amthche, Schulmeister, meist auch der nichtamtliche, der Handarbeit
gegenüber ziemüch abweisend verhalten, was allerdings in einem
gewissen Widerspruch steht zu der großartigen Entwicklung, die
gerade das theoretisch-technische Schulwesen in Deutschland er-
fahren hat.
Wenn dieses letztere auch zweifellos große Vorzüge hat, so darf
man sich durch diese doch über erhebhche Fehler nicht hinweg-
täuschen lassen. Zu diesen gehört, daß anders wie in vielen Ländern,
die praktische Arbeit in den deutschen technischen Schulen, außer
in den Kunsthandwerkerschulen nm* geringe Pflege findet. Eine Folge
dieses Mangels dürfte mit ein ,, Fabrikassessorismus" sein, der, nüt
einer gewissen verletzenden Geringschätzung der bloßen Handarbeit,
nicht wenig zur Verschärfung der sozialen Gegensätze beiträgt. Eine
weitere Folge desselben Mangels erbMcken wir darin, daß zwar der
technische und maschinelle Arbeitsvorgang allgemein hochentwickelt
ist, daß aber die seehschen Bedingungen, unter denen der Arbeiter
schafft, praktisch und theoretisch vollständig vernachlässigt worden
sind. Gerade daß in Amerika eine Psychologie der Arbeit aufkommen
und bei den Unternehmern den größten Anldang finden konnte, dürfte
nicht zum wenigsten eine Folge davon sein, daß dort die Handarbeit
als Bildungsmittel in den niederen und höheren Schulen anerkannt
ist, und damit eine ganz andere W^ertung erfälu't, was eben nur dem
Realismus entspricht, der sich auf dem Gebiete des Erziehungswesens
in den letzten Jahrhunderten mehr und mehr durchgesetzt hat. Dieser
Die Handarbeit als Erziehungsmittel bei John Locke. 77
Realismus setzt der scliolastischeii und der pedantisch-liumanistischen
Wertschätzung der Formen immer mehr die Wichtigkeit der Sachen
gegenüber.
Daneben her gehen die psychologische und die soziologische
Richtung des Erziehungswesens. Die erstere verlangt im Sinne Lockes
eine erzieherische Ausnutzung des Betätigungschanges des Endes,
seines Triebes zum Spiele mit den Händen, seiner Sucht zu wissen,
was hinter oder in einer Sache steckt, die allerdings mehr analytischer
iSatur und nicht so sehr synthetisch ist wie die Arbeit. Synthetisch
ist aber auch der Betätigungsdrang des Kindes, soweit er aufbauen
will.
Die soziologische Richtung des Erziehungswesens hat naturgemäß
das Kind als ein Ghed eines Gesellschaftsverbandes zum Gegenstand
und sucht die Gesellschaft zu stärken, indem es dem Schüler die
sozialen Pfhchten einschärft und ihn zu deren Erfüllung geschickt
macht. Die Gesellschaft ist aber — in der Hauptsache, wie die So-
ziaüsten behaupten — jedenfalls zum großen Teil ein wirtschafthcher
Verband, mit der Aufgabe der Güterzeugung und — der sehr schlecht
gelösten — Güterverteilung.
Dabei liegt im Zuge der gesamten neueren Entwicklung eine
starke Ausbildung der Verbandsgewalt über den einzelnen, mit der
Gefahr, daß der letztere zu sehr eingeschränkt wird. Diese Gefahr
macht sich jedenfalls in dem staathchen Leben so ziemlich aller Völker
geltend. Zu den Bestrebungen, die ihr entgegenwirken, gehört auch
die Kritik des Soziahsmus, die in den Kreisen nicht nur der Arbeiter,
sondern der Gebildeten und der Wissenschaft eine gegen früher ganz
andere, höhere Einschätzung der Arbeit herbeigeführt hat, welche
auch auf das öffenthche Erziehungswesen zurückwhken muß. Die
Arbeit, als eine der wichtigsten sozialen Pflichten des Gesellschafts-
ghedes, muß im öffentlichen Leben, in der Kultur der Zukunft eine
noch größere Beachtung als bisher erfahren.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam.
Von
Prof. Dr. Horten in Bonn.
Gauthier, Leon, La Theorie d'ibn Rochd (Averroes) sur les rapports de
la religion et de la philosophie. Paris, Leroux 1909. (Publications de
l'ecole des lettres d' Alger. Tome XLI.) 195 S.
Während Averroes für die Entwicklung der Philosophie innerhalb des
Islam fast ohne Bedeutung geblieben ist, hat er auf die christliche Philo-
sophie einen tief eingreifenden Einfluß ausgeübt. In dieser Hinsicht verdiente
seine Gedankenwelt eine größere Beachtung, als ihr bisher zuteil geworden ist.
Diesem Mangel will Gauthier abhelfen, indem er einen zentralen Punkt des
averroistischen Denkens aufkläit, das Verhältnis des Averroes zur Religion,
das besonders in der Lehre von der doppelten Wahrheit geschichtliche Be-
deutmig erlangt hat. Averroes war durchaus nicht religiös indifferent, was
Renan zu beweisen versuchte, sondern tief religiös. Diese letzte Thesis unter-
stützt G. in verdienstvoller Weise durch viele Belege aus Texten des Averroes,
die in den letzten Jalu'en im Oriente erschienen sind. Averroes unterscheidet
scharf Theologie und Religion. W^enn er der ersteren -widerspricht, sucht er
einen Zusammenstoß der letzteren mit der Philosophie zu vermeiden. Er
würde dies für einen unberechtigten Übergriff der Philosophie halten. Eben-
sowenig ordnet er die Vernunft dem Glauben unter, was Mehren und Miguel
Asin gegen Renan behauptet haben. Beide Extreme sind zu vermeiden.
Averroes leugnet, so führt G. aus, die Mysterien und Wunder, wenn er zu
Philosophen redet, er nimmt sie symboUsch an, wenn er zu Ungebildeten
spricht. Den Theologen, die zwischen der ungebildeten Masse und den Philo-
sophen auf halbem Wege stehen bleiben, sollen die Philosophen nur die halbe
Wahrheit mitteilen, nicht den tieferen Sinn der religiösen Formeln,
Betrachten wir jedoch die averroistischen Lehren im ganzen seiner Welt-
anschauung, so ergibt sich eine viel weniger rationalistische Auffassung, als
sie G. dem Averroes beizulegen versucht.^) Jedes Ei kennen ist eine Emanation
^) Die eingehendere Widerlegung Gauthiers findet sich in M. Horten:
Texte zu dem Streite zwischsn Glauben und Wissen im Islam; Bomi 1913,
S. 20 u. oft.
Einige Druckfehler sind in dem Jahresberichte Bd. XII zu korrigieren.
S. 270, 8 unt.: Hogazade statt Hagzade. — 373, 9 unt.: 1565 statt 1566.
— 375: Der Schaichzäde, der einen Superkommentar zum Korankommentar
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 79
aus dem aktiven Intellekte auf den Menschen. Die prophetische Erkenntnis
ist eine besonders vollkommene Form derselben, in der Gott dem Menschen
Wahrheiten mitteilt, die für seine natürUche Vernunft absolut unerreichbar
sind, d. h. aus rein natürlichen Kräften (S. 151). Durch besonderen Einfluß
Gottes kann jedoch die natürliche Vernunft zu übernatürlichen Erkenntnissen
erhoben werden. Da nun der Prophet der ungebildeten Menge che Dogmen in
sinnlichen Formen darstellen muß, kami für das Gebiet aller natürlich erreich-
baren Wahrheiten die Philosophie zu einer tieferen Erkenntnis dieser Dogmen
gelangen. Dies ist jedoch keine rationalistische Korrektur der Offenbarung,
sondern der eigentliche Sinn, den der Prophet selbst hat ausdrücken woUen.
Der Philosoph schält nur che äußere, sinnliche Form der Darstellung ab, um
zu dem wahren Sinne der Offenbarung zu gelangen. Dabei (S. 109) muß er
aber vor allem festhalten, daß viele Aussprüche in der Offenbarung enthalten
sind, die eine philosophische Auslegung nicht gestatten. Dies gilt besonders
von den durch den consensus der Gemeinde anerkaimten .Sätzen. In jedem Falle
darf der Philosoph nie dasjenige leugnen, was er interpretieren soll. Die
Existenz der religiösen Grundwahrheiten gilt auch für ihn als selbstver stand -
Hche Voraussetzung. Trotzdem kaim man den Averroes nicht als einen Fide-
lsten bezeichnen. Sein Verdienst ist es, die philosophische Interpretation der
Dogmen in weitem Sinne geübt zu haben. Wenn er sich ebensowenig wie
A-^-icenna und Farabi von der Illusion einer Offenbarung hat freimachen köimen,
so hegt dies darin, daß che Offenbarung einen wesentlichen Bestandteil seines
Weltbildes ausmacht. Die himmlische Welt besitzt in einem höheren Sinne
das Sein und che VoUkommenheit als die sublunarische. Auf die sublunarische
strömen von der himmlischen che W^esensformen und Erkemitnisformen her-
nieder. Durch eine möghchst intensive Vereinigung mit dem aktiven In-
tellekte und eine proportionierte Abstreifung des Materiellen (neuplatonische
und buddhistische Vorstellungen) erlangt der Mensch seine höchste Voll-
kommenheit. In einem solchen mystischen Weltbilde ist für einen eigentlichen,
gesunden Rationalismus kein Raum.^)
des Baidewi (Br. I 275 No. 12) schrieb, ist wohl von diesem Autor zu
unterscheiden. — 281, 9 unt.: miu-aggib statt murgih. Die beiden Mög-
lichkeiten, zwischen denen das Ding schwankt, sind Sein und Nichtsein.
Mit taragguh bezeichnet man vielfach das xu'sachlose Hervortreten emes
Dinges aus dem Nichts, eine unmöghche VorsteUung. — 285, 19: Der Körper
ist eine in sich bestehende Substanz, die das Substrat für Kontraria bilden
kann. — 397, 3: arsch und arschija. — 427, 9: Die Arbeit von Arminjan
ist seitdem in Buchform erschienen. — 388, 16: d'auteurs statt d'autres.
Herrn Professor Goldziher bin ich für manche freundhche Ratschläge
zum besten Dank verpflichtet. Daß die Besprechung einiger Werke etwas
verspätet kommt, hat darin seinen Grund, daß das Archiv für die Veröffent-
hchung dieses Jalu-esberichts, dessen Ms. bereits 1911 fertig war, erst jetzt
Raum gewinnen konnte.
1) Vgl. G. M. Manser, Das Verhältnis des Glaubens und Wissens bei
Averroes, Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie 1910 XXIV 4.
80 Horten,
Gauthier, Leon, Ibn Thofail, sa vie, ses oeuvrcs. Paris 1909. S. 123. gr. 8°.
Das Problem der Versöhniuig zwischen Glauben und Wissen ist im Islam
nie erloschen, seitdem die Kenntnis fremder Wissenschaft, sei es nun die von
Griechenland, Persien oder Indien, mit der Religion des Propheten in Beziehung
trat. Der Kampf der liberalen und orthodoxen Theologen bewegt sich seit
800 um diese Frage. Zur Zeit des ibn Tufail 1185 war dieses Problem durch den
Kampf ({azalis gegen die griechischen Lehren bestimmt. Eine Lösung ,die
nach beiden Seiten befriedigend sein sollte, wollte i. T. in seinem Romane:
Haij bn lakzan geben. Diese Schrift fällt in die populär-philosophische Lite-
ratiu*. Sie wendet sich an weitere Kreise und erhebt nicht den Anspruch auf
dieselbe Tiefe und Gründlichkeit der Spekulation wie die bekamiten Werke
Avicemias und Farabis. In derselben zeigt der Verf., daß sich Gazäli und
Avicenna d. h. der orthodoxe Islam und die griechische Philosophie, also das
Heidentum, vereinigen lassen. Der Prophet steht in intimer Verbindung mit
dem aktiven Intellekte der Mondsphäre und empfängt von demselben gött-
liche Inspirationen und tiefe Lehren, die er dem ungebildeten Volke in sinn-
lichen Symbolen darstellen muß, entsprechend der Psychologie eines nur in
materiellen Vorstellungsbildern sich bewegenden Denkens. Der Philosoph,
der in abstrakten Begriffen die reinen Wahrheiten erkennt, sieht in den Sym-
bolen des Propheten die wahren Gedanken, die Gott den Menschen offenbaren
wollte. Dem ungebildeten Volke darf man dieselben allerdings nicht mit-
teilen, weil dies nur Mißverständnisse hervorrufen könnte. Ebensowenig darf
der Philosoph geoffenbarte Wahrheiten leugnen, weil in ihnen tiefe Gedanken
verborgen sind.
Gauthier gibt eine eingehende Scliilderung des Lebens und der Tätig-
keit von i. T. und der Bibliographie seines Romans, dessen Ausgabe und Über-
setzung wir demselben Verf. verdanken (Alger 1900). In manchen Punkten
gelangt er zu schätzenswerten neuen Resultaten^).
Macdonald, Duncan B., The Religious Attitüde and Life in Islam;
Chicago 1909. S. 317. kl. 8°.
In der religiösen Kultur des Islam sind zwei große Gebiete zu unter-
scheiden: Religion und Theologie. Es ist das praktische religiöse Leben, das
der Verf. in diesem Bande unter Beibringung sehr interessanter Daten schildert,
und das die Szenerie für die philosophisch-theologiscen Bewegungen abgibt'^).
Dabei werden jedoch auch Fragen behandelt, die direkt in die Geschichte
der Philosophie gehören. Ibn Haldün 1406 kommt eingehend zm' Sprache
(seine Lehre von der Inspiration, dem Wunder, der Seele, dem Weltbild als
^) Andere Besprechungen: v. Horten, Orientalistische Literaturzeitung
1910 Nr. 10 Sp. 441; von demselben. Theologische Literatm'zeitung 1910
Nr. 19 Sp. 594; Goldziher, Deutsche Literaturzeitung 1910 Nr. 42 Sp. 2641.
-) Die theologischen Richtungen schilderte der Verfasser in seinem 1903
in New York erschienenen Buche: Developement of muslim Theology, Juris-
prudence and Constitutional Theory. Eine Bespi'echung des obigen Werkes
ist von J. O. Boyd in Princeton Theological Review 1910 VIII 2 erschienen.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 81
ganzem, der Astrologie, dem Traume, dem Lebensgeiste, der Besessenheit,
den Gespenstern, dem Aszetismus, der Metaphysik, der Mystik), ebenso
Gazäli (sein Suchen nach letzten Wahrheiten, Bekämpfung des Skeptizismus),
Beruni, ihn Hailikän, Aschari, Averroes, ihn al Arabi, Scharani und besonders
die mystische Richtung (Theorien der Sufis und Lebensführung von Heiligen,
die übernatürlichen Quellen des menschlichen Erkennens, die mystische Ver-
einigung mit Gott, Pantheismus). Vor allem treten in den gewöhnlichen und
außergewöhnlichen Erscheinungen (Extase, hypnotische und suggestive Er-
lebnisse) indische Einflüsse mit voller Deutlichkeit hervor.
Das Werk ist berufen, durch seine klaren Ausführungen und seine große
Fülle an Material in weiteren Kreisen Interesse für die islamische Kultur zu
erwecken.
Horten, Dr. Max, Die philosophischen Probleme der spekulativen Theo-
logie im Islam. (VIII, 284 S.)
Die spekulativ-theologischen Bestrebungen im Islam stellen die Formen
dar, in denen der Islam sich eine höhere Geisteskultur zu assimilieren bemühte.
Für die höhere Geisteskultur des Islam sind dieselben von nicht zu unter-
schätzender Bedeutung. Sie zeigen uns die gewaltigen Kämpfe, die hervor-
ragende Geister der arabisch sprechenden Kulturwelt durchzukämpfen hatten,
um die ihnen dm'ch den Koran gegebene Weltanschauung entsprechend dem
geistigen Niveau ihrer Zeit weiter zu entwickeln und zu veredeln. Diese
Kämpfe sind im einzelnen bisher noch völlig unbekannt geblieben. Die Auf-
gabe der Kulturgeschichte des Islam und der Geschichte seiner Philosophie
besteht also darin, zunächst die Gedankenwelt im allgemeinen -I. h. die Fülle
der Probleme und ihre Lösungsversuche zu schildern und dann die Systeme
im einzelnen zur Darstellung zu bringen. Die erste Aufgabe löst das vorUegende
Werk, indem es die einschlägigen Ausführungen des Murtada 1437, des be-
deutendsten Historikers der islamischen Theologie, in systematischer Zusammen-
stellung übersetzt und in schwierigen Punkten erläutert. Der Wert des Buches
besteht also darin, daß es wichtige, erstklassige Quellen zum ersten-
mal allgemein zugänglich macht, an die sich eine spätere Gesamt-
darstellung anzuschUeßen hat. Als Resultat dieser Pionierarbeit sei vor allem
hervorgehoben, daß neben den griechischen vor allem indische Gedanken
(Lehre von der Realität des Nichtseienden, von der Momentaneität des Seins,
von dem Inhärenzverhältnis usw.) einen bedeutenden Einschlag der theo-
logischen Gedankenwelt von 700 — 1200 besonders in Basra, aber auch in
Bagdad, das im allgemeinen mehr griechisch denkt, bilden.
Ebenso wie den Verfasser wird manchen Leser die große Reichhaltigkeit
der Probleme überraschen. Die spekulativen Theologen des Islam — ihre
hberale Richtung kommt hauptsächHch zu Wort — strebten nicht etwa nur
danach, theologische Begriffe klarzustellen. Ihre Absicht ist, ein vollständiges
philosophisches System zu geben. Alle Fragen des zeitgenössischen Wissens
müssen wenigstens gestreift werden. Ihre Weltanschauung kann daher auch
aus diesem Grunde den Anspruch erheben, in die Geschichte der Philosophie
eingereiht zu werden. Die Lehre über die Körper wird eingehend erörtert
Archiv für Gesohiclite der PhilosopMe. XXVIII. 1. 6
82 Horten,
(die Atome, die zusammengesetzten Körper, ihre Eigenschaften, die Natur-
kräfte, der Kreislauf des Kosmos), daneben auch die von dem Lebensprinzipe
und der sinnlichen Eikenntnis (Sehen, Hören usw.). Der Blick des musli-
mischen Theologen ist also der realen Welt durchaus nicht abgewandt, sich
in metaphysische Konstruktionen einspinnend. Die metaphysischen Probleme
bilden jedoch den wichtigsten und ausgedehntesten Teil des Systems.
Die Aufgaben der Geschichte der Philosophie im Islam bestehen zimächst
in der Ausgrabvmg und Klarstellung der wichtigsten Tatsachen, sodarm in
deren gesetzmäßiger Verknüpfung. Die Jahrhunderte nach 1100 werden sich
aber kaum so reich an Überraschungen erweisen, wie die Frühzeit der isla-
mischen Philosophie, die dm'ch die spekulativen Theologen von 700 — 1100
vertreten ist und deren Gedanken das vorliegende Buch schildert. In der späteren
Zeit ist das indische Element, soweit sich dies nach den Stationen des Igi be-
m'teilen läßt, diurch das aristotelisch -neuplatonische verdrängt worden.
Bunter und wechselvoller waren die Gedankenbildungen der älteren Zeit,
die den kindhchen Zug einer anfangenden Bewegung, die ohne Erfahrung
das Neue hastig annimmt, deutlicher an sich trägt^).
Horten, Dr. Max, Die philosophischen Ansichten von Räzi 1210 t und
Tusi 1273 t- Aus den Originalquellen übersetzt und erläutert.
Die philosophischen Bewegungen im Islam nach Gazäli 1111 f sind noch
völUg imbekannt. Ja, es hat sogar die Vorstellung geherrscht, seit dem
XII. Jahrhundert sei das philosophische Geistesleben aus dem Islam ganz
geschwunden. Für die Kenntnis der arabischen Kultur, Geschichte, Religion,
Weltanschauung und Sprache dieser Periode ist es daher erforderlich, daß
ihre wissenschaftliche, besonders philosophische Literatvu* bekannt werde.
Zu ihr gehören nicht in letzter Linie die spekulativ-theologischen Arbeiten.
Razi 1210 t> genamit der König der Disputatoren, bekannt als Kommentator
Avicemias, ist unbestritten der füluende Geist jener Epoche. Er wurde 1149
zu Rai als Sohn eines Predigers geboren, erhielt seine Ausbildung dort, in
Tebriz und Maraga, machte Reisen durch Hwarizm und Transoxanien, um
als Lehrer und Prediger in seine Vaterstadt zurückzukehren und sich später
in Herät niederzulassen. Die Anzahl seiner Schriften ist eine gewaltige. In
ihnen bekundet er seine eingehende Keimtnis des gesamten Wissens seiner
Zeit. Besonders an der griechischen, aber auch an der indischen Philosophie
(Realität des Nichtseienden — System der Vaischesika) versucht er die Schärfe
seiner Kritik, die dvuch eine extrem -realistische Erkemitnistheorie bestimmt
ist. Auf diesen wunden Punkt weist mit Scharfsimi der große Kiitiker Räzis,
Tusi 1273 t> ein Zeitgenosse von Thomas von Aquin, hin. Daher ist dessen
System eine erwünschte Ergänzung der Gedankenwelt Razis.
Tusi wurde 1210 in Tus geboren. Er bildete sich zu einem allseitigen
Gelehrten aus, betätigte sich aber besonders als Astronom und Erbauer
und Verwalter einer Sternwarte in Maraga. Die Trigonometrie hat er als erster
1) Ibn Kils (S. 131) ist Empedokles, briefliche Äfitteilung Prof. Gold-
zihers, für die ich ihm bestens danke.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 83
als eine besondere Wissenschaft bearbeitet. Den Mongolenchan Hulägu 1264 i'
begleitete er auf dessen Kriegszügen, was ihm die Gelegenheit bot, sich aus
den erbeuteten Bücherschätzen eine große Bibliothek zu sammeln.
Die vorliegende Schrift besteht aus direkten Übersetzungen arabischer
Originale, die ein Bild von der Ausdehnung und Tiefe der Philosophie von
Razi und Tusi, der Fülle ihrer Probleme und Schärfe von deren Behandlung
geben sollen. Dem Werke ist ein Anhang hinzugefügt, der die griechischen
Pliilosophen in der Gedankenwelt von Razi und Tusi nach den Originalquellen
schildert.
Eingehend werden besonders behandelt die Proprietäten des Kontingenten,
das Xichtseiende, die Seinsweisen, Einheit und Vielheit, Wesenheit und Ak-
zidens, die Zeit, das Kausalproblem (Versuch einer Begründung des Kausal-
gesetzes), der Denkvorgang, Wollen und Handeln, Wille und Widerwille, die
Gefühle, die konstituierenden Bestandteile der Körper und ihre Bestimmungen.
Interessant ist vor allem die Lehre von den angeborenen Ideen, die Tusi sich
wohl als unbewußt im Geiste ruhende Dispositionen denkt. Im Vergleiche
zu der liberal-theologischen Bewegung bis 1050 bedeutet die spekulative
Theologie der späteren Zeit ein Vordringen der griechischen Gedankenwelt
und eine gründlichere Schulung im philosophischen Denken, die besonders
durch die aristotelische Logik herbeigfeührt wurde. Wie bedeutend Razi
war, geht auch daraus hervor, daß Igi 1355 seine Ansichten zitiert und kriti-
siert, sich in vielen Punkten (z. B. der Lehre von den Sinnestäuschungen)
enge an ihn anschließt '^). Einer gleichen Schätzinig Razis begegnen -nir bei
den Kommentatoren Igis: Gm-gäm 1113 f, Fanäri 1481 f und Sijalküti 1656 f-
Horten, Dr. Max, Die Philosophie des abu Raschid (um 1068). Aus dem
Arabischen übersetzt und erläutert. Bonn 1910.
Abu Raschid bedeutet den Abschluß der liberal-theologischen Bewegung
im Islam. Er ist der große Schüler des Abdalgabbär 1024 f, des bekannten
Historikers jener kultm-historisch so bedeutsamen Richtmig. Seit den Tagen
des Lehrers Hasan von Basra 728 f hatten diejenigen theologisch-philosophischen
Diskussionen eine lange, vielgestaltige Entwicklung ziu-ückgelegt, die eine
freisinnigere Auffassung der islamischen Dogmen erstrebten und dem je-
weiligen Stande des Wissens gerecht zu werden bemüht waren. Die Schule
von Basra zeigt in diesem Kampfe eine in manchen Punkten grellere indische
Färbung als die von Bagdad, die mehr griechisch denkt. Abu Raschid
vertritt am Ende eines länger als 300 Jahre dauernden Ringens die Traditionen
der Schule von Basra gegen die Angriffe der Bagdadenser. In seiner Gedanken-
welt beobachten wir also die Eigenart der Schule von Basra und das Zu-
sammenstrahlen indischer und griechischer Kultureinflüsse zu einem eigen-
artigen Gesamtbilde. Wegen dieser Bedeutung der Schrift des abu Raschid,
die den Titel trägt : „Die Probleme betreffs der Meinungsverschiedenheiten der
Schulen von Basra mid Bagdad", wurde sie bereits in den Kreis des Interesses
^) Forkm'nus ist PorphjTius (Verschreibung), eine dankenswerte Be-
richtigung, die mir Herr Lokotsch zukommen ließ.
6*
84 Horten,
der Orientalisten hineingezogen. Arthur Birani gab den ersten Teil derselben
(Leiden 1902) heraus. Es ist ihm jedoch nicht gelungen, die schwierigeren
Stellen derselben zu übersetzen. Die vorliegende Arbeit gibt eine zum Teil
wörtliche, zum Teil abkürzende Übersetzung der von Biram nicht berück-
sichtigten Teile und zugleich eine Ergänzung und Korrektur seiner Über-
setzungsversuche. Auf diese Weise wird also nunmehr die ganze Schrift
des abu Raschid, die einzige, die uns von ihm erhalten ist und zugleich die
wichtigste direkte Quelle über die spekulativ-theologischen Bewegungen
im Islam, den Nichtorientalisten in einer Übersetzung des Berliner Unikums
(Glas. 12), das leider fragmentarisch ist, dargeboten. Der erste Teil, der eine
systematische Zusammenstellung der Lehren des abu Raschid enthält, dient
als einleitende Orientierung.
Beachtenswert ist abu Raschid ferner als Zeitgenosse Avicennas 1037 f-
Als die liberal-theologische Bewegung ihre letzte Blüte trieb und die letzte
Kraftanstrengung machte, war ihr bereits durch Avicenna, der in der rein
griechischen Strömung sich bewegend eine tiefere Wissenschaft vertrat, das
Grab gegraben. Es war der griechischen Gedankenw"elt ein Leichtes, das
Kartenhaus der naiv-eklektischen liberalen Theologie des Islam zimi Zusammen-
sturz zu bringen. Auch in dieser Beziehung , d. h. in dem Kampfe gegen
das Eindringen der als heidnisch empfundenen griechischen Philosophie be-
zeichnet abu Raschid einen Grenzstein. Nach ihm hält Avicemia ungestört
seinen Einzug in die islamische Philosophie, das Entwicklungsgesetz be-
stätigend, daß eine höhere Stufe der Erkeimtnis auf die Dauer nicht von einer
niederen in ihrem Siegeszuge aufgehalt werden kann^).
Farabi, Eine Sammlung von Schriften, herausgeg. von Haiabi (Badraddin,
Muhammad) mit Unterstützung von Gamali (Ahmad) und Hänigi.
Kairo 1907. S. 175.
Das Interesse des Islam ist nicht nur der modernen Kultur, sondern auch
seiner eigenen Vergangenheit zugewandt. Dieses Streben hat es bewirkt, daß
der Orient uns in den letzten Jalu-en mehrere schätzenswerte Veröffentlichungen
seiner Klassiker beschert hat. Dabei ist es jedoch zu bedauern, daß der Islam
aus seiner mittelalterlichen Literatur vielfach eine für die Jetztzeit noch
gültige Weisheit zu schöpfen sucht. Dieses liegt in dem Kommentare vor,
den Hälabi zu den Ringsteinen Earabis schrieb und der in der vorliegenden
Sammlung veröffentlicht wurde. Haiabi lebt zm-zeit in Aleppo (geb. angebl.
1875), studierte in der Universität Alazhar zu Kairo und schrieb eine Kritik
^) Den folgenden Jahrhunderten ist abu Raschid fast unbekannt. Räzi
(Muhassal) zitiert ihn nicht. Igi und seinen Kommentatoren CJurgäni 1413 "j"
Fanari 1481 t und Sijalkuti 1666 f sind nur die bekannteren liberalen Theologen
zwischen 900 — 950 hauptsächlich geläufig. Murtada 1437 t zitiert ihn jedoch
noch elfmal (vgl. meine Schrift: Die philosophischen Probleme). Die sich
in den späteren Jahrhunderten als liberale Theologen bozeichnende Richtung
ist von der älteren gleichnamigen zu unterscheiden. Sie weist bereits
stärkere griechische Einflüsse auf.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 85
der dort herrschenden Methode, die großes Aufsehen erregte. In dem Kom-
mentare zu den Ringsteinen (S. 115 — 175) bewegt er sich in durchaus mittel-
alterlichen Vorstellungen, die von jeder tiefer gehenden Kritik frei sind.^) In
die Gedanken Faräbis 950 1 ist er vollkommen eingedrungen und beweist
dadurch, daß auch heute noch das Verständnis der Philosophie des zehnten
Jahihunderts und mit ihr der griechischen Denkweise nicht erloschen ist.
Vielfach geht er in seinen Erläuterungen auf Avicenna zurück-).
Dem Sammelbande gehen drei Vorworte voraus. Das erste handelt über
Farabi und stellt Daten aus historischen Quellen der Araber zusammen, die
zweite über Plato, die dritte über Aristoteles, die sich beide auf europäische
Vorarbeiten stützen. An diese reihen sich die von Dieterici bereits veröffent-
lichten Schriften Farabis an: 1. Die Vereinigung zwischen Aristoteles und
Plato; 2. der Zweck, den Aristoteles in seiner Metaphj'sik verfolgt; 3. die Be-
deutungen des Wortes Verstand; 4. die Vorbereitung zum Studium der Philo-
sophie; 5. die Hauptprobleme; 6. die Kritik der Astrologie; 7. Philosophische
Fragen und Antworten (bis S. 113). Der Text ist durchgängig korrekt und
deutlich. Neues bringt diese Veröffentlichung also, abgesehen von dem be-
achtenswerten Kommentare des Haläbi, nicht. Sie ist ein Zeugnis für die Eigen-
art der modernen, philosophischen Interessen im Islam.
Schiräzi^) 1310 t. Kommentar zu Suhrawardi 1191 1> „Die Philosophie der
Erleuchtung", Lithographie. Teheran 1313 — ^15=18. 565 S. 4°.
Suhrawardi, der ,, Leitstern der Mystiker", hat durch seine Lebenswerke
,,Die Philosophie der Erleuchtung" und ,,Die Tempel des Lichtes" eine eigen-
artige Auffassung der Philosophie entworfen und eine große Schule -.on Mystikern
begründet, die bis in die spätere Zeit bedeutende Philosophen zu ihren An-
^) Die Ausführungen sind wörtlich identisch mit dem Kommentare des
Farani zu Farabi (vgl. Horten: Ringsteine Farabis).
-) Haiabi (abu Firäs) ist ferner durch einen Kommentar zu den Muallakät
(Perlenschnüre, altarabischen Gedichten) bekannt, der den stolzen Titel trägt:
„Das Höchste, was Araber erreichen können (finis ultimus) in Kommentaren
über die Muallakät" (nihdjat alarab min scharh muallakät alarab). Kairo
1906. 8°. 231 S.
Faräbis philosophische Abhandlungen, die Fr. Dieterici 1890 in Leiden
di-ucken ließ, erschienen 1907 in Kairo (103 S. kl. 8°) ohne Angabe dieser
Quelle unter dem irreleitenden Titel: Die Versöhnung zwischen Plato und
Aristoteles, eine Abhandlung Faräbis. Diese bildet jedoch nur die erste der
bekannten acht Schriften des ,, zweiten Lehrmeisters". Beigefügt ist der
auch von Dieterici veröffentlichte Auszug aiis Kifti über Farabi.
^) Mahmud bn Mesüd bn müslih Kutbeddin elfaukäni (der obere Polar-
stern der Religion", im Gegensatze zu dem ,, unteren Polarstern der Religion",
Räzi 1364 t Br. I 466 Nr. 26, 1; 437; II 211f. u. Carra de Vanx Journal
asiatique 1902; jan\-ier: La philosophie illuminative) befaßte sich mit Medizin
(Kommentar zu Avicenna, Die allgemeinen Gnindsätze des Kanon der Heil-
kunde), Koranexegese, Philosophie, Mystik und besonders Astronomie.
86 Horten,
hängern zählt, wie es die zahlreichen Kommentare und die vielfachen Zitate
in der späteren philosophischen Literatur (z. B. bei Farüki 1745 f) erweisen.
Daß diese Mystik eine Weiterbildung der Philosophie bedeutet, zeigt Suhra-
wärdi in der Einleitung, indem er den Leser für weitere Untersuchungen ver-
weist auf 1. Avicenna, „Die Genesung der Seele" und 2. ,,Die Erlösung vom
Irrtum" (ennagat), 3. ,,Die Unterhaltungen (elmutarahät)^), 4. ,,Die Er-
klärungen" (ettalwihat Br. I 437 Nr. 2) von Suhrawärdi selbst. Seine Mystik
teilt er in zwei Teile: I. ,,Die Regeln des Verstandes" (dawäbit elfikr, Logik).
Durch dieselben ,, soll der richtige Gedanke vom falschen unterschieden werden"
in: 1. der Definition, 2. dem Beweise und seinen Prinzipien und 3. der Wider-
legmig der Sophismen. In diesem Sinne wird behandelt: 1. die Bedeutungen
der Worte, 2. Begriffsbildung und Aussage, 3. die Wesenheiten der Dinge,
4. der Unterschied zwischen wesenhaften und äußeren Akzidenzien, 5. das
Universelle existiert nicht in der Außenwelt, ist nm- ein ens rationis, 6. die
Gesetze der richtigen Definition, 7. die Arten des Urteils und ihre Konversion,
8. der Syllogismus, 9. das Analogon, 10. die Materie der demonstrativen
Syllogismen, 11. Kritik einiger Grundsätze der Peripatetiker (Verhältnis
von Wesenheit und Dasein, ob real oder nur logisch verschieden; Definition
des Körpers entweder als Ausdehnung, die aufnahmefähig ist für die drei
Dimensionen, oder als Substanz, die entsteht aus der Zusammensetzung von
Form und Materie, das sich Verdichten und Verflüchtigen der Körper; die
Unsterblichkeit der Seele, die platonischen Ideen; das Einfache kann Ausgangs-
punkt für das Zusammengesetzte sein usw.). Den Schluß bilden Ausführungen
über die Objekte der Sirmeswahrnehmung, bes. die Natur der Strahlen, die
„nicht etwas Körperliches sein kömien", und das Eine und Viele. Der II. Teil
ist betitelt: die göttlichen Lichter und bespricht: 1. die Definition der ersten
Evidenz, 2. das Licht und die Finsternis, die identifiziert werden mit Geist
und Materie, 3. die Verschiedenheit der Dinge, die gemessen wird nach der
größeren oder geringeren VoUkommenheit, nicht nach den Arten, wie es
philosophische Lehre ist, 4. Gottesbeweise (Gott ist das erste Licht, dessen
Ausstrahlungen die Geister und Körper sind), 5. Einheit Gottes, 6. die Ordnung
des Seins: Aus Gott geht zunächst nur ,,eine" Wirkung hervor, da Er seinem
Wesen nach „einer" ist. Die Vielheit der Geschöpfe erklärt sich durch
die Vermittelungen und aufnehmenden, passiven Momente der Emanation),
7. die niederen Geschöpfe, d. h. die mit Finsternis gemischten Parüzipationen
des reinen Lichtes, streben im Kreislaufe des Kosmos, zum höheren Lichte
zm'ückzugelangen, 8. Ausgangspunkt der ,, Erleuchtung" ist das Wissen Gottes,
9. das Unvollkommene setzt die Existenz des Vollkommenen voraus. 10. der
Geist, d. h. das Licht, hat eine unbegrenzte Schaffenskraft, 11. die Welt ist
ewig, daß das Ausströmen des Lichte? anfangslos und (in seinem Verlaufe)
zeitlos ist. Ewig ist dann auch die Zeit. Aus der Gleichsetzung von Licht,
reinem Sein und Geist konstruiert sich Suh. sein phantastisches Weltbild,
1) Dieses sonst unbekannte Werk ist nach Ausweis von Schirazi, ,,Die
^^er Reisen", fol. 107 b. 11 eine Sclmft des Schaich alischrak, des Meisters
der Philosophie der Erleuchtung, Suliraw^ärdis.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 87
das er bis zum Pantheismus durchführt. Alle Wissenschaften nimmt er in
seine Mystik auf (nach dem Vorbild der PMlosophen; Pliilosophie ist Enzyklo-
pädie aller Wissenschaften) .und bildet sie in seinem Sinne um, vielfach unter
heftigem Widerspruch gegen die „Peripatetiker", jedoch so, daß die Elemente
und Argumentationsweisen seiner Philosophie durchaus aristotehsch (und
platonisch) sind. Den Schluß bildet eine mystische Ethik^) und die Lehre
über das Leben nach dem Tode in der Welt des reinen Lichtes. Zur Herstellung
des Grundtextes hat Schiräzi sich melu-erer Handschriften bedient und führt
aus ihnen die Varianten an. Er folgt in allem dem Gnmdtexte und führt die
einzelnen Probleme mit einer ausgedehnten Kenntnis der philosophischen
Literatiu- weiter aus. Es werden zitiert: 1. Agathodemon (Agäthädimün),
Hermes Trismegistos Agathokles Empedokles (Anbaduklas sie !), Pj^thagoras,
Sokrates, Plato, Aristoteles; 2. \-iele „gelehrte Perser", imter denen Religions-
stifter und Könige figurieren; 3. Farabi, Avicenna (seine Schriften werden
einzeln genannt und häufig zitiert); 4. Asklepios; 5. in den späteren Rand-
glossen Dauwäni 1501 f» Gurgäni 1413 t, Räzi 1210 j, Ibn al Arabi usw.
Die ZugängUchmachung dieser Schrift in ihren wichtigsten Thesen findet
sich in: Horten, Die Philosophie der Erleuchtung nach Suhrawards;
Halle 1912.
Xablusi 1730, Kommentar zu ibn el-Arabi 1240t. j>Die Edelsteine der
Weisheitssprüche". Am Rande: Gämi 1492 t, Kommentar zu dem-
selben Werke. Kairo 1304 = 1887. 2 Teile. 200 + 347 S. 4".
Es sind drei bedeutende Mystiker, deren Lelu-en in diesem Bande ver-
einigt sind (Br. I 441; II 207 und 437). Von Xäblusi sind 85, von Arabi 150
Werke bekamit. Der Inlialt obiger Schriften enthält das ganze System der
Mystiker, jedoch nicht systematisch geordnet, sondern gelegentlich ein-
gestreut, wie es der Gang der Darstellung erfordert. Da die Ansichten der
Kommentatoren von Konawi 1274 (fukük elfusiis, Enträtselung der Weisheits-
sprüche) bis ins 18. Jahrh. hier zusammengestellt sind, ist das Material für
eine Geschichte der Schule Arabis hier geboten.
^) Die mystischen Stufen sind: Sinneserkenntnis, animalische Erkenntnis
(innere Sinne), Geist, Gott. Eine Notiz d. 15 besagt: Suhrawardi begann „die
Blicke in die Wesenheiten" (Br. Xr. 4) und ,,die Erklärungen" (Br. Xr. 2) vor
der „Philosophie der Erleuchtmig". Vor der Vollendung jener beiden Schriften
begann er aber diese letzte. Dann wurde er am Abschlüsse der letzten
gehindert imd vollendete in der Zwischenzeit die beiden ersten Schriften, dann
erst die letzte.
-) MoUa Abderrahmän el-Gami. Als Jahr des Druckes ist am Schlüsse
1323 = 1905 angegeben. Der Kommentar von Sufijewi 1553 t (Bali Halife
Efendi as-Sufijewi, Br. I 442 Xr. 12 h) erschien in Konstantinopel 1303 = 1886.
Eine Analyse des Werkes von Arabi findte sich in C. de Vaux, Gazäli (Paris
1902) S. 259 ff.
88 Horten,
Priedläudcr, Israel, Vh. D.: The Heterodoxics of the 8hiites accoiding
to ibn Hazm. Introduction, translation and commentary. New Haven
1909. 80 und 182 S.
Diese philologische Detailuntersuchung und Matcrialsammlung für die
Geschichte der Schiiten hat insofern für die Geschichte der Philosophie In-
teresse, als die liberalen Theologen des Islam, deren Systeme als philosophische
bezeichnet werden müssen, zum großen Teile Schiiten waren, und ferner die
schiitischen Lehren vielfach Gedankenbildungen aufweisen, die ein Streiflicht
auf philosophische Systeme werfen. Hier sind zu nennen: 1. die zoroastrische
Lehre vom Lichte, die unter der Form, daß in Adam, Muhammed, Ali und
den Imamen eine besondere Lichtsubstanz sich fortpflanze, in den Islam
übergegangen ist; 2. die buddhistische Lehre von der Seelenwanderung und
der Kette von Existenzen, die der Iman (Buddha) zu durchwandern habe;
3. die Lehre von der Inkarnation der Gottheit in den Imamen, in der sich in-
dische (Brahma-Philosophie), altorientalische (Göttlichkeit der Könige) und
christliche Gedanken verbinden.
Prof. J. Goldziher untersucht in der Zeitschr. f. Assyriologie Bd. XXII
S. 317 — 344 die neuplatonischen und gnostischen Elemente in den mündlichen
Traditionen (Hadit), die auf den Propheten zurückgeführt werden. Ihre Ge-
danken spiegeln die Zeit kurz nach 800 wieder, als eine stark neuplatonische
(z. B. Muammar ca. 850) und speziell plotinische Richtung (Theologie des
Aristoteles von Naima ca. 835) herrschte. Die hier inFrage kommenden ,, Sprüche
der Propheten" betreffen den Weltintellekt, die erste Emanation Gottes
und das Wirken Gottes auf die Welt, das nur durch Vermittelung dieses Nus,
nicht unvermittelt stattfindet^). Einen anonjmien Traktat zur Attributen-
lehre veröffentlicht derselbe in der Festschrift zum 70. Geburtstage A. Harkavys
(Budapest 1909) und zeigt dadurch wiederum, wie die mutazilitische Denk-
weise auf jüdische Kreise (viell. in MesojJotamien gegen 1050) eingewirkt hat.
In die philosophische Bewegung greifen auch die verschiedenen islamischen
Orden ein. Im Derwischtume verkörpern sich bestimmte Lehren über Welt
und Menschenleben, die ein besonderes Interesse beanspruchen dürfen, so
leben z. B. in dem Orden der Bektaschijje, wie Professor Georg Jacob (Abhandl.
^) Den S. 319 angeführten Spruch nahmen Ibn Hai't ca. 860 und Hadati
(Fadl) ca. 860, zwei Schüler des Nazzani ca. 845 nach Schahrastani 44, 4 als
wahre Tradition des Propheten an. Der erste Verstand wird hier identifiziert mit
dem aktiven Intellekte, „von dem die Wesensformen auf die Weltdinge ema-
nieren." Das erste, was Gott erschaffen hat, ist der Intellekt. Gott sprach,
wende mir deine Vorderseite zu ! — (akbil) — er tat es — , wende mir deine
Rückseite zu (adbir) — er tat es (Nachdem Gott ihn so von allen Seiten be-
trachtet hatte) rief er aus: Wahrlich, bei meiner Macht und Majestät! kein
schöneres Geschöpf habe ich geschaffen als dich. Durch dich werde ich geehrt
und verachtet usw. Der Nus ist also der Gott, den die Konfessionen als Allah
verehren. Der höchst Gott ist für die Geschöpfe unnahbar.
Jahresbericht über die Philosopliie im Islam. 89
d. K. Bayer. Akademie der Wiss. I. Kl. XXIV Bd. III. Abt. 1909) nachweist,
cliristliche, indische, gnostische und vorchristliche Lehren fort. Die in ihren
Wurzeln altorientalische Jdee des Makrokosmos, dem der Mikrokosmos ent-
spricht (das Erdenbild und in ihm der Mensch ist dem Himmelsbilde parallel)
wird mit kabbalistischem Apparate im hurufischen Systeme (Lehre von der
mystischen Bedeutung der Buchstaben) ausgeführt. Stark ist auch die Idee
des sich Versenkens in die Gottheit ausgesprochen. Mit der Flucht aus der
Welt der Similichkeit (S. 18,4) schwindet das Ich (Benlik, Ichheit), die eigene
Individualität und die Vielheit der mateiiellen Einzeldinge. Dei Mensch steht
dann also nicht mehr als selbständige Einheit der Vielheit der Weltdinge
gegenüber, sondern alles löst sich in eine Einheit auf, indem che differen-
zierenden und individualisierenden Momente fallen, und nm- das Universelle,
letzthin das absolute Sein, die Gottheit, als letzte Einheit bestehen
bleibt. Neuplatonische und indische Ideen sind hier vereinigt. Die für die
Geschichte der Philosophie sehr wichtige Veröffentlichung eines größeren
Quellenmaterials, in dem die Welt- und Lebensanschauung der islamischen
Mönche im einzelnen zur Darstellung kommt, wird von Professor Jacob,
Dr. Tschudi und Huart vorbereitet und, wie ich nach privaten Mitteilungen
sagen kann, manche Überraschungen bieten. Ohne eine genaue Darlegung dieser
philosophischen Ideen wird das Derwischtum unverständlich bleiben; denn
es entnimmt aus jenen Ideen die Motive für seine Observanzen und Handlungs-
weisen.
Beziehungen zur Philosophie im Islam finden sich in dem von Zobel,
Dr. Moritz, veröffentlichten Teile eines anonymen Kommentais zu Maimonides
(Breslau 1910). Er gehört der späteren Zeit an (Firuzabädi: Lexikon wird
zitiert, also frühestens XV. Jalirhundert) und stammt aus Südarabien. Dem
jüdischen Verfasser sind die Lehren der Aschariten und ihrer Gegner über die
Eigenschaften Gottes bekannt. Im einzelnen erwähnt er che Modustheorie
des Abu Häschim (S. 58). Die Theorien der liberalen Theologen des Islam
haben also eine solche Wirkung ausgeübt, daß ihr Wiederhall noch im XV. Jahr-
hundert in Südarabien und zwar außerhalb des Islams, in jüdischen Kreisen,
vernehmbar ist. Für die Bedeutung und Tragweite, die man der höheren
Geisteskultur des Islam beizulegen hat, ist diese Tatsache sehr lehrreich.
Es sind keine toten Theorien, die che Theologen und Philosophen der Re-
ligion der Propheten ausgesonnen haben. Ihre Gedanken haben Lebenskr-aft
entfaltet und sind Jahrhunderte hindurch in die geistige Welt vieler Tausende
und zwar der geistig am höchst Stehenden mit belebender Kraft eingedrungen.
Der große Vermittler dieser Lehren ist Maimonides, dessen große Bedeutung
für die Kulturgeschichte dru-ch eine Veröffenthchung der ungezählten, sich
an ihn anschließenden Kommentare in noch klareres Licht treten würde.
Unter den phUosophischen Gedanken dieser sehr anerkennenswerten Arbeiten,
(vgl. meine Besprechung in der Deutschen Literaturzeitung 1910 Nr. 37)
seien erwähnt: 1. Das erste der Akzidenzien ist die Qualität (nicht die Quan-
tität; S. 59). 2. Alles, was Gott in gleiche Linie mit den Geschöpfen stellt,
ist von ihm ferire zu halten — eines der Hauptprobleme der islamischen Theo-
90 Horten,
logie, das der Kommentator mit denselben Termini behandelt, die den isla-
mischen Theologen geläufig sind. 3. Wenn wir sagen, Gott ist Einer, so be-
zeichnen wir mit Einheit die untologische d. h. seine Substanz selbst (S. 70).
4. Der Himmel ist ein lebender Körpei (S. 71).
Graf, Dr. Georg: Die Philosophie und Gotteslelire des Jahja ibn' x4.di und
späterer Autoren; Münster 1910 in: Texte und Untersuchungen. Bei-
träge zur Geschichte der Philosojihie des Mittelalters.
In eine von den islamischen Philosophen bis zu einem gewissen Grade
abhängige Gedankenwelt führt uns die Philosophie des Jahja bn' Adi 974 f,
eines Schülers von Faräbi (Brockelm. I 207 Nr. 10). Seine Absicht war es,
das Christentum gegen Angriffe muslimischer Philosophen, unter denen auch
Kindi auftritt, zu verteidigen. Zu betonen ist dabei die Selbstverständlich-
keit der Voraussetzung, daß er sich in derselben Gedankenwelt wie
seine Gegner aus dem Islam bewege. Für die gebildeten Kreise seiner Zeit
kam eben keine andere Philosophie als der in neuplatonischem Sinne ver-
standene Aristotelismus in Frage. Indische und persische Ideen, die die isla-
mische Theologie um 850 und 900 beunruhigt hatten, waren überwunden oder
doch mit der heri sehenden hellenistischen Denkweise ausgeglichen worden.
Es ist demnach eine gemeinsame Weltanschauung, die Muslime und Christen
verbindet, und nwc in sekundären Punkten stellen sich Differenzen heraus.
Jahja ist ferner ein Beweis dafür, daß die spekulativen Theolcgen auch in
die Reihen der Philosophen einzugliedexn sind ^). Sind es doch gerade theo-
logische Fragen, die zur Präzisierung einiger metaphysischer Begriffe führen
z. B. der Einheit (S. 20) und Vielheit, Substanz, Person, Vereinigung (S. 39).
^) Vgl. meine Besprechung in der theologischen Literaturzeitung 1911
Sp. 237 f. und die von Goldziher in: Deutsch. Literaturzeitg. 1911 Xo. 25
Warräk (S. 5) könnte der liberale Theologe Warräk gegen 900 sein, den Schah-
rastäni allerdings abu Isa, nicht ibn Isa (S. 141) nennt. Als das metaphysische
Wesen Gottes bezeichnet er sowohl die Aseitas (fälschlich als Selbstursächlich-
keit gedeutet nach der Terminologie von Prof. Schell), als auch die absolute
Intelligenz. Jahja beruft sich (S. 30, 10) in derselben Weise auf den consensus
ecclesiae (von Graf als sensus communis bezeichnet), wie die Muslime auf den
Igma, d. h. die übereinstimmende Lehre ihrer Gemeinde. Die Lehre, daß ein
anfangsloses Verursachtsein möglich sei (S. 35), führt uns in eines der Haupt-
probleme der islamischen Philosophie, das der Ewigkeit der Welt. Naschi
(S. 64) ist ein bekannter Theologe des Islam (gegen 915) und ibn al-Hatib der
berühmte Razi (1210 f), der die Philosophie eines Avicenna mit dem Islam
aussöhnte, und von der Folgezeit bis auf Sijalküti (1656 t), dem Glossator
des Igi (1355 f) als der Theologe im eminenten Sinne bezeichnet wird. S. 76
sind die Titel 1. Quellen der Fragen und 2. Quellen der Logik mit 1. Haupt-
probleme und 2. Hauptpunkte (resp. Hauptprobleme) der Logik und S. 55
'ain mit Individuum wiederzugeben. S. 9 würde ich statt: Substanz ist das,
was nicht in einem Gegenstande ist, übersetzen: Sub. i. d., was keinem Sub-
strate inhaeriert.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam, 91
Indem er dieTrinität nahezu mit den drei Attributen: Wissen, Macht und Güte
Gottes identifiziert, kommt er den Muslimen auf halbem Wege entgegen.
Diese Dreiheit ist jedoch nicht fertig (S. 46) aus der Dogmatik des Islam
entnommen, in der Wissen, Macht und Leben die wichtigsten Attribute sind,
sondern trägt in dem Begriffe der Güte ein christliches Gepräge. Bezeichnet
er die Personen als maäni, so will er sie damit durchaus nicht in nominalistischem
Sinne als „Bedeutungen" subjektive Auffassungsweisen bezeichnen; denn
mana bedeutet (vgl. meinen Aufsatz ZDMG. Bd. 64; 1910 S. 391—96) un-
körperliche Realität in der Außenwelt. Jahja bezeichnet also die
Personen der Trinität als drei verschiedene Realitäten in der göttlichen
Substanz. Von dem Vorwm-fe des NominaHsmus (S. 46 unt. — vgl. S. 48,
wo viermal statt „Bedeutung" der Ausdiuck: unköiperhches Akzidens zu
setzen ist, wodurch die Sätze verständlich weiden — und S. 69 unt.) ist Jahja
demnach sicheüich freizusprechen. Weim die christliche Geisteskultur unter
dem Einfluß von Jahja in der folgenden Zeit (ihn Zura 1008 f, abul Farag
1043, die drei Brüder 'Assal gegen 1250 und Petrus, der Mönch) einer mehr
philosophischen Richtung huldigen, so bewegen sie sich darin auf einer parallelen
Linie wie die Geisteskultm- des Islam, die gerade in dieser Zeit eine Blüte-
periode durcheilt. Beide sind Weiterbildungen des Hellenismus, die sich
unter eigenartigen Einflüssen selbständig weiterentwickeln, dabei aber immer
in Fühlung bleiben. Aus diesem Grunde ist es zur Erforschung der Kultur
des mittelalterlichen Orients um so wünschenswerter, daß auch die christliche
Literatur des Orients zugänglich gemacht werde. Auf diesem Gebiete ist
Dr. Graf ein Meister und die Wissenschaft würde ihm zu großem Danke ver-
pflichtet sein, wenn er die in dem Vorworte angekündigten Publikationen
bald ausführen würde.
Graf, Dr. Georg, Die arabischen Schriften des Theodor abu Quria, Bischofs
von Harrän (ca. 740— 820). Paderborn 1910. 6, 336 S. In: Forschungen
zm- christlichen Literatur- und Dogmengeschichte; bespr. von Dr. Horten.
Es ist sehr zu begrüßen, daß die christliche Literatur des arabischen Sprach-
gebietes der Wissenschaft zugänglich gemacht wird. Mit dem islamischen
Kulturkreise standen ihre Vertreter in Beziehung. Ibn 'Assal kennt (ca. 1250)
z. B. die Schriften des Räzi (1210 t), den er „zu den geistvollsten der späteren
Gelehrten"!) rechnet. Es ist eine äußerst reizvolle, kulturvergleichende Studie,
die gemeinsamen Züge beider Konfessionen, ihre Annäherungs- und Abwehr-
versuche, zu erforschen. Theodor, der Vater des Kurra lebte zur Zeit, als
die spekulative Theologie im Islam sich mächtig entfaltete und zwar zum
Teil unter christlichem Einflüsse. Es ist daher von Interesse, solche Theorien,
die sich in beiden theologischen Bewegungen gemeinsam vorfinden, zu unter-
streichen. 1. Die Spekulation über das Wesen des Glaubensaktes steht im
Vordergrunde. 2. Die Lehre von den drei Zuständen der Menschen hat auf-
fällige Berührungspunkte mit der Lehre von den drei Zuständen bei den
1) Graf: Die Philosophie und Gotteslehre des Jahja ibn 'Adi und späterer
Autoren. Münster 1910. S. 64.
92 Horten,
liberalen Theologen (Wasil usw., Lehre vom „Mittelzustande"). Ein direkter
Einfluß Wasils 748 f ist wohl nicht anzunehmen. Wenn keine von einander
unabhängigen Parallelbildungen vorliegen, werden wohl beide auf die gleiche
Quelle (Johannes Damascenus?) zm-ückgehen. 3. Der Oottesbeweis aus den in
der Welt sich findenden ,, Spuren" (d. h. Wirkungen, nicht Wirkursachen,
S. 29) des göttlichen Wirkens. 4. Die Idee, daß die Erde im Niedersinken be-
gi'iffen sei, ist den Arabern nicht unbekamit. 5. Die Diskussionen über die
Eigenschaften Gottes nehmen in der islamischen Theologie von 750 an eine
hei voiTagende Stelle ein, ebenso wie in der christlichen. Die Eigenschaften
des Lebens, Hörens, Sehens haben nahezu muslimische Züge. 6. Die Willens-
freiheit und Prädestination, der Zankapfel zwischen orthodoxen und liberalen
Theologen im Islam. 7. Die Dreiteilung des Menschen in Geist, Seele, Leib.
Der Koran und die muslimischen Einwände gegen die Trinität sind abu Kurra
bekannt. Seine Darstellung und Argumentationsweise sind die gleichen
wie die der Muslime, was auch von der Ausdrucksweise gilt. Die S. 21 — 22
aufgezählten ,, Vulgarismen" finden sich in den klassischen Werken arabischer
Philosophen, sind also nicht als unklassisch zu bezeichnen. Läßt man alle
diese Momente in ihrer Gesamtheit auf sich wirken, so erhält man den Ein-
druck, daß manche Systeme islamischer Theologen (bes. zwischen 750 und
900) ein durchaus christliches Gepräge haben, und daß sie in ihrei ganzen Me-
thode eine direkte Entlehnung aus dem Christentum sind. Alles was für den
Islam assimilierbar war, hat man aus der Schwesterreligion, dem Christentum
entnommen. Selbständigere Züge nimmt die spekulative Theologie des Islam
in ihrer Gesamtheit dem Clmstentume gegenüber erst seit 900 an. Es macht
fast den Eindruck, als ob man sich dem Christentum zuwandte, um sich vor
den unreligiös scheinenden aristotelischen Lehren zu flüchten. Erst spätei
sah man dem Stagiriten furchtloser ins Auge (seit 1000), bis man nach
(und trotz) Gazäli (1111 f) seine Lehren immer vollständiger aufnahm.
Ignaz Goldziher, Prof. für orientalische Sprachen an der Universität
Budapest, Die islamische und die jüdische Philosophie. (Die Kultur
der Gegenwart, herausg. v. P. Hinneberg, Teil I, Abteilung V.)
Da „Die Kultm der Gegenwart" zur Darstellung aller Spezialgebiete
die ersten Autoritäten jeden Faches zu ihren Mitarbeitern zählt, so verstand
es sich von selbst, daß Ig. Goldziher die Bearbeitung der islamischen und
jüdischen Philosophie zu übernehmen hatte. Leider wurde ihm nur dei Raum
von ungefähr 30 Seiten zugebilligt, der ihm nicht gestattet, die ganze Fülle
seiner in mehrere Jahrzehnte langer Spezialistenarbeit erworbenen Kenntnisse
zu entfalten. Ferner ist der Gesichtswinkel, unter dem diese Cieistesbewegung
hier betrachtet wird, nicht das Interesse an der Geschichte der Gedanken-
bildungen als solcher, sondern ,,die Wirkung, die sie auf die abendländische
Scholastik ausgeübt haben" (S. 4, 5.) Aus diesem Grunde wohl ist die nach-
gazalische Philosophie sehr in den Hintergrund getreten. G. schildert I. Kalam
und Philosophie, II. Neuplatonische Bearbeitung der Philosophie des Aristo-
teles, III. Neuplatonische Philosophie, die auch die pythagoraeische Zahlen-
sinn bolik in ihr System aufnimmt und auf staatliche Theorien (Batinija)
Jahresbericht über die Philosophie im Islain. 93
und Mystizismus (Sufismus) ihren Einfluß ausübte, IV. AristoteUker im Islam
— okkultistische Theorien, V. die späteien Schicksale der Philosophie im
Islam. Daran reiht sich auf sechs Seiten die jüdische Philosophie. Zum Ver-
ständnisse tragen die Hinweise auf die zeitgenössischen politischen und reli-
giösen Verhältnisse sehr bei, von denen der Verfasser die letzteren, in Teil I
Abt. III desselben Werkes meisterhaft dargestellt hat."^)
Goldziher, Prof. Ignaz, Vorlesungen über den Islam. Heidelberg 1910.
In: Religionswissenschaftliche Bibliothek. Bd. I.
Für die Geschichte der Philosophie im Islam ist dieses neue Meisterwerk
Goldzihers in vielfacher Hinsicht von Interesse. Es schildert zunächst die
ReUgion, d. h. die Welt- und Lebensanschauung, von der die Philosophen
der muslimischen Kulturwelt ausgingen, sodann die sitthchen Prinzipien die
für die Bildung des Rechtes und der Ethik leitende waren, ferner die dog-
matischen Spekulationen, die unmittelbar in die Philosophie eingreifen,
was auch von der daran anschheßend behandelten Mystik gilt. Folgende
wichtigeren Momente seien aus dem reichen Schatze des hier Gebotenen hervor-
gehoben. Es sind politische Veranlassungen gewesen, die die älteste Speku-
lation in religiösen Dingen hervorgerufen haben. Die Laxisten wollten durch
ihre weitere Fassung des Begriffes Muslim das Haus der Omaijaden, das sich
nicht peinlich an alle Gesetzesvorschriften hielt, als gut-muslimisch und recht-
gläubig hinstellen. Die Spekulationen über die Frage, ob der Glaube ein Mehr
oder Minder zulasse (S. 89) bew^egen sich freilich auch in jenen Kreisen,
könnten aber sehr wohl auf christlichen Einfluß (vielleicht Johannes von
Damaskus; Lehre über das Zu- und Abnehmen der Tugenden) und durch diese
Vermittelung auf Aiüstoteles (Lehre von den Intensitätsgraden der Quali-
täten; vgl. die parallele Lehre bei Thomas von Aquin I— II 52 De augmento
habituum, ib. 53. De corruptione et diminutione habituum und ib. 66 art. 1
utrum virtus possit esse maior vel minor) zurückgehen'-). Dies ist um so eher
1) Mittlerweile erschien die zweite Auflage dieser Studie, die einige
Erweiterungen enthält (vgl. OrientahstischeLiteraturztg. 1913 Nr. 11 Sp.506f.).
2) Kadar (S. 95, 8 unt.) bezeichnet die Macht, die jemand besitzt, un-
abhängig von einem anderen zu handeln. Für Gott ist dieses die unein-
geschränkte Macht, das Schicksal zu bestimmen, für den Menschen die Fähig-
keit, frei zu handeln, ohne daß Gott die Macht besäße, diese Freiheit einzu-
schränken. Kadar bezeichnet daher geradezu: Willensfreiheit, und Kadarija
die Vertreter dieser Lehre. Daß Aschari eine Vermittlungstheologie darstellt,
könnte dennoch in dem Worte bila kaif (S. 122) liegen. Diese bedeuten, daß
Gott durch anthropomoiphe Prädikate keine realen Eigenschaften annehme
(bila kaif ist gleich dem häufigen Ausdrucke bila takaijuf d. h. sich beeigen-
schaften mit etwas). Darin liegt eine Konzession an die liberale Richtung in
der Lehie von der absoluten Einheit Gottes. Die Konzession an die andere
Überale Lehre von der Gerechtigkeit Gottes liegt in dem Streben, die Willens-
freiheit durch die spitzfindige Lehie von der Aneignung zu retten. In der
94 Horten,
anzunehmen, als die liberaltheologische Spekulation sich durchgängig im
Banne christlicher Ideen bewegt (S. 96 — 116: Fürsprache des Propheten
der Fürsprache Christi am jüngsten Tage abgelauscht, Willensfreiheit, Ver-
innerlichung der Religion, Verantwortlichkeitsgefühl, Berechtigung der Ver-
nunft in der Religion; natürliche Ethik und Religion ist möglich; Gerech-
tigkeit Gottes; Gott muß das Gute, sogar das Beste tun; er entscheidet nicht
willkürlich, visio beatifica, Logoslehre, Veigeistigung des Gottesbegriffes).
Ein großes Verdiesnt G.s besteht darin, die politischen Bedingungen, unter
denen die liberale Richtung auftritt, deutlich gemacht zu haben. Mutazilit,
ilu- arabischer Xame bedeutet Asket. Zur Zeit der Omaijaden war ihnen das
Weltliche Treiben der Herrschenden zuwider. Sie sonderten sich daher als
Asketen ab (mutazil = der sich Absondernde) und traten dadurch zugleich
als politische Oppositionspartei, wie die Vertreter der Willensfreiheit gegen die
Omaijaden auf, während die Herrschenden die Lehi'e von der Prädestination
hochhielten, um ihren Thron als auf Gottes Willen beruhend hinzustellen.
Die Entwicklung der dogmatischen und mystischen Spekulation wird an
ihren tragenden Ideen geschildert. An diesen hat man Leitfäden, um sich
in der großen Fülle von Tatsachen zurecht zu finden. Aschari und Maturidi
werden besonders dargestellt, dabei aber nur das leicht Verständliche hervor-
gehoben und z. B. die Lehre Ascharis von der Freiheit des Willens, ,,die An-
eignung" übergangen. Bei den philosophierenden Theologen selbst ist ihre
Kompliziertheit sprichwörtlich geworden. Sie bietet aber ein deutliches
Beispiel dafür, daß das System Ascharis einen Vermittlungsversuch zwischen
der orthodoxen und der liberalen Richtung darstellen soU. Wie sehr die Ge-
schichte einer Kultiu- von den Stimmungen der Volksseele, ob Weltverneinung
oder Weltbejahung, abhängig ist, zeigt die Entstehung des Asketismus, der
in seiner Spekulation ein dxirchaus eklektisches Gebilde darstellt: christ-
liche, griechische und indische Ideen. Eine Bestätigung dieser Thesen ist
auch die Philosophie des Faräni (um 1485; vgl. Horten, Das Buch der Ring-
steine Farabis, über das Nirwana S. 54; 60f. ; 97; 165; 188; 418f.). Wie der
Mystizismus die Idee der Toleranz in den Jslam hineingetragen oder sie
dort verstärkt hat, wird besonders an einer Gestalt wie Gazäli, dem großen
Theologen, deutlich geschildert. Die Bedeutung der neuplatonischen Philo-
sophie tritt nicht nur in der Spekulation zutage. Sie erscheint auch in der
religiösen Sektenbildung (S. 248f.) und der M^'stik. Die Getreuen von Basra
haben die Vermittelung gebildet. Zur Aufklärung über das Wesen und die
Gedankenwelt des Islam ist das vorliegende Werk Goldzihers vorzüglich ge-
eignet, bis in die weitesten Kreise zu wirken, und die vergleichende Religions-
wissenschaft und Kulturgeschichte sind dem Verfasser zum größten Danke
Grundtendenz zwischen den streitenden Parteien zu vermitteln, trat die Schule
Ascharis nicht in allzu schroffen Gegensatz zu ihrem Lehrer, mag dieser auch
zu einzelnen Zeiten seines stürmischen Lebens eine etwas zu stark orthodoxe
Entwicklung dvirchgemacht haben. — Die Beziehungen der liberaltheologischen
Richtung zu den Schiiten und Charigiten läßt sich auf ihre gemeinsame Oppo-
sition gegen die Omaijaden zurückführen.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 95
verpflichtet, daß er seine umfassende Belesenheit und seinen Scharfsimi in
den Dienst einer so schönen Sache gestellt hat.
Die Kultur des Islam ist kein Geschenk der Araber, sondern eine eigen-
artige Weiterbildung des Hellenismus^), auf Grund persischer und indischer
Ideen, die sich mit den griechischen vei binden. Besonders sind es die Schulen
von Basra und Bagdad, daneben naturgemäß auch Samarkand, in denen in-
dische Ideen wirken (vgl. Horten: Indische Gedanken in der islamischen
Philosophie, in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziol-
logie, herausg. von P. Barth; Bd. 34 S. 310—22). Daß es nicht die Araber,
sondern die Perser sind, denen das Hauptverdienst an der islamischen Kultur
zufällt, zeigt Prof. Eilh. Wiedemann: Zu ibn al Haitams Optik (Archiv f.
d. Gesch. d. Xatur'vvissenschaften, Bd. III S. 10): ,,Ich möchte die Leistungen
von Färisi (um 1310, ein Zeitgenosse des Schirazi 1310, Brockelmann II 211f.
der durch seine Kommentare zu Avicenna und Suhrawardi bekannt ist) zu
den allerbedeutendsten auf physikalischem Gebiet aus dem Altertum und
Mittelalter rechnen. Interessant ist, zu sehen, daß er wiederum ein Perser,
nicht ein Araber ist, der die Wissenschaft in so hohem Maße bereichert hat."
„Besonders mache ich auf die sorgfältige experimentelle Prüfung aller
einzelnen Sätze aufmerksam. Die Methodik stimmt vollständig mit
der unserigen überein." In der Frage, ob die Araber eine Induktion in
unseiem empirischen Sinne gekannt haben, sind diese und ähnliche Daten vor
allem zu betonen. Eine Theorie der Induktion entwirft Tusi (Horten: Die
philosophischen Ansichten von Räzi und Tusi; Bonn 1910, S. 168). Ebenso
denken Avicenna als Mediziner, vmd im allgemeinen alle islamischen Philo-
sophen, die über naturwissenschaftliche Probleme handeln. Rein aprioristische
Denkweisen finden sich hauptsächlich bei den Mystikern in ihren Lehren
über Gott.
Schirazi, Die vier Reisen.^) Lithogr. Teheran 1282= 1865. Paginierung
nur bis S. 100. ca. 930 S. gr.-Folio.
Die Datierung und Identifizierung von Schirazi (Abu Nasr, Muhammed
bn Ibrahim Sadreddin) ist noch in große Dunkelheiten gehüllt. Folgende
Daten und Werke sind von ihm bekannt: 1. Glossen zu Isfahäni 1348 f»
„Der alte Kommentar" zu Tusi 1273 f, ,, Philosophische Darlegung der
Glaubenslelu'en" (Br. I 509 II 2b). Diese Glossen Schiräzis^) werden von
Lähigi in einem Atem zitiert mit den „vier Reisen", so daß man mit Sicher-
heit annehmen kann, der Verfasser beider Werke sei auch aus diesem Grunde,
abgesehen von der auffälligen Übereinstimmung in den Xamen, der gleiche.
2. Widerlegung der Glossen Dauwänis 1501 t zu Küschgi 1474, ,,Der neue
Kommentar" zu Tusi, „Philosophische Darlegung der Glaubenslehren"
^) C. H. Becker, Der Islam als Problem in: Der Islam Bd. I 15, 6.
-) el asfär el arbaa filhikma (,, handelnd über die Philosophie") Br. II 413, 2.
2) Mir Sadreddin Muhammed esch-Schiräzi. Als Todesjahr wird 1529
angegeben.
96 Horten,
(Br. I 509 II 2 c «). Der Verfasser nennt sich Sadreddin esch Schirazi 1523 f ! !
und sein Sohn: Giäteddin esch Schirazi 1542 f. 3. „Die Erkenntnisse der
göttlichen Majestät" von Schirazi f 1446 (Sadreddin Muhammed, Br. II
207 Nr. 6). 4. Superglossen zu den Glossen des Gurgäni 1413 t zu dem Kom-
mentare des Räzi 1364 f über das logische \^'erk des Kätibi 1276 t. Des Ver-
fassers Namen stimmen überein mit denen des genannten Schirazi: Muhammed
bn Ibrahim Sadieddin es Siräzi 1497 (Br. I 466 Nr. 26 I ^). 5. Das Gleiche
gilt von dem Verfasser der Glossen zu einem Kommentare (wahrscheinlich
dem des Razi 1364 f) zu der Logik des Urmavi 1283 t, ,,Dip Aufgangsorte der
Lichter". Er nennt sich abu Nasr Muhammed bn Ibrahim es Schirazi 1497 t-
6. Eine eigentümliche Übereinstimmung herrscht in den Namen und dem
Datum dieses Verfassers und des Schirazi (Mir Sadi-eddin Muhammed el
Husaini es Schirazi), der 1497 von Turkmenen ermordet sein soll (Br. II 204
Nr. 3). Er verfaßte zwei Werke, deren Inhalt ebenfalls das Arbeitsgebiet der
genarmten Verfasser ausmachen: a) ,, Gottesbeweise und göttliche Eigen-
schaften"; b) „Begriffsbildung und Urteil" (Br. II 204 Nr. 3). 7. Die Ver-
wirrung wird noch gesteigert durch die Angabe der berliner Hdschi. Ahlwardt
Nr. 5072, nach der ein Muhammed bn Ibrahim es Schirazi 1838 gestorben sein
soll. Er verfaßte einen Kommentar zu Abhari 1264 f, „Die Führung zm- Weis-
heit" (vgl. Archiv XXII 397 und 398 f.). Die ,,vier Reisen" werden zitiert
als sein Werk (fi asfarihi). Der Verfasser jenes Kommentars muß also unser
Schirazi sein. Dies bestätigt er auch selbst in seinem Werke: ,,Die vier Reisen"
f. 218 1. 22 et passim, wo er seinen Kommentar zu Abhari selbst zitiert.
8. „Die Erkenntnisse" (kitab almaschair), erwähnt auf der letzten Seite des
Nr. 7 genannten Kommentars (Teheran Lithogr. 1313 = 1895). 9. Glossen
zur Metaphj'sik Avicennas, vorliegend in der arab. Handschr. Berlin Minutoli
229, Jahr 1672 ! Nr. 5045 d. Katalogs, übersetzt in Horten, Die Metaphysik
Avicennas, Leipzig 1907/09, S. 686ff . Er trägt hier den Namen Sadr (Sadreddin),
wie auch vielfach in dem Nr. 7 genamiten Werke^). 10. Anmerkungen (talikät,
vgl. die gleichnamigen Werke Farabis Br. I 212 D 6, und Aviennas, Br. I
455 Nr. 21) zu Schirazi 1310: „Kommentar zu Suhrawardi" (1191 f), „Die
Philosophie der Erleuchtung" (Br. I 437). Sie wurden in Teheran 1313 — 15
mit dem genamiten Buche Suhrawärdis lithographisch veröffentlicht. 11. Ein
schiitischer Korankommentar wurde 1322 (fol. 616) zu Teheran lithographiert.
Sein Verfasser nennt sich Sadraddin Muhammed Ibrahim al-Scliirazi, also
offenbar unser Autor. 12. Ein Kommentar zur Metaphysik Avicennas er-
schien 1303 d. H. in Teheran zugleich mit dieser in Lithographie. Sein Ver-
fasser nennt sich Schirazi. Sein Stil stimmt mit dem Verfasser der ,,vier Reisen"
überein (verschieden von Nr. 9). 13. Ein Kommentar viell. zu Abhari (s. unten
in der Besprechung von Nr. 8, ,,Die Erkenntnisse". 14. Der Thron Gottes
(errisola alarschija) von Sadr almutaallihin (dem Vorkämpfer der Theologen)
Muhammed al-Schiräzi genannt Sadraddin (s. unt.). 15. Kommentar zu
Suhrawardi: Die Philosophie der Erleuchtung", von Schirazi selbst zitiert
(s. unten), vielleicht identisch mit Nr. 10.
1) Vgl. Archiv XXII 392, 20; 397 ff.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 97
Die meisten dieser Werke möchte ich trotz der so sehr divergierenden Da-
tierung einer und derselben Person zuweisen. Schirazi (vielleicht 1640 t) ist einer
der hervorragendsten Denker des Islam. Et steht in der Strömung der späteren,
mit Gazäli anhebenden Bewegung, die mit rein philosophischen Erkennt-
nissen mystische Gedanken verbinden will, Verstand und Gefühl vereinend.
Wenn seine Werke auch außerordentlich umfangreich sind, so enthalten sie
doch kaum überflüssige Worte. Es weht in ihnen ein ganz ariderer Geist als
in den wortreichen, aber gedankhch armen Schriften eines ibn Hazm und
ibn Taimija. Schirazi ist durch und durch Philosoph. Seine Gedanken sind
scharfsinnig, und er ist bemüht, sie auf den kürzesten Ausdruck zu bringen.
Vielfach deutet er ganze Argumentationen nur kurz an. Jedes Wort will
erwogen sein. Die große Ausdehnung seiner Schriften beruht nur auf der Fülle
des gebotenen Materials.
Das bedeutendste Werk Schirazis sind unstreitig die vier Reisen, eine sehr
umfangreiche philosophische und mystische Enzyklopädie „Der Mystiker,
so heißt es gegen Ende der Einleitung, macht vier Reisen, die erste von den
Geschöpfen zu Gott, die zweite mit Gott (bilhakk) in Gott; die dritte steht
der ersten gegenüber; denn sie geht von Gott zu den Geschöpfen mit Gott,
die vierte der zweiten, insofern sie sich imierhalb der Geschöpfe mit Gott
bewegt." In diesem W^erke legt er das Endresultat seines langen Kampfes
um die Weltanschauung nieder. „Seit meiner frühesten Jugend habe ich meine
ganze Kraft der Philosophie gewidmet. Was ich in den Schriften der Griechen
(el lunanijün) und der besten Lehrer i) fand, habe ich in erklärender Form
dargestellt. Bereits schickte ich mich an, ein umfassendes Werk zu schreiben,
das alles enthalten sollte, was ich an Lehren der Peripatetiker und Mystikei
gefunden hatte, vermehrt mit Erläuterungen, . wie sie in den Büchern der Ge-
lehrten noch nicht gegeben worden waren'-)". Da wiu-de ihm das Glück un-
günstig. Zweimal mußte er die Stelle eines Hauslehrers annehmen. Im Laufe
der Zeit war seine Richtung eine mehr mystische geworden: „die Flammen der
göttlichen Majestät ergossen sich über mich und ich erschaute Geheimnisse,
die ich vordem in den Beweisen (der Peripatetiker) nicht erblickt hatte. Jedoch
betrachtete ich nunmehr alles, was ich früher im demonstrativen Beweise
erlernt hatte, deutlicher unter Hinzufügung neuer (mystischer) Erkenntnisse".
Alles dieses faßte er in dem genannten Werke zusammen. Eingeteilt ist das-
selbe in Reisen, Wege, Tagesmärsche, Pfade, Kapitel. Doch laufen daneben
auch die Einteilungen, die Avicenna verwendet: Teil, Abhandlung, Kapitel.
Die erste Reise handelt über ,,das Sein, seine primäie Einteilung und wesentlichen
Akzidenzien", und einleitend über die Definition dei theoretischen und prak-
tischen Philosophie (nach Avicenna, Einleitung zur Logik), ihre primären Teile,
ihren Zweck und ihre Würde: Das Sein ist eigentliches Objekt der Meta-
physik als universeller Wissenschaft gegenüber den Einzelwissenschaften,
deren System nach aristotelischen Ideen entwickelt wird. Das Sein ist ein
^) Farabi wird der zweite und Avicenna der dritte „Lehrer' genant.
-) Diese bezweckten eine Übereinstimmung zwischen den Peripatetikern
(Naturphilosophen) und den Mystikern anzubahnen.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 1. n
98 Horten,
universeller Begriff, der äquivoce, nicht univoce jirädiziert wird. Der in sich
evidente Begriff des Seins ist ein rein logischer Inhalt, ohne Korrelat in der
individuellen Außenwelt; jedoch ist das Wesen jedes Dinges seine individua-
lisierte Existenz. Das Sein ist kein generischer noch ein spezifischer Begriff,
noch auch schlechthin in jedem Sinne universell; es ist ursachlos und geht
in der realen Ordnung der Wesenheit voraus, während es in der logischen
Ordnung auf die Wesenheit folgt. Die Modi und Proprietäten des Seins werden
als Fundamente der Qualitäten aufgefaßt. Der notwendig Seiende existiert
durch sich imd seine Individualität, ist identisch mit seiner Wesenheit (Spezies).
Die Arten des Möglichen werden (S. 34f.) erwogen. Die Wesenheit ist in sich
dm'chaus indifferent für das Sein oder Nichtsein, eine Lehre Avicennas. Die
Kontingenz ist der Grund, weshalb die Wesenheiten einer Ursache bedürfen,
um ins Dasein zu treten. Die vielfach vertretene Lehre eines ursachlosen
C4eschehens (S. 50), die wohl eine Form der Lehre der Sautrantika von der
Momentaneität des Daseins, darstellt, wird abgewiesen. Gegen die Vaischesika
richtet sich (S. 52) die Thesis: Die kontingenten Dinge besitzen vor ihrer
Existenz nur logische Verhältnisse. Das Dasein tritt zur Wesenheit der Kon-
tingenten von außen hinzu (S. 60). In der Außenwelt sind beide als reales
Indi\aduum identisch. Das logische Sein, seine Existenz (gegen die ältere
Richtung der Theologen), seine. Eigenschaften, die Prädikationsweisen werden
sodann eingehend untersucht, und dadurch die Logik in die Metaphysik hinein-
gezogen. Die Realität einer mathematischen Welt wird wie die des Nicht-
seins (S. 80) abgewiesen. Das Sein (Gott) ist ein reines (hit (Plato). Alle nicht
unmöglichen Dinge sind für den Menschen erkennbar. Ob das Sein Intensitäts-
unterschiede besitzen könne wird eingehend (fol. 103b) erwogen. Die Unter-
suchungen über die Wesenheit folgen auf die über das Sein. Sie beginnen mit
denselben Worten, mit denen Farabi seine Ringsteine einleitet. Die philo-
sophische Tradition ist eine eng geschlossene und die Philosophen der späteren
Zeit kennen sehr genau die Geschichte der Philosophie und ihre verschiedenen
Richtungen. Sie verfügen über eine für ihre Zeit staunenswerte Belesenlieit.
Die Einteilung Schiräzis (Sein, Wesenheit, Akzidenzien) ist mit der Igis (1355 t.
Die mystischen Stationen) kongiaient und ihr auch wohl entnommen.
Sodann werden besprochen das Universelle und Partikuläre, die Ai'ten
der Individuation, Genus und Materie, die Differenz, begriffliche Teile in
einfachen Gegenständen, die Konstituierung des Genus durch die Differenz,
des Universellen durch das Partikuläre, Form und Materie, Ableitung der
spezifischen Differenz aus der Form und des Genus aus der Materie, Einheit
und Vielheit, Identität und Anderssein, die Arten der Opposition, Einheit
und Wesenheit, Einheit und Dasein, Vereinigungsarten zweier Dinge, Leugnung
einer Opposition zwischen den Kategorien, Definition der Ursache, Not-
wendigkeit der Existenz der Ursache, bei der Existenz der Wirkung, Un-
möglichkeit einer Kreisbewegung und einer unendlichen Kette in den Ursachen
und Wirkungen, Endlichkeit aller Ursachen; kann das Einfache zugleich
handelnd und leidend sein? Die Begriffe als Prinzipien für das zeitliche Ent-
stehen von Dingen; muß die Ursache mehr Wirklichkeit enthalten als ihre
Wirkung ? Ist die adäquate Ursache gleichzeitig mit dem Dinge ? — Gemein-
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 99
same Bestimmungen der vier Ursachen — kann ein einfaches Ding eine zu-
sammengesetzte Ursache haben? — Das Kontingente wird dadurch die Existenz
seiner Ursache zu einem (ab alio) Notwendigen. — Das Einfache kann nicht
Ursache von zwei verschiedenen Dingen sein. — Ein und dieselbe Wirkung
kann nicht auf viele Ursachen zurückgehen — die Gesetzmäßigkeiten der
Wirkm-sache — die Bewegung als Medium des Wirkens — die Wirkung gehört
zu den notwendigen Zubehören der Ursache — das „Verlangen" der Hyle
nach der Form, formale Ursache und Xaturkraft, Zweck, Zwecklosigkeit und
Unzweckmäßigkeit, die Ziele freigewollter Handlungen, Güte und Selbst-
losigkeit. — Die Dinge der Welt streben nach wahren Zielen — Ursache und
Relation, Substanz und Akzidens, die numerische Vielheit in den realen
Wesenheiten, das Einströmen des Daseins in die Individua, die erste Emana-
tion aus Gott ist das Universelle {147f.), — die möglichen Dinge sind keine
Individua — das wahre Sein ist frei vom Bösen. — Die kontingenten Dinge
sind Spiegel für die erste Wahrheit. — Der Notwendige ist absolut einzig. — •
Die Möglichkeit ist etwas Privatives . — Körperliche Kräfte wirken nur in
einer gemssen Lage . — Das Sein ist in sich betrachtet indifferent, Ursache
oder Wirkung zu sein. — Das Entstehen jedes Zeitlichen setzt eine nicht ab-
brechende im Kreise verlaufende Bewegung (in der Kette der Ursachen, die
selbst wiederum Wirkungen sind) voraus; die Arten der Potenz, die Macht,
frei zu handeln, geht der Handlung voraus. — ■ Wirken und Nichtsein in ihrer
zeitlichen Ordnung. — Freiheit ist etwas Psychisches, nicht identisch mit
physischen Kräften. — Bewegung und Ruhe, der erste Beweger (ein spezifisch
aristotelischer Begriff), die Arten der bewegenden Kraft, das nächste Prinzip
der menschlichen Handlungen. — Jedem zeitlich Entstehenden geht die
Potenz zum Sein und als deren Träger eine Materie voraus — das Substrat
der Bewegung, — In jedem sich Bewegenden wohnt eine Physis (Natur-
kraft) ; — die Beziehung des sich Verändernden zum dauernden, der Bewegung
zu den Kategorien, d.h. den fünf: Substanz, Qualität, Quantität, Lage, Raum.
Die Naturkraft ist etwas Unbeständiges. Die räumUche Bewegung ist die
vorzüglichste. Der Zeit und Bewegung geht nur Gott voraus. Die Zeit kann
keinen Endpunkt haben. Die zeitlichen Dinge und das Jetzt. Eine besondere
Abhandlung befaßt sich darauf mit den Gesetzmäßigkeiten der Bewegung,
der Ewigkeit und dem zeitUchen Entstehen (Wesen desselben, das Entstehen
per se, Gleichzeitigkeit), dem Geiste und geistig Erfaßbaren (als Akzidenzien
des Seienden als solchen — dadurch gehört dieses in die Metaphj'sik — De-
finition des Wissens usw.). Wenn ein Ding Geist, Denkendes und Gedachtes
ist, ergibt sich keine Vielheit in seinem (z. B. Gottes) Wesen. Die geistigen
Dinge können keinem Körper inhärieren oder sich mit ihm verbinden. Das
zweite Buch befaßt sich mit den Naturwissenschaften. Es behandelt unter
diesem Titel rein metaphysische Fragen: Die Lehre über die Kategorien.
1. Die Quantität (Definition, Arten und Gesetzmäßigkeiten; EndUchkeit
und Unendlichkeit; unkörperhche Dimensionen, der Raum, das Leere). 2. Die
Qualität: a) die sinnUchen Qualitäten, nach den fünf Sinnen, Hitze, Kälte,
Feuchtigkeit, Trockenheit, Dünnheit, Dichtigkeit, leicht und schwer, Farben,
Licht, Helligkeit, Schall, Geschmack, Geruch; b) potentia et impotentia;
7*
100 Horten,
c) dispositio et habitus, die seelischen Eigenschaften, die Macht, frei zu handeln,
der Wille, Charakter, Schmerz und Lust, Gesundheit und Krankheit, Freude
und Leid; d) die mit Quantitäten verbundenMi Qualitäten, das Geradlinige
und Kreisförmige, die mathematische Figur als Qualität oder Lage zu ver-
stehen, der Winkel, die Qualitäten der Zahlen. 3. Die übrigen Kategorien:
a) die Relation (Wesenheit, Existenz, Proprietäten der beiden Termini,
die Beziehung, die das Wesen der Relation ausmacht, ihre Arten); b) das Wo;
c) die Lage; d) agere et pati. 4. Die Substanzen, ihre Gesetzmäßigkeiten und
Arten. ,,Sie gehören zu den Gesetzmäßigkeiten des Seienden als solchen.
Daher gehört ihre Erwähnung in die universelle Wissenschaft, die die Akzidenzien
des Seienden untersucht, ohne auf die individuellen Eigentümlichkeiten der
Dinge zu achten," die den Einzelwissenschaften zufallen. Sie behandelt:
Substanz und Akzidens als Korrelativa, ihre Prädikationsweise (ob eigentliche
oder metaphorische) primäre und sekundäre Substanzen — ein und dasselbe
Wirkliche kann nicht Substanz und Akzidens sein — die Substanzialität der
physischen Körper, ihr Wesen, ihre Kontinuität, quantitativen Teile, die
Atomistik, Widerlegung derselben; ■ — der Körper ist ins Unendliche teilbar —
die Hyle (ihr logisches und reales Wesen, die Lehren des Ai-istoteles und
Avicenna), ihre wesenhafte Verbindung mit der Form. Ein universelles Ding
(S. 287) kann nicht die Ursache für ein individuelles sein. Es existieren in-
dividuelle Xaturkräfte in den Körpern. Ihre spezifischen Wesensformen
besitzen die Natur der Substanz. Die Welt ist zeitlich entstanden. Die Xatur
bewirkt nur das Gute und Zweckmäßige. Die Physis ist aus Materie und Form
zusammengesetzt. Die Formen der Elemente bleiben in den Komposita nicht
(aktuell) erhalten.
Die dritte „Reise" umfaßt die spekulative Theologie. Sie behandelt
1. das erste Prinzip imd seine Eigenschaften, Gottesbeweis, Existenz identisch
mit der Wesenheit in Gott, Einheit und Einzigkeit Gottes; er besitzt weder
Genus noch Differenz, Identität seiner Eigenschaften und seines Wesens;
2. Wissen (in einer eigenen Abhandlung), Vorsehung, Ratschluß; 3. Macht,
frei zu handeln (in einer ausgedehnten Abhandlung), WiUe und Widerwille;
Unschlüssigkeit; 4. Leben, das sich im Erkennen und Handeln betätigt;
5. Hören und Sehen; 6. Reden (in umfangreicher Abhandlung); 7. das Problem
des Bösen in der Welt, die Emanation; 8. das absolute Wirken (das sich
an keine Materie bindet) ; 9. die Existenz unkörperlicher Wesensformen (Ideen) ;
10. die Anfangslosigkeit und Endlosigkeit des ersten Prinzips, seiner Macht,
Emanation und seines Wirkens, das zeitliche Entstehen der Körper, Über-
einstimmung zwischen Wissen und Glauben.
Die vierte „Reise" enthält eine mystische Psychologie in folgenden Ab-
handlungen: die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Seele, ihre Definition,
die animalische Seele, ihre Substanzialität, Unkörperlichkeit, die Seelenki'äfte,
die Fähigkeiten der vegetativen Seele, ihre Unterordnung unter die höheren
Kräfte, die Kraft der Ernährung, der Verdauung, des Wachstums, ihr Versagen
im Tode, die Vorstellungskraft, die animalischen Fähigkeiten und ihre syste-
matische Ordnung, die Einheit der Seele, das äußere (sinnliche) Erkennen,
besonders das Sehen (Optik), die inneren Sinne( Gemeinsinn, vorstellende
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 101
Phantasie, kombinierende Phantasie, ästimativa (Instinkt), Gedächtnis;
das erkennende Prinzip in allen Sinnesfunktionen ist die Seele; Widerlegung
der Thesis: Die Seele erkennt (weil geistig) nicht die materiellen Individua,
die vollständige Unkörperlichkeit der menschlichen Seele und die Art, wie
sie zeitlich entsteht (fol. 446); die Verhältnisse der Seele in Beziehung zu der
physischen Welt (454), ihre Unsterblichkeit ; die Ursache der Seele ist eine geistige
Substanz; Widerlegung der Lehre von der Wanderung der Seelen und Geister.
Jedes menschliche Individuum besitzt eine einzige Substanz, die Seele. Die
körperlichen Kräfte sind ein Abglanz der seelischen. Einige Arten des habitus
der Seele, ihre Funktionen, die Rangordnung der Menschen werden zuletzt
besprochen, dann das Jenseits, das Glück, das Einwirken und Aktuellwerden
des aktiven Intellektes auf unsere Seelen; die Offenbarungslehren über das
andere Leben.
Neben den Peripatetikern werden auch die Stoiker zitiert z. B. als \'er-
treter der Lehre, daß die allgemeinsten Begriffe nur in der Betrachtung des
Verstandes, nicht in der Außenwelt existieren. Suhrawardi 1191 f wird in den
„mystischen Erläuterungen", die manchen Kapiteln folgen, angeführt. Reiche
Glossen, meistens von einem Sabzewäri verfaßt, begleiten den Text. Besprochen
werden Empedokles, Plato (Kritik seiner Ideenlehre durch Argumente
Avicennas), Tüsi (Kritik des Kompendium von Räzi; muhassal), Demokrit (in
der Lehre vom Zufall); Räzi (mystische Untersuchungen). Der maßgebende
Meister für Schiräzi ist Avicenna, dessen Hauptwerke er einzeln zitiert, um deren
Thesen zu verteidigen. Sogar seine Kommentare zu Koranversen werden ge-
nannt. Es bestätigt sich dadm-ch (wie auch durch Igi: Die mystischen Sta-
tionen und deren Kommentare und Glossen), daß kein anderer als Avicenna
der Geist ist, der die philosophische Entwicklung im Islam durchaus beherrscht.
Eine vollständige Ausgabe seines Hauptwerkes: Die Genesung der Seele ist
daher trotz seines Umfanges keine überflüssige Arbeit. Dieses wird durch
die Geschichte der Naturwissenschaften bestätigt, in der Prof. Eilhard Wiede-
mann zeigt, daß auch sie in wichtigen Punkten auf Avicenna fußt (vgl. Archiv
f. d. Gesch. der Naturwissenschaften III S. 8, 21). Die zweite Autorität für
Schiräzi neben Avicenna ist Suhrawardi. Aus der Verbindung seiner Lehren
mit denen Avicennas erwächst die Richtung der Mystik, die in Persien maß-
gebend war. Sehr häufig zitiert wird ferner Räzi (1210 f). Gurgäni und Arabi
(„Die mekkanischen Eroberungen"). Das Werk Schiräzis habe ich in einer
besonderen Schrift eingehender gewürdigt: (Das philosophische System von
.Schiräzi; Straßburg 1913).
(Fortsetzung folgt.)
Rezensionen.
Adolf Busse, Sokrates. („Die großen Erzieher", herausgegeben von Dr.
Rudolf Lehmann, YII. Band.) Berlin, Reuther & Reichard, 1914.
248 Seiten.
Adolf Busse hat sich in dankenswerter Weise der schweren Aufgabe unter-
zogen, die Persönlichkeit und die Philosophie des großen Erziehers Sokrates
darzustellen, und, man muß sagen, dank seiner großen Sachkenntnis und seinem
feinen psychologischen Takt ist es ihm gelungen, durch die zahlreichen Klippen
der Sokratesforschung hindurchzusteuern und ein im ganzen von Einseitig-
keiten freies Bild zu zeichnen. Denn da bei Sokrates Leben und Lehre so eng
wie wohl bei keinem anderen Philosophen miteinander verwachsen sind, so
schwankt auch mit der verschiedenen Wüi'digung seiner Persönhchkeit die
Beurteilung seiner Philosophie hin und her, angefangen von seinen Jüngern
bis herab zu den neuesten Historikern.
Bei der Beurteihmg der Quellen ist der Verfasser den Zeugnissen Piatos
gegenüber zu wenig kritisch, während er Aristoteles als Quelle für die philo-
sophischen Lehren des Sokrates unterschätzt. Die von Busses Beiu-teilung
der Quellen abweichende Ansicht des Rezensenten ist in einem Aufsatz in
Bd. 27 H. 3 unserer Zeitschrift dargelegt, auf den hiermit verwiesen sei.
Mit Recht spricht Busse Xenophon jeden selbständigen Quellenwert ab und
läßt ihn nur noch hier und da als Ergänzung der Platonischen Darstellung
gelten.
Sehr gelungen ist in Busses Monographie die Darstellung der geistigen
Strömungen, von denen Sokrates getragen wurde, namentlich auch der So-
phistik, als deren Sohn und Überwinder er erscheint. Sehr richtig trennt Busse
von der Sophistik den sitthchen Subjektivismus, der in seinem Ursprung älter
ist als diese und eine Folgeerscheinung der schrankenlosen Demokratie dar-
stellt. Die Sophisten haben sogar den Versuch gemacht, durch den Vortrag
moralischer Erörterungen das sittliche Bewußtsein wieder zu kräftigen, aber
ihre Lehre, daß es keine allgemeingültige Wahrheit gebe, mußte die sittlichen
Normen und den Autoritätsglauben erschüttern.
Eingehend behandelt Busse die Frage, wie die häßliche und phantastische
Älischgestalt dgs Aristophanischen Sokrates zustande kommen konnte, die
zwar die äußere Physiognomie des wirklichen Sokrates zeigt, aber von seiner
geistigen Eigenart nichts enthält. Aristophanes wollte in Sokrates den Typus
eines Aufklärers zeichnen; denn er haßte die Aufklärung in jeder Form und
trug kein Bedenken, bei der Übereinstimmung der Grundanschauung ihm
Rezensionen. 103
einige fremde Züge zu leihen, um dadurch das ganze hohle Treiben der So-
phistik an den Pranger zu stellen. Auf das Konto des Protagoras kommen die
Advokatenkniffe und die grammatischen Spielereien, gegen Diogenes richtet
sich alles, was zur Verspottung der Xaturforschung und Freigeisterei zusammen-
getragen wird. Wenn Aristophanes Sokrates mit den Sophisten auf eine Linie
stellte, so ist das nicht verwunderlich, da noch 24 Jahre später Anytos nicht
imstande war, Sokrates von den Sophisten zu trennen. Wenn Sokrates bei
Aristophanes aber auch zum Anhänger der von Diogenes von Apollonia ver-
tretenen neuen Welterklärungstheorie gemacht wird, so muß in der Gottes-
und Weltanschauung beider eine grundsätzUche Übereinstimmung geherrscht
haben. In der Tat glaubten sie, wie auch Euripides, aus der zweckmäßigen
Welteinrichtung auf einen denkenden Urheber schUeßen zu müssen. So konnte
der Komiker auf den Gedanken kommen, in den ,, Wolken" seinem Sokrates
den Geist des Diogenes einzuhauchen und in den „Fröschen" Sokrates zum
Einbläser des Euripides zu machen.
Gewissenhaft und ruhig abwägend behandelt der Verfasser die gerichtliche
Anklage des Sokrates. Er zeichnet in dem Ankläger Anytos einen braven
Patrioten, der aus Sorge um das Wohl seines Volkes den Mann vernichtet,
der allein das Mittel kannte, das der Not des Volkes abzuhelfen geeignet war.
So ist das Gute und das Böse in der Tat des Anytos unlösbar miteinander ver-
flochten, und während wir seine Tat verdammen, müssen wir zugleich seine
Absicht loben.
Leider hat sich Busse von Natorp verleiten lassen, Sokrates den Grundsatz
zuzuschreiben, daß die Tugend nicht lehrbar sei.
Reval. P Bokownew.
Dr. Jos. Pavlu, Die pseudoplatonischen Gespräche über Gerechtigkeit
und Tugend. Sonderabdruck aus dem Jahresbericht des k. k. Staats-
gymnasiums im III. Bezirk. Wien 1913. 35 Seiten.
Erst verhältnismäßig späte mittelalterliche Handschriften bringen beide
Werkchen jisol doerrc und ttsoi dixuiov mit Plato in Beziehung. Das
Gespräch tt^qI (hxuiov ist eine Schulübung, in der die Frage nach dem Wesen
der Gerechtigkeit in höchst unbeholfener und unselbständiger Weise durch-
geführt ist. Als Vorlagen hat der Verfasser von nsol öixuCov den pseudo-
platonischen „Minos" und das I. Buch von Piatos „Staat" benutzt, jedoch
ohne Verständnis für die großartige Behandlung des Problems bei Plato.
Wie eng er sich an seine Vorlagen angeschlossen hat, tut Pavlu durch eine
Reihe von Vergleichen dar. Das Gespräch Tteql uQsrrjg erweist sich als skrupel-
loses Plagiat. Der „Menon" wird wörtlich kopiert und an zwei Stellen wird
aus dem „Alkibiades I" und der Apologie fast wörtlich abgeschrieben. Die
Führung beider Gespräche ist sehr schablonenhaft und ganz unplatonisch:
des Sokrates vielgerühmte Hebammenkunst versagt, und der unfähige Mit-
unterredner erweist sich als aller Belehrung unzugängUch. An Plato als Ver-
fasser ist nicht zu denken. Auch die Annahme des Schusters Simon als Ver-
fassers ist gänzhch ausgeschlossen, da dieser zu Lebzeiten des Sokrates schon
ein erwachsener Mann und gewiß schon tot war, als die pseudoplatonischeo
104 Rezensionen.
Dialoge „Minos" und „Alkibiades I" entstanden. Daß beide Gespräche auf
einen Verfasser zurückgehen, wie Pavlu will, braucht aus der ähnlichen Stümper-
haftigkeit beider nicht notwendig geschlossen zu werden. Jedes von ihnen
kann einen anderen unfähigen Kopf zum Verfasser gehabt haben. Übrigens
ist diese Frage gar nicht von Wichtigkeit.
Reval. P. Bokownew.
Olympiodori philosophi in Piatonis Phaedonem commentaria
edidit VViUiam Norvin. Teubner 1913.
Diese neue Bereicherung der Teubnerschen BibUothek sei hier freudig
begrüßt. Der Kommentar Olympiodors und unbekannter Verfasser zu Piatos
Phaedon war schon 1847 von Christoph Eberh. Finckh herausgegeben worden,
doch hatte dieser Ausgabe eine minderwertige Handschrift zugrunde gelegen.
Nichtsdestoweniger war es dem Herausgeber gelungen, viele Fehler der Hand-
schrift zurechtzustellen. Der vorliegenden Ausgabe ist der codex Marcianus
196 zugrunde gelegt, der von J. L. Heiberg und dem Herausgeber untersucht
worden ist. Eine Beschreibung und Geschichte dieser Handschrift gibt der
Herausgeber in der Einleitung. Es erweist sich, daß auf den codex Marcianus
alle übrigen Handschriften dieses Kommentars zurückgehen. Die Konjekturen
Finckhs und anderer haben Beachtung gefunden. Der Text ist sehr übersicht-
lich angeordnet. Die im Text erwähnten Stellen aus Plato und anderen Schrift-
stellern sind am Fuße zwischen Text und kritischem Apparat angeführt.
Reval. P. Bokownew.
Piatons Dialog Gorgias. Übersetzt und erläutert von Dr. Otto Apelt. Der
Philosophischen Bibliothek Band 148. Felix Meiner, Leipzig 1914.
Seit 1911 bereichert Dr. Otto Apelt die Philosophische Bibhothek jährlich
durch die Übersetzung eines Platonischen Dialogs. Theätet, Philebos und Phai-
don folgten auf einander und wurden als vortreffliche Übersetzungen anerkannt.
An sie reiht sich jetzt seine Übersetzung des Gorgias, und wie zu erwarten,
steht sie den Übersetzungen dieser Dialoge an Genauigkeit, Klarheit und
Verständlichkeit nicht nach. Wie schwer die Aufgabe einer Platoübersetzung
ist, beweisen die zahlreichen Übersetzungen, bei deren Lektüre man nicht
den echten unverfälschten Plato vor sich zu haben fühlt. In der vorhegenden
Übersetzung des Gorgias, die alle früheren in den Schatten stellt, ist diese
Aufgabe glänzend gelöst, und die farbenprächtige dramatische Lebendigkeit
des Gorgias verfehlt nicht ihre Wirkung auf den Leser. In der Tat ist diese
Gorgiasübersetzung ein Schatz, und es wäre ein großer Gewinn, den ganzen
Plato in solchen deutschen Übersetzungen zu besitzen — ein Ziel, an dessen
Verwirkhchung die Philosophische Bibhothek in letzter Zeit mit erfreuUchem
Eifer arbeitet.
Die Einleitung gibt eine wertvolle Würdigung des Dialogs und eine Charak-
teristik der auftretenden Personen und erleichtert die Lektüre durch Angabe
des Inhalts und der Ghederung des Gespräches. Die Anmerkungen sind knapp
und inhaltreich.
Reval. P. Bokownew.
Rezensionen. Iü5
A. /. Aoyod^iTriQ, ri ^9-ixr> (pvkoß ocpCa xov nXdrLovoq tt-
G/ißei TTQog Tovz TTQodoöfJOvg xat zr^v Itti tu fjfTeirenu rj^ixu (fi'/.o-
GO(pijuuTu tTVidouGiv avTijg. ^Ev Ad^tjvuic ivnoig U. J. ^axEKKuotov
1913. 372 Seiten.
Ein Buch über Plato in Piatos Sprache ! Die schöne, flüssige Darstellung
liest sich leicht und angenehm, und hat den Vorzug vor den Darstellungen der
Platonischen Philosophie in anderen Sprachen, daß Piatos eigene Worte
in ihr nicht als Fremdkörper hervortreten, sondern sich mit ihr zu einem Ganzen
verschmelzen. Das Buch hält voUauf, was der Titel verspricht.
An den Anfang des Buches ist ein kurzer Abriß der ethischen Lehren der
Vorgänger Piatos gestellt. Obgleich die Vorsokratiker vorzugsweise Natur-
philosophen waren, verdienen ihre ethischen Lehren doch Beachtung, insofern
als sie die Ausgangspunkte späterer ethischer Systeme bilden. Nicht nur in ihren
Naturtheorien, sondern auch in ihren ethischen Lehren stellen die griechischen
Philosophen eine ununterbrochene Reihe dar, in der die Späteren sich auf die
Früheren gründen und deren Lehren vervollständigen und fortsetzen. Die
Ethik der Pytagoräer steht in engem Zusammenhang mit ihrer Seelen- und
Seelenwanderungslehre. Sie fordern hauptsächUch ein Leben in Reinheit,
Streben zum Guten und Abwendung vom Schlechten, damit die Seele Gott
ähnlich werde. Diese Ethik entwickelte sich unabhängig von der Metaphysik
der Pytagoräer, allein beiden gemeinsam ist der Gedanke der Ordnung. Der
Verfasser wendet sich gegen die Auffassung, die Philosophie des Heraklit
charakterisiere der Pessimismus. Die Welt ist die Verkörperung der schönsten
Harmonie. Der Mensch hat die Mögüchkeit, sich über die vernunftlose Natur
zu einem glückseligen Leben zu erheben. Die Seele des Menschen ist nämlich
ein Teil des göttUchen Feuers, und wenn der Mensch sie rein erhält, tritt sie
nach seinem Tode in ein reineres Leben ein. Daraus ergibt sich für Heraklit
die strenge Forderung eines sittenreinen Lebens, die fälschlich als Pessimismus
ausgelegt \\ird. Im allgemeinen betrachtet, haben die Vorsokratiker wertvolle
Lebensregeln und Sittenlehren aufgestellt, sie aber nicht in engen Zusammen-
hang mit ihren philosophischen Prinzipien gebracht. Weiter werden die
Sophisten einzeln diu-chgenommen, und das Verhältnis des Sokrates zu
ihnen festgestellt. Sokrates erscheint nicht nur in seiner Begriffsforschung als
ein Vorläufer Piatos, sondern schafft auch eine höhere Auffassung vom Wesen
des Staates, die die Platonische Staatstheorie vorbereitet.
In ein paar Strichen wird die Platonische Ideenlehre gezeichnet, die
von dem von Sokrates geschaffenen Begriff ausgehend sich dem Sein des Par-
menides nähert. Hieran schließt sich die Lehre von der Tugend. Wie überall
Zweckmäßigkeit und Schönheit auf Ordnung und Harmonie beruht, so machen
auch die richtigen Verhältnisse der Seelenteile zueinander die Tüchtigkeit und
Schönheit der Seele aus. Es gibt zwei Arten von Tüchtigkeit der Seele oder
Tugend: die Tugend des tägUchen Lebens, die durch Gewöhnung und Übung
erworben wird, und sich auf die richtige Meinung gründet, und die philoso-
phische Tugend, die auf Wissen beruht. Der Wertunterschied zwischen beiden
Arten von Tugend entspricht dem Wertunterschied von Meinung und Wissen.
Auch auf Grund einer richtigen Meinung können die Menschen die Wahrheit
106 Rezensionen.
sagen und das Rechte tun, wie die Wahrsage!" vuad Dichter, jedoch nur un-
bewußt. Die bewußte Tugend allein ist wahre Tugend. Sie richtet sich direkt
auf das (Tute, während die unechte, auf Gewöhnung beruhende Tugend das
Gute um eines anderen willen, der Lust oder des Vorteils, anstrebt. Das (xute
erkennen wir durch die Vernunft, die somit die Bedingung der Tugend ist.
Die guten Handlungen des Menschen beruhen auf Wissen, die schlechten auf
Unwissenheit. Die Tugend hat vier Grundformen, deren Wesen sich aus den
Ch-undanschauimgen der Platonischen Psychologie ergibt. Plato unterscheidet
in der menschlichen 8eele einen rationalen ,Seelenteil — die Vernunft, deren
Tugend die Weisheit ist, und zwei irrationale Seelenteile, deren einer der
begehrende, der andere der Mut ist, durch dessen Vermittlung, wenn er nicht
durch schlechte Erziehung verdorben ist, die Vernunft das Begehren im
Zaum hält und lenkt. Die Tugenden des Mutes und des Begehrens sind die
Tapferkeit oder Tatkräftigkeit und die Sophrosyne oder Besonnenheit.
Diesen Tugenden schließt sich als vierte die Gerechtigkeit an, die nicht
einem speziellen Seelenteil zukommt, sondern darin besteht, daß alle drei
Seelenteile das tun, was ihnen zukommt, und sich mit einander in Einklang
befinden. So gelingt es dem Verfasser, die fluktuierenden ethischen Lehren
Piatos in ein System zu bringen, nicht ohne aber manchen wertvollen Gedanken,
der im Laufe der philosophischen Entwicklung Piatos auftaucht und -«ieder
verschwindet, dem System zuliebe aufzuopfern. Er erwähnt z. B. die Fröm-
migkeit nicht, die in Piatos früherer Konzeption der Ethik als fünfte Tugend
genannt wurde und im Staat nicht mehr als Kardimitugend gilt, sondern als
Unterart der Gerechtigkeit, nämlich als Gerechtigkeit den Göttern gegenüber,
aufgefaßt wird. Aus der Lehre von der UnsterbMchkeit der Seele, die bei
Plato einer langen Entwicklung unterworfen ist, hat der Verfasser ganz will-
kürlich nur einen Ausschnitt, und zwar das Resultat dieser Entwicklung,
daß von den drei Seelenteilen allein die Vernunft göttUch und ewig ist, in
sein System der Platonischen Ethik aufgenommen.
Ein Kapitel ist der Platonischen Staatstheorie gewidmet, wie sie sich
im ,, Staat" darstellt. Xur im Staat ist Erziehung möglich. Ohne ihn
wäre Tugend ein Ding des Zufalls. Die Tugend der Bürger ist das endliche
Ziel des Staates. In einem wohleingerichteten Staate üben alle Bürger die
Tugend und fUehen das Böse. Die Grundvoraussetzung für einen vollkommenen
Staat ist die absolute Herrschaft der Philosophie und der Philosophen. Nicht
das Wohl eines speziellen Standes, sondern das höchste mögliche Wohl des
ganzen Staates muß nach Plato angestrebt werden. Es wird erreicht, wenn
jeder Stand und jeder einzelne Bürger der Beschäftigung nachgeht, zu der
er von Natur und durch Erziehung befähigt ist. Nur dann bewahrt der Staat
seine Einheit. Ein großer Abschnitt des Kapitels behandelt sehr ausführlich
die Erziehung, wobei der Verfasser stark betont, für wie wichtig Plato es
erachtet, daß der Zögüng zu einer monotheistischen Gottesanschauung er-
zogen werde. Diesem Ziel müssen auch Homer und Hesiod wegen ihres Poly-
theismus geopfert werden.
In zwei ferneren Kapiteln Averden das gegenseitige Verhältnis von Lust
und Einsicht und von Glücksehgkeit und dem höchsten Gut dargelegt. Die
Rezensionen. 107
Einsicht allein ist nicht imstande, das Leben zu einem vollkommenen zu
machen, dazu ist noch die reine Lust erforderlicii. Reine Lust ist diejenige,
die unserer Xatur angepaßt ist und sich mit allen Tugenden der Seele verträgt.
Das beste Leben ist das, in dem Lust und Einsicht richtig gemischt sind.
Die Lust ist etwas Relatives und als solches nach Piatos Anschauung von unter-
geordneter Bedeutung. Nicht jede Einsicht kann gleichen Wert beanspruchen,
den höchsten Wert hat die methodische Erkenntnis des Wahren und Un-
veränderlichen, die allein das Maß für die richtige :Mischung von Einsicht und
Lust liefern kann. Dieses UnveränderUche und Wahre ist das höchste
Gut. Als das höchste Gut wird von den Menschen am häufigsten die Glück-
sehgkeit angesehen, und das, was zu ihr führt, bezeichnen sie als gut. Diese
Meinung ist falsch, und daher werden Reichtum, Macht und Gewalttätigkeit
fälschUch „gut" genaimt. Gewalttätigkeit, Ungerechtigkeit und alle Schlechtig-
keit sind Krankheiten der Seele, und die mit ihnen behafteten sind unglückhch,
weniger unglückhch, wenn sie Strafe erleiden und besser werden. Um glück-
selig zu werden, muß der Mensch die seehsche Vollkommenheit und Gottähnhch-
keit anstreben. Deren Grundvoraussetzung aber ist das absolut Gute.
In diesen beiden Kapiteln ist es ganz besonders störend, daß der Verfasser
dem in stetiger Wandlung begriffenen Gedankenleben Piatos zum Trotz ein
einheithches System der Platonischen Ethik aufstellen will. Er trägt das
Material dazu aus den verschiedensten Perioden des Platonischen Denkens
zusammen, aus „Gorgias" und ,,Philebos", aus „Phaidon" und „Staat", und
so werden die transzendenten und immanenten Tendenzen innerhalb der
Platonischen Ethik nicht in das rechte Licht gerückt. Eine gesonderte Be-
trachtung widmet der Verfasser nur der letzten Stufe in der Entwicklung der
Platonischen Ethik, die in den „Gesetzen" zutage tritt. Das Schlußkapitel
behandelt die Nachwirkungen der Platonischen Ethik. Ihre Wirkung
geht weit über die Akademie, Aristoteles, die Stoiker und den Neupythagoräis-
mus hinaus. Auch Epikurs Ethik zeigt Verwandtschaft mit Platonischen Ge-
danken. Der energischste Vertreter der Platonischen Ethik im ersten nach-
christhchen Jahrhundert war Plutarch. Das Ziel des Lebens ist nach ihm
eine Erhebung zur Gottheit. In seiner Auffassung von der Gottheit schheßt
er sich an Plato an. Gott ist das unveränderüche, wahrhaft Seiende, das ab-
solut Gute, die reine Vernunft. Dabei läßt Plutarch die Volksrehgion gelten,
indem er die Götter des Volkes als verschiedene Namen einer Gottheit deutet.
Philo vollzieht die S\nithese zwischen der Platonischen Philosophie in der
Gestalt, die sie in Alexanckien zu seiner Zeit angenommen hatte, und der
jüdischen Theologie. Plotin geht von Philo aus und bildet die Platonische
Lehre, ihre mystischen Tendenzen hervorhebend, fort. Von Plato weicht er
darin ab, daß er das Ziel des Lebens nicht in einer durch die Tugend vermittelten
größtmögUchen Annäherung an Gott, sondern in einer Vereinigung mit Gott
in der Ekstase sieht. Elemente des Platonischen Denkens gehen in die christ-
hche Ethik über und werden in ihr Jahrhunderte lang verarbeitet. Endhch
nimmt Leibniz den Pytagoräisch-Platonischen Gedanken von der Aimäherung
an Gott als dem Ziel menschhchen Strebens nach Vollkommenheit auf.
ßgya,l. P. Bokownew.
108 Rezensionen.
Max Schlesinger, Geschichte des Symbols. Ein Versuch. Berlin, Verlag
von Leonhard Simion Nf. 1912. 474 S.
Dieses Buch ist in doppelter Hinsicht bewundernswert: wegen seiner
unglaublich reichhaltigen Materialsammlung, die aus allen möghchen (iebieten
hervorgeholt worden ist und wegen der großartigen philosophischen Beleuch-
tung, in welche dieses Material gestellt ist. Doch ist es ungemein schwer, die
Leistung dieses Werkes, welches als ,,ein Versuch" bezeichnet ist, präzise zu
bestimmen. Dem Verfasser ist offenbar die Aufgabe, die er sich gestellt hat,
ins Ungemessene gewachsen, denn die Stoff anhäuf ung hat ihn überflutet.
Die Aufgabe ist schlechterdings riesig und mannigfaltig, da sie einem Ozean
von allerlei Tatsachen gegenübersteht. In der Vorrede lesen wir: ,,Wenn
nämlich in der Tat diese Untersuchungen ihren Zweck völlig erfüllten, so
würden sie die Erkenntnis des Geisteslebens ganz erheblich vermehren, indem
die letzten Endes nichts Geringeres erreichten als die Scheidung alles Erlebens
in Trug und Wirklichkeit, in Sein und Schein" (S. 1). Es gilt demnach ,,das
SjTnbolische zu kennzeichnen", ,,das Trügerische der Einbildungswerte zu er-
kennen" (1). Mitten im Buch schwingt sich der Verfasser zur Idee einer be-
sonderen (bereits im Mittelalter geforderten) Sj-mbolwissenschaft auf und sagt:
,,Sie erklärt nicht nur viele Geschehnisse der Welt- und Kulturgeschichte
(beide im weitesten Umfang gedacht), sie gibt auch die Antwort auf Fragen,
welche die Menschheit immer noch und manche erst von neuem bewegen;
sie ist in ihren letzten Zielen berufen, eine Weltanschauung herbeizuführen,
in der aktenmäßig Sein und Schein auseinander gehalten werden ..." (102).
An einem anderen Orte wird endlich diese Aufgabe zu einer philosophischen
verklärt: ,,Die Philosophie hat über das Symbol auszusagen, sie sucht seinen
Ursprung zu ermitteln, sein Vorkommen zu begründen, seine Notwendigkeit zu
erweisen, den Begriff zu umschreiben, sein Wesen zu erklären . . . Ästhetiker
imd Rechtsgelehrte, M5^thologen und Geschichtsschreiber, Theologen und
Sprachforscher, Kunstgelehrte und Psychiater kehren andei'e Wesensseiten
des Symbols hervor — nur der Philosoph ist gehalten, den Begriff so zu fassen,
daß alle seine Erscheinungsformen dadurch gedeckt werden" (55). Schon hier-
aus ersehen wir, daß das über den Trug Gesagte nicht tragisch zu nehmen ist;
sagt doch der Verfasser selbst: ,,Es wäre ein unersetzlicher Verlust für die
Menschheit, ihre Symbole zu verlieren" (2), und er zeigt — dies ist auch seine
Aufgabe — „daß sich das Symbolwort und der Symbolbegriff durch viele
Zeiten und Völker bis in die Gegenwart erhalten hat" (37), wir können aber
seiner Übereinstimmung gewärtig noch hinzufügen: auch die bewußte und
gewollte Symbolbildung. Neben dieser systematischen Problemstellung finden
wir noch eine geschichtliche. In der Vorrede erklärt der Verfasser, daß „der
vorhegende Stoff nicht um seiner selbst willen aufgespeichert wurde, sondern
lediglich um Werden, Sein und Ablauf der Symbolik in der jeweiligen Beleuch-
tung zu zeigen, um das Wesen des Symbols zu begreifen" (3). Mitten im Buch
finde wir folgende große geschichtliche Konstruktion vor: ,,In drei große
Abschrütte meinen wir die Geschichte des Symbols teilen zu dürfen; der erste
umfaßt den unermcßbaren Zeitraum, in dem es neben der Sprache eines der
wesentlichsten Ausdrucksmittel war; — ^ der zweite die geschichtlich bekannte
Rezensionen. 109
Zeit, in der es dui'ch Einfühlen und Denkarbeit Lebensform und Lebens-
inhalt bildete; — der dritte und jüngste umfaßt die Gegenwart, in der es zwei
ganz verschiedene Aufgaben erfüllt, einerseits nämlich der Kürze, der Be-
(luemhchkeit, der internationalen Verständlichkeit dient, dann aber als Hinauf-
rückung alles Erlebens zu idealer Vollendung strebt" (185). Diese Ansicht ist
als eine Hypothese wohl annehmbar. Mit ihr ist noch eine andere Ansicht
über das geschichthche Anschwellen und Nachlassen der 8ymbolbildung ver-
bunden, die sich in den anschheßenden Worten kundgibt: „Wie der Ablauf
des Menschenlebens nicht die einzehien Altersstufen jäh scheidet, -wie im
hohen Alter sich bisweilen Jugendgefühle regen, in der Jugend unerwartet
frühe Reife hervorbricht, so findet sich im Leben des Symbols manches
Hinüberschwanken von der einen Stufe auf die andere: ein Zurückgreifen
fortgeschrittener Zeiten in die Kindheiit des Symbols, ein Ahnen späterer
Aufgaben in seiner frühen Jugend" (185). Es tut dem keinen Eintrag, wenn
der Verfasser einmal urteilt: „Die symbolische Bedeutung pflegte man erst
dann zu erkennen, wenn die Erscheinung am Erlöschen war" (2) und ein
andermal hingegen von der Zeit der anschwellenden „symbolischen" Betätigung
sagt: „Aber diese Zeit gebiert regelmäßig das Streben, sich auf sich selbst zu
besinnen, das Wesen des Symbols zu erforschen, seinen Formen nachzuspüren,
seine Erscheinung zu studieren" (102). Und noch eine andere Problem-
stellung kann in dem Buche gefunden werden. Der Verfasser unternimmt,
„erstens die natürlichen Bedingungen aufzuweisen, durch die das Symbolbilden
im menschlichen Körper ermögUcht wird, ferner das Symboüsieren als sinn-
bildhchen Vorgang in die Betätigung des Seelenlebens einzureihen, endUch
Krankheits- und Traumerscheinungen von spnboüscher Eigenart namhaft zu
machen" (38). Dieses Problem unterscheidet sich von den anderen dadurch
in dem Buche, daß es in einem besonderen Kapitel eine Behandlung erhält,
während jene auf das Ganze sich beziehen, ohne daß von ihnen außer den
oben angeführten Stellen mehr die Rede ist.
Wir kommen nuimiehr zur Behandlung des Stoffes, welcher das Werk
füllt. Der Verfasser sagt in der Vorrede: „Wir haben der philosophischen
Behandlung unserer Aufgabe die geschichthche Darstellmig vorgezogen . . .
Von einer methodischen oder enzyklopädischen Verarbeitung der Sach-
symbohk haben wir abgesehen, da erstens eine nicht geringe Zahl älterer und
neuerer Sammlungen, ja derartige Arbeiten aus allerletzter Zeit vorliegen,
da ferner kaum etwas in der weiten Welt vorhanden ist, das nicht ziun Symbol
gedient hat, oder doch hätte dienen können" (2). Doch müssen wir sagen, daß die
Behandlung sowohl methodisch, als auch enzyklopädisch, wie geschichthch zu-
gleich ist. Methodisch ist sie eben, w^eil sie geschichthch ist und enzyklopädisch
muß man sie nennen, weil sie kein Gebiet des Symbols außer acht läßt. Xur
müssen wir die Behandlung unsystematisch nennen. Das Werk hat drei Teile:
Der erste „Einführung in die Symbolik" enthält zwei Kaiiitel: „Die Wort-
geschichte des Symbols" und „NaturgeschichtHche Grundlagen des s3tii-
boüschen Vorkommens" (enthaltend Physiologisches und Psychologisches),
der zweite Teil enthält zwei Kapitel: „Philosophie und Symbolwissenschaft"
und „Ästhetik'", endüch der dritte Teil heißt „Die SjTiibolerscheinung" und ent-
wo Rezensionen.
hält sieben Kapitel: „Symbolische Stufen und Symboldeutung im Altertum''
„Rechtssymbolik", „Die ReHgion — ein Sj-mbolgebilde", „Das SjTiibol in
Plastik und Malerei usw.", ,, Symbolik in der Baukunst", ,,Aus der Sprach-
sjTiibolik", ,,S\Tnbolik im Menschenleben". Schon an diesen Überschriften
ist zu sehen, wie ungenügend die Gruppierung ist. Durch einfache Umstellung
des Stoffes, die sich aufdrängt, würden wir folgende Teile erhalten: 1. Wort-
geschichte des SjTubols, 2. Tatsachen der S\^nbolik im Recht, in der Sitte,
in der Religion, in der Kunst, in der Sprache, in der Wissenschaft und Philo-
sophie, 3. Theorien des Symbols (physiologische, psychologische, ästhetische,
erkemitnistheoretische usw.). Ein tieferer Grund, warum der Verfasser nicht
so eingeteilt hat, liegt darin, daß er die bewußte und unbewußte Sjnnbolbildung,
die Auffassung und die Hineinpro jizierung, die Tatsache der Erklärung und
die Erklärung der Tatsache des Symbols nicht rein voneinander gesondert hat.
Doch verzeiht man es gern dem Verfasser, welcher mit erstaunlicher Be-
wanderung auf den verschiedensten (gebieten und in der ungeheuren Literatur
Gedanken und Tatsachen zu holen weiß. Oft sind es Zitate, vielfach auch
Referate, manchmal hübsche kleine Monographien, vne z. B. über die An-
sichten Creuzers (105—114) oder Goethes (165 — 174). Es ist dem Leser
anheimgestellt, die angeführten Gedanken und Tatsachen an der Wortgeschichte
und an den Theorien des Symbols zu messen. Der Verfasser versteift sich
durchaus auf keinen bestimmten Sinn, und dies ist ein Vorzug und anderseits
ein Mangel des Werkes. Er erklärt: „Die vielfache Bedeutung des Symbol-
begriffs nötigt immer wieder, sich mit dem Wortgebrauch für das ziu- Behand-
lung stehende Gebiet von neuem zu beschäftigen und ihnen eine für das be-
treffende Einzelgebiet passende Erklärung zu finden" (38).
Über die Sammlung des Werkes gibt das Register Rechenschaft, in welchem
gegen 2 Yo Tausend Autornamen und Symboldinge verzeichnet sind. Vieles ist
natürlich unbeachtet geblieben, vieles ist zu kurz gekommen. So z. B. ver-
missen wir den Namen Carlyles, des Philosophen der symboUschen Welt-
anschauung, viel zu wenig ist auf die Symbolbetätigung der Natm-völker,
von welcher wir nicht wenig als Erbschaft behalten, Rücksicht genommen,
rücht genug ist die Astralsymbolik herangezogen, sowie die diese betreffende
Theorie von Dupuis, welche neuerdings weiter ausgebaut wird, nur flüchtig
oder gar nicht ist von symbohschen Bräuchen, wie vom Los, vom Zweikampf,
vom Gruß usw. die Rede, in dem Gebiet der Vorurteile wäre sehr viel zu finden,
es wäre der symbolische Wert der Attitüde, der Körperhaltung, der Körper-
form, der Gebärde, sowie der mit dem Körper verbundenen Gegenstände zu
erörtern. Der Verfasser weiß gut, daß er nicht alles erschöpft hat und er
bittet um Unterstützung für seine fernere Arbeit, welcher man mit Spannung
entgegenzusehen allen Anlaß hat. Das Buch eröffnet eine Welt, welche dem
Philosophen ein unermeßüches Feld zur Bearbeitimg bietet. Es leitet zu einem
philosophischen Problem von weittragendster Bedeutung hin, welches streng
empirisch gelöst werden kann und muß. Freilich muß dieses Problem als ein
philosoplüsches gefaßt werden. Es will uns scheinen, daß es in dem geschaffenen
oder dem vermeintlichen ,,Trug" besteht, welcher erkenntnistheoretisch zu
erklären wäre. Dr. J. Halpern (Warschau).
Rezensionen. 111
Dr. M. Kronenberg, Geschichte des deutschen Idealismus. 2 Bände.
428 und 840 S. 1909 und 1912, Verlag der C. H. Beckschen Verlags-
buchhandlung.
Das Werk macht den Eindruck, als ob es etwa auf einer entfernten Insel
bei gänzUchem Fehlen von Hilfsbüchern aus der Erinnerung geschrieben
wäre, \md dazu von einem Verfasser, der ungefähr aus Hegels Zeit stammt
imd nichts darüber hinaus weiß — ausgenommen, daß gegenwärtig ^\^eder
IdeaUsmus in den SchwTing kommt, demnach an die Tradition anzuknüpfen
hat. Es ist eine populäre Erzählung darüber, was die größten Ideahsten ge-
dacht haben, ohne Bezugnahme auf ihre Werke und lebendige Beziehungen,
nicht eine Darstellung eigentlich, sondern eine Besprechung und Charakteri-
siermig der Ideen, einfach eine Plauderei mit poetischen Zitaten reich ge-
schmückt, nicht einmal eine Darlegung, was der Verfasser gelernt hat. Wer
die Geschichte aus Lehrbüchern kennt, der wird nichts Neues erfahren, der
sie aber nicht kennt, dem wird es schwül werden, daß es viel zu erfahren ist. Da
man bei jeder Erzählung geneigt ist, von vorn anzufangen, möglichst von
Adam und Eva an, so beginnt der Verfasser mit — • Parmenides und durch-
läuft die alten Griechen, berührt das christliche Mittelalter und auch die
Xatm'philosophie der Neuzeit, wobei er Taurellus und Cusanus un-
beachtet läßt, ^-ird bei Descartes, Spinoza, Leibniz und der Auf-
klärung ausführhcher, dann erinnert er sich noch kurz an die deutsche Mystik
und gelangt endhch — es ist schon S. 259 — zu Hamann und Jacobi,
dami kommt Winckelmann und Lessing, vorkritischer Kant und
Herder, Stiu-m rnid Drang und der erste Band ist beschlossen. Im zweiten
Band ist in breitem Redestrom von Kant, Fichte, von dem neuen Spinozis-
mus, von Klassizismus und Romantik, Schelling und Hegel die Rede.
Mit dem bloßen Auge kann der Verfasser natürlich nm' die Sterne erster Größe
erbhcken. Von solchen wie Niethammer, Eschenmayer, Beck, Bar-
dibi, Schwab, Ast, Rixner, Oken, Solger, Hülsen, Molitor usw.
ist keine Erwähnung getan, ja es sind Fries, Baader, Görres, Krause
ganz übersehen worden. Friedrich Schlegel und Schleiermacher sind
keiner Abschnitte gewürdigt worden. Um irgend eine Untersuchung oder auch
eine Durchführung einer Idee handelt es sich gar nicht, vom Nachweis irgend
einer Entwicklung ist keine Spur. Der Verfasser reitet auf dem Gegensatz
des Subjektiven und Objektiven munter umher im Glauben, daß er etwas
klar macht, um so mehr, als er wähnt, in diesem Gegensatz die Idee der Kultur
zu besitzen. Demi das Wesen der Kultm besteht nach ihm darin, daß „indem
der Gegensatz des Objektiven und Subjektiven stets lebendig bleibt, doch
beide sich immer dvu-chdringen und zur Einheit werden" (Bd.I, 87), wonach es
auf eine Vermischung und Verwechslung ankäme, die im Wahnsinn ihre Voll-
endung hätte. Es tut eben eine theoretische und geschichtUche Aufklärung
über diese vieldeutigen Ausdrücke not, wie auch über die Terminologie des
IdeaHsmus überhaupt, che der Verfasser als Gläubiger einfach übernimmt,
ohne dem historischen Verständnis zu dienen. Aber eine Aufklärung erhalten
vär, die uns der weiteren Besprechung enthebt. Im Prospekt, welcher das
Werk ankündigt, lesen wir: „Das Werk will keine gelehrte Monographie sein.
112 Rezensionen.
sondern wendet sich an die weiteren Kreise der Gebildeten". Diese werden
Wühl aber die Schriften von Julian Schmidt, Haym, Dilthey, Kircher
usw. gelesen haben oder werden besser tun, sie zu lesen.
Dr. Halpern (Warschau).
Benedict Lachmann, Protagoras, Nietzsche, Stirner. Ein Beitrag zur
Philosophie des Indi\'idualismus und Egoismus. Berhn, 1914,
L. Simion Xf. 8°, 71 S. 1,50 Mk.
Leider sind die einzelnen Teile dieses Aufsatzes nicht gleichwertig durch-
gearbeitet. Worin die Lehren der drei Individuahsten zusammenhängen, worin
die eine auf der anderen fußt oder über sie hinausgeht und sie weiterfortführt,
das ist zwar richtig gesehen, aber nicht mit gleichem Glücke dargestellt. Wohl
bei Protagoras und Nietzsche — nebenbei seien die mehrfachen feinen Be-
merkungen über die ewige Wiederkehr und den Übermenschen besonders
hervorgehoben. Bei Stirner aber verhert sich der Verfasser in eine unnötig
reiche Zitatensammlung aus dem Einzigen und läßt den kritisch sichern Blick
gegenüber den Worten seines Lehrers vermissen.
Trotz diesem Mangel könnte die Arbeit sehr wohl gelten, wenn ihr Zweck
nur der sein soll, den erwähnten Zusammenhang oder Unterschied bei den
drei behandelten Denkern darzulegen. Lachmann will aber darüber hinaus
der Lehre des Egoismus selbst das Wort reden, und dagegen muß — so kurz
es auch nur geschehen kann — einiges gesagt werden, da es sich zugleich
auch gegen Stirner richtet.
Der Egoismus ist mit einem seiner Hauptsätze schon in sich selbst wider-
legt. ,,Die Auflösimg der Gesellschaft in jeder Form, Staat, Nation, Volk,
Familie, Menschheit iisw. ist die notwendige Voraussetzung dafür, daß der
Einzelne, der Egoist zu seinem Rechte kommt, sein ganzes wirkUches Leben
lebt." Ein Rückblick in die Geschichte lehrt aber, daß kein Einzelner ohne
die Gesellschaft zu seinem Rechte gekommen ist oder kommen kann, daß \iel-
mehr jede kleine -«ie große Form der Gesellschaft als ein Versuch zur Möglich-
keit geschaffen worden ist, den Einzelnen ihr Recht zu geben. Sein ganzes
wirkhches Leben lebt der Einzekie eben nur in der Gesellschaft. Aber neben
diesem schwerwiegendsten Einwand stehen noch andere unbeantwortete
Fragen. W'eder Stimer noch Lachmann wissen zu sagen, was denn eigenthch
für den Einzelnen ,, seine Sache" sein soll oder sein kann. Die landläufige Be-
deutung des Wortes Egoismus trifft nicht den wirklichen Kern ; das soll gern zu-
gegeben werden. Sinnlichkeit, Leidenschaft ,,ist keine Eigenheit, ist Sklaverei",
ja auch das kann noch zugegeben werden, daß es auch jede völhge Hingabe
an ein Gefühl nicht ist. Aber nun sollen es auch meine Urteile, meine Gedanken
nicht sein. ,,VerHere Ich die Macht an sie, so beherrschen sie Mich, benutze
Ich sie aber als mein Eigentum, mit dem Ich nach meinem Willen schalten
kann, so sind sie Meine Sache". Was heißt das aber? Es ist eine Erklärung,
die nichts erklärt. W^as ist denn ,,mein Ich"? Was ist denn ,,mein Wille"?
Was sagt mir dieser vageste Begriff ! Als ob nicht jedes ernste Wollen, das
ich fasse, in gleicher Weise mich zum Knechte seines Zieles machte !
Rezensionen. 113
„Jahrtausende haben sich die Menschen gemüht und gestrebt, den ,Sinn
des Lebens' zu begreifen, ihr Leben auszufüllen, und stießen an den harten
Widerstand der Welt. Hunderte von Systemen wurden erdacht — aber die
Verwirrung wurde immer größer ! Millionen Menschen strebten, die , idealen
Vorbilder' zu erreichen — aber Keinem gelang es ! Soll uns dieses Fiasko der
bisherigen Menschheitsgeschichte nicht soviel gelehrt haben, daß es mit den
erträumten , Idealen' nicht geht?" Selbst wenn das wahr sein sollte — aber
Lehrer wie Schüler bleiben den Beweis dafür schuldig — , sie tun es ja nicht
anders; sie lösen nur auf und können einen positiven Aufbau auch nicht geben.
Und sprechen sich selbst damit das Urteil. ,, Müßiges Sinnen — solches zu
wollen, müßiges Sehnen, der Welt einen Stempel aufdrücken zu wollen, ein
Dach für Alle schaffen zu wollen, ein System ausdenken zu wollen, in das
Alles hineinpaßt, was es an Wünschen, Gedanken, Begierden gibt !" Wollen
sie selber das nicht? Wozu dann ihre Bücher? Sie widersprechen es zwar.
,,Der Egoist ist kein höheres Wesen und keine fixe Idee! Er ist überhaupt
kein Wesen, er ist — Ich — wenn Ich will, und Du — wenn Du willst. Keia
Wort ist dem Egoisten so verhaßt, widerspricht so sehr seinem Sinne, wie das
Wort: Du sollst." Aber sogleich heißt es w^eiter: ,,Nur zeigen, in welchen
Vorurteilen wir befangen sind, und welche fixe Ideen uns beherrschen, das ist
die Vorarbeit; und der Sinn: das Streben, als Ich zu leben, soweit Ich es ver-
mag, und, wenn Ich ein Interesse daran habe und will, die Anderen zu über-
zeugen, daß sie, wenn sie sich zu meiner Meinung bekehren, ihr Interesse
besser wahren." Wenn sie ein Interesse daran haben ! Sie müssen es ja haben
und wollen. Ohne den Versuch einer Überzeugung der Anderen hat das Streben,
als Ich zu leben, keinen Sinn, weil keine MögHchkeit. (,, Stört Ihr Unsere
Kreise nicht, so geht Ihr Uns Nichts an" !) Mit jeder Überzeugung aber geben
sie den Anderen auch das Soll, nach dieser Überzeugung zu leben, also hier
,,als Ich zu leben". Trotz aller Widerrede — auch der ,, Einzige" ist eine fixe
Idee. ,, Begreifen sollten die ,Ideenjäger- endhch, daß sie ihr Streben an eine
,fixe Idee' hängen, und daß sie, da ihnen die Macht dazu fehlt, auch kein
Recht haben, von Anderen Anerkenntnis ihrer , fixen Ideen' zu verlangen.
Es wirkt lächerUch und ist nicht geschmackvoll, sich über die UnzugängHchkeit
Anderer den eigenen ,Ideen' gegenüber zu beklagen." Es kehren sich, eben wie
bei Stimer, leider so viele Worte des Verfassers gegen ihn selbst. Denn was
ist der nächste Satz schon anderes als eine solche Klage: ,,Es erscheint mir
als die größte Ungeheuerlichkeit der Weltgeschichte, daß die Menschen stets
und zu allen Zeiten an ,fixen Ideen' hängen gebheben sind. . ." — Der Wert
der Dinge ist nichts, als was wir selbst den Dingen beigelegt haben — so sagen
wir mit dem Verfasser; aber wir sagen noch mehr: darin eben sehen wir den
Wert unseres Seins und Lebens überhaupt.
Berlin. Fritz Peters.
Oskar Kraus, Piatons Hippias minor. Versuch einer Erklärung. Prag, 1913,
Taussig & Taussig. VIII, 62 S. 2 Mk.
Mit diesem Versuch einer Erklärung gibt Kraus einen äußerst wichtigen
Beitrag zur Sokrates-Plato-Forschung: nichts weniger nämhch als den end-
Arehiv füT Geschichte der Philosophie. XXVIII. 1. 8
114 Rezensionen.
liehen und endgültigen Entscheid über den so verschieden ausgelegten und
beurteilten Dialog. Er weist unwiderleglich nach, daß ihm die Zugehörigkeit
zu den Platonischen Schriften nicht nur nicht abgestritten werden darf, daß
er \^elmehr durchaus als ein mit aller Sorgfalt, Feinheit und Einheitlichkeit
ausgearbeitetes logisches Übungsstück angesehen werden muß, das allerdings
als typisches Beispiel peirastischer Überredungskunst zunächst wohl nur
zum Gebrauch für seine Schüler verfaßt sein mag, aber darüber hinaus zur
Übung philosophischen Denkens überhaupt sich vortrefflich geeignet zeigt
und ganz gewiß nicht ein erstes, unreifes Jugendwerk des Philosophen sein
kann, das seiner Größe etwa gar unwürdig wäre. Als positives Ergebnis dieses
Werkes stellt sich heraus: ,,die Lehre, daß dem Wissen vom Guten eine deter-
minierende Svvafjig zukommt und daß diese sich von jenen dvvafjteiQ, welche
die Sophisten ä la Hippias verleihen wollen, gar sehr unterscheidet, und daß
alles Wissen Scheinwissen ist, das nicht einmal so viel weiß, daß man dieses
Wissen vor allem anzustreben habe" (S. 49).
Kraus hat die schwierige Aufgabe gelöst, diesen rätselhaften und auch
den aufmerksamen Leser so überaus leicht verwirrenden Dialog restlos auf-
zuklären, besonders durch die festgehaltene Beachtung des folgenden, für
die Ethik überhaupt wichtigen Bedeutungsunterschiedes: „Sirayig im Sinne
der Kraft, die den Willen bestimmt, und övvafJiq im Sinne der Kraft, die
dem Willen selbst innewohnt" (S. V). — Die reichlich vorhegenden Schriften
über den Hippias minor hat Kraus alle eingesehen und berücksichtigt, seine
Abweichungen stets begründet. — S. 20, Z. 4 v. u. muß es heißen: diese Hand-
lung nicht unterlassen hätte; Anmerkung 2 S. 37 ist verdruckt.
Fritz Peters - Berlin.
Franz BoU, Die Lebensalter. Ein Beitrag zur antiken Ethologie und zur
Geschichte der Zahlen mit einem Anhang über die Schrift von der
Siebenzahl. Leipzig u. Berlin, Teubner. 1913. 57 S., mit 2 Taf. 2,40 Mk.
Seine erstaunUche Belesenheit in der großen zum Thema gehörenden
Literatur — in den alten und neuen Quellen so gut wie in den Schriften über
sie — läßt BoU seinen Aufsatz interessant genug gestalten, der neben der
Richtigstellung mancher bisherigen Irrtümer auch viel Neues bringt, so daß
wir ihm nichts mehr zuzufügen wissen. Aber unserer Meinvuig nach gehört
die ganze Arbeit wohl mehr vor das Forum des Literar- imd Kulturhistorikers
als vor das des eigenthchen Philosophen, woran der kurze Ausbück auf
Shakespeare und Schopenhauer nichts ändert. Fritz Peters-Berlin.
Fritz Conrad, Die Quellen der älteren, pyrrhonischen Skepsis. 34 S. Diss.
Königsberg.
In Betracht kommen nach Conrad nur Demokrit und die Sophislen.
Er lehnt Hirzels Beweise für die Abhängigkeit von Demckrit mit Recht
ab, läßt aber als eine wesentliche Übereinstimmung die gleich hohe Schätzung
der Medizin gelten. Bei den Sophisten findet er als gleich wesentliche Über-
einstimmungen das Wanderleben (Timon) und die Vortragsweise (Pyrrho
und Timon). die Anwendung der Antithese vopoi — dXr^f^sia auf ethischem
Rezensionen. 115
Gebiete (Gorgias, Hippias), des Ausdruckes ov ^uXkov und der Antilogien
(Protagoras). Es gelingt Conrad auch, die Bekanntschaft mit Lehren des
Protagoras für PjTrho als historisch höchst wahrscheinlich, für Tinion als"
sicher zu erweisen.
Wir können aber der Arbeit nicht die gewollte Bedevitung zuerkennen.
Aus allen solchen Übereinstimmungen, zumal der Schätzung einer Wissen-
schaft, die zu jener Zeit überhaupt in hohem Ansehen stand, dem Wander-
leben und der Vortragsweise, die durch das Wirken der Sophisten allbekannt
geworden waren (was desgleichen doch auch für den Gebrauch bestimmter
philosophischer Ausdrücke gelten muß), — aus allen solchen Übereinstimmungen
und Anklängen läßt sich doch nur auf die Bekanntschaft der Skeptiker mit
den Lehren ihrer Vorgänger schheßen, nicht aber ein Beweis führen, daß
diese für sie tatsächlich die Quellen ihres philosophischen Wissens waren.
Fritz Peters-Berlin.
Siegfried Kriegbaum, Der Ursprung der von Kallikles in Piatons Gorgias
vertretenen Anschauungen. Paderborn, Schöningh. 1913. VIII, 105 S.
Wer mit der griechischen Geschichte und Literatur nur einigermaßen
vertraut ist, wird in der als 13. Heft der Stölzleschen Studien zur Philosophie
lind Religion erschienenen Arbeit Kriegbaums kein neues Ergebnis finden.
Mit umständücher Ausführlichkeit, die in ihren steten Wiederholungen und Ver-
weisungen leider oft genug zur Weitschweifigkeit wird, legt der Verfasser
in dem fast die Hälfte der Abhandlung beanspruchenden ersten Kapitel die
Anschauungen des Kallikles und ihre Verbreitung dar und weist dann nach,
daß für sie keine ,, papierene Vorlage" als Quelle anzunehmen ist, sondern
daß sie ,,im Buch der Geschichte ihrer Zeit niedergeschrieben" waren. Das
ist meines Wissens auch niemals anders gesagt worden. Über die im Inhalts-
verzeichnis für den Schluß versprochenen ,,Kallikleischen Anschauungen bei
anderen Völkern" erfahren wir nichts; daß auch Nietzsche, wie in der Ein-
leitung kurz behauptet wird, ,, seine Anschauungen gewssermaßen schon in der
Praxis vorgebildet fand", bleibt unbewiesen. Es ist eine wichtig genommene
Arbeit ohne Belang. Fritz Peters-BerUn.
Georg E. Burckhardt, Individuum und Allgemeinheit in Piatos Politeia.
Halle, Niemeyer. 1913. 66 S. 1,80 Mk.
Es ist eine geschickte Zusammenstellung alles dessen, was Plato über
das Verhältnis zwischen Indi^^duum und Allgemeinheit in seiner Politeia,
im Zusammenhang auch mit seinen übrigen Schriften, gesagt hat — leider
nicht mehr, auch da nicht, wo Burckhardt über die Ähnhchkeit von Piatos
Problem mit Problemen der Gegenwart spricht, da er es an jedem kritischen
Versuch fehlen läßt. Es ist schade, daß er ihn uns vorenthalten hat, da er
sich reichhch befälligt für ihn zeigt. Aber die kleine Schrift mag auch ohne
eine solche Erweiterung immerhin als eine gute Einführung in Piatos Gedanken
ihre Geltung haben und bei denen, die solche Einführungen brauchen. Dank
ernten; sie lernen dann hoffentUch bald, daß es, wie Burckhardt selber sagt,
,, keine bessere Hilfe zur Vertiefung in dies Meisterwerk gibt, als still auf den
Meister selbst zu hören." Fritz Peters-Berhn.
8*
116 Rezensionen.
Geschichte der jüdischen Philosophie des Mittelalters, nach Problemen dar-
gestellt von D. Neu mark. Anhang zum 1. Bande, Kapitel: Materie
und Form bei Aristoteles. Berlin, Reimer 1913. (V u. 108 S.)
Eine polemische Schrift, eine sehr polemische! N., von dessen großange-
legter Geschichte der jüdischen Philosophie nun schon zwei stattliche Bände
vorliegen, beschäftigt sich mit einem Kritiker seines Werkes, J. Husik, der auch
in dieser Zeitschrift zu Worte kam. Er ist mit den Taten und Meinungen
seines Rezensenten höchst unzufrieden. Wie unzufrieden, das lehrt — um
nur eine Stelle herauszugreifen — der Schluß seiner Schrift: ,,Ich kann H.
nicht als wissenschaftlichen Gegner betrachten. Jetzt noch weniger, als früher:
Die Pseudoerwiderung H.s ist das frivole Attentat eines verzweifelten literari-
schen Freibeuters ohne Wissen und Gewissen auf ehrliche hingebungsvolle
wissenschaftliche Arbeit. Ich habe für H. nur einen ernsten Rat: Diesef. ver-
ächtliche , Geschäft', so erfolgreich es auch erscheinen mag, einfach aufzugeben
und sich ehrlicher Arbeit zu widmen. Der Weg ehrlicher Arbeit ist etwas
langwierig, der Erfolg kommt nicht so rasch, aber wenn er kommt, ist er ehr-
lich verdient und — dauerhaft." — Wer ein Interesse an dem Streit zwischen
Neumark und Husik nimmt, der ja z. T. auf den Blättern dieser Zeitschrift
ausgefochten wurde, mag die Schrift lesen, die mit der Polemik die fruchtbarere
Absicht verbindet, die von dem Verfasser in seiner Darstellung von Materie
und Form gegebene Aristoteles-Interpretation in DetaiKragen fortzuführen.
Dr. Max Wiener -Stettin.
Al-hidaja ila faraid al-qulub des Bachja ibn Josef ibn Paquda aus Andalusien.
Im arab. Urtext zum ersten Male nach der Oxforder und Pariser Hand-
schrift sowie den Petersburger Fragmenten herausg. von Dr. A. S.
Yahuda. Leiden, Brill 1912.
Eine Besprechung der Yahudaschen Edition an diesem Orte muß es
sich versagen, die Leistung des Philologen zu beurteilen, sondern kann nur
der tiefgreifenden Analyse der Quellen gelten, die der Herausgeber dem
arabischen Text voranschickt. Das Buch Bachjas, eines der standard-works
der arabisch- jüdischen Religionsphilosophie, das bisher nur in der hebräischen
Übersetzung des Jehuda ibn Tibbon zugängHch war, verdiente seine Heraus-
gabe im ursprünglichen Gewände nicht bloß um der Bedeutung willen, die
gerade ihm vor anderen in der Geschichte der mittelalterlichen Philosophie
der Juden zukommt, sondern vor allem auch darum, weil die Eigenart des
Autors und seines Übersetzers eine gründliche Erfassung des ursprünglichen
Sinnes tatsächlich nur durch die Einsicht in den Urtext eröffnet.
Yahuda zeigt an einer Fülle von Beispielen, wie stark der hebräische
Text nach dem Original zu korrigieren, und wie sehr bisher das Verständnis
Bachjas durch Unkorrektheiten und Lücken der Übertragung beeinträchtigt
worden ist. Schon in seinen ,,Prolegomena zu einer erstmaligen Herausgabe
des Kitab al-Hidaja usw." war Yahuda eben auf Grund des arabischen Ur-
textes zu der Ansicht gekommen, daß nicht die Abhandlungen der ,, Lauteren
Brüder" als die unmittelbare Quelle wesentlicher Stücke der Lebensansicht
Bachjas in Anspruch zu nehmen sind, sondern daß die ,, Herzenspflichten"
Rezensionen. 117
vor allem den Stempel Gazalischer Weltbetrachtung tragen. So glaubte Y.,
die Blüte Bachjas um 50 Jahre später (nach 1100 n. Chr.) ansetzen zu sollen,
als man es bisher getan hatte. Die Einleitung, die uns vorliegt, meint freilich,
diese These nicht mehr mit solcher Bestimmtheit festhalten zu dürfen, da
die genaue Vergleichung der Lehrmeinungen Bachjas und ihrer Formuherung
mit der islamischen Literatur eine solche Fülle von mehr oder weniger wört-
lichen Entlehnungen aus allen möglichen Werken aufzeigt, daß eine sichere
Bestimmung der ursprünghchen Quellen die größten Schwierigkeiten m
— Darin liegt nun nach unserer Meinung der besondere Wert von Y.s Ein-
leitung, daß sie an einem konkreten, sehr wichtigen Beispiel aufs neue die
innige Verflechtung der jüdischen mit der islamischen Philosophie dartut.
Daß Bachjas Gotteslehre den unmittelbaren Einfluß des Kalam zeigt, liegt
auf der Hand. Die allgemeine Stimmung seiner Moralphilosophie ist die des
Ssufismus, wobei freilich asketische Ausschreitungen an dem nüchternen
Sinn des Juden abprallen. So ist es die Gleichheit der religiösen Gestimmtheit,
aber nicht unmittelbare Abhängigkeit, die konkret nicht zu erweisen ist, die
unser Werk in die Nähe der Schriften der ,, Lauteren" rückt.
Yahuda geht nun im einzelnen auf die Quellen der Aussprüche ein,
die B. anonym als die Worte der Weisen zitiert. Es handelt sich hierbei wohl
ausschließlich lun solche nichtjüdischen Bekenntnisses, und zwar nicht bloß
um Männer, die, wie griechische Denker oder indische Weise, nur als Ver-
treter ,, weltlicher" Weisheit dem Mittelalter gegolten haben, sondern merk-
würdigerweise auch um ,, fromme Leute anderer Rehgionsbekenntnisse". Es
interessieren uns hier besonders Sprüche, die von den mohammedanischen
Gewährsmännern Bachjas als Worte Jesu zitiert werden. B. ist objektiv
genug, das Gute zu nehmen, woher es sich auch bietet. Das gilt hinsichtlich
des Stifters des Christentums nicht weniger als bezügUch der von Mohammed
tradierten Aussprüche. Als solche (Hadit) läuft bekanntlich eine Unzahl von
Worten in der islamischen Literatur um, die jedes Zeitalter und jede religiöse
Gruppe um neue vermehrt hat. Dazu treten die Manaqib-Schriften, die von
der Frömmigkeit und Weisheit der Genossen Mohammeds, zumal der ersten
Kalifen, handeln, und die Literatur, die sich mit Recht oder Unrecht um die
PersönUchkeit des Kalifen Ali rankt. Worte mohammedanischer Asketen
und Ssufis, die häufig selbst wieder aus antiken oder indischen Quellen fließen,
vervollständigen den Kreis der Schriftwerke, die B, benutzt hat.
Y^. hat mit vieler Mühe aus der weitschichtigen, zerstreuten und zum
großen Teil nur erst handschriftlich vorhandenen Literatur das nötige Material
zusammengestellt und so einen beträchthchen Teil der in den ,,Herzens-
pfUchten" verarbeiteten fremden Stücke auf ihre Herkunft geprüft. Bei dem
eigentümlichen Charakter der mittelalterhchen Schriftstellerei, in der es auch
bei den Größten gang und gäbe war, andere Autoren nach Beheben auszu-
schreiben, mußte es natürhch trotz wörtlicher Übereinstimmung oft un-
ausgemacht bleiben, ob in dem einen oder anderen Falle eine direkte Beein-
flussung vorlag oder nicht. Y. betont dies auch. Für die allgemeine Geschichte
des Denkens handelt es sich hierbei auch meist nicht um Fragen ersten Ranges,
da der schulmäßige Charakter der mittelalterlichen Philosophie bekanntüch
118 Rezensionen.
keine scharfen und unbedingt eigenartigen Denkerpersönlichkeiten aufkommen
läßt. Aber bei der Bedeutung, welche Bachja im philosophischen Schrifttum
der Juden zukommt, ist es von erheblichem literargeschichtüchen Interesse,
möglichst genau die Fäden bloßzulegen, die ihn mit der Moralphilosophie
der islamischen Theologen verknüpfen. So stellt Yahudas Einleitung eine
außerordentlich verdienstvolle Leistung dar, da sie in einen wichtigen Ab-
schnitt der Geschichte der orientaUschen Philosophie uns recht erwünschte
Klarheit bringt. Dr. Mai? Wien er -Stettin.
Die Philosophie von Richard Avenarius. Systematische Darstellung und
immanente Kritik von Dr. phil. Friedrich Raab. Leipzig, Verlag
von Felix Meiner, 1912. IV, 162 S.
Das vorliegende Buch verdient in doppelter Hinsicht Interesse durch den
behandelten Stoff und die Behandlung selbst. Es läßt sich der historische Wert
eines Philosophems — seinen unbedingten Willen zur Wahrheit vorausgesetzt —
bestimmen durch das Maß der Annäherung seiner Begriffsbildung an die
Forderung der Idee. Es wird daher stets zu fragen sein: welchen Begriff hat
der Autor von dem Wesen und der Aufgabe alles philosophischen Denkens
und wie weit wird er der ideellen Bedeutsamkeit dieses sich selbst gewählten
Begriffes gerecht, d. h. welchen Begriff hat er von seinem Begriffe; Fragen,
die man zu formulieren pflegt als solche nach der Richtigkeit und der Folge-
richtigkeit eines Systems. Ihr ideelles Zusammenfallen soll hier unberück-
sichtigt bleiben.
Die Philosophie des Richard Avenarius, der sogenannte Empiriokritizismus,
erregt deshalb in hohem Grade unser Interesse, weil hier eine einseitige und
unzulängliche Grundauffassung in relativ höchster Konsequenz durchgedacht
und ausgeführt ist. So ist es denn auch Avenarius gelungen, alle philosophischen
Systeme, die mehr oder weniger — eingestanden oder uneingestanden —
seine philosophische Theorie den ihrigen zugrunde legen und doch zu diffe-
rierenden Resultaten kommen, zu überwinden und in ihrer Fehlerhaftigkeit
nachzuweisen, während er allen anderen gegenüber verständnislos bleibt,
ihr abweichendes Wollen gar nicht zu erfassen, geschweige denn zu würdigen
vermag. So läßt sich in der Tat zeigen, daß etwa die Theorie vom Parallelis-
mus des Physischen und Psychischen oder der psychologische Idealismus wie
Avenarius nur „begreifen" will, diesen rein positivistischen Standpunkt aber
nur zu schnell durch irgend eine a priori konstruierte Differenzierung der
Unmittelbarkeit des Gegebenen, d. h. Begreifbaren aus den Augen verliert.
Durch das Prinzip der Introjektion widerlegt Avenarius alle Versuche, auf
empirische Weise den Zusammenhang von Erleben und Natur bestimmen zu
können. Der kritische Idealismus aber fällt der Introjektion deshalb nicht
anheim, weil er eine gegebene Scheidung von Subjekt und Objekt, äußerer und
innerer Erfahrung gar nicht voraussetzt, um hinterher ein Hinüberwandeln
des einen in das andere oder Geborensein aus ihm anzunehmen. Er sucht nur
die Bedingungen für das Auftreten bestimmter Erlebnisse zu begreifen und
lehnt jede Frage nach der Art, wie dieser Übergang vom Physischen zum
Psychischen stattfindet, als similos ab. Weil er aber in seiner Auffassung der
Rezensionen, 119
Idee der Philosophie über das bloße Begreifen hinaus nach dem objektiven
Werte aller Erlebnisse fragt, setzt er wohl den natürhchen Weltbegriff, wie
Avenarius behauptet, voraus; aber nicht logisch als Fundament seiner weiteren
Theorien, sondern rein empirisch als den ersten Gegenstand für die Bewährung
seiner objektiven Kriterien. Immerhin muß aber zugestanden werden, daß
die Entdeckung des Systems durch Avenarius, als des Begriffes der unmittel-
baren Bedingungen für die Faktizität eines Erlebnisses für die Vertiefung und
Fortbildung der idealistischen Theorien von großem Werte ist.
Das Buch des Dr. Raab gibt uns in seinem ersten Teile eine geschlossene
Darstellung der Lehre des R. Avenarius und läßt ihr dann eine Kritik derselben
folgen, indem es zunächst die Grundanschauung des Empiriokritizismus prüft,
dann die Folgerichtigkeit seiner weiteren Thesen untersucht und Inkonse-
quenzen durch unbewußte Einflüsse einer von Avenarius abgelehnten objek-
tivistischen Philosophie erklärt. Der Verfasser geht hierbei von der Ansicht aus,
daß infolge der Absolutheit der Wahrheit jede falsche Grundanschauung
konsequent durchgeführt zu off enen Widersprüchen gelangen muß, daher stets,
um solche zu vermeiden, dem Einflüsse anderer unterUegt. Die philosophische
Theorie des Avenarius wird vom Verfasser als Einleitung seines kritischen Teiles
der eigenen Form entkleidet, gewissermaßen umgegossen und durch die syste-
matischen Begriffe des Verfassers auszudrücken gesucht. Dieser gewinnt so die
Möglichkeit, an seiner Auffassung von der Idee der Philosophie genau die des
Avenarius abzustecken und in ihrer einseitigen Beschränkung nachzuweisen,
und vermeidet jede stückweise Kritik und Ablehnung einzelner abgeleiteter
Sätze und Begriffe. Wir halten diese übrigens glänzend durchgeführte Be-
handlung für die einzig sinnvolle, leider zu selten geübte Art der Lösung
philosophiegeschichtlicher Probleme. Als wertvollstes Ergebnis des Empirio-
kritizismus hebt Dr. Raab die auch von dem Idealismus gebotene Ablehnung
jeder Trennung der Objekte des Physischen und Psychischen hervor. Im übrigen
wäre ein genaueres Eingehen auf den Relativismus der Wahrheit bei Avenarius
zu wünschen, der das einzige Absolute seiner Philosophie ist und so weit geht,
daß er ein Kriterium für die Richtigkeit seiner Theorie außer ihrem Erfahren-
sein mcht kennt und nötig hat. Überhaupt leidet das Buch etwas unter seiner
Kürze; so führt die Absicht des Verfassers, mit möglichst wenig W'orten viel
zu sagen, zuweilen zu kaum übersehbaren Satzperioden, die dem Verständnis
des ohnehin schwierigen Buches keinesfalls förderlich sind.
Marburg a. d. L. Werner Büngel.
Friedrich Lübkers, Reallexikon des klassischen Altertums. 8. vollständig
umgearbeitete Auflage herausgegeben von J. Geffken und E. Ziebarth.
Teubner, Leipzig -Berlin 1914.
Zur Kennzeiclinung der neuen Auflage wird in der Vorrede gesagt: „Das
alte Lexikon nannte sich Reallexikon des klassischen Altertums und beschränkte
sich auf ein engeres Gebiet. Das neue hat der gewaltigen Erweiterung des
philologischen Gesichtsfeldes in unserer Zeit nach Kräften Rechnung getragen,
es hat eine Menge Ballast des alten über Bord werfend, soviel moderne wissen-
schaftliche Werte wie möghch aufgenommen ..." Zunächst zeigt ein Blick
120 Rezensionen.
in die Aufzählung der benützten Literatur, wie entschieden dieses Bestreben
war. Vor allem beweisen daftn die einzelnen Artikel der neuen Auflage, wenn
wir sie z. B. mit denen der sechsten, die mir zur Verfügung steht, vergleichen
wie sehr man von dem Bestreben geleitet war, überall eine gute, Wissenschaft -
lieh begründete Darlegung des Sachverhaltes zu bieten. Es zeigt dies beispiels-
weise ein Blick in die Artikel Homeros, Odysseus, Plato der neuen Auflage.
Alle Beziehungen, die bei der Besprechung dieser Fragen in Betracht kommen,
sind, soweit es im Rahmen des Buches möglich war, erörtert und mit aus-
gedehnter Literaturangabe behandelt worden, wodurch aber die fortlaufende
Darstellung gelitten hat.
Eine große Anzahl von Artikeln ist neu hinzugekommen gegenüber der
ü. Auflage; so beispielsweise Augenheilkunde; Erz, Erzarbeiten; Etymologie,
Etymologika; Frau; Freilassung; Fremdenrecht; Freundschaft; Märchen.
Märchendichtung; Märtyrerakten; Sprachwissenschaft. Den wissenschaft-
lichen Nutzen des Buches hat man auch dadurch zu steigern gesucht, daß man
alles, was überflüssig erschien, wegließ. Warum man aber den Artikel „Mahl-
zeiten" fortgelassen hat, sehe ich nicht ein, zumal man damit den Artikel Sym-
posionliteratur" hätte verbinden können. Nach längerem Schwanken, wie
sie sagen, haben sich die Herausgeber auch zu einem gänzlichen Verzicht auf
den Schmuck der Abbildungen entschlossen. Aber vielleicht ist dies zu be-
dauern, da jene den früheren Auflagen etwas Belebendes und Gefälliges gaben.
Jedenfalls ist zu hoffen, daß die Belehrung und Anregung, die schon die
früheren Auflagen ohne Zweifel vor allem vielen Studierenden geboten haben,
in noch verstärktem Maße von der neuen Auflage ausgehen wird.
Cöln. H. Rick.
Burnet, J., Die Anfänge der griechischen Philosophie. 2. Ausg., aus dem
Englischen übersetzt von Else Schenkl. Teubner, Leipzig 1913.
Der Verfasser bemerkt in der Vorrede zur 2. englischen Auflage gegen-
über der 1., daß der größte Teil neu geschrieben werden mußte. Ohne Zweifel
ist es ein sehr belehrendes Buch. Mit voller Beherrschung der Literatur ver-
bindet der Verfasser Selbständigkeit des Urteils, und sein Werk ist daher sehr
geeignet, den Leser in den überall zutage liegenden Fragen zu unterrichten.
Das Buch berücksichtigt die Ergebnisse der neueren Forschungen über diesen
Teil der Philosophie, und so ist für die Geschichte des Pythagoreismus der
Auszug aus Menons ^Iutqixu benutzt. Der Verfasser betrachtet die einzelnen
Systeme in ihrem inneren Verhältnisse zueinander, inwieweit sie von einander
abhängig sind und das eine Fortbildung gegenüber dem anderen ist.
Die Darstellung ist im allgemeinen klar und auch die Sprache der Über-
setzung gewandt. Aus dem, was in dieser Hinsicht zu beanstanden ist, möchte
ich auf einiges hinweisen. S. 31 fehlt vor ,, stützt" ein „es". S. 46 ist „charak-
teristischesten" sehr unschön. Anstatt ,,Differenziation" und ,, Integration"
S. 129/30 wünschte man deutsche Wörter. S. 155 ist der Ausdruck ,, siebzig
Jahre vorbei" undeutsch. Unschön und unklar ist S. 233 die Wendung über
Perikles, „wie er alles übrige brachte". S. 237 muß es heißen ,, aufhören sollte
au sein" statt „aufhören zu sein sollte". „Weiters" statt „Weiterhin" S. 244
Rezensionen. 121
ist nicht deutsch. S. 302 muß es heißen „Bekanntschaft" statt „Verwandt-
schaft".
Was einzelne Auffassungen griechischen Textes angeht, möchte ich fol-
gendes bemerken: 1. In dem Fragment 14 des Xenophanes (S. 104) halte icli
die Lesart ißS^rjra statt uYo&riGn' nicht für richtig. 2. Plato Theat. 181a ist
TOv oXov GtuGkZzui mit einem gewissen Spott gesagt, und der Ausdruck
heißt „die das Ganze festmachen"; es bedeutet nicht bloß „Verfechter des
(ranzen" (S. 111 A. 1). 3. Die Herakleiteer sind es nicht, die in Piatos Crat\-lus
verspottet werden (S. 328 A. 2).
Mehrere Druckfehler finden sich in der Arbeit.
Cöln. H. Rick.
Th. Ribot, Choix de textes et etude de l'oeuvre par G. Lamarque.
Preface de Pierre Janet, Professeur au College de France. Mit Bild
und Autograph. 222 S. Societe des editions Louis-Michaud. Paris.
Ohne Druckjahr. Preis brosch. 2 Frcs.
Theodule Ribot hat in der Geschichte der französischen Philosophie
eine hervorragende RoUe gespielt. Bis zur Veröffentüchung seiner ersten Werke
hatte Cousins spirituahstische Schule vorgeherrscht, deren Mängel besonders
seitens Taines scharf angegriffen worden waren. Man fühlte, daß die Schlaffheit
der Psychologie nur durch Anwendung einer wissenschaftlich begründeten
Methode eine Besserung erfahren konnte, und war der Überzeugung, daß die
Zersplitterung in Spezialgebiete hemmend auf die freie Entwicklung der
psychologischen Forschungen einwirken mußte. In der Tat erstrebte man
in Deutschland, auf Grund der Ergebnisse von Wundt, Weber und Fechner, zu
einer mathematischen Feststellung der psychologischen Erscheinungen betreffs
Dauer und Quantität zu gelangen, in England widmete man sich in der Haupt-
sache der Assoziationspsychologie, während in Frankreich die Pathologie
in den Vordergrund trat. Man kann wohl sagen, daß die Arbeiten der französi-
schen Psychologen auf dem von ihnen gepflegten Gebiete in praktischer Hin-
sicht hervorragende Resultate gezeitigt haben. Es ist nun Th. Ribot, dem
in der Hauptsache das Aufblühen der Psychopathologie zu verdanken ist.
Seine Werke über ,,Die Krankheiten des Gedächtnisses", ,,Die Krank-
heiten des Willens" und ,,Die Krankheiten der Persönlichkeit" bezeichnen
den Übergang von der alten zur neuen Psychologie. Von ganz besonderer
Bedeutung ist Ribots Arbeit über ,,Die enghsche Psychologie der Gegenwart",
in der er gewissermaßen als Vorgänger Wundts^) die Trennung der psycho-
logischen Einzelwissenschaft von der Philosophie fordert.
Ribot hat in den oben genannten Werken den Grundstein zu einer
Methode gelegt, von der noch gegenwärtig die eigentUche experimentelle
Psychologie abhängt. Er fordert eine gleichzeitige Anwendung der sub-
jektiven und der objektiven Methode: erstere bei den speziell psychischen
Erscheinungen introspektiv angewendet, letztere bei der Völker-, Tier- und
^) S. Wilhelm Wundt, Die Psychologie im Kampf ums Dasein. Alfred
Kröners Verlag. Leipzig 1913.
122 Rezensionen.
Kinderpsychülogie. Bei seinen Arbeiten läßt sich Ribot vor allem das Re-
sultat angelegen sein, indem er ein bescheidenes, aber sicheres Forschungs-
ergebnis einer aufsehenerregenden Theorie vorzieht, und hält sich fern von
metaphysischen Spekulationen, welche er als sein Gebiet nicht berührend
ansieht.
Der Verf. des vorliegenden Bändchens bietet im ersten Teil eine kurz
gefaßte Darstellung des Gedankens Ribots, während der zweite Teil aus einer
Zusammenstellung von Auszügen aus seinen wichtigsten Werken besteht.
Verf. geht davon aus, die Grundlagen der Lehren Ribots zu bestimmen,
und findet, daß in der Hauptsache sich deutscher und englischer Einfluß bei
ihtn geltend gemacht hat. Das Eigenartige besteht bei Ribot in seiner Methode,
welche weniger in der physiologischen Auslegung psychologischer Phänomene,
als in der Anwendung auf die Pathologie besteht. Die falsche Beurteilung
der psychologischen Methode, wie Ribot sie auffaßt, ist meistens dem zu-
zuschreiben, daß man sich von vornherein auf einen rein philosophischen
Standpunkt stellt, was eine voreingenommene Beurteilung in sich schließt,
weil Ribots Methode die metaphysische Gewißheit, die man von ihr verlangt,
weder zu geben imstande ist, noch will. Man kann, nach dem Verf., Ribots
Standpunkt in dem zusammenfassen, was er selbst verschiedentlich klar-
gestellt hat: eine positive Stellung einnehmend, hat er sich vorgenommen,
mittels einer biologischen Methode die mentalen Vorgänge, wie sie bei der
Beobachtung erscheinen, zu betrachten; und hat dadurch gezeigt, an welche
Richtschnur die Psychologie sich zu halten hat, wenn sie eine Wissenschaft
im wahren Sinn des Wortes sein will.
Die Einteilung des zweiten Teils geschah nach folgendem Schema:
I. Geschichte.
II. Psychologie:
a) die Stellungnahme,
b) die Methode,
c) die Ergebnisse.
Das Bändchen kann als Beitrag zur Geschichte der Philosophie nur
empfohlen werden, da es eine leichtfaßhche und anschauUche Darstellung
der Gedanken Th. Ribots bietet und insofern eine wertvolle Ergänzung zu
der gegenwärtig vdeder besonders in den Vordergrund tretenden Frage ist,
in wieweit die Psychologie als von der Philosophie losgelöste Wissenschaft
anzuerkennen sei.
Stuttgart. Max Artur Jordan.
Domenico Lanna, La teoria della conoscenza in S. Tomase
D'Aquino. (Nr. 5 der ,,Biblioteca della rivista di filosofia neo-sco-
lastica".) Mit kirclilicher Genehmigung. 305 S. Preis 3 Lire. Ver-
legt bei Libreria editrice fiorentina. Florenz 1913.
Auf derselben Grundlage wie die beiden Schriften Gemelhs bewegt sich
das ausführUche W^erk Lannas über ,,Die Theorie der Erkenntnis beim hl.
Thomas von Aquin".
Nach dem Verf. umfaßt das Problem des Erkennens zwei Teile. Er
Rezensionen. 123
will zuerst die thomistische Doktrin auslegen, welche die Entwicklung der
Erkenntnis betrifft, um dann zu der Bestimmung des kritischen Wertes über-
zugchen, die sich auf die Akte der Erkenntnis anwenden läßt. Sodann will
er versuchen, festzustellen, inwiefern der substantielle Inhalt der alten Philo-
sophie zur Anpassung an die Forderungen der gegenwärtigen Geistesströmungen
und die neuen Richtungslinien der Forschungsmethoden in dem großen Gebiet
der philosophischen Wissenschaften geeignet sei. Auf diese Weise will Verf.
nachweisen, daß in dem alten Stamm der Scholastik noch Lebenssaft in aus-
giebigem Maße vorhanden ist, daß sie die Forschungen der Neuzeit günstig
beeinflussen könne — kurz: er verherrlicht die Scholastik als die ,,Philosophia
perennis".
Auch Lannas Methode besteht in der Hauptsache darin, scheinbar
■wissenschaftliche Propaganda für die Neo-Scholastik zu machen. Wir glauben
daher, ohne im einzelnen auf die hier und da wiederkehrenden Ausfälle gegen
die naturwissenschafthchen Weltanschauungen (s. besonders 3. Buch 1. Kap.
S. 221f.) näher einzugehen, das für Gemelh Gesagte wiederholen und ohne
Bedenken an dieser Schrift vorübergehen zu können. Hervorgehoben sei noch
der am Schluß beigefügte bibliographische Anhang, welcher, wie ja auch das
ganze Buch, für solche, die sich speziell mit den thomistischen Lehren und ihren
Nachwirkungen in der Gegenwart beschäftigen, von Wert sein dürfte.
Stuttgart. Max A r t u r Jordan.
Wesselsky, Anton, Forberg und Kant. Studien zur Geschichte der Philo-
sophie des Als ob und im Hinblick auf eine Philosophie der Tat. Leipzig
und Wien, Franz Deuticke, 1913.
Die Schrift bringt mancherlei geschichtlich interessante Mitteilungen
über Forberg und seine Zeitgenossen. Sie ist veranlaßt durch Vaihing rs
Buch: Die Philosophie des Als ob, und soll dem Nachweis dienen, daß For-
berg den Standpunkt des Als ob nicht nur in der Religion, sondern in seiner
gesamten Philosophie vertrete. Mag dieser Nachweis für Forberg zu führen
sein, für Kant muß er jedenfalls entschieden zurückgewiesen werden. Bei ihm
kann es sich nicht darum handeln, „unwahre Wahrheiten", die „zum Leben
nötig" seien, zu erdichten. Er hat vielmehr an der parmenidischen Gleichung
festgehalten, wonach das Denken Denken des Seins ist.
Michelstadt (Hessen). G. Falter.
A dickes, Erich, Prof. Dr. Ein neu aufgefundenes Kollegheft nach Kants
Vorlesung über physische Geographie. J. C. B. Mohr, Tübingen, 1913.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit dem Kollegheft W über Kants
physische Geographie. Sein Verhältnis zu den übrigen Kollegheften, insbesondere
zur Ausgabe Rinks, wird mit großer Sorgfalt und phUologischer Akribie unter-
sucht. A. gelangt zu dem Ergebnis, daß wir in W eine Abschrift der Vorlage
vor uns haben, die Rink bei seiner Ausgabe benützte. Nachdem dm-ch Adickes
die Quellen bloßgelegt sind, aus denen Rink geschöpft hat, ist auch die Mög-
lichkeit vorhanden, eine wissenschaftlich brauchbare Ausgabe von Kants
Kolleg über die physische Geographie zu schaffen.
Michelstadt (Hessen). G. Falter.
124 Rezensionen.
Immanuel Kants Werke in Ciemeinschaft mit H. Cohen, Buchenau, Buek,
(Vorland, Kellermann herausgegeben von Ernst Cassirer. Verlegt
bei Bruno Cassirer, Berlin 1912.
Man vergleiche hierzu die Besprechung von Band I im „Archiv f. Gesch.
d. Philos." Bd. 27 H. 3.
Band II enthält vorkritische Schriften.
Ich nehme im folgenden zu einzelnen Lesarten Stellung:
55, 5 V. u. Der Zusatz ,, Sätze" von Menzer ist unnötig, da aus dem vorher-
gehenden Satz: „Hieraus entspringen 3 Sätze" deutlieh hervorgeht,
daß Sätze zu ergänzen ist.
55, 2 V. u. sodaß (Ak.) ist unnötig.
64, 9 kann mit H. ,, zuzustehen" gelesen werden als altertümliche Übersetzung
von concedere.
70, 9. ,,ihm" ist vorzuziehen, da K. jedenfalls einen Dativ schreiben wollte.
7ß, 17. Im Satzzusammenhang müßte es heißen ,,ein einziges" (sc. Prädikat).
K. denkt noch an Bestimmungen und schreibt ,,eine einzige".
78, 14. das letztere, nicht die letztere (Ak.).
78, 13 v. u. müßte, nicht müsse (Ak.).
80, 4. ,,ich" muß eingeschoben werden, weil der Imp. ungebräuchlich ist-
bei K.
80, 16. Hier ist die Einschiebung eines ,,er" überflüssig.
85, 5. ,, Zusammenstimmung" des Sinnes wegen. ,
183, 1. Zerfallung.
184, 16. ,,es", nicht ,,sie" zu lesen.
186, 25. aufzeichnet.
186, 6 V. u. ist ,,nur" zu lesen.
200, 14 V. u. „sei" (sc. Betrachtung).
206, 20. K. hat „gaben" geschrieben, weil er 2 Subj. las (sc. die mathem.
Betrachtung und die Erkenntnis d. R.).
215, 5. „positives" kann bleiben.
219, 14 V. u. „eine Folge" (als doppelter Nominativ?)
239, 23. „ihn" (sc. Gott).
240, 9. Die Einschiebung von ,,das" oder ,, dasjenige" ist dem Sinne nach
richtig, braucht jedoch nicht in den Text aufgenommen zu werden.
240, 13. „die so tief" ist am einfachsten.
242, 35f. Erkenntnis — endiget.
242, 1 V. u. dergleichen Frage.
246, 20. „Erfindungen" ist richtig.
313, 11 V. u. Hier möchte ich mit Ak. ..vor der" lesen. Der Ak. ist doch auch
für die damalige Zeit fehlerhaft.
359, 9 V. u. Es ließe sich rechtfertigen, „vielleicht bisweilen" zu lassen.
388, 18. „neue Erfahrungen, neue Begriffe" kann bleiben. Der Sinn ist neue
Erf. und neue Begriffe.
398, 20. gegen ihr übergestellete.
Michelstadt (Hessen). G. Falter.
Rezensionen. 125
Erwiderung des Autors auf Fr. Raabs Anzeige von C. Siegels
Geschichte der deutschen Naturphilosophie.
In die freundliche im Aprilhefte dieser Zeitschrift erschienene Besprechung
der Geschichte der deutschen Naturphilosophie hat sich leider ein peinliches
Mißverständnis eingeschlichen, das zwar als solches von den meisten Lesern
meines Buches dürfte erkannt werden, den Nichtleser jedoch im vornehinein
beirrend zu beeinflussen geeignet erscheint. Dieses Mißverständnis bezieht
sich auf meine im Vorwort gemachte Unterscheidung zweier Arten von Natur-
philosophie, die sich als wissenschaftUche Disziplin von der Naturwissenschaft
entweder dem Gegenstand oder der Methode nach unterscheiden müsse*),
nämlich einer kritischen und einer metaphysischen Natiu-philosophie.
Und wie die Zuordnung zu verstehen ist, "wird in zwei kurzen uiunittelbar
nachgeschickten Sätzen (S. VII) ausdrücklich ausgesprochen. „Die meta-
physisch gerichtete Naturphilosophie hat \A-irklich selbst die Natur zum Gegen-
stand", d. h. sie hat also den gleichen Gegenstand wie die Naturwissenschaft
und muß sich daher durch die Methode von ihr unterscheiden. Nachdem hierauf
d. i. auf die Verschiedenheit der Methode oder Quelle in meinem Buche tat-
sächhch hingewiesen ist, heißt es von der kritischen Naturphilosophie weiter:
„sie nimmt nicht die Natur, sondern die Wissenschaft von der Natut
zum Gegenstand ihrer Untersuchung,"
Der verehrte Rezensent hat jedoch (warum weiß ich nicht) die Sache
gerade umgekehrt aufgefaßt; nach mir soll sich die kritische Naturphilo-
sophie von der Naturwissenschaft durch die Methode (S. 370, vorletzte und
letzte Zeile), die metaphysische durch den Gegenstand unterscheiden. Er be-
richtet: „Die zweite metaphysische Richtimg der Naturphilosophie habe nicht
die konkreten Gegenstände der Natm-, sondern die hinter diese stehende Natur-
totahtät zum Gegenstand" (S. 371 Z. 4ff.). Wenn er also dann gegen diese
Position Stellung nimmt, so kann ich ihm nur auf das lebhafteste zustimmen;
dabei ist jedoch nicht zu übersehen, daß des Referenten Opposition nicht das
von mir Gesagte trifft, sondern dessen direktes Gegenteil.
Czernowitz. C. Siegel.
*) Genau genommen hätte natürhch a priori noch die dritte MögKchkeit,
Unterscheidung durch Gegenstand und Methode zugelassen werden müssen,
aber offenbar ist dieser Fall in jedem der beiden ersten schon enthalten, da
doch nur gemeint sein kann: Unterscheidung vorzugsweise durch den Gegen-
stand oder wieder vorzugsweise durch die Methode und dieser Unter-
schied nach der anderen Richtung (nach Methode bzw. Gegenstand) \Aärd
nach sich ziehen.
r
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Allard, E., Die Angriffe gegen Descartes und Malebranche im Journal de
Trevoux 1701 — 1715. Halle, Xiemeyer.
Börner, W., Fi. Jodl. Fiankfurt a. M., Neuer Frankfurter Verlag.
BrunsAvig, A., Das Grundproblem Kants. Leipzig, Teubner.
Fichte: Ideen über Gott und Unsterblichkeit. Herausgegeben von Büchse!.
Leipzig, Meiner.
Fischer, P., Nietzsche Zarathustra und Jesus Christus. 2. Aufl. Stuttgart.
Giuliano, B., Der Grundirrtum Hegels. Übersetzt von W. Frankl. Graz,
Leuschner.
Haack, H., Fichtes Theologie. Borna, Noske.
Heinrichs, H., Die Überwindung der Autorität Galens durch Denker der
Renaissancezeit. Bomi, Hanstein.
Hertling, G., Historische Beiträge zur Philosophie. Kempten, Kösel.
Honecker, M., Die Rechtsphilosophie des AI. Turamini. Bonn, Hanstein.
Kempen, A., Benekes Rehgionsphilosophie. Münster, Coppenrath.
Kierkegaard, S., Kritik der Gegenwart. Innsbruck, Brenner.
Kroner, R., Kants Weltanschauung. Tübingen, Mohr.
Leibniz: Ausgewählte philosophische Schriften. Herausgegeben von Schmalen-
bach. Leipzig, Meiner.
Lewkowitz, A., Die klassische Rechts- und Staatsphilosophie. Montesquieu
bis Hegel. Breslau, Marcus.
Lohmej'er, E., Die Lehre vom Willen bei Anselm v. Canteibury. Leipzig,
Deichert.
Makarewicz, M., Die Grund pro bleme der Ethik bei Aristoteles. Leipzig,
Reisland.
IMeyer, H., Geschichte der Lehre von den Keimkräften von der Stoa bis zum
Ausgang der Patristik. Bonn, Hanstein.
Piatons Dialog Sophistes. Übersetzt von O. Apelt. Leipzig, Meiner.
Rieffert, J., Die Lehre von der empirischen Anschauung bei Schopenhauer
und ihre historischen Voraussetzungen. Halle, Niemeyer.
Schmekel, A., Die positive Philosopliie und ihi-e geschichtüche Entwicklung.
Berlin, W^eidmann.
Weingärtner, G. R. Euckens Stellung zum Wahrheitsproblem. Mainz, Kirch-
heim.
Zeller, E., Grundriß der griechischen Philosophie. 11. Aufl. Leipzig. Reisland.
Die neuesten Erscheinungen a. d. Gebiete der Gesch. d. Philosophie. 127
B. Englische Literatur.
Croce, B., Histoiical mateiiahsm and the economics of K. Marx. London,
Latimer.
Knox, H., The Philosophy of W. James. London, Constable.
.Sandys, J., Roger Bacon. London, Milford.
.Shastri, P., The conception of freedom in Hegel, Bergson and indian philosophy.
Calcutta, Albion Press.
Smith, D., and Mikami, Y., A history of Japanese mathematics. Chicago,
The Open Court Pubhshing Co.
Stebbing, L., Pragmatism and french voluntarism, with especial reference
to the notion of truth in the development of french philosophy from
Maine de Biran to Bergson. Cambridge. University Press.
C. Französische Literatur.
Annales de 1' Institut superieur de philosophie. Universft de Louvain.
Tome III. Paris, Alcan.
Blondel, Ch., La psycho-physiologie de Gall. Paris, Alcan.
Defourny, M., Aristote. Louvain, Institut superieur de philosophie.
Huan, G., Le dieu de Spinoza. Paris, Alcan.
Reverdin, H., La notion d' experience d' apres W. James. Geneve, Geoig.
Sentroul, Ch., Kant et Ai'istote. Paris, Alcan.
Zanta, L., La renaissance du stoicisme au XVI siecle. Paris, Champion.
— La traduction fran§aise du Manuel d'Epictete d' Andre de Rivaudeau.
Paris, Champion.
D. Italienische Literatur.
Braga, G., Saggio su Rosmini, il mondo delle idee. Milano.
GaUi Gallo, Kant e Rosmini. Citta di Castello Lapi.
Juvalta, E., II vecchio e il nuovo problema della morale. Bologna, ZanicheUi.
Pulcini, C, L'etica di Spinoza. Genova, Formiggini.
Historische Abhaüdlungen in den Zeitschriften.
Zeitschrijt für Philosophie und philosophische Kritik. B. 154. H. 1. Lewkowitz,
Die Religionsphilosophie des Neukantianismus.
— H. 2. Öchmiecl-KowaTcik, Fr. Jodls Weltanschauung.
Zeitschrift für positivistische Philosophie. B. II. H. 1. Angersbach, Die natur-
wissenschaftliche und insbesondere die naturphilosophische Tätigkeit
Potonies.
— H. 2. Schleier, Inwieweit werden die Kantischen Ansichten vom Räume
durch die •moderne mathematische Forschung bestätigt?
Archiv für die gesamte Psychologie. B. XXXII. H. 3 u. 4. Wentschei, Da..
Außenwelts- und das Ich-Problem bei J. St. Mill.
Philosophisches Jahrbuch. B. 27. H. 3. Schwaiger, Die Lehre vom sentimento
fondamentale bei Rosmini nach ihrer Anlage. Klein, Die Fehler Berkeleys
und Kants in der Wahrnehmungslehre.
Revue philosophique. 1914. 7. Belot, La psychologie des phenomenes d' apres
Leuba
Revue de Metaphysique et de Monde. 1914. 4. (Wilson, L'inneisme cartesien
et la theologie. Aillet, La coutume ouvriere d' apres Leroy.
Revue de philosophie. 1914. 7. Chossat, Saint Thomas d'Aquin et Siger de
Brabant. Maritain, L'esprit de la philosophie moderne.
Revue Neo-Scolastique. 1914. 82. Nys, La Constitution de la materie d' apres
les physiciens modernes. Cochez, L'esthetique de Plotin. De Wulf,
La Notion de verite dans la criteriologie du caidinal Mercier.
Mind. 1914. 91. Rnox, Has Green answered Locke? Broad, Bradley on
truth and reality. Rattray, The philosophy of Samuel Butler. Ross,
Aristotle and abstract truth.
The pihilosophical Review. 1914. 4. Armstrong, Bergson, Berkeley and philo-
.sophical Intuition.
The Monist. Anderson, The person of Jesus Christ in the Christian faith.
Crarbe, Gentile elements in christianity. Deussens philosophy of the
bible. Russell, Im memoriam Charles S. Peirce.
Rivista di filosofia. 1914. 3. Marucci, Di alcune moderne teoiie del concetto.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folo-e. XXI. Band, 2. Heft.
IV.
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus an der
Hand des Leibniz-Clarke'schen Streites.
Von
Prof. Dr. Joh. Zahlfleisch.
(GA. =: Gefühlsanschauung, Trägh. = Trägheitsmaxime, GAL. = Gefühls-
anschauungslehre . * )
Leibniz nimmt die Dinge, obwohl er eine Gottheit gelten läßt,
unpersönUch, weshalb ihm C'larke (S. 154 Nr. 1 u. 2)i) eingewendet
hat, daß die Einwirkung Gottes, der doch Alles auf Erden beeinflußt,
nicht ohne eine, nur der Persönlichkeit zukommende Selbsttätigkeit
vonstatten geht, während l^ei der ITnpersönlichkeit ein totes, un-
selbständiges Wirken vorausgesetzt werden müßte. Leibniz setzt
nämlich die vollkonmiene, von Gott bei Schaffung der Welt vollzogene
Regulierung auch der AVillensbewegungen voraus, so daß zu einer
SellDsttätigkeit im Sinne Clarkes keine Möglichkeit mehr bliebe.
Offenbar geht ferner L. von dem Gesichtspunkte des Gesetzes
der Sparsamkeit aus, wenn er meint, daß Gott nicht sich die Mühe
*) Was ich darunter verstehe, wurde von mir teils in meiner Ab-
handlung (S. 155) d. Zeitschr. f. Religionspsychol. v. J, 1911, teils in dem
Jahrb. f. Philos. (S. 274) v. J. 1911 entwickelt; es heißt dort, daß das
Kind durch Gefühlsübertragung die Verifikation der auf es wirkenden Reize
zu Empfindungen ummodeln könne, weim noch der zweite als dem Kinde
von früher, her bekannt vorauszusetzende Faktor, die Anschauung, zum
Gefühle hinzukomme, während ich in der 2. Abhandlung den, aus diesem
Zusammenwirken entstandenen vorläufigen Erkenntnisfaktor unter dem
Namen Trägheitsmaxime in die Philosophie einführe.
1) Philosoph. Bibliothek Bd. 107 (Cassirer).
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 2. g
130 Joh. Zahlfleisch,
nehiiieii werde, Gleichheiten da zu erzeugen, wo sie üljerfUissig sind
(S. 145 Nr. 3), während Cl. (S. 150 Nr. 3 u. 4) sagt, daß es Gott wegen
dieser Gleichheit unmöglich war, den Bestandteilen der Materie ihre
Stellen anzuweisen, weil diese Stellung ja gleichgiltig sei.
Ferner entsteht ein Streitpunkt da, wo es sich um die Notwendig-
keit handelt, welche nach Cl.scher Ansicht bei Festhaltung der Ein-
beziehung der Freiheit in die ursprüngliche Einrichtung von bloßer
Kausalität von selten Gottes angenommen werden müßte. Denn
diese Notwendigkeit wäre nach Cl. (S. 155f. Nr. 5 ii. 6) direkt mit dem
Schicksal identisch, worauf L. mit seiner Unterscheidung zwischen
absoluter und hypothetischer Notwendigkeit antwortet (S. 166
Nr. 4 u. 5j, insofern jene Einbeziehung der Freiheit in die Kausalität
,, durch die (hypothetische) Voraussicht und Vorausbestimmung Gottes
in den zunkünftigen, zufälligen Ereignissen" angenommen werden
müsse. Da nun allerdings L. gefühlt hat, daß dieses Hypothetische
ganz leicht in ein Absolutes sich verwandelt, so hat er sich bemüht,
an die Stelle dieser Unterscheidung die der logischen oder meta-
physischen oder mathematischen Notwendigkeit und der moralischen
festzustellen, was aber auf dasselbe hinauskommt, weil auch das Morali-
sche trotz der von L. betonten Rücksichtnahme auf das höchste Gut
oder auf die vorwiegende Neigung bei der Wahl immer die Prä-
destination daneben das Wort spricht. Man sieht aber aus der großen
Anzahl der Termini, wie nützlich es für den Intellektualismus ist, hier
Wandel zu schaffen.
Sowohl Clarke - Newtons mechanistische, als auch Leibnizeiis
dynamische Anschauungsweise ist nicht durchfülu'bar. Insofern
dem Kausalprinzip Newtons die Teleologie Leibnizens gegenüberti'itt,
sehen wir bei beiden verschiedene Unel)enheiten, welche auch heute
noch den zwei Schulen anhaften, in welche die ganze Philosophie sich
trennt, soweit sie nicht, sei es auf einem pathempirischen (womit ich
nicht für H. Gomperz plädiere), sei es einem Erlebnis- oder, wie ich
mich ausch'ücke, einem Gefühlsanschauungsstandpunkte sich aufbaut.
Die näheren Beweise hierfür werden im Folgenden durch meine
Zwischenbemerkungen zu dem Redewechsel zwischen Leibniz und
Clarke gegeben. Der Fatalismus Leibnizens (Windelband, Die Geschichte
der neuen Philosophie 5. Aufl. S. 505) wird hierbei von Clarke gehörig
gegeißelt, was nicht hindert, daß beide vom Standpunkte meiner
neuen Lehre ins Hintertreffen kommen. Daß übrigens Leibniz es mit
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 131
der Gottheit nicht recht ernst nimnit^ während Newton-CIarke gläiibio-
ist, beweisen schon die ersten Zeilen.
Diese von L. verteidigte Vereinbarung zwischen Kaiisahtät Uiul
Freiheit geht auf den BegTiff des Ungehindertseins zurück. ]\Iaii
wählt, ist damit aber trotz der Notwendigkeit, daß man das Beste
wählt, eben erst recht frei. Jene Ungehindertheit mündet also in eine
Gehindertheit ; man fühlt sich gehindert, etwas Schlechtes zu wählen,
weil man auf Grund der Einsicht, daß das, was man wählt, das Beste
ist, sich gehindert fühlt, etwas Anderes, Schlechteres zu wählen.
Dadurch (S. 166 f. Nr. 6 u. 7) kommt aber, wie Cassirer S. 167 (Anm.)
sagt, das Moment der, jener Gottheit vorausgehenden, unabhängigen
und selbständigen Bedingung „möglichen Naturen" in die Diskussion.
Denn Gott bestimmt sich darnach. L. wendet Cl. (Nr. 8 u. 9 S. 156f. )
gegenüber, wonach in dem Räume als unkörperhcher Substanz Gott
gegenwärtig sein soll, ein (S. 179 Nr. 36), „daß zwar die Unermeßlich-
keit eine Eigenschaft Gottes ist, nicht aber der Raum, der häufig mit
den Körpern gleiches Maß hat." Dabei sieht L. nicht, daß, was wir
Unermeßlichkeit nennen, erst durch die Bestimmung dessen, was wir
als Maß bezeichnen, seinen Begriffswert erhält, so daß, weil der Raum
durch das Maß von L. definiert wird. Unermeßlichkeit denselben
Begriff enthielte wie Raum, ja mit dem Raum allein seine Existenz-
fähigkeit bewahrte oder verlöre.
Die Annahme von der Unermeßlichkeit Gottes ist aber derart,
daß von ilir aus die Meßbarkeit der Dinge folgt, insbesondere aber auch,
daß für die Ausdehnung eines bestimmten Körpers eine bestimmte
Meßbarkeit gilt. Dadurch wäre der Körper an diese individuelle
Meßbarkeit gebunden, wähi'end doch ein Körper seinen Ranm wechseln
kann, wälu^end die Anschauung und der Körper unlöslich verlmüpft
sind. Man wird aber unschwer erkennen (das muß L. gegenüber
gesagt werden), daß Meßbarkeit, Ausdehnung und Raum in den
Stücken, in welchen sie von L. unterschieden werden, ganz gleich sind.
Nach der hier durch L. vorausgesetzten Annahme, daß der Raum
gemäß den aus Clarkes Behauptungen folgenden Ergebnissen mit
dem Körper, der den Raum erfüllt, identisch sein soll, ergäbe sich
ferner, daß derselbe Raum, insofern er Eigenschaft oder Akzidens,
nicht, wie L. will, ,,eine ideale Beziehungsform" ist, Eigenschaft der
in ihm jeweilig befindlichen Substanz ist, so daß man den nämlichen
132 Joh. Zahlfleisch,
Kaum bald als Eigenschaft dieses, ])ald jenes Körpers, bald einer
inmateriellen Substanz, bald Gottes selbst ansehen kann, was ungefähr
so aussieht, als ob die mit dieser Eigenschaft, dem Räume, aus-
gestatteten Subjekte dieser Eigenschaft sich wie eines Kleides ent-
ledigen können, damit es von einer anderen Substanz getragen MTrde.
Da, wie Cassirer (Anm. 121) bemerkt, L.s Meinung war, daß die Eigen-
schaften der Substanzen nicht durch Einfluß der letzteren beseitigt
werden können, so muß man voraussetzen, daß L. auch in seiner in
Rede stehenden Entgegnung es als unmöglich hinstellt, daß der Raum
unter dem Einflüsse der jeweihgen Substanz von dieser sich entfernen
und in eine andere einziehen könne. Da jedoch alle diese Ausdrücke
bildlich sind und da der nämliche Raum in der Tat nicht anders denn
als Form zu betrachten ist, wie etwa die eidf/ des Ai'istoteles, so läßt
sich dagegen wohl nichts einwenden, außer L. hätte hier den Gedanken
der Monadologie von dem Fehlen des influxus physicus vorausgesetzt,
einen Gedanken, der aber wegen der notwendigen x\nnahme eines,
den genannten Monadenkomplex beherrschenden göttlichen Wesens
so ziemhch auf das Gleiche hinauskäme wie Tl.s Voraussetzung, wo-
gegen nun allerdings wieder die Transzendenz der L.schen Gottheit
spricht, welche für Clarke zwar nicht in eine Immanenz, wohl aber
in eine bei allen Gelegenheiten der Xatur Wirkungen sich äußernde
Herablassung und Fürsorglichkeit Gottes übergeht.
Mit der ferneren Behauptung, daß, wenn, wie aus S. 179 Nr. 37
hervorgeht, die Räume Beschaffenheiten der Substanzen sind, die
endlichen Räume als Beschaffenheiten der endlichen Substanzen
Ijetrachtet werden müssen, und dadurch der Schluß sich ergibt, daß
Gott aus endlichen Räumen, bzw. aus endlichen Eigenschaften sich
Ijilde, hat L. den Beweis Kants von der Unmöglichkeit, das Dasein
Gottes darzutun, weil der Antlu'opomorphisnms dagegen spricht,
vorweggenommen; nur daß wir auch Kant gegenül)er einwenden
müssen, daß wir ü))erall nur aus unseren, d. h. aus menschlichen GAA.
heraus die Dinge beschreiben und erklären, erkennen und erfassen
können.
Von dem Räume kann man wegen seiner Idealität keine Realität
in dem Sinne Cl.s (S. 157 Xr. 10) erwarten. Jene Idealität hat aber
L. auf Grund seiner logischen Betrachtung (S. 185 f.), insofern der
Raum nur ein Schema ist, nachgewiesen, und etwas Ähnliches gilt
von dei- Zeit, daran kein einziger Moment als etwas Reales festgehalten
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 133
werden kann. Während also Cl. den Raum und die Zeit als Eigen-
schaften Gottes zu Realitäten stempelt, die auf dem gleichen Fuße
wie Gott selbst zu nehmen sind, hat sich L. davon abgekehlt, ohne zu
Ijedenken, daß er von R. u. Z. nur eine mathematische Erklärung gibt,
welche wir uns im Vergleiche zur Darstellung Cl.s nur als die anthro-
pomorphistische Anschauung von R. u. Z. vorstellen, während ihr
eigentliches Wesen uns ebenso unbekannt und im Übernatürlichen
verankert erscheinen muß, wie viele andere Eigenschaften und Ivi-äfte.
S. 187 Nr. 49 sehen wir recht deutlich, wie der Intellektualismus
vorgeht. Das, was wir nur ahnen, was erst entstehen soll, nehmen wir
als bereits entstanden und das, was als ideell entstanden gedacht wird,
verneinen wir in Rücksicht auf seine Realität, ohne daß man zu jeder
Zeit sagen könnte, daß die eine oder die andere Ansicht Recht behält.
Das Erste wird hier von Cl. vertreten, das Zweite von L. Denn wenn
Cl. den Raum mit der Ewigkeit indentifiziert, nimmt er das, was
wir bloß asymptotisch uns denken können, für verwirklicht: und
indem L. von einem solchen bloßen Ahnen für die Realität nichts
wissen will, bleibt er ])ei dem reinen Sinnhchen, nur Erfahrungs-
mäßigen, wie er meint. Cl. hat für sich, daß die GAA. nur in der Tat
von etwas Ewigem und Göttlichen sprechen. L. hat für sich, daß wir
der Dinge nicht anders denn mit unseren physiologischen Instrumenten
geistig Herr werden können; Cl. hat gegen sich, daß er auf das rein
Geistige allein sieht, L. hat gegen sich, daß er dieses Geistige überall
da außer Betracht nimmt, wo er im Sinnlichen nichts sehen und be-
greifen kann.
C. hatte in seiner zweiten Entgegnung durchl)licken lassen, daß
die Welt eines von Zeit zu Zeit erfolgenden Anstoßes durch Gott bedarf,
worauf L. (8. 138 Nr. 13) erwiderte, daß damit Gott einem Hand-
werker gleiche, ,,der der Unvollkommenheit seiner Maschine abhilft".
Cl. hatte (S. 144) die von L. hier angenommene Störung des göttlichen
Werkes in Abrede gestellt und L. (S. 147 Nr. 13) erwidert ihm, daß
damit von einer Änderung gesprochen würde, die keine Änderung ist.
Cl. meint (S. 157f.) dagegen, daß wir manche Änderungen nicht
merken, wie z. B. der Schiffer in seiner Kajüte die Bewegung des
Schiffes, und L. entgegnet (S. 188), .daß man zwischen Beobachtung
und Möglichkeit der Beobachtung zu unterscheiden habe. L.s Be-
gründunü', daß, wenn eine Veränderung durch keine Beobachtung
feststellbar ist, diese auch nicht vorhanden ist — muß uns als zwei-
134 Joii. Ziii.ifhMs( h,
t;clinoidi<i"('s Schwcit erscheinen, woo'egen ("1. ucuciiiiber gesagt werden
darf, daß, insoweit uns keine Annalinien einer \"erändening gegeben
sind, auch gewöhnlich nicht von der Existenz einer solchen gesprochen
werden kann. Aber beide, CI. und L., haben übersehen, daß man
auch aus nebensächlichen Ursachen, wie z. B. aus elementaren Er-
scheinungen auf höhere Bestimnningen schließen darf. Ein Beweis
sind so ziemlich alle Erfindungen : hätten wir nie von Scheinbewegungen
etwas gehört, so wäre vielleicht das kopernikanische Gesetz der Planeten-
bewegung nie entdeckt worden; und so liegt in dem Einfachen das
Zusammengesetztere enthalten und nicht enthalten zugleich. In
Nr. 53 (S. 189) will L. offenbar das, was Cl. der höheren Einwnkung
(Gottes) zuschreibt, auf Rechnung der natürlichen Körper setzen,
ein Verfahi'en, das sich nach beiden Seiten aus denselben Gründen zu
weiteren Meinungsdifferenzen herausgestaltet, wie das vorhin er-
wähnte.
Den Cl. gegenüljer von L. schon längst gemachten Einwand,
daß der Raum nicht etwas Reales, sondern nm' Ordnung l)edeutet,
hatte Cl. damit beantwortet, daß Ordnung nicht mit dem Merkmale
der Größe ausgestattet sei. Dagegen bemerkt mm Leibniz (S. 189f. ),
daß auch auf die Ordnung dieses Merkmal passe, weil in ihr ein vorher-
gehendes und ein folgendes Glied gegeben sei, was auf Entfernung
imd somit auf Größenabschätzung hindeute. Die relativen Dinge
hätten, ebenso wie die absoluten, Größe, wie z. B. die Verhältnisse und
Proportionen. Nun müssen wir aber — und das muß Leibniz gegen-
über eingeworfen werden — sagen, daß auf solche Weise allen Dingen
alles zukommt, ebensogut wie wir im gewöhnlichen Leben nie alles
zugleich, sondern nur ein Teilquantum vorauszusetzen haben, weil
wir uns sonst bei der Partikularität alles reellen Seins nicht mehi* ein-
ander verstünden. Inwiefern die Ordnung auf einem Maße beruht,
das in der Infinitesimakechnung beliebig genommen werden kann,
beweist L. (S. 102) durch die Formel:
X _ c '^ _ 0 _ ,
— 1 — ~rr — ■*■■
y e ' y 0
Zu § 15 (S. 190): Wenn nicht die Kantsche Transzendenz des Be-
griffs Zeit vorausgesetzt werden müßte, daim wäre zwischen L. und
Kant kein Unterschied, wenn wk hören, daß auch für L. die Zeit nur
unter der Voraussetzung wirklicher Dinge Bedeutung und Sinn hat.
L. wiiul(4 dies gegen die Cl.sche Behauptung ein, daß Gott die Welt
)^
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 135
ZU ])eliebiger Zeit hätte erschaffen können. In Wnrheit ist diese
Polemik ebenso verfrüht, wie die Transzendenz Kants gegenüljer
meiner Gefühlsanschauungslehre. Denn nimmt man, wie L., die
Dinge an sich selbst, so sind alle unsere BegTiffe wahr ; denn wo sollte
der Prüfstein für die Haltbarkeit derselben oder für das Gegenteil
genommen werden. Deshalb hatte Kant ganz Recht, Leibniz' Dialektik
zu verurteilen. Insofern jedoch alle Transzendenz wieder nur auf
Begriffe, d. h. auf Ideen und somit auf Trägheit sich zurückführen
lassen, insofern genügt auch jene Kantsche Methode nicht. Auch die
von C'assirer richtig (S. 191 Anm. 136) interpretierten Worte L.s sind
ganz im Sinne Kants mit der obigen Einschränkimg. L. gesteht nämlich
hier seinem Gegner Cl. zu, daß die Dinge dieser Welt nicht schon von
einem durch menschliches Ermessen festgesetzten Punkte an be-
gonnen haben, sondern daß sie auch möglicherweise weiter nach
rückwärts datiert werden können, sowie die "Welt auch keinem von
uns bestimmt angenommenen Ende, sondern vielleicht einem früheren
entgegengeht. Aber, sagt L., dies auszumachen und festzustellen
wäre höchstens durch Erfahi'ungstatsachen möglich, während ein
bloßes Behaupten und logisches Spintisieren darüber in keiner Weise
Auskunft erteilt. AVir müssen jedoch gegenüber solchen Äußerungen
erklären, daß die Elementarvoraussetzungen, mittelst welcher die
Logik arl)eitet, nach der Leibnizschen und Kantischen Theorie doch
auch nur mittelst der Logik festgestellt wurden, welcher jetzt auf
einmal ohne genügenden Beweis von L. und Kant alle Beweiskraft
genommen wird. Die Logik ist nämlich auch ein Elaborat der GA.
Und weil sonst die Normen der Logik für sich keine Bedeutung haben,
so könnte sogar L.s Äußerung (S. 191 Nr. 57) für- die GAL. in Beschlag
genommen werden: „Da aber zugleich mit den Dingen" bei Erschaffung
der AVeit durch Gott „auch über ihre Beziehungen entschieden wurde,
so gab es in Betreff der Zeit oder Stelle", in welchen die Dinge er-
scheinen sollten, „fernerhin keine AVahl mekr, denn diese", Zeit und
Raum, „haben für sich allein nichts Reales und Bestimmendes, ja sogar
nichts Unterscheidbares." Nur darf man die Dinge nicht bloß mit
Begriffen auffassen wollen. Mit Rücksicht auf das von L. voraus-
gesetzte Vorhandensein der Dinge, mit deren Existenz also Gott so-
zusagen rechnen mußte, war Gott nach L. (S. 192 Nr. 60) gebunden,
und ihm die Unmöglichkeit einer Wahl zuzusprechen. In allen diesen
Beweisarten liegt aber auf Seiten Cl.s, wie L.s eine Antlu-opomorphistik
]36 Joh. Zahltlcisch,
vor und man sieht «eradc an der hier angewendeten Polemik, wie man
diese Methode der Vermenschlichung, also den anthropozentrischen
Standpunkt, der allerdings nur gilt, wenn man den Menschen in seiner
Beschränktheit nimmt, sowohl pro als auch contra zu v(>rwenden im-
stande ist.
Gegen L.s Einwendung wider Cl. (auf S. 193 IVr. 66), daß Gott
nicht zuerst den gleichen Raum und hiernach die den zwei vollkommen
gleichen Würfeln zuzueignenden Stellen bestimmt haben könne, weil
die Entschlüsse Gottes niemals bruchstückweise vonstatten gehen, ist
einzuwenden, daß Gott doch auch diese Möglichkeit, von Fall zu
Fall zu entscheiden, vorbehalten bleiben muß, weil er sonst besclu-änlrter
als ein Mensch wäre. Allerdings ist Cl. insofern im Rechte als er eben
diese Eigenschaft, von Fall zu Fall zu entscheiden, Gott zuschreil)en
durfte, wogegen aber die, offenbar von L. hier angenommene Endlich-
keit der Entschließungen bei dem obersten Wesen eine Instanz bilden
müßte.
Aus der vollkommenen Gleichheit zweier Gegenstände ließe sich
nur dann mit L. (S. 194 Nr. 69) schließen, daß ein Beweggrund, ihnen
verschiedene Stellen anzuweisen, fehlt, wenn mit jener Gleichheit
auch die Gleichheit der Stehen jener AVürfel gegeben wäre. Dagegen
muß Cl. gegenüber gesagt werden, daß er von einer vollkommenen
Gleichheit ohne Gleichheit der Stellen eigentlich nicht zu sprechen
das Recht hatte.
Was Nr. 70 anbelangt, so wird heute weder einer blinden Not-
wendigkeit noch einer Indifferenz, sondern dem Zug der Schwere,
o/.xfi Tov ßaQorc alle ursprüngliche Bewegung bei Epikur zuge-
schi'ieben. Vgl. Göbel, Die vorsola-atische Philosophie. Bonn 1910.
S. 268.
Es ist das Verhängnis L.s, daß er nicht selten die Natur über
Gott setzt. Von diesem Standpunkt aus allein ist es zu erklären, wenn
er (Nr. 71) Cl.s Einwand gelten läßt, daß man Gott die Wahlfähiiikeit
benehmen würde, wenn man lauter gleiche Atome voraussetzte. In
Wahrheit ist aber auch in diesem Falle alles der Entscheidung Gottes
anheimgestellt, die allerdings nicht im Sinne Cl.s davon aljhängig
gedacht werden darf, daß lauter gleiche Elemente gegeben sind, insofern
ja auch zwischen ungleichen gewählt zu werden vermag.
Die Voraussetzung Cl.s (S. 142f.), L. habe die Wahl der Stellen,
die Gott den Dingen anweist, von denjenigen ihrer Eigenschaften ab-
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 137
geleitet, welche auf äußere Beweggründe für diese AValil führen, wurde
von L. (S. 148 Nr. 20) dahin bekämpft, daß Gott nicht durch äußere,
sondern durch innere Gründe sich bestimmen lasse, worauf Cl. (S. 160
Nr. 20) bemerkt, daß in dieser L.schen Entgegnung keine Beweis-
kraft liege. In der Tat kann es auch eigentlich gleichgültig sein, ob
die Verschiedenheiten der äußeren Dinge an sich oder als auf das
Erkenntnisvermögen sozusagen projiziert ihren Einfluß üben. Al)er
eljen deshalb muß, insofern L. auf Äußerlichkeiten Gewicht legte, da
er behauptet, daß es nicht zwei gleiche Baumblätter gebe, Cl.s Ein-
wand wenigstens entschuldigt werden.
Den Intellektualismus erkennen wir in seiner Nacktheit wieder
aus der S. 195 Nr. 71 von L. gegen Cl. gemachten Einwendung. Nach-
dem Cl. (S. 143 Nr. 9) nur hatte durchblicken lassen, daß auch eine
größere oder geringere Menge Materie in der Welt existieren könne
als die gegenwärtig darin vorhandene, war L. (S. 149 Nr. 21) so un-
vorsichtig, dies direkt in Abrede zu stellen, woraus Cl. (S. 160 Nr. 21)
folgerte, daß unter Hereinbeziehung des P>hlens der Herrschaft
Gottes über die Dauer der Materie, insofern die Materie dem Aufsichts-
bereiche Gottes entzogen sei, die materielle Welt unbegTenzt und
ewig ist. Hier nun (S. 195 Nr. 73) will L. als guter Gottesgläubiger
seinen, von Cl. anders als L. meinte, gefaßten Satz rektifizieren,
indem er durchscheinen läßt, es sei ihm nie eingefallen, zu liehaupten,
daß die Materie je dem Herrschaftsbereiche Gottes entkommen könne.
L. setzt also voraus, daß die Begrenztheit der Quantität der Materie
von Gott angeordnet sei, so daß Niemand zu bewirken vermöge, daß
dieser Stand der Materie je geändert würde. Von einem Nichtkönnen
bei Gott sei nie die Rede gewesen, nur das Wollen habe L. im Auge
gehabt in dem Sinne, daß es allerdings von Anfang an im Willen Gottes
hätte liegen können, die Quantität der Materie anders zu gestalten als
sie sich gegenwärtig finde. Seitdem aber Gott seinen positiven Willen
erklärt habe, lasse sich an dem daraus entstandenen Ergebnis nicht
rütteln.
Was aber die folgende Entgegnung L.s gegen Cl. (S. 160) an-
betrifft, daß ein Schluß von der Ausdehnung auf die Dauer nicht
gerechtfertigt sei (S. 195 Nr, 74), so hat L. eigentlich Recht, weil
Cl. das, was er von der Dauer sagt, nicht in organischen Zusammenhang
mit seiner Äußerung über die Ausdehnung bringt und doch an die
letztere so anknüpft, als ob Ewigkeit der Materie, des Raumes und
VcS Joh. Zalilfl..is(h.
der Zeit mit einander verquickt sein sollten. In Wirklichkeit hat aber
eben ans Grund dieser letzteren, schon dem Aristoteles geläufioen
x\nnahme CI. selbst doch wieder Eeclit. Wie notwendig es aber war,
daß dem Intellektualismus, von Kant Dogmatismus genannt, einmal
ein Ende bereitet wurde, erkennen wir aus der von Cassirer gemachten
Anmerkung 139, in welcher von L. allen Ernstes der Versuch unter-
nommen wird, dem Problem des Anfangs oder der Anfangslosigkeit
der Welt dui'ch eine symbolische geometrische Zeichnung aufzuhelfen.
Doch läßt L. die unendliche Dauer der Welt a parte post gelten, sagt
sogar, wieder rückweisend auf seine von CI. ])estritteneUnendlichkeit
der Ausdehnung, daß es der Ewigkeit Gottes widerstreite, dei" AVeit
(zeitliche) Grenzen zu setzen. Natürlich läßt sich unter dem Deck-
mantel, daß der ewige, unendliche Gott es so wolle, alles be-
weisen.
Der unvorsichtige Ausdruck Cl.s (S. 160 Nr. 29), der Raum sei
der Ort aller Dinge, gibt L. (S. 197 Nr. 79) Anlaß, trotz der gleich-
zeitigen Behauptung Cl.s (S. 161), daß Gott und Welt nichts mit
einander gemein hal)en, zu erklären, daß der Raum nicht Ort aller
Dinge sein könne, weil er nicht der Ort Gottes sei. Insofern ferner
der Geist als Urquell der Beseelung betrachtet werden muß, hat er
von seinem Vermögen etwas dann in die Dinge einfließen lasseji,
wenn sie als beseelt zu gelten haben. Insofern sind dann die Dinge
nicht mehr im Geiste, nämlich in der in ihnen befindlichen Seele,
sondern außerhalb der letzteren (S. 197 Nr. 81). Insofern aber von
L. fortwährend der Raum mit Gott oder mit der Seele identifiziert
wird, hat er mit diesem letzten Beweise dartun wollen, daß es nicht
möglich ist, die Dinge im Räume existieren zu lassen, da nach CI.
selbst vermöge seines Vergleiches der Seele mit Gott der Raum eher
in den Dingen liegen müßte. Da Gott nach Ansicht Cl.s viel zu hoch
steht, um von der Welt eine Einwirkung zu erleiden (S. 132 Nr. 12),
da er aber anderseits doch auf die Welt einwirken nuiß, und, wie das
bei allem reagierenden Tun notwendig ist, von dem, worauf er wirlvt,
Eindrücke erhält, so hat L. (S. 197 Nr. 82) das Recht, auf das wieder-
holt von Newton, wenn auch nur im bildlichen Sinne gebrauchte
Sensorium als Mittel dieser Einwirkung zurückzukommen. Es ver-
steht sich jedoch von selbst, daß, je nachdem man de]i Zusammenhang
zwischen Gott und Welt mehr veriimerlicht oder mehr veräußerlicht,
sowohl L.s als Cl.s i\nsicht gerechtfertigt erscheint.
Einige Bemerkungen zum Int-, Uoktuali'^mus. ]oP
Die nun folgende Auseinandersetzung L.s (S. 198— lOO) geht auf
die von ihm (S. 150 Nr. 30) gemachte Voraussetzung eines vorstellenden
Prinzips, durch welches die, von den Aristotelikern (s. Cassirer Anm. 142
und 143) offen gelassene Kluft überbrückt werden sollte. Xatürlich
hatten L.s Vorgänger und auch Cl. insofern Recht, als sie die Gottheit
auf die Mittel Einfluß nehmen ließen, durch welche die Erkenntnis
und alles Tun der Welt bestimmt wird. Durch die Fortschritte der
Naturwissenschaften zur Zeit L.s fiel aber von der Beschaffenheit
der neu entdeckten Naturtätiskeit ein helles Licht auf die Wirksamkeit
der Dinge, wodurch L. veranlaßt wurde, zwar noch immer den infliixus
physicus zu vermeiden, aber doch jede Substanz ki-aft ihrer Natur
sozusagen zu einer Konzentration und zu einem lebendigen Spiegel
des ganzen Universums zu machen. Wie sehi' diese Auffassung an dem
Umstände laboriert, daß damit infolge Mangels eines jeden Erkenntnis-
kriteriums alles geschaffene zu einem Ding an sich gemacht wird,
hat Kant (und das ist sein bleibendes Verdienst) dargetan.
Die Bemerlvung L.s (S. 201 Nr. 92), daß die Seele frei handelt,
indem ilrre Wirkungsweise den Regeln der Zweckursachen gemäß ist,
der Körper dagegen mechanisch handelt, indem er den Gesetzen der
wirkenden Trsacheji folgt, erinnert sehr an die Kantische Annahme,
vermöge welcher die beiden letzten Antinomien gleichsam als Zweck-
Sätze auf die bloßen mechanischen Sätze der ersten l^eiden Antinomien
wie auf Grundlagen eebaat sind. In Wahrheit ist eine derartige Ver-
äußerlichung mit dem von Cl. L. gegenüber (S. 161 Nr. 32) einge-
wendeten Fatalismus ziemlich nahe verwandt. Wenn ülirigens Gott
als Regulator der menschlichen Zustände gelten soll, so kann selbst-
verständlich dies auch auf die freiheitlichen Handlungen gehen, womit
wieder L. im Rechte wäre.
Cl. geht (S. 162 Nr. 33) offenbar von der Definition der Tätigkeit
in dem Sinn aus, daß es keiner Tätigkeit bedürfte, wenn nicht eine
Änderung in der bis dahin wirkenden Ivi-äfteverteilung erforderhch
wäre. L. stellt das bezüglich der sogenannten mechanischen Ein-
wirkungen und innerhalb des Bereiches der Erhaltung der Kraft in
Abrede, kann aber doch nicht umhin, eine übernatürliche Manifestation
der von Cl. vorausgesetzten Entfaltung neuer Kj'äfte gelten zu lassen.
Indem Cl. den Tatbestand, den L. auf das Übernatürliche hinüber-
spielt, als etwas ganz Natürliches hinstellt, will er damit den, von L.
vorausgesetzten Mechanismus als unhaltbar bezeichnen, bezüglich
J4() Joh. Zahlfloisch,
welcher Aiißcrunft' vom Intellekt iialistischeii Standpunkte sowohl dem
einen, wie dem anderen Widersacher Kecht geiiel)en werden muß.
Insofern V\. (S. 162 Nr. 38) von dem Standpunkt aus!>,eht, daß
in Anbetracht der sichtl)aren Beweguns^ Kraft verloren geht, während
L. (S. 203f.) behauptet, daß in Rücksicht auf die unsichtbare
(Molekular)-Bewegung (vgl. Cassirer Anm. 147) das Gesetz von der
Erhaltung der Kraft gilt, ist weder von der einen, noch von der anderen
Seite dem Problem, ob Gott genötigt ist, der AVeit von Zeit zu Zeit
einen neuen Antrieb zu geben, aufgeholfen, weil auf Gottes Eigen-
schaften diese Erklärungen ebensowenig ])assen, wie z. B. die strenge
Kausalität des Naturgesetzes auf die Fieiheit (vgl. Kant Ki'. d. r. V.
S. 428-432 Aus-. Reclam).
(1. hat (S. 163 Nr. 40) behauptet, daß, wenn es nach J.. liinue,
der die Nachbesserung der Weltoebrechen für jenen Fall als überflüssig
bezeichnet, in welchem alle später zu veranstaltenden Ergänzunoen
schon im vorhinein von Gott vorgesehen wurden, dann für die Ewigkeit
bestimmte und mit einer einem Vielfachen der jetzt lebenden Menschen
ausgestattet erscheinen sollende AVeit schon gleich bei ihrer Erschaffung
diese Eigenschaften an sich tragen mußte. Hiebei hatte wieder Cl. seinen
Gegner L. mißverstanden. Denn L. meinte und setzte ein solches AA'elt-
getriebe voraus, wie es auch gegenwärtig sich abspielt, also insbesondere
das Nacheinanderauftreten der Menschenmassen, während (1. die
Sache von dem Standpunkt der sofortigen Effektuierung des erst
später einzutreten bestimmten AVeltzustandes nimmt. Insofern aber
beide Gegner nicht bedenken, daß ilu'e Sache eine rein anthropo-
morphistisch ausgeschmückte ist, muß man beiden Um"eeht geben.
(1. hatte (S. 163 Nr. 41) gemeint, daß L.s Definition des Raumes
als Ordnung deshalb nicht gelten könne, weil der Raum ein wirkliches
mit materiellem Inhalt erfülltes Ding sei. Bezeichne man den Raum
als Ordnung oder als Lage, dann müßte die dadurch angeordnete
Stellung der Dinge von der Seite genommen werden, daß der Raum
als Lage die Ursache der Lage sei. Darauf erwidert L. (S. 205 Nr. 104),
daß er den Raum nicht so ohne weiteres als Lage bezeichnet habe;
denn die Lage komme erst den Dingen zu, während der Raum eine
ideale Ordnung der Dinge ist. Die Bezugnahme L.s auf Nr. 54 gehört
zu S. 159 Nr. 14.
-Der Einwand L.s (S. 206 Nr. 105) geoen Cl.s Behauptung (S. 163
Nr. 41), daß die Zeit keine Ordnung ist, weil die Zeit der Aufeinaiuler-
Einige Bemerkungen zum IntellektuHlismus. 141
foloe der Inhalte größer oder kleiner sein könne, besteht darin, daß,
wenn Cl. Recht hätte, damit eine Vermehrung oder Verminderung der
Zeit unter Voraussetzung stände, diese Vermehrung oder Verminderung
wegen der, die dadurch entstehende Diskontinuität nicht mehr auf-
weisenden Leere vorausgesetzt werden müßte, wovon, insofern als
Kontinuität ein Hauptmerkmal der Zeit und des Raumes ist, nichts
möglich ist. Offenbar hatte Cl. die Tatsache der Verschiedenheit in
der subjektiven Größenschätzung der Zeit vor Augen, was zwar für
diese Eigentümlichkeit der Zeit unter gewissen Umständen, jedoch
nicht dafür spricht, daß diese Eigentümlichkeit den, anderweitig fest-
stehenden Charakter der Zeit wesentlich verändere. Leibniz dagegen
ging nicht weit genug, indem ihm immer noch vorgehalten werden
konnte, daß sein Zeitbegriff zu viel des Materiellen enthalte, eine
Tatsache, die erst durch den Transzendentalismus Kants vorläufig
beseitigt werden konnte.
Was die Äußerung Cl.s (S. 163 Kr. 41 f.) betrifft, daß die Ab-
wesenheit von Geschöpfen nicht imstande wäre, den Raum aufzuheben,
so hatte dies Cl. offenbar auf Grund der L.schen Darstellung vor-
gebracht, nach welcher R. u. Z. bloß unter Voraussetzung von Dingen,
die in diesen R. und in diese Zeit hinein gefügt werden, Existenz-
fähigkeit haben, so daß L. darauf (S. 206 Nr. 106) ohne weiteres er-
widert, daß unter der Cl.schenVoraussetzung weder R. noch Z. existierte.
Cl. hatte dabei jedenfalls insofern Um-echt, als wir uns nur auf Grund
unserer GAA. ein Bild von R. u. Z. machen können, so daß, wo der
Mensch fehlt, in der Tat auch R. u. Z. fehlen müßten. L. hatte Unrecht
darin, daß er auch die Existenz Gottes, von dem er glaubt, daß er
immer noch ohne Z. u. R. vorhanden sein könne, zu wenig antlu'opo-
morphistisch faßt, wodurch ihm nahe gelegt worden wäre, daß wir
uns eine solche göttliche Existenz immer nur mit menschlichen Eigen-
schaften, also auch mit denjenigen von R. u. Z. ausgestattet vor-
stellen müssen. Dem Grundsatz L.s, tlaß man in der Philosophie
alles Wunderbare auszuschheßen hal3e, welchen L. (S. 207 ]\t. 107)
verficht, weil dies eine, aUen Menschen geläufige Ansicht sei, war auf
Grund der Zurückweisung des von L. dafiü- angegebenen Motivs
(S. 152 Nr. 42) von Cl. (S. 132 Nr. 12) mit der Bemerkung wider-
sprochen worden, daß ,,für Gott natürlich und übernatürlich nicht
im geringsten von einander verschieden seien." Es wäre aber, meint L.
(S. 207), sehr leicht, unter dieser Devise fiü- Alles einen deus ex machina
]4-2 Joh. Zahlflciseh,
ZU erfinden. ].. liatto nämlich die Nachbesserung der Welt durch Gott
(a. a. 0.) als Wunder erklärt, während Cl. dieses Verfahren Gottes
als etwas ganz ,, Gewöhnliches" bezeichnete. Es fragt sich also: Ist
es ein richtiger Grundsatz, daß man demWunderbaren in der l*liiloso])hie
aus dem Wege zu gehen hat? Zweitens darf man sich in der Philosophie
auf gemeine menschliche Ansichten stützen? Ist es endlich erlaubt,
sich im Falle der Not einen deus ex machina zu konstruieren? Ich
glaube, daß man alle diese Fragen sowohl mit Ja als auch mit Nein
beantworten nuiß, indem man sich auf verschiedene Standpunkte
stellt, die erst im Laufe der jeweiligen Diskussion zu eindeutigen um-
gebogen werden können. L. hatte zuerst die Behauptung aufgestellt,
daß die Verbesserung der Welt durch Gott ein Wunder sei. Darauf
entgegnete Cl. (S. 144 Nr. 13), daß mit dieser Verbesserung keine
Störung verbunden wäre, was Cl. noch durch seine vorläufige Unter-
scheidung zwischen Wunderbarem und Natürlichem oder zwischen
Ungewöhnlichem und Gewöhnlichem (S. 164 Nr, 43) erhärtete. Indem
sich an unserer Stelle (S. 207) L. an den Begriff des Gewöhnlichen
hält, insofern er in Abrede stellt, daß jene Weltverbesserung durch
Gott etwas Gewöhnliches sei, hat er, unter der von ihm gemachten
Voraussetzung, daß (Jl. das Wunder durch das Merkmal ,, ungewöhn-
lich'' definieren wolle, übersehen, daß Cl. an der betreffenden Stelle
(S. 164 Nr. 43), die freilich erst nachträglich bei L. zur Sprache kommt,
erklärt, daß jener Begriff in der Vorstellung vom Wunder nur ent-
halten sei, ja daß noch nicht folge, daß alles Ungewöhnliche schon ein
Wunder ist, so daß schon dadurch L.s Darlegung ins Wanken zu
konmien droht, weil die Definition des Wunders mittelst des Merkmals
„ungewöhnlich" noch nicht erschöpft ist, wovon aber L. das Gegenteil
annehmen zu dürfen glaubt. Auch Cl. legt kein Gewicht auf die
Identifikation des Wunders mit dem Ungewöhnlichen, weil nach ihm
das Ungewöhnliche in der Tat auch nicht Aninderbar sein kann. Doch
scheint L. den Satz Cl.s: „Der Begriff des Ungewöhnlichen ist in der
Vorstellung von einem Wunder notwendig enthalten" — als Definition
gefaßt zu haben, in dem Sinne, daß bei keinem AVunder von der Eigen-
schaft, daß es etwas Ungewöhnliches sei, abstrahiert werden dürfe,
so daß er auch das von Cl. (S. 164) als bloße Unregelmäßigkeit Be-
zeichnete stillschweigend als Wunder faßt, wozu er am Ende auch
berechtigt war, weil Cl. das Ungewöhnhche bloß ,,als solches" kein
Wunder nennt, wähi-end damit noch nicht dem Wunder das definitori-
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 143
sehe Merkmal ,,un2;e wohnlich" geiiomnien werden darf. Schließlich
ist ja auch die Definition des Wunders durch L., daß durch dasselbe
alle Ki'äfte der Geschöpfe übertroffen werden, selbst nur als auf diesen
Begriff des Ungewöhnlichen basiert zu nehmen. IKäheres darüber
siehe unten in dieser Abhandlung.
Das zum vorigen Paragxaph besonders von L. beachtete Merkmal
des Ungewöhnlichen faßt er nun hier (S. 208 Nr. 110) im Sinne des mit
Bezug auf die Auffassung der Menschen zu Unterscheidende und meint,
daß dann ein objektiver Unterschied zwischen dem Wunderbaren
und seinem Gegenteile nicht stattfinde. Dieser Cl. gemachte Einwand
L.s läuft ungefälu" auf dasselbe hinaus, was Kant gegen die subjektive
Gefühlsphilosophie, z. B. eines Jacobi, eingewendet hatte. Es ist
jedoch nicht zu befiü'chten, daß die GAL. unter demselben Einwand
leide, wvil sie ja nicht reinem Gefühle das Wort spricht, sondern
vielmehr auch der Kantischen Auffassung Raum gibt. Eben deshalb
aber dm*fte L., so sehr ihm auch Cl. Anlaß gibt, nicht so sprechen, als
wäre es ihm, L., möglich, etwas dem Subjektiven gegenüberstehendes
Objektives zu leisten. In der Tat hat aber L. Recht, wenn er (Nr. 11)
Cl. entgegenhält, daß durch die Vermenschhchung und Sublunajü-
sierung Gottes dem Pantheismus Tür und Tor seöffnet sei, obwohl
man wegen des auch für L. geltenden Anthropomorphismus, der aller-
dings im Kleide der metaphysischen Dichtung auftritt, das Xändiche
von seiner prästabiherten Harmonie sagen darf. Immerhin muß der
von unserem heutigen Standpunkt nur als frommer Wunsch zu be-
zeichnende L.sche Grundsatz, daß das Natürliche vom Übernatürlichen,
d. h. wie Kant sagen ^\iirde : der Verstand von der Vernunft ent-
schiedener getrennt werden müsse (Nr. 112), genau jjeachtet werden,
obwohl er nicht bloß an den von Kant gerügten, sondern auch der
GAL. entgegenstehenden Mängeln leidet.
L. meint, wenn man (Nr. 113) die, eben angenommene Trennung
des, mit den Ivräften der Geschöpfe Ausführbaren von dem, was nur
durch die Kräfte der unendlichen Substanz erklärbar ist, bewirkt,
daß wü' dann die Newtonsche Fernwü'kung oder Anziehung, weil sie
das Unerklärbare in allzu harte Nähe des Erklärbaren rückt, nicht
mehr nötig haben. L. vergißt für einen Augenljlick die Notwendigkeit
der Hypothesen, deren Bedeutung für die Erkenntnis Cl. allerdings
überschätzt.
Der Intellektualisnms hat, wie ich schon einmal angedeutet
J44 .ioh. ZahlflcMsch,
liabo, das Eigene, daß durch ihn eine Behauptun«- immer wieder
imstande ist, ihrem Gegenteil zum Durchbruch zu verheilen, wie wir
au dem (Nr. 114) von L. hervorgehobenen Übergewichte des Mechani-
schen vor dem Dynamischen sehen können. Denn nach den ,Nouveaux
Essais' kultiviert L. nicht einen reinen Mechanismus (Cassirer An-
merkung 151), sondern einen aus einem reinen Prinzip der Vernunft
hervorgegangenen, was als Lichtblick in der krausen Dunkelheit der
Cl.-L. sehen Debatte festgehalten und für die GAL. fruchtljar gemacht
zu werden verdient. Auch an unserer Stelle wird der maßhaltenden
Vernunft von L. (S. 210) das Wort geredet, so daß der Mechanismus
bloß im Lichte dieser Vernunft erscheinen soll.
Eine besondere Eigenschaft des Intellelctualismus ist es, aus
seinem Merkmal einer Anzahl bereits als festgestellt angenommener
Tatsachen einer gewissen Art sogleich auf das Vorhandensein dieses
Merkmals bei allen diesen Tatsachen induktions- oder analogieweise
zu schließen. Man hat aber dabei den Faktor der GA. übersehen,
dei' ebenso einen Erkenntniseinschlag besitzt, wie ihn die Begriffe
schon von vornherein haben. Nur dieser Mangel, der dem Intellektualis-
mus anhaftet, konnte L. auf die Idee 1)ringen (Nr. 116), daß alle
physiologischen Vorgänge auf rein mechanischem Wege erklärt
werden müssen. Da Cl. das Gegenteil behauptet, so handelt es sich
darum, zwischen den verschiedenen Graden von Mechanismus und,
sagen wir, Djmamisnnis zu unterscheiden, was uns eben nur durch
die GA. möglich ist.
Cl. hatte (S. 164 Nr. 45) die Newtonsche Fernwirkung unter An-
nahme eines unsichtbaren, untastbaren und von Mechanisnms prinzipiell
verschiedenen Mittels erldärt. Es ist das eine Hypothese, von welcher
sich Ne^\i:on streng fern gehalten hat (S. 116). Das spricht aber auch
für L.s Anschauung (S. 211 Nr. 118 — 120). Und doch haben wir bereits
gehört, daß L. selbst es ist, der den, auch hier allein berechtigten
Mechanisnms durch seinen Einschlag der Veriumft ins Übernatürliche
hinüber spielt. Doch hat auch Cl. selbst (S. 122 f. 129f, S. 164 Nr. 45)
sich für den Satz ausgesprochen, daß dort ein Ding nicht wirkt, wo es
nicht ist. Da also Cl. diesen Wirkungserfolg durch ein übersinnliches
Mittel, L. nur durch ein sinnliches hervorrufen läßt, so hätten sich
die beiden in theoretischem Sinne, welcher doch hier allein ausschlag-
gebend ist, da es sich um keine, das AVohl der Menschheit in die erste
Linie stellende Aktion handelt, ganz leicht auf der Basis der L.sclien
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 145
Überfülining des Mechanischen in das Dynamische verständigen
können. In dem Augenblicke jedoch, in welchem die Angelegenheit
für das wirkliche Leben aktuell wird, muß die GAL. den nötigen
Eückhalt geben.
Wenn L. zu all dem (S. 212 Nr. 123) bemerkt, daß die Annahme
der Fernwirkung zu einem ähnlichen Erfolge fülu-t, wie wenn ein
Körper, der im Ivreise herumgeführt wü'd, obwohl er daran nicht
gehindert ist, nicht in der Richtung der Tangente sich entfernte, so
ist dagegen zu sagen, daß die Konzession, „obwohl er nicht daran
gehindert ist", für den Fall der Fern Wirkung doch nicht eintritt.
Denn eine solche Ungehindertheit hätte doch mu- in dem Vorhanden-
sein einer, die beidcii Dinge, das von dem die Fernwirkung ausgeht,
und das, auf welchen sie Einfluß nimmt, verbindenden durch Mechaxiis-
mus wirkenden Materie gelegen sein können, von welcher aber Niemand
etwas wußte.
In der Behauptung, daß die mechanischen Ursachen es sind, an
welche die freiwü-kenden wie an ein Uhi'werk angepaßt sind (S. 212
Nr. 124), liringt in die ganze L.sche Lehre den unwissenschaftlichen
Identitätsgedanken hinein, welcher von Kant durch die Annahme
seiner regulativen neben den konstitutiven Ideen zu paralysieren
gesucht wiu'de. Dmch jene Angepaßtheit an das besagte Uln^werk aber
wird nichts anderes behauptet, als daß was wir Freiheit nennen,
nachträglich doch nur unter Voraussetzung von festen Motiven zu
einem natürlichen Kausalitätsprozeß umgestaltet werden müsse.
Es ist also ungefähr dasselbe Verhältnis, wie da, wo ein Experimentator
auf der Basis eines gegebenen Tatbestandes einen daraus hervor-
gehenden, vorläufig unerklärten Tatbestand derart zu erklären sucht,
daß er auf Grund seiner, ihm sonst als bekannt und sicher geltenden
Naturgesetze eine Reihe von jener Basis aus zu diesem Ergebnis-
tatbestancle hin konstruiert. Insofern jedoch die Stellung dieses vor-
liegenden Problems in der Erkenntnisweise ganz derjenigen gleicht,
welche durch die Bestimmung jener Hilfsgesetze der Natur gefordert
war, so daß auch für diese wieder der gleiche Vorgang galt, so entsteht
der, von Kant verpönte Infinitesimalbeweis der reinen Verstandes-
kausalität, der in Ermangelung eines letzten mechanischen Prinzips
notwendig in Dtnamismus endigt. Natürlich nniß, um diesem
Infinitesimalzustand ein Ende zu machen, die Freiheit in die Natur-
kausalität umgebogen werden, wodurch die von mir zurückgewiesene
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII, 2. in
146 Job. Zahlfleisch,
Identität entstünde, eine Identität, welcher icli m\Y diireli die GAL.
zu entrinnen glaube.
Es ist jedenfalls zuviel behauptet, wenn L. (S. 2 18 Nr. 129)
meint, daß gegen den Satz vom zur. Grunde und gegen seine An-
wendbarkeit nichts einzuwenden sei. Hatten wir doch schon oben
(S. 23 f.) gezeigt, daß es mit der Logik allein nicht abgetan sein kann.
Einer der Hauptgrundsätze der Logik ruht gerade auf dem Satze
des Grundes, insofern alle Generalistik und im Gefolge derselben die
anscheinende Unmöglichkeit der Umkehrung: Alles AVunder ist etwas
Ungewöhnliches und alles Ungewöhnliche ist Wunder gegen jenen
Satz der allgemeinen Giltigkeit des „Axioms" vom zm'eichenden
Grunde spricht. Denn ist es wahr, daß nur die Einteilung nach Genus
und Spezies den Urteilsprozeß ermöglicht, so daß jene als Ursache und
Grund dieses zu bezeichnen ist, so geht der Satz vom zur. Grunde
sofort verloren, wenn wir beweisen können, daß die auf der Basis
jener Urteilsdefinition als unmöglich angesehene reine Konversion
trotzdem sich als möglich erweist. Es gilt nämlich: Der Löwe ist ein
Tier und das Tier ist Löwe ; die Nelke ist eine Pflanze und die Pflanze
ist Nelke — gleichzeitig, insoferne wir in dem jeweiligen zweiten Falle
auch ein giltiges Urteil deshalb bilden dürfen, weil, die bloß intellektuali-
stische Bedeutung der Worte beiseite gelassen, der Satz: Das Tier ist
Löwe soviel bedeutet als: Wenn wir dem Tiere seine wirklichen und
sämtlichen Merkmale zuschreiben wollen, wir von den Eigenschaften
des Löwen nicht absehen dürfen. Nun hatte Cl. (S. 154 Nr. 1 u. 2)
gegen L.s Satz eingewendet, daß man damit nur einem passiven
Verhalten durch Bestimmungsgründe Vorschub leiste; und darin
hatte Cl. Kecht; denn wir wissen AUe zur Genüge, wie diese Passivität
aus dem bloßen Mechanismus der Logik des Aristoteles hervorgeht.
Deshalb muß derselbe durch die emotionale Logik ergänzt werden
und Cl. hatte die Empfindung für diese Notwendigkeit, wälu'end sie
L. abging, insofern dieser den Mechanismus in ziemhch schroffer
Weise seinem Gegner entgegenhielt. Es müßte der, auch von Anderen
gerügte Intellektualismus übrigens keine Anfechtung erleiden dürfen,
wenn nicht auch die Axiome der Logik der genau entgegengesetzten
Fassung fähig wären, also daß man, wenn auch nur in der, der obigen
Konversionsmögiichkeit analogen Bedeutung sagt: Jedes Ding ist
mit sich selbst nicht gleich; das Gegenteil einer jeden Behauptung ist
auch walu*; zwischen einer Behauptung und ihrem kontradilrtorischen
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 147
Gegenteil gibt es nicht bloß ein Drittes, sondern auch ein Viertes,
Fünftes usw. Der Satz vom Grunde ist (in der gewöhnlich ange-
nommenen Ausch'ucksweise) falsch. Solche Behauptungen könnten
nun naturgemäß Manchen erschrecken. Man beachte aber wohl,
daß das grandiose Urteil: „Wenn die Logik wahr ist, so muß sie auch
den aristotelischen Satz der Konversio beibehalten" mit der Annahme
des Nachsatzes steht oder fällt. Wir haben gesehen, daß vom Stand-
punkte des emotionalen Denkens der Nachsatz keine unumstößliche
Wahi'heit enthält, weil die aristotelische Konversio unter Umständen
aufgehoben ist; also muß diese Logik an dem Mangel laborieren, auf
Grund dessen Existenz die Unhaltbarkeit des aristotelischen Satzes
von der Konversio als sicher bezeichnet wurde. Daraus ist nun ab-
zunehmen, daß wir nicht von vornherein auf Grund feststehender
Begriffe, Formeln oder Gesetze das letzte Wort zu sprechen haben,
wenn es sich um die Entscheidung in Sachen der logischen Urteile
handelt, sondern daß wir in erster Linie den Gesamtstand unserer
Denkmassen, wozu eben auch das emotionale Denken za rechnen ist,
in Betracht ziehen, wobei es uns natürlich selbstverständJich erscheinen
muß, das hernach gewonnene Gedankenergebnis in die Form der
herkömmlichen Logik zu ziehen, so daß dieselbe ungefähr das Nämliche
im Gegensatze zu jener des emotionalen Denkens bedeutet, wie das
ausgesprochene oder auszusprechende Wort gegenüber dem bloß im
inneren Denken vorerst nur embryonal gebildeten. Man kann daher
auch nicht mit L. einverstanden sein, wenn derselbe (S. 214 Nr. 130)
behauptet, daß ein sicheres Kennzeichen der Niederlage seines Gegners
es ist, daß er mit dem Prinzip des zur. Grundes in Widerspruch in dem
Sinne gerät, daß „man ihn zwingt, dieses Prinzip" für seine eben vor-
liegende Behauptung außer Kurs zu setzen, also es ,,zu leugnen".
Alles kommt nämlich auf die, nur durch Emotionalität in dem
bisher vorgefülu'ten Sinne ermöglichte Ergänzung des besagten
Gesetzes zum allgemeinen Weltbild an. Denn, sagen wü', es seien die
erwähnten Anti-Axiome nur vom regulativen Standpunkte zu fassen,
so gelangen wir vom Regen in die Traufe, insofern sich ein Rückschritt
zum Kantischen Rationalismus ergäbe, und damit zum Intellektualis-
mus, also bleibt nichts Anderes übrig als die GAL.
Die Annahme Cl.s (S. 154 Nr. 1 u. 2), daß der Vergleich der
Motive Gottes mit einer Wage noch eine besondere Tätigkeit nicht
berücksichtigt, deckt sich so ziemlich mit der von L. (S. 170 Nr. 15)
10*
148 Joh. Zahlfloisch,
dagegen vorgebrachten Ansicht, daß hinter den Beweggründen noch
das Bewui^tsein schaltet nnd waltet. AVemi also Cl. jetzt (S. 214
Nr. 1 — 20) meint, daß zwischen der erwcähnten Wage und dem von
Motiven sich bestimmen lassenden Geiste gar keine Ähnhchkcit l)e-
steht, so hat Cl. offenbar jene von L. gemachte Einschränkung vom
Be\Mißtsein seiner eigenen Ansicht nicht als ebenbürtig angesehen.
Das von L. eingeführte Be\mßtsein, könnte man allenfalls sagen, ist
freilich etwas zu wenig iVktivcs, als daß es der von Cl. aufgestellten
Tätigkeit an die Seite gestellt werden dürfte. Aber, wie Cassirer (An-
merkung 157) bemerkt, liegt schon in dem AValu-nehnnmgsakt „ein
selbsttätiger und bestimmter Faktor"; und L. hat offenbar denselben
auch in seinem hier eingeführten BeNmßtsein vorausgesetzt.
Die (S. 170 Nr. 16) von L. vorausgesetzte x\iinahme des Wider-
spruchs beiCl., der dies gleichgültige Verhalten bei Unentschiedenheit
auch auf eine Wahl zurückfülu-t, insofern L. davon ausgeht, daß Wahl
und Gleichgültigkeit nicht zusammen bestehen können, wird von
Cl. (S. 216 Zeile 19ff.) damit zurückgewiesen, daß es dann beim Alten
bhebe, daß Gott eben nicht mehr Gott wäre, da er, anstatt ein tätiges,
ein leidendes Wesen wäre. Cl. hält (S. 216 Zeile 18ff.) dafür, daß L.^
selbst seinen Grundsatz des zur. Grundes umstürzt, wenn er es (S. 193
Nr. 66, S. 194 Nr. 69) für unmöghch erklärt, daß Gott Gründe dafür
habe, um gleiche materielle Teile zu erzeugen. Die Aufhebung des
Satzes vom zur. Grunde durch Cl. hat ferner (S. 216 Zeile 39 ff.) im
Gefolge, daß Cl. nur den Willen Gottes bei der Wahl der den Dingen
anzuweisenden Orte in Rechnung zieht. Als ob ein Wille ohne zur.
Grund denkbar wäre ! Ja, Cl. muß in Einem Atem (S. 217 Zeile 3f.)
gestehen, daß ein Wille ohne Beweggrund ausgeschlossen ist. Cl.
operiert aber (S. 217 Zeile 4) doch wieder mit Gründen im Sinne
L.s, und zwar in einer Weise, daß man erkennt, daß selbst die Negation
einer Sache zur Ausführung einer Positivität Anlaß geben kann, woraus
0 a
offenbar unter Anderem auch die Bedeutung der Formel — , — erhellt.
u a
Denn Cl. sagt, daß, obgleich die eine Wahl zwischen gleichen materiellen
Partikeln ebensogut wäre, wie die andere, doch sich Gott für eine
bestimmte schon damals zu erklären bewogen fühlte, als er jene gleichen
Partikeln schuf. Und damit, meint Cl. (Z. 8 f.), ist die Annahme des
Gleichnisses von der Wage, sowie es L. trotz seiner Einfüluimg des
BewT,ißtseins in dasselbe interpretiert, falsch.
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 149
Die schwierige Frage von der verschiedenen Notwendigkeit,
insbesondere ob man ne])en der absoluten noch eine hypothetische
und morahsche zu unterscheiden hat, wie sie von L. wirklich unter-
schieden wurde, sucht unser Cl. (S. 217 Z. löff. ) dahin zu beantworten,
daß das Schillernde der relativen Notwendigkeit (die moralische ist
z. B. für L. (S. 168 Nr. 8) eine N, ohne zu nötigen) nicht angängig ist,
weil sonst ein gutes Wesen zugleich Böses tun, ein Weises zugleich
unweise handeln könnte. Dazu ist nun aber zu sagen, daß L. die
morahsche N. von der metaphysischen durch seineu Begriff der Freiheit
getrennt hat, während Cl.s Beispiele nur auf etwas Physisches hin-
weisen. Wenn L. (S. 168 Nr. 11) erklärt, daß unser Wille nicht immer
ganz genau den ursprün.olichen Beweggründen folge, und wenn Cl.
(S. 217 Z. 33, 36f.) dazu bemerkt, daß hiermit ein AViderspruch gesetzt
ist, insofern doch das gilt, was als letzte Entscheidung gegeben ist,
so ändert diese Bemerkung Cl.s nichts an der durch L. hervorgehobenen
Tatsache, obwohl L. sich auch anders hätte ausdrücken können,
insofern alles, was von ihm über die Entscheidungsgründe gesagt wü'd,
auf das Gleichnis mit der AVage gemünzt ist, das hier durchgehend
nach der von Cl. (S. 154 Nr. 1 u. 2) gegebenen Anregung im Hinter-
grunde steht, vermöge welcher beide Teile, Cl. und L. außer der starren
Naturnotwendigkeit noch etwas diese ÜlDerragendes annehmen, ohne
immer, wie z. B. Cl. bei Beurteilung der AVahrnehmungsfähigkeit
(S. 215 Z. 11 ff.) die richtige ErMärung solcher Stichwörter zu finden.
Es verhält sich sogar dabei auch nicht so, daß diese AVahrnehmung
auf sich selbst hin spekuliert, wie Cl. (S. 215f.) meint, sondern daß sie
als o])iektiv treibende Macht fungiert, wie das L. vom Be^\'ußtsein
(S. 170 Nr. 15) sagt.
Nach S. 172 Nr. 21 würde in dem Falle, wenn die Gleichheit der
Individuen gegel3en wäre, entgegen dem von L. aufgestellten Satze
des principium identitalis indiscernibilium, das Gesetz des zm*. Grundes
aufgehoben, weil Gott diux-h die trotzdem eingerichtete Verschiedenheit
der Individuen etwas ÜberflüssiRes voUfülute. Und damit wäre gesagt,
daß Gott so etwas, wie die Herstellung von genauen Gleichheiten nicht
auszufühiTn vermag. Anstatt dessen konstruiert (nach Cl. S. 218
Z. 5) L. daraus einen AViderspruch gegen die AA^eisheit Gottes (S. 124
Nr. 25). Gegen Cl. muß aber gesagt werden, daß doch mehrere Gegen-
gründe gewichtiger sind als einer.
AA'enn Cl. (S. 219 Z. 27 ff.) seinem Gegner vorwirft, daß er zwar
150 Joh. Zahlfleisch,
die Verschiedenheit zweier ji,e]iau gleiehei- Dinge zugibt, a])er doch
nicht von einer solchen seinem Widersacher zu sprechen gestattet,
so hätte sich Cl. dessen l^ewußt werden sollen, daß hier eine Ver-
schiedenheit der Methode der streitenden Parteien vorliege, wie es
auch in der Tat der Fall dadurch ist, daß L. in die ürdnungsreihe des
idealen Eaumes und der idealen Zeit die verschiedenen Körper ein-
trägt, was auch durch die Annahme (S. 175 Nr. 18) von L. gezeigt
wü'd, daß man voraussetzen darf, daß die Berührungslinie mittelst
zweier Punkte an der Kurve sitzt, die sie berührt, insofern man in
idealer Weise einen Eintritts- und einen Austrittspunkt sich konstruieit.
Die Bemerkung (S. 219 Z. 16—20), daß L. die Antwort auf die
Behauptung schuldig bleibt, daß bei plötzlicher Änderung gewöhnter
Zustände dies im Universum nicht ohne Folgen bleiben müsse, bezieht
sich wohl unter Zugrundelegung von S. 158 Z. 4 — 9 auf S. 188 § 13,
worin von L. eine Antwort hätte erfolgen sollen. L. hatte ferner
(S. 175 Z. 18) von einem nicht realen Räume gesprochen, in welchem
keine Veränderung vorgehen kann, aber Cl. macht daraus einen
materiellen Raum und behauptet, daß hier immer noch, allerdings
nur bei plötzlicher Änderung des Gleichgewichtes dieselbe walu*-
genommen werden muß, womit er gegen L.s prästabilisierte Harmonie,
die es unmöglich macht, daß etwas Unvorhergesehenes erscheint,
verstößt. Die Annahme L.s, daß der Raum nicht ohne Körper
Bedeutung habe, wird natürlich von Cl. zurückgewiesen. Aber
daß infolge dessen beim Fehlen der Materie auch keine Bewegung
möglich ist, kommt noch (S. 219 Ende) als Folgerung aus jener
Cl.schen Annahme hinzu. Im großen Ganzen beruhen die Ein-
wände Cl. s gegen L. auf einer Mißkennung des Standpunktes dieses
letzteren, welcher überall die Idealität mit der Realität zu vereinen
strebt, während Cl. für sich nur immer einen Teil dieser Doppelstellung
in Anspruch nimmt und daher es leicht hat, diesen gegen den anderen,
von L. vertretenen auszuspielen. Es ist also ungefähr- jenes Verfahren,
gemäß welchem von der einen Partei die zwei entgegengesetzten
Behauptungen des Intellektualismus zugleich gelten gelassen werden,
wie z. B. wenn eine Rechtsansicht dahin geht, daß die Rechtsgesetze
durch Natur und durch Satzung zugleich in die Welt gesetzt wurden,
wälii'end eine andere Ansicht nur der einen dieser beiden Behauptungen
huldigt und daher mit ihrer Polemik leichtes Spipl hat, wenn sie
voraussetzt und ihre Beweisgründe jedesmal so einrichtet, daß nur
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 151
der eine, von ihr vertretene Standpunkt Gültigkeit hat, da denn nach
dem logischen Kontradilvtionsgesetz nnr die eine von beiden gegneri-
schen Annahmen standhalten kann, so daß, wo beide vertreten sind,
ohne weiteres die Unannehmbarkeit der Behauptung der Methode
und des Vorgangs stattfindet. Es versteht sich also auch z. B. von
selbst, daß L. in Anbetracht der Notwendigkeit, die ideale Form des
Kaums stets mit den Körpern der Natur ausgefüllt zu sehen (wie das
Kant mittelst seiner, ihm eigenen Transzendentalität annimmt),
einerseits den stoffleeren, absoluten Raum Cl.s ablehnt, anderseits aber
wieder alles auf eine übernatüiiiche Ordnung zurückführt und die
Beeinflussung des Materiellen durch Gott, also seine Vergeistigung
im Sinne Cl.s und Ne\\i;ons gelten läßt.
Wenn Gl. (S. 222 Z. 19—32) den von L. (S. 176 f. § 34) bezüglich
des Vergleichs des Holzes mit dem Wasser gemachten Einwand mittelst
eines besonderen Experiments, bei welchem die, von L. vorausgesetzte
Verschiebung der Teile des Wassers unmöglich gemacht wird, zurück-
weist, so ist das geradezu eine tTSQoy/jrriru^. Denn wenn auch mit immer
gleichermaßen gegebenen Elementen verschiedenartig experimentiert
wh'd, so kann es sich doch ereignen, daß man jedesmal nach einem
anderen Naturgesetze vorgeht. Anderseits hatte L. übersehen, daß
mit physikalischen Experimenten nicht darüber verfügt werden
kann, ob der Raum etwas Geistiges oder etwas Materielles ist, weil
jenes immer, als etwas durch Mechanismen nicht Faßbares, allem
Sinnlichen und daher auch allem Experimentieren auf sinnhchem
Wege enthoben ist.
L. wollte (S. 179 Nr. 37) aus der Identifizierung des absoluten
Raumes mit der Gottheit, wie das Cl.als Behauptung aufstellt, schheßen,
daß dann der begTenzte Raum mit der Ausdehnung des durch den R.
begrenzten Körpers gleichbedeutend wäre. Dem gegenüber sagt nun
Cl. (S. 233, Z. 3ff.), daß ein begrenzter Raum nur von unserer Ein-
bildung her angenommen werden kann. Es versteht sich von selbst,
daß die Phantasie freilich ein Wort darein zu reden hat, aber sie kann
nicht allein über Alles verfügen.
Cl. hatte (S. 156 Z. 23f.) behauptet, der leere Raum gehöre einer
unkörperhchen Su1)stanz als Eigenschaft an; ebenso hatte er (S.157
Z. 7 ff.) behauptet, dem Räume als Attribut des notwendigen Wesens
komme notwendiges Dasein zu. Auf Grund dessen hatte L. (S. 179
Z. 14) die Voraussetzung gemacht, daß der Raum eine Eigenschaft
352 Job. Zahlfleisch,
sei und (Kr. 39) die Tatsache, daß im Räume bald dieser, bald jener
Körper seinen Sitz aufschlage, gemeint, das käme so heraus, wie wenn
ein Körper (ein Subjekt) das Kleid des Raumes ausziehe, damit ein
anderer Körper (ein anderes Subjekt) in dasselbe sich hüllen könne
(so daß die Subjekte ihi'e Akzidenzien auf diese Weise ablegen).
Darauf erwidert Cl. (S. 223, Z. 8 ff.), der Raum sei keine Beschaffenheit
eines oder des anderen Dinges; und er hält sich damit an die Folgerung
L.s, daß (S. 179 Z. 17ff.) der irdische R. die „Ausdehnung oder Meßbar-
keit" eines oder des anderen irdischen Dinges sei. Aber die Anthropo-
morphistik des R. als einer Eigenschaft Gottes, die Cl. schon in seinen
früheren Schreiben angenommen, kann er auf diese Weise nicht ab-
schütteln. Offenbar hatten solche Ivleinlichkeiten L. davon abgehalten,
die Diskussion weiter fortzusetzen. Es war freilich ein gewagtes
Unternehmen, der Gottheit den Raum als Beschaffenheit zuzusprechen,
weil die Gottheit über allem Anthropomorphismus erhaben ist, ander-
seits konnte Cl. nicht anders, mußte aber seine erste Behauptung
wieder in Abrede stellen, was L. zum Anlaß seiner Polemik nahm,
die aus eben den, von mir dargelegten Gründen ins Endlose sich
erstrecken zu wollen begann. Selbstredend war es nämlich Cl. nach
seiner Behauptung, daß das, über allem Anthropomorphismus er-
habene Gotteswesen auch nicht so ohne weiteres mit menschlichen
Eigenschaften, also auch nicht mit der, aus unserer sinnlichen An-
schauung stammenden ,, einer Beschaffenheit endlicher Substanzen"
(S. 223 Z. 13f.), ausgestattet werden diu-fe, unbenommen, gegen diese
Meinung L.s zu protestieren, aber L. konnte sich immer daran halten,
daß die Unermeßlichkeit (Z. 11), welche dem Cl.schen Gotte zukommt,
als eine Eigenschaft zu gelten hat. Zwischen den Auschnicken „In
irgend etwas enthalten sein", ferner und „die Eigenschaft von irgend
etwas sein" bewegt sich die ungemein subtile weitere Diskussion über
das Verhältnis zwischen Materie und Raum (Z. 16 — 21), woraus sich
eine Unmenge von Haarspaltereien ergeben müssen. Es ist ferner
leere Haarspalterei, wenn wohl die Teilbarkeit der irdischen Dinge
auf die Gestaltung des Wesens und der Formen der letzteren Einfluß
gewinnen, aber nicht die Teilbarkeit „der Unermeßlichkeit" (!) auf
die Einheit dieser letzteren (Z. 22—27). Es läßt sich, auch rück-
sichtlich des von Cl. gebrauchten Vergleichs mit der trotz der Teil-
barkeit der Zeit fortbestehenden unteilbaren AVesens der Ewigkeit
geltend machen, wie L. wirklich in einer Fortsetzung der Dis-
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 153
kussion vorgegangen wäre, daß man die Sache vom realen nnd
idealen Standpunkte fassen könne.
Ganz ebenso muß man mit Cl.s Behauptung verfahren, daß Gott
im R. und in der Z. nicht existieren könne; fühlt sich doch Cl. nach
dem Gesetze der intellektualistischen Ausgleichung dazu genötigt,
in Einem Atem (S. 224, 3ff.) jenen Ausdruck L.s selbst, wenn auch
nur bedingungsweise in Schutz zu nehmen.
L. setzt (S. 147 Nr. 13) voraus, daß die Bewegung des begrenzten
Weltalls durch Gott so vonstatten gehe, daß, wie Cl. angenommen
hat (S. 149 Nr. 13 u. 14), keine Veränderung damit vorgenommen
wird. Und L. hat damit den Folgesatz verbunden, daß dadurch eine
Änderung vorgenommen würde, die nichts ändert, was sinnlos wäre,
Cl. sagt (S. 224 Z. 21 ff.), daß, insofern er selbst nur von der Möglich-
keit jenes Vorgangs der Bewegung gesprochen hat, es für L. notwendig
gewesen ^\äre, zugleich die Unmöglichkeit jener Bewegung zu bev,^eisen.
Aber L., muß man einwenden, tut das ja indirekt dadurch, daß er das
Benehmen Gottes unvernünftig nennt, da man Gott doch diese Ai't
vorzugehen nicht zumuten darf. Unter jener, zu Anfang dieses Absatzes
von mir erwähnten, von Cl. gemachten Voraussetzung, daß mit der
Bewegung des Weltalls durch Gott keine Änderung darin angenommen
sei, hätte L. leichtes Spiel gehabt, wenn er den, nunmelu' von Cl.
wieder hervorgezogenen Einwand (vgl. S. 219 Z. 16 — 20) berück-
sichtigt hätte, daß bei plötzlichem Auftreten von Unregelmäßigkeiten
in der Welt eine gewaltige Veränderung wahrgenommen werden
müßte. Denn alle die, von Cl. gegen L. gemachten Vorhalte beziehen
sich auf diese Voraussetzung, daß von Gott das Weltall bewegt werde,
ohne daß diese Bewegung in demselben zu Veränderungen Anlaß
gäbe. Denn das ist ja der aufgelegte Widerspruch. Cassirer (Anm. 162)
hätte es also gar nicht notwendig, durch die Feststellung eines, infolge
der neuen Bewegung anzunehmenden neuen Teilsystems des von Gott
zu bewegenden Materials das, von dem früheren Teils vstem Gesagte
einfach als wiederholt hinzustellen.
Daß L. auf den, von Cl. (S. 225 Nr. 53) gemachten Einwand,
daß Niemand auf Grund der von L. (S. 189 Nr. 53 Z. 12—16) vor-
gebrachten Bestimmungen den Raum nicht als getrennt von den
Körpern voraussetzen wei'de, schwerlich etwas hätte erwidern wollen,
ergibt sich aus der Subtilität der Sache, gemäß welcher nach L. der
Raum durch Vergleichung der gegenseitigen Lage von sich bewegenden
]54 Job. Zahlfk-isch,
Körpern von nns erkannt wird, so daß der R. sowohl mit der Körper-
welt etwas zu tun hat als auch nicht.
Die Bemerkung Cl.s (S. 225 Z. 22— 24), daß die Ordnung bei
verschiedener Dauer oder Ausdehnung dieselbe sein kann, beweist
keineswegs etwas dagegen, daß der Raum, wie L. anninnnt, weim ihm
auch Größe zuerkannt wird, doch zugleich Ordnung genannt werden
muß. Denn dem, von Cl. mit jenen Worten angegebenen Argumente
darf deshalb keine Bedeutung beigelegt werden, weil Cl. ja selbst die,
von L. als Definition von R. und Z. vorausj2;esetzte Ordnung auch in
dem, von ihm als Ausnahme hingestellten Fall anerkennt. Hierbei
ist also L. im Rechte, wenn er auch den Verhältnissen und Proportionen
(Z. 30) Größe zuerkennt; denn es ist eine, erst zu beweisende Be-
hauptung Cl.s (Z. 31 f.), daß diese Verhältnisse usw. als ,, Beziehungen
ganz anderer Art" angesehen werden müssen.
Wenn Cl. (S. 227^ Z. 32—35) dmch die Annahme, daß dei- Tag
gegenüber % Tag und gegenüber 1 Stunde doch immer der gleiche
Tag bleibe, gegen L.s Annahme der Gewinnung der Raumvorstellung
mittelst Lagevergleichung und der damit für Raum als Ordnung ge-
gebenen Definition Front machen wiU, so müßte man ihm entgegnen,
daß es keine Vergleichung ist, wenn man den einen Teil der ins Auge
gefaßten Gegenstände für sich allein und aljsolut nimmt, so daß der
Schluß (Z. 35 ff.): Die Z. und der R. ist kein Verhältnis, sondern eine
absolute und unveränderliche Quantität — eine vollständige petitio
principii ist.
Die (S. 190 § 15) von L. erörterte Streitfrage, ob die Welt auch
früher hätte erschaffen werden können, hat Cl. die AVorte (S. 229
Z. 3 — 12) entlockt, daß L. nicht konsequent geblieben sei, insofern er
diese Frage sowohl bejahe als verneine. Vom Standpunkte der GAL.
hätte L. auch nichts Klügeres tun können. Denn auch nach Kant
enthält diese Frage einen antinomistischen Anstrich, ein Beweis, wie
notwendig es war, daß Kant ein für allemal, allerdings unter dem
verfänglichen Titel von dialektischen Vernunftideen hier AVandel ge-
schaffen und dem Intellektualisnms die Maske herabgerissen hat.
Natürlich ist Zufall auf der einen, der WiUe Gottes auf der anderen
Seite von einander sehr verschieden. Wenn aber Cl. (S. 228 Z. 14 — 21)
darauf ein so besonderes Gewicht legt, so hätte er auch L.s Gründe
würdigen sollen, vermöge welcher die Behauptung Cl.s (S. 160 Z. 3 f.)
feststeht, daß Gott alle Stellen ursprünghch gleich geschaffen hat,
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 15D
wodurch L. eben der Gedanke mit den 2 gleichen "Würfeln anf den
Zufall Epikurs oeführt hat.
L. hatte immer vorausgesetzt, daß Raum und Materie auf einander
angewiesen sind. Da L. (S. 195 Xr. 73) die Ansicht vertritt, daß von
Gott nicht gesagt werden darf, daß von ihm die Quantität der in der
Welt vorhandenen Materie nicht vergrößert oder verkleinert werden
konnte, wohl aber, daß er das, daß sie Grenzen habe, nicht wollte,
so wäre in dem Falle, als bei Gott nach Cl. (S. 278 Z. 27) in der Tat
von einem "Wollen der Grenzen nicht geredet werden kann, doch, weil
L. das Können zugab, die Veränderung jener Quantität denkbar.
Das Merkmirdige dabei ist nur, daß dabei Cl. mit sich selbst in "Wider-
spruch gerät, da er doch immer für Gott die Beeinflussung der Welt
voraussetzt; so z. B. S. 215f. Aber Cl. wendet die Sache wieder alter-
nativ so, daß, wenn Gott doch seinen Willen durchsetzt in bezug auf
die Begrenzung und BewegMchkeit des „materiellen Universums"
(Z. 29), dann der Raum, ,,in welchem diese Bewegung stattfindet"",
offenbar, weil eine Bewegung nach Cl. erst möglich wird, wenn vorerst
ein Etwas vorhanden ist, in welchem diese Bewegung stattfinden
kann, „von der Materie unabhängig" sein muß. In Yoraussetzmig der
Unendlichkeit des Raumes aber, ein Gedanke, den man sich ergänzen
muß, müßte, falls das Gegenteil der eben erwähnten Folgerung statt-
findet, d. h. wenn der Raum von der Materie abhängig wäre, auch
die jenem unendlichen Raum entsprechende Materie unendlich sein,
so daß sie auch nach vorwärts und rückwärts ewig wäre, u. zw. ohne
daß Gottes Wille dabei etwas zu sagen hätte. Damit wkd aber auf
den, von L. (S. 195 Nr. 74) gegen den Schluß von der Ausdehnung
auf die Dauer gemachten Einwand, daß das fortwährende Wachsen
der Vollkommenheit der Geschöpfe auf einen Anfang der Welt hin-
weise, keine Rücksicht von Cl. genommen, sondern nur die, von
diesem (S. 160 Nr. 21) gemachte Behauptung wiederholt, wie auch
L. selbst o-esast hätte. Cl. geht bei all dem immer von dem Gedanken
der Identifizierung des Raumes mit der Gottheit aus, indem er die,
damit in Verbindung stehende beliebige Vergrößerung der Materie
als eine, nur auf der Voraussetzung der L.schen Raumtheorie stehende,
weil von den bloß materiellen Körpern abgeleitete und daher nicht
haltbare Folgerung betrachtet. Wenn also L. (S. 196 Nr. 75) erklärt,
daß mit der Zulassung der an sich bestehenden Unendlichkeit des
Raumes, sogar samt einer etwa daraus auf die Ewigkeit der Welt,
156 Job. Zahlfleisch,
wie sie von (1 (S. 160 Nr. 21) zurückgewiesen wurde, gezogenen
Folgerung, noch die Abhängigkeit einer solchen AVeit von Gott
aufrecht erhalten werden müsse, so muß man ihm beistimmen, obwohl
es nun aber an sich möglich ist, diese Abhängigkeit von Gott sowohl
bei Annahme der Endlichkeit, als auch der Unendlichkeit oder
Ewigkeit der Welt gelten zu lassen, so hat Cl. dennoch (S. 229)
gegen L. den Ausspruch getan, daß diese Angelegenheit keine Be-
ziehung auf die angeregte Frage habe, obwohl Cl. wissen mußte, daß
die Annahme der Ansicht, daß die AVeit von Gott abhängt, sich
der Vergöttlichung des Raumes durch Cl. sehr annähert. Alles, was
Cl. bezüglich seines Gottes als eines Ortes der Dinge und der Ideen
sagt (S. 229 Nr. 79—82), ist nicht Ausfluß eines bloßen AA'ortstreites,
sondern bloßes Gleichnis, während L. ohne Gleichnis redet.
Cl. war ferner (S. 161 Z. 5 — 9) gegen L. aufgetreten, da dieser
(S. 149 f Nr. 29) Cl. vorgeworfen hatte, durch die Annahme, daß Gott
der Ort der göttlichen Ideen sei, ^^iirde man zum Pantheisten. Cl.
meinte dort, mit größerem Rechte ließe sich sagen, daß der Geist die
Seele der Abbilder der wahrgenommenen Dinge sei. Indem nun L.
(S. 197 Nr. 81) erklärt, daß man hier umgekehrt sagen müsse, nämlich
daß die Bilder im Geiste sind, will Cl. sich (S. 229 Z. 29ff.) damit
verteidigen, daß er sagt, Gott sei überall gegenwärtig. Man könnte
aber dieses „Überall" nicht, wie Cl. (Z. 32) will, als den bloßen Ort
nehmen, sondern als den Inhalt der Dinge in der AA^elt selbst, was eben
den Leibniz dazu brachte, Cl. den Pantheismus vorzuwerfen, der
z. B. S. 197 Nr. 82 erwähnt wird.
Der Ausdruck ,, repräsentatives Prinzip" läßt sich auch von der
GAL. akzeptieren.
Von einer fatalistischen Notwendigkeit aber (S. 230 Z. 29) durfte
hier Cl. deshalb nicht reden, weil L. immer zugleich den freien AVillen,
der aber nezessitiert ist durch göttliche Vorausbestimmung, im Munde
führt. Unter solchen Umständen war es wohl nur ein reines Gleichnis,
wenn L. (bei Cassirer, Anm. 168) seine Lehre durch die des Epikur
und Hobbes stützt.
Der (S. 231 Z. 1—23) geführte Streit ist schon deshalb ein AVort-
streit, weil die GAL. uns sagt, daß die Tätigkeiten der Naturkräfte
als uns unbekannt nicht so ohne weiters als eine, den menschlich-
freiheitlichen entgegengesetzte zu behandeln sind. Daher darf man
den Satz (Z. 11 — 15), daß der Mechanismus keine Handlung im eigent-
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 15 <
liehen Sinne ist, nicht so ohne weiteres gelten lassen. Nehmen wir
z. B. an, die geistige Grundki'aft setze sich aus denjenigen Elementen
zusammen, denen die physikalischen Kj'äfte iluTn Ursprung und ihre
Existenz verdanken, dann ist, bei der Möglichkeit, daß jene Elemente
ein ähnliches Verfahren bei ihrer Überführung in diese heutigen
physikahschen lü'äfte beobachteten, wie es durch Willenshandlungen
geschieht, und umgekehrt, daß unsere freiheitlichen Aktionen mittelst
solcher Funktionen herbeigeführt werden, wie sie jenen Elementen an-
haften, ich sage: dann ist keine Scheidung im Cl.schen Sinne mehr
möglich und der von L. hinsichtlich der Zurückweisung der fort-
während neuen Handlungsweisen gebrauchte Vergleich mit den zwei
gleichen, elastischen Körpern ist ganz zutreffend, wenn man nur auch
berücksichtigt, daß L. offenbar von dem methodologischen Gesichts-
punkt ausging, daß wir nur a posteriori die Dinge für nicht neu nehmen,
wählend L. (S. 202 Nr. 94) ausdi'ücklich bemerkt, daß, unter Bei-
behaltung des Gesetzes der lü'afterhaltung immerhin neue Phänomene
erscheinen können. Unter dieser Voraussetzung behält dann auch CL
Recht.
Mit der (S. 23 Nr. 98) von Gl. gegen den Vorwiu'f des Materialismus
seitens L.s gemachten Hervorziehung des Spiritualisnms ist der Streit
nur heftiger geworden.
Der, von Cl. (S, 144 Nr. 13 u. 14) vorgetragenen Ansicht, daß die
tätigen Ki'äfte der Welt sich im Laufe der Zeit vermindern, so daß sie
dann wieder eines neuen Anstoßes durch Gott bedürfen, dessen Macht
also nicht so extramundan zu nehmen sei, wie dies von L. voraus-
gesetzt werde, stellt L. (S. 203 Nr. 99) die Behauptung gegenüber,
daß wegen des Übergangs der Stoßbewegung in molekulare nichts von
der Bewegungsb'aft verloren gehe. Indem Cl. dies wohl von elastischen,
aber nicht von unelastischen Körpern gelten lassen will, hat er (is-. 232
Z. lOff.) eine Behauptung ohne Beweis aufgestellt, wie dies von
Cassirer (Anni. 170) angenommen und dargetan whd, weil es keine
vollkommen unelastische Körper gebe. Da jedoch das Gesetz der
Erhaltung der Kraft von höheren Faktoren abhängig ist als bloß von
irdischen Körpern, so läßt sich heute in Rücksicht auf unser Nicht-
wissen gewisser unterhdischen Vorgänge darüber kein Urteil bilden.
Die Annahme Cl.s, daß, im Falle der Nichtannahme seiner Ansicht
bezüglich des Kräfteverlustes bei nicht elastischen Körpern, das
Phänomen bei elastischen Körpern in doppelt erhöhter Stärke vor-
158 Joh. Zahlfleisch,
kommen müßte, scheitert an der Xichtberücksichtigung der von L.
hervorgehobenen Tatsache, daß die sichtbare Bewegung in eine
Molekularbewegung übergefülut wird.
Wenn Cl. (S. 232 Z. 22ff.) L. und seiner Theorie von der Erhaltung
der Kraft (S. 203 Nr. 99 Ende), aber nicht der Bewegung, einwendet,
daß es nicht um die grundlegende, allerdings immer gleich bleibende
Trägheitsla'aft, sondern um ,,die relative, tätige, treibende Ivi'aft" sich
handle, die fortwährend parallel der Bewegung sei, so erscheint das
als ein Sensualismus, obwohl sich anderseits unter den Kräften wohl
ein Unterschied machen lassen muß. Die von Cl. (S. 232 f.) betonte
Notwendigkeit, daß die, nicht in das Natm'gesetz einbezogenen Wider-
stände und Reibungen, z. B. die bei der Aufwärtsbewegung der Schwere
stattfindende Gegenwü'kung, nicht in Anschlag gebracht werden
dürfen, bildet eben den Streitpunkt, so daß daraus sowohl pro als
contra geschlossen werden kann.
Cl.s Auseinandersetzung (S. 233 Nr. 100 — 102) hat zur Grundlage,
daß die Abnahme der Ivi'aft kein Mangel sei, weil die Bewegung pro-
portional dem Wachstum der Materie abnimmt. Aber auf solche
Weise hat er doch wieder nur einen Wortstreit heraufbeschworen,
weil damit in der Tat der Erhaltung der Ivi'aft, wie dieses Gesetz von
L. gemeint ist, das Wort geredet wird.
Man kann es allerdings sogar einen Vorzug nennen, wenn eine
Weltordnung sich vervollkommnet; und wenn L. die von Cl. an-
genommene Nachbesserung der Welt durch Gott einen Mangel nennt,
so kann man auch nichts dagegen haben. Daher hat Cl. (S. 233 Nr. 103)
sowohl Recht als Unrecht zugleich. Insofern Gott seinen Weltenpia ii
schon festgesetzt haben muß, bevor er die Welt erschuf, mußte er auch
wissen, wie viel Material er dazu brauchte, und insoweit ist von einem,
erst später zu verbessernden Tun Gottes allerdings nicht die Rede.
Wenn L. behauptet, daß, insofern diese Annahme stattfindet, von
einer Unendhchkeit der "Welt nicht geredet werden darf, so könnte
man sagen, daß Cl. offenbar die Worte L.s (S. 151 Z. 23f.) falsch auf-
gefaßt hat, da L. die Unmöglichkeit der Abnahme des Universums
nur von dem Standpunkte des Aufsichbesclu'änktseins des letzteren
gelten läßt, also im idealen Sinne, in welchem auch die Bemerkung
Cassirers Nr. 100 (S. 151) gehalten ist.
Cl. verwechselt (S. 234 Z. 15 — 22) offenbar wieder die von ihm
flu- die Definition von Größe (§ 54) gemachte Voraussetzung mit der
Einige Bemerkungen zum Intellektualismus. 159
von L. herrülireiiden. Man hat zu beachton, daß aucli Ordnungen in
Größengestalt auftreten können, obwohl es Fälle davon gibt, in denen
zu konstatieren ist, daß jede Größe davon ausgeschlossen bleiben muß.
L. hatte behauptet (S. 206 Z. 33—36), daß die Existenz Gottes
und dessen Uneinießlichkeit und Ewigkeit von der Existenz der Dinge
unabhängig sei, so daß auch R. und Z. allenfalls nur in Gedanken und
nicht real zu bestehen brauchen (S. 206, 29). Damit würde allerdings
der Cl.schen Annahme der Realität nicht bloß von R. und Z. über-
haupt, sondern auch von Unermeßlichkeit und Ewigkeit wider-
sprochen und der von Cl. vorausgesetzten Erklärimg der Sache ilu-
Sinn benommen (S. 234 Z. 27). Man sieht aber, wie leicht auf Grund
bloßer Worte der Intellektualismus zu Mißverständnissen Anlaß gibt.
Und hier mache ich die Anmerkung, daß wir im gewöhnhchen Leben
nicht immer in der Lage sind, das förmlich diu-chzuführen, w^as wir
oft nur durch Verifikation einer plötzUch aufsteigenden GA. in die
richtigen Bahnen zu leiten vermögen. So schauen wk uns gewöhnlich
die Gesellschaft, vor welcher wü* einer Meinung Auscü-uck geben Avollen,
die Leute, denen wü' etwas zu sagen haben, genau an, bevor wir es
sagen, wobei der Erfolg dieser Prüfung, wie wü" unter der Devise:
Menschenkenner, Taktgefühl — bemerken, uns in der Regel im Fluge
der Gefühlsreproduktion, also wiederum nur durch GA., zustande
kommt.
Auch heute ist man noch vielfach gegen die Ansicht Cl.s ein-
genommen, gemäß welcher zwischen Wunder und Natar ein bloßer
Gradunterschied besteht (S. 234f.). Aber auch heute müssen wir uns
davor hüten, der L.schen Voraussetzung beizupflichten, daß man
Alles auszuschließen habe, „was über die Natur der geschaffenen
Dinge hinaus liegt" (S. 207 Z. 24f.). So spricht Uphues (Psychol. d.
Erkennens I v. J. 1893 S. 2) in einer Weise, als ob wü* die Eigenschaften
und damit das Wesen der Dinge nur insoweit gelten lassen dürfen, als
„die Dinge aus einem gesetzmäßigen Zusammenhange in demselben
Räume befindlicher gleichzeitiger Teile" und „die Vorgänge aus
einem gesetzmäßigen Zusammenhange, sei es in demselben, sei es in
verschiedenen Räumen befindlicher, auf einander folgender Teile"
bestehen. Wenn wir nämhch solange warten müßten, bis die Kluft
zwischen den bereits bekannten, von Uphues als für die Erkenntnis
notwendig erachteten Gesetzen und denjenigen ausgefüllt wäre, welche
nach der Weltentwicklimg immer noch zu gewärtigen sind, dann ver-
im -loli. Zahltloisch,
striche soviel Zeit, daß uns, falls wir dieselbe nicht mit den, nur als
Lückeul)iißer im Sinne meiner GAL. geltenden GAA. ausfüllten, ein
naturgemäßes Handeln ganz unmöglich wäre.
Cl. stellt (S. 235 Z. 30—33) eine Alternative bezüglich L.s War-
nung, daß man das Natürliche mit dem Übernatürlichen in einen zu
engen Zusammenhang rückt. Cl. meint, entweder nehme L. zwei
verschiedene Prinzipien in Gott an oder er glaube, ein Ding sei schw^erer
von Gott auszufülu'en als ein anderes. Und indem er beides aus-
schließt, annehmend, daß auf Gott keines von beiden Anwendung
finde, schheßt er (S. 235f.): also hat die Unterscheidung zwischen
Natürhchem und Übernatürlichem nm* eine relative und vereinende,
keine dergestalt trennende und absolute Bedeutung, wie sie L. be-
hauptet. Cl. übersieht, daß, wenn der Forscher sich in bewußter
Weise bei seinen Experimenten fortwährend von übernatürlichen
lü'äften beeinflußt wähnte und wenn er sich dieses Zustandes stets
erinnern müßte, er zu keiner Arbeit käme. Dieses Be^mßtsein hat
nun aber auch allerdings Grade, deren Vorhandensein wir mit der
Existenz des Rehgionsfanatikers und des Materiahsten oder Atheisten
versinnbildlichen. Wenn Cl. (S. 236 Z. 3f.) meint, L. nehme keine
unmittelbare Einwü-kung Gottes an, da wo es sich um natlü-liches
Geschehen handle, so ist auch das im Hinblick auf die Schwierigkeit
zu beanstanden, welche bei der Auslegung der prästab. Harmonie
besteht. Wenn ferner Wunder durch solche Ursachen erklärt werden
sollen, die neben den Naturgesetzen zu gelten hätten, also in sekundärer
Weise, so hat L. allerdings (S. 211 § 117) gesagt, daß es Wunder gibt,
welche aus Ej-äften erfheßen, die an die unserigen anknüpfen, jedoch
solche sind, die neben dieser Anloiüpfung ins Riesenhafte wachsen;
so glaube ich L.s Bemerkung (S. 211 Z. 12 — 14) erklären zu müssen.
Mag dem nun sein, wie ihm wolle, Cl. hatte auch hier nicht das Recht,
zu sagen, daß es außer diesen beiden Fällen keinen dritten gibt.
Wenn Cl. (S. 236 Z. 9 — 18) glaubt, es sei unvernünftig von L.,
über die Fernwirkung absprechend zu urteilen, weil man nichts über
die Ursachen dieses Phänomens angeben, sondern nur das letztere
damit bezeichnen wolle, so ist darauf zu erwidern, daß es auch sehi'
viel bei der Erklärung des AVissens einer Sache auf den Wortausdi'uck
ankommt. Nm- unter dieser Voraussetzung gilt näniHch das Kantische :
Forma dat esse rei.
Wie notwendig es ist, daß man, wie die Lelu-en aller Systeme,
Einige Bemerkungen zum [ntellektualismus. 161
SO auch die hier vorgebrachten als bloße Trägh. zu nehmen halje,
zeigt sich ganz besonders aus der an sich nicht unberechtigten Ein-
wendung Cl.s (S. 237 Z. 9 — 12), daß der Mensch in seinen Handlungen
traumhaft, unfrei, nur \yie geschoben sei. Aber man möge sich eben
auch das L.sche Svstem als ein nur vorläufiges, hinkendes Gleichnis
denken.
Es ließe sich, anschließend an die folgenden Ausführungen Cl.s
(insbesondere S. 239 Z. 11 — 20), fragen, wie es kommt, daß wü* bei
dem von L. angenommenen Mechanismus der Welttätigkeit nicht
mehr von der Beschaffenheit der Natur ki'äfte wissen als heute. Doch
vergißt, wer so fragt, wieder, daß L.s System nur ein idealistisches
ist, wobei L. gar nicht auf die Möglichkeit des praktischen Wissens
der Menschen, über die sie, die Menschen, bewegenden Ki'äfte ein-
geht. L.s Ausdruck (S. 210 Nr. 116), daß alles maschinenmäßig,
nachdem es von Gott erschaffen worden, sich abspielt, muß als un-
vorsichtig bezeichnet werden; denn in der Tat spielt sich doch Alles
mechanisch und dynamisch (unfrei und frei) zugleich ab. Dann ent-
fäUt aber auch die Einwendung Cl.s (S. 239 Z. 20—26).
Was Cl. (S. 239 Nr. 117) gegen die, von L. (zur gleichen Nr.) er-
wähnten Abstufung der Wunder sagt, muß auf Grund des, von L. hier
vorausgesetzten Anthropomorphismus beurteilt werden. Cl. hat
(S. 240 Z. 17ff.) Recht, wenn er erklärt, daß ein, noch nicht erklärtes
Phänomen nicht als falsch bezeichnet werden darf. Insoweit aber
dasselbe mit Gesetzen, die anderweitig bekannt sind, wie z. B. in dem
von L. erwähnten Falle der nicht tangentischen Fortbewegung eines
im Kreise herumbewegten und dann (S. 212 Nr. 123) hinausgeschleu-
derten Körpers, in Widerspruch gerät, insoweit ist das Phänomen
falsch. Alles kommt daher darauf an, in welchem Grade die Ne^tonsche
Fernwirkung nach dieser Methode bemieilt werden durfte.
Indem ich die von Cl. (S. 240 f.) noch weiter vorgebrachten Ein-
wände wegen wiederholender Zusammenfassung früherer nicht weiter
berücksichtige, glaube ich, daß der aufmerksame Leser meiner Anti-
kritik sich auch von selbst die von L., wenn er es getan hätte, an-
gewendete, noch ausständige Gegenäußerung wnd konsti'uieren
können.
Archiv für Geschichte der Phüosophie. XXVIII. 2. H
V.
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens.
Von
Carl Fries.
Die Beliandlimg methodologischer Fragen wird ohne Theorie und
Deduktion, besonders wenn Polemiken hineinspielen, niemals aus-
kommen, und auch unsere vorige Betrachtung der Methodcnlehre^)
verzichtete nicht auf dieses Rüstzeug. Wo jedoch wie bei Methoden-
fragen für den Ausschlag alles von dem Grad ihrer Bewährung ab-
hängen muß, genügt ein konstruktives, logisch-ableitendes Verfahren
wohl kaum, wenn nicht dem empfohlenen Handwerkzeug auch Ge-
legenheit geboten wird, sich über die Realität der ihm beigelegten
Fähigkeiten gleichsam am lebendigen Objekt, am konkreten Fall
zu erproben. Ein solcher konkreter Fall soll hier nui' gesetzt und das
Experiment ziu" Kontrolle des vorher deduktiv Beigebrachten aus-
geführt werden, und zwar soll ein spezielles geschichtliches Problem
als Prüfstein für die Qualifikation der natui'wissenschaftlichcn Methode
auf ihre Eignung in rein geisteswissenschaftlichen Fragen hin gewählt
werden. Wenn dabei die Untersuchung sich zu sehr in Einzelheiten
zu verlieren scheint, so darf demgegenüber die Wesentlichkeit exakter
Durchführung des Experiments f üi* die Probabilität des zu erweisenden
Satzes betont werden.
Die älteste Geschichte Griechenlands beginnt sich infolge glück-
licher Ausgrabungen immer mehr aufzuliellen, und den neuen Tat-
sachen folgen die neuen Lehrmeinungen der Historiker auf dem Fuß.
Es herrscht aber Zwiespalt im Lager der Hellenisten; glauben die
einen noch an der alten Lehre festhalten zu sollen, die griechische
Kultur sei autochthon, so meinen die anderen, wie überall in der
Natur sei hier Stein auf Stein, Stufe auf Stufe geschichtet worden,
1) Diese Zeitschrift Band XVI Heft 4.
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 163
sei die Gesamteinwirkuiig der lu'alten orientalischen Kiiltiirstaaten
mit ihi-er staunenerregenden Zivilisation für Hellas von entscheidendem
Einfluß gewesen. Der Streit tobt seit einigen Jahren hin und her,
und der Marbiu-ger Assyriologe P. Jensen hat mit seinen Thesen
zur Honi.erforschimg im. Lager der altgläubigen Philologen einen
Stm-m der Entrüstung hervorgerufen, während sein freies Wagnis
im anderen Lager m.it großer Genugtuung aufgenommen wurde.
Nehmen wir den Fall einmal als Schulbeispiel imd stellen wir die
Frage, kann vom Standpunkt entwicklungsgeschiclitlicher, biologischer
Betrachtung ein kultm'elles Autochthonentum der hellenischen Bildung
zugestanden werden, wenn fast rings um das Ländchen die zeugungs-
kräftigsten, reifsten Kultur'en das junge Volkstum umgaben? Ist
der Prozeß der Kultm'mischung weniger ein gesetzmäßiger Natur-
vorgang als etwa die Oxydation der Metalle oder andere chemische
Vorgänge? Doch lassen wh die allgemeinen Betrachtungen, und
mögen die Tatsachen nun für sich selbst reden.
AVilam.owitz beginnt seinen Überbück über die griechische Lite-
ratm- mit den lapidaren Worten: „Die griechische Literatur ist die
einzige unserer Kulturwelc, die sich ganz aus sich selbpf entwickelt
hat", denen nichts hinzuzufügen ist. Im Kydathen 40 behauptet
er, die keusche Rehgion Hom.ers sei dm'ch semitischen Götzendienst
geschändet worden. Ach der keusche Homer! Die fromme Helene
möchte man zitieren ! Die alten lonier dachten anders ! Wie schänd-
lich verleumdet Xenophanes die Dichter: :;ravTa d-soto drtthijxccv
OltrjQog d-' Holodog ra öooa Jiag avd^QOJjioiOL (rrsiÖea xccl ipoyog
toriv, x/.tstT£ip iJor/ev£(v ts xcu älhJAovg djtarEvsiv (fr. 11 Diels
Vorsoki-. vs. 12). Wieviel maßvoller und richtiger dagegen Christs
Urteil in der griechischen Literatm'geschichte 413, 1: ,,Ich bin ein
Fremdling in der Assyriologie, aber der Einsicht in offenbare Wahrheiten
darf sich niemand verschHeßen" usw. Während die klassische Philologie
sich nun fortgesetzt ablehnend verhielt, begann die orientalistische
Forschimg ihrerseits Eroberungszüge zu unternehm.en, gleichzeitig
regten sich Anthropologie, Ethnologie und Sprachvergleichung, so daß
die Frage nach ältesten Völkerzusammenhängen immer dringhcher
wurde. Man ging von Fall zu Fall, jeder bückte von seinem begrenzten
Studiengebiet, soweit das Auge über die Grenze reichen woUte. Ver-
nachlässigt aber büeb die Erwägung, daß hier naturwissenschaftüche
11*
164 Carl Fries,
Methode anzuwenden sei, daß die Yülkerorganismen wie Gruppen
des NatiuTeichs verglichen, ko- und subordiniert werden, und vor
allem in einen großen übergeordneten Zusammenhang eingereiht
werden müßten. Gewiß wurde der Gedanke wohl gehegt und wohl
auch ausgesprochen, zu der Herrschaft aber, die ihm gebührt, ist er
nicht gelangt. Unbedingt gebührt ihm die Suprematie — unbedingt
muß, wie in den übrigen Wissenschaften, auch hier das Be\Mißtsein
von der Evolution diu'chdringen, müssen die Methoden der ent-
wicklungsgeschichtüchen, biologischen Forschung auch fiU- den Werde-
gang der Völker und ihrer Gruppierungen Platz greifen. In hundert
und tausend Experimenten hat das Verfahren der exakten Forschung
sich bewährt und der staunenden Welt ein beispielloses Staunen
abgerungen; unerhört und durchweg umwälzend in jeder Beziehung
waren die Errungenschaften dieser AVissenschaften ; sie haben unserem
ganzen Lel)en, unserem ganzen Denken und Vorstellen, unserer ge-
samten Philosophie und Kultur ihren lu'eigenen Stempel aufgediiickt,
keine Seite des geistigen Lebens blieb von ihr unbeeinflußt ; die Wissen-
schaften haben ihr ihre Methoden abgelauscht und sich nicht zu ihrem
Schaden danach gerichtet. Man wird nicht für die klassischen Philologen
eine so extreme Ausnahmestellung beanspruchen, auch ihr Schaffen
wird sich dem allgemeinen Gesetz unterwerfen, die bewährte Norm
anerkennen müssen. Diese jedoch bedingt einen ausgesprochenen
Sinn für die allen Einzelerscheinungen zugxunde hegende Einheit,
die auch im Völkerleben nicht als die letzte MögHchkeit, sondern
als die apriorische Voraussetzung gelten sollte. Es gibt doch
nichts natürlicheres, als daß Völkerschaften, die gleichsam
organisch neigen einander imd mit einander aufwachsen, nicht ohne
Einfluß auf einander geblieben sein werden. Man denke mu' an die
Zellen und Gewebe. Wie da eine Existenz neben der anderen sich
ent^vickelt, eine der anderen ähnlich, der anderen verwandt, der
anderen verschwistert oder verschwägert, so sollte man doch auch
die großen Komplexe, die so gTuppenweise beieinander liegen, mit
einer gewissen Selbstverständlichkeit als auf einander ange^\^esen
und verwandt betrachten, mindestens aber die MögHchkeit gegen-
seitiger Beeinflussung zulassen. Statt dessen baut man eine gToße
Völkerfamilie auf und in der Mitte als Waisenkind, ohne Verwandte,
ohne fördernde Freunde, erscheint Hellas. In so dürftigem Aufzug
läßt man die feinste Blüte der Völkermischung auftreten, weil man
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 165
den älteren Schwestern den bildenden Einfluß auf die jüngere nicht
gönnen mag. So entsteht ein Zerrbild auf jedes organische "Werden,
das die geschichtliehe Erkenntnis hemmt imd seinen Zweck, den
Ehrensockel des Griechentum.s zu erhöhen, nimmermehr erreicht.
Aber immer wieder muß der Bastiansche Völkergedanke herhalten,
wenn m.an eine Übertragung nicht zugeben will. Wie energisch hat
schon Lehrs auf die Kontinuität der Kultm* hingewiesen (Pop. Aufs. 2
463 f. ). Auch Ratzel sprach es aus, daß überall mit Entlehnungen zu
rechnen sei ( Anthropogeographie II, 725 ff.). Eine Urzeugung sei
auch auf diesem Gebiet nicht nachweisbar. Man wird stets auf biologi-
sche Analogien zmiickgeführt. Auch Schui'tz in seinem Werk (52 ff.)
trat für allgemeinen Kulturzusammenhang ein und wies gut darauf
hin, daß die Menschheit im, ganzen einen entschiedenen Ideenmangel
an den Tag lege, daß überall Nachahmung auftrete, neue Erfindung
jedoch höchst spärlich zu finden sei (56). Sehen wir doch auf unsere
erleuchtete Zeit, in der es nicht besser bestellt ist. Selten sind die
neuen Gedanken, auf Nachahmung des Vorhandenen und ganz ge-
ringen Abwandlungen beruht aller Fortschritt. Das folgende Glied
klemmt sich zunächst ängstlich an das ältere, tut himdert Bewegungen
auf dieses gestützt, ehe es einen selbständigen Schritt wagt. Wie
gründlich ist jeder Fortschritt, auf welchem Gebiet es auch sei, vor-
bereitet. Und was den Orient betrifft, sagt der Orient uns heut nichts
mehr? Man mustere unser Kunstgewerbe, unsere Kunst, und man
wird z. B. ein starkes Band zwischen Japan und Paris, zwischen ost-
asiatischer imd europäischer Maltechnik u. a. finden, wie Osborn
das im letzten Band von Springers K\instgesehichte so hübsch aus-
führt. Wohin wäre es mit unserer stolzen Neuzeit gekommen, wenn
der Orient nicht Kompaß, Pulver und Druck beigesteuert hätte.
Rembrandt hatte in seinem Atelier orientalische Muster, und daß
das Mittelalter auf den Osten blickte, würd hoffentlich bald Gemeingut
der Wissenschaft sein. Von modernen Versuchen, die Kultur aus der
Gegend des Nordpols herzuleiten, wollen wir lieber schweigen. Von
komischen Episoden ist keine Wissenschaft frei. Für den großen
Zusammenhang kämpft seit langem verdienstvoll Otto Gruppe
(Griech. Bei. u. Myth. 719 u.a.). Er sagte, die Vererbimgstheorie
könne man für die mythologischen Zusammenhänge der Indogermanen
nicht heranziehen, aber es sei möglich, ,,daß auch nach ihrer Trennung
Inder, Griechen und Germanen zu denselben Religionsform.en ge-
166 Carl Fries,
langen konnten, indem sie sich dieselljen von außen her aneigneten"
(Kulte u. Mythen I, 151). Er behauptet, die Völker seien in ältester
Zeit religionslos gewesen und erst von einem Kulturzentrum aus sei
ihnen Mythos und Religion iil)erliefert worden. Dieser Standpunkt
entspricht durchaus der Biologie. Der der Tierwelt entsprossene
Mensch ist natürlich zuerst religionslos in höherem Sinn, imi alles
Mystische und Philosophische zunächst einmal auszuschalten. Im
Laufe seiner Entwicklung gelangt er ziu- Erleuchtung und höchsten
"Weltanschaimng. Von einem Punkt verbreitet sich jedes Licht dami
in den AVellenformen der Kulturwanderung über die Erde. Man
kann diese Konsequenz in Gruppes Adaptationismus nur bewundern,
und wenn man ihn auch z. T. tendenziös angegriffen hat, so ist die
Wissenschaft seines .Verdienstes doch längst inne geworden. So sagt
z. B. W. Golther in der Germanischen Mythologie, daß die Annahme
von einer Entlehnung gerade auf religiösem Gebiet ungemein viel
für sich habe (36). Die Völker waren auch nach seiner Ansiebt in
ältester Zeit nicht so getrennt, wie man gewöhnlich annimmt. Biologisch
richtiger muß es heißen: Sie hatten sich von einander getrennt, geteilt
wäe Protoplasmen imd trugen die Signatm- innerer Verwandtschaft,
so lange sie existierten, an sich. Wie die Kulturpflanzen und Haus-
tiere nach Hehn, wanderten die Ideen von einer Zone über die Erde,
wie das schwerfällige Mammut oder Nashorn bis zum äußersten
Norden hinaufzogen. Hugo Winckler hat sich einmal sehr treffend
hierüber ausgesprochen. Da die indogermanischen und semitischen
Sprachen nicht m.it einander ,, verwandt" waren, sagt er in der Kritik
über Bolls Sphära (Krit. Sehr. III, 75), so konnte auch keine weitere
Beziehung zwischen den Völkergruppen bestanden haben. Denn alles
Geistesleben hatten sie aus sich entwickelt, alles war überall auf der
Erde immer wieder von neuem herausgebildet worden. Die alten
Völker hatten keinen Verkehr mit einander, da Schienen und Dampfer
ihnen fremd waren. Die Ethnologie hatte längst den Völkerverkehr
als höchst rege erwiesen, aber die Ethnologie war keine Wissenschaft,
nur Dilettanten beschäftigten sich mit ihr. Man nmß die trefflicher,
hier nicht wörtlich zitierten Ausführungen selbst nachlesen. S. 76
sagt er: „Nicht Entstehung auf allen Punkten der Erde, sondern
Entlehnung, so heißt jetzt die Formel".
Lefmann sagt in seiner Geschichte Indiens 10, es sei ein histori-
sches Gesetz, daß die großen Einflüsse der Kulturen erst spät ein- ||
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 167
gesehen würden. Erst neuerdings sei z. B. erkannt worden, daß der
Einfluß der Ai'aber bis nach Canton und Sumatra gereicht habe.
Man könnte dasselbe von den arabischen Einwirkungen auf das
mittelalterUche Eui'opa sagen, auf den Burdach neuerdings hinwies
(Sitzungsber. Berl. Ak. Wiss. 1904, 900j. Die Griechen wußten von
einem historischen Gesichtspunkt bitter wenig. Es wäre interessant
und äußerst lehrreich, einmal ihr Schrifttum daraufhin durchzugehen.
Bei uns war die dogm.atische Handhal)ung der Wissenschaften un-
endlich lange in Blüte, später erfand man eine philosophische Gram-
matik, Philosophie der Sprache usw., bis schließlich der historische
Gesichtspunkt gefunden wurde. Ähnlich war es in der Theologie bis
auf die Tübinger, im Recht bis auf Savigny usw.
Es ist leicht, eine kleine Auslese von Anzeichen der Beeinflussung
und des Kidtm-zusammenhangs anzuführen. Um erst einen Augea-
blick bei neueren Zeiten zu verweilen, in denen sich das handgreiflicher
nachweisen läßt, wie kam. es, daß im 18. Jahrhundert der Brite, der
Italiener und ebenso der gute Deutsche sich mit Zopf und Perrücke
kleideten? Das war gewiß ein Völkergedanke, eine generatio aequivoca
in allen Staaten Emopas. Oder war es Nachahmung Franki'eichs?
Doch beim Zopf blieb es nicht, auch nicht beim Alexandriner und di'ei
Einheiten und dem Inhalt der gesamten Kunst, das ganze Denken und
Philosophieren der Zeit war aufklärerisch, rationaüstisch nach gleichem
Geschmack. Und von unserer modernen Kunst, ob naturalistisch
oder symbolistisch oder neuiomantisch, beruht vieles wieder
auf westlichen Vorbildern. Die beginnende Erschließung Ostasiens
machte sich in unserer Ai'chitektur und Malerei deutlich bemerkbar.
j\Ian subtrahiere doch einmal aus der Kultur irgend eines Landes der
Erde alles, was an seiner Kultur nicht eigenes Gewächs, sondern
Im.port ist, und es wird bei genauer Prüfmig nicht viel übrig bleiben,
ob man die Hilfsmittel des täglichen Gebrauchs oder des geistigen
Lebens heranzieht. AVenn man bedenkt, daß die Kultm' eigentlich
von jeher auf dem Austausch, dem Vergleich, dem Wettbewerb, dem
freien Spiel der Kräfte beruhte, so erscheint das ganz natürhch. Kultm-
bildete sich da aus, wo der Handel blühte, wo der Kaufmann die
.Waren seiner Heimat als Tauschartikel feilbot. Nicht das Binnen-
land, sondern die Küsten, nicht die einsanien Höfe, sondern die Knoten-
punkte der Karawanensiraßen, nicht das flache Land, sondern das
Gewühl der Städte waren es. wo aus dem Austausch der Produkte
1G8 Carl Fries,
sich Industrie, Gewerbflcilä, Wohlhabeiilunt und Kultur einstellten.
Aus der Inzucht der Aboeschlossenheit eroaben sich nur Blutarmut
und Niedeigano-. AVie der Boden um. so fruchtbarer wird, je nach-
di'ückliclun- man mit Pflug und Eg'ge seine Schollen dmcheinander-
schüttelt, so auch mit den Völkern. Sparta, das sich isolierte, blieb
im.mer die Provinzialstadt; Athen, die Zentrale des Weltverkehrs,
blieb auch eine geistige Hauptstadt der Welt. Die Landstadt Rom.,
von Pfahlbürgern und respektvollen Philistern bewohnt, bedeutete
der Welt zehnmal w^eniger, als jede beliebige Stadt Großgriechenlands;
als es die Griechen bei sich' aufnahm, trotz Catos Zorn, begann es
Caput mundi zu werden. Und Ähnliches gilt von anderen Staaten
auch. Also gerade der Güteraustausch ist das Belebende, Fördernde,
so daß man, wo starke Produktivität auftritt, auf vorgängigen starken
Umsatz zu schließen haben wird. Das physiologische Analogon der
Blutverdünmmg durch Inzucht ist hier auch am Platz; also auf
möglichste Promiskuität aller Güter auf stärksten Umsatz kommt es
an; Inzucht hindert das Gedeihen, Zuchtwahl und Auslese schützen
das Ganze vor üblen Folgen verwildernder Promiskuität. Auf diese
Form.eln lassen sich alle gemeinsamen, staatartigen Gebilde bringen,
von der niederen organischen Welt bis herauf zm- modernen National-
ökononüe. Freilich was ist dem. Philologen diese Hekuba? Nie hat
er sich viel um die Dinge seiner ,,Welt" gekümmert. Für biologische
und nationalökonom.ische Dinge war er niemals interessiert. Aber
die Wissenschaft von Hellas, einem der gewaltigsten Kulturfaktoren
der Menschengeschichte, geht doch nicht die Philologen allein an,
Griechenland oder vielmehr Athen, die veilchenbekränzte, dämonische
Stadt, hat für die ganze Menschheit gearbeitet, jeder von uns ist von
Athen beschenkt worden und hat die Pflicht des Dankes, die er nicht
anders abstatten kann, als durch hingebende Liebe und innigen Anteil
an der Blüte der heiligen Polis. Sollte der Philologe da das Recht
haben, die gesunkenen langen Mauern durch eine chinesische Mauer
des Banausentums zu ersetzen und die Dornenhecke einer rückständigen
Methode um sie zu pflanzen? Das Phänomen Attika gehört mitten
in den Strom der Biologie, von allen Seiten muß es beleuchtet, zu
jeder Welterscheinung in Beziehung gesetzt werden. Mit tausend
Fäden an Athen gebunden hat der Mensch die wissenschafthche
Pflicht, alle Pfade, die dorthin führen, zu erkunden und für immer
gangbar zu erhalten. Alle Strahlen der Entwicklung schnitten sich
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 169
im, Hafen Athens, alle Kiütm-potenzen drängten sich in die Erechtheiis-
stadt, nni von dort gesteigert und erhöht in die Welt zurückzukehren
und die hohe Botschaft von der großen Metropolis allen Landen zu
melden. Und wir sollten das Recht haben, dieses gewaltige Netz von
Beziehungen zu zerreißen? Alle Wissenschaften waren einmal in
Athen angesiedelt, jede soll den Weg nach Athen siu*hen und ihre
historischen Beziehungen für die Magna m.ater erkunden, jede ihr
Licht auf sie werfen, bis sie von allen Richtungen bestrahlt plastisch
vor uns steht.
Und doch gab es auch vor Athen Ki-ystallisationspunkte der
Kultm". Die Amarnabriefe zeigen, daß in einer viel früheren Zeit
die Keilschriftsprache den Weltverkehr beherrschte. Die Pharaonen
wie die Mitanikönige, die Herren von Assiu- und Bal)el, wie die
Chetafürsten verstanden sie und wechselten ihre Briefe in diesen
Zeichen, ja auf Kypros und Kreta (?) hat m.an Tontafeln mit diesen
Ideogram.men gefunden. Wer will noch leugnen, daß ein Weltverkehr
im 3. und 2. vorchristlichen Jahrtausend bestand? Die Wincklerschen
Funde in Boghazköi haben die Zone dieser Kultiu noch erweitert.
Die großen Reste der Heerstraßen und sonstigen Verkehrsmittel
zeigen, daß die Verbindungen der Völker schon in ältester erreichbarer
Zeit ungemein ausgebildet waren. Das Buch von W. Max Müller,
„iVsien und Europa", stellt eine Fülle von Beziehungen beider Erd-
teile dar. In prähistorischer Zeit schon war der Süden der gebende
Teil. Die Mittelmeervölker z. B. lernten das Metall, wie E. Pernice
in Lehnerts neuer ,, Geschichte des Kunstgewerbes" I 47, bem.erkt,
früher kennen als das nördliche Eiu-opa, und Vorderasien und das
Niltal kannten Metallarbeit schon lange vor den Mittelmeerländern.
Im Innern Afrikas besteht z. Z. noch die Steinzeit, da es eben am
Austausch und Verkehr mangelt. Zur Zeit der zwölften Dynastie
bestand zwischen Ägypten und der ägäischen Kultur ein reger Aus-
tausch (ib. 53)\). Die Steinschneidekunst hat sich nach Pernice (58)
der sich übrigens dm-chaus nicht etwa als warmer Anhänger der
Entlehnungstheorie zeigt, von Babylonien aus über Vorderasien bis
zu den Griechen verbreitet. Die assyrischen Steine sind prunkvoll
1) In hellenistischer Zeit dagegen hat das alte Ägypten von der jüngeren
Kultur der Sieger so gut wie nichts angenommen. S. Wiedemann Melanges
Nicole 561.
170 Carl Fries,
im Fonnenvortrag, bei den Hethitern waltet das Ornament vor,
die persischen Produkte sind kraftlos und nüchtern, aber „alle zehren
in den Darstellunoen von dem Erbe der babylonischen Kunst" (58).
]n der höchsten Stadt des Hügels vom. Hissarlik ist ein starker hnport
kretisch - niykenischer Kunst Ijemerkbar, der eine einheimische
Produktion zu lebhafter Konkurrenz anstachelte (65). In der
Technik zeigt sich die mykenische Kunst von Babylon l)eeinflußt,
wenn sie auch in der Ai"t der Darstellung dann eigene Wege geht (73).
Die Bereitung der Fayencen lernten die Kreter von den Ägyptern (81 ).
AVie auch der frühattische Vasenstil dem Orient verpflichtet ist,
stellt Pernice sehr plausibel dar (84). Auch die Bronzetechnik empfing
von Osten her ihre Anregungen (109), ebenso wie die Goldschnüede-
kunst (118 f. ). Daß es auf anderen Gebieten nicht viel anders stand,
ist ein naheliegender Schluß. Leider ist die Kunst des flüchtigen
AVorts und Klangs nicht in so vielen Überresten zu verfolgen wie die
des Meißels oder Töpferrades sonst würde man auch hier Wunder
erleben. Aber die Sprachen Kleinasiens sind leider großenteils unter-
gegangen, teils aber in noch unentzifferten Alphabeten geschrieben.
AVenn dieChetasprache, dieLykischen u. a. Inschriften einmal gedeutet
sein werden, ist noch mancher Aufschluß zu erwarten.
Auch die indo-iranische Kultur schloß sich nicht gegen die Außen-
welt ab, im zweiten Jahrtausend stand Indien schon im AVeltverkehr
(0. Francke, ZDMG 1893, 595 ff.) Es hatte seine Beziehungen zu
Bäveru, d. i. Babylon wohl nicht erst in der Zeit der Jatakam (ib. 606),
wie denn auch seine Küstenschiffahrt spätei" jedenfalls Ijeträchtlich
war (608). Auch über frühe Reisen indischer Kaufleute erfährt m.an
einiges (K. E. ?veumann. Reden Buddhos, II 548, Bühler, Crrund-
riß I, II, 5). In astronomischer u. a. Beziehung hängen die Inder von
Babylon al), dem sie auch sonst verpflichtet sind (s. Eckstein in
AVebers Ind. Stud. II 369, der auch den altorientalischen AVeltverkehr
betont). Umgekehrt zeigen die Darstellungen in Indien heimischer
Tiere auf dem Obelisken von Niniveh (Lefm.ann, Ind. Gesch. 2 ) und
die von Winckler in Chetareich entdeckten indischen Götternamen,
daß die Kunde vom, Fünfstromland frühzeitig weit nach AVesten
fijedrungen war. Im Mittelaltar wirkt Indien faszinierend auf den
Okzident, nicht nur seines Reichtums wegen, und noch unsere ver-
gleichende Sprachwissenschaft ist der indischen zu Dank verpflichtet
(Schröder, Indiens Kultur u. Litt. 701). Aber sowie v<in Griechenland
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 171
die Rede ist, heißt es immer, die Entfernungen seien viel zu groß,
die Wege viel zu weit gewesen, als ob die Kultur nicht Meere durch-
schwömmen und Wüsten und Felsenkämme überflogen hätte. Man
bedenke nur, welche Länderstrecken die Fabel, die Novelle, der
Schwank usw., Indiens durchwandert haben (vgl. Mailath Magyar.
Sagen 279 u. G. Jacob, Östhche Kulturelemente im Abendland, 1912,
eine sehr inlialtreiche Schrift).
Eine chinesische Weltkarte weist merkwürdige Übereinstimnumg
mit der von Peiser (Z. Ass. IV 360 ff.) veröffentlichten babylonischen
Weltkarte auf (W. Schultz, Altjon. Mystik 149). Die Theorie von
der chinesisch-babvlonischen Verwandtschaft gewinnt neuerdings
immer m.ehr Anhänger (s. Richthofen, China I 404 ff.); man wird
natürhch an indische Vermittlung glauben, für die denn auch An-
zeichen in reicher Fülle vorhanden sind. Die Sprache, die vertikale
Schrift, die Mythologie u. a. weisen deutlich auf Vorderasien hin.
Das wäre alles an sich gar nicht so merkwürdig, benachbarte Völker
würden sich kulturell immer beeinflussen. Ganz etwas anderes ist es,
wenn zwischen zwei solchen Ländern ein Weltmeer wie der stille
Ozean liegt. Es ist gelungen, sagt P. Ehrenreich (Zeitschr. f. Ethnol.
1908 Supplbd. S. 3), „den engen Zusammenhang der nordasiatischen
Mythen mit der nordwestamerikanischen endgültig siche^ zu stellen
und so die ethnologische Kluft zwischen der alten und neuen Welt
in einer wichtigen Beziehung zu überbrücken". S. 77 bringt er ,, asiati-
sche Sagenelemente in Amerika'" ])ei; man muß das bei ihm selbst
nachlesen, um von der Richtigkeit dieser Theorie völlig überzeugt
zu werden (vgl. auch 34). Die polynesischen Zwischenglieder weist
Ratzel auf (Anthropogeogr. 576, 581, 583: vgl. auch Wuttke, Gesch.
d. Heident. § 185; Zöckler, Gesch. d. Askese I 86 Amn.). An eine
amerikanische Urmenschheit wird man bei dem Verhältnis des Menschen
zu Platyrrinen und Katarrinen nicht denken, wohl aber an Üljer-
tragimg aus Ostasien über das Inselreich des großen Ozeans. Auf
Einzelnes müßte unten noch zurückgekommen werden.
Wenn aber die Kultur von Vorderasien in östlicher Richtung
den gewaltigen Kontinent von Mittel- und Ostasien mit seinen un-
geheuren natiü-lichen Hindernissen, Wüsten, Steppen, Gebirgsmauern
u. a. überschritten hat, und sogar in letzten Ausläufern üljer den
gi'oßen Ozean ging und Amerika streifte, wird man ihr wohl zutrauen
dürfen, daß sie von Mesopotamien etwa durch Kleinasien nach
172 Carl Fries,
(jriechenlaiicl kann. Es wäre lächorlicli, das l)estreiten zu wollen.
Man vergleiche nnr eimnal anf der Karte die Ijeiden "Wege. Die natür-
lichen Hindernisse sind hier gar nicht größer als dort, vielmehr weit
geringer. Außerdem gestattete die für jeden Austausch gleichsam
prädestinierte Küstenformation der Levante und Ostgriechenlands
eine viel schnellere Ül)ertragung als in Innerasien, dessen Wüsten
noch jetzt unsägliche Terrainschwierigkeiten bereiten. Die Denkmäler
Kleinasiens sprechen mit Beredtsamkeit vom östlichen Einfluß.
Die öden Felsgräber Paphlagoniens, die Bam'este Phrygiens usw.
bekunden es immer wieder. Die mykenisch-ki'etische Kunst hat bei
aller Selbständigkeit orientalische Bestandteile, wie man ja auch Ton-
tafeln auf &eta gefunden hat (Athenäum 1900, 19. Mai, 634). Es ist
über die archäologischen Zusannnenhänge zwischen Hellas und Asien
schon vieles geschrieben worden, meistens freilich noch wenig Ab-
schließendes. Die Fragen sind im Einzelnen zudem auch so im Fluß
und das Material noch so unvollständig, daß hier nm* mit wenigen
Worten darüber hingegangen werden soll. Das phi'vgische Felsengi'ab
von Bojük-Arslantasch liegt mitten auf der Vorderseite eines würfel-
förmig zugehauenen Felsblocks. Rechts und links von dem Grabe
erheben sich auf den Yorderpranken zwei mächtige Löwen, zwischen
denen eine Säule aufragt. Man wird bei dem Anblick (s. E. Branden-
burg, Phrygien, AO. IX 2, 10) durch die frappante Ähnlichkeit mit
dem m.ykenischen Löwentor überrascht. Die ältere archäologische
Schule, bemerkt Brandenbiu'g S. 11 sehr richtig, konstatierte einfach
griechischen Einfluß. Aber gerade füi* die mykenische Kultui' ist
doch asiatischer Einfluß sehi' wahrscheinlich und außerdem. ,,kann
man unmöglich zugeben, daß von Griechenland herüber das schwäch-
liche Vorbild der Löwen von Mykene dieser geradezu grandiosen
Skulptm* als Vorbild gedient haben soll. Diese niatten Tiere von
Mykenä m.achen den Eindruck von chessierten Zii"kuslöwen, die sich
in geschulter Pose auf einen Untersatz stellen müssen. Wie natürlich
sind dagegen die Löwen von Bojuk Ai'slan Tasch — " (ib.). Er er-
kennt an verschiedenen stilki'itischen Details, wie den stark ab-
gerundeten Rändern der Darstellung hettitischen Einfluß. Vergleich-
bar ist auch das Tor von Sendschirli (s. AVinckler, Forschgn. II
371, 2) mit den zwei ansteigenden Ziegen. Solcher Anhaltspunkte für
asiatischen Kiütm'import gibt es aber noch viele und gäbe es wahr-
scheinlich noch unendlich viel mehr, wenn der Spaten in Kleinasien
Zur Methodologie des geschichtlichen Denken?. 1 73
fleißiger gewesen w'Ayq, als bisher leider der Fall sein konnte. Besonders
beredt ist ja die Gemmenkunst der Griechen, die nach Fnrtwängler
(Antike Gemmen III, 1) ganz auf babylonischen Mustern beruht.
Wichtig ist auch, was Oberhummer (Phöniz. in Akarnan. 17 ff.),
Puchstein in der deutschen Orientgesellschaft u. a. mitgeteilt haben.
Auch das Kuppelgrab bei Volo in Thessalien in der Nähe des alten
Jolkos, das unter Ca\^adias' Leitung vor einiger Zeit bloßgelegt
wwde, weist auf den mykenischen Kreis und weiter auf dem Orient
hin. Ein Eingehen auf die Vergieichung kretischer und orientalischer
Grundrisse, Dekorationen und Bildwerke ^^'ürde hier zu weit führen,
es muß auf Evans' Berichte im Amiual of the Brit .School und die
Mitteilungen der archäologischen Institute verwiesen werden.
Die literarische Tradition ist ebenfalls beredt genug. Die Hellenen
selbst wo Uten gar nicht die Schöpfer ihrer Kultiu* sein. Herodot hat
sich ja deutlich darüber ausgesprochen (II, 4, 49 ff. 81, IbQ u. a.).
Hippokrates redet von den Asiaten als von kultmell überlegenen
Menschen (de aere 12). Keilinschriftliche Briefe \MU"den in Athen
geöffnet und gelesen. Ai'isteides nimmt den Pharnabazos in Eion
gefangen, er whd nach Athen gebracht und ol 'Ad-tivcüoi xä'^ [dv liti-
OToXac i/trayQail'af/evoi ly. tcöv lAööVQiror yQaiffaiTor drtyvojnav
(Thuk. IV, 50, 2) und Thukydides gibt auch den Inlialt des Briefes
an (s. Nöldeke, Hermes 5, 461). In Piatons Timaios sagt der ilgypter
zu Solon: E^Ja/vsc (hl jrcüÖt^ lort, ytQcov dt 'E)J.tjr oix eörii'.
(22 B). — Ntoi bOTS xaq ipvyaQ Jtärxe^' ovÖtiiiar yaQ li' avxau
lysxe Öl aQ/aiav äxo?]}' :jtaXalar öo^ar ovÖt imd^ijiia XQorro -ro?MH'
ordti-, und etwas von einem tiefwm'zelnden Respekt des Hellenen vor
den alten Kultm'en des Orients diüickte sich darin aus, deren Einfluß
auf das alte Hellas niemals verkannt wmde (cf. Herod. 6, 54; 7, 8).
Hekataios von Mlet sagt von der Peloponnes dcöxi jtqo xojv
'EXX/jvcov foxtjoav avxijv ßccQi^aQoi imd Strabo fügt verallgemeinernd
hinzu (VII, 321): öytöor 6t tl xal i) övftjtaaa 'E?Jmq xaxoixia
ßaQßccQcor vjttJQ^e x6 jcalccLOV, dsr' avxmv XoytyofJtvoig xcöv
ffvt/^uovsvofitvcoj' niXoJiog fiev Ix r/y-- <pQvyiag ejiayayof/spov
Xaov tiq XTjv düi' avzov xXriB-tlöccv n£lojt6vvt](jov xx).. (cf. Paus I,
39, 6). Die Griechen lasen die Schriften des Persers Osthanes leiden-
^) Plato Tim. 22: der Griechen altes Wissen. Billeter Zürich Progr. d.
Kantonssch. 1901.
174 Carl Fries,
sdiaftlich, ad rabiom, non aviditatem modo scientiae eins Graecoruni
populüs cgit (Plin. N. H. 30, 2, 5), es steht zwar sehr schlimm um ihre
Echtheit (Diels Vorsokr. 464), aber sok'he IS^otizen sind doch viel-
kücht symptomatisch für die ganze Richtung. Die Athener liebten
nämlich alles Ausländische, lith/i'aioi d'wojiii^) jteqI tu al/.a
(filo^EVovvTec Öiareloioiv octcj x(a rnrn tovc />£o»v(Strabo, X,471).
Ein besonderes Interesse heftete sich immer an die Frage, ob die grie-
chische Philosophie auf orientalischem Einfluß beruhe oder nicht. Hier
ist natürlich nicht der Ort, das zu entscheiden. Zeller hat gegen Roth,
Ritter, Gladisch u. a. die Beeinflussung bestritten, und seine Schüler
folgen ihm darin. Aber die neuste Generation wird wieder ungetreu,
und man kann es ihr nicht verdenken. Noch hat es keine Epoche
in der Geschichte der Philosophie gegeben, die in ihrem Denken nicht
von einer älteren abhängig gewesen wäre; sollte Griechenland hier
wieder ganz allein stehen? Man ist dwch unser Zeitalter der klassischen
Humanität, dmch AVinckelmann, Goethe, Thorwaldsen daran ge-
Avöhnt, die Griechen als eine leuchtende, unvermittelte Episode in der
Geschichte vorzustellen, was an sich begi'eiflich imd schön ist; jetzt
aber stehen wir im Zeitalter der Biologie und damit sind wh ver-
pflichtet, jene Grundansicht und auch alle in ihrem Gefolge fest-
gewurzelten Ansichten zu revidieren; zu diesen im Gefolge der Haupt-
lehre festgehaltenen Dogmen gehört die instinktive Überschätzung
hellenischer Prodidvtivität auf philosophischem Gebiet. Das indische
Denken ist erst seit viel kürzerer Zeit bei uns bekannt geworden
und hat alsbald tief Wm'zel geschlagen, Schopenhauer stand in seinem
Bann, Richard Wagner und Nietzsche gleichfalls. Der Buddliismus
ist eine Weltrehgion gewesen und ist es noch, und seine Propaganda
umfaßt die ganze Welt. Es gibt bei uns begeisterte Buddhisten.
Bei uns hat er also ganze Systeme der Philosophie geschaffen, das
ganze 19. Jahrhimdert ist vielleicht ohne Berücksichtigung dieses
Elements nicht ganz zu verstehen, da eben seine gi'ößten Denker den
Strahlen dieses Lichts so lange ausgesetzt waren. Wenn nun in imserer
erleuchteten Zeit die Kunde aus dem Morgenland so entscheidend
wirkte, sollte die Macht jener orientalischen Gedanken auf viel primiti-
vere Völker nicht entsprechend stärker gewhkt haben? Die Lehi'e
des Buddha war ja ziemhch jung, aber die Weisheit der Upanischads
strahlte wie Radium magisch-geheimnisvolle Strahlen aus, ohne je
an der eigenen Konsistenz und Herrlichkeit Abbruch zu erleiden.
Zur Methodologie de^s geschichtlichen Denkens. 175
Sollten die Lichtgedanken dieser Dichterphilosophie, an denen Schopen-
hauer sich für Lebenszeit berauschte, den empfängUchen Hellenen
nichts gewesen sein? Das wäre ein geschichtlicher Nonsens! Und
daß jene Gedanken nicht trotz aller Entfernungen und Grenzen durch
alle Ritzen und Spalten drangen, wird uns niemand mehr eim'eden.
AVir glauben jetzt an die Orientreisen der ältesten griechischen
Philosophen, wir schließen aus dem dichten Rauch apokrypser
Tradition auf wirkliches Feuer. Jetzt wissen wir auch im Einzelnen
viel mehr als Roth und Gladisch wußten, z. B., daß der philosophische
Dialog mindestens formell aus dem Osten stammt. Man versuche
doch, das zu bestreiten imd zu widerlegen ! Die Griechen haben keine
Religion geschaffen, die welterobernd Generationen und Völker an
ihr Bekenntnis fesselte, wie der Orient es verschiedentlich tat. Das
Helle nent um hat in religiösen Dingen m.ehr zersetzend als schaffend
gewirkt, das hängt ro,it der Zeit seiner Volksblüte zusammen, drückt
daher keinen Mangel aus. Das Hellenentum setzte ein, als die orienta-
hschen gToßen Hierarchien sich in einen Zustand des Zerfalls be-
fanden und in der Hemiat schon befehdet wm'den, wie schon die
Veden selbst stellenweise bezeugen. Wohl Ijestand in Hellas eine
tiefe Mystik, aber der verstandesfrohe, dialektische, taghell blickende
Grieche war für den gleichzeitigen Rationaüsnius empfänghcher.
Sokrates hat keine Schwärmer herangebildet. Er selbst ist eine ganz
realistische Gestalt ohne Heiligenschein und Hinunelfahi't. Der
dionysische Rausch, den Nietzsche aus der attischen Tragödie heraus-
liest, war im 5. Jahrhundert und später jedenfalls unbekannt, es ist
eine wenngleich schöne Phantasie des Philosophen, die wohl auch
nicht streng historisch gem.eint war. Die Schwärmer, die Griechenland
heranbildete, Antisthenes, Diogenes usw., waren ironische Spötter,
keine weltfremden Ideologen, wie die Asketen des Orients, von denen
sie wohl beeinflußt sind. Und Plato mit all seiner Mythologie
und pythagoreischen Spekulation verliert nie den Boden unter
den Füßen. Aristoteles hat in der Jugend romantische Wallungen,
Herakleides Pontikos, Euemeros und ähnliche Phantasten bauen
Luftschlösser, aber keine Klosterhallen. Akadenüe, Lykeion und
Kvnosaro;es waren keine Büßerhaine. Ein Schatten romantischen
Halbdunkels fhmmert erst in hellenistischer Zeit aus den Dunst
des alexancb-inischen Völkergemi^chs und anderer asiatischer Hinter-
länder über das Griechenland hin, das nun schon kein reines Griechen-
37() Carl Fries,
tum mehr ist, über das sich die Gewölke synkretistischer und abstruser
Religionsgebilde liinwälzen. Den Xeupythagoreern und Neupia-
tonikern fehlt schon der taghelle Rationalismus des klassischen
Atheners von ehedem ganz und gar, finsterer Askese, inbrünstiger
Schwärmerei und Liturgik ist er diu'chaus nicht abgeneigt. Apollonios
von Tyana und andere Wanderprediger finden gläubigen Anhang;
Juden imd Christen beherrschen bald die Welt, Plotin, Proklos,
Porphyrios stehen ihnen schon so nahe, daß der Abstand kaum wahr-
nehmbar ist; und mit Julian sth'bt, möchte man sagen, auf Jahr-
hunderte der letzte Verstandesmensch, wenn nicht auch er längst
von dem Weihrauch der Zeitstimmung tief umnebelt gewesen wäre.
Die Geister des Orients feiern einen vollständigen Sieg, den die Kii'che
in vollen Zügen genießt. Das Griechentum hat in dieser neuen Welt
keinen Raum mehr und versinkt; erst als die Zauberformel des Be-
kenntnisses seine Macht einzubüßen ckoht und man auf die ersten
geheimen Proteste des Verstandes trifft, entsinnt man sich des ver-
gessenen Heidentums, und aus arabischer Hand übernimmt man
Aristoteles' Logik, um das gefährdete Dogma nüt den aus diesem
Arsenal geholten Verstandeswaffen zu verteidigen. Da entsann
man sich der Griechen, zu seinem Rationalismus flüchtete sich die
bedi'ängte Mvstik.
Also Religionskeime wucherten in Attikas Boden nicht. Haben
die Athener aber eine Weltphilosophie geschaffen? Hat eine der
von ihnen gelehrten Weltanschauungen, ja ganzen Epochen, ganzen
Völkerkomplexen ihren Stempel aufgediiickt? Die vorderasiatische
Kosmologie und Naturphilosopie beherrscht die ganze Kulturwelt
ihrer Zeit, wie Descartes und Leibniz ihr Jahrhundert ])eherrschten.
Piatons Schüler glaubten schon nicht mehr an den Meister, magis
amica veritas. Eine Schule schloß sich an die andere an, keiner bheb
der Sieg, nur Neuplatonismus undGnosis haben ihre Zeit ganz erfüllt.
Man kann das auch anders bemteilen. Aber die Griechen haben
immer durch ihre Kultur geblendet, haben gelehrt und erzogen, aber
sie haben keinen Fanatismus erzeugt, haben Sophisten und Sillo-
graphen gehabt, aber keinen Mohammed, keinen heulenden Derwisch,
keinen heiligen Ki'ieg, wenn man von den delphischen Katzbalgereien
absieht, keine Märtyi'er, keine Ivii'chenmusik erzeugt. Wohl hatten
sie ihr Eleusis und Samothrake, ihre Kybelepriester und Tym-
panisten, aber sie nahmen das selbst nicht ernst; in der Tragödie
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 1 ( (
unterliegen Pentheus und Lykiu-gos, in der AVirklichkeit schimpft
das Volk wie Demosthenes auf das Hyes Attas der Agyrten. Gewiß
hatten sie auch keine Inquisition und tausend andere Schattenseiten
der Mystik. Aber ihnen fehlte doch schließlich auch der Schlüssel
zum Heiligtum des Herzens. Letzte Worte des Menschentums hat
Hellas selten gesprochen. Es schwebt in himmlischer Anmut über der
Prosa des Alltags, aber Eros flattert nicht durch die sieben Planeten-
ringe des gnostischen Firmaments zur höchsten Ivlarheit. Die letzten
Worte spricht, die letzten Fragen stellt der Orient und mit seiner
Weisheit speist er die Völker. Die tiefsten Empfindungen werden
dort ausgelöst. Die Inbrust babylonischer Psalmen ist dem Griechen
fremd. Das Heiligste, höchste Faßbare wird ihm nicht lebendig,
insofern ist er ewig Heide. Die letzten Geheimnisse der gequälten
Menschenbrust erschließen sich ihm nicht, wie er die letzten mystischen
Rätsel man möchte sagen dilettantisch betastet, aber nicht auf-
bricht. Die Geheimlehren des Orients gipfeln in der Alleinheit des
höchsten Wesens, Xenophanes und andere greifen wohl nach dieser
Höhe, ermessen sie aber nicht mit dem Gefühl. Der Grieche hat das
Welträtsel gelöst, nach dem Jahrhundert verschieden, aber immer
mit Bestimmtheit: der Orientale hat über all seiner Weisheit stets
die höhere Albnacht, der gegenüber nm' das Eingeständnis der Ohn-
macht am Platz sein kann. Die Selbsterkenntnis des Sokrates ist
bei ihm demütiges Reizen vor der geahnten Urkiaft. Die Griechen
hatten keinen besonderen Priesterstand, aber sie hatten auch keinen
Glauben. Den Geschmack werden sie stets beherrschen, die Kunst,
die Wissenschaft u. a. wird ihnen stets Dank zollen, die Menschheit
wkd nicht zu ihnen wallfahrten, die letzten Wege führen nicht nach
Athen. Ein griechisches Weltreich gab es nie, auch die Geister werden
ihrem Bann niemals ganz verfallen. Die letzten Fragen werden an
sie nicht gestellt. So mußten sie dem orientalischen, Jahrtausende
älteren, mächtigen Einfluß auf allen Gebieten erliegen, und wer das
bestreitet, gerät mit historischer Logik und Folgerichtigkeit in im-
löslichen Konflikt.
Es seien noch einige Bemerkungen dazu in freier Folge gestattet.
Die Abhängigkeit von Babylon in astronomischen Dingen bezeugt
auch Herodot (II, 109): .To/or Yt'.{) xcd yvo'/i/oi'ii y.cu xli dvojÖexc
iitQut rf/c r/iuQTjg jtaQcc BaßvXcoriow ifiaihov ol EXhjvsg. Auch
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVI [I. 2. 12
178 CaM Fries,
die Steingewichte der P^tnisker beruhen auf dieser Quelle^). Auch der
babylonische Einfhiß auf Indien wird jetzt mehr anerkannt-), juan
braucht nur die z. T. wüillich übereinstinun.enden Beschwörungs-
formeln zu beachten^), um. sich davon zu überzcmgen.
Als Bindeglied sind die Chattu aufzufassen. In der zweiten Stadt
Troja fanden sich Spinnwirteln mit hettitischen Schriftzeichen, und
tönerne Siegelzylinder. x\uch auf Kypros sind hettistische Zyhnder
keine Seltenheit.'')
Auch Indiens Selbständigkeit Hellas gegenüber tritt deutlicher
hervor, seit man über die Prinu)rdien des indischen Schauspiels z. B.
anders denkt als vor einigen Jahrzehnten. Pischel z. B. urteilt in seiner
Abhandlung über das indische Schattentheater, durch dieses sei
die letzte Lücke in der Entwicklung des indischen Dramas ausgefüllt.
Indien habe keinen starken, nachhaltigen Einfluß von Griechenland
empfangen; Menander-Mihnda wird Buddhist, Alexander hinter-
läßt im Pendshab keine nachhaltigen Wirkungen. Die Annahme,
der griechische Mimus habe den Orient beeinfhißt, sei rundweg zu
verneinen: die Entlehnenden seien vielmehr die Griechen gewesen-^).
Kür das Umsichgreifen des Verkehrs sprechen auch die von Winckler
inBoghaz-köi gefundenen Tafeln mit den Namen InchaMitra Varuna.
Kleinasien gilt dem Hellenen als Heimat höherer Kultur. Einem
Feingebildeteu ruft Alkman zu: Du bist nicht ein Bauer, nicht ein
Thessaler, nicht Akarnan noch Viehhirt, <{//« ^ia^dicor urr' dxQÜr.^)
Sophokles verwendet in der Antigone ein altorientalisches Motiv,
das er bei Herodot fand. Fast möchte man fragen, ob das Verbot des
Kreon, den Leichnam zu bestatten, nicht schließlich auch auf öst-
lichem Einfluß, auf der iranischen Sitte der Totenaussetzung beruht,
die denn auch, z. B. in der Sassanidenzeit unter Ardeschir I zu be-
1) Graffimder Hermes 1908, 450. cf. Ideler, Böckh, Lefmann u.
V. Eckstein Ind. 8tud. II 369, der sehr verständig zu der Frage Stellung
nimmt und die Griechen nicht aus dem großen Weltzusammenhang nehmen
möchte.
-) Hirt Indogermanen II 487.
^) AO YII, 4, 17.
■») Speck Handelsgesch. d. Altert. I 242.
^) Sitzungsber. Berl. Ak. 1906, 501 f. — Vgl. ferner Kern-Jacobi.
(!. d. Buddhism. 306, 6. Marquart Osteurop.-ostasiat. Streifzüge.
ß) Alkman fr. 24. cf. Diels Hermes 31, 364.
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 179
«onderen Verboten der Bestattung führte. Spiu-en dei- Sitte Inetet
ja der Anfang des Buches Tobit.
In Griechenland waren in der zweiten Hälfte des fünften Jahr-
liuiiderts persische Waren sehr modern imd beherrschten den Markt.
Die Phoiniker, die ja in Attika selbst dem Namen nach fortdauerten
(Töpffer, Att. Geneal. 300), Ägypter usw. steuerten dazu bei, aus
Kypros kam Getreide, Karthago, Sardes und der fernere Osten standen
nicht ziuück^). Sogar die Mode weist nach Osten, wie ein Vergleich
zwischen babylonischen und mykenischen Volantröcken lehrt^),
die Beziehungen waren eben jederzeit rege 3). Der Grieche spricht
immer gern vom Orient, der Orientale von Javana doch nur sehr selten.
Beachtenswert sind auch Fm-twängiers Worte: Es gilt für die
Glyptik in Griechenland in ungleich höherem Maße als für andere
Kunstzweige, daß die Anfänge nur ini Zusammenhange mit der älteren
Kunst des Orients recht zu l)egreifen und zu würdigen sind. Denn die
Glyptik, das Schneiden von Bildern in harten edlen Steinen ist nicht
me bei den Völkern so allgemeine, gleichsam selbstverständliche Kunst
wie das Kitzen und Bemalen des Thons usw. — Sie scheint, genauer
])esehen, überhaupt nm eine einzige m-sprüngliche Heimat zu haben,
auf welche sich alle anderen Fälle ihres Auftretens mehr oder weniger
zm-ückführen lassen, das ist — Babylonien. Die ältesten Denkmäler
der Glyptik in Ägypten setzen doch bereits noch ältere in Babylonien
voraus ujid sind einer der wichtigsten Beweise dafür, daß die Ägypter
von Osten her im Besitz gewisser mit den babylonischen überein-
stimmender Kultm-elemente in das Niltal eingewandert sind. — Die
ältesten ägyptischen Gemmen sind Tonabckücke von Siegeln, die
dieselbe Zylinderform hatten, die in Babylon alle Zeit herrschend
blieb^) und für die Kleinkunst wüd man keine Sondergesetze suppo-
nieren wollen, was hier galt, stand auch dort in Kraft, mag der National-
stolz sich auch getröstet haben: o ti xeg äv "EUrp-^sg ßtcQßaQov
naQuldßoiiji, y.ajMor xovto tu tu.oz a:xhQyatovTau'). Die Säule
1) Wilamowitz Kydathen 76 f. cf. Überhummer, Akarnanien. Strzygowski
Kleinasien 178.
-) Jeremias ATAO^ 125 u. a.
3) Vgl. auch Niebuhr MVAG 1899, 173 f., der wichtige historische Zu-
sammenhänge scharfsinnig aufgedeckt hat.
**) Antike Gemmen III, 1.
^) Ps.-Plato Epinomis 987 E.
12*
I 80 Carl Fries,
ragte in Ost und West als Wahrzeichen empor, daß auch die siroße Kunst
von Länderschranken nicht gehemnU wird, wie auch Puchstein z. B.
die ionische Säulen als klassisches Baugiied orientalischer Herkunft
anerkennt^). Es wird so oft mit aller Bestinuntheit abgeurteilt, ob
eine wechselseitige Beeinflussung zwischen zwei Völkern möglich sei
oder nicht, während man a priori darüber doch eigentlich nicht ent-
scheiden kann. Auch hier gilt es vorerst die Tatsachen selbst reden
zu lassen und danach gleichsam ein System oder eine Psychologie
des Weltverkehrs aufzubauen, auf der man dann ein für allemal fußen
kann. Das alte Gerede von den weiten Entfernungen die die Kultm*
nicht durchschreiten könne-) sollte doch nachgerade verstummen.
Die vielen Sagen von Orientfahrten griechischer Philosophen, von
Hellasfahrten asiatischer Weisen wie Osthanes u. a. mögen auf un-
glaubwürdiger Tradition beruhen, ein realer Kern liegl; alledem immer-
hin zugrunde. Wie Dionysos^) zog die Kultur dm'ch die Welt, und
auch Hellas war auf ihrem Triumphzug eine Station, an der sie freilich
besonders gern und lang verweilte.
Es ist ein Hauptfehler, der immer wieder auftaucht, daß man
gewisse Dinge als einmal gegeben hinnimmt, statt die Frage nach
ihrem Ursprung zu stellen. So gilt es als Tatsache, daß die Griechen
die Philosophie geschaffen haben. Worauf die Philosophie überhaupt
beruhe, was ihre Uranfänge seien, ob sie auf dem Wege der Ent-
wicklung aus einem anderen geistigen Element sich herausgebildet
habe, wird nicht gefragt. Und doch ist dem so, doch beruht sie auf
der Eeligion und dem Ritual, wie sich im Einzelnen erweisen ließe, und
schon im Veda finden sich ihre Spuren^). Man hat denn auch die
Anfänge der griechischen Philosophie vom östhchen Einfluß zu trennen
gesucht, und Eduard Zeller war einer der lautesten Rufer im Streit.
Indessen hat neuerdings eine rückläufige Bewegung sich angekündigt,
die Orientalistik fördert immer neue Dokumente für den gegenteiligen
Sachverhalt zutage. Die Jonier, Pythagoras usw. stehen dem Osten
nahe, selbst Piaton lernt von der Gesprächsform der Inder und die
^) Brandenburg, OLZ 1909, 105 ff., der sehr verständig urteilt. Montelius
Orient, u. Europa. Strzygowski N. Jahrbücher 1909, 370 u. a.
2) z. B. Geffken Hermes 1906, 223.
3) cf. Gruppe Gr. Myth. 1516.
') Winternitz Ind. Litt. I 197. Deußen, Allg. Gesch. d. Phil. L 68.
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 181
Stoa setzt ein mit einer Reihe von geborenen Orientalen nnd — ti ///}
Auch die Musik der Griechen mit ihrer m,athematisch-astralen
Unterlage weist nach Osten-), wie denn ein Volk nicht leicht in einer
oder einigen Beziehungen vom Ausland beeinflußt wird, in anderen
nicht; der Einfluß ist gewöhnhch total oder gar nicht vorhanden,
daß das Mutterland architektonisch von Kreta beeinflußt wmxle,
weiß man^), daß es dem Einfluß kretischer Gesamtkultm- unterlag,
whd man ohne weiteres- schUeßen. Handelt es sich doch um imstetes
Wandern der höchsten geistigen Güter, wie der Mexikaner von der
gToßen Wanderschaft seiner Vorfahren von Norden her phantasiert,
so steht es in Wahrheit mit allem geistigen Kapital, jidvra (5er,
keine politischen, keine natürlichen Schranken tun hier Einhalt,
unaufhaltsam geht es ül)er die Grenzen und zerteilt sich quellend in
alle Windrichtungen.
Verweilen wir zum Schluß noch ein wenig bei der vergleichenden
Mythologie. Sie stand eine Zeitlang in üblem Ruf, man sagte ihr
Phantasterei und Willkür nach. Der Hauptmangel wurde nicht be-
tont; er war auch in äußeren Umständen begründet. Damals verglich
man nämlich allein die Mythen der indogermanischen Völker unter
einander, in falscher Anwendung der sprachvergieichenden Methode.
Der Orient und die Symbolsprache der Natm'völker sind inzwischen
imendhch m^ehr erschlossen worden, imd man arbeitet jetzt mit ganz
anderem Material. Dann aber ist jetzt ein Gesichtspunkt geltend ge-
w^orden, der dies Material von einem Zentrum aus überbhcken läßt.
iSchon Athanasius Kircher u. a. hatten in den Mythen siderische
Vorgänge erblickt. Dann hatte besonders der zu wenig anerkannte
Nork in einer Reihe von großen Werken die Göttersagen in Gestirn-
mythen aufgelöst, ganz neu aufgearbeitet und zu einem bündigen
System aber verband den Astralgiauben erst Hugo Winckler in seinen
„Altorientahschen Forschungen", seiner „Geschichte Israels" u. a.
Sein System hier zu entwickeln, ist nicht notwendig. Es ist in seinen
^) Vgl. darüber Diels Elementum 41. Knaack, Berl. phil. Wochenschr.
1904, 1418, u. a. Auch Dalman Buddha 188 ff. u. a. ist zu vergleichen.
-) Athen, 17od u. a.
3) Seier Abhandlungen II 4f. W. Max Müller, Asien u. Europa, Ein-
leitung.
JS2 Carl Krirs,
Schriften nicdorgeleot und seine Anhäns;er bauen anf seinem Grunde
fort. Groß sind auch die Verdienste Eduard Stuckens, der in viek'u
Ideen bereits voranoing', und dei' Gebrüder Jeremias, die unermüdlich
auf diesem, Gebiet schaffen, und vieler anderer. p]s wird damit ein
System, eine Formel »egeben, die alle Mythologie wie ein Kätsel löst
und alle in einenr Sinn einigt. Darnach sind Sonne und Mond die
eigentlichen Helden aller Göttersagen. Daß anderes daneben in
Geltung bleibt, wird nicht bestritten, aber der Kern der Sache scheint
damit getroffen zu sein. Näheres findet man in Alfred Jeremias'
Werk „Das alte Testament im. Licht des alten Orients'" (Leipzig 1907,
2. Aufl.). Das Zentrum dieser Mythologie war Babylon, wenn Winckler
auch die Wanderhypothese nicht betont. Aus Babylon kamen die
astronomischen Kenntnisse, die Münzen und Gewichte, wie Böckh
nachwies, und nun auch die Mythen. Das war ein gewaltiger Fort-
schritt, und Winckler, dem der Ruhm dieser Funde zukommt, hat die
mythologische Wissenschaft auf ein ganz neues Fundament gestellt.
Die klassische Philologie hält sich fernab von der „Pest der Deutungen'"
(Dieterich, Archiv f. Rehgionswiss. 1905, 490) und verharrt in dumpfer
Rückständigkeit. Und doch waren die Griechen selbst hier minder
unzugänghch und weitbUckender als ihre ängstüchen Grenzhüter in
luiserer Zeit. Allegorische Deutung war ihnen seit Theagenes von
Rhegion nicht fremd; so z. B. identifizierte Theagenes wohl den
Heüos und Hephaistos, Poseidon und Skamandros mit dem W^asser,
Antonius mit dem Mond, Hera mit der Luft usw. (Schol. B zu 467).
Auch Metrodor von Lampsakos, dessen Piaton im. Ion gedenkt, sah
in Agamemnon den Äther, in Achilleus die Sonne, in Helena die Erde,
in Paris die Luft, in Hektor den Mond u. a. Auch die Stoiker befolgten
diese Methode (^Diels, Doxogr. 90 ff.), die übrigens bei den Indern
vorbereitet war. Auch bei Neueren gab es Anhänger der Richtung,
wie z. B. Forchhammer. Im Einzelnen ist es leicht, sie zu bestreiten,
schwerer dürfte der Nachweis fallen, daß ihr Verfahren an sich ein
falsches und fruchtloses ist. Die neuste Phase der Mythologie macht
es im Gegenteil wahrscheinüch, daß ein berechtigter Kern all diesen
Vermutungen zugrumle lag, nur daß aus Unkenntnis des Materials
und mangelndem Überblick vielfach übers Ziel geschossen oder ins
Blaue hinein konjiziert wurde.
Als klassischer Patron unserer Stellungnahme sei noch Solci'ates
zitiert, der bei Piaton deduziert: (fiüvovTc.i i/oi rrotoroi Tf~jr
Zm- Methodologie des geschichtlichen Denkens. 183
livihfjcjrrc))- Tcöv rcir(>l T/]r ' /'JX/mÖc. torrocc [iövovz rorq d^EOtg
/f/tlöikii, ovojr^Q rör .to//o/ tcöv ßaQi-iccQon', /j/uor xai othjvfjr
x(ci y/'/i- x<u uOT{H(. y.ai ovqccvov ' ars ovr arra oQcövTtc mcvTC
dtl löl'TC ()ooi{(i} yjcl UhovTc. drco Tarrij^ r/jc rpratojc t/~^ ror
{feir d-eoi-^ avrocg Ijtoroiiäoca ' voreQor dt yMTCcvoovvTsg ror^
aV.ovg jiiiVTccg /jdr/ tovto t(~j oröufcri .TtQogayoQsvstr^), wo
freilich die Etymologie belächelt wird; aber der astrale Grund-
gedanke besteht ziu'echt. Sonstige Kichtungen seien gern als auch-
berechtigt zugegeben, auch die Mutter Erde Dieterichs, auch Regen-
zauber und Korndänionen haben ihre gewisse Daseinsberechtigung:
im Übrigen ist unser Standpunkt fest verschanzt. Übrigens hat üsener
schon ganz fortgeschrittenen Ansichten gehuldigt und verdient auch
hier mit Ehren genannt zu werden.
Isoch einige AVorte über Homer seien gestattet, der gegenwärtig
die Geister wieder lebhaft beschäftigt, wie er das zu verschiedenen,
nicht zu allen Zeiten der Geschichte getan. AVas uns bei dem Namen
Homer als geistige Persönlichkeit vorschwebt, gehört zu den Welt-
dichtern, wie Firdusi, Dante, Shakespeare usw., nicht zu den um-
fassenden Geistern wie Piaton, Aristoteles usw. Er schildert keine
komplizierten Kulturen und keine komplizierten Charaktere, er spricht
die letzten Worte menschhcher Leidenschaft nicht aus, wie es Shake-
speare und Goethe tun, er läßt sich nicht von einer Welle politischer
Tendenzen emportragen, wie Jesajas, Archilochos, Savonarola,
Kousseau, noch sammelt er die Narrheiten seiner Zeit im Hohlspiegel
der Satire. Dennoch übte er die grenzenlosen Wirkungen aus.
£^ c^Qy/jg y.€(.B^' 'Oi{y(jor L-xtl (nfHCi)-/'/ya6L rrdvrtg. Für die klassische
Zeit hat Tolkiehn das dmihgeführt. Die Griechen und Römer ehrten
jenen bis zuletzt. Im Mittelalter verschwand er. Die Renaissance wußte
nichts mit ihm anzufangen. Vergil stand über ihm, wenn auch nicht
so hoch wie Seneca zuerst über Euripides. Die Päpste setzten Preise
für den Homerus Latinus aus, der lateinische I. H. Voss, blieb aus.
Allmählich fand man sich in ihn hinein. Herder und Wolf stellten
ihn in neuem Rahmen dar. Die Wissenschaft hatte sich seiner längst
l)emächtigt, aber die Alexandriner hafteten am Einzelnen, die Neueren
fragten nach der dichterischen Persönlichkeit. Der adelige Sänger
ward von der literarischen Volkspartei gegen die Hofdichtung ins
Cratyl. 397 CD.
]84 Carl Frios,
Feld i^eführt, weil inaii ihn hiatorisfh noch unzureichend begriff.
So hatte er seinen wohlgen),essencn Anteil an der Völkerbefreiung,
Heklen und Schlagworte konnte er ja nicht bieten, sondern nui" seinen
Stil, der aber mächtig wirkte. Mit dem Sinken der Weltbewegung
erlahn),te das Interesse an Homer, und wie Großes auch im 19. Jahr-
hundert in der homerischen Frage geleistet wurde, man blieb schließ-
lich doch Epigon F. A. Wolfs, und aller Hader war wenig fruchtbarer
Diadochenkrieg. Inzwischen drang immer ungestümer das historische
Prinzip durch, das den beiden Epen gegenüber freilich einigermaßen
ratlos war, öoq (loi jtov oroj, war die verlegene Forderung, bis dann
endlich der Anstoß von außen kam. Der Spaten enthüllte ganz neue
AVeiten, und als das historische Prinzip nun wieder anpochte, ward ihm
aufgetan, die neue homerische Frage regte sich, die Frage nach der
geschichthchen Eimeihung und Authontie. Reichel, Robert, Andrew,
Lang u. a. untersuchten die Beziehungen zur bloßgelegten Technik.
Rohde forschte nach der Religion, doch blieben diese im Griechentum
stecken. Der Spaten aber lehrte den großen Zusammenhang mit den
Ländern jenseits des Bosporos und Hellespont. Wilamowitz erkannte:
,,Die homerische Forschung kann sich hinfort nicht einmal mehr
in den Grenzen des Griechischen halten". (Berl. Sitzungsber. 1906, 60).
Auch die neue homerische Frage ist von grundlegender Bedeutung,
es handelt sich um die Mederlegung eines Dogmas, der Lehre vom
autochthonen Heldengesang in Hellas. Ii'rlehren zu beseitigen ist
erspließlich in jedem, so auch in diesem Fall. Daher war es ein großes
Verdienst, daß P. Jensen von seinem orientalischen Bollwerk aus die
Frage mutig erfaßte und Homer an die neugefundene Epik Babylons
anschloß. Bei verkündigenden Thesen ist es einstweilen geblieben,
man findet sie in der Zeitschrift für Assyriologie. Der zweite Band
seines Werkes ,,Das Gilgamessepos in der Weltliter atm'" soll das
näher begründen. —
Die Gegner derartiger vergleichender Studien pflegen es als
einen Trumpf auszuspielen: wenn man bei solchen Parallelen näher
zusehe, finde man kaum Ähnbchkeit mehr, und die Analogie lasse
sich nie l)is ins Einzelne verfolgen. Auf diese Weise könnte man
aber alle und jede Analogie aus der Welt schaffen, indem man eben
statt der Ähnlichkeit Kongruenz und Identität verlangt. Die findet
sich freibch nirgends, deshalb aber aUe Ähnüchkeiten leugnen zu
wollen, wäre armseliger Nonsens. Bei der Gelegenheit kann ich es mir
Zur Methodologie des geschichtlichen Denkens. 185
(loch nicht vcrsag-en, einem Rezensenten meines Buches ,,I)as philoso-
phische Gespräch von Hiob bis Piaton'- hier noch einmal zu ant-
worten. C. Kitter schrieb: (Berl. phil. AVochenschr. 1906, 1330) u. a.:
„AVelch ärmliche Vorstelhmo- von dem Menschen und von Gott,
der ihn geschaffen hat, hegt allen diesen Betrachtungen und Schlüssen
des Verf. zugrunde ! Wie unwahr, niedrig und phantastisch zugleich
ist seine Psychologie. Wo irgend etwas Ähnliches in der Kiütiu'-
geschichte hervorgetreten ist, muß Abhängigkeit des einen vom
andern angenommen werden." Es gehörte nicht viel dazu, den Ge-
lehrten zu widerlegen, was ihn dami zu einer gereizten Duplik in der-
selben Zeitschrift veranlaßte. Da bekam ich die „unwahre, niedrige
und phantastische Psychologie'" zum zweitenmal zuhören. Er glaubte
mich damit offenbar besonders schwer zu treffen. ]S^un, er hat Recht,
ich bin gewiß kein Psychologe, aber ich wüßte auch nicht, daß ich mir
das jemals eingebildet hätte, ja, daß ich auf diesem Gebiet überhaupt
je einen Ehrgeiz besessen hätte. Ich erkenne auf diesem, wie auf
unendlich vielen anderen Gebieten meine völlige Tsulhtät unumwunden
an. Aber ]nui fährt er fort, den Satz (S. 1 des Buches) „durch die
Geschichte der Menschheit geht nur eine Kiütm-" vom Piedestal
seiner Psychologie herab zu konunentieren: ,,Die Persönlichkeit
verliert dabei alle Bedeutung; der schöpferische Genius wird als bloße
Summe in einem Ivreuzungspunkt zusam,mentreffender Wellenberge
der Kulturschwingungen aufgefaßt." Sehr schön, mu vergißt der
Rezensent eins, daß die Kultur Übertragung eben diu'ch die großen
Persönlichkeiten vollzogen wird. Um bei kontrollierbareren Geliieten
zu bleiben, was hat Gottsched, den manche jetzt nur den Großen
nannten, denn geleistet, das nicht auf Kultmitbertragung hinaus-
liefe. Winckelmann hat uns hellenische Schöiüieit, Lessing, Bürger
und Goethe britische Kunstfreiheit vermittelt. Wo immer fruchtbare
und folgem'eiche Kultm*mischimgen stattgefunden haben, waren es
große Persönüchkeiten, die die wichtige Arbeit verrichteten. Über
die Frage, ob Männer die Geschichte machen oder nicht, wird Rezensent
nicht so eilig aburteilen, auf den Standpunkt mittelalterlicher W^lt-
chroniken oder m.oderner Bilderbücher für artige Kinder wird er uns
nicht zurückschrauben wollen, sondern vorher recht reiflich Taines
u. a. Lehren in Erwägimg ziehen. Wie aber soll der Ansicht von
alhnähücher Kult lu* Wanderung eine „ärnüiche Vorstellung von dem
Menschen und von Gott, der ihn geschaffen hat", zugrunde liegen?
[i^C) Carl Fries,
Der Kczeiiseiit meint, die KiiHur entstehe überall, wo sie ersclieint,
durch ein neues Wunder, durch u,(ittUehe Oft'enbaiuni!,' von Neuem.
Gewiß ist sie überall <i;öttlicher Offen bar uni;- und uns ein unfaßbares
Wunder, aber nicht mehr als jeder Käfer, jedes Blatt, jeder Kiesel.
Dennoch ist die deutsche Anakreontik, die deutsche Alexandrinertra-
gödie nicht etwa durch IIrzeufi,ung oder eine himm.lische (Jffenbaruny,,
sondern durch (Gottsched den Großen und seine löbliche h^hehälfte
Leonore Adelgunde, geborene Kulnuis nach Deutschland gekommen.
Und so in zahllosen anderen Fällen. Aber es will denn doch scheiju^n,
daß die Annahin.e eines Kulturmittelpuiikts, von dem aus das Licht
sich radial verbreitet habe, eine durchaus monotheistische Ansicht
sei. \^)n einem Punkt geht das Licht der AVeit aus. Ein Schöpfer
regiert das Ganze, von einem Zentrum strahlen seine AVirkungen. aus.
Das scheint doch ein nichts weniger als heidnischer Standpunkt. Was
will also Herr Ritter, wo bleibt seine Psychologie; er scheint ein ebenso
armseliger Psychologe zu sein, wie ich. Meine Psychologie taugt
nichts, aber die seinige ist auch nicht viel besser, wir sind darin beide
Sünder und haben uns nichts vorzuwerfen. Lii allgemeinen muß
man der jetzigen Philologie eine gewisse Kurzsichtigkeit zum Vor-
wurf nmchen; die einzehien Punkte werden erschöpfend ))ehan(lelt,
aber man verliert sich im Kleinkram, die großen Gesichtspunkte fehlen.
Es fehlt aber auch der wissenschaftliche Eros, wie könnten sonst z. B.
diejenigen, die in der bevorzugten Lage sind, das Material an spracl -
liehen Kenntnissen zu besitzen, z. B. der wichtigen Frage nach den
Einwirkungen des indischen Epos auf Arabien und den Okzident
gegenüber kalt und ruhig bleiben? Man verschanzt sich in seinem
Gebiet, und in dem festen Bewußtsein, jeden dilettantischen Übergriff
auf Nachbargebiete gemieden zu haben, treibt man den wichtigsten
Fragen gegenü])er Straußpolitik. tI iioi itthi tu Frysco — . Da steht
es um Wincklers Methode doch anders. Mag er hier und da, mag er
oft, noch so oft geirrt haben: er hat aber durch den Wagemut, mit
dem er eben viele Kulturgebiete übersah und durchforschte, gewaltige
Entdeckungen gemacht. Er war es doch, der die Regierungszeit der
7 römischen Könige als eine astronomische Zahl iiachwies. Durch
dieselbe Methode umfassender Yergleichung gelang ihm ein anderer
ebenso gewaltiger Fuml; daß nämlich der ptole maische Kanon durch
Nabonassars Kalenderreform l)estimmt sei (Winckler, KeiUnschr.
Bibl. 11 274, 290, Ex Or. Lux II 2, 63 A. Jeremias ATAO- 68 f.).
I
Zur ^lethodologic des geschichtlichen Denkens. 18 I
Diese und ähnliche Entdeckungen gelingen dem, der iniiner in seinen
vier Pfählen bleibt, nicht, er hat sich dafür freilich auch von niemandem
jemals eine wissenschaftliche Tollkühnheit vorwerfen lassen, sondern
ist imm.er hübsch sittsam seine kleine Bahn gegangen. Ohne Toll-
kühnheit und Wagemut aber geht es nun einmal nicht in der Wissen-
schaft: das Vermeiden von Fehltritten ist aller Ehren wert, wer aber
fördern und treiben will, muß ein wenig iVbenteuerlust mitbringen,
und gelegentUch vor einem tollen Streich nicht ziulickschrecken. Die
Myopie war aber von jeher ein Übelstand, der den wissenschaftlichen
Fortschritt hemmie. ovrot ajt' oQyjiQ Jiävxa d-sol Orf/Toio' vjrtdif-
^av, «//« '/,Q(>yf:> Cr]Tor)'T8Q acpevQioxorijii' äfisiror, grollt schon
Xenophanes, und im.mer noch stehen sie sich oft feindlich gegenüber
//^liv l4Xfjihl(c^ fvxrx/.to^ (CTQfiihg /jtoq //dh ßgonör do^ai, ralg
ovx fW .-rioTic uX/j'hfjg. Aber, um beim Zitieren zu bleiben, „die
AVahrheit ist gTößer und mächtiger, als alles, die ganze Erde ruft
nach der Wahrheit, der Hinunel preist sie" (3 Esra 4,33),
Man darf es, um zum Ausgangspunkt zurückzukehren, wohl
aussprechen, daß jede Geschichtsbetrachtung nur eine naturwissen-
schafthche sei und umgekehrt. So groß angelegt, um noch einmal
abzuschweifen, Goethes iVufsatz über die Natur auch ist, er läßt ein
wenig das Hineinbeziehen des historischen Gebiets vermissen, das
eine nicht n\inder reiche Ausbeute natm'betrachtender Ideen her-
gegeben hätte als das Naturreich im engeren Sinn. Aber es ist dem
homo sapiens nun einmal eigen, überall für die trennenden Grenz-
scheiden m.ehr Verständnis zu haben als für die verbindenden Gem.ein-
samkeiten, und so wird noch mancher auch mit weniger unzidäng-
lichen Mitteln unternommene Versuch unser Problem zu lösen,
wirkungslos verlaufen. Ein anspruchsloser Ansatz wie dieser, wird
keine Beachtung finden, aber die Idee kann nicht ruhen, sie ist trieb-
kräftig und drängt zum Licht, und wenn sie einmal wieder von
jemandem hervorgezogen wird, dann froelich m'staend!
VI.
Nietzsche und Schopenhauer.
Von
Dr. Michael Schwarz in St. Petersburg.
Es ist vielleicht schon die Zeit, ein objektives und unparteiisches
Urteil über Nietzsches philosophische Lehre zu fällen, da uns das
ganze, dazu unentbehrliche Material zur Verfügung steht. Nietzsches
Nachlaß und sein Briefwechsel (insbesondere mit Erwin Kohde und
Peter Gast) gewähren uns einen tiefen Einblick in die Werkstatt seines
Geistes und verhelfen zu einem wahren Verständnis seiner philo-
sophischen Bedeutung: es wd klar, daß der philosophische Proteus,
für den die meisten Kommentatoren Nietzsche hielten, sich in Wirk-
lichkeit ziemlich unentwegt und ganz konsequent in einer und der-
selben Kichtung ent\Aickelt hatte, so daß die übliche Einteilung seiner
geistigen Evolution in drei prinzipiell verschiedene Perioden nicht
begründet zu sein scheint, zumindestens aber erheblich reformiert
werden muß. Als das entscheidendste" Moment aber für die end-
gültip'e und objektive Feststellung der philosophischen Position
Nietzsches erscheint seine, unlängst veröffenthchte, wenn auch schon
vor mehr als zwanzig Jahren verfaßte, Autobiographie^), deren Druck
nur auf AVunsch seiner literarischen Erben auf eine so lange Zeit
hinausgeschoben wurde. Dieses interessante und höchst wertvolle
menschliche Dokument ist keineswegs eine gewöhnhche Lebens-
besehreibung, vielmehr stellt es eine Geschichte der geistigen Ent-
wcklung Nietzsches dar, seine sozusagen theoretische Autobiographie.
Von besonders großem Wert für unsere Aufgabe erscheint hier die
Tatsache, daß gleichzeitig mit der allgemeinen Charakteristik seines
geistigen ..Ichs", Nietzsche selber, mit der ihm eigenen Tiefe und
Feinlieit der psychologischen Analyse, seine Hauptwerke sehr aus-
^) „Ecce Homo: Wie man Avird was man ist."
Xietzbche und Schopenhauer. 18iJ
führlich in dem Kapitel „AVarum ich solche gute Bücher schreibe"
kommentiert. Hierdurch ^\alrde erst raogiich, gestützt au{ die cVus-
führungen von Nietzsche selbst, seine philosophische Lehre in ihrer
allmählichen ununterbrochenen Entwickkmg und ihren grundlegenden
Ideen nachzuschaffen.
Die Philosophie Nietzsches stand, wie es jetzt allgemein ange-
nommen wird, stets unter dem starken Einfluß Schopenhauers,
auch dann noch, tls Nietzsche sich offiziell von dieser Philosophie
lossagte. In der Tat, die ursprünghche philosophische Lehre Nietzsches,
und zwar die von ihm in der ,, Geburt der Tragödie" entwickelte
Metaphysik der Kunst, ist bloß eine, wenn auch eigenartige, Um-
arbeitung des dritten Buches des Schopenhauerschen Hauptwerkes:
.,Die Welt als WiUe und Vorstellung", d. h. seiner Ästhetik. Von den
Grundgedanken dieser letzteren ausgehend, versuchte Nietzsche
Schopenhauers Nihihsmus von innen aus zu überwinden. „Hoch über
Schopenhauer habe ich die Musik in der Tragödie des Daseins gehört",
bemerkt Nietzsche; und mit diesen Worten charakterisiert er seinen
damaligen Standpunkt. In der ersten Periode seiner Entwicklung
akzeptiert Nietzsche Schopenhauers Metaphysik des WiUens und seinen
Pessimismus in ihren Grundzügen. Gleich Schopenhauer ist auch für
ihn die Welt vom Leiden durchdrungen; wenn aber Schopenhauer
zwei Wege der Welterlösung verkündet: den Weg der Kunst und den
der Askese (die ästhetische und moralische Erlösung), lehnt Nietzsche
in der ,, Geburt der Tragödie" den zweiten Weg ab. In dem, erst
sechzehn Jahre später geschriebenen Vorworte zur „Geburt der Tra-
gödie" und in einem anderen Vorworte zum selben Werk, das an
Wagner gerichtet war, erklärt Nietzsche ausdiiicldich, die Kunst
und nicht die Moral sei die wahre metaphysische Tätigkeit des Menschen.
Indem Nietzsche mit Recht den Widerspruch zwischen der ästhetischen
Weltanschauung Schopenhauers und seinem Nihihsmus zu vermeiden
strebt, verwirft er Schopenhauers Lehre von der Mitleidsmoral und
seine wenig begründete metaphysische Theorie der Selbstvernichtung
des Willens (ethische Erlösung): er sieht die Welterlösung nur in der
Kunst allein und überwindet somit den buddhistischen Nihihsmus
Schopenhauers und seine buddhistische Willensverneinung, welche in
der Nirwana ihre Krönung findet. Nach Schopenhauer objektiviert
sich der Wille in der Welt der Erscheinungen, oder mit anderen Worten
der Wille als schöpferische metaphysische Kraft, erzeugt die Welt
IPO Micli.u-1 Schwarz.
7A\m Zwecke seiner ästhetischen und ethischen Selbsterkenntnis und
Selbsterlösung. Für INletzsche aber ist diese ganze sinnUche Welt
der Erscheinungen nur ein ästhetisches Phänomen oder ein Kunst-
werk, dazu geschaffen, ihrem Schöpfer, dem ..Künstler-Gott" die
höchste künstlerische Freude zu gewähren und somit vom Leiden
zu befreien. ..Traum schien mir die Welt und Dichtung eines Gottes,
farbiger Kauch vor den Augen eines göttlich Unzufriedenen" . . .
„Eine trunkene Lust ihrem unvoUkommnen Schöpfer" . . . ..Weg-
sehen wollte der Schöpfer von sich, da schuf er die AVelt'"-). !Mit diesen
"Worten, die er Zarathustra in den Mund legt, charakterisiert der spätere
Nietzsche seine, in der ..Geburt der Tragödie" dargelegte, ästhetische
Philosophie. Danach ist es klar, daß ,, unser empirisches Dasein,
wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vor-
stellung des Ur-Einen"^) ist und folglich ..sind wir für den wahren
Schöpfer Bilder und künstlerische Projektionen''^). Wir und unser
ganzes Leben sind ein künstlerisches Werk und darin liegt unsere
wahre Würde und Bedeutung^). Der Mensch und sein Leben sind nur
ein ästhetischer x\kt. Wenn also die Vernunft, wie Schopenhauer
lehrt, die Welt nicht zu rechtfertigen vermag, wenn sie in derselben
mehr negative als positive Seiten findet und infolgedessen das Leben
verurteilt, so daß eine rationelle Kosmodicee unmöghch wd. kann
doch nach Nietzsche das Leben ästhetisch gerechtfertigt werden:
eine ästhetische Kosmodicee ist wohl denkbar.
Die darauf folgende, sogenannte mittlere Epoche seines Schaffens
^^■ird gewöhnlich, ganz unbegründeterweise, wie \x\y bald sehen werden,
als die „positivistische" bezeichnet. In Wahrheit steht auch diese
Epoche zweifelsohne unter dem Einfluß von Schopenhauer: gerade das
Hauptwerk dieser Periode, „Menschhches, Allzuraenschhches" verhält
sich echt schopenhauerisch — äußerst skeptisch zur Vernunft. Nietzsche
wird nicht müde, wiederholt auf das Alogische, Irrationale des ge-
samten menschlichen Lebens und selbst auf die LTnfähigkeit der
menschlichen Vernunft zur wahren Erkenntnis hinzuweisen ; streng ge-
nommen, muß man sich nach der Meinung des daniahgen Nietzsche,
^) „Ako sprach Zarathustra". Taschenausgabe S. 41.
^) „Geburt der Tragödie" S. 67.
*) Ibid. S. 77.
^) Ibid. S. 77.
Xietzsche uikI Schopenliauer. 191
diesem Standpunkte gemäß, überhaupt aller Urteile enthalten^).
Ferner nimmt er in vollständiger Übereinstimmuna^ mit Schopenhauer
an. die bereits gekennzeichnete Unzulänglichkeit unserer Vernunft
sei dadurch bedingt, daß letztere bloß ein Mittel, ein Werkzeug
unseres Willens ist'). Daraus folgt, daß Nietzsche während dieser
pseudo-positivistischen Epoche sich in Wirklichkeit noch nicht ganz
vom Primat des Willens befreit hatte. Selbst in der dritten und letzten
Periode seiner philosophischen Tätigkeit, wo sein Denken die höchste
Eeife, Tiefe und Selbständigkeit en-eicht, selbst dann, stellt seine
philosophische Lehre nichts anderes dar, als eine eigenartige Um-
I)iklung oder, wenn man will, eine weitere Entwicklung des zweiten
Buches der „Welt als Wille und Vorstellung", d. h. der Metaphysik
des Willens bei Schopenhauer. Und in der Tat. in den Werken,
welche dieser Periode seines Schaffens angehören („Also sprach
Zarathustra'\ „Genealogie der Moral", „Jenseits von Gut und Böse",
„Der Wille zur Macht"), wii'd der Versuch gemacht, den Willen zur
Macht (so nennt nunmehr Nietzsche Schopenhauers ,, Willen zum
Leben") zum Universal prinzip zu erheben. Wer aber das zweite Buch
der ,,Welt als Wille und Vorstellung" aufmerksam gelesen hat, der
weiß, daß diese Neuerung Nietzsches durchaus nicht so originell ist,
als wie es vielleicht ihrem Autor erschien. Schopenhauer spricht aller-
dings überall ,,vom Willen zum Leben", er schheßt aber in diesen
Ausdruck, vielleicht unbewußt, auch den Willen zur Macht ein, als eines
der wichtigsten Mittel zur Erreichung seiner Ziele. Im zweiten Buche
seines Hauptwerkes hebt Schopenhauer wiederholt hervor das Vor-
handensein eines beständigen inneren Kampfes und eines Wett-
streites zwischen den verschiedenen Erscheinungen des Willens auf
allen Stufen seiner Objektivation. Das Wesen dieses Kampfes und
Wettstreites, welchen man noch Schopenhauer in der ganzen Natur
verfolgen kann, besteht darin, daß ein und derselbe, in allen Ideen
sich äußernde Wille, zu einer höheren und immer höheren Stufe der
Objektivation strebt^). Um sein Ziel zu erreichen, „gibt der in allen
Ideen sich objektivierende eine Wille ... die niederen Stufen seiner
*) „Menschliches, Allzumenschliches" (Ausgabe 1899) §§ 31, .32 Bd. II,
48—49.
') Ibid. §§ 9, 16, 18, 32, Bd. II, 23—24, 32, 34—36, 49.
*) Schopenhauer: „Die Welt als Wille und Vorstellung". Reclamausgabe
Bd. I S. 205.
192 Michael Sclnvarz,
Erscheinung, nach einem Konfhkt derselben, auf, um auf einer hölieren
desto mächtioer zu erscheinen. Kein Sieg ohne Kampf: die höhere
Idee oder "Willenpobiektivation kann nur durch Überwältigung der
niedrigeren hervortreten"'^). AVir sehen also, daß ^^ietzsches „Wille
zur Macht" oder dessen ,, Kampf um die Macht"' schon bei Schopen-
hauer bis zu einem gewissen Grade vorgebildet war. Nietzsche hat
nur, wie schon Riehl bemerkt, Schopenhauers Willen zum Leben aus
einem metaphysischen in ein biologisches Prinzip verwandelt und
dieses mit Eigenschaften versehen, die offenbar dem Darwinismus
entnommen sind. Erwähnen wir noch, daß Schopenhauer geradezu
behauptet, daß der Wille in seinem Streben „viel weiter geht als der
einfache Selbsterhaltungstrieb", da er fortwährend mit einer un-
ersättlichen Gier die möglichste Steigerung seiner Macht und Kraft
verfolgt^"), so wii'd es klar, daß es Nietzsche nur noch wenig zu tun
übrig blieb, um im Anscliluß an Schopenhauer den „Willen zur Macht''
zum Universalprinzip aller Dinge zu erheben. Und so ist die Lehre
Nietzsches, auch in der letzten Periode seiner philosophischen Tätig-
keit, als eine eigenartige Umgestaltung der Lehre Schopenhauers vom
Willen aufzufassen: das Wesen dieser Umbildung besteht nun darin,
daß Nietzsche die Lehre vom Willen nicht mehr metaphysisch, sondern
empirisch begründet.
Aus dem Vorhergesagten ersehen w aber, daß Nietzsches geistige
Evolution sich in steter Abhängigkeit von Schopenhauer vollzog,
was ?uch seüien philosophischen Ansichten im Verlauf seines ganzen
Schaffens eine ge\^■isse Einheit und Kontinuität verleilit; als Schopen-
hauers Schüler entnahm ilini Nietzsche auch sem Haupttliema, und
zwar: das Problem vom Werte des Lebens. Während aber Schopen-
hauer keine genügend starken und zornigen Ausdrücke findet, um
das Leben als Quelle des Bösen und des Leidens zu verurteüen und
die endgültige Erlösung vom Leben nur in der Willensverneinung
sieht, verteidigt Nietzsche, im Gegensatz zu ilim. das Leben mit fast
derselben genialen Leidenschaft und Energie, man könnte sagen,
Nietzsche nehme das Leben gegen Schopenhauer in Schutz. Die Biodicce
d. h. die Rechtfertigung und Verklänmg des Daseins, das ist der
zentrale Punkt, in welchem alle Fäden der philosophischen Lehre
9) Ibid. S. 206.
10) Schopenhauer: „Die Welt als Wille und VorsteUung", Bd. II S. 41 1—412.
Nietzsche und Schopenhauer. 193
Isietzsches zusammentreffen, das ist die Grundmelodie, welche
nur in verschiedenen Tonalitäten fortwährend in all seinen Werken
erklingt. Nietzsche begründet allerdings diese Verklärung und Recht-
fertigung des Lebens seinem jeweiligen philosophischen Standpunkt
entsprechend: in der ersten Periode — ästhetisch metaphysisch, in
der dritten — ästhetisch — naturalistisch; das Thema selbst, d. h.
die Biodicee, bleibt jedoch unverändert. AVir haben also bei Nietzsche,
der allgemein verbreiteten Meinung entgegen, es tatsächhch nicht
mit drei, sondern mit zwei deutlich gekennzeichneten Perioden zu
tun. denen ihrerseits zwei, ihrem Inhalte nach sehr ähnliche, nur
durch die Art der Begründung voneinander verschiedene, Welt-
anschauungen entsprechen. Diese beiden Weltanschauungen be-
zeichnet Nietzsche bekannthch als dionysische; er symbolisiert hier-
mit, nach dem hellenischen Vorbilde, in der Gestalt des Dionysos
die unbedingte Bejahung des Lebens.
Daß w hier auf dem richtigen Wege sind, das bezeugt Nietzsche
selbst, hauptsächhch in seiner Autobiographie: nennt er doch „die
Geburt der Tragödie", mit welcher er seine hterarische Laufbahn er-
öffnet, und wo zuerst die „dionysische Lebensbejahung'' hervortritt,
seine „erste Umwertung aller Werte"^^). So weist Nietzsche selbst
auf die innere Verwandtschaft hin, welche zwischen seinem ersten und
seinem letzten, bekannthch unvollendet gebhebenen Werke („Die
Umwertung aller Werte") besteht. Wenn die dionysische Lebens-
bejahung mit all ihren negativen und positiven Seiten schon in der
, .Geburt der Tragödie" verkündet wird, so sollte auch das letzte
(\Herte) Buch ,,der Umwertung aller Werte", von dem nur einzelne
Fragmente erhalten sind, als „Dionysos oder die Philosophie der
ewigen Wiederkunft" betitelt werden; auch hier ^Yird, wenn auch auf
neuem Boden und aus anderen Gründen, die dionysische Bewertung
des Lebens oder um mit Nietzsche zu sprechen: das „freudigste,
übers chwänglich-übermütigste ,Ja' zum Leben"^^) mit allen seinen
furchtbarsten und fragwürdigsten Seiten aufs neue gepredigt. Ferner
im „Wagner in Bayreuth", wie auch im „Schopenhauer als Erzieher",
in Werken also, die auch der ersten Periode seines Schaffens an-
gehören, entwft Nietzsche, laut seiner eigenen Aussage („Ecce
^^) „Götzen-Dämmerung", S. 350.
1-) „Ecce Homo" (Taschenausgabe), Bd. 11 S. 323.
Archiv für GeschichtP der Philosophie. XXVIII. 2. 13
194 Michael Schwarz,
Homo"), das Bild eines dionysischen, dythirambischen Künstlers
und eines dionysischen Philosophen. ,,In allen psychologisch ent-
scheidenden Stellen" im „Wagner in Bayreuth" darf man, bemerkt
Nietzsche, ,, rücksichtslos meinen Namen, oder das Wort ,Zarathustra'
hinstellen, wo der Text das Wort , Wagner' gibt"i^), denn .,das
ganze Bild des dythiranil)ischen Künstlers ist das Bild des präexistenten
Dichters des Zarathnstras mit abgründlicher Tiefe hingezeichnet"^'^).
Es scheint, fährt Nietzsche fort, daß „Wagner sich in dieser Schrift
nicht wiedererkannte"^^).
Wenden wir uns aber jetzt dem Hauptwerke Nietzsches „Also
sprach Zarathustra" zu, so stellt sich, laut seiner Behauptung, heraus,
daß Zarathustra selbst ein dionysischer Mensch ist (,, dionysischer
Unhold", wie er sich scherzhaft ausdrückt). Mit vielen Zitaten
aus ,, Zarathustra" versucht Nietzsche in seiner Autobiographie die
zweifellose Verwandtschaft zwischen der Psychologie Zarathnstras
und der des dionysischen Menschen festzustellen^^). Wenn auch
Zarathustra, nach seiner eigenen Erklärung, ,,die härteste, die furcht-
barste Einsicht in die Reahtät hat"^'^) indem er als Verkünder der
Idee des ewigen Kreislaufs des Lebens mit allen seinen traurigen und
furchtbaren Seiten auftritt, so findet er ,, trotzdem darin keinen
Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wieder-
kunft"^^). Und noch mehr, dem Leben, wie es ist, dem alogischen,
amoralischen, gottlosen Leben sagt Zarathustra sein unbedingtes
,,Ja" und ,,Amen". Er lehrt das Schicksal heben, wie es auch sei,
amor fati, — das ist das Wesen der Lehre Zarathnstras. Darum sagt
er auch: ,,in alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen"^^),
und das ist eben die dionysische Wertung des Lebens, argumentiert
Nietzsche. Es bleibt uns nur übrig, hinzuzufügen, daß nach Nietzsches
Erklärung die Grundkonzeption des Zarathustra keineswegs die Idee
des Übermenschen ist, wie es allgemein angenommen wird, sondern die
Idee der ewigen Wiederkunft aller Dinge, diese höchste Form der
13) Ibid. ö. 326.
") Ibid. S. 326.
15) Ibid. S. 326.
1«) „Ecce Homo" S. 354^3.57
17) Ibid. 8. 356.
1«) Ibid. 8. 356.
1») Ibid. S. 357.
Nietzsche und Schopenhauer. 195
Lebeiisbejahung, die überhaupt erreicht werden kann'^°). Die Idee
des ewigen lü'eislaufs des Lebens, die im „Zarathustra" als poetische)-
Mythos, als lustvolle Vision verkündet wird, sollte auch die Ivrönung
seiner philosophischen Lehre werden. Es bestand die Absicht, die-
selbe in dem vierten Buche „der Umwertung aller Werte" systematisch
zu begründen und zu entwickeln. Wer freudevoD diese Idee des ewigen
Kreislaufs des Lebens (deren Richtigkeit Nietzsche aus dem Prinzip
der Erhaltung der Energie folgert), akzeptiert, der l)eiaht auch das
awige Leben und erreicht mithin den höchsten Punkt der Lebens-
Ijejahung, welche Nietzsche in der Gestalt des Dionysos symbolisiert.
AVenn aber die Idee der ewigen Wiederkunft des Gleichen als Zentral-
idee im ..Zarathustra" erscheint, so kann doch nicht bestritten werden,
daß gleichzeitig mit ihr dort auch die Idee des Übermenschen ver-
kündet vvird, was eben zum unvermeidlichen Konflikt führt: ist
doch die Idee des ewigen Kreislaufs des Lebens logisch durchaus un-
vereinliar mit der Idee einer kontinuierlichen, fortschreitenden Be-
wegung, als deren Grenzpunkt der Übermensch erscheint. Nietzsche
sucht diesen unversöhnlichen Widerspruch, der das Zarathustra-
buch kennzeichnet und so die Einheit desselben stört, in seinem letzten
Werke (,,der Wille zur Macht") zu beseitigen; freilich bleibt auch hier
der Gedanke des Übermenschen erhalten, ist jedoch, zwecks Vermeidung
des oben erwähnten KonfUkts mit dem Gedanken des ewigen Kreislaufs,
einer erhebhchen Änderung unterworfen. In der Tat im ,, Zarathustra",
in dieser ,, Bibel des ewigen Kreises" ist der Übermensch noch als
Exemplar einer Überart gedacht, der nur im Wege der natürlichen
Zuchtwahl entstehen kann, im ,, Willen zur Macht" aber wird dieser
Übermensch durch den ,, höheren, stärkeren Typus-Mensch" ersetzt,
unter welchem nunmehr nicht die Entstehung einer neuen Überart,
sondern die Veredlung der bestehenden Menschenart verstanden wird.
In dieser Periode seiner Entmcklung sagt sich Nietzsche vom evolu-
tionistischen Natura hsmus (Darwinismus) los, und verwirft die Idee
des biologischen Fortschrittes als eine falsche. Er glaubt schon nicht
mehr an die Möglichkeit der Entstehung des Übermenschen im Wege
der natürüchen Zuchtwahl: der Mensch, behauptet er schon im
., Antichrist", „ist das Ende der Entwicklung" (im ..Zarathustra"
hieß es noch: „der Mensch ist kein Ende"). Wenn aber früher der
-") Ibid. S. 345.
196 Mic-hacl Scliwarz.
Übermensch nur diircli die natiiiiidu' Zuchtwiilil cntstohen konnte,
entsteht dieser ., höhere Typns" nnr durch eine eigenartioe, man
könnte sagen, geistige Auslese. Die Idee der ewigen AViederkunft wird,
im Moment ihrer Entstehung im Bewußtsein der menschlichen Gat-
tung, als , .großer, züchtender Gedanke" wirken, und als eine Bürg-
schaft für den Übergang zu einem ,, stärkeren Geschlecht'' erscheinen.
Die ., Schwachen", argumentiert Nietzsche, werden den Gedanken
der ewigen Wiederkunft ihres Lebens mit all seinen Leiden und Ent-
sagungen nicht ertragen können, ihn als Fluch empfinden und zu-
grunde gehen; nur die ,, Starken" w'erden imstande sein, diesen ver-
hängnisvollen und schrecklichen Gedanken vom ewigen Kreislauf
des Lebens zu ertragen, und ihr bisheriges Leben nicht nur freudig
gutheißen, sondern auch die ewige Wiederkunft dieses Lebens er-
sehnend^). Nur sie werden die Idee des ewigen Kreislaufs gewisser-
maßen, als eine ethische Maxime ausnützen können: der Ewigkeit
unseres Lebens und der ewigen Wiederholung unserer Taten ein-
gedenk, werden sie mit allen Kräften danach streben, den Stempel
der Ewigkeit ihrem Leben aufzudrücken und es wiederholungswürdig
und wünschenswert zu gestalten. Dieser Gedanke wird sie gleichsam
verwandeln und umbilden, denn bei der Bewertung jeder ihrer Hand-
lung werden sie eindringlich ihr tiefstes und echtestes Selbst be-
fragen: „Ist es so, daß ich es unzählige Male tun will?" und diese
Fragestellung wird sie veranlassen, einen ewigen Inhalt, einen ewigen,
unvergänghchen AVert jedem Moment ihres Lebens zu verleihen
und seine ewige AViederkunft zu ersehnen, ,,Non alia sed haec
vita sempiterna". Somit wird hier die Idee des ewigen Kreislaufs
zum Werkzeug einer eigenartigen geistigen x\uslese: einerseits ver-
urteilt dieselbe die ,, Schwachen" zum Aussterben, anderseits erzieht
sie und bildet um die „Starken", indem sie ihnen das Abbild der Ewig-
keit ihrem Leben aufzudrücken hilft. Mit seinem geistigen Auge
sieht schon Nietzsche, wie, dank der züchtenden Kraft der Idee
der ewigen AViederkunft, dieser neuen Form des Unsterblichkeits-
glaubens, von Zarathustra als eine Art freudigen Mythos ver-
kündet, eine mächtige Generation heranwächst und wie aus ihrer
Mitte, wenn auch in einer fernen Zukunft, der „Übermensch"^'^)
21) „Der Wille zur Macht" (Taschenausgabe), Bd. IX S. 52—53.
-2) Dem Begriff des Übermenschen wird hier, wie aus dem Vorhergesagten
folgt, nur eine relative Bedeutung beigemessen, weil hier niclit die Hervor-
Nietzsche inid Schopenhauer. 197
entsteht. Dieser „ Übermensch "■ wirel, auch das Leljen mit all
seiner Unlogik, AmoraUtät und Gottlosigkeit freudig gutheißen; sich
von jedem Pessimismus und Nihihsmus lossagend, wird er die
Welt mit einem Bhck voller Liebe, Wohlwollen und Dankbarkeit
erfassen, ihre Vollkommenheit verkünden und dem ganzen Sein
mit all seinen Freuden und Leiden ein unbedingtes ,,Ja" sagen.
Der Glaube an die ewige Wiederkunft des Gleichen ist das einzige
Mittel den Übermenschen zu schaffen, und nur der Glaube an die Ent-
stehung des Übermenschen hilft seinerseits die Idee des e\vigen Kreis-
laufs auszuhalten. So verflechten sich bei Nietzsche seine beiden
Grundideen, sich gegenseitig unterstützend^^).
Tvach dieser Analyse der Werke iSietzsches können wir jetzt schon
mit voller Sicherheit behaupten, daß seine ganze philosophische
Tätigkeit eine ununterbrochene Bearbeitung eines und desselben
Hauptthemas darstellt, und zwar: der Rechtfertigung des Lebens
in seinem ganzen Umfange: ,,ühne Abzug, ohne Ausnahme und ohne
Auswahl". Eine solche Vergöttüchung des Daseins, eine solche ,, Re-
ligion des Lebens'' war, nach Nietzsche, nur den Griechen eigen und
fand ihren x\usdruck im Kult des Dionvsos, in den dionvsischen
Mysterien. Dies ist der Grund, warum Dionysos für Nietzsche als
bringung eines Übermenschen als Überart gemeint ■s\'ird, sondern nur eine
Züchtung und Schaffung des ,, höherwertigen" Typus — Mensch aus der
gegenwärtigen Art heraus. Dieser „höhere Typus" könnte nach Nietzsche
nur „im Verhältnis zur Gesamt-Menschheit als eine Art Übermensch" be-
zeichnet werden.
-^) Es ist nicht ohne Interesse, hier zu bemerken, daß sogar die Lehre
von der ewigen Wiederkunft, welche Nietzsche als die ,, höchste Formel der
Lebensbejahung" bezeichnet, bereits bei Schopenhauer vorgebildet war. Im
4. Buche des 1. Bandes der ,,Welt als Wille und Vorstellung" finden wir
folgende charakteristische Stelle: „Ein Mensch, der . . . seinen Lebenslauf,
wie er ihn bisher erfahren . . . von immer neuer Wiederkehr wünschte, und
dessen Lebensmut so groß wäre, daß er gegen die Genüsse des Lebens, alle Be-
schwerde und Pein, der es unterworfen ist, willig und gern mit in den Kauf
nähme; ein solcher stände ,mit festen markigen Knochen auf der wohl-
geründeten dauernden Erde' und hätte nichts zu fürchten . . . Dies ist ... .
der Standpunkt der gänzlichen Bejahung des Willens zum Leben." (Reclam-
ausgabe S. 370, 371, 372.) Daraus ist ersichtlich, daß das, was für Schopenhauer
bloß eine flüchtig hingeworfene Hypothese war, welcher er keinerlei Bedeutung
beimaß, bei Nietzsche zum Kern seiner philosophischen Lehre wurde. Auf
diesen Zusammenhang wurde zuerst von Krusius hingewiesen (siehe ,, Erwin
Rohde", Anmerkung zu S. 187).
11)8 Michael Scliwarz.
das Symbol cUt iinboduii2;ten Lobensbojahun<i; oischcinl, waruiii er
seine Bewertung des Lebens als eine dionysische bezeichnet, warum
er, endUch, diese Bewertung, der heutigen entgegenstellt, die. seiner
Meinung nach ihieu deutlichsten Ausdruck in der le])ensfeindhchen
Ethik des Christentums gefunden hat. Daraus geht auch seine
schonungslose Kritik der gegenwärtigen, speziell der christlichen, Moral
hervor. Diese Kritik wurde nicht etwa aus rein theoretischen Erwägun-
gen unternommen, sondern im Interesse des mächtigen und kraftvollen
Lebens, im Interesse seiner Fülle und Schönheit. Unsere gegen-
wärtige christliche Moral verleumdet, «•einer Meinung nach, das Leben,
um es im Kamen eines jenseitigen lebensfeindhchen Ideales zu ver-
neinen und damit die eigentlichen Grundlagen des Daseins zu unter-
graben. Und darum schlägt er denn auch vor, alle gegenwärtigen
lebensfeindhchen, der christlichen Ethik entstammenden, morahschen
Werte in dionysische, d. h. in lebensbejahende umzuwerten. Der christ-
lichen Moral mit ihrer Lehre von der Selbstentsagung und Selbst-
entäußerung, welche Nietzsche für das größte Verbrechen gegen die
nienschhche Natur hält, stellt er seine dionysische, lebensbejahende
Ethik entgegen, die aus dem Überfluß der Lebenskräfte entstanden
ist. Denn nur bei überströmender Gesundheit, bei übergroßer Lebens-
fülle („Neurose der Gesundheit", wie es Nietzsche nennt), entsteht
eine Art Extase, wo selbst der Schmerz als Stinmlans wirkt und wo
auf dem Boden dieser eigenartigen „Psychologie des Orgia^mus''
nicht nur die einfache Lebensbejahung als solche, sondern auch der
bacchantische Lebensrausch möglich wird.
Nietzsche ist, wie schon Joel bemerkt^*), ein Bacchant, wie ihn
die Weltgeschichte noch nicht kannte: in seiner aufrührerischen
Seele geht ein fortwährender Stimmungswechsel vor sich, eine e\vige
Ebbe und Flut. Die höchste Seelenspannung, der orgiastische Rausch,
wo die höchste Freude gleichsam den Schmerz gebiert, und das tiefste
Leiden seinerseits die höchste Freude erzeugt, — diese ..wundersame
Mischung und Doppelheit in den Affekten'', so charakteristisch für
den dionysischen Zustand, das ist das wahre und echte Element der
Nietzscheschen Seele, das Geheimnis seiner Persönlichkeit und das
Grunderlebnis, dem seine Philosophie entquillt. Nietzsche ist der
auferstandene Dionysos.
4
-*) Joel: „Nietzsche iiiid die Romantik" 8. 90.
VII.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Greca.
Alessandro Chiapelli,
professore emerito della R. Universitä di Napoli.
Qiiando noi ci domandiamo per quäle procedimento e per virtü
di quali coefficienti storici sia sorta la filosofia greca, e quali sieno
State, qiiindi, le attinenze di essa, nelle origini sue, colla cultura Orien-
tale, dobbiamo teuer lontano dalla nostra niente il pregiudizio che
im tale quesito, in qualunque modo si risolva, comprometta o dimi-
nuisca la originalitä ed il valore di questa grandiosa opera del pen-
siero che e la filosofia ellenica. Soltanto da uno spirito perfettamente
equilibrato in tutte le sue attitudini, armonioso insieme e libero,
poteva nascere una cosi alta virtü di speculazione filosofica, e questa
creare quelle possenti e originali concezioni dei grandi sistemi che
sono come altrettante opere d'arte del pensiero nei secoli. Ne si deve
credere, secondo altri ha fatto di recente, che un tale quesito sia
ozioso, perche gli impulsi esterni non ci possono dare ragione del
valore immanente e permanente di questa monumentale costruzione
del genio greco. Quando noi intendiamo per mezzo della critica
storica di risalire alle origini di un gran fatto, noi facciamo come
chi rimonta alle scaturigini prime d'im fiume, e ne va a ricercare
le sorgenti iniziali nelle profonde ombre delle foreste montane^).
§enza questa indagine, vano sarebbe il tentare di determinare il
corso. la direzione, la natura, la stessa virtü fecondatrice di questa
corrente fluviale. Questo camminare a ritroso che fa la critica storica,
e costituito da una serie d'indagini e di ragionamenti per impadronirsi
di quel complesso di coefficienti storici, onde ha avuto non giä sua
la virtü intima ma la ispirazione iniziale, e quindi la fisionomia pro-
^) Gomperz, Griechische Denker. 2. Aufl. 1903 I p. 3 syg.
200 Alessandio Chiapelli,
pria, Ulla grande creazione spiritunlc, o si tratti dcirarle o dcU'opera
del pensioi'ü.
Getto, fu graiuleiiiente benciiiorita quella scuola o dirozioiie di
critica storica clio, dal Lobeck al Grote e allo Zellor, le-
nmovendo gli antichi e, spesso, fantastici ravvicinamenti della sa-
pienza Orientale, mal conosciuta allora, alla filosofia e cultura elleuica,
pose in piü cliiara luce roriginalitä incontestabile del pensiero greco.
Ma non si potrebbe escludere che a dare a cotale reazione critica,
contro eruditi come il Roeth, il Gladisch, il Teich iiiiiller,
lo Schroeder ed altri, im tono talora acre ed animoso e uno
spirito troppo esclusivo e negativo, non abbia confcrito anche quel
supposto irragionevole che il significato della filosofia greca nella
storia del niondo sia indissolubilmcnte legato alla dimostrazione della
sua assoluta autoctonia. A molti place considerare lo svolgimento
filosofico ellenico conie alcunche, per cosi dire, di autonatico e diretto
da una legge inerente fin dagli inizi alla natura dello spirito greco,
non perturbata mai da influssi esterni come avvenne alla cultura
roniana, deviata, ad un certo punto del suo svolgimento, dalla in-
fusione deir ellenismo nel mondo latino. E i)iace ancora che. a com-
pletare la visione del quadro, il pensiero greco fino dalle origini sue
si annunzi immune da ogni impulso che gli potesse venire da di fuori,
cioe dai contatti coi popoli circostanti, e segnatamente dell' Asia.
Se non che questo supposto isolamento non corrisponde ai resultati
delle ricerche piü sicure e piü recenti, e Fhortus conclusus degli
esclusivi ellenisti si e ormai aperto per mille vie, dinanzi agli occhi
della nuova critica storica, ai molteplici influssi asiatici. Come le
ricerche del Wendland, del Reizenstein, del Cuniont, del
Dieterich, del Giemen e di tanti altri hanno posto in evidenza
il nuovo soffio che dalF Oriente spirö sul terreno greco nel periodo
ellenistico, cosi par verosimile che alcunche di analogo avvenisse anco
nel periodo delle origini della riflessione filosofica greca; se poniamo
mente alla natura e allo spirito di quel popolo da Piatone chiamato
fpiZofia&^sg, cioe curioso e vago di apprendere, e avido di conosccre,
che nel periodo eroico e mitico si era, per cosi dire, impersonato nella
figura di Odisi>eo, di colui ,,che di molti uomini vide i costumi
e conobbe la mente", e che Erodoto poi riprodusse nella figura
di Solone dinanzi a Greso come animato dallo spirito di ricerca
L" Oriente e le Oiigiiii della Filosofia Greca. 201
Se 11011 che i termini storici della questione sono oggi profoiida-
nieiite iimtati: perclie le relazioni iniziali tra la filosofia greca e
rORIEXTE vaniio ricongiuiite ad una serie di fenomini congeneri,
venuti in maggior luce dalle scoperte e dalle indagini degli Ultimi
decenni suUe forme arcaiche delF arte protoelleiiica e preellenica,
cioe deir etä niicenea e premicenea, siii miti e i ciilti della priraitiva
religione greca, e suUe prime manifestazioni della cultura scientifica
di quel popolo, vediito nellc relazioni sue antiche coli' Asia e coUa
valle del Mio. I segni dei rapporti fra TEgitto e il mondo egeo
resultano dai testi geroglifici della diciottesima dinastia, e dai bas-
sorilievi delle toml)e tebane: conie, d'altra parte, oggetti ed idoli
di provenienza egizia sono stati trovati a Micene, nelF Heraioii
d'Argo, in Creta, e Statuette d'Iside nelle piü antiche tonibe
d'Eleusi-). Quanto alle infiltrazioni orientali ed egizie nelF antica
religione ellenica, basta ricordare Faffinitä delF Afrodite greca
coir Astarte Fenicia e 1" Ishtär assiro — babilonese e del
suo araante Adonis — Thammuz; la parentela, ora bene illustrata
specialmente dal Foncart^), della Demeter eleusinia colla Iside
egizia, e del Dionysos traoio coli' egizio Osiride (giä nota ad Erodoto);
il rinfrangersi molteplice della grande divinitä femminile asiatica,
scolpita dagli Hetei nei fianchi della montagna di Sipilos nell' Ana-
tolia, in molte e varie forme, sulle coste delF Asia Minore, nelle isole
egee e nella Grecia Continentale, sotto i nonii diversi di Ma, di
('ybele frigia^), di Rhea. della Magna Mater, della Bendis tracia e
cosi via. Tutto questo e altro sta a dimostrare che nell" Ellade fino
dai piü antichi secoli della sua cultura mediterranea erano penetrati
elementi religiosi di culti orientali, e con essi i primi semi di un pen-
sicro ancora av^'olto nella forme mitiche e rappresentative. Se,
dunque, alla grandezza delF arte ellenica e alla originale intuizione
della natura che sta al fondo dei miti greci nuUa toglie che motivi
ed elementi fossero, nelF uno e nell' altro campo, venuti in prima dai
contatti coi grandi centri dirradiazione della civiltä Orientale, la
-) Fimmen, Zeit und Dauer der kretisch-mykenischen Kultur
1909 p. 58. gj. Foucart, Les Mysteres d'EIeusis. Paris 1914 tutto il Cap. I.
^) Foucart, op. cit. 1914 p. 40 segg. Frazer, Adonis, Attis, Osirisl907;
Güblet d'Alviella, Eleusinia 1903 p. 73.
'') Matar Kubile in una iscrizione frigia interpretata dal Ramsay
Journal cf Hellenic Studies V p. 24G.
202 Alc'ssaiulrc) Chiapclli,
Mesopotaniia c la valle del Nilo, come tutti oramai dobbon riconoscere,
iina (onsiinile misura dev' essere logicamente applicata anche ai rap-
porti del prinio pensiero filosofico greco colla cultura dei popoli asia-
tic-i, e colla religione egizia: pur tenendo conto del fatto essenziale
che la filosofia fiorisce in una etä in cui la civiltä ellenica e giä adulta
e preparata a questa superiore manifestazione dello spirito. Egli
e che i semi della cultura portati pel tramite delFesteso commercio, ''
le cui vie furoro sempre veicoli di comunicazioni intellettuali, trova-
vano giä nelF Ellade, coloniale dapprima e continentale piü tardi, un
terreno niirabilmente propizio e fruttifero a questa nuova feconda-
zione straniera. senza la quäle quelle felici disposizioni native sareb-
bero rimaste probabilniente inoperose.
Giova, pertanto, in primo luogo richiamare i periodi e le forme
storiche principali della questione, per vederne meglio i terniini odierni,
e gli elementi nuovi che possano avviarla ad una risoluzione criti-
camente piü sicura. Ora non v'ha dubbio che a chi guardi il coni-
plesso delle testimonianze storiche. lungo Tantichitä classica e cri-
stiana, intorno ai rapporti tra la filosofia greca e il mondo Orientale,
quelle testimonianze crescono di numero e di determinatezza quanto
piü si scende nella corrente dei tempi. Se piü volte Erodoto, Pia-
tone ed altri piü antichi scrittori ci parlano d'una supposta deriva-
zione della religione o della matematica greca dalFEgitto, nulla sembra
essi sappiano dei viaggi dei filosofi greci e dei loro rapporti colla terra
dei Faraoni e coli" Oriente. Solo dopo il terzo Secolo questa opinione
appare anche fra i greci, e molto piü chiara si delinea nel periodo
alessandrino. quando il pensiero greco entra in contatto colla cul-
tura Orientale, e i giudei ellenisti. specialniente d'Alessandria, come
i sacerdoti egizi sotto i Tolomei, accreditano Fopinione che i loro
libri sacri fossero le fonti originali onde flui la sapienza greca. La
quäle opinione trovava il terreno favorevole fra i greci d'un tempo
in cui la originalitä filosofica decaduta e tutte le tendenze sincretis-
tiche del tempo facevano sentire piü vivo il bisogno di ricongiungere
le dottrine elleniche ad una rivelazione e ad una sapienza riposta
ed arcana come quella Orientale, che assumeva agli occhi loro un
carattere augusto e venerando^). La rassomifflianza di certe dottrine
^) V. per tutti il Wendland, Die Hellenistische-Römische Kultur.
2. und 3. Aufl. Tübingen 1912 p. 127 segg. Cumont, Rcligions Orientales
2 p. 240 segg.
L'Oriente e le Oiigini della l*"ilo:^ofia Greca. 20P>
crebbe allora credito e diffusione alla leg-^enda siii viagni degli an-
tichi filosofi in lontane regioni; riflesso e riprova di quel sincretismo
filosofibo religioso che domina in tutto il lungo periodo ellenistico. Per
opposte ragioni piü tardi i polemisti pagani contro 11 Cristianesimo,
da Celso a Giuliano, e gli Apologisti e i Padri Alessandrini, si appro-
priarono qiiesta idea: gli uni onde dimostrare che quanto ia dottrina
cristiana aveva di meno spregevole doveva essere ereditä della sa-
pienza greca o adulterazione della cultura classica: gh altri per ricer-
care nel mondo pagano gli antecedenti. la preparazione della rivela-
zione cristiana, gli öjisgitara rov hr/ov. come Giustino e Clemente
li chiamano; ovvero per dimostrare che la filosofia greca deriva
dair Anticü Testamento, o che, come aveva giä detto il neopitao'orico
]\'umenio, Piatone non e altro che un Movofjg aTTixuojv^).
Ora ia critica moderna ha esclusi per sempre i pretesi rapporti
deHa scienza greca con Mose e i Profeti, la siipposta dipendenza del
Timeo dal Pentateuco: fin da quando la interpretazioni delle iscri-
zioni geroglifiche e delle cuneiformi rivelarono i misteri di due civiltä
ben piü antiche, Fegizia e l'assiro — Babilonese, e la scoperta del
sanscrito, rivelatrice della parentela glottologica ed etnica indo-
europea, allargava Forizzonte della Storia e illustrava una civiltä
ben piü affine all' ellenica che non Fantico Israele. Se non che FIndia
e troppo lontana storicamente dalla Grecia. e i rapporti sicuri con
essa non cominciano che all' etä di Alessandr(j e dei Diadochi. Noi
potremmo anche ammettere una penetrazione d'idee brahmaniche e
Iniddhistiche nel Cristianesimo nascente, e per la diffusione della
letteratura Buddhistica al tempo di Cristo, quäle resulta dalle iscri-
zioni d'Asoka e dalle recenti scoperte di traduzioni nei dialetti del-
Flmpero Parto: penetrazione possibile per le antiche vie commerciali
che congiungevano FIndia alla Palestina, e per altre condizioni
estrinseche bene illustrate, fra gli altri, dalF Edmunds. Ma cinque
secoli innanzi anche queste vie di comunicazioni mancavano. Invece
vi erano altri due centri coi quali pare storicamente piü dimostrato
il contatto della Grecia, e sulla cui civiltä la scoperta della hngua
geroghfica e della lingua Zenda ha sparsa una luce piü chiara: da
uu lato, FEgitto dopo Psamanetico alla metä del settimo secolo diretta-
^) Xumen. Fragm. 13 Tlied. fcf. Giemen. Struui. I 8, 5 Stählin).
204 Alessaudro Chiapelli,
inente aperto al commercio greco, scgnatamente dcgf loiii deirAsia
Minore e delF isole egee, ma, senza diibbio, in rapj)orto piü indiretto
colla cultuta ellenica, e non solo per mezzo dci Fenici, giä da moiti
secüii, conie provano le scoperte archeologiche di Micene e di Ciiossos,
la stessa arte cipriota e alcuni miti proto-elieniei: dall'altro, l'Asiria,
dopo Ciro confusa colla Persia, che traverso alla Frigia, e la Lidia,
spiegava la sua azione suUe colonie grcctie dell' Asia Minore nelF arter,
nelle forme del culto, in alcune intuizioni religiöse, e sopratutto nelli;
conoscenze astronomiche ed astrologiche. Non fa meraviglia, quindi,
che circa la metä del secolo scorso risorgesse, suUe orme della sinibohca
del Creuzer, Fantica ipotcsi della origine della filosofia greca dalF
Oriente, principalmente sostenuta dal Roeth, che, colla sua critica
spesso poco cauta e troppo fantasiosa, cercava le tracce della religione
Zoroastrica in Democrito e in Piatone, in altri filosofi quelli della
religione egizia; e dal Gladisch che tentava un sistema piü compren-
sivo, in cui cinque dei grandi sistemi presofistici si dovevano riscon-
trare con altrettante forme di dottrine Orientali'). Se non che questi
tentativi ebbero poca fortuna perche scarso era il materiale o mal
sicuro il fondamento sn cui con troppa fiducia edificavano i due dotti
tedeschi. E d'altra parte lo svolgimento e il fiorire degii studi filo-
logici e storici, e la maggior conoscenza delF antichitä elassica, deter-
juinava una non illigittima resistcnza a questi ravvicinamenti orien-
tali in nome della originalitä assoluta della cultura e della filosofia
greca: e i nomi del Lobeck, del Preller, del Welcker, dello Schoemann,
del Ritter, del lanet, dello Zeller (il piü autorevole e costante difen-
sore delF assoluta indipendenza della filosofia ellenica) fino al Rohde,
al Burnet**), al Milhaud^), rappresentano questa tendenza in quello
che ha di ragionevole e d'inconstetabile, e in quello che anche ha di
esclusivo e di eccessivo. Codesta reazione critica, alla quäle si ricon-
giungono anche oggi orientalisti come il Deussen ed ellenisti come
il von Armin, che sono fra i piü recenti e valenti espositori della filo-
') Roeth, Gesch. unserer abendländ. Philos. 2 Bde. Mannheim e del ^
Gladisch una serie di memorie che va dal 1841 al 1866, 1858 riassunte nello
scritto dal titolo Die Religion und Philos. in ihrer geschieht!. Entwicklung 1852.
*) Burnet, Early greek philosophy. London-Edinburgh 1892
p. 15; trad. ted.. Die Anfänge der griech. Philosophie. Leipzig-Berlin
1913 p. 13 segg. :
*) Milhaud, Les Origines de la Science greciiue. Paris 1893.
L'Oriente e le Origini drlla Filosofia (rreca. 205
Sofia grcca c che i siioi rapporti coli" Oriente passano sotto sileiizioi^),
se ha servito di giusto coiitrappeso alle troppo frettolose conclusioni
tentatc nella prima parte clel secolo seorso, non e perö riescita ad
eliminare Fopposta e rinascente tendenza; la quäle piü di recente
provveduta di materiale piii ricco e criticaniente accertato, e tornata
di miovo a riaffermare le attinenze della filosofia greca primitiva
colle rcligioni e coi filosofemi orientali. La maggiore conoscenza
dei libri sacri dell' Oriente, speeie del cosi detto .Xibro dei Morti"
deir antico Egitto, il progresso degli studi assiriologici e la miglior
conoscenza critica dei documenti iranici, doveva naturalmente con-
tribuirvi.
E cosi, per diverse vie e in misiira diversa, tentarono d'illustrare
questi rapporti il Teichmüller, il Tannevy, lo Schroeder, il Pfleiderer,
il Gruppe^^), ed anche in questi Ultimi anni il AVendland, il Cumont,
FAmelineau: tantoche, pur dissentendo da molte loro conclusioni,
ellenisti del valore e deir autoritä del Diels e del Goraperz, inclinano
a riconoscere in massima, anche senza avventurarsi in particolari
ricerche comparative^^). che senza influssi orientali e colla ipotesi
della pura autoctonia dell' ispirazione, non si possa oggi dare una
ragione adeguata delle origini e delle prime forme della riflessione
filosofica greca: pur rimanendo intatto e fernio il giudizio del suo
valore assoluto ed originale.
2.
La questione oggi si presenta per un rispetto assai piü complessa,
e per un altro assai piü determinata e seniplice che non fosse nella
seconda metä del secolo seorso, cioe nel massimo fiorire della scienza
^") Deussen, Philosophie der Griechen. Leipzig 1911; Arnim,
in Kultur der Gegenwart dell' Hinneberg I, V, 2. Aufl. 1913 p. 94 segg.
Lo stesso dicasi delle altre piü recensi trattazicni di tjuesto antico periodo
del Doering, Kinkel, Gercke e Goebel.
11) Teichmüller, Neue Studien zur Gesch. d. Begriffe IL Gotha
187S; Tannery in Revue Philosophique 188Ü; Schroeder, Pythagoras
und die Inder. Leipzig 1884; Pfleiderer, Die Philos. Heraklits im
Lichte des Mysterienwesens. Leipzig 1886; Gruppe, Griech. Kulte
und Mythen I 1887.
12) Diels in Archiv für Gesch. d. Philos. II p. 89 scrive: „Das
Problem verdient wirklich das eindringlichste Nachdenken, da wohl nur noch
wenige an die völlige Autochthonie der griechischen Spekulation glauben
werden." Gomperz, Griech. Denker I. 2. Aufl. 1903 p. 77 segg. 429.
2()G Alessandro Chiapelli,
deir antichita dassica. Piü complessa. poiche non basta Topera
comparativa e rintime somio-lianze, bensi bisogna dimostrare per
quali medi termini storici una intuizione oriPiitale possa esser peiie-
trata nel nioiido cllcnico, ed essere stata motivo e impulso, se iimi
oscmplare, di dottrine filosofiche: ma ancora piü semplico, pcn-ho
questa stessa ragione esclude, come si potrebbe dire, a priori, alciiiu'
delle eiviltä piü lontane dalla Grecia, come la Cina, Tlndia, ed Israele.
Ma la questione deve, in primo hiogo, considerarsi in modo indiretto
da chi si domandi quäl valore ed autoritä possa avere la tradizione
che ad essa si riferisce, e a quäle epoca risalga; prima di vedere quali
argomenti intrinseci vi sono per decidere se vi sieno stati questi in-
flussi originali delF Oriente sul pensiero greco, e in quäl misura si
possano o si debbano riconoscere.
Ora quanto al primo punto, conviene innanzi tutto teuer pre-
sente e discutere il giudizio critico che ne ha dato il massimo storico
della filosofia ellenica^^^). e che vale per ogni altro consimile. Ora
per lo Zeller la tradizione e qui insufficiente e di per se molto sospetta.
come quella che cresce ed abbonda quanto piü ci si allontana dalle
origini. Gli eruditi neopitagorici e neoplatonici della tarda antichita
raccontano bensi molti viaggi degli antichi filosofi: ma le testimo-
iiianze loro sono poco attendibih. Poiche non solo non mostrano di
derivare da fonti sicure, ma sembrano. anche mosse da un intendi-
mento dogmatico, anziehe da un concetto storico e critico. Da un
lato, essi vedono gli antichi filosofi come avvolti in una incerta aureola
di leggenda: da un altro, Orientali e Greci, per diverse ragioni, erano
indotti a prestar fede a quelle antiche atinenze. Invece, prosegue
lo storico tedesco. le piü antestimonianze o tacciono, o ci offrono
mere supposizioni. Anche se fosse certo il viaggio di Talete in Egitto,
ad ogni modo non senln-a ne avesse derivate se non conoscenze mate-
matiche ed astronomiche: e che Pitagora sia stato in Egitto ci vien
detto per la prima volta da Isocrate, la cui testimonianza ha assai
scarso valore. Erodoto, che lo ignora, accenna solo ad affinitä reli-
giöse e matematiche, non filosofiche, dell" Ellade colla Valle del Nilo :
ne Democrito stesso che conosce TEgitto non sembra di credere alla.
superioritä della geometria egizia sulla propria; ne, certo, crede alla
superiorita degli Egiziani sui Greci Piatone, che di quelli. anzi. fa
13) Zeller, Philos. d. Crieeh. I, I^ p. 19—41.
L'Oriente e le Oiigini della Filosofia Ureca. 207
cosi severo giudizio nella Kepubblica. Aristotele medesinio niilla
sa di qiiesti viaggi di filosofi antichi in Oriente: e per lui gli Egiziani
sono i preciirsori bensi dei Greci, ma solo nelle dottrine matematiche
ed astronomiche (Mctaph. I, 1). E cosi Diodoro e gli altri non parlano
SB non di processi tecnici, di leggi civili, d'istituti religiosi come pro-
venienti dall' Egitto, non mai d'intuizioni speculative e di motivi
propriamente filosofici.
Se noi vogliamo ora niisurare il valore di questi argonienti e il
significato della tradizione conviene tener presente innanzi tutto che
le testimonianze, per quanto tarde, e, se si vuole. animate da un
intento dottrinale, debbono pure riannodarsi ad un nucleo originale
di veritä storica ancorche alterato; e questo uucleo e appunto pro-
posito nostro il cercare. II dit'etto di testimonianze piü dirette, dice
il Tannery, non puo avere un valore decisivo se si consideri quanto
sien ristretti i dati che noi possediarao sulle conoscenze dei primi
fisici e scarse le notizie degli scrittori delF antichitä sulla cultura dei
„barbari''. Certo, prima che le tombc delF Egitto ci avessero dato
i papiri, e i testi ieratici, o le escavazioni asiatiche ci avesser restituite
le iscrizioni cuneiformi e le tavolette di Ninive e di Babilonia, questa
ignoranza non poteva esser misurata. Ma oggi bisogna tener conto
delle rivelazioni che ci danno codeste risorte scritture. Poiche gran
parte degh argomenti addotti dallo Zeller e dagli altri si dilegua se
si ferma bene il punto \äsuale da cui dobbiamo guardare gli antichi
fisici. II dire che gli antichi ci parlano di opinioni particolari ereditate
daU' Oriente non giä di concetti filosofici, non basta, se consideriamo
che questi anctichi pensatori non muovevano da un principio astratto,
bensi da particolari osservazioni e da esperienze sul mondo sensibile,
che poi generaleggiando riconducevano a principi di estensione e
applicazione universale. Indipendenti da ogni tradizione, seguivano
una via naturale. Ora secondo natura il concetto, direbbe Aristotele,
e Fultimo. Poiche, dunque, prima della Metafisica e la Fisica, e natu-
rale aspettarsi che gh antichi non ci parlino se non di dottrine geo-
metriche ed astronomiche come importazione egizia ed asiatica. Ma
solo da queste e per queste si svolse la speculazione di questi
fpvoioloyoi, come Aristotele li designa; sebbene eglipoi attribuisca
loro un modo di vedere astratto che e ben lontano dalle origini prime.
vSuUe quali piü che altro c'illumineranno la storia della civiltä in gene-
rale, e in particolare poi la storia dell' antica matematica ed astro-
2C8 Alessaiulio CluajicUi,
noniia. Osa so consultiaino questa, la tradizione iion e cosi scarsa
di autoritä, ne cosi discontimia quanto si e voluto crcdere^'*); come
quclla che pur con molte laciine, facilmcnte spiegabili per la perdita
di tanti docuiiienti. va da Erodoto fino a Plutarco e piü oltre aiicora.
Che, difatti, Talete abbia visitato TEgitto, non si puö serianuente
oramai porre in dubbio. La notizia proviene da Eudemo, la cui autoritä,
in fatto di storia delle scienze esatte. e incontestabile^^): e viene poi
confermata indirettamente da altri indizi. Come la origine della
geometria presso gli Egizi anche da Eudemo e derivata dalla neces-
sitä di stalüUre i termini per le inondazioni periodiche del Nilo, cosi
Erodoto ed Aristotele (Fragm. 248 ed Rose), e dietro ad essi Diodoro
e Plutarco, ricollegano non solo ai logografi come Ecateo. ma anche
ai filosofi. come Talete ed Anassagora, i tentativi per ricercare Fori-
gine e la causa fisica di quel fenomeno. II che mal si spiega senza una
conoscenza diretta e personale di esso. Nessuna meraviglia quindi
che. come vedremo piü tardi. non solo il sistema astronomico ma
ridea cosmogonica di Talete abl)ia il suo riscontro nelle antiche intui-
zioni deir Egitto. Quanto a Pitagora, alla testimonianza di Isocrate
non si puö negare autoritä, anche se non si voglia ammettere ch^ il
frammento di Eraclito^^) dove si parla della jtolvuai)-ia di Pitagora,
non implichi, come pur credono lo Schuster e il Gomperz, i suoi viaggi.
Essa e indirettamente confermata da Erodoto nel famoso luogo sulla
origine egizia della idea metempsicosi (II, 123 cf. 49). e da altri luoghi
(II, 81) dei quali apparisce che nel V secolo il nesso fra il Pitagorismc*
e la cultura egizia era Ijen conosciuto: anche senza teuer conto di
ciü che Erodoto stesso attesta sulla derivazione dall' Egitto delle
cognizioni astronomiche (II, 4) delF arte del misurare (IL 109) e di
tutti quasi i culti e le divinitä elleniche (II, 52). L'avere egli alhneato
nello stesso libro delF opera sua le dipendenze generah della cultura
greca daU' Egitto e le allusioni alle attinenze di esso coi Pitagorici,
1^) Troppc assoluta e, infatti, raffermazitnie del Burnet, Early greek
philos. 1892 p. 14. Anfänge ca. 1914 p. 13, che nessuno scrittore dell' epoca
classica della filosofia greca sapesse allunche di questa suo derivazione Orientale.
15) Proc\ in Eucl. 19 (ed Hertlein), Ouliic 6i ttowtov sie ^-fiyvTTTOv
lld-ütv, /jerrjrxysv f<c 'Elläöa T)]r f^Hooiuv ruvrrjv (sc. ysio^ufTOicr) y.ui
nolld iJfv avTog evQf, tto'/Jmv de rag dqxifC ^oTg fier' am()v Uprjr^aaTO.
Eudem. Fragm. 84 Spengel, Diels, Vorsokratiker I^ p. 8.
") Fragm. 40 (Diels, Iß Bsw.).
L'Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 209
fa sempre piii credere che a lui e ai siioi contemporanei tali attinenze
fossero ben cognite. E che fossero teniiti in alto concetto gii Egiziani
iiollascienza geometrica inclirettamente lo confessa una parola con-
i>ervataci di Deraocrito (presso Clem. Strom. I 304 A.) che pure senza
dubbio, deve aver visitato TEgitto, e probabilmente TOriente^').
Certo. i sacerdoti egizi si compiacquero nelF esagerare questa
loro preminenza sui Greci: e dal Timeo, dal Critia e dall' Epinomide
platonico, come anche da Crantore (Procl. in Tim. 24 B) ci e noto
come gli Egizi si vantassero di conservare la mistica tradizione
deir Isola Atlantide. Piü tardi osserveranno (Diodor I, 96) che non
solo Pitagora dovesse all' Egitto la geometria, la dottrina dei numeri
e la dottrina della metempsicosi, come Democrito Fastronomia, Solone
e Piatone le loro leggi e i loro concetti politici. Ma resterebbe a spiegare
])erche i Greci avi-ebbero prestata cosi facile fede, se nuUa ci fosse
stato di vero in quello che gli altri venivano loro dicendo: e tanto
piü in un tempo in cui non era peranco penetrata nella cultura greca
l'ambizione di accreditare le dottrine elleniche coli, autoritä delle
antiche religioni d'Oriente. Questa opinione circolava giä in Atene
alla etä di Piatone, come attesta il Platonico Crantore, e come resul
terebbe anche da un accenno del Busiride d'Isocrate, se dovessimo
accogliere l'ipotesi del Teichmiiller. E se e vero che Piatone mostra
un certo dispregio per gli Egizi, questo riguarda TEgitto del suo tempo ;
dove per l'antica cultura della valle del Nilo mostra d'avere, nel
Fedro, nel Timeo, nelle Leggi, nell' Epinomide, una gran riverenza.
Ma e poi esatto il dire cheagU antichi sia ignota una primitiva
a.ttinenza della speculazione greca coli' Oriente? Aristotele (Metaph. I,
1) confessa che gli Egiziani furon maestri ai Greci nelle discipline
matematiche; e sebbene non parli propriamente di speculazioni
Orientali, e da notare che ricongiunge le prinie filosofie alle cosmo-
gonie orfiche e alle intuizioni religiöse (I, 3, 983 b, 27). Ne sembra
essere stata aliena dalla sua mente una oscura idea di questa deri-
vazione Orientale. Giä nella Metafisica stessa incerta modo vi accenna
^") Fr. 299 (Diels I- p. 439), Questo frammento, se e propriamente au-
tentico, e decisivo circa la questione dei rapporti tra la filosofia greca e
rOriente. 71 Diels II'- p. 727 lo crede apocrifo. Xon cosi il Gomperz, Wiener
Sitzungsb. 52 I e il Burnet, Anfänge p. 19. In veritä sembre debba porsi
in attimenza, come appartenente aUo stesso scritto autobiografico, col Fr. 116
(Diog. IX 36. Cic. Tuscul. V 36, 104).
Archiv für Geächichte der Philosophie. XXVIII. 2. 14
210 Alessandro Clnapelli,
(XIV, 4, 1091 b, 3 segg.), dove dice che Ferecide e i ]Magi, che noii
son piü nel mito, ponevano il bene a principio delle cose allo stesso
modo di Empedocle e di Anassagora. Ma piü apertamente sembra
essersi espresso su questo punto nelle opere ora perdute, per quello
che speciahiiente rigiiarda i rapporti della filosofia col Parsisnio, che
il maestro d' Alessandro il Conquistatore, era meglio in grado di cono-
scere di ogni altra religione Orientale. Questo risulta da ciö che ci
vien riferito da un siio scritto, il Magico, dove le origini delle filo-
sofia eran chiaramente dedotte dalle cultiu'e orientali; e da ciö che
appare da un altro frammento del jisqI (fiÄoooffiag (I Libro), ad-
dotto da Diogene (I, 8), Aristotele dice che i Magi sono piü antichi
degli Egiziani stessi, e parla deUa religione Zoroastrica. Ne per questo
rispetto la sua opinione rimase isolata: che, senza contare Xantho
e Dinone di Colofone, v'inclinarono, per quanto sappiamo, Teopompo,
Eudosso^^), Ermodoro il Platonico, Eudemo di Rodi, Clearco di Soli,
Ecateo d'Abdera, a cui s'attribuiva uno scritto jhqI ttjq tcöv
AiyvjirioDV ffv?.oöoffiaQ.
Una testimonianza non meno significativa di questa conosciuta
penetrazione d'idee e scientifiche dalF Oriente nelF Ellade giä nel
periodo classico della filosofia greca, ci viene dalla scuola platonica.
LEpinomide platonico, sia esso opera del maestro o un aggiunta
aUe leggi di Filippo di Opunte, cerca una conciliazione del culto Delfico
di Apolline con quello degli Dei siderali che la Siria e FEgitto avevano
dato alla Grecia^). E perciö esorta i Greci a perfezionare questo culto,
recentemente introdotto nel loro paese, come essi hanno perfezionato
tutto ciö che hanno ricevuto dai barbari. Confessione preziosa la
quäle trova conferma in alcuni segni onde apparisce la derivazione
di alcune dottrine astronomiche di questo scritto platonico dai Caldei;
18) Aristot. Fragm. 35 Rose (p. 43) in Diog. L. I 1. Td Ttjg (piAo-
cocpiag Iq/ov i'noi (puGiv uttö ßagßuQoir uqtui. yeyerriad^ui yug tvuou /Jiv
JTiQGaig Müyovc, Tcaqd Ss Bußvlovioiq i] AgGvqioiq X(ü6aiovg xui
rvfjvoGoy)iGTug ituo' IvdoXg . . . xaid (pt]Gir Aoi^G tot ihrig *'' ^^I' Mayixo)
xui ^ioTtov iv Ttj slxoGTM TQiTM Ttjg /t«Jo;f i;c.
18) Plin. X. H. 30, 3 (Rose, Arist. Fragm. 34).
2°) Plat. Epinomis 987 A Ilahuog ydo Sij xÖTiog {BüoßuQog) td-geilis
TOvg TTOtÜTOvg tuvtu (tu dGTOovo^ixd) IvvorjGavTag, ötd t6 xdKLog t^c
d^soiv7]g lüoag, rji' Al'yvjiTÖg t£ xai —vqiu ixartug xixTrjui .... od^fv xui
TTui'TU/ÖGt xui devg'' i'§)]X(i ßsßuQuriGijiru ;fgoVw jjvqistsI xe xui dn&iQO).
cfr. Thoon. Smyrn. de astroiiomia ed. Martin p. 270.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 211
e ci spiega come in un papiro ercolanese, contenente uno scritto dovuto
forse allo stesso Filippo'^^) ci sia conservata la notizia che Piatone
nella tarda sua etä abbia ricevuto un sapiente ,,Caldeo" che lo avrebbe
istruito sulle scoperte fatte dai siioi compatriotti ; notizia che ci e
pol confermata da altre testimonianze aiitorevoli, come Antistene,
Aristotele ed Eudosso^^).
La tradizione non e, dunque, ne cosi scarsa ne tarda, ne cosi
poco autorevole, come altri ha creduto: ma risale, in qualche modo.
ai grandi maestri della scienza greca, e specialmente a quella scuola
di Aristotele, il primo storico della filosofia antica, dove Teofrasto
ed Eudemo avevano posto mano a raccogliere, con grande diligenza.
le notizie sugli antichi fisici e matematici greci.
Ma se vogliamo determinare i limiti della questione, e delineare
le vie di qnesta possibile Influenza Orientale sulla primitiva riflessione
filosofica dei Greci, conviene innanzi tutto liberare il terreno da al-
cuni ravvicinamenti ideali, che non solo sono di per se desituiti di
saldo fondamento storico, ma servono piuttosto a complicare che
a semplificare la questione. Quanto aUa ipotesi della origine ebraica
della filosofia greca, non occorre oggi spendere molte parole, essendo
essa oramai esclusa irrevocabilmente dalla critica moderna. La prece-
denza cronologica di alcuni libri delF iVntico Testamento sui docu-
menti del pensiero greco, nulla prova circa la dipendenza di questi
da quelli: ne la tradizione dei libri sacri conosciuti in Grecia ben
prima della versione Alessandi'ina, poggia su altro fondamento che
la malfida testimonianza dWristobulo. E se oggi dai papiii aramaici
di Elefantina, in parte pubbücati dal Sayce e Cowley in parte dal
Rubensojm e Sachau^^), sappiamo che nelF alto Egitto giä prima
che Cambise, nel 525, facesse delF Egitto una provincia persiana,
esisteva una comunitä giudaica, anche non accogliendo i dubbi sorti
-^) Index Herculan. ed. Mekler ool III 36
") Arist. Fragra. (Rose) 32, 33, 34. cf. Fragm. 35 e 248.
■-^) Sayce and Cowley, Aramaic Papyri discovered at Assuan.
London 1906; Rubensohn und Sachau, Drei aramäische Papyrusur-
kunden aus Elephantine. Berlin 1907; e tutta la letteratura piü recente
SU questo argomento in G. Rauschen, Neues Licht aus dem alten
Orient. Bonn 1913 p. 41.
14*
212 Alcssandro Chiaix-lli.
sulla loi'o aiitoiiticita. corto o che il giudaismo egiziano noii liori vera-
mente se non all' etä di Alessandro; onde tutto fa credere che la Grecia
ben scarsa e indiretta notizia avesse del popolo d'Israele e della reli-
gione di Jahve prima della conquista d'Alessandro, cioe prima del
periodo ellenistico. Durante il quäle, come e noto oramai^*), anziehe
un mutuare del pensiero greco dalla religione ebraica e piuttosto
visibile, nei libri dell' etä giudaica delF Antico Testamente di carattere
sapienziale (come il libro della Sapienza, i Maccabei, e forse giä i Pro-
verbi Salomonici, e il Siracide) un assorbimento di elementi ellenici
per parte del Giudaismo.
Piü complessa e di men sicura risoluzione e l'ipotesi della filia-
zione indiana della filosofia greca. Perche se l'lndia e piü lontana
della Giudea e dell' Egitto. ella ha invece una ricca fioritura filosofica.
La storia comparata della filosofia trova, perciö, in essa materia
opportuna e copiosa a raffronti della maggiore importanza: e basta
ricordare, per tal rispetto, i piü recenti lavori d'indologi come il
Deussen, il Max Müller, FOldenberg, il Ehys-Davids, lo Speyer-^).
Se non che a trasformare quelli che posson dirsi grincontri ideali
e le somiglianze in prove di relazione reale e di trasmissione effettiva,
manca il tramite storico di un possibile influsso prima della conquista
d'Alessandro; perche chi volesse cercare questo elemento mediatore
nei Fenici, si ravvolgerebbe in altre difficoltä, trattandosi di un popolo
in cui Piatone riconosceva assai scarso lo spirito scientifico, e che
nondimeno dovrebb'essere il portatore e il trasmettitore d'idee.
Posta, dunque, anche la veritä della tradizione secondo la quäle
Callistene avrebbe inviato ad Aristotele i libri indiani, codesta atti-
nenza dovrebbe, se mai, riportarsi al periodo post-aristotelico: tanto
piü che quella leggenda stessa implica che di questi libri o di quella
cultura prima di quella etä in Grecia non si avesse contezza. Noi
2*) V. per tutti gli altri >Schürer, Gesch. des jüd. Volkes im Zeit.
J. C. III* p. 34 e segg. 131 segg., ed anche ora Focke, Die Entstehung
der Weisheit Salomons (in Forschungen zur ReUgion u. Literatur des
Alten u. N. Testaments N. F. 5). Göttingen 1913.
^^) Deussen, Allgemeine Gesch. der Philos. I 1908 (cf. Revue Bleue,
9. Nov. 1907); M. Müller, The six Systems of Indian philosophy 1899;
Oldenberg in Die Kultur der Gegenwart dell' Hinneberg I, V. Leipzig-
Berlin 1913, e la letteratura ivi citata; Rhys Davids, Buddhism (American
Lectures) 1909; Speyer, Die indische Theosophie, aus den Quellen dar-
gestellt. Leipzig 1914.
L'Oriente e le Origini della Filosofia Greca, 213
stessi non incontriamo il concetto e il termiiie di filosofia (änviksiki)
nei libri indiani se non nello scritto politico di Kautilya, di due secoli
piü tardo dell' etä del Buddlia e posteriore ä quella di Alessandro :
ed e tale che piü che al vero filosofo appartiene al politico^^). Se,
pertanto, la dottrina dei cinque elementi si trova nella filosofia Sänkya,
0 la teoria dello Sfero d'Empedocle ha rispondenza con quella dell'
avyacta e vyacta indiano, o la teoria orfico-pitagorica della nie-
tempsicosi ha giä il suo antecedente o collaterale nelF Tndia: se la
dottrina atomistica del Vaisesika ricorda Democrito, o il concetto
eracliteo della instabile composizione dell' anima si puö ravvicinare
alla dottrina giainica'^') : tutto questo puö essere bensi materia degna
di riflessione per una storia comparativa della filosofia, non argo-
niento a pensare ad una filiazione storica. L'atoniismo aveva gilä
la ua formola in Leucippo, anche se ammettiamo possibile il viaggio
di Democrito nell' India, di cui parla una tradizione della tarda anti-
chitä, 0 che il sistenia Vaisesika sia anteriore all' atomisnio ellenico,
il che appunto non pare possibile: la dottrina r'egli elementi la vediamo
svolgersi solo a poco a poco in Grecia, il che esclude ogni importazione
dal di fuori; e la teoria della migrazione delle anime, originariamente
piü orfica che Pitagorica e forse anche egizia, ha, in ogni modo, nella
filosofia greca una importanza secondaria e subordinata sempre ad
un sistema d'idee e di rappresentazioni poetiche di origine ellenica.
Come l'ipotesi Indiana ha in generale assai dubbio fondamento,
cosi e a dirsi, secondo riconosce cra anche l'Oldenberg^^), specialmente
della ripresa che altri negli ultimi tempi ne ha tentata per quel che
concerne le origini del Pitagorismo^^). Non solo le notizie sul viaggio
di Pitagora nell' India sono assai poco autorevoli, e, come lo Schroeder
stesso riconosce, determinate da quel sentimento di sorprendente
accordo che i Greci nello scoprire l'Oriente, vi rinvennero colla filo-
sofia ellenica; ma il Pitagorismo e un fenomeno che s'accompagna
con un movimento generale della vita greca al principio del sesto
26) M. Jacobi in Sitzungsb. der K. Pr. Akad. d. Wiss. 1914 Nr. 35.
2^) Deussen, Das System der Vedanta p. 330, 2. Aufl. 1906; Rohde,
Psyche, 3. Aufl. II, 149.
-*) Oldenberg, ,,Die indische Philos." in Kultur der Gegenwart
I, V p. 52 (1913).
-"•*) iSchroeder, Pythagoras und die Inder 1884; Garbe, Samkj'a-
Philosophie, 85 segg. 1894.
214 Alessandro Chiapclli,
secolo, specie nclle popolazioni doriche, e sebbene quasi conteiiipo-
raneo alla riforma buddliistica nelT India, trova una adeguata ragione
nelle condizioni storiche del tempo. Analogie molteplici nei parti-
colari coi testi brahmaniei vo nc sono, ed alcune anche singolari e
curiose: ma tali sempre che, o possono derivare da coincidenze del
pensiero di due popoli indipendenti e lontani: o, avendo i precedenti
nella Grecia medesima, noii iinplicano una derivazione dall' India,
0, infine, sono ricavati da docunienti della letteiatura indiana la cui
etä e incerta, quando anche non fanno fede, invece, della int'luenza
greca sulla cultura scientifica e filosofica, delli India^).
Esclusa cosi la possibilitä d'una filiazione della filosofia cllenica
da civiltä cosi lontane, la questione si determina circoscrivendosi
a quelle che storicamente ebbero attinenze, piü o nieno dirette e a noi
cognite, colla Grecia fino da una etä precedente al sorgere delle prime
forme del pensiero scientifieo: da un lato l'Egitto, e dall' altro la
cultura assiso-babilonese, dopo Giro confusa dolla Persia.
Se non che anche qui bisogna definire in quäl forma si pote eser-
citare questa azione, e in quäl n isura si possa dire di possedere argo-
menti probativi e decisivi. I termini del paragone o del rapporto
storico, la mitologia e Fintuizioni religiöse o anche le primitive cogni-
zioni fisiche, matematiche e astronomiche da un lato, le concezioni
filosofiche propriamente dette dalF altro, sembrano, difatti, cosi
diversi che non si possa parlare delF efficienza degli uni e della dipen-
denza ideale degli altri. Se non che, come l)ene osserva il Wundt^^),
in questo che si puö dire periodo preistorico della filosofia, i confini
fra quello che e intuizione mitico o religiosa e ciö che puö dirsi rifles-
sione scientifica e speculazione sono cosi incerti, che i due elementi
spesso si compenetrano e fondono insieme. La forma iniziale in cui
11 pensiero filosofico greco si annunzia sta. difatti, fra la religione
e la scienza. I primi mitografi, Ferecide, Epimenide, gli autori ignoti
delle teogonie orfiche piü antiche, come la rapsodica, sono, in certo
modo, i primi filosofi, come quelli che danno una raffigurazione
sintetica del processo cosmico : mentre i primi fisiologi dell' Jonia,
^") iSulIa quäle confronta Weber, in Sitziingsber. der Berlin. Akad.
1890 e Goblet d'Alviella, Ce que l'Inde doit ä la Grece. Paris 1897.
^^) Wundt in AUg. Gesch. d. Philos., nella Kultur der CJegenwart
1, V p. 2, 2 ed.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Oreca. 215
come oggi la critica riconosce^^), non ci danno la loro dottrina cosmo-
logica se non in forma cosmogonica, quasi una narrazione epica della
genesi e dello svolgimento delle cose. Teogonia da una parte, cosmo-
gonia dair altra, sono due forme che si confondono: poiche sotto
i nomi delle deitä si nascondono i grandi fenomeni naturali; e il pensiero
scientifico altro non ha da fare che sciogiiere il nucleo razi'onale da
quel velo mitico e rappresentativo che lo avvolga e lo occulta, per
procedere sicuro e indipendente nelle sue vie, ed elevarsi ad una rap-
presentazione puramente razionale della totalitä delle cose e delle
relazioni naturali che intercedono fra esse.
Per raggiungere questo segno di una speculazione indipendente.
alla mente greca era naturale il valersi delle lunghe esperienze degli
altri popoU, dai quali aveva accolti ed elaborati tanti elementi di
cultura. I grandi sistemi religiosi dell' Oriente e le osservazioni mate-
matiche'e specialmente astronomiche di civiltä tanto piü antiche,
costituivano il fondo su cui poteva disegnare liberamente il proprio
lavoro. A suscitare il quäle poterono grandemente due grandi eventi,
fra i quali cronologicamente intercede ilprimo fiorire dei sistemi greci;
l'aprirsi dei porti sulF Egitto al commercio dei Greci sotto Psammetico I
verso la fine dei VII secolo, e con esso la rivelazione piü diretta e
piü compiuta di quella antichissima civiltü ai sapienti greci, e l'avan-
zarsi verso l'Asia Minore e ai centri della cultura greca che giä vi erano
in fiore, della potenza persiana, le quäle portava seco oltreche la cono-
scenza della religione Zoroastrica, anche i frutti dell' antica sapienza,
specialmente astronomica, assiro = bal)ilonese. Noi siamo ben lontani
dair indulgere alla moda di quelli che oggi si chiamano i ,,Pan-Babilo-
nisti". Ma non e dul)bio che giä millennii prima dell' era volgare
i Caldei avevano costruito un sapiente e profondo sistema di crono-
logia, il quäle esercitö grande autoritä sui popoli circostanti; e che
l'azione loro sullo svolgimento intellettuale e religioso dell' antichitä
dassica fu considerevole. Creatori della cronologia e dell' astronomia,
contribuirono ad allargare nel senso rehgioso il nuovo concetto dei
■'*') cf. Ai-nim, in Allgemeine flesch. der Philosophie, nella ,, Kultur der
Gegenwart dell' Hinneberg", Teil I Abt. V 2. Aufl. Leipzig-Berlin 1913 p. 97 ;
A. Fischer, Die Grundlehren der vorsokr. Philcs., nella collezione Große.
Denker. Leipzig 1912 I 16 segg. ; Deussen, Die Philos. der Griechen.
Leipzig 1911 p. 38, e la mia Memoria su Talete e l'Egitto negli Atti dei Con-
gresso internaz. di Scienze Storiche 1903 e 1' altra lett. ivi citata.
21(i Alessaiulro Chiapelli,
niondo, trasfiguraiulo l'astrologia coiiie \m inotodo tipico di divina-
zione. Le recenti iiidagini del Cumoiit, da liii segnatainente esposte
iielle American Lectures di Storia dellc Keligioni, hanno bene
illustrato questo punto di attinenza ira la cultura Orientale c Fücci-
dentale.^^) Di contro alla religione oraerica ed ölinipica,profondaniente
nniana e idealmente estetica, la deificazione dei corpi celesti riappare
dair antico fondo Orientale e specialmente ealdeo, come im fatto
isolato e degno d'esser segnalato, nel pensiero dei filosofi, fino dai
piü antichi fisici lonici. Anche agli antichi Pitagorici i corpi celesti
appaiono esseri divini, moventisi in corale arnionia ed animati da nn
anima eterea che informa Tuniverso e governa anche l'anima umana. |
Onde Anassagora fu accusato di ateismo per avere asserito che il
sole non e che una massa incandescente e la luna una terra deserta,
Oltre il demiui-go, Piatone riconosce queste „visibili deitä'' che sono
gli astri, di guisa che l'astronomia diviene anche per lui quasi una
scienza sacra; e lo. stesso rivale di Piatone, Aristotele, magnifica la
divinitä delle stelle, che sono per lui eteree sostanze e principio di
movimento; dottrina questa che, comee noto, dominö poi nelmedio
evo occidentale.
Certo, questa teologia siderale era come un tentativo di concilia-
zione fra il politeismo popolare. praticamente indistruttibile, e il
puro monoteismo, a cui i filosofi tendevano. Per giungere a questo
bisognava, come Senofane, combattere Tidea antropomorfica, e, come
Eraclito, la concezione teogonica. Gli astri non hanno sembianze
umane, come gli Dei ellenici, e sono ingenerati. L'incessante ed ordi-
nato loro movimento nei cieli dimostra che sono esseri viventi, e Teterna
immutabilitä delle loro orbite li rivela diretti da una divina ragione.
Ma questo tentativo di riforma della religione popolare pare avere
avuta rispirazione prima dall' esempio di nazioni orientali. I Greci
che avevano accolti i principi fondamentali della loro uranografia dai
Babilonesi, con questi ne derivarono anche il motivo deha loro teologia
siderale. In una lontana etä FEllade aveva ricevuto dalF Oriente
il sistema di misurazione. duodecimale e sessagesimale. del tempo
e delle cose materiah: e il metodo di divisione del giorno gli Joni
derivarono dagli Orientali. Parimente coli' uso di primitivi istru-
^^) Cumont, Babylon und die griechische Astrologie (Neue
Jahrb. f. das Klass. Altertum XXVII) (1911); Astrology and Religion
among the Greeks and Romans. Xew York and London 1912 p. 86 segg.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 217
menti come lo gnomone (Herod. II, 109) venne dalla Mesopotamia
l'idea fondamentale della topografia Celeste: reclittica, i segni dello
Zodiaco, e piü tardi anclie la conoscenza del periodico ritorno delle
eclissi, che i Babilonesi conoscevano giä col nome di Saros^*) ereditato
forse dair Egitto.
A questa prima trasmissione di conoscenze positive corrisponde
la prima introduzione, nei sistemi greci, deUe idee mistiche che gli
Orientali vi associavano. Anche se dubbie sono le tradizioni che
fanno Pitagora discepolo dei Caldei, pare che il suo sistema dei numeri
e delle figm^e geometriche rappresentative di certe divinitä, abbia
im carattere astrologico d"origine Orientale. Se il dodecagono e dai
Pitagorici chiamato Zeus, ciö e perche questo pianeta divide il circolo
Zodiacale in dodici parti, cioe lo traversa in dodici anni. Questa ed
altre consimili importazioni scientifiche e religiöse si riferiscono ad
un periodo in cui le cittä commerciali della Jonia si aprivano appena
alle influenze asiatiche.
Ma i segni di queste infiltrazioni Caldee sono visibili anche quando
il pensiero greco, dopo il periodo delle guerre persiane, aveva conse-
guita la sua autonomia. Certi fatti venuti da poco in luce, stanno
realmente ad indicare che le relazioni, dirette o indirette, fra i centri
della sapienza Babilonese e della cultura greca non vennero mai nieno
interamente. Certo e tradizione favolosa quella che attribuisce a
]\Ietone il ciclo di diciannove anni, che dovrebbe costituire un accordo
periodico fra Fantico anno hmare e le rivohizioni solari; scoperta che,
sostituendosi all' antico octaeteris (ciclo di otto anni), rivelata
agli Ateniesi nell' anno 432, a\Tebbe suscitata una tale ammirazione
da determinare il decreto d'iscrivere nell' agora in caratteri d'oro
i calcoli di Metone. L'uno di questi sistemi era giä in uso in Babilonia,
come resulta da documenti del sesto secolo, e l'altro, quello di Metone,
appare in iscrizioni babilonesi del quarto secolo che, senza dubbio,
si riferiscono a tradizioni ben piü antiche. Ma quel che piü monta
c che mentre nell' antica Ellade. come resulta dai canti Omerici
i cinque pianeti conosciuti neU' antichitä avevano il nome loro dai,
loro caratteri CEcoocfOQog, "EoxeQog, tlvoöeig etc.) dopo il quarto
3*) Tannery, Pour Thist. de la !Sc. hellene 1887; Teichmüller in
Gott, gelehr. Anzeigen 1880, 34; Milhaud, L'origine de la science
grecque 1893.
218 Alessandro Chiapelli,
secolo acquistano nomi di divinitä; e i pianeti divengono le stelle di
Hermes, di Afrodite, di Ares, di Zeus, di Kronos. Ora questo, come
ha rilevato il Cuinont, par dovuto al fatto che in Babilonia questi
pianeti erano respettivamente dedicati a N e b o , I s h t a r , N e r g a 1 ,
Marduk. Ninib. I Greci sostituirono alle divinitä barbare le
deitä nazionali che con quelle apparivano affini: e cosi l'infiltrazione
didee esotiche, le idee del culto semitico degli astri, determine un
mutamento ignoto all' antica mitologia ellenica.
Quello che per il nostro argomento e piü notevole si e Tapparire
di alcune peculiari credenze della religione siderale di Babilonia
nelle dottrine dei filosofi. La triade Celeste di Sin. Shamash e d'Ishtar
(la luna, il sole e Venere, il piii brillante tra i pianeti), regolatori dello
Zodiaco, appare in Babilonia giä nel quattordicesimo secolo avanti
l'era volgare. Ora la stessa associazione di questi tre massimi pianeti
s'incontra inaspettatamente in un frammento di Democrito^^), come
si ritrova piü tardi fra i Romani. Come giä notammo, TEpinomide
platonico rivela Finfluenza del culto astrale dell' Oriente. In questo
breve dialogo appariscono le linee fondamentaü d'una dottrina astro-
logica che Tautore stesso attribuisce ai Sirii: onde non senza qualche
ragione il Cumont Tha potuto chimare ,,revangelio predicato agli
Elleni della religione stellare dell' Asia"^^). Che la scienza in generale
sia un dono divino e la matematica specialmente sia stata rivelata
agli uomini da Uranos per mezzo delle sue periodiche rivoluzioni:
la dimostrazione che gli astri sono animati e divini, e che fra
le divinitä celestiali e la terra una gerarchia di spirito aerei
opera e si muove: l'affermazione che Fastronomia e la perfet-
tissima fra le scienze, ed e come una teologia; che la contemplazione
Ventura dei celestiali splendori, sarä la fehcitä suprema: tutto questo
ha un carattere essenzialmente Orientale. AI che si aggiunga un
particolare molto significativo. DagH astrologi Babilonesi. Saturno e
considerato quasi il sole della notte^^), come l'Jastrow ha dimostrato.
^5) Diels, Fragm. der Vorsokratiker l'^ p. 367; Alex, in Arist.
Meteor. 26, 11; cfr. Ptolom. Appar. 275, 1 (Diels I, 391); Doxographi
graeci 344.
^®) Cumont, Astrology and Religion among the Greeks 1912
p. öl.
^') Jastrow, Revue d' Assyriologie VII 1910 p. 163 segg.
L' Oriente e le Ürigini della Eilosofia CIreca. 219
e come, del resto, giä Diodoro sapeva (II, 30). Ora nell' Epinomide
platouico noi troviamo nella enumerazione dei pianeti, che il minore
di essi porta, secondo alcuni popoli, il nome di Helios; il che certo
e un riferimento alle idee babilonesi^*^). Ne tutte queste idee cessa-
rono di esercitare la loro influenza nella scuola platonica. E come
Senocrate, pel quäle Tastronomia e pure una scienza sacra, svolgerä
la dottrina demonologica, cosi F eclettico Pcsidonio celebrerä le stesse
opinioni; ed un altro seguace di Piatone l'astronomo Eudosso di
Cnido (Cic. De Divin II, 42, 87) pur riprovando la divinazione stellare,
mostrerä la sua perizia nelle dottrine caldee.
Non solo, adunque, nell'etä eUenistica, cioe dopo la conquista
d'Alessandro, ma ben prima questa teologia astrale era penetrata
dair Oriente nelle scuole filosofiche greche. E con essa, come noi
sappiamo da altre parti, uua seria di nozioni scientifiche sul corso
dei fenomeni celesti, e specialmente delle perturbazioni lunari, che
avevano posto in grado, molto prima di Talete, i Babilonesi di predire
il periodico ritorno delF eccüssi^^). Le scrizioni cuneiformi, inter-
pretate dal Kugler, danno oggi una sicura conferma di quello che
Ipparco sapeva dei calcoli Babilonesi sui periodi lunari. E se oggi
conosciamo i nomi dei sacerdoti Caldei dai quali nel terzo secolo av,
6. Ipparco pote apprendere quelle notizie, e ben ragionevole il credere
che per consimile via le tradizioni di Babilonia fossero cognite ai
primi fisici ionici. I semi della cultura Orientale portati neU' Occi-
dente ellenico eran d'altronde, di varia natura. Noi sappiamo oggi
che non le sole cognizioni scientifiche penetrarono in Grecia, anche
per via indiretta, dalla civiltä Orientale. II Diels ha mostrato recente-
mente come le noveUe satiriche da cui derivano le parole ripetute
nei Giambi di Callimaco e dai successori l'Esopo, erano favole giä
popolari in Assiria^*^) e i papiri aramaici del V Secolo trovati dalSayce
e dal Cowley in Elefantina (alto Egitto) ci dimostrano che il romanzo
d'Akicharos, passö dalF Eufrate (assir-bab. Ahi-akar) alle comunitä
giudaiche delFEgitto (donde il motivo del libro di Tobia) e si diffuse
38) Plat. Epin. 987, <J.
^*) Bezold e Boll. Reflex astrol. Keilinschriften bei griech.
Schriftstellern (Abhandlung. Heidelberg. Akad. 1911); Cnmont, Babylon
und die Ciriech. Astron. p. 6 segg.
*") Diels, Orientalische Fabeln in griech. Gewände (Internatio-
nale Wochenschrift f. Wiss., G. Aufl. 1910); Vorsokr. H^ 727.
220 Alessandro Chiapclli,
nella Grccia dove Teofrasto lo accolse, eternando la figura del savio
Achicharos'*^).
A piü viciiie fonti il primitivo pensiero filosofico degF loiii
poto piü tavdi attingere quando lo Colonie greehe del littorale
deir Asia Minore caddero sotto la potenza persiana. Giä iiui
trovianio Talete vaticinatore agl' loni delF eclissi solare, avvenuta
durante iina battaglia fra i Lidi e i Medi: piü tardi rinflueiiza
del Parsismo e dello Zoroastrismo appaiono specialmente iiei frani-
meiiti Eraclitei. Dopo la conquista persiana della lonia, la cultura
greca delF Asia fii, e vero, dispersa e quell' avvenimento dette come
il segnale dell' emigrazione ellenica verso l'occidente, dove si tras-
ferirono i lunii intellettuali del mondo greco: antesignani due pen-
satori Pita2;ora e Senofane, fondatori dei sinedii filosofici della Masna
Grecia. Ma l'aristocratico e solitario Eraclito (a non parlare di Me-
lisso di Samo che nell' Jonia Orientale continua Fopera dei filosofi
italioti'*^) rimasto, come pare, in Efeso, trae motivi e ispirazioni al
suo pensiero dalle idee religiöse delle civiltä circostanti. II paragone
fra le diverse concezioni religiöse, tanto piü se in alcune parti con-
trastanti, apriva natnralmente la via a vedute nuove ed acuiva il
pensiero. In altro mio lavoro cercai di niostrare (e nessuno mi ha
convinto di errore) che le intuizioni di Eraclito si presentano in niolti
punti, non come ima adesione, secondo aveva creduto il Teichmüller,
nia come una critica della religione e della sapienza egizia, mentre
hanno una visibile affinitä colla religione Zoroastrica, nella premi-
nenza data al fuoco (jrvQcalCcoo) come forza animatrice e dis-
truggitrice del mondo, a tutte le manifestazioni ignee della natura,
nel dispregio dei cadaveri, e in vari altri punti che qui non e il caso
di ripetere^^). Ne puö far meraviglia questo afflato religioso del
TEraclitismo, e questa penetrazione della cultura religiosa persiana
in Efeso, se pensiamo, che, da un lato, Eraclito era addetto al San-
tuario efesino d'Artemide e fu in rapporto con Ke Dario, ardente
*^) Sayce and Cowley Aramaic Papyri discovered at Assuan,
London 1906; cfr. Rauschen, Neues Licht aus dem alten Orient.
Bonn 1913 p. 41 segg.
*-) V. la mia memoria Sui Frammenti e Dottrina di Meüsso, Atti della
R. Acc. dei Lincei 1890.
*^) V. la mia memoria „su alcuni frammenti di EracUto" atti della
R. Accademia di Scienze Morali e pol. di Napoli 1887.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 221
seguace della religione Zoroastrica, e specialmente cultore di Ahuia-
Mazda^*) come appare dalle iscrizioni che a liii si riferiscono; e, dal-
r altro, che Serse, prima della spedizione in Grecia, mandö i suoi
figli a sciogliere un voto alla divinitä ellenica nell' Artemision di
Efeso. In questa religione del fnoco e del Die Celeste, propagata
anche nelFAsia Minore dalla casta sacerdotale dei Magi, il pensa-
tore efesio trovava il motivo fondamentale della sua speculazione:
dacche il fuoco che genera la vita e insieme la consuma e il simbolo
vivente di quella unita degli opposti e di quel perpetno mutamcnto,
che e l'idea madre della sua dottrina.
L'altro centro a cui convien rivolgersi se vogliamo aver luce
sui primi movimenti della riflessione filosofica greca e, certamente,
TEgitto. Mentre la sapienza Babilonese e poi la religione persiana
avevano esercitata su queg-rinizi di un pensiero che poi si svolse
con si potente e creatrice originalitä una azione indiretta emeno
profonda, la cultura egizia fu dapprima esemplare alla scienza
greca, quando questa muoveva i primi passi sulla gloriosa sua
\Ta. Che da qualehe iscrizione geroglifica. da qualche allusione
dell'Odissea a combattimenti avvenuti sulle foci del Nilo, o da
qualche indicazione d'Erodoto, apparisca che i Greci, in etä assai
remota, avessero cercato di stabilirsi in Egitto, poco importa al caso
nostro. Quella specie di disdegnoso isolamento in cui gli Egizi si
erano mantenuti, specialmente di fronte ai popoli piü giovani, per
lungo ordine di secoli, aveva fatto si che solo qualche notizia iso-
lata di quelP antichissima civiltä, rimasta cosi lontana e misteriosa,
poteva esser pervenuta ai Greci prima del VII secolo. Quando i JMi-
lesii, stabilitisi a Nancratis, aiutarono Psammetico I a liberarsi dai
nemici interni e a salire al trono dei Faraoni, questi apri per la prima
volta ai Greci i porti dell' Egitto. Con tutto Fardore e l'impeto d'un
popolo giovine ed operoso, i Greci specialmente dell' Asia Minore
non solo portarono i loro prodotti commerciali in Egitto, e presero
parte ai grandiosi lavori di costruzioni e di apertura di canali che
sotto Psammetico e poi sotto Necho ed Amasi vi furono eseguiti,
**) cfr. oza Morilton, Early Zoroast rianism (Hibbert Lectures 2Ser.).
London 1913 p. 56 segg.
222 Alessandro Chiapelli,
ma doverono sentirc acuita la loro congenita curiositä a penetrare
nei segreti di quel paese rimasto fino ad allora misterioso, e ripor-
tarno una inipressione profonda. Non occorre ricordare le testimo-
nianze d'Erodoto e di Piatone, o le notizie dei frammenti dello storico
e geografo Ecateo di Mileto, per convincersene. Basta riflettere
che da qiiest' epoca comincia veramente sul suolo della lonia a fiorire
il pensiero e a fervere Fopera scientifica. Verso la fine del Settimo
Secolo sorge ViiQ/riytTt^Q della filosofia greca. Talete; e nel sesto
gli altri Milesii Anassimandro e Anassimene, Pitagora di Samo, Seno-
fane di Colofone, tutti di origine lonica, gettano le prime fondamenta
della speculazione filosofica. Le colonie greche di Mileto, di Efeso,
di Colofone, di Clazomene, lungo il littorale delF Asia Minore, sono
i centri ove dapprima si desta lo spirito della scienza, cioe qnelli che
erano in piü diretti e continui rapporti specialmente con Menfi e
con Tebe.
Ora in una Memoria da nie presentata al ("ongresso Storico inter-
nazionale undici anni orsono, credo di aver dimostrato conie nella
cosmologia religiosa deir antico Egitto, quäle risulta dal Libro dei
Morti e dalle iscrizioni di vari sarcofagi e tombe e da testi ieratici
egizi, vi sono tutti gli elementi fondamentah di quella cosmogonia
che gli antichi attribuiscono a Talete, uno dei primi visitatori Greci
della terra del Kilo, cioe la sua, per cosi dire, teoria sulF origine nettu-
niana e talassica della terra e della vita, e in generale di tutte le cose,.
come l'altra sua opinione animistica, secondo la quäle tutte le cose
sono animate da forze divine, o, per riprodurre Tespressione attri-
buitagli dalle antiche testimonianze. tutte le cose sono piene di di-
vinitä"*^).
Quel niio raffronto fra le opinioni del prinio cosmologo greco
e l'Egitto ha ripreso recentemente in esame l'Amelineau'*^): il quäle,
se non ha aggiunto alcun nuovo elemento di comparazione, vi ha
portato la conferma della sua autoritä di grande egittologo. Ne fa
meravigiia che anche altri dotti come l'Jacobi e il Cumont abbiano
recentemente esteso questi raffronti. I cosi detti naturalisti preso-
*^) Aless. Chiappelli, Gli elementi egizi nella Cosmogonia di Talete
negli ,,Atti del Congresso Storico Internazionale". Roma 1903
*®) E. Amelineau, LaCosmogonie de Thaies et les Doctrines de TEgj-pte
in Revue de l'hist. des Religicns (Annales du Musee Guimet). Paris 1910.
L' Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 223
cratici non sono, difatti, veri e propri fisici: e sebbene nmovano da
osservazioni concrete e da esperienze natiirali come da calcoli mate-
matici proiettano la loro primitiva concezione del mondo sopra un
fondo dldealitä religiosa^"). E come gli lonici, da Talete a Eraclito,
si rappresentano 'il mondo come alcunche di vivente e di animato ;
cosi Anassimandro, con evidente reminiscenza Orientale, forse di tra-
dizioni Babilonesi ginnte fino ai oentri dell' Asia Minore, considera
il processo cosmico come nna espiazione d"una oscura colpa origi-
nale, che Empedocle snppone propria del genere umano, Anassimene
indovina nel mondo un divino alito onde la materia respira, e ai Pita-
gorici l'universo suona come una immensa armonia musicale, dove
Tanime vanno migrando. L'idea Orientale, e piü specialmente egizia,
dell'analogia fra Forigine cosmica dall" acqua fondamentale e il quoti-
diano sorgere del sole dalFimmenso seno del mare si prolunga ed
ha i suoi svolgimenti in Anassimandro, in Senofane, forse in Par-
menide e in Empedocle, fino ad Ippone d'Ehde, contemporaneo di
Pericle. E come molte ragioni fan credere che altre dottrine greche
primitive, come la simbolica dei numeri nel Pitagorismo, e la dot-
trina Empedoclea dei quattro elementi, abbiano la loro scaturigine
prima nelF antica religione delF Egitto^^), cosi Fantichissima teoria di
Anassimene e dei primi Pitagorici deUa respirazione cosmica deriva
da quella stessa sorgente. Giä questa torpia antropomorfica pare
cosi estranea al pensiera greco da far supporre non meno di quella
della metempsicosi, una provenienza straniera. Ma chi confronti il
cosi detto „Libro della Respirazione"' (Shait en sensen) pubblicato
per la prima volta dal Brugsch, e il papiro Kerasher edito dal Budge
(The Book of the Deadj^") si persuaderä agevolmente che quella
singolare intuizione era tradizionale nelFantico Egitto, e che Fin-
contro non puö essere qui accidentale: come non puö essere senza
qualche fondamento. checche ne pensi il Rohde^"), che Erodoto in
due famosi luoghi (II, 81 e II 123) deri\1 la dottrina orfico-pitagorica
■*■) Joe], Über den Ursprung der griech. Naturphilos. aus
dem Geist der Mystik 1907.
^8) Jacobi, Philos. Jahrbuch 15. Bd. (1902).
*^) WalUs Budge, The Book of the De ad (Facsimile of the Papyi
of Hunefer, Kerasher and Xetchennet). Lenden 1899 Plate VIII p. 28—33,
5«) Rohde, Psyche, 3. Aufl. 1903 II 107, 134; Gomperz, Sitzungsber.
der Wiener Akad. 1886 p. 1032; Maas, Orpheus (1895) p. 165.
224 Alessandro Chiapelli,
della migrazione deiranime dairEgitto. e ponga sulla stessa linea
gli orfici. i Pitagorici cogli egiziani.
Ora non par duhbio che la religione dei Misteri o rOrfisnio, nei
loro diie cicli niitici fondanientali, di Demeter e Persefone e del tracio
Dionysos, rappresentino forme di culto e di dottrine che per molti
elementi si rivelano oris-inariamente di earattere straniero alle tra-
dizioni religiöse nazionali, trapiantate poi sul suolo ellenico. e si col-
leghino a qiiei dilti di fhoi ^srr/.oi di cui ci parlano testimonianze
di scrittori ed iscrizioni antiche; da ima delle quali (C. I. A. 2, 168)
sappiamo d'un tTjq "laidog Isqov fondato in Atene da una colonia
Egiziani). Ora anche pel tramite di questa religione dei Misteri, sia
dei Misteri Eleiisini esistenti giä all' etä dell' inno omerico a Demeter,
e si degli Orfici i quali. nonostante l'opinione dell' Hauck^^j risalgono
giä probabilmente fino al VI secolo, lo spirito dell' Oriente penetrö nel
pensiero Greco. Giova notare in tal proposito, che la trasformazione
deir antico mito dell' novo cosmico nella Teogonia rapsodica degli Orfici.
come ha riconosciuto il Gomperz^^), non avvenne senza Influenza stra-
niera e specialmente egizia. Poiche questo mito che i Greci avevano in
comune coli' India e colla Persia, coi Fenici, i Babilonesi e gli Egiziani,
ha presso di questi particolaritä che piü lo ravvicinano all' Orfismo.
La creazione dell' uovo cosmico dall' acqua originaria per opera del
Dio luminoso (Ra, o Osiris) o del Dio Ptah come apparisce nei papiri
magici^*), dimostra una cosmogonia religioso-filosofica che conteneva
in se gli elementi e della cosmogonia fisica di Talete (secondo che
altrove ho dimostrato) e della cosmogonia mitica degli Orfici. Cosi
anche la leggenda Orfica conosceva quella natura bisessuale delle
divinitä che troviamo nel mito egizio e in Babilonia: ed anche Eudemo,
51) cfr. fra gli altri de Jong, Das antike Mysterienwesen 19Ü9,
9 segg.; Gruppe, Griech. Mythologie und Religionsgeschichte II
(1906), 1670; Farnell, The Cults of the Greek states III (1907), 198 segg.
Giemen, Der Einfluß der Mysterien-Religion auf das alt. Christ.
Gießen 1913 p. 4 segg.; Foucart, Les Mysteres d'Eleusis. Paris 1914.
^^) Hauck, De hymnor. orphic. aet. 1911.
53) Goniperz, Griech. Denker I- p. 75 segg., contro il quäle mi pare
poco persuasiva la prctesta del Burnet, Early greek philo s. (trad. ted.
1914 p. 16).
5^) Dieterich, Papyrus Magica, in Jahrbücher f. Philologie. Suppl.
XVI, 773; Ermann, Ägypten 253.
L'Oriente e le Origini della Filosofia Greca. 225
il discepolo di Aristotele. sapeva^^) che la dottrina dei Magi, cioe
la religione Zoroastrica, aveva in comiine colla teogonia rapsodica
il principio del tempo infinito (Zervaii-Akarana, Chronos).
Mentre perö le teogonie Orfiche piü antiche furono uno dei tra-
miti onde le tradizioni e intuizioni orientali penetrarono nella primitiva
fisica greca, l'Orfismo e la religione dei Misteri eleusini, che da esso
ai primi del sesto secolo ebbe irapulsi ad Intimi mutamenti spirituali,.
checche ne dica ora il Foncart^^), per virtü del loro contenuto etico-
religioso poterono piü specialmente nel preparare il terreno alla rifles-
sione niorale cosi dei grandi poeti lirici e tragici come, piü tardi^
deir epoca dei Sofisti e di Socrate; nonostante che traccie di dottrine
Orfiche, come riconoscono anche il Diels, il Kern ed altri, giä si tro-
vino in Eraclito, in Empedocle, per non dh'e dei Pitagorici.
Tntto questo nondimeno concerne, in ogni modo, iina forma
di aziome indiretta dell' Oriente snlle origini del pensiero greco:
argomento che merita una speciale ricerca, diversa da quella che ci
occupa qni^"). I resultati della quäle se sono, some speriamo, in-
controvertibili, giovano anche a determinare i limiti e il senso di
codesto influsso Orientale, e specialmente egizio, sui primi moti del
pensiero filosofico greco. Non vi ha dubbio, difatti, che agl'insegna-
menti degli astronomi Babilonesi, dei sapienti egizi e ai suggerimenti
e motivi che poterono venire dai loro testi sacri,i Greci seppero dare
quella sovrana ed originale espressione sintetica da cui s'inizia l'opera
Vera della scienza e della filosofia, nell' atto in cui si disciogiie cosi
dalla tradizione religiosa e dal mito, come dalF empirismo delle cogni-
zioni astronomiche e matematiche, volte all' uso della vita.
Ma codesti primi albori del nuovo spirito speculativo non son
che riflessi della luce di quell' antica sapienza Orientale, che ancora
circonfusa di poesia reügiosa, era apparsa dalla VaUe del Xilo come
in quella dell' Eufrate. Da quei due grandi centri di cultura, prossimi
all'Ellade sacra, vennero i primi impulsi ai piü antichi pensatori greci,
che li seppero accogiiere ed elaborare con feconda e creatrice genialitä.
Certo, gl'inni religiosi, i testi ieratici, le cosmogonie mistiche, non
''^) Eudemi, Fragmenta ed. Spengel p. 171 segg.
^^) Foucart, Les Mysteres d'Eleusis p. 251 segg.
") In parte intrapresa giä dal Gruppe, Griechische Kulte und
Mythen I 1887.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 2. jg
226 Alessandro Chiapelli.
sono ancora i sistemi di fisica o di filosofia della natura: come gli
splendori antelucani non sono ancora Taiirora e il solc Oriente, e il
seme non e ancora la pianta. Ma quelli s})lendori delF alba son pure
preparatori e prenunziatori del giorno: e dal seme la pianta gerniina
prima che fiorisca e fruttifichi nella pienezza dell" aria e nell' aperta
luce solare. I Greci, questi figli gloriosi, questi divini alunni degli
„antichi incKti padri" riconoscevano (e lo cantö un loro poeta, Alceo)
che „dal padri e l'apprendimento"^^) e sapevano che dall' Oriente,
anche nel mondo della storia e della civiltä umana, venne sempre la
prima luce.
58
) Fr. 150 (B) un' nuTigor /jidd^og.
I
i
Jahresbericht über die Philosophie im Islam.
Von
Prof. Dr. Horten in Bonn.
(Fortsetzimg. )
Das unter Xr. 8 (S.98) genannte Werk Schiräzis, die Erkenntnisse^), liegt
in einer Lithographie von Teheran (o. Jahrg. 210 S. kl. 8) vor. Sie bildet einen
Sammelband, dessen Inhalt 8. 210 wie folgt angegeben wird : 1. Abhandlung:
„Die Erkeimtnisse" von dem Vorkämpfer der Theologen (sadr almutaaUihin)
mit vielen Glossen von bekannten Gelehrten z. B. MoUa Ali Xüri, Molla
Ismail al Tsfahani und Mirza Ahmad al ardakani (?), auch Schirazi genannt.
Er ist wohl derselbe Alunad (ca. 1650) der mit Schirazi (Sadr) die Glossen zur
Metaphysik AAicemias schrieb (vgl. Archiv XXII 392, 20). Daneben laufen
Glossen des Verfassers (Schirazi) und Erklärungen, die er dem Fürsten der
Theologen Aga >Drza abul Hasan und anderen entnahm. 2. ,,Das praesente
(primaere) und erworbene Wissen"-) von Tasi (1273 t; fehlt Brockl. I 508 ff.)
enthalten in einer Glosse des Sadr (Schirazi) zu den „Erkenntnissen"
(maschair). 3. ,,Der Xachweis für das zeitliche Entstehen der Welt" von
Tankäbti (\'iell. 1700; elschaih Husain el-Tankäbti) enthalten in einer Glosse
Schiräzis zu den ,, Erkenntnissen". 4. Über den Thron Gottes (d. h. die höchste
Mystik) von Schirazi 1640 und Kommentar über den Thron Gottes (d. h.
Mystik) von dem Professor (ahünd) MoUa Ismail, Isfahäni (ca. 1700)
enthalten in einer Glosse zu Schiräzis Werk ,,Der Thron Gottes" (Mystik).
„Bereits früher wurde der Druck des erwähnten (mystischen) Kommentars
{des Ismail) vollendet in Verbindung mit der Schrift des Arabi (1240 f; Br. I
443 Xr. 14) „Der Vogel Greif" (ankä) und anderen mystischen Schriften.
Den vorliegenden Text haben wir des öfteren mit den alten Handschriften
verglichen, indem große Gelehrte uns unterstützten, unter diesen Aga Schaih
Muhammad Bäkir Kügäni (ca. 1890), der sich mit mir, Ahmad Schirazi
(ca. 1890) verband." Letzterer scheint ein reges wissenschaftUches Interesse
1) Almaschäir (Singl. almaschar) bedeutet zunächst die Sinnesorgane.
Schirazi bezeichnet mit diesem Terminus die philosophische Erkenntnis,
indem er denselben in der Bedeutung von Kapitel verwendet, z. B. der
erste maschar (S. 7): Das Sein erfordert (auf Grund seiner inneren Evidenz)
keine Definition; der zweite maschar: Die Art der Universalität des Seins
(ob es univoce oder äquivoce oder analogice von den Einzeldingen ausgesagt
wird); der dritte mascher: Dem Sein kommt es im vorzüglichsten Sinne zu,
ein reales Wesen zu besitzen usw.
'-) Fil ilm alladuni walkasbi.
15*
228 Horten,
entfaltet zu haben, denn von ihm stammen noch die folgenden Publikationen:
1. Kommentar des Caghmini (ca. 1700) mit vielen Glossen, die den alten Ge-
lehrten entnommen sind, und Abhandlungen des Schaichs Bahai und anderer i).
2. Kommentar zu Abhari (1264 f) von Molla Sadr, dem weisen und gottes-
gläubigen Lehrer (lilhakim almuwähhid ahünd molla; vgl. oben Nr. 7. Er
kann kein anderer sein als Schiräzi 1640 f, der Verfasser der ,,vier Reisen")
mit vielen Glossen von tiefsimiigen Philosophen (vgl. Archiv XXII 398 ff.)."
3. Kommentar des Koranverses über das Licht (Lure 24, 35). 4. Eine Glosse
von Gazali, herausg. von Härawi (Harawi; Molla Käzim Muhammad). 5. „Ab-
handlungen" von dem „Lehrer aller" (ustäd alkuU) Schaich Murtada al-Ansäri
(viell. 1520)-) mit der Abhandlung: Die Bedeutungen der Prinzipien (der
Religion) für die Untersuchungen über die Termini (,, Worte") und anderer
Schriften von ihm (fawäid alusül fimabahit alalfäz; fehlt Br.). ß. „Beredte
Weisheitssprüche über Metaphysik (und Theologie; badaji alhikam fil hikma
alilahija) in persischer Sprache. 7. Abhandlung über das in der Prädikation
(als Kopula) ausgedrückte Sein (fi tahkik ^vugüd — z. erw. elwugüd ■ — arräbiti)
von dem Metaphysiker Aga Ali almudärris (dem Lehrer: viell. ca. 1700).
8. „Darlegung der Grundsätze" (tamlaid alkawaid), handelnd über das Sein
im allgemeinen und den Nachweis seiner Existenz (fehlt b. Br., vgl. dort I 418
sub II 2) von Isfahani (viell. 1348 f); genamit Schamsalärifin wassalikin (Sonne
der Mystiker, der wissenden und der pilgernden), Säinaddin (Schützer der
Religion) Ali bn Muhammed, mit Texten von Könawi (Sadraddin; Br. I 449)
und vielen anderen Abhandlungen. 9. „Die Anbetung" (sahifat assagädija) mit
fünfzehn mystischen Unterhaltungen (munägät) und solchen über das Evan-
gelium von dem Meister der Betenden (saijid assagidin mit der Tradition
(über den Propheten) von Kisäi zugleich mit dem Kommentare zur „An-
betung" (scharh sahifat assagädija) der den Titel trägt: ,,Das Licht der
Lichter" (nm' alanwär; fehlt b. Br.) von MmataUa aus Algier (algasäiri) mit
dem Kommentare des Dämäd (fehlt b. Br.), dem Siegel (Schlußstein) der
Gelehrten (hatam alhukamä) und dem Kommentare und den Anmerkmigeu
(talik) des Molla Mühsin Kaschäni und dem „Garten des Neumondes" (hadikat
alhilalija), ein Kommentar des Gebetes der Propheten, als er den Neumond
erbhckte, einer Schrift des Bahai (fehlt b. Br.). 10. „Kritik der Urteile über
selbständiges Entscheiden (in religiös-juristischen Fragen) und Autoritäts-
glauben (tankid alahkäm fihgtihäd waltaklid) von Zangäni^) (ca. 1900), ge-
nannt Meister der Gelehrten und Jiuisten (saijid alulamä walmugtahidüi).
Beweis für die Wahrheit des Islam (huggat alisläm; vgl. denselben Beinamen ^
bei Gazäli) Mirza abu. Täub, Gott verlängere sein Leben (also ein noch lebender f|
Schriftsteller). 11. Von demselben Zangäni : Persische Übersetzung von ihn
Maskawaih (1030 f): Das Geschenk an die bekannten Gelehrten (tukfat alaräf).
^) Ein Bahai starb 1412 (Br. II 55). Er verfaßte eine Anthologie imter
dem Titel: „Die Aufgangsorte der Monde."
■-) Viell. Nazmizade 1706 Ethe Neupers. Lit. 347.
^) Ein Zangäni, der sich mit juristischen Fragen beschäftigte, lebte
ca. 1684 (Br. I 198 sub 8, b).
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 229
12. „Enthüllung der genügenden Beweise über den Konsensus und die Tra-
dition" (kaschf alkuna fil igmä' walmankül; fehlt b. Br. ; käni', der genügende
Beweis') von Tustari (Asadallah der Löwe Gottes). 13. Kommentar zu
„Der Siegreiche in der Religiosität" (Text u. Übers, unsicher, firüz — • i —
mjllija), der über alle Fragen des Gebetes handelt. Text und Kommentar
von „den beiden bekannten Gelelu-ten". Diese Xotiz findet sich nach dem
Kommentare des Schiräzi zu Abhari. Diese sind vielleicht unter den „beiden"
Gelehrten verstanden. Ein Werk dieses Titels ist von Abhari allerdings un-
bekannt.
„Die Erkenntnisse" behandeln folgende Probleme^): 1. Die Art, wie die
Gottheit die Individua und Universalia erkemit. 2. Der Beweis für die Existenz
der lichtähnlichen (d. h. geistigen, göttlichen; eine persisch-zoroastrische
Ausdrucksweise) Archetypen, die Plato in seiner Ideenwelt aufgestellt hat.
3. Die Xatm- der Verbindung zwischen Geist und Gedachtem, Sinn und sinn-
lich Wahrgenommenem. 4. Das Eii^fache verhält sich wie der Verstand (ist
notwendig Geist) und ist (im Erkennen) die Gesamtheit der existierenden
Dinge. 5. Die Summe des Seins ist eine einzige Substanz, die eine einzige
Individualität darstellt (metaphysischer Monismus; vgl. Spinoza). Sie besitzt
(mj'stische) Stationen und holie und niedere Stufen. (Die Ausführungen
stimmen S. 9 mit denen der Ringsteine Farabis Xr. 9 — 12 überein). 6. Das
1) Einen Damad 1659 t gibt Br. II 341 Xr. 32 an, der eventuell in Be-
tiacht kommen könnte.
-) Im Vorworte gibt Schiräzi seine mystischen Tendenzen kund:Dm'ch
das schöpferische Wort Gottes wird unser Eintreten in diese und jene Welt
bewirkt, indem die seelischen Fähigkeiten gereinigt werden (vom Karma;
indischer Einfluß), die einer Vervollkommung fähig sind, und dadurch,
daß die passiv sich verhaltenden Geister sich von den ihnen anhaftenden
Inhärenzien (maäni) und Zuständen befreien (die sie an diese Erde ketten)
um sich mit dem aktiven Intellekte zu vereinigen (neuplatonischer Einfluß),
geleitet dirrch das Licht philosophischer Beweise." „Weil das Problem des
Seins der Anfangspunkt der philosophischen Prinzipien und das Fundament
der theologischen Probleme wie auch der Pol ist. um den sich die Gottes-
erkenntnis ch'eht, haben wir es für angebracht gehalten, in diesem Werke,
das über die Prinzipien der Philosophie handelt, die Untersuchungen über das
Sein, das die Wurzel eines jeden Existierenden ist, anzustellen." ,, Unser
System ist keine dialektische Disputation nach Art des Kalam (der alten
orthodoxen und liberalen Theologie) noch Autoritätsglaube der ungebildeten
Menge, noch philosophische Spekulation, die (mühsam) untersucht, noch
auch Sophisterei, noch auch mystische (sufische) Phantasterei, sondern strenge
Argumentation, die auf Intuition beruht und durch den Koran als richtig
erwiesen wird." Dadurch bekennt sich Schiräzi als einen Schüler Sulirawärdis
(1191 f), oder wenigstens als in einer verwandten Richtung stehend. Der in.
der Lithographie wiedergegebene Schriftduktus ist durchaus identisch
mit dem der Handschrift Berlin, Minutoli 229 Ahlw. Xr. 5045, die die Meta-
physik Avicennas enthält.
230 Horten,
Sein ist dasjenige Fundament, aus dem die Wirkungen und Gesetzmäßig-
keiten der Dinge erwachsen. Es besitzt also im eminentesten Sinne Realität.
7. Das Sein ist nicht durch die Wesenheit der Dinge gegeben. 8. Das Sein
selbst existiert nicht als solches, sondern nur in Form der Wesenheiten der
Dinge. 9. Es gibt zwei Arten des Akzidens, das des Wesens und das des Daseins
(nach ihren Substraten so unterschieden), lü. Die Existenz des Akzidens
ist identisch mit seiner Inhärenz (S. 19). 11. Das Sein ist keine Substanz im
eigentlichen Sinne, noch eine Qualität der Wesenheit. Das Dasein jedes
Kontingenten ist in der Außenwelt (als Realität) identisch mit der Wesenheit
und mit ihr vereinigt (ohne logische Identität). 12. Die Einzeldinge des Seins
werden individualisiert entweder a) durch die Wesenheit des Seins (Gott)
oder b) durch das Früher und Später (der Seinsordnung; die anfangslos und
ohne Materie erschaffenen Dinge, die Geister) oder c) durch Inhärenzien (die
vergänglichen Dinge). 13. Das Sein (nicht die Wesenheit) ist per se herstellbar
(erschaffbar) und emaniert aus der Ursache. 14. Die Individuation ist ent-
weder identisch mit dem Sein oder konvertibel (umfangsgleich) mit ihm.
15. Die Kette der erschaffenen Dinge muß auf einen notwendig Seienden
auslaufen. Er besitzt eine unendliche Macht. Alle Dinge kehren zu ihm zurück.
Aus der Fülle seines eigenen Wesens erkennt er die außergöttlichen Dinge.
16. Der im eigentlichen Sinne Seiende ist Gott. Alles andere ist in sich betrachtet
vergänglich und nichtig. 17. Die Eigenschaften Gottes sind mit seinem Wiesen
identisch, was der Lehre Ascharis w*iderstreitet. Sein W^issen umfaßt alle
Dinge. 18. Das Nichtsein geht der Existenz der Welt zeitlich voraus (Leugnung
der Anfangslosigkeit). 19. Der Mensch muß sich zur Reinheit des aktiven
Intellektes aufschwingen, um sich mit diesem zu verbinden. Die Abschrift
wurde 1315/1897 von einem Isthabanäti (Isthabanät in Fars S. O. von Istahr;
Mirza Abdalkarim auch Schirazi gen.) hergestellt. Die Glossen sind unter-
zeichnet von 1. Ardakani ( ?), Mirza Ahmad, 2. (Ahmad) Schirazi, 3. Mustafa,
4. Muhammad Husain, 5. Ismail, 6. Mirza abul Hasan, 7. Muhammad Ismail,
8. Nüri, 9. Muhammad Gafar, 10. Tankabti. Schirazi: 1. Avicenna (auch dessen
„Anmerkungen (Br. I 455 Nr. 21), 2. Suhrawardi 1191 f. Er wird als zu der
Schule der Ruwakijün (die in einer Säulenhalle lehrenden) gerechnet. Dieses
Wort übersetzte man bislang mit Stoiker, dem der arabische Terminus aller-
dings entsprechen könnte. Suhrawardi wird nun aber immer als Schüler
Pia tos bezeichnet. Sein System kann in keiner Weise mit dem Stoizismus
in Verbindung gebracht werden. Die Übersetzung „Stoiker" (Horowitz:
Über den Einfluß der griechischen Philosophie auf die Entwicklung des Kalam
5. 6 Anm. 1) ist also nicht in allen Fällen richtig. Es kann auch die Akademie
und die Schule Piatos so bezeichnet werden. 3. Dauwani. 4. ibn Babiija:
Die Dogmen der Imamlehre (Br. I 187 sub 4 Nr. 7) und andere.
Das oben Nr. 14 genannte Werk Schirazis „Der Thron Gottes" folgt in
demselben Bande S. 110 ff. Im Archiv Bd. XXII S. 397 wurde der Kommentar
des Ahsai zu demselben bereits besprochen. Hier liegt der Text mit dem
Kommentar des Isfahäni (Molla Ismail), des Siegels der Theologen, vor. Zu
dem 1909 im Archiv (1. cit.) Bemerkten sei hinzugefügt: Die Kapitel sind als
„Erleuchtungen" (muschrakin) bezeichnet. Dadurch schließt sich Schirazi
Jahi-esbericht über die Philosophie im Islam. 231
au das Werk vou Suhrawardi an: Die Philosophie der Erleuchtung". „Alles
was in seinem Wesen einfach ist, enthält in irgendeiner Weise in seiner Einheit
und trotz derselben alle Dinge". Nichts real Existierendes kann von ihm
negiert werden. Die Gottheit, das absolut Einfache, enthält also in sich alle
Dinge. Das Wissen Gottes ist eine einfache Wesenheit, die sich trotz ihrer
Einfachheit auf eine unbestimmt große Vielheit von Dingen erstreckt. ,, Un-
richtig ist, was die Akademiker (Neuplatoniker; elruwakijün) berichten, worin
ihnen Sulu-awardi und Tusi (1273 t) und die Späteren folgten, daß das Wissen
Gottes von den möglichen Dingen verschieden ist von den kontingenten Dingen
der Außenwelt (und in den Ideen Gottes allein gegeben ist). Unhaltbar ist
auch die Lehre Piatos, daß das Wissen Gottes in selbständigen Substanzen
und unkörperlichen Formen bestehe, die sowohl von Gott als auch der Materie
getrennt bestehen. Die Dinge sind vielmehr in geistiger Weise in Gott präsent
(S. 119). In diesem Sinne ist auch das Wort Gottes in ihm, — eines der Haupt-
pro bleme der islamischen Philosophie. „Jedes Ding, dessen Existenz er-
kennbar ist, ist auch selbst (wenigstens als im Wesen Gottes Enthaltenes)
aktiv erkennend^). Jede geistig oder similich erkennbare Wesensform ist
ihrem Dasein nach mit einem Erkennenden vereinigt". Dadm-ch, daß die Dinge
in Gott und dem aktiven Intellekte vorhanden sind und aus ihm stammen,
erhalten sie die Bestimmung, erkennbar zu sein. Da der Existenz der Welt
das Nichts vorausging, ist sie zeitlich entstanden. Die direkte und nächste
Wirkursache (129) für die Bewegung in allen ihren Arten ist nur die Physis
eines jeden Dinges. Sie ist per se das Prinzip der Bewegung. Die Lehre
des Aristoteles lautet, daß die Bewegung des Himmels auf der Physis desselben
beruhe und daher eine nat ürliche sei. Die Sphäre muß daher eine animaUsche
in Phantasievorstellungen tätige Seele besitzen. „Die zweite Erleuchtung
(S. 131; almuschrak) handelt über das Erkennen und das andere Leben (maäd;
vgl. das Werk Avicennas Br. I 456 Nr. 42). Sie enthält (als Kapitel) viele
einzelne Erleuchtungen (ischrakät), z. B. die Psychologie. Die menschliche
^) Das Erkannte als solches ist eins mit dem Erkennenden. „Die Existenz
der sinnlich wahrgenommenen Form ist identisch mit ihrem sinnlichen Wahr-
genommensein. Ihr Dasein kann also von dem Dasein der wahrnehmenden
Substanz nicht getrennt oder verschieden sein. Beide haben ein und dasselbe Sein
(S. 122)". „Daß zwei Dinge eins werden (außer im Erkennen) ist unmöglich.
Daß aber ein einziges Wesen sich so vervollkommnet und an Intensität so
wächst, daß aus ihm viele Dinge hervorgehen, die früher (vor dem Erkeiuitnis-
akte) nicht aus ihm hervortraten, ist sehr gut möglich. Wenn sich die Seele
mit dem aktiven Intellekte verbindet, so bedeutet dies nichts anderes, als
daß sie in sich zu einem aktiven Intellekte wird, um die Wesensformen
hervorzubringen. Die Seelen emanieren aus deiu aktiven Intellekte in die
Körper (der sublunarischen Welt). Dann kehren sie wieder, wenn sie (im
Erkennen) ihre Entelechie erlangen, in den aktiven Intellekt zurück." Das
Erkennen scheint also ein Projizieren der Formen zu sein, zu dem die Seele
durch die Verbindung mit der aktiven Intelligenz der Himmelssphäre be-
fähigt wird.
232 Horten,
Seele stellt sich in vielen Graden und Stationen dar. Das Sehen (S. 133) findet
weder dadurch statt, daß Sehkörper aus dem Auge austreten, wie es die Mathe-
matiker lehren, noch dadurch, daß das optische Bild des Gegenstandes
sich in der kristallinischen Flüssigkeit des Auges abzeichnet und einprägt,
was die NaturaUsten behaupten, noch dadurch, daß die Seele die Wesensformen,
die in den Dingen der Außenwelt bestehen, (mystisch) erschaut, was bekannt-
lich die Philosophen der Erleuchtung (Suhrawardi) aufstellen und eine große
Anzahl der späteren (d. h. arabischen) Philosophen für richtig halten z. B.
Parabi. In unseren Glossen zu der Philosophie der Erleuchtung haben wir
dies dargetan". Dieses Werk (hawäschi ala hikmat alischräk) ist völüg un-
bekannt (vgl. Br. I 437). „Die Erkenntnisinhalte inhärieren vielmehr der
Seele, freiüch nicht wie Akzidenzien der Substanz, sondern wie Tätigkeiten
dem tätigen Subjekte (so daß die Seele dieselben in die Außenwelt projizieren
kann und auf diese Weise optisch wahrnimmt)". Je nach der Intensität der
Erkenntnisbilder und Phantasiekräfte ist diese Funktion stärker. Die mensch-
liche Seele besitzt eine Existenzform, die der des Körpers (und ihrer Ver-
bindung mit ihm) vorausgeht, ohne daß sich daraus die Lehre von der
Seelenwanderung ergäbe. Die Individua der menschlichen Xatur haben die
gleiche Wesenheit. Die IndividuaUtät ist eine einzelne Art des Daseins, die
körperhch oder unkörperlich sein kann. Das Dasein kann nun aber mehr oder
weniger intensiv sein. Das Jenseits ist demnach eine Phase unseres Daseins,
die eine größere Intensität und Aktuahtät darstellt, als unser diesseitiges
Leben. Die Phantasie (S. 147) ist eine Substanz, die in ihrer Substanz uiid
Tätigkeit von dem Körper des Menschen „und dem siimlichen Tempel" (eine
indische!) Bezeichnung für den Körper) getrennt ist „und die Erkennt-
nisse (S. 149) haben außerhalb des Subjektes keine Existenz".
Diese Andeutungen genügen, um zu zeigen, daß in dem Systeme Schiräzis
eine Gedankenwelt vorüegt, die weder ausschließlich griechisch, noch islamisch,
noch persisch ist. Sie muß also indisch sein. Es ist eine Form des
Buddhismus, mit platonischen und persischen Vorstellungen durchsetzt,
die uns hier vor Augen tritt. Wie diese" System im einzelnen zusammen-
hängt, würde sich wohl der Mühe lohnen zu untersuchen. Schirazi verweist
in dieser knappen Schrift häufig auf ausfülirlichere Darlegungen in seinen
„zahlreichen übrigen allenthalben verbreiteten Schriften." Er muß daher ein
einflußreicher Schriftsteller gewesen sein. Der Kommentar Isfahanis folgt
dem Texte Schiräzis, indem er jedoch die Form eines selbständigen Werkes
annimmt. Der letzte Teil beider Schriften verliert sich in rein mystisches
Gebiet: Der Mensch ist im anderen Leben individuell derselbe, als er auf
Erden war. Der Unterschied des verklärten Leibes von dem irdischen wird
ausgeführt usw. In beiden Werken werden die griechischen und islamischen
Philosophen in großer Anzahl zitiert.
1) Über indische Einflüsse in der islamischen Philosophie vgl. meinen
Aufsatz in Vierteljahrschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie
Bd. 34 (1910) S. 311 ff. bis 32U.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 233
Büni (1225 t), Die Somie der Erkenntnisse. Kairo 1319 = 1907 Lithogr.
4 Teile. 132 + 116 + 124 + 140 S. 4". Herausgeg. von Abdarrahman
al Gaziri.
Ein bisher noch unbeachtet gebliebener Mystiker und Philosoph ist Büni,
dessen Sonne der Erkenntnisse bereits viermal^) (Bombay 1879 u. 1881, Kairo
1874; vgl. Br. I 497 Nr. 6) erschienen ist. Er behandelt alles Wißbare, das
gelegenthch der Erklärung der göttlichen Namen vorgebracht wird. Sein Werk
zerfällt in vier Teile. Der erste behandelt 1. die Geheimnisse der Buchstaben
(Kabbalistik), 2. Zeiteinteilung, 3. die Mondstationen, 4. die 12 Sternbilder,
5. Einsamkeit und Sammlung, 6. Erklärung von Koranversen und der Xamen
Gottes in mystischem Sinne, 7. die göttliche Emanation; der zweite einzelne
Bezeichnungen Gottes unter Zitierung zahlreicher Mystiker, der dritte die
Eigenschaften Gottes, die aus dem Weltall erschlossen werden, der \-ierte die
Buchstaben, insofern sie Elemente und Eigenschaften von Körpern vertreten.
Viele mystische Zeichnungen (Quadrate, Vierecke, Kreise, Kegel, Wagschalen
für eine Verwendung beim Zaubern) erläutern den Text. Diese Gedanken-
welt, die wohl auf Pythagoras zurückgeht, bildet einen nicht zu übersehenden
Einschlag der islamischen Geisteskultur. Hat doch selbst Avicenna sich nicht
abschrecken lassen, die Geheimnisse der Buchstaben in einer eigenen Schrift zu
behandeln. Ihi-e Erschließung und Analyse ist noch ein Desideratum der
W'issenschaft vom Islam.
In den Werken von Gauzija'-) 1350 f finden sich \-ielfach philosophische
Ausführungen, leider versteckt in einem Wust von positiver Theologie. Zu
nennen ist hier zunächst ,,Die Heilung des Kranken" (Br. II 106 Xr. 13 sifa
elalil, nicht wie Br. galil), die handelt über ,,den götthchen Ratschluß, die
Schicksalsbestimmung, das Vorwissen und den kausalen Einfluß Gottes auf
die Handlungen des Menschen" (hrsg. von Xasäni^) Kairo 1323 = 1905; 307
S. 4 mit Unterstützung von Xagi und Hänigi^)). Die Frage der Prädestination
^) Vielleicht noch öfter; deim die vorliegende Ausgabe enthält S. 1 die
Angabe, daß dies Werk mehrere Male sowohl in Kairo wie in Indien gedi'uckt
worden sei, jedoch mit manchen Fehlern, die diese AviSgabe durch Kollationieren
mit mehreren ägyptsichen und einer nordafrikanischen Handschrift vermeidet.
Wir liaben also hier eine kritische Textausgabe.
-) Er war ein Anhänger des ibn Taimija 1328 t.
*) Muhammed Bedreddin abu Firas en-Nasani el-Halabi.
*) Diese Gelelu'ten haben in Kairo eine Gesellscliaft gegründet, die be-
zweckt, die Schätze der arabischen Literatur zu erschließen. Dieselbe hat
bereits eine große Anzahl von klassischen Werken verschiedensten Inhaltes,
darunter viele philosophische veröffentlicht, z. B. Werke von Gazäli Uli t>
Gahiz 869 f „Die schönen und häßUchen (kontraeren) Dinge (Br. I 153 Xr. 3),
Isfahäni (Rägib) 1108 t, Ansäri 1520t (Br. II 99 Xr. 18), Schahrastäni 1153 t,
Rdzi 1209, Tüsi 1273 t, Averroes 1198 t, Subki 1370 t ibn Maskaweih, Faijümi
„Die Prinzipien der Logik"; Taftazäni „Glosse zur Logik Kätibis", Schaich
Zade, Streitfragen der Anhänger des Maturidi 944 t und Aschari", ibn Taimija,
ibn Abdelbärr 1077 t „Die Wissenschaft, ihr Vorzug und ihre Pflege" (Br. I
234 Horten,
und die, inwiefern Gott das Böse will und schafft, werden im Sinne der islami-
schen Orthodoxie unter ausgedehnten theologischen Diskussionen behandelt.
In Haiderabad gelangte zur Ausgabe „Das Buch des Geistes" (1318 = 1900,
437 tS. 4U). Es behandelt den Zustand des menschlichen (Geistes nach dem
Tode. Dabei kommen altorientalische Ideen zur Sprache so, ob die Seele sich
mit dem im Grabe ruhenden Körper wiederum verbinde. Aus der theologischen
Literatur wird eine unübersehbare Anzahl von Autoren und Ansichten an-
geführt. Sie bilden einen willkommenen Beitrag für die Geschichte der Ideen,
che zum großen Teile auch philosophisches Interesse besitzen (Wesen des
Geistes, Unterschied von Geist und Seele, Tugendlehre, Präexistenz usw.).
Die Aufgabe wäre, das Eindringen griechischer und indischer Ideen in islamische
und vorislamische Vorstelhnigsgruppen S3^stematisch zu verfolgen. Das
große ethische Werk des Gauzija ,,Der Schlüssel zum Tore des Glückes" (Br. II
106 Xr. 15; 2 Teile zu 230 u. 289 S.) wurde in Kairo 1323/1905 — 1325/1907 —
auf Grund von zwei Hs von Saidi (Ahmad bn Muhammad aus Mekka) heraus-
gegeben. Die in ihm enthaltenen philosophischen Gedanken beziehen sich auf
die Lehre über Gott und die Ethik. Auch Lehren der griechischen Philosophen
und Xatm'alisten (Astrologen) werden in dem Probleme: Was ist das Wesen
des Glückes, aufgeführt. Gauzija liefert durch seine Schriften ebenso wie ibn
Taimija den Beweis, daß auch Nichtphilosophen sich mit philosophischen
Fragen auseinandersetzen müssen, wenn sie theologische Gegenstände be-
handeln wollen. So sehr beherrschten zu jener Zeit philosophische Ideen die
Gedankenwelt des Islam.
Eine für die Kenntnis der ältesten Phase der philosophierenden Theologie
im Islam sehr wichtige Veröffenthchung ist die des Werkes: abu Udba:
Der blühende Garten, handelnd über Differenzierungslehren der Schiden des
Aschari (935) und Maturidi (944 f), bewerksteUigt durch die „indische Akademie
der Wissenschaften" in Haiderabad 1322/1904; 8' 76 S. Dieses Werk bestätigt
die Angaben, die Goldzihei in seinen „Vorlesungen über den Islam" S. 115
bringt. Die Probleme werden in Wortfragen und sachhche Differenzen unter-
schieden. Beide betreffen positiv-theologische Fragen, die nur insofern zm*
Philosophie gerechnet werden können, als sie philosophische Ideen in ihren
Erläuterungen (Eigenschaften Gottes, Verpflichtung zu etwas Unmöghchem)
enthalten.
Eine gleiche Bedeutung besitzt die 1323/1905 ebenfalls in Haiderabad
(Dekkän) erschienene Schrift Ascharis „Die BiUigung des Studiums der
spekulativen Theologie" (istihsän alhaud fil Kaläm; 12 S.). Aschari zeigt
sich in diesem Punkte als Vermittlungstheologe. Von orthodoxer Seite wird
die Berechtigung der spekiüativen Theologie in Frage gestellt imter Hinweis
auf die Häresien der liberalen Richtung, unter denen auch die Lehre vom
Sprunge (vonXazzam) betont wird. Aschari zerstreut diese Bedenken. Auf dem
368 Xr. 3). Von Ganzija gelangten zum Drucke die Werke Br. II 106 Xr. 5,
Xr. 7, Xr. 19 und das beiBr. fehlende: ,,Die Bestimmungen über den, dei das
Gebet unterläßt" (abkam tärik essalät), in denen sich wie in den meisten
theologischen Werken zerstreute philosophische Gedanken finden.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 235
Titel erscheint er als derjenige, der die Sumia (die orthodoxe Lehre) des Pro-
pheten zum ,Siege geführt habe, und dem System des Schafii folge. Dieses
widerspricht den Angaben, die Aschari in seinem Werke: Erklärung der
Religionsprinzipien" (kitab ahbäna an usül aldijäna; Haidarabdd 1321/1903)
macht (vgl. Goldziher: Vorlesungen 121) und in denen er sich als Hanbaliten
kundgibt. Ein absoluter Widerspruch ist damit noch nicht gegeben, da Aschari
zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Richtungen gefolgt sein kann — voraus-
gesetzt, daß die genannten Werke authentisch sind.
Eine eigenartige Überraschung bereitete der Wissenschaft der in Ägj^Jten
lebende Barküki (Abdarrahman), indem er die Naturphilosophie eines voll-
kommen unbekannten Philosophen, Hairabadi, veröffentlichte. Sie trägt den
Titel: Das dem Said gewidmete Geschenk (alhadija assaidija). Der voUe
Name dieses Duodezkönigs — mulaik — lautet Muhammad Said Han Bahadurj.
Unser Philosoph hieß Muhammad Fadlalhäkk (Ausfluß derWahrheit — Gottes),
wurde in Matmid (in Samarkand) geboren, bekleidete irgendwo die Stelle
eines Imäm, vielleicht in Hairabad, dessen Fürsten er seine Schrift widmete.
Nach dem Titel ist sie „das beste Buch, das der Menschheit über die Natm'-
philosf phie der alten Philosophen geschenkt wurde". Sie woirde (S. 32,3)
unverständlich durch die erdrückende Fülle von Kommentaren und Glossen.
Daher war es an der Zeit, sie in einem kirrzen Auszuge (244 S. 8'; Kairo
1322/1904) zusammenzufassen. Derselbe enthält: 1. Definition der Philosophie;
2. Begriff des physischen Körpers (Hyle und Form); 3. die universellen
Akzidenzien der Körper; 4. Raum, Ort, Gestalt, Zeit; 5. Bewegung und Ruhe;
ß. die himmhschen Körper; 7. die Elemente, Luft, Metalle, Pflanzen, Tiere
(ihre inneren und äußeren Sinnesorgane), der Mensch. Der Sohn des Matm'idi
fügte diesem Werke seines Vaters ein Nachwort bei, das die Seelenwanderung,
die Verbindung der Seele mit dem Körper und zunächst dem Lebensgeiste
bespricht. Die Prinzipien werden vielfach in der Formulierung der spekulativen
Theologie des IX. Jahrhunderts gegeben, z. B. das Prinzip des Universellen
ist verschieden von dem des Partikulären (Nachwort 1). Die der spekulativen
und praktischen Philosophie folgt (S. 3) der durch Avicenna geschaffenen
Terminologie. Zu beachten ist die Bemerkung (S. 3,6): Die Universalbegriffe
haben keine Existenz in der Außenwelt. Der Verfasser ist über den Ent-
wicklungsgang der islamischen Philosophie wohlunterrichtet. Er zitiert die
Lehren der orthodoxen und liberalen Theologen, unter diesen die des Nazzam
von der Zusammensetzung der Körper aus aktuell unendlichen Teilen, der
Mystiker (der Philosophie der Erleuchtung; Suhrawardi und Plato), ohne die
Peripatetikei'-(zu denen neben Aristoteles auch Farabi und Avicenna gerechnet
werden) zu übergehen. Avicemia wird als der Altmeister und die erste Autorität
zitiert. Eine aristotelische Denkweise zeigt sich in den Lehren: 1. die Atomistik
ist zu verwerfen; 2. die Hyle kann nicht ohne die Form bestehen; 3. der leere
Raum ist unmöglich: 4. die Bewegung ist die erste Entelechie eines Potenziellen
als solchen; 5. in jedem Körper ist das Prinzip eines Strebens, die Physis (An-
ziehungskraft) enthalten; 6. die Zeit ist eine kontinuierliche, unbeständige
Quantität, die das Maß der Bewegung darstellt; 7. die Zeit ist ewig; ihre
Existenz hat weder Anfang noch Ende ; 8. die Sphäre ist ein einfacher Körper,
236 Horten,
unzerstörbar und sich ewig im Kreise bewegend und zwai auf Antrieb zweier
psychischen Prinzipien; 9. die Form der zusammengesetzten Körper ist eine
mittlere zwischen denen ihrer Elemente; lÜ. die Seele ist eine primäre
Entelechie eines physischen und organischen Körpers. Eingehend wird (S. 160)
der Vorgang des Sehens besprochen. „Induktiv wird gezeigt, daß fünf innere
Sinne bestehen: der Gemeinsinn, die ästimativa, die kombinierende und auf-
nehmende Phantasie und das Gedächtnis." Diese werden sodann nach der
Lehre Avicennas lokaHsiert. Die wesentlichste Fähigkeit der menschlichen
Seele hegt darin, daß sie die universellen und unkörperlichen Dinge erfassen
kann. Das System des Hairabädi bildet einen erneuten Beweis dafür, daß die
Entwicklung der islamischen Philosophie zu einem immer größeren Siege des
Aristotehsmus geführt hat. Es ist also eine Sage, Gazäli habe die Philosophie
im Islam vernichtet. Die Kritik Gazalis ist, wie auch Razi (1209 t), Tusi (1273 t)
und Schiräzi (1640 t) zeigen, unbeachtet verhallt.
Wemi Averroes auch für die Entwicklung der Philosophie im Islam ohne
jeden Einfluß gewesen ist, so hat er doch in den jüdischen und christlichen
Kultvu-kreisen des Mittelalters eine ausschlaggebende Bedeutung erlangt.
Dies zeigt die fleißige und gründliche Arbeit von Isaac Husik, A. M. Ph. D.:
Judah Messer Leon's Commentary on the „vetus Logica" (Leyden 1906; 8'
118 S.). Judah, ein in Mantua, später in Neapel lebender israelitischer Philosoph
(gest. ca. 1480) kommentierte 1454 die aristotehsche Logik auf Grund der
Kommentare des Averroes. Diese Arbeit untersucht Husik nach ihrem Mss;
ihrer Abhängigkeit von anderen Philosophen (Avicenna, Gazäh usw. S. 64 ff.>
und ilirem Inhalte. Gegenstand der Logik ist das Gedankending, die entia
rationis, die eine gewisse Existenz in der Außenwelt besitzen (gegen den
Nominahsmus und extremen ReaHsmus) und in ihr auch das Fundament
für die Universalität haben (gegen den Konzeptualismus). Das formell All-
gemeine wird aus jener in der Außenwelt vorhandenen Potenz jedoch nur
durch die abstrahierende Funktion des Geistes gebildet. Das Werk Judahs
ist also keine rein formale Logik, sondern behandelt erkemitnistheoretische
und metaphysische Fragen. Die Methode wird in einem besonderen Kapitel
besprochen und mit der von Thomas von Aquin zusammengestellt. Der
Verfasser hat durch seine gründliche Leistung gezeigt, wie groß das noch zu
bearbeitende Feld seines Spezialgebietes (jüdische Philosophie und ihre
Stellung in dei gesamten Kidtur des Mittelalters) ist. Möge es ihm vergönnt
sein, noch manche Schätze aus seinem Acker zu heben.
Horovitz, Dr. S., Der Einfluß der griechischen Philosophie auf die Ent-
•wicklung des Kalam. Jahresbericht des jüdisch-theologischen Seminars
zu Breslau 1909.
Die Anfänge der islamischen Philosophie bieten trotz mancher vor-
trefflicher Arbeiten noch viele ungelöste Probleme, hauptsächlich weil die
Nachrichten über diese Zeit spärlicher und trüber fließen. Der Geschichts-
forscher ist zum Teil auf zerstreute, scheinbar zusammenhanglose und von den
arabischen Berichterstattern sogar, wie H. meint, mißverstandene Sentenzen,
eines Philosophen z. B. des Xazzam angewiesen, um sich aus ihnen das Welt-
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 237
bild ihies Autors zu rekonstruieren. Der bereits durch seine früheren Arbeiten
auf diesem Gebiete rühmHchst bekannte Verfasser hat sich keine Mühe ver-
drießen lassen, diese verschlungenen Pfade zu wandeln. Sie haben ihn zu
einem ganz überraschenden Resultate geführt: einer ausgesprochen stoischen
Gedankenwelt um 800 — 900 in Mesopotamien. Die Beweise sind für ihn über-
zeugend^), wemi auch die Vermittlungsglieder zwischen diesen beiden End-
punkten, der Stoa imd den Arabern, noch nicht'-) sichtbar seien. Als Träger
der stoischen Gedanken werden aufgezählt: Xazzam 8451, Hischam 845 t
und Gähiz 869 f. Einige interessante Punkte mögen hervorgehoben werden:
1. Der Geist des Menschen, so lehrt Nazzam, ist ein feiner Körper, der den
Leib durchdiingt, ohne in dieser Mischung seine Eigenart zu verlieren (die
stoische /.oüoic Jt' olior). Er bildet ein und dasselbe „Genus" mit allen
Lebewesen, d. h. dasselbe Pneuma dm'chzieht alle. 2. Der Mensch ist Geist
und Seele; der Leib bildet niu- das Werkzeug und Gefäß (kalab, nicht
„Form" S. 11 — 13) der Seele. 3. Es gibt nur Substanzen. Was andere
,, Akzidenzien" nennen, sind Körper, deren Agglomerate die realen Körper
bilden. Das Gleiche gilt auch in dem Bereiche des Geistigen, da der Geist^)
ein Körper ist und seine Tätigkeiten räumliche Bewegungen sind. Dem
Geiste inhärieren also keine Qualitäten. Er ist vielmehr lebend, denkend
usw. dm"ch sein Wesen selbst.
Parallellaufend mit den stoischen Lehren seien auch (vgl. oben Nr. 2
platonische, besondei's bei Muammar t 850 und abu Häschim vorhanden.
Die endlose Zahl von „Ideen" in den Weltdingen d. h. von Realitäten, die
durch Teilnahme an den Ideen entstehen sollen, wird von ersterem kühn be-
hauptet. Jedem Wirklichen der sublunarischen Welt, also nicht nur den
Substanzen und Akzidenzien, sondern auch dem Inhärenzverhältnisse und
dem Verschiedensein entsprechen in der geistigen Welt Ideen*), aus denen
^) Die Kritik dieser zum größten Teile unrichtigen Auffassungen habe
ich veröffentlicht im L Ai'chiv f. system. Philos. XV 1909 S. 469ff.: Die so-
genaimte Ideenlehre des Muammär, 2. ZDMG 1909 Bd. 63 S. 774ff. Die Lehre
vom Kumün bei Xazzam, 3. ebenda S. 303ff. Die Modustheorie des abu Häschim
4. ebenda 1910 Bd. 64 S. 391 ff. Was bedeutet mana als philosophischer
Terminus? 5. Vierteljahrsschrift f. wissensch. Philosophie und Soziologie
1910 Bd. XXXIV S. 310: Indische Gedanken in der islamischen Philosophie,
bes. S. 321. 6. Internationale philosophisch -soziologische Literatiu-zeitimg
1909; 1. Oktober S. 3. 7. Orientahstische Literatm'zeitmig 1909 Xr. 9 Sp. 391 ff.
8. Xeues zur Modustheorie des abu Häschim in: Studien zur Geschichte
der Philosophie. Festgabe zum 60. Geburtstag von Clemens Baeumker;
Münster 1913, S. 45—53.
-) Alle stoischen Gedanken bei den Arabern erklären sich durch die
Vermittlung des Galenus.
3) Es liegt hier die unrichtige Übersetzrmg des Wortes auch mit Geist,
statt Lebensgeist, Pneuma vor. Xazzam ist kein Materialist.
*) Von diesen Gedanken findet sich in den arabischen Quellen keine
Spur. Ihre Aufstellung beruht auf der irrtümlichen Übersetzung wan mana
238 Horten,
die Weltdinge bestimmte Wirklichkeiten entnelmien. So inhäriert /.. B. die
Farbe einem Körper. Diese Inhärenz muß also verwirklicht werden durch
Teilnahme an der Idee des esse inhaerentem, also durch ein Akzidenz zweiter
Ordnung (a^), indem die Farbe selbst Akzidenz erster Ordnung (a^) ist. Von
a^ gilt nun wieder dasselbe wie von aj^, was zu einem Akzidenz dritter Ordnung
ag führt et sie in infinitum'). Die Akzidenzien existieren also in jeder Art
(Farbe, Geruch usw.), das eine im anderen inhärierend, unendlich an Zahl.
Das Gleiche gilt von dem \'erschiedensein. Das Schwarze und Weiße,
die Bewegung und Ruhe unterscheiden sich nicht vcjneinander durch ihre
Natur allein (vgl. Plato, Sophist. 255), sondern durcli etwas, was zu dieser
„Physis" hinzukommt; demi eine Relation wie das Verschiedensein ist ein
anderes Wirkliche, als das Akzidens der Farbe oder Bewegung. Ihm muß
also eine besondere Idee entsprechen, und das Verschiedensein zweier realer
Dinge (a und b) entsteht durch Partizipation-) an dieser Idee. Dieses wirk-
liche erster Ordnung, das esse diversum, befindet sich in a und b — also a,
und bj. Von diesen Dingen gilt nun wiederum dasselbe wie von a und b, damit
sie von einander verschieden sein können. So ergeben sich Wirklichkeiten
(Accidentia) zweiter Ordnung (a, und b,), und so weiter in endloser Ineinander-
schachtelung (bis aoo und bco). In den bisherigen Darstellungen der islamischen
Philosophie wurden diese Lehren, die mit den Schülern Muammars erloschen,
ungenau wiedergegeben, obwohl sie bei ibn Hazra 1060 f V 46, Razi 1209 t
Muhassal 104 und Schahrastani 1163 f, von Horov. zitiert und des Miß-
varständnisses beschuldigt (S. 47 — -"51) deutlich, aber knapp dargelegt werden.
Wichtig für die Lehre des abu Häschim 933 "f" ist seine Theorie
der Modi (ahwäl). Mit derselben wollte er 1. der von Muammar gelehrten
unendlichen Hintereinanderordnung der Akzidenzien ausweichen; 2. die
Eigenschaften Gottes mit seiner Einfachheit widerspruchslos vereinigen und
3. eine Lösung des erkenntnistheoretischen Problems geben. Die Modi*)
sind Seinsweisen der Substanz. Sie sind also weder identisch mit dem Wesen
noch mit den Akzidenzien und stehen dem Wesen näher wie letztere; denn die
Akzidenzien können auch ohne die Substanz ,,für sich allein" geistig erfaßt
werden, die Modi jedoch nur mit der Substanz. Sie Averden also nicht ,, ge-
dacht", sondern nm- „mitgedacht". Wemi dem Denken nun das Sein ent-
spricht, so ist es auch zu verstehen, wenn abu Haschim die Modi mit der in
der älteren Periode der Philosojibie beliebten paradoxen Ausdrucksweise
bezeichnet als „weder seiend noch nichtseiend, weder erkennbar noch nicht
mit platonischer Idee. Diese bezeichnet der Aarber mit mutul (Archetypen)
oder suwar (Wesensformen), nie aber durch mana allein, ohne den Zusatz
miifarak, für sich bestehend.
^) Diese Lehre ist die der Vaischesika von dem Inhärenzverhältnis.
Sie hat zu dem platonischen Systeme keinerlei Beziehung.
-) In den Originalquellen findet sich keine Andeutung einer solchen
Partizipation.
^ ) Auch hier könnten indische Einflüsse vorliegen, wie ich in der Viertel-
jahrschrift (s. oben) gezeigt habe.
t
Jahresbericht über die Philosophie» im Islam. 239
erkennbar"; denn sie sind keine selbständigen Realitäten, sondern haben
nur ein begleitendes Sein bei der Substanz, sind nur ,, mitseiend" wie sie
auch nicht ohne die Substanz denkbar, sondern nur „mit erkennbar" sind.
Sehr klar gibt Bagdadi 1037 t (zit. von Horovitz S. 64 Z. 1 u. A. 1) diese Ge-
danken wieder und zeigt, wie abu H. die Ausschließlichkeit der Inhärenz eines
Akzidens in gerade diesem bestimmten Substrate dm-ch seine Modustheorie er-
klärt, während Muammar diese Inhärenz dm-ch eine endlose Kette von ,, Ideen"
(d. h. realen Bestimmungen sublunarischer Dinge, die sich zwischen Akzidens
und Substanz einschieben) verständlich machen wollte. Das Wesen der Modus-
theorie wird daher dm-ch die von Schahrastani S. 56 (zit. von Hör. S. 59 A. 2)
berichteten Einwände getroffen, daß auch diese Theorie ebenso wie die Ideen-
lehre Muammars zu einer endlosen Kette von Bestimmungen, hier also
Modi, führt, die sich zwischen Akzidens und Substanz einordnen. Die Über-
setzung dieser Texte wie auch der sehr klaren, wenn auch spitzfindigen Be-
weise bei Razi habe ich in meinen oben zitierten Arbeiten veröffentlicht.
Wenn H. jene Texte als unklar bezeichnet, so beruht dies auf der ihm nicht
geläufigen philosophischen Terminologie der Araber, in der die Lexika zm Zeit
noch versagen.
Ein bleibendes Verdienst des Verfassers besteht darin, das Problem
aufgeworfen zu haben, ob in dem Systeme des Xazzäm stoische Gedanken
enthalten seien. Sehr bestechend ist zunächst seine Gleichsetzung, die Mudähala
sei die xquGic öv' oXov der Stoiker. AUe Gründe scheinen für diese Identifi-
kation zu sprechen^). Bedenken erregt nur eine Äußerung Tusis 1273 f in
seinem Kommentar zu Räzis Muhassal S. 94 „Weil Xazzäm die Lehre auf-
stellte: es existieren unendlich viele substanzielle Einheiten in den end-
lichen Körpern, war er konsequenterweise gezA\-ungen zu lelu-en: die Körper
durchdringen sich gegenseitig". Die Lehre von dem sich Dmchdringen
der Körper ist demnach eine unmittelbare Konsequenz aus dem anaxagoraei-
schen Prinzip: Die Homöomerien bestehen aus unendlich vielen Teilen, und
jeder Körper aus unbestimmt vielen Homöomerien. Sie stellt also eine selb-
ständige Fortbildung dieser Lelire dar. Daneben lehrte Xazzäm ebenfalls:
der materielle Lebensgeist durchdringt mit allen seinen Teilen den mensch-
lichen Leib. Diese Idee ist nun scheinbar durchaus identisch mit der xouaiq
öl' öltov der Stoiker — eine psychologisch sehr interessante Kombiniermig
von Ideen. Die Entwicklung scheint mir so verlaufen zu sein: Die stoische
Idee des sich Durchdringens von Lebensgeist mid Körper verwandte
Xazzäm dazu, Schwierigkeiten seiner von Anaxagoras entlehnten Lehre zu
lösen, letztere eigenartig weiterbildend — wenn nicht ein indischer Einfluß
vorhegt. Sollten sich auch die meisten Thesen, die H. vertritt, als umichtig
erweisen, so verdient seine Schrift dennoch, als Anregung und neue Problem-
stellung beachtet zu werden.
In der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums
19C4 S. 554 ff. und 702 behandelt der Verfasser in ähnlicher Weise die Modus-
^) Vgl. meine Besprechimg desselben Werkes in Deutsche Literatur -
Zeitung 1909 Nr. 24 Sp. 1493f.
240 Horten,
theorie. Er geht von einer dem abu Haschim durchaus fremden Idee aus.
Bei dem Versuche, diese in den Lehren des abu Haschim wiederzufinden, stößt
er dann naturgemäß auf große Schwierigkeiten, die ihn dazu verleiten, in den
Berichten allerhand Irrtümer, Unverständlichkeiten usw. zu finden. Deren
Quelle liegen jedoch nur in ihm selbst, während die arabischen Berichte be-
sonders Razi und Schahiastäni sehr klar und scharfsimiig, allerdings sehr
knapp und nur für geschulte Philosophen geschrieben sind. Zu S. 556,7 sei
bemerkt: werden die Universalia betrachtet als mit einer unselbständigen
Realität ausgestattete Gegenstände, die den Substanzen anhaften, dann kann
eb keine passendere Bezeichnung für sie geben als die, daß sie Modi sind.
Die S. 573 angefülirte Stelle aus den Schriften der Getreuen von Basra (ed
Diterici S. 552) hat zur Modustheorie keine Beziehung.
S. Horovitz, Zum Kalam der Araber und zur christlichen
Scholastik in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des
Judentums. November-Dezember 1909 S. 745 ff.
H. bespricht kurz die Modustheorie des abu Haschim. Dies veranlaßt
mich zu folgenden Berichtigungen. Der Modus besitzt (vgl. meinen Artikel:
Die Modustheorie des abu Haschim 933 f in ZDMG. Bd. 63 S. 303) kein selb-
ständiges Sein, sondern hat dasselbe Sein ^\ie die Substanz, deren Modus
er ist. Er besitzt also im Grunde die ganze Reahtät imd Wirklichkeit, wie die
Substanz, jedoch nicht als eine ihm selbständig zukommende, sondern als
eine an der er partizipiert, indem er eine Modifikation der Substanz dar-
stellt, und nur die Substanz besitzt die Reahtät als etwas Selbständiges. Wenn
daher die Akzidenzien den Modis inhärieren, so folgt daraus dirrchaus nicht,
daß die Modi ein selbständiges Sein besitzen. Das ganze Sein, das die Modi
besitzen, ist eben das dei Substanz und gerade aus diesem Grunde können
ihnen Akzidenzien inhärieren; denn durch das Sein der Substanz, an dem sie
partizipieren, kommt ihnen ein esse in se gewissermaßen zu, das allein Träger
für Akzidenzien sein kann. Aus demselben Grunde können die Akzidenzien
nicht anderen Akzidenzien inhärieren; denn Subjekt der Inhäsion karni nur
die Substanz oder der Modus sein, der an dem esse in se der Substanz teil-
nimmt. Das Akzidens hat nm- ein esse in alio und kann daher nicht Träger
eines andeien Akzidens sein. Diese Begriffe von Substanz und Akzidens sind
erste Voraussetzungen für das Verständnis der Modustheorie, die zudem J
zeigen, wie in den verschiedenen Auffassungs- und Anwendungsweisen des
Modus derselbe Grundgedanke in durchaus klarer Weise immer A\deder-
kehrt: Der Modus ist eine Seinsweise der Substanz, die neben der Substanz
kein selbständiges Sein besitzt. Daß diese Vorstellungswelt dem modernen,
der mittelalterlichen Philosophie fernstehenden Denken „unklar und ver-
worren" (S. 745) vorkommen kömien, ist leicht erklärlich. Z. S. 323 Z. 2
meines Aitikels ist vor allem Tüsi zu Razi S. 55, 17; 56 ad 2 und Horten:
Die philosophischen Probleme der spekulativen Theologie im Islam; Bonn
1910 S. 118 zu vergleichen, die zeigen, daß die vier verm-sachten Modi in
Gott: Wissendsein, Mächtigsein, Lebendsein und Existierendsein nicht etwa
durch die vier verursachenden Modi Wissens, Macht, Leben und Existenz
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 241
hervorgerufen werden — dies würde eine Vielheit in Gott bedingen — sondern
dm-ch den einen Modus der Göttlichkeit^). Die Einheit Gottes soll auf diese
Weise gewahrt werden.
Daß die Modustheorie in die Erkenntnistheorie übergreift, ja sogar eine
Form der Erkenntnistheorie ist, liegt auf der Hand. Ob im scholastischea
Nominahsmusstreit ähnliche Gedankenbildungen aufgetreten sind — z. B.
bei Adelard von Bath — wäre daher der Untersuchung wert. Horowitz regt
dazu mit einigen Hinweisen an.
Der schon frülier häufig geäußerte Wunsch nach einem vergleichenden
Lexikon der philosophischen Kunstausdrücke der Araber, Syrer und Juden
(vgl. J. Pollak, d. Z. Bd. XVII S. 204 Anm. 12) ist letzthin wiederum und zwar
in Form eines unifassenden Planes von Dr. J. Husik (Universität Pensilva nia)
geäußert worden (Proceedings of the Eighth Annual Meeting of the American
Philosophical Association p. 166 u. 177 f.). Diesem Plane haben sich die
Speziahsten des Gebietes angeschlossen. Die American Philosophical Association
hat eine Comite gebildet, um die Diu-chführung des Unternehmens anzubahnen.
Den Einfluß der islamischen Geisteskultur auf das Abendland im Mittel-
alter schildert in sehr deutlicher Weise Otto Werner: Ziu: Physik Leonardo
da Vincis, einer Ai-beit, die Prof. Eilh. Wiedemarua, der bekannte Meister
auf dem Gebiete der Naturwissenschaften bei den Arabern angeregt hat
(Erlangen 1910; Inaugm-al-Dissertation). Leonardo kennt die bekanntesten
Philosophen des Islam: Avicenna, Averroes, ihn al Haitam (die auch Roger
Baco ca. 1292 schon nennt) Kiudi und sogar Färisi (Kamaladdin ca. 1320).
Es zeigt sich an ihm wiederum, wie sehr das Abendland die islamische Geistes-
kultur als eine überlegene betrachtete. Sein vorzügHchstes Bestreben war
darauf gerichtet, von den Arabern zu lernen. Das vorliegende Werk behandelt
die Optik, und fügt einige Bemerkungen über Akustik, Wärme und Magnetismus
bei. Seine Lehren über die Mechanik sollen später veröffentlicht werden.
Die Beziehungen zm- Philosophie (z. B. die Spezies, das Erkenntnisbild, die
Wahl-nehmung) berechtigen dazu, diese Schrift auch in der philosophischen
Literatur zu nennen.
Isaak Husik, Averroes on the Metaphysics of Ai-istotle. (Philosophical
Review XVIII Xr. 4 July 1909 S. 416—428).
Der Verfasser bespricht in diesem Aufsatze die Metaphysik des Averroes,.
die vor einiger Zeit in Kairo von Kabbäni auf Grund einer Handschrift, die
1322 datiert ist, herausgegeben wurde (vgl. dazu meine Besprechung Archiv XX
S. 259). Er bespricht die Metaphysik des Averroes in seiner Zeit und im Ver-
hältnis zu Aristoteles. Es ist der kleinere Kommentar zu Aristoteles, in dem
Averroes seine metaphysischen Theorien auseinandersetzt. Dr. Husik be-
^) Der Ausdruck von Horovitz (S. 745, 13): In gleichem Sinne gebraucht
Abu Haschim den Ausdruck (Modus) von den Attributen Gottes, zu denen er
auch die Göttlichkeit rechnet, läßt sich also dahin präzisieren, daß die GöttUich-
keit der einzige primäre Modus in Gott ist, aus dem die übrigen, die
sekundären verursacht werden.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 2. IQ
242 Horten.
spricht das Verhältnis dieses arabischen Textes, zu den hebräischen und
lateinischen Übersetzungen und weist auf große Verschiedenheiten dieser drei
Textzeugen hin. Kurz und klar führt er sodann die Hauptgedanken des
Averroes aus, die folgende Probleme bebandeln: 1. das Verhältnis der Meta-
physik als Universalwissenschaft zu den Einzelwissenschaften, deren Prinzipien
sie klarzustellen hat; 2. die verschiedenen Bedeutungen des Wortes Dasein;
3. die Kategorienlehre; 4. die Universalienfrage (Erkenntnistheorie); 5. die
Begriffe Potenz und Akt; 6. die Lehre von der göttlichen Allwissenheit, die
sich auf alle Einzeldinge erstreckt. Das Böse haftet jedoch niu- der Materie
an, die Gott nicht erkennt. In Avicenna sieht Averroes seinen Hauptgegner
und er nimmt in dieser verhältnismäßig wenig ausgedehnten Schrift achtmal
Gelegenheit, diesen seinen Gegner energisch anzugreifen. Interessant sind
die Vorwürfe, die Averroes gegen die spekulativen Theologen des Islam erhebt :
sie diskutierten rücht in syllogistischer Weise und prädizierten nicht ihre
Prädikate in präzisem Sinne (primo et per se). Hervorzuheben verdient es
ferner, daß Averroes in der Ordnung der Planeten die Somie an Stelle des
Saturn stellt. Die Herausgabe des korrigierten und vollständig hergestellten
arabischen Textes und der hebräischen Übersetzung durch den Verfasser wäre
sehr zu wünschen und dankenswert.^)
Watwat 1318 t. Ethik. Buläk 1284= 18rD7. 473 S. kl. 4 (gurar alhasais
al wädiha).
Die Ethik des Watwat zerfällt in 16 Kapitel: 1. Edelsimi und Ehrgefühl
(die Tugenden großer Menschen, die Gerechtigkeit und Freigebigkeit, der
Ruhm); 2. Tadel (Subjekt, Objekt, Nutzen); 3. Verstand (Lob der frinen
Bildung und Wissenschaft, der gute Rat); 4. Verurteilung der Unwissenheit;
5. Beredsamkeit; 6. Geschwätzigkeit; 7. Scharfsinn; 8. Gleichgültigkeit gegen
höhere Güter; 9. Spenden von Wohltaten; 10. Geiz; 11. Mut; 12. Feigheit;
13. Selbstbeherrschung; 14. Rache; 15. Freundschaft; 16. Gefälligkeit. Watwat
erklärt in dei Einleitung, daß die großen Meinungsverschiedenheiten der
Ethiker ihn veranlaßt haben, dieses Buch zu schreiben, das dem Leser ein
Freund und Begleiter sein möge. Seine Ansichten begründet der Verfasser
unter Anführung einer reichen FüUe von Autoritäten aus den Reihen der
Dichter, Traditionssammler, positiven Theologen, Staatsmänner, Könige
und Philosophen. Sein Werk ist daher mehr für den Literarhistoriker als für
den Philosophen eine Fundgrube. „Die Charaktereigenschaft ist eine Ge-
wohnheit, die der Seele anhaftet. Der Mensch erwirbt sich dieselbe ohne Absicht.
Sie zerfällt in zwei Spezies, die gute mid böse suw. Sodaim wird der Begriff
der durch Gewohnheit erworbenen Tugenden von den durch die Natur ge-
gebenen unterschieden usw.
^) Eine deutsche Übersetzung habe ich unterdessen (1912, Halle: Die
Metaphysik des Averroes) erscheinen lassen.
(Fortsetzung folgt.)
Rezensionen.
Petersen, Peter, Die Plülosophie Friedrich Adolf Trendelenburgs. Ein
Beitrag zur Geschichte des Aristoteles im 19. Jahrhmidert. Hamburg,
Boysen, 1913.
Der Verfasser schreibt im Vorwort (VI): „Und doch vermag Kant so
wenig wie Plato der realen Seite im Welterlebnis voll gerecht zu werden. Ihr
Ideahsmus, nenne man ihn transzendental oder kritisch oder methodisch,
bedarf der Erhebung zum Idealrealismus". Die Frage von der Lücke im kan-
tischen System, die der Kontroverse Trendelenburg — Kuno Fischer zu gründe
liegt, ist damit wieder aufgeworfen. Gleichwohl hat es den Anschein, als stehe
Petersen hinsichtlich seiner Auffassung über diese Streitfrage sowie über die
Auffassung des a priori auf der Seite von H. Cohen, den er zustimmend zitiert.
(Vgl. Kant, Prolegomena § 13, Schluß, wo gezeigt wird, daß die Frage keinen
■Sinn hat.)
Petersens Darstellung ist im übrigen recht geschickt mid verständnisvoll.
Sie gibt ein klares Bild von der geschichtlichen Wirksamkeit der anziehenden
Persönlichkeit Trendelenbiu-gs. An manchen Stellen wäre ausführlichere Be-
handlung am Platz, insbesondere bei dem Kapitel über das Recht und die
Ästhetik.
Michelstadt (Hessen). G. Falter.
Steinmann, H. G., Dr. phil.. Über den Einfluß Newtons auf die Erkenntnis-
theorie seiner Zeit. Borna 1913, Friedr. Cohen.
St. behandelt zunächst die Grundlagen der Xewtonschen Lehre. Er zeigt,
in welcher Weise Newton die mathematische Methode Galileis in der Physik
fortführe, imd worin seine Bedeutung gegenüber der Korpuskular-Physik be-
stehe. Interessant ist die Deutung der leges motus. St. bringt dieselben
(ohne Cohenianer zu sein) mit den platonischen Ideen in Zusammenhang.
Die leges motus „smd \-ielmehr zunächst nichts anderes als die notwendigen
Grundlagen für den deduktiven Aufbau der theoretischen Physik" (8). Solche
„notwendigen Voraussetzungen meinte Plato mit dem von Newton so stark
befehdeten Wort vTVÖdsatc" (9). An dem Beispiel der Gravitationslehre tut
St. dar, daß es sich bei Newton nicht um eine empiristische Auffassung des
Kausalverhältnisses handle. „In philosophicis abstrahendmn est a sensibus."
Darstellung wie Kritik der Anschauungen NewtoiLS sind klar und sachlich.
Der Verf. behandelt ferner die Kritik der Newtonschen Lehre bei Berkeley,
die Wirkung Newtons in Deutschland mid in Frankreich. Besonderes In-
teresse bietet der 3. Abschnitt wegen vieler trefflichen Bemerkungen über
Wolff.
Michelstadt i. Odenwald. G. Falter.
16*
244 Rezensionen.
Dr. Julius Jakobovits, Die Lüge im Urteil der neuesten deutschen
Ethiker. Studien zur Philosophie und Religion, herausgegeben von
Prof. Dr. Stözle. 16. Heft.
Der Verfasser gibt in seinem Buche mehr, als er im Titel verspricht.
Bevor er zu seinem eigentlichen Thema übergeht, zeichnet er in kurzen Strichen
deutlieh die Grundlinien seiner ethischen Anschauungen. Und das mit Recht.
Denn eine Wertinig der Lüge, ihrer Abarten und Nebenerscheinungen kann
letzten Endes nur das Resultat einer bestimmten ethischen Richtung sein.
Der Autor bekeimt sich denn auch zur fonnalistischen Schule, ohne in die
Einseitigkeiten zu verfallen, \ne sie Fichte eigen sind. Er sieht in der Lüge
,,die wissentlich falsche Darstellung der Tatsachen". Er legt Gewicht auf
die Tatsache, daß bei der Lüge eine Dissonanz zwischen der bewußten Äußerung
und den Gedanken besteht. Die letzteren müssen der Absicht zu täuschen ent-
springen, um den Stempel der Lüge zu haben. Demnach gehören Vorsatz,
Bewußtsein und die Absicht, eine falsche Meinung zu erwecken, zu den charak-
teristischen Merkmalen der Lüge. Von dieser Grundlage aus sucht der Verfasser
nicht ohne Geschick sich mit den der Lüge ähnlichen und verwandten Er-
scheinungen auseinander zu setzen bzw. sie zu bewerten. So fällt er ein richtiges
Urteil über die Akkomodation als die ,, Anpassung an die Sitten, Gebräuche
und Redeweisen anderer, soweit sie nicht mit eigenen Überzeugungen in
Konflikt geraten". Desgleichen entwickelt er richtige Ansichten über die
Zweideutigkeit, den Scherz und die Kriegslist. In dem Kapitel über die kon-
ventionellen Höflichkeitsfomien weist er das wegTiV'erfende Urteil Schopen-
hauers über diese soziale Umgangsform zurück und kommt zu einem Er-
gebnis, das sich mit dem Kants (Anthropologie) und Iherings (ZAveck im Recht)
deckt. Es ist die Anerkennvnig des Personenwertes, worauf ein jeder Mensch
Anspruch erheben kann. Unsere Rechtsprechung erlaubt ja auch nur dann
die Herabsetzung der persönlichen Elu'e und Würde, wemi berechtigte In-
teressen auf Seiten des Beleidigenden vorliegen.
Mit einem gewissen ethischen Scharfsimi behandelt der Verfasser das
Thema der Lüge des Bewußtseins. Er luiterscheidet hierbei zwei Formen:
erstens die Täuschung über die Motive der eigenen Handlungsweisen und zweitens
die Vorspiegelung falscher Motive der eigenen Meinung. Die letztere tritt
überall da auf, wo man in ihr einen Helfer für unsittliche Maxime erblickt. So
erklärt sich die große unberufene Gefolgschaft in Lehrmeinungen, welche den
niederen Trieben und Leidenschaften zu schmeichehi scheinen.
Die Fülle gesellschaftlicher Erscheinungen, welche mit der Lüge zusammen-
hängen, drängt den Verfasser zu der Frage, ob der Mensch eine aprioristische
Anlage zur Wahrhaftigkeit oder ihrem Gegenteil besitzt. Sorgfältig wiegt der
Autor unter Benutzung des ethnologischen Materials das pro und contra der
Ansichten ab und kommt zu dem Resultate, daß der Hang zur Wahrheit
das Natürliche im Menschen sei.
Noch ein Wort über die Fonn. Das Buch ist flüssig und klar geschrieben,
der Gedankengang ist methodisch. Die Auseinandersetzung mit den zahl-
reichen Ethikern ist sachlich und zeugt von großer Belesenheit auf dem Gebiet
der ethischen Literatur.
Berlin. Dr. Martin Joseph.
Rezensionen. 24o
Max Wentscher, Hermann Lotze. I. Band: Lotzes Leben und Werke.
Mit zwei Porträts. Carl Winters Universitätsbuchhandlung, Heidel-
berg 1913. IV und 367 S.
Nach diesem vorliegenden ersten Band der auf zwei Bände berechneten
Arbeit Wentschers über Hermann Lotze kann man noch kein rechtes Urteil
fällen darüber, wie weit der Verfasser uns dem Verständnis Lotzes nahe bringen
wird. Das wird erst der zweite systematische Band erweisen. Der erste Band
hat es außer mit dem Leben Lotzes weniger mit seiner Philosophie als mit
seinen Schriften zu tun. Wentscher geht hier sehr weit ins einzelne. Er gibt
nicht nur den Inlialt der selbständigen Veröffentlichungen Lotzes und gelegent-
lich publizierter Aufsätze an, sondern er berücksichtigt auch weitgehend
die kritische Tätigkeit des Philosophen. Alles dies hat seine Wichtigkeit und
seine Berechtigung und wer in Zukunft sich eingehend mit Lotze beschäftigen
■wiU, wird dieses Buch nicht entbehren kömien. Andererseits aber hat diese
vornehmlich chronologisch angeordnete und auch das Geringere nicht über-
sehende Ai'beit den Nachteil einer gewissen Nüchternheit und Trockenheit.
So kommt es, daß dieses Buch sich nicht sehr der fortlaufenden Lektüre dessen
empfiehlt, der Lotze kennen lernen will, sondern vielmehr ein Handbuch für
den ist, der Lotzes Philosophie bereits kennt und Aufschluß über Einzelheiten
sucht. Diesem Zweck entspricht auch die sorgfältige Ausarbeitung eines Sach-
und Namenregisters. Gehen wir aber von dem Buch zu seinem Verfasser
über, so müssen wir anerkennen, daß wir es mit einem gründlichen Kermer
der gesamten Lotzeschen Philosophie mid des Entwicklungsganges des Philo-
sophen zu tun haben und das berechtigt uns zu der Hoffnmig, daß der zweite
Band eine Darstellung der Philosophie Lotzes bieten wird, die aus dem vollen
geschöpft ist, der gegenüber dann dieser erste Band nur wie eine Vorarbeit
erscheinen imd in der er seine eigentliche Nutzbarmachung finden wird.
Berlin. Dr. Werner Bloch.
George Berkeley, Siris. Übersetzt von Luise Raab und Dr. Friedrich Raab.
Philosophische Bibliothek, Bd. 149. Verlag von Felix Meiner, Leipzig.
XXIV imd 139 S.
Dieses Buch ist eine erwünschte Ergänzung der bisher in der philosophischen
Bibliothek erschienenen Werke von Berkeley. Die Übersetzung ist im all-
gemeinen durchaus anerkennenswert. Die orientierende Einleitung des Heraus-
gebers und die sorgfältigen Amnerkungen erleichtern dem Leser das Ver-
stäncüüs wesentlich*). Sehr zu begrüßen ist, daß die Herausgeber außer den
üblichen alphabetischen Verzeichnissen ihrer Ausgabe ein ,, Verzeichnis der
Übersetzungen der von Berkeley mehr oder minder terminologisch gebrauchten
Worte" beigegeben haben. Die Siris (das Wort bedeutet „Kette") ist bekanntlich
jenes eigentümliche Werk, das mit einem Rezept über die Bereitung des Teer-
wassei's anhebt mid allmählich zu den tiefsten philosophischen Untersuchungen
*) Zu Armierkung ^) ist zu bemerken, daß im Text an ihrer Stelle ver-
sehentlich ^") steht mid daß die Hundsgrotte nicht, wie der Herausgeber be-
merkt, mit Kohlenoxyd (CO), sondern mit Kohlendioxyd (CO.,) gefüllt ist.
246 Rezensionen.
fortschreitet. Mit Recht liabcn die Herausgeber das philosophisch Bedeutsame
vom Teerwasserrezept getrennt und nui die philusopliischen Ausführmigen
übersetzt und herausgegeben. In der vorliegenden Form aber ist die Kenntnis
dieses Buches unentbehrlich für denjenigen, der der Philosophie Berkelej^s
sein Interesse zuAvendet und vermittelt auch erst das volle Verständnis mancher
Äußerungen Kants über Berkeleys philosophische Ansichten.
Berlin. Dr. Werner Bloch.
Bibliothek der Philosophen. Geleitet von Fritz Mauthner:
VI. Band: Immanuel Kant, Briefwechsel, 2. Bd. ] Herausgeg. von
VII. - - . - 3. Bd. J Ernst Fischer.
VIII. - Agrippa von Nettesheim, Die Eitelkeit und Unsicherheit
der Wissenschaften imd die Verteidigmigsschiift. Herg.
von Fritz Mauthner. 2. Bd.
IX. - Hebbel als Denker. Herg. von Bernhard Münz.
X, - Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung.
Herg. von Ludwig Berndl.
Verlag von Georg Müller, München 1913.
Bei der Besprechung der ersten fünf Bände dieser neuen philosophischen
Bibliothek bin ich bis ins Einzelne ihren wissenschaftlichen Mängeln nach-
gegangen. Ich unterlasse das numnehr. Die Bibhothek macht offenbar nicht
den geringsten Anspruch auf A\-issenschaftliche Genamgkeit und ist für den
Gelehrten in keiner Weise berechnet. Ich werde daher nur ganz kurz auf einige
der Umstände hinweisen, die für ihre Beiu-teilung auch dami noch in Betracht
kommen, wenn man sie als für den gebildeten Laien bestimmt betrachtet.
Da ist es mir zunächst angenehm, feststellen zu kömien, daß der Heraus-
geber der Kantbriefe im dritten Bande die erforderlichen Erläuterungen zu
den Briefen, sowie auch eine Üerbsicht des Briefwechsels nach den Personen,
mit denen er geführt wurde, bringt. Auch das Nachwort, in dem er einige der
wichtigeren Probleme, die in den Briefen cüskutiert werden, übersichtlich dar-
stellt, ist eine erfreuliche Beigabe. Leider hat er es imterlassen, bei Briefen
und Briefteilen, die mcht der Akademieausgabe entnommen sind, den Ort
anzugeben, an dem er sie gefunden hat, so daß die Nachpinifung der Voll-
ständigkeit sehr erschwert ist und zeigt auch sonst keine größere Sorgfalt im
1. Bande.
Über den zweiten Band des Agrippa habe ich kaum etwas Neues zu be-
merken; auch die beigefügte Verteidigungsschrift entbehrt jedes philoso-
phischen Interesses, und mit dem etwa sich daran knüpfenden kultur-
historischen Interesse haben wir es hier nicht zu tun.
Auch bei dem Bande „Hebbel als Denker" kami man sicli nur fragen,
was mag wohl der Herausgeber dieser Bibliothek unter Philosophie verstehen.
Offenbar hat er gar keinen bestimmten Begriff von ihr, sondern rechnet ihr
alles zu, was sich nicht so leicht der einen oder der anderen Wissenschaft ein-
gliedern läßt, aber doch von erhebhchem Interesse ist. Gewiß sind Hebbels
kleine Abhandlungen interessant und lesenswert, aber philosophisch? Fast
unglaublich ist es, daß ein Band, der eine große Anzahl verschiedener Einzel-
Rezensionen. 247
aufsätze, Tagebucheintragungen und Briefe enthält, kein Inhaltsverzeichnis
aufweist.
Der zweite Band Schopenhauer bleibt leider hinter dem ersten noch be-
trächtlich zurück. Es -vnrd gar nicht mitgeteilt, welche Auflage zugrunde
gelegt worden ist. Es ist die 3. Auflage des Gesamtwerkes, die 2. Auflage dieses
Bandes von 1854. Dieser Band bringt nur den einfachen Abdruck, ohne jeden
Vergleich mit den anderen Auflagen, ohne jede Erklärung und ohne die Über-
setzung der fremdsprachlichen Zitate, die ich bereits an dem ersten Bande aner-
kennend hervorheben konnte.
Es ist ja immer erfreulich, wenn ein großzügiges Unternehmen auf philo-
sophischem Gebiet ins Leben gerufen wird, aber auch bei einer für weitere
Kreise bestimmten Bibliothek dürfte man etwas mehr System in der Auswahl
und Sorgfalt in der Herausgabe walten lassen.
Berlin. Dr. Werner Bloch.
Was wir Ernst Häckel verdanken. Ein Buch der Verehrung und Dankbar-
keit. Im Auftrage des deutschen Monistenbundes herausgegeben von
Heinrich Schmidt. 2. Bände mit 12 Abbildungen, darmiter 5 Häckel-
porträts. Verlag Unesma G. m. b. H., Leipzig 1914.
Diese beiden starken Bände, in denen 123 Männer und Frauen der ver-
schiedensten sozialen Schichten und Berufe, Gelehrte, Kaufleute und Ar-
beiter über Häckel und ihr Verhältnis zu seiner Lehre zu Worte kommen,
ist zwar von keinem eigentlich philosophischen Interesse; außerordentlich
^vichtig ist es aber als kulturgeschichtliches Dokument. Zweifellos ist der
Monismus heute eine der kräftigsten Bewegungen, und besonders interessant
ist diese Bewegmig durch den inneren Widerspruch, der doch ihr lebens-
kräftigstes Moment zu sein scheint: Mit den Waffen des Geistes sucht der
Monismus den Geist totzuschlagen. In der Methode setzt er überall den
Geist gegen den überkommenen Zwang, in den Zielen setzt er überall den
Mechanismus, das Starre, das Gez\\'ungene an die Stelle des überkommenen
Geistes. Xun muß man freüich den Monismus als Reaktionsbewegung gegen
die Reaktion in Kirche und Schule, inWissenschaft und Leben begriffen haben,
um sich überhaupt in seinen Gedankenkreisen zurechtzufinden. Der Monismus
ist nämlich — eine Ironie auf seinen Namen ! — vielleicht die ^•ielspältigste
Bewegung der Gegenwart hinsichtlich seiner Motive sowohl als seiner Aus-
prägungen. Das Seltsamste aber ist es wohl, wenn er, der Kirchenfeind, der
energischeste Bekämpfer der überlieferten Religionsformen und -gemeinschaften
nachgerade selbst zu einer solchen geworden ist. Der Ausdruck „Monisten-
papst" ist nicht nur scherzhaft. In der Tat zeigt die monistische Bewegung
sich vöUig auf dem Wege, eine neue kirchliche Gemeinschaft zu werden. Gott
mid seine Gebote werden ersetzt durch die Natur und ihre Gesetze, die ortho-
doxe und die liberale Richtung sind eigentlich jetzt schon vorhanden, es fehlen
weder die großen Propheten noch die kultlichen Handlungen. Es gibt schon
Aimoncen, in denen an Stelle der Religionsaugabe steht ,, Monist". Wer einen
Querschnitt durch die Geadnkenwelt des Monismus kennen zu lernen wünscht,
in dem die guten Seiten des Morüsmus, seine Begeisterungsfähigkeit und seine
248 Rezensionen.
Bekenntniöfreudigkcit ebenso zum Ausdruck kommen wie seine sclilcchten
Seiten, so namentlich der naturwissenschaftliche Dogmatismus der (wenigstens
im philosophischen Sinn) halbgebildeten Masse, dem kann ich diese beiden
Bände zur eingehenden Lektüre, ja zum Studium empfehlen.
Berlin. Dr. Werner Bloch.
Arthur Trebitsch, Erkenntnis und Logik. Vortrag gehalten in der Philo-
sophischen Gesellschaft zu Wien, 20. Dezember 1912. Wilhelm Brau-
müller, Wien und Leipzig 1913. 26 S.
Im wesentlichen bemüht sich Trebitsch in diesem Vortrage zu zeigen, daß
die Logik uns in keinem Fall in unserer Erkenntnistätigkeit fördern kann, daß
der psychische Verlauf einer Erkenntnis ganz anders ist als die Abfolge des
logischen und daß die Logik somit mehr oder minder ganz überflüssig ist. Daß
alle Inseln vom Wasser umgeben sind, ist kein Induktionsschluß von vielen
Inseln auf alle, sondern folgt ex definitione, denn ich benannte als Erkennender
zuerst etwas als Insel, was eine bestimmte Eigentümlichkeit besaß, und als ich
dieser Eigentümüchkeit bei einem anderen Gebilde wieder begegnete, fesselte
sie mein Interesse genug, um mich an den ersten Fall zu erinnern und den Namen
des ersten Falls auch auf den zweiten zu erweitern. Und von nun ab ist eine
Insel nur, was diese Eigentümlichkeit zeigt. Viel neues bringt der Vortrag,
der zunächst an Mills Logik anschließt, nicht, hat der Verfasser aber auch wohl
nicht beabsichtigt, in ihm zu bringen ... In den Einzelausführungen scheinen
mir sogar größere Schwächen enthalten zu sein, als dem derzeitigen Stande
der Diskussion der Fragen entsprechend nötig wäre. Die Tabelle auf S. 18
dürfte von den wenigsten als irgend etwas beweisend angesehen werden, und
der den Schopenhauerschen Anforderungen entsprechen sollende Beweis des
Pythagoras S. 23/24 scheint mir alles andere als diesen Anforderungen zu ge-
nügen. Einmal wird zu seiner Einsicht ein Kongruenzsatz vorausgesetzt, der
selbst erst bewiesen werden muß und auch seinerseits nicht ,,ohne weiteres"
einleuchtet, zweitens ist die Figur sehr verwickelt und drittens hat bereits
Multatuli in seinen ,, Ideen" (übersetzt von Wilhelm Spohr, 2. Aufl., Berlin
1903) auf S. 162f. einen für diesen Zweck viel geeigneteren Beweis gegeben.
Alles in allem glaube ich nicht, daß das vorliegende Heft geeignet ist, unsere
Kemitnisse nach irgend einer Richtung hin zu vermehren oder unser Verständnis
zu vertiefen.
Berlin. Werner Bloch.
Im allgemeinen gehört das Lesen von Dissertationen nicht zu den höchsten
geistigen Genüssen; denn oft wird ein gar zu enger Ausschnitt aus dem großen
Kreis menschenmöglicher Erkenntnis behandelt. Doch, wenn es dem Dok-
torant beschieden war, Neuland zu bearbeiten und die eigenen Forschungen
in großem Zusammenhang einzuoixlnen, wie Rieh. Klüger, Die pädago-
gischen Aussichten des Philosophen Tschirnhaus (Leipzig 1913),
68 Seiten, dann liegen die Verhältnisse erfreulicher. Mit einigen Strichen
zeichnet Klüger die allgemeinen Zeitströmungen, das Charakterbild und
den Werdegang des sächsischen Edelmanns Ehrenfried Walther von Tschirn-
Rezensionen. 249
haus, geb. 1651, gest. 1708. ohne die nötige Kritik an dem Verhältnis T.'s,
der zu den Vermittlern Descartes' und Spinozas gehört, zu den Quellen zu
unterlassen (S. 9). Auf die Darlegung der allgemeinen, philosophischen Ideen
T.'s folgt die der pädagogischen. Bei diesem Anlaß kann Klüger leider nicht
ganz sich von seiner Fachansicht frei machen, indem er den antihumanistischen
Standpunkt T.'s (S. 21, 3G) unterstreicht, dabei aber übersieht, daß T. nur
den einseitig formalistischen Betrieb seiner Zeit, aber nicht das humanistische
Gymnasium als solches angreift. Nachdem K. die Anschauungen T.'s dar-
gelegt hat, bekommen seine Ausführungen nochmals wie in der Einleitung
ein Janusgesicht, indem der Zusammenhang T.'s mit Vergangenheit
und Zeitgenossen, bzw. Nachwelt eingehend gewürdigt wird (S. 44 ff.);
z. B. gedenkt K. des Gegensatzes zu Comenius (S. 39, 46 ff.), des Widerspruchs
gegen den Unterricht durch ältere Schüler, wie z. B. auch in Schulen der
S. ,1. (S. 46). Diese verschiedenen Spuren werden mit tiefem Eindringen in
den weitschichtigen Stoff verfolgt; doch ließen sich noch manche Ergän-
zungen vornehmen, z. B. Übereinstimmungen mit Plato. insbesonders in
dem Grundgedanken, daß man durch richtige Anweisung mühelos zur Tugend
gelangen könne, und in der hohen Einschätzung der Mathematik (S. 45, 46;
cf. Arch. f. Philos. 26, 405 ff). — Manche Gedanken T.'s sind auch für
die Gegenwart wichtig, z. B. wenn er sich, gleich Plato, gegen einseitige
Berufserziehung, gegen enzyklopädische Vielwisserei (S. 20, 67), d. h. gegen
bedauerUche Gegenwartsbestrebungen, wendet. Wiewohl T.'s Leitgedanke
der Hofmeistererziehung, die zusammen mit anderen Ansichten (S. 22) an
den von K. auch nicht beachteten Rousseau erinnern, auch in der Gegen-
wart unausfühi'bar ist, so hat T. doch auch für unsere Tage Recht, wenn er
Gewöhnung an feine Sitten (S. 23), Erziehung zum Ertragen der Wechsel-
fälle des Lebens (S. 25), die bereits dem antiken Menschen geläufige rhythmische
Ccymnastik (S. 26), Selbsttätigkeit der Schüler (S. 27, 31, 34), z. B. im Hand-
fertigkeitsunterricht, Besuch von Werkstätten, wie bei Weigel und in unseren
Landerziehungsheimen, Besuch von fremden Ländern, wie bei unserem
Kinderaustausch (S. 37), warm empfiehlt. Auch die methodische Bemerkung,
daß Aufsteigen vom Leichteren zum Schwereren nötig sei (S. 29), dürfte
heute Gemeingut sein; dagegen einige andere x4.nsichten leider noch nicht,
am wenigsten bei den Eltern, z. B. den ZögUng bei der Auswahl der Studien-
fächer seinen Neigungen folgen zu lassen (S. 28), das Verwerfen von Strafe,
da sie zu innerer Unwahrheit führt, wie ich vor Jahren in der Zeitschr. f.
Kinderpflege 1908 (Nr. 2 u. 4) zu entwickeln versuchte.
Diese wenigen Zeilen mögen genügen, um zu zeigen, daß auch K.'s Arbeit
ein begrüßenswerter Beitrag zur Geschichte der pädagogischen Ideen ist;
denn ihr Studium bewahrt vor dem Wahn, auf pädagogischem Gebiet ganz
neue Gedanken sagen zu können.
Bergzabern (Pfalz). Dr. Jegel.
Mit dem vierten Beiheft ihrer Zeitschrift legt die Gesellschaft für
deutsche Erziehung und Unterricht auch für das Jahr 1911 einen
sehr wertvollen historisch-pädagogischen Literaturbericht (Berhn,
2 50 Rezensionen.
Weidmann, 1913) vor, wie z. B. auch tlie Comcniusgesellschaft zu Leipzig
in ihrer pädagogischen ZentralbibHothek tut. Ihm gegenüber empfiehlt sich
meines Erachtens für den Berichterstatter derselbe Ton und dieselbe Stellung-
nahme, wie sie die Herren IMitarbeiter gegenüber den von ihnen behandelten
Arbeiten zeigen, nämlich ruhigste Zurückhaltung; deiui es wäre mehr als
kleinlich, auf übersehene Aufsätze, die man etwa selbst geschrieben hat, hin-
zuweisen oder mit der Auffassung von dem oder jenem Buch zu rechten.
Verschiedene Bewertung einer Leistung schließt rücht notwendig einen Irr-
tum eines oder beider Berichterstatter in sich; deim jeder einzelne, welcher
über ein fremdes Erzeugnis schreibt, kami und wird zu ihm eine oft abweichende
Stellung einnehmen, je nachdem er dasselbe, verwandtes oder entgegen-
gesetztes Arbeitsfeld beackert: er wüd z. B. den oder jenen Satz anders
fassen, diese oder eine andere Tatsache vermissen, nicht einverstanden sein,
daß bestimmte Behauptungen herausgehoben werden, wird schließUch das
eine oder andere Buch an anderer Stelle erwähnt suchen und wünschen.
Sofern nur die Besprechung mit ^Yahl'heitshebe und frei von aller persönhchen
Gereiztheit geschieht, hat sie innere Berechtigung. Ich glaubte diese grund-
sätzlichen Darlegungen dem Buche und mir selbst schuldig zu sein; denn daß
ich den Bienenfleiß und die Geschicklichkeit, mit der man sich bemüht hat,
die Hochflut von Einzelarbeiten, oft über sehr ähnlichen Stoff, zusammen-
zutragen und in Verbindung zu setzen, sehr bewundere, will ich unumwunden
aussprechen, selbst auf die Gefahr hin, wegen dieses uneingeschränkten Lobes
getadelt zu werden. Dem großzügig angelegten Werk, das bekannthch nicht
nur auf fast allen anderen größeren Arbeitsgebieten der Gegenwart, sondern
auch auf seinem eigenen manche Gesch^nister hat, kami ich wohl mcht besser
gerecht werden, als wenn ich kurz seinen Inhalt wiedergebe.
Etwas über 1600 deutsche pädagogische Erscheinungen des Jahres 1911
werden in 5 Haupt- und 40 Unterteilen besprochen oder wenigstens ei-wähnt.
Der erste Abschnitt, Perioden und Personen, enthält nicht nm- die Literatur
über Gesamtent-nicklung, sondern auch über ■ einzelne größere Abschnitte,
]\Iittelalter, Humanismus, Reformation und Gegem-eformation, Neuere Zeit,
sowie einzelne Männer von größerer oder geringerer Bedeutung (vgl. auch
Kap. 39 des Anhanges, das der Bibhogiaphie gewidmet ist.) In der zweiten
Gruppe, Bildungseinrichtungen, werden die Schriften über einzehie Schul-
gattungen erörtert und auch — zum erstermial — die Abhandlungen über
Charitativerziehung; denn Jugendfürsorge und Jugendpflege rückt mit vollem
Rechte mehr und mehr in den Kreis der allgemeinen Aufmerksamkeit (auch
Kap. 38 im Anhang scheint mir Verwandtes zu bergen, da es Kinderleben und
Kinderspiel betrifft). Bei den Unterrichtsgegenständen fehlen Geschichte,
Xaturwissenschaften und neuere Sprachen, weil über sie keine bedeutenderen
Arbeiten vorlagen. Der 4. Hauptteil beschäftigt sich mit der Literatur über
einzelne deutsche Staaten, Österreich und Schweiz; bei beiden letzteren Ländern
werden fast ausnahmslos nur Ai-beiten in deutscher Sprache berücksichtigt,
da die Gesellschaft sich mit deutscher Erziehung und Schulgeschichte befaßt.
Die Verteilung auf die einzelnen Haupt- und Unterabschnitte gestattet
selbstverständhch keine Schlüsse auf größere oder geringere Beschäftigung
. Rezensionen. 251
mit pädagogischen Fragen imierhalb bestimmter Staaten; deim es wird keine
Scheidung nach der landsmannschaftlichen Zugehörigkeit der Verfasser ge-
geben. Andererseits ist ein Überwiegen der Geschichte der Pädagogik
gegenüber der Theorie sofort zu erkennen. Der vornehmste Grund
dieser Erscheinung scheint mir darin zu liegen, daß die Hauptquellen geschicht-
licher Arbeiten zwar mitunter mühsam aufzusuchen und zusammenzustellen,
aber doch naturgemäß leichter zu behandehi sind, weil sie mit bestimmten
Tatsachen es zu tun haben. Die Theorie der Pädagogik dagegen gibt mehr
persönliche Eindrücke und Anschauungen des Sclu-eibenden wieder. Vor
solchen Bekenntnissen scheint man sich aber im allgemeinen zu scheuen: ich
weiß nicht, soll ich sagen leider oder erfreuUcherweise. Einerseits wäre es
nämlich für die Frage, ob und welche Abänderungen bei den bestehenden Ein-
richtungen nötig oder nur wünschenswert sind, von größter Wichtigkeit mög-
lichst viel ruhig sachliche Schilderungen über die Zustände an den einzelnen
Schulen zu haben. Andererseits verändert sich das in dem einen Jahr zutreffende
Bild mit den wechsehiden Schülern in dem nächsten oft sehr- gründlich. Auch
gehört eine vollkommen richtige Würdigung einer Klasse, -wie sie zu dem
dargebotenen Stoff, zu der aufgewendeten Mühe sie zu erziehen sich stellt, zu
dem Schwierigsten und auch Peinlichsten, da Eltern, Amtsgenossen und Schul-
vorstände mitunter über offene Worte sehr ungehalten sind. Je selbständiger
nun der Verfasser ist, um so persönlicher wird seine Abhandlung und um so
leichter schleichen sich Beobachtungs- und Darstellungsfehler ein. Sie ver-
mögen aber unter Umständen großes Unheil anzurichten, besonders weiui sie
ein gewisses Publikum, das sich gierig auf jede rückhaltlose Kritik bestehender
Verhältnisse stürzt, zu lesen bekommt; denn es gibt schwerlich ein Gebiet,
wo soviele Leute ohne Verständnis und Sachkermtnis mitreden zu dürfen
glauben, als das pädagogische.
Im Hinblick auf die Menge der Schriften, welche auf den 408 Seiten er-
wähnt werden, empfindet man die zwei Register über Autoren, bzw. Namen
und Sachen als gi'oße Wohltat, wiewohl der mit den Druckkosten entschuldigte,
bei ihnen gegenüber dem Text noch kleiner werdende Satz an die Augen des
Benützenden große Anforderungen stellt. Dr. Jegel.
Unter der Hochflut deutscher Bücher gibt es Sammlungen und Verlage,
deren Namensnennung allein genügt, um bei Kundigen ein angenehmes
oder peinliches Gefühl auszulösen, je nachdem die Erzeugnisse sich eines
guten oder schlechten Rufes erfreuen. Zu der ersten Gruppe gehören auch die
Monumenta Germaniae pädagogica (Berlin, Weidmann). In ihrem
52. Bande (1913) behandelt der Chemnitzer Schuh-at Dr. Julius Richter
das Erziehungswesen am Hofe der Wettiner Albertinischen
(Haupt -)Linie, von der Zeit Albrecht des Beherzten bis zu der Friedrich
August des Gerechten, das heißt von der Mitte des 15. bis zum ersten Drittel
des 19. Jahrhunderts.
Es wäre meines Erachtens Beckmesserei, an der Auffassung oder Dar-
stellung von Einzelheiten henimzumäkeln; denn die verschiedenartigen Kultur-
bilder, denen der Verfasser — dem erhofften weiteren Leserkreise zuhebe —
252 Rezensionen.
gelegentlich auch einige allgemeine Landesgeschichte betreffenden Züge einfügt,
sind zweifellos sehr anziehend und regen zum Vertiefen, Zusammenfassen,
Gegenüberstellen von manchen Punkten, die der Verfasser trotz der 401 Seiten
Text und 182 Seiten Beilagen nicht ausführt, in hohem Grade an. Diese weiter-
bauende Arbeit erleichtert Dr. R. durch genaue Quellenverweise: außer
gedruckter Literatm' sind auch Archivalien in reichem Maße beigezogen.
Da letztere bis jetzt nur zum kleineren Teile gehobene Schätze sind, hat der
Verfasser nicht den Gesamtarchivbestand benützen können, wiewohl er selbst
fleißig aus Urquellen geschöpft hat. Xiemand, der selbst ein weites Arbeits-
feld zu beackern begomaen und während der Studien die Aufgabe hat wachsen
sehen, wird diese offen zugestandene Beschränkung tadeln wollen. — Das
behandelte Gebiet bringt es mit sich, daß ausgedehnte Stellen in der Haupt-
sache umstilisierte Auszüge aus Vorlagen sind. Eine Auswahl derselben,
die am Ende des stattlichen Bandes abgedruckt ist, ladet zum Nachprüfen ein.
Ob mit der buchstabengetreuen Wiedergabe des Originals alle Historiker ein-
verstanden sind, weiß ich nicht. Besonders da Dr. R. sich auch nichtfach-
niännische Leser wünscht, hätte er auch die den Text fast ganz moderni-
sierenden Grundsätze der badischen Geschichtskommission beachten körmen,
Avenn auch diese Behandlungsweise manche dem Sprachforscher wichtig er-
scheinende Einzelheit in der Redeweise verwischt. Nicht unerwähnt darf
ich schließHch lassen, daß ein augenscheinlich mit ähnlicher Sorgfalt wie das
Buch zusammengestelltes Register über die vorkommenden Personen und
Ortsnamen unterrichtet. Dr. Jegel.
Die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der
Geschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
Bericht über den 6. Kongreß für experimentelle Psychologie in Göttingen 1914.
Leipzig, Barth.
Brinkschulte, E., Scaligers kunsttheoretische Anschauungen und deren Haupt-
quellen. Bonn, Hanstein.
Brunswig, A., Das Grundprobleni Kants. Leipzig, Teubner.
Croce, B., Zur Theorie und Geschichte der Historiographie. Tübingen, Mohr.
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Gentile, G., Studi Vichiani. Messina, G. Principato.
Kantgesellschaft.
Zur Eduard von Hartmann-Preisaufgabe.
(Ändennig des Ablieferungstermins der Arbeiten.)
Tm Mai 1912 schrieb die Kantgesellschaft ihr 6. Preisausschreiben aus
über das Thema: „Eduard von Hartmanns Kategorienlehre und
ihre Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart" bei einer
Dotierung von 1500 Mark für die beste und von 1000 Mark für die zweitbeste
Bearbeitung.
Da sich nun voraussichtlich einige Bearbeiter der Preisaufgabe im Felde
befinden und somit dm-ch unmittelbare militärische Verpflichtung überhaupt
an der Bearbeitung behindert sein werden, andere aber bei den bewegten Zeit-
läuften die für die Bearbeitung erforderUche Ruhe und Sammlung nicht
werden aufbieten kömien, so teilen wir hierdurch unter Zustimmung der
Preisstifterin, Frau Alma von Hartmann, und der drei Preisrichter, der Herren
Professoren Windelband, Bauch, Jonas Cohn, mit, daß der Termin für die
Ablieferung der Arbeiten vom 22. April 1915 auf den 22. April
1916 verlegt worden ist. Sämtliche übrigen Bestimmungen des Preis-
ausschreibens bleiben unverändert in Kraft.
Halle a. S., Berlin, im November 1914.
Die Geschäftsführung:
Vaihinger. Liebert.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXI. Band, 3. Heft.
VIII.
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Natur-
philosophie.
Von
Karl Zöckler.
Einleitung und Gliederung des Ganzen.
Suchen wir uns in Kürze die Herkunft der Schellingschen Natur-
philosophie klar zu machen, so müssen wir die Quellen, aus welchen
ihre Prinzipien stammen, von dem Material, welches den Prinzipien
nur zum Beweise dient, wohl unterscheiden. Das Material, aus welchem
die Beweise für die Prinzipien und die aus ihnen abgeleiteten Sätze
geschöpft sind, ist nichts anders, als die Natur selbst in der Gestalt,
wie sie von dem Spiegel der damahgen Naturwissenschaft reflektiert
wurde. Es waren vor allem die damals neu begründeten Lelu-en von
der Elektrizität, der Erregung und der Verbrennung, und nicht minder
auch von der Entwicklung, welche auf Schelling den größten Einfluß
ausübten. So sehr er aber auch die Ergebnisse der Erfahi'ung zu Rate
zog, was niemand leugnen kann, der auch nur einen Blick in seine
Schriften geworfen hat, so haben sie doch für das System der Natur-
philosophie und insbesondere der Entwicklungslelu'e nur eine unter-
geordnete Bedeutung. Wie in den meisten philosophischen Systemen,
so dienen auch in dem von Schelling die induktiven Beweise nur zur
nachträglichen, oft sehr schwachen Stütze von Gedanken, die ganz
wo anders ihren Ursprung haben, nämhch in' der ureignen Anlage
und Überzeugung des Philosophen selbst. Nirgends anderswo als in
seiner Individuahtät darf die erste Quelle seiner naturphilosophischen
Gedanken gesucht werden. Die in dem jugendlichen Philosophen
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 3. J^7
258 •'^•'^rl Zöcklor,
personifizierte Urkraft war nichts anderes als sein unermeßlicher Drang
nach einer einheitlichen Gestaltung der gesamten Welt. Die zweite
Quelle war der deutsche Kritizisnnis. Die Lehi-en von Kant und Fichte
sind die Prämissen, ohne welche die Konsequenzen, nämlich Schellings
Lehre, nicht zu verstehen ist. Kants Forschung war, nachdem ei-
aus dem Dogmatismus zum Kritizismus erwacht war, auf die sub-
jektive Fähigkeit des Menschen gerichtet, die Natur zu erkennen.
Fichte untersuchte die subjektive Fähigkeit des Menschen, sich selber
zu erkennen; für die Natur hatte er kein besonderes Interesse.
Schelling, der sich diese Lücke im Fichteschen System angelegen
sein heß, suchte die objektive Fähigkeit der Natur zu ergründen,
von dem Menschen erkannt zu werden. Während Kant die Frage
untersuchte: Wie kommt der Mensch zu der Erkenntnis der Natur?,
lautete SchelUngs Problem: Wie kommt die Natur dazu, vom Menschen
erkannt zu werden? Wären Natur und Mensch, oder, was dasselbe
ist, Natur und Geist in der Wurzel verschieden, so wäre eine Er-
kenntnis der Dinge, eine Übereinstimmung des Idealen und Realen
unmöghch. Diese kann in SchelUngs Sinne nur dadurch Zustande-
kommen, daß Natur und Geist im Grunde identisch sind. Das Prinzip
der Einheit von Natur und Geist ist der Schlüssel zu SchelUngs Ent-
wicklungslehre. Denn, sofern Natur und Geist aus einer gemeinsamen
Wurzel ableitbar sind, kann die Antwort auf die Frage nach der
Entstehung des Geistes aus der Natur nur lauten: durch Entwicklung.
Diese stufenmäßige Entwicldung ist aber nur dann mögUch, wenn
die Natur in sich selber d. h. die unorganische Natur mit der organi-
schen eine Einheit bildet. Denn nur unter diesem Gesichtspunkt
kann sich aus der Natur der Geist oder aus der unorganischen Natur
die organische entwickeln.
So haben wir die beiden Grundprinzipien der Schelüngschen
Entwicklungslehre gewonnen: Das Prinzip der Einheit von Natur
und Geist und das Prinzip der inneren Einheit der Natur als solcher.
Obwohl diese beiden Betrachtungsweisen sich bei ScheUing gegen-
seitig durchdringen, erscheint es hier der DeutUchkeit wegen ratsamer,
dieselben getrennt zu behandeln^).
1) Vgl. auch die Einteilung von Heußler in seiner kurzen Darstellung
von Schellings Entwicklungslehre. (Rhein. Blätter f. Erziehung und Unter-
richt 1882 S. 524ff.
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 259
Kap. I. Transzendentale Entwicklung.
§ 1. Entstehung der Materie.
Von dem ersten Prinzip aus die Entwicklung betrachteii, heißt
sie transzendental betrachten ; denn dieses Prinzip ist ja die Schelling-
sche Antwort auf die transzendentale Frage nach der Erkennbarkeit
der Natur. Da die Natur mit dem Geiste eins ist, so muß eins durch
das andere sieh erklären lassen: die Natur durch den Geist und der
Geist durch die Natur. Beide stehen in notwendiger Beziehung zu
einander. Daher entsteht entweder die Materie aus dem Geist oder
umgekehrt.
Die Materie nun geht bei ScheUing aus dem Geist hervor ^).
Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, soll von vornherein
bemerkt werden, daß hier unter dem die Welt produzierenden Geist
nicht etwa unser menschhcher Geist zu verstehen ist; vielmehr soll
die Welt das Produkt des allgemeinen Weltgeistes sein, des Geistes
als Universalprinzip, von dem unser gewordener menschlicher Geist
nur die letzte und höchste Produktion ist. Da aber eben deswegen
unser Geist identisch ist mit dem absoluten Geist, dem allgemeinen
Weltgeist, so haben wir die Fähigkeit und das Eecht, von uns auf die
ganze übrige Natur zu schUeßen, oder, in anderen Worten, die Natur
denkend zu reproduzieren, wälu-end der allgemeine Weltgeist sie
produziert. Daß die Außenwelt nicht das Produkt unsres Geistes
sein kann, erhellt schon aus der Tatsache, daß sie uns als ein Objekt
erscheint, das wir bereits in unserem Be\\T.ißtsein fertig vorfinden.
Die Produktion der Natur muß daher notwendig dem menschlichen
Be^vußtsein vorausgehen.
An sich ist der Geist unbedingte, absolut freie, produktive Tätig-
keit. Sein innerster Kern, sein eigenes Selbst ist das Wollen, das
weiter abzuleiten unmöglich ist. Der Geist entwickelt sich, weil er
seine Entwicklung wilP).
Er ist die tätige, produktive, von Haus aus unbewußte An-
schauung. Ursprünghch unterscheidet er sich nicht als das anschauende
Wesen von dem angeschauten Produkt; beides ist in dieser ersten
und ursprünghchen Selbstanschauung eins. Wir haben die vöUige
Identität des anschauenden Subjekts und des angeschauten Objekts.
■-) I. 1. 37.3, .374.
3) L 1. 395.
17*
260 Karl Zöckler,
Der Geist aber ist nicht nur anschauende Tätigkeit (produlrtive An-
schaimng), sondern sucht sich dieselbe objektiv zu machen, indem er
aus jener unmittelbaren Einheit des Anschauens und des Angeschauten
heraustritt und jetzt mit Freiheit wiederholt, was er mit Notwendig-
keit erzeugt hat. Die geistige Tätigkeit, die zuerst mit dem Produkt
einfach zusammenfiel, wird jetzt frei. Der Geist kann das Produkt
mit Freiheit wiederholen oder reproduzieren, aber die Anschauung
nicht ändern. Die Abstralrtion von der Anschauung ist frei, die An-
schauung selbst als Inhalt notwendig. Vermöge der Abstraktion wird
die subjektive Anschauung frei und der Geist erkennt dadurch sich
als Subjekt und die Anschaung als Objekt. Indem der Geist aus der
xAnschauung frei in sich zurückkehrt, tritt ihm sein Produkt als etwas
Selbständiges, als Objekt gegenüber. Das ist der transzendentale
Ursprung der Materie, auf welche die produktive x\nschauung des
Geistes notwendig gerichtet ist*).
§ 2. Entwicklung bis zum Menschen.
Ist der Geist in seiner unbe^^1^ßten Form das die Welt Pro-
duzierende, so wissen wir, daß es blinde Zweckmäßigkeit in der Welt
gibt. Ist ferner das Unbewußte das dem Bewußtsein Vorausgehende,
so erscheint unter diesem Gesichtspunkt die ganze Natm* als ein zum
Bewußtsein hinstrebender Geist. Die ganze Natm- muß daher als
ein großer Organismus aufgefaßt werden, dessen einzelne Teile nur
dazu da sind, das Be^^^lßtsein zustande zu bringen. Vom Moos-
geflechte an, an dem kaum noch die Spur der Organisation sichtbar
ist, bis zur veredelten Gestalt, die die Fesseln der Materie abgestreift
zu haben scheint, herrscht ein und derselbe Trieb, der nach ein und
demselben Ideal von Zweckmäßigkeit zu arbeiten, ins UnendUche
fort ein und dasselbe Urbild, die reine Form unseres Geistes
auszudi'ücken bemüht ist."^) Derselbe Grundgedanke tritt nns in
einem der tiefsinnigsten naturphilosophischen Gedichte entgegen,
wo es am Schluß heißt:
„Vom frühsten Bingen dunkler Ivi'äfte
Bis zum Erguß der ersten Lebenssäfte,
Wo &aft in Kraft und Stoff in Stoff verquillt.
Die erste Blut', die erste Knospe schwillt,
*) I. 1. 366—373. •'') Schellings Werk I. 1. 387.
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 261
Zum ersten Strahl von neugeborenem Licht,
Das durch die Nacht wie zweite Schöpfung bricht,
Und aus den tausend Augen der Welt
Den Himmel so Tag wie Nacht erhellt,
Herauf zu des Gedankens Jugendkraft,
Wodurch Natur verjüngt sich wieder schafft,
Ist Eine Ki'aft, ein Wechselspiel und Weben,
Ein Trieb und Drang nach immer höhern Leben. "^)
Das Wesen des Geistes nun ist bedingt durch zwei entgegen-
gesetzte Funktionen, eine positive und eine negative; jene geht ins
L^nendliche, diese als die bescluänkende und begrenzende auf ein
Endliches; jene ist Tätigkeit, diese Leiden. Wenn der Geist beide in
einem Augenblick zusammenfaßt, so kann das Produkt leider nur ein
Endliches sein,' das aus entgegengesetzten, sich wechselseitig be-
schränkenden Funktionen hervorgeht. In dem Produkt sind die beiden
entgegengesetzten Funktionen des Geistes zur Ruhe gekommen und
erscheinen hier als Ivräfte, die nicht selbst tätig sind, sondern nur
dem äußeren Anstoß entgegenwirken. Die Materie ist somit nichts
anderes als der Geist im Gleichgewicht seiner Kräfte angeschaut').
In der Anschauung seiner selbst erfaßt sich der absolute Geist als
ein Wesen, das eine eigene Lebenskraft in sich hat, eine eigene ewig
vorwärtsstrebende, aus sich selbst sich hervorbringende Tätigkeit,
x\utonomie, Selbständigkeit, Macht. Notwendigerweise aber setzt
der Geist etwas außer sich, an dem er diese Macht üben, im Kampf
mit dem er sich betätigen und so zum Leben kommen kann. Dieses
notwendige Außersichsetzen ist die Materie. Der Geist wirkt und
schafft und schaut sich in seinem Schaffen an; indem er das tut,
entsteht eine Welt, die sofort wieder von ihm überwunden, in ihn
aufgenommen und wieder neu geschaffen wird. Die Welt ist also
die Stätte der Wirksamkeit des Geistes. Die ganze Entwicklung muß
daher aufgefaßt werden als ein beständiger Kampf zwischen dem
formenden Weltgeist und der rohen Materie.
In jedem Objekt oder in jedem Produkt ist der Streit der l)eiden
entgegengesetzten Funktionen des Geistes zur Ruhe gekommen; aber
er beginnt vermittelst seiner ins Unendliche strebenden Tätigkeit
') I. 4. 546/48.
') I. 1. 379, 380.
262 Karl Zöcklcr,
sofort wieder, um sich in einer Reihe weitei'er Produkte zu objek-
tivieren. j)ie ganze Natur ist demnach die Geschichte des immer
wieder zu neuem Gegensatz sich erh(>l)enden, in immer neuen objek-
tiven Produkten zur Ruhe gebrachten Streites der beiden Funktionen^).
„Alle Handlungen des Geistes also gehen darauf, das UnendMche im
Endlichen darzustellen. Das Ziel aller dieser Handlungen ist das
Selbstbewußtsein, und die Geschichte dieser Handlungen ist nichts
anderes als die Geschichte des Selbstbev^iißtseins. Jede Handhmg
der Seele ist auch ein bestimmter Zustand der Seele. Die Geschichte
des menschlichen Geistes also wird nichts anderes sein als die Ge-
schichte der verschiedenen Zustände, durch welche hindurch er all-
mählich zur Anschauung seiner selbst, zum reinen Selbstl)ewußtseiu
gelangt."^) Was in dem absoluten Geist oder dem Absoluten, wie
Schelling es kurz nennt, ewig vollendet ist und unwandelbar dasselbe
bleibt, die lautere, sich selbst vollkommen gleiche und einleuchtende,
mit dem Geist identische Vernunft, erscheint in der Welt als ein
fortschreitender Entwicklungsprozeß, dessen alleinigen Grund und
Inhalt die Vernunft ausmacht^").
Ein und dasselbe Wesen erscheint in den mannigfachen Stufen
der Weltentwicklung. Alle Entwicldungsstufen sind also, da sie ihren
aus der absoluten Vernunft sich herleitenden Ursprung gleichsam
an der Stirne tragen, dem Wesen nach identisch; sie können demnach
nur graduell oder quantitativ verschieden sein. Was demnach den
Kern und den Charakter der ganzen Entwicklung ausmacht, ist das
differenzierte Subjekt-Objekt, d. h. die in der Entwicldung begriffene
Vernunft").
Innerhalb der absoluten Vernunft herrscht die vollkommene
Identität zwischen dem Subjektiven und dem Objektiven, zwischen
Erkennendem und Erkanntem. Da nun die einzelnen Dinge auf
quantitativen Differenzen beruhen, die in der absoluten Identität
nicht möghch sind, so gibt es in dieser keine einzelnen Dinge; da die
absolute Identität das Wesen aller Dinge, „das einzige Ansich" ist,
so gibt es kein einzelnes Ding an sich. Die Dinge existieren nur insofern,
als sie die absolute Vernunft ausdrückend^).
") I. 4. 123. § 23.
12) I. 4. 125. §§ 25—28.
8) I. 1. 382
8) I. ]. 382.
1") I. 4. 119.
§ 1-^
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 263
Die quantitative Differenz ist der Grund aller Endlichkeit der
Dinge. Kein einzelnes Ding hat den Grund seines Daseins in sich;
jedes ist bestimmt durch ein anderes und darum begrenzt, das andere
ist wiederum bestimmt durch ein anderes und so fort ins Unendhche.
Die Dinge bilden daher eine endlose Eeihe, in der jedes einzelne ein
bestimmtes und begrenztes Ghed ausmacht. Den ewigen Grund aber
und die Basis aller quantitativen Differenzen des Subjektiven und
Objektiven bildet deren totale Indifferenz, welche die Form der
absoluten Identität ist. Die quantitativen Differenzen, wodurch
die endlose Reihe der Dinge gesetzt ist, müssen daher als bestimmte
Formen der Arten des Seins der absoluten Identität gelten, als deren
Erscheinungen^^).
Die absolute Identität selbst kann nicht aufgehoben, auch nicht
an sich oder ihrem Wesen nach verändert, sondern nur in der Art wie
sie erscheint, modifiziert werden. Jede Erscheinung ist daher ein
Modus oder eine Art des Seins der absoluten Identität. Da nun diese
Art nichts anderes ist, als ein bestimmter Größenzustand oder Grad,
in welchem die absolute Einheit des Subjektiven und Objektiven er-
scheint, bezeichnet Schelling dieselbe mit dem Worte „Potenz". Die
Dinge bilden demnach eine Eeihe von Potenzen, deren ewige, un-
verrückbare Basis die absolute Identität ist. Jede Potenz ist und
besteht nur als Glied der Reihe; sie führt kein selbständiges Dasein
für sich; entweder sind alle Potenzen oder keine. Daher sind alle
Potenzen zugleich und nur in ihrer Gesamtheit ein Ausdruck der
absoluten Identität. Jede Potenz ist in der Reihe aller ein notwendiges
Glied, ohne welches auch die Totalität nicht sein kann; daher stellt
jedes Ding in seiner Weise die Totalität dar. Diese im einzelnen dar-
gestellte Totalität nennt ScheUing die „relative" im Unterschied von
der absoluten, die das ganze oder den Inbegriff aller Potenzen aus-
macht. Dargestellt ist in jeder Erscheinung die Einheit des Sul)-
jektiven und Objektiven, also die Totahtät ; sie ist dargestellt in einer
l)estimmten Form oder Potenz, die als solche in die Reihe aller gehört
und nur aus dieser begriffen werden kaim, daher „relative Totahtät."^^)
In der ganzen Entwicklungsreihe erscheint die Identität, das Subjekt-
Objekt nur potenziert durch das Übergewicht des einen oder anderen
") I. 4. 131. §§ Sl, 38.
^«) I. i. 133. §§ 40—42.
264 Karl Zöckler,
Faktors; da nun die beiden Faktoren nie getrennt sein können, so ist
das IVIaxinnun der Objektivität das Mininiuni der Subjektivität und
umoekehi-t. Hiernach stellt sich das erscheinende Weltall dar als die
Potenzreihe eines und desselben Wesens, des Subjekt-Objekt, das
vom Minimum der Subjektivität sich zum Maxinnim derselben erhebt
und umgekehrt vom Maximum der Objelrtivität zu deren ^linimum
fällt. Das Siegende ist hiernach das Subjektive oder der in der
schaffenden Natur sich betätigende Weltgeist, das Unterliegende das
Objektive oder die Materie. Die Entwicklung ist daher ein fort-
währender Kampf zwischen dem formenden Weltgeist und der Materie,
ein Kampf, in dem die Materie immer mehr unterliegt und der Geist
zu immer größerer Macht sich entfaltet. Die Natm- ist das Werden
des Geistes, welcher aus der gebundenen Form der Materie durch die
feinsten und zartesten Übergänge von einer Stufe zur anderen sich
entwickelt. ,,Die Genesis der ganzen Natur beruht einzig auf einem
Übergewicht, welches fortschreitender Weise dem Subjekt über das
Objekt bis zu dem Punkte gegeben wii'd, wo das Objekt ganz zum
Subjekt geworden ist, im menschhchen Bewußtsein. Was außer dem
Bewußtsein gesetzt ist, ist dem Wesen nach eben dasselbe, was auch
im Be^Mlßtsein gesetzt ist. Die ganze Natur bildet daher eine zu-
sammenhängende Linie, welche nach der einen Richtung in über-
wiegende Objektivität, nach der anderen Seite in entschiedene Über-
macht des Subjektiven über das Objektive ausläuft ; nicht daß in dem
letzteren Punkte das Objekt völüg vertilgt oder vernichtet wäre,
denn vielmehr Hegt es auch dem nun ganz in Subjektivität ver-
wandelten noch immer zu Grunde, sondern niu" das Objektive relativ
gegen das Subjektive in die Verborgenheit zurückgetreten, gleichsam
latent geworden ist, wie in dem durchsichtigen Körper darum, weil
er das ist, die finstere Materie nicht verschwunden, sondern nur in
Ivlarheit verwandelt ist. In der ganzen Linie befindet sich kein Punkt,
wo nur das eine oder das andere wäre, auch auf dem äußersten Punkte
des noch fin uns erkennbaren, aber übrigens mit der überwiegeudsten
Objektivität gesetzten Realen zeigt sich das Objektive schon von dem
Subjektiven angegTiffen und affiziert, und ebenso verhält es sich auf
dem entgegengesetzten Punkte der nun völüg überwiegenden Sub-
jektivität, "i^)
15
) I. 10. 229/30.
Der Entwicklnngsgeclanke in Schellings Naturphilosophie. 26o
§ 3. Der Mensch.
Ihre höchste Stufe erreicht diese EntNvicidiing im Menschen, in
weichem sich der Geist bis zu dem relativ höchsten Grad der Voll-
kommenheit entwickelt hat. Im Menschen ist das engere Ziel der
Natur, sich selbst be^^alßt zu werden, erreicht.
Vermöge des transzendentalen Gedächtnisses der Vernunft er-
innert sich der Mensch der ganzen Entwicklungsreihe seines vor-
individuellen Seins bis zu seiner Schöpfung und so erkennt er diese
Entwicklungsreihe als seine eigene an, als ein Streben des Geistes aus
der unbewußten Form in die bewußte überzugehen^^).
Im Menschen geht der Natur das Licht des Bewußtseins auf;
im Menschen gelangt sie zur Selbsterkenntnis. Vom Standpunkt
des Menschen oder in ScheUingscher Sprache vom Standpunkt des Ich
kann daher die Natur nur die niedere Potenz des Ich sein, „das de-
potenzierte Ich". ,,Das Objekt hat, indem es in meine Hände kommt,
bereits alle die Metamorphosen durchlaufen, w^elche nötig sind, um
es ins Bewußtsein zu erheben. Das Objektive in seinem ersten Ent-
stehen zu sehen, ist nur möglich dadurch, daß man das Objekt alles
Philosophierens, das in der höchsten Potenz-Ich ist, depotenziert
und mit diesem auf die erste Potenz reduzierten Objekt von vorn an
konstruiert."^')
§4. Die Kunst.
Mit diesem engeren Ziel, welches im Menschen eiTeicht wird,
kann sich jedoch die Natur nicht begnügen. Die Entwicklung im
Menschen seilest hat weiter zu streben. Das Objekt muß, wie im
Absoluten, ganz in das Subjekt übergehen, was im Menschen nur
relativ erreicht ist. Die Differenzierung des Subjekt-Objekt aus dem
Absoluten kann nicht das Ziel der Natur sein, sondern nur das Mittel,
um dieses Ziel zu erreichen. Wie die Natur aus dem Absoluten hervor-
gegangen ist, so muß das Ziel auch wieder im Absoluten gesucht
werden. Das System kehrt in seinen Ausgangspunkt zurück; das Ziel
des aus dem Absoluten entsprungenen Entwicklungsprozesses kann
nur die anhand desselben gewonnene absolute Indifferenz des Sub-
jektiven und 0])ielctiven sein, wie sie in dem Absoluten besteht. Das
1«) I. 4. 77.
1") T. 4. 85.
266 Karl Zöckler,
Streben des Menschen muß daher nach Schellino- darauf gerichtet
sein, alles, was als objektive Macht ihn in seiner Entwicklung hemmt,
abzuwerfen, sich frei und stark ihm gegenüber zu behaupten und so
sich immer mehr dem Absoluten anzunähern. Das höchste Gesetz
für den Menschen ist sonach: Sei absolut, identisch mit dir selbst.
Das unendliche Ich ist die absolute, freie Tätigkeit ; f iii- das endhche
Teil ist es eine morahsche Forderung, das zu werden.
.,Die große Absicht des Universum und seiner Geschichte ist
keine andere als die vollendete Versöhnung und Wiederaiiflösung in
die Absolutheit. "18)
Den höchsten Grad der Annäherung an dieses Ziel sieht Schelling
in der absoluten, freien Tätigkeit des künstlerischen Schaffens. Da
das Ich sieh hier in seiner eigenen Tätigkeit als bewußt und bewußtlos
zugleich anschaut, so tritt an die Stelle der Natur die Kunst. Eben
das ist nämlich nach Schelling das unterscheidende Merkmal alles
künstlerischen Schaffens, daß in ihm die bewußte und bewußtlose
Tätigkeit schlechthin zusammenfallen, d. h., daß mit Freiheit etwas
erzeugt wird, was in seiner Vollendung die Notwendigkeit eines Natur-
produktes hat. In der Vereinigung dieser beiden Elemente kommt
dem Ich seine eigene Unendhchkeit, das Absolute, aus dem alle seine
Tätigkeit ursprünghch hervorging, zur Anschauung. Der Künstler,
oder vielmehr sein Dämon, das Genie, stellt in seinem Werk die
schaffende Natur selbst dar, ohne zu wissen, was er tut, naiv wie die
Natur selbst. Vom Künstler gilt das Schillersche AVort:
„Und was kein Verstand der Verständigen sieht,
Das ül)t in Einfalt ein kincUich Gemüt."
Unendlich wie die Macht des Unbe\mßten, .die den Künstler
erfüllt und di'ängt, ist in ihm der Gegensatz zwischen der bew^ißt-
losen und der bewußten endhchen Tätigkeit. Das Gefühl dieses Wider-
spruchs treibt den schaffenden Künstler und läßt ihn nicht ruhen,
bis er denselben aufgelöst hat in dem vollendeten AVerk. Die Lösuno
ist, wie der Widerstreit, den sie aufhebt, ebenso umfassend und tief.
Daher nach den erhabenen Schmerzen des genialen Schaffens das
Gefühl einer unendhchen Befriedigung im Künstler, der Ausdruck
unendlicher Harmonie im Kunstwerk. Was der Künstler als erhabene
Befriedigung empfindet, geht in sein Werk über und erscheint hier
18
) T. 6. 43.
Der Entwicklungsgedanke in Schelling.s Xatm-philosoy)hie. 267
als der Ausdruck der Ruhe und stillen Größe. Die geistige Macht,
welche über das eigene Be\vußtsein hinaus das Unendliche in ihr
Werk legt, ist das, was wir Genie nennen; auf der Darstellung dieses
Unendhchen im endlichen Produkt beruht alle Schönheit. Die ästheti-
sche Anschauung ist die objektiv gewordene intellektuelle; durch das
Wunder der Kunst wird das absolut Identische, welches an sich
weder subjektiv noch objektiv ist, aus ihren Produkten zurück-
gestrahlt, das System kehrt in seinen Anfangspunkt zurück. In dem
Genie kommt die schöpferische Tätigkeit der Intelligenz zum Ab-
schluß, das Genie ist daher die höchste Produktion, oder, wie Schelling
es nennt, die höchste Potenz ^^). Wie hier Schelling das Genie faßt,
so soU noch nicht damit gesagt sein, daß es das Absolute selbst sei.
Es kann nur als ein hoher Grad der Annäherung an das Absolute
gefaßt werden. Das Genie ist nur die höchste, in der Entwicklung
des Menschen erreichte Form oder Potenz; denn die Bestimmung des
]\Ienschen ist nach ScheUing ewiges, unendhches Streben nach dem
Absoluten. Dieses Werden und Streben aber, das Schelling als das
AVesen des Menschen aufstellt, wäre nicht mehr da, sobald das Ziel
erreicht wäre. So ist es also nicht nur eine theoretische Nötigung für
ihn, sondern vielmehr durch sein eigenes praktisches Interesse be-
dingt, daß er das Erreichen dieses Zieles für unmöglich erklärt.
Schellings Weltanschauung besagt also: Die Bestimmung des Menschen
ist ewiges, unendhches Streben nach dem Absoluten, welches nie sein
Ende finden wird, also unendhche Entwicklung.
Überbhcken wir von hier aus die vorhergehende Schilderung,
so müssen wir die ganze Entwicldung als eine kontinuierhch fort-
schreitende Veränderung betrachten, die aus dem Absoluten als der
vollkommenen Indifferenz des Objektiven und Subjeldiven hervor-
gegangen, sich in die beiden Faktoren des Subjektiven und Objektiven
trennt, derart, daß in der ganzen Entwicklungsreihe die beiden
Faktoren in jedem Produkt vereinigt, jedoch graduell oder quantitativ
von einander verschieden sind. In dem Stufenreiche der unorganischen
Natur hat das Objektive oder die Materie das Übergewicht, während
in der organischen Natur das Subjektive oder der Geist überwiegt,
der durch die feinsten und zartesten Übergänge durch die Entwicklungs-
reihe des Pflanzen- und Tierreichs zu immer höherer Macht und
I. 3. 612—624.
268 •<<ni Zöcklcr,
Gcltima' "clanot, bis er schließlich im Menschen, insbesondere im
Genie, seine höchste Potenz erreicht. Die ganze Entwicklung kenn-
zeichnet sich daher als beständiges, kontinnierliches Steigen der welt-
erkennenden nnd weltproduzierenden Subjektivität, welches not-
wendig mit einem beständigen, kontinuierlichen Sinken des anderen
Faktors, des Objektiven, verbunden ist. Die Natur ist sonach in dem
ganzen Stufenreiche werdender Geist, der, hervorgegangen aus dem
Absoluten, dem ,,ewig Unbewußten", sich in den endlichen Individuen
zum Bewußtsein emporringt. Schelling wendet diesen Begriff des
Bewußtseins auf die Natur als auf das Produkt der Vernunft an und
verlangt, daß die verschiedenen Stufen als „die Kategorien der Natur-'
d. h. als die notwendigen Formen begriffen werden, in denen die
Vernunft aus der unbewußten in die bewußte Gestalt emporsteigt.
Hierdurch ist die Kichtung der ganzen Entwicldung — eine zum
Geist hinstrebende Natur — festgelegt.
Kap. II. Dynamische Entwicklung.
1. Abschnitt. Unorganische Natur.
§ 1. Übergang zur dynamischen Betrachtungsweise.
Eine Fortführung und Ergänzung dieser ,, transzendentalen"
Ausführungen über das Wesen der Entwicklung bildet nun aber die
Betrachtung derselben unter dem Gesichtspunkt der inneren Einheit
der Natur als solcher. Die aus dieser sich ergebende Entwicklungs-
reihe und die vorher geschilderte transzendentale stehen bei ScheUing
in notwendiger Beziehung zu einander. Die letztere ist streng philosophi-
scher Ai-t und bildet das Band zwischen Naturphilosophie und Geistes-
philosophie, zwischen Natur und Geist; jene dagegen steht im Bunde
mit den empirischen Wissenschaften und lehi't uns die Natur er-
kennen, wie sie in ihrer realen, der transzendenten entgegengesetzten
Sphäre sich darstellt. Je eingehender sich Schelling mit dem Studium
der Naturwissenschaften beschäftigte, desto mehr kam er zu der Er-
kenntnis, daß er in der Natur etwas Wirldiches, Reales vor sich habe.
Nach der transzendentalen Betrachtung war jede Entwicklungsstufe
eine flüchtige und vergängliche Erscheinung des Absoluten und los-
gelöst von diesem kam ihr keine Selbständigkeit zu. Die Natur wa)-
nur die subjektive Erscheinung des Geistes; in der nun folgenden
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturpliilosophie. 269
Betrachtung der Natur als Entwicklungsreihe dagegen tritt sie als
wirkliche Realität heraus.
Was jenem (dem transzendentalen) Erklärungsprinzip An-
schauungen sind, sind diesem Kräfte; was jenes auf die not-
wendigen Anschauungen des Geistes zurückführt, leitet dieses ab aus
den notwendigen lü-äften der Materie^).
In dem Wesen des Geistes als solchem, d. h. sofern er nicht ledig-
lich als anschauend erfaßt wird, erscheinen die beiden Tätigkeiten,
die positive und die negative, welche die Anschauung in der Materie
vereinigt hatte, als Kräfte, die der Materie innewohnen; die positive
Tätigkeit des Geistes tritt als positive Ki'aft der Materie hervor, als
Expansivkraft, welche jeder Beschränkung ein unendhches Bestreben
entgegensetzt; die negative Tätigkeit als das Gegenteil derselben, als
Atraktivkraft. Jene würde uneingeschi-änkt einen unendlichen Raum,
diese ein absolutes Ineinander, den Punkt, das Symbol der Zeit, ent-
stehen lassen. Damit aber eine ursprüngliche Grenze in den Raum
gesetzt werde, an der die Evolution gehemmt wird, muß zu diesen
beiden noch eine dritte Ivi'aft liinzukomm.en, welche jene unsteten
Kräfte fixiert und ihr gegenseitiges Verhältnis reguliert. Diese dritte
Kraft ist die Schwerkraft. So sind also die Faktoren, aus denen die
Materie folgt, transzendental, die in ihr wirken, dynamisch. Mithin
ist die Entwicldung der Materie eine dynamische Stufenfolge 2^).
§ 2. Entstehung der Erde.
Alle Entwicklung setzt eine identische, in sich lebendige Ur-
materie voraus. Das gemeinsame Band, welches die Teile dieser
Masse zusammenhält, besteht bei Schelling in ihrer gemeinsamen
Unterordnung unter das Ganze der Masse, welche ilii'e Zusammen-
gehörigkeit bewirkt und erhält. In dieser Vorstellung erscheint das
System der Massen vergleichbar mit einem Staate, in welchem eine
Masse andere unter sich begreift und beherrscht, während sie selbst
und die Verbindung ihi'er Teile von der Macht einer höheren Masse
abhängt. Die herrschende Masse ist immer „zentral", die ihr unter-
geordnete „subaltern"; beide gehören in spezifischer Weise zusammen,
sia stehen einander in dem Reiche der Weltkörper am nächsten und
20) I. 4. 75—78, § 63.
21) I. 2. 213—227.
270 Karl Zöckler,
bilden, wie Schellin«- sagt, „eine bestimmte Afiinitätssphäiv'. Die
verschiedenen Bildungszustände der Welt sind die Affinitätssphäi'en,
die in dem Unterschiede zentraler nnd snbalterner Körper bestehen ^'-j.
Während nach Kants Hypothese die Lusreißiing peripherischer
Massen durch die Rotation der kugelförmigen Zentralmasse und die
damit verbundene zentrifugale Gewalt des Umsch\\'ungs erfolgt,
läßt Schelling die Weltsysteme durch eine fortgesetzte Kontraktion
und Expansion des Urstoffs entstehen; die Planeten durch eine ruck-
weise Zusammenzichung des Zentralkörpers, mit der jedesmal eine
Ausstoßung (Explosion) der in ihm befindlichen Massen verbunden
sein mußte. Die erste Zusammenziehung der Urmaterie bildet bei
Schelling den Anfang der Weltbildung, das Verhältnis der ursprüng-
lichen und ausgestoßenen Massen die erste Affinitätssphäre und zu-
gleich den Ansatz einer Reihe zentraler Massen, die durch den fort-
gesetzten Wechsel von Kontraktion und Expansion neue und engere
Affinitätssphären bilden '^^). Unter den Verhältnissen der Welt-
körper ist uns das nächste und erkennbarste das zwischen Sonne
und Erde. Die Tendenz, welche die Erde gegen die Sonne hat, ist
allen irdischen Körpern gemeinsam. Durch diese Gemeinschaft sind
sie wechselseitig verknüpft und an einander gebunden. Sie stehen
im wechselseitigen Verhältnis sowohl unter sich als gegen die Sonne.
Hierauf gründet sich Schellings H}^3othese von dem Ursprung der
Erde, die nach seinem System durch Kontraktion und Expansion,
die in der Urmaterie wirksamen Ki'äfte, entstanden ist.
§ 3. Die drei dynamischen Formen.
Wir kommen nun aber bei der Betrachtung der dynamischen
Entwicklung nicht mit einer einheitlichen Darstellung aus, sondern
gelangen, je nach dem Standpunkt, von welchem wir ausgehen, zu
verschiedenen Ausdi'ucksweisen für dasselbe Problem, die sich bei
Schelling allerdings gegenseitig durchdringen, die aber der Deuthch-
keit halber getrennt vorgeführt werden müssen. Die erste Formel,
unter der Schelling die dynamische Entwicklung betrachtet, ist die
Selbstproduktion der Natur. Die Spaltung in immer neue Gegen-
sätze, die sich durch das Verhältnis der Expansiv- und Attraktivki-aft
22) I. 3. 109.
23) I. 3. 116—118.
Der Entwicklungsgedaiike in Schellings Naturphilosophie. 271
l)estimmeii, kann nicht das Ziel der Entwicklung sein. Da in Schellings
Gedankengang die ursprüngliche Identität der Natur feststeht, welche
vor allen Gegensätzen war, so kann das Ziel aller Entwicklung nur
in der Wiederherstellung dieser Identität gesucht werden. Das ist
das Ideal, welchem die Entwicldung zustrebt. Die Verwirküchung
dieses Ideals ist aber nach ScheUing unmögUch. Denn obwohl die
Schöpfungskraft der Natur nur auf das Ganze gerichtet ist, so erleide^"
sie an den ursprünglich in der Natur ausgesteckten Hemmungspunkten
verschiedenartige Brechungen, infolgedessen sich statt eines voll-
endeten Produktes unzähhge Scheinprodukte bilden, in denen das
Ideal der Natur nicht erfüllt ist. Die Schöpfungski-aft der Natur kommt
also nicht über die Schi'anken des Einzelheiten-Schaffens hinaus und
wird von ihi'em Ideal zur Bildung mannigfacher Arten, Abarten und
Individuen abgelenkt. Die Entwicklung erscheint Schelhng zweitens
als Differenzierung der Materie. Aus den Naturwissenschaften hatte
er die Überzeugung von der großen AVichtigkeit der Gegensätze in
der Natur gewonnen und war dadurch veranlaßt worden, den Dualismus
und die Polarität zu Hilfsprinzipien seiner Naturpliilosophie zu machen.
Obwohl seine Lehre durch und durch monistisch war. kam er so dazu,
alle Einheit und alles Geschehene in der Natur nur durch die Über-
windung immer neuer Gegensätze vor sich gehen zu lassen. Die Ent-
wicklung dieser Gegensätze ist die Differenzierung. Die ganze Ge-
schichte der Natur von der Bildung der Weltkörper an bis zum Empor-
tauchen des Menschen aus der organischen Natur soll geschehen
durch die ins Unendliche gehende Differenzierung der Materie. Jeder
neue Differenzierungspunkt entspricht einer neuen Entwicklungs-
stufe. Die Natur, ursprünglich identisch, muß sich differenzieren,
um aus den Gegensätzen immer wieder zur Indifferenz zurückzustreben.
Das durch die Differenzierung veranlaßte Streben nach der Indifferenz
ist aie bewegende Ursache aller Entwicldung. Nach einer dritten
Formuherung bezeichnet ScheUing die Entwicklung als dynamischen
Prozeß. Hiernach läßt er, beeinflußt durch Kielmeyers Kede „Über
das Verhältnis der organischen Ki'äfte" die Verschiedenheit der
Organisation durch das verschiedene Maß der Kräfteverteilung der
Reproduktion, der IiTitabilität und der Sensibiütät entstehen. Die
Organisationen sind verschieden nicht als Arten, sonst wären sie ohne
gegenseitige Beziehung, sondern nach dem Verhältnis der organischen
Kräfte, nach dem Grade, in welchem diese verteilt sind oder die eine
,
272 Karl Zöckler,
die andere überwiegt. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen die
organischen Formeln und Arten als Abstufungen der organischen
Kräfte, als einbegriffen in einer Skala der Zu- und Al)nahme derselben.
Das Gesetz der Verteilung der Zu- und Abnahme in der Wirksamkeit
jener Kräfte ist der Kardinalpunkt in Ivielmeyers Rede. Dieselbe
Kräfteverteilung besteht aber auch in der unorganischen Natur; nur
beruht hier die Entwicklung auf dem jedesmal verschiedenen gegen-
seitigen Verhältnis der unorganischen Ivi'äfte. Der Übergang von der
einen Natur zur anderen soll durch die unterste organische Kraft, die
Reproduktion, stattfinden. Daß die Natur durchgängig aktiv ist und
daß das, was in ihr als graduelle Verschiedenheit ihrer Grundkräfte
erscheint, durch ihre eigene Kraft und Tätigkeit bewirkt ist, nennt
Schelling den dynamischen Prozeß, der in seinem Wesen einer und
derselbe ist unr* nur seine Erscheinungsformen ändert. Das sind
die tlrei dynamischen Formeln, unter denen Scheüing die Entwicldung
faßt. Was sie unter sich und mit der transzendentalen Fassung gemein
haben, ist vor allem das, daß die Natur überall als das Subjekt der
Entwicklung gefaßt wird. Sie ist das Subjekt des Be\\T.ißt Werdens
und das Subjekt aller Metamorphosen, welche sie in dem dynamischen
Prozeß, in der Differenzierung der Materie und in ihrer Selbstprodulrtion
durchmacht. Die Natur existiert in Wirküchkeit nur als die ewig
schaffende, als natura naturans; die natura naturata dagegen existiert
erst als das Objekt unserer Reflexion.
Den Ausgangspunkt dieser drei Entwicldungsformen, welche im
Grunde dasselbe besagen, bildet inmier Polarität und Duahsmus.
Die Frage, die sich Schelling bei dem Ausgangspunkte seiner Ent-
wicklungslehi-e vorlegte, war: Was ist in allen Naturerscheinungen
das Gemeinsame, ^vas ist in allen Erscheinungen das gemeinsame,
tätige Naturprinzip? Worin sind Materie, Magnetismus, Elektrizität,
chemischer Prozeß, Leben, Organisation identisch? Das, wonach
hier gefragt wird, ist der Punkt, der von vornherein die ganze dynami-
sche Entwicklung bestimmt. In der Natur ist überall die Aktion durch
Gegensätze, das Produkt durch entgegengesetzte Tätigkeiten be-
stimmt, die sich wie Positives und Negatives zu einander verhalten:
Die Materie durch die lü-aft der Ausdehnung und Anziehung, der
Magnetismus durch den Gegensatz der Pole, die Elektrizität durch
den Gegensatz positiver und negativer Elektrizität, die chemische
Anziehung und Verwandtschaft durch den Gegensatz der Stoffe, das
I
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturpliilosopliie. 273
Leben durch den Gegensatz der Erregbarkeit und Erregung, die
Organisation durch den Gegensatz der organischen lü'äfte.
Die Natur wirkt in allen ihi'en Erscheinungen durch Gegensätze,
die nicht etwa die Einheit der Natur aufheben, vielmelu- in und durch
dieselbe bestehen, daher nicht als eine Zweiheit von Prinzipien, sondern
als eine Entzweiung des Ureinen, als Duahsmus in diesem Sinne,
betrachtet sein wollen. Diese Gegensätze, wo und wie sie immer auf-
treten, sind einander nicht fremd, sondern gehören zusammen, sind
notwendig auf einander bezogen und streben nach Vereinigung und
Ergänzung. Es sind Gegensätze innerhalb eines und desselben Wesens,
die sich daher als Pole zu einander verhalten. Die Entzweiung des
Einen ist Selbstentgegensetzung. Daher liezeichnet Schelling diese
Dualität der Natur, die Allgegenwärtigkeit der in ihr wirksamen
Gegensätze, als ,, Polarität' . Polare Gegensätze entstehen aus der
Entzweiung des Einen und suchen ihre Vereinigung. Daher heißt
das Grundgesetz der Polarität: Identisches setzt sich entgegen (ent-
zweit sich), Entgegengesetztes strebt nach Vereinigung (setzt sich
identisch) '^'^). Schelling hat das Wort Polarität, das in der Entwick-
lungslehre eine t}^ische Formel bildet, aus der Physik entlehnt, aber
im weitesten Sinne genommen. Polarität bedeutet bei ihm nicht nur
ein Naturgesetz, sondern ein Weltgesetz und ist. in seinem Sinn der
physikahsche Ausdruck eines Universalprinzips.
Das Entwicklungsprinzip, welches die ganze Natur umfaßt,
besteht darin, daß sich Identisches entgegensetzt, Entgegengesetztes
nach Identität strebt, aus der sich neue Gegensätze erzeugen, die
wieder vereinigt sein wollen usw. bis ins Unendliche. Wo solche Wider-
sprüche hervortreten und sich auflösen, so, daß immer noch ein Rest-
betrag übrig bleibt, der sich in neue Gegensätze scheidet, um in höheren
Formen wieder zu erscheinen und neue Lösungen zu suchen, da ist
Entwicklung. Die Polarität im weitesten Sinne gilt bei Schelüng als
das eigenthche Entwicklungs- oder Produktionsprinzip der Natur,
als deren innerste Wirkungsart, als die „Weltseele" selbst.
Die Einheit vor jedem Gegensatze nennt Schelhng ,, Identität";
die Einheit, die aus demselben hervorgeht, ,, Indifferenz". Die letztere
ist bedingt und vermittelt durch den Gegensatz der Kräfte; sie ist
daher an die wirksame Fortdauer derselben gebunden und wäre mit
2*) I. 2. 459, 476.
Archiv lür Geschichte der Philosophie. XXVIIl. 3. ig
274 Karl Zöckler,
seiner Verniditiino- selbst vernichtet. Daher kann in jeder Entwick-
hmgsstufe die Indifferenz nie total, sondern nur teilweise erreicht
werden; es kann in der Natur nie zu einem Produkt kommen, welches
, .absolute Indifferenz" wäre. Jedes Naturprodukt ist ein ,, relativer
Indifferenzpunkt" und es nniß daher eine unendliche Reihe solcher
Produkte geben, die ihre Einheit (absolute Indifferenz) erstreiken,
aber nicht erreichen; in jedem Produkt müssen die es bedingenden
entgegengesetzten Kräfte sich gegenseitig derart binden, daß ein
Gleichgewicht stattfindet. In diesem Gleichgewicht ist das Produkt
fixiert; es ruht und erscheint als das Beharrhche alles Wechsels und
aller Veränderung. Dieses Gleichgewicht darf aber kein absolutes
sein; es muß immer noch ein Restbetrag von Ri'aft übrig bleiben, der
sich in neue Gegensätze scheidet, die wieder ihi'e Vereinigung suchen
usw. bis ins Unendliche ^^). Nur so ist eine ins Unendhche gehende
Entwicklung möghch. Das Produkt, in welchem sich die schaffende
Natur konzentriert, kann nur ein solches sein, das den Trieb zu un-
endlicher Entwicklung in sich hat. In jedem liegt der Keim eines
Universums.
Da nun die Grundform alles dynamischen Prozesses in der In-
differenzierung der differenzierten Materie besteht, so gibt es in
diesem Prozeß gerade so viel Stufen, als es Stufen des Übergangs aus
Differenz in Indifferenz gibt"^^).
§ 4. Die Wirkungsart.
Die Art des Überganos aus Differenz in Indifferenz kann nun
eine dreifache sein. Die Differenz tritt entweder hervor zwischen den
einfachen, in jedem Körper wirksamen Falrtoren (Kräften) oder
zwischen den Produkten, d. h. den verscliiedenen Körpern und zwar
so, daß die beiden verschiedenen Körper einander entgegengesetzt
sind entweder als Faktoren, so daß der Körper A den einen, der
Körper B den entgegengesetzten Faktor darstellt, oder als Produkte,
so daß jeder Körper beide Faktoren enthält, aber in A der eine, in B
der entgegengesetzte Faktor das absolute Übergewicht hat. Im ersten
FaU besteht die Indifferenz, in welche der Übergang stattfindet, in
der Aufhebung des Gegensatzes, d. h. im Indifferenzpunkt, im zweiten
25) I. 3. 307—311.
26) I. 3. 315.
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 275
im relativen Gleichgewiclit der Körper, d. h. in der Ausgleichung
des Gegensatzes, im dritten in der gegenseitigen Durchdringung der
Körper, d. h. in der Bildung eines neuen Produkts. Die erste Form
ist der Magnetismus, die zweite die Elektrizität, die dritte der chemische
Prozeß. Im Magnetismus herrscht die Differenz der Ki'äfte (Faktoren),
im elektrischen und chemischen Prozeß die Differenz der Körper ; im
elektrischen Prozeß kommt es zum relativen Gleichgewicht (die Körper
bleiben different), im chemischen zum absoluten Gleichgewicht, zur
oegenseitigen Durchdringung, zur wirklichen Indifferenz. Im chemi-
schen Prozeß verhalten sich die Körper, wie im Magnetismus die
Ivräfte (Faktoren) ^^).
Da die Raumerfüllung der Materie in den drei Dimensionen der
Länge, Breite und Tiefe geschieht, so entsteht die Frage : Welche von
den cü-ei Funktionen der Materie (Magnetismus, Elektrizität, chemischer
Prozeß) bedingt jede dieser drei Dimensionen ?2^).
Die ursprüngliche Kraft ist die Ex})ansivki-aft ; denn die Gegen-
kraft, welche diese einschränkt, setzt die Wirksamkeit derselben
voraus. Nehmen wir an, die Expansivkraft beginne in dem Punkte A
zu wirken, so herrscht sie in diesem Punkte ganz allein: sie wirkt
von A aus nach allen Richtungen zentrifugal. Erst in allmählicher
Entfernung von A beginnt die zentripetale Wirkung der Gegenki-aft;
sie ist zunächst noch gering, wird aber mit zunehmender Entfernung
von A immer größer und schi'änkt dadurch die ExjDansivkraft immer
mehi- ein. Verfolgen wir die Wirkung der beiden Ivräfte weiter, so
gelangen wü* schheßhch an einen Punkt B, in welchem die Attraktiv-
ki-aft die Ex}3ansivkraft völlig vernichtet hat ; wir haben also in B das
Maximum der Attraktivkraft und das Minimum der Exijansivki'aft,
während in A das umgekehi'te Verhältnis der Kräfte herrscht. Da nun
von A nach B die Expansivki'aft stetig abnimmt, wähi-end die Attraktiv-
ki-aft in derselben Richtung stetig wächst, so muß es zwischen A und B
einen Punkt geben, in dem beide Kräfte einander gleich sind und, da
sie in entgegengesetzter Richtung wirken, sich einander das Gleich-
gewicht halten. Dieser dritte Punkt ist der Indifferenzpunkt C. In
ihm herrscht das relative Gleichgewicht der beiden Kräfte. Das
Produkt beider Ivi'äfte ist demnach die Linie oder die reine Dimension
2') I. 3. 31.5—321.
28) 1. 4. 4. § 4.
18*
276 Karl Zöckler,
der Länge ^^). „Solange beide Kräfte in dem Punkt C sich ein relatives
Gleichgewicht halten, ist durch dieselben nichts, als die Linie oder
die reine Dimension der Länge gegeben. Denn sowie die beiden einmal
entzweiten Kräfte zum relativen Gleichgewicht tendieren, können sie
nichts anderes als die in Kontinuität stehenden drei Punkte hervor-
bringen, welche soeben deduziert worden sind. Die Linie oder die
Länge kann also auch in der Natur nur durch jene drei Punkte oder
unter der Form jener drei Punkte existieren."^") Die abgeleiteten
Punkte, der positive Pol, der negative Pol und der Indifferenzpunkt
l)estimmen in der Natur den Magnetismus. „Wenn nun die Länge
in der Natur überhaupt nur unter der Form jener drei Punkte existieren
kann, diese drei Punkte aber den Magnetismus konstituieren, so folgt,
daß die Länge in der Natur überhaupt nur unter der Form des Magnetis-
mus existieren kann, oder daß der Magnetismus überhaupt das Be-
dingende der Länge in der Konstruktion der Materie ist."^^) Hiernach
ist der Magnetismus keine vereinzelte Naturerscheinung, sondern eine
allgemeine, die Länge bedingende, konstruierende Kraft der Materie.
Der Magnetismus stellt die Materie noch im ersten Moment der
Konstruktion dar; die beiden entgegengesetzten Kräfte sind hier
noch in einem Individuum vereinigt, zeigen sich aber an den entgegen-
gesetzten äußersten Punkten und streben, sich gegenseitig zu fhehen.
Das verknüpfende Band, welches sie daran hindert, ist der Indifferenz-
punkt C. Wird dieser aufgehoben, so entstehen aus der einen Linie
ABC zwei Linien AC und CB. Die Kräfte sind jetzt an zwei ver-
schiedene Individuen verteilt. Sie wirken nicht mehr in einer be-
stimmten Richtung, da die Bedingung hierzu (der Indifferenzpunkt)
aufgehoben ist, sondern können ihre Wirksamkeit ungehindert nach
allen Richtungen erstrecken. Beide Kräfte, die Expansiv- wie die
Attraktivkraft wirken nach allen Richtungen in Linien, die von einem
Punkte aus divergieren; sie besclu'eiben sonach Winkel und wirken
in die Breite ^2). „Dieser Moment der Konstruktion der Materie,
durch welchen zu der ersten Dimension die zweite hinzukommt, ist
in der Natur durch die Elektrizität bezeichnet. Der Beweis kann
schon daraus geführt werden, daß der Übergang vom Magnetismus
29) I. 4. 7, 8. §§ 8—10.
30) I. 4. 9. § n.
") I. 4. 10. § 13.
^■') I. 4. 11— i4. §§ 15—19.
r;
Der Entwicklungsgedanke in .Schellings Xatmphilosophie. 277
zur Elektrizität derselbe ist mit dem, welchen wir vom ersten Moment
der Konstruktion zum zweiten gemacht haben, indem der oanze
Unterschied zwischen jenem und dieser darauf beruht, daß der Gegen-
satz, welcher im ersten noch vereinigt in einem und demselben identi-
schen Subjekt erscheint, in diesem als an zw^ei verschiedene Individuen
verteilt erscheint. Denke ich mir in der konstruierten Linie den
Punkt C weg, so daß ABC in zwei Linien getrennt erscheint, so habe
ich das Schema der Elektrizität/'^^) Die Elektrizität ist also das
zweite, die Breite bedingende Moment in der Konstruktion der Materie.
Sie ist ebenso wie der Magnetismus eine allgemeine Funktion der
Materie.
Es bleibt noch übrig, das dritte raumerfüllende Moment in der
Konstruktion der Materie zu begründen, welches das Verhältnis der
Expansiv- und Attraktivki'aft reguhert. Es kommt hier alles auf den
Grad der Einschi-änkung der beiden Kräfte an. Da dieser in keiner
der beiden Kräfte, weder der Expansiv- noch der Attraktivla-aft ge-
sucht werden kann, so muß er in einer diitten Ki'aft Hegen, welche
die beiden entgegengesetzten Kräfte vereinigt, ihi' gegenseitiges Ver-
hältnis bestimmt und so den Raum bis in seine kleinsten Teile durch-
dringt 2*j.
Diese synthetische Ki-aft ist die Schwere, welche die Materie als
Masse erscheinen läßt^^).
Da nun diese wechselseitige, einen gemeinsamen Raum erfüllende
Durchdringung verschiedenartiger Körper in der Natur durch den
chemischen Prozeß bezeichnet ist, so ist dieser in der Konstruktion
der Materie das dritte raumerfüllende Moment, welches die Tiefe
bedingt.
Wie diese die beiden ersten Dimensionen (Länge, Breite) in sich
enthält, so der chemische Prozeß den Magnetismus und die Elektrizität.
Wie die drei Dimensionen eine Stufenfolge (Potenzen) bilden, so auch
die cü-ei Formen des dynamischen Prozesses ^^). ,,So wie nämlich der
Magnetismus, welcher bloß die Länge sucht, unmittelbar dadurch,
daß er eine Flächenkraft wird, Elektrizität wird, so geht wiederum die
Elektrizität unmittelbar dadurch, daß sie aus einer Flächenkraft
»=») I. 4. 14, 15. § 20.
3*) I. 4. 28—30. '§§ 32, 33.
3 5) I. 4. 38. § 39."'
■^«) I. 4. 44, 45. §§ 41, 42.
278 Karl Zöckler,
eine durchdringende wird, in chemische Kraft über. Man kann es also
jetzt als einen bewiesenen Satz vortragen, daß es eine und dieselbe
Ursache ist, welche alle diese Erscheinungen hervorbringt, nur daß
diese durch verschiedene Determination auch verschiedener Wirkungen
fähig wird. AVas bis jetzt bloße Ahnung, ja bloße Hoffnung war,
endlich alle diese Erscheinungen auf eine gemeinschaftliche Theorie
zurückfülu-en zu können, strahlt uns jetzt als Gewißheit entgegen,
und wir haljen Grund zu erwarten, daß die ]Nfatur, nachdem wir diesen
allgemeinen Schlüssel gefunden haben, uns allmähhch auch das Ge-
heimnis ihrer einzelnen Operationen und der einzelnen Erscheinungen,
welche den chemischen Prozeß begleiten und welche doch alle nur
Modifikationen einer Grunderscheinung sind, aufschließen werde.
Man wird von jetzt an genauer aufmerken und wirkliche Experimente
anstellen über die Spuren des magnetischen Moments im chemischen
Prozeß, die freihch, da dieser Moment der am schnellsten vorüber-
gehende ist, die schwächsten und unmerklichsten sein v.Trden." „Man
wird bei dem chemischen Prozeß z. B. den die Wasserzersetzung be-
gleitenden elektrischen Erscheinungen genauer verweilen und endlich
vielleicht selbst die Übergänge einer und derselben Kraft erst in eine
Flächen- und encUich in eine durchdi'ingende &aft unterscheiden
können."^')
Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß sind die Momente
in der Rekonstruktion, d. h. der geistigen Wiedererzeugung der Natur.
Sie sind an sich nicht etwa zeithch verschieden, sondern werden als
Reihenfolge nur in der Erkenntnis unterscliieden, welche notwendig
genetisch verfälirt. Sie sind daher nicht Perioden, sondern „Kate-
gorien." ^s) In der Stufenfolge des Magnetismus, der Elelrtrizität und
des chemischen Prozesses erblickt Schelling das Geheimnis der Pro-
duktion der Natur aus sich selbst. Das Ursprüngliche ist ihm der
Magnetismus, wie er in der magnetischen Polarität der Erde hervor-
tritt, eine Erscheinung, die Schelling auf eine ungleichförmige Er-
kaltuns; der Pole bei der Bilduno; der Erde zurüclrfülut. Erst auf einer
höheren Stufe beginnt das ursprünglich noch verdeckte Gesetz der
elektrischen Polarität sich zu entwickeln. Die höchste Form aller
Polarität erblickt Schelhno- im chemischen Prozeß, auf welchen der
3
38\
') I. 4. 49. § 45.
I. 4. 25. S 30.
Der Entwicklungsgedanke in 8chellings Naturphilosophie. 279
elektrische durch seine chemische Wirkung von selber überleitet.
So beherrschen Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß
das gesamte Keich der unorganischen Natur.
§ 5. Die Qualitätsunterschiede der Körper.
Magnetismus, Elektrizität und chemischer Prozeß sind bei
Schelling Momente in der Rekonstruktion, d. h. in der Wiedererzeugung
der Natur in Gedanken, Expansiv-, Attraktivki-aft imd Schwere da-
gegen Momente in der Konstruktion der Materie, der wirklichen
AVeltentwicklung, der Entwicklung an sich. Diese bezeichnet Schelling
als ,, Prozeß erster Ordnung" oder als die „produktive Natur in der
ersten Potenz", jene als „Prozeß zweiter Ordnung oder als die „pro-
duktive Natur in der zweiten Potenz." Die Momente der Rekonstruk-
tion der Materie durchläuft die Natur vor unseren Augen, die Momente
der Konstruktion dagegen liegen außerhalb der Erfahrung, mit Aus-
nahme des diitten Moments, der Schwere, die sich durch ihre Er-
scheinung bis in die Sphäre der Erfahi'ung erstreckt ^^).
Was die Quahtätsunterschiede der Materie, die verschiedene
Beschaffenheit der Körper anbelangt, so leitet Schelling diese zum
Teil aus dem Prozeß erster, zum Teil aus dem Prozeß zweiter Ordnung
ab. Auf dem Intensitätsverhältnis der Expansiv- und Attraktivkraft
beruht vor allem die Verschiedenheit der Aggregatzustände. Ebenso
gelten Kohäsion, Dichtigkeit und spezifisches Gewicht als Eigenschaften
erster Potenz. Je stärker die Kohäsion, desto größer das Übergewicht
der Attraktion; je geringer die Kohäsion, desto größer das Über-
gewicht der Exi3ansion. Die Verschiedenheit der Dichtigkeit und
spezifischen Gewichte der Körper leitet Schelling aus den verschiedenen
Graden der Attraktivkraft ab. Alle Körper unterscheiden sich nämlich
durch die Intensitäten ihrer RaumcrfüUung, d. h. durch den Grad
der Einschränkung der Expansivkraft. Dieselben Quantitäten ex-
pansiver Kraft können dargestellt sein in ungleichen Volumina, ver-
schiedene Quantitäten in gleichen. Dasselbe Quantum der Expansiv-
kraft, dargestellt im gleichen Volumen, verdichtet den Körper und
macht ihn spezifisch schwerer. Daher folgt aus den verschiedenen
Graden der Attraktivkraft innerhalb der Körper die Differenz der
Dichtigkeiten und spezifischen Gewichte'"').
•9) I. 4. 43. § 41. «) I. 4. 41, 42. § 40.
280 Karl Zöckler,
Damit sind jedoch die Qualitätsunterschiede der Materie noch
keineswegs erschöpft.
Zu der gesamten ponderablen Materie tritt als notwendiger Gegen-
satz die imponderable oder der Äther hinzu. Dieser ist nach Schelhng
sogar das Ursprüngliche, das, was weiter abzuleiten, er für unmöghch
hält. Er ist identisch mit der Expansivkraft, welche durch die ent-
gegenwirkende Attraktivkraft eingeschränkt wird. Diese ist der
Sauerstoff, welcher sich bei der Verbrennung mit dem Körper ver-
bindet und Licht entwickelt. Aus der Vereinigung beider Kräfte
läßt Schelling das Licht entstehen, welches also das Produkt zweier
entgegengesetzter Faktoren, einer positiven Expansivkraft, des
Äthers, und einer negativen Attraktivkraft, des Sauerstoffs, ist. Das
Licht ist das allgemeine Prinzip, welches den größten Teil aller Qualitäts-
unterschiede der Körper bedingt. Wie in der Konstruktion der Materie
die Schwerliraft als die ,, konstruierende Kraft der ersten Potenz er-
scheint, so tritt in der Rekonstruktion der Materie das Licht als die
,, konstruierende Kraft der zweiten Potenz" auf. Es ist ,,die poten-
zierende Ursache" schlechthin. Es hängt hier alles von dem Ver-
hältnis ab, in welchem das Licht die Körper durchdringt, d. h. von
dem Grade, in welchem die Körper den positiven Faktor des Lichtes,
den Äther, anziehen und den negativen Faktor, den Sauerstoff, ab-
stoßen oder umgekehrt. Ist das gegenseitige Verhältnis zwischen
Licht und Körper ein solches, daß die Körper den Äther anziehen
und den Sauerstoff abstoßen, so äußert sich in dieseju Falle die Wirkung
des Lichtes als das Bedingende der Durchsichtigkeit des Körpers.
Die verschiedenen Grade aller Durchsichtigkeit beruhen daher auf
dem verschiedenen Grad der Anziehung zwischen Körper und Äther,
eine Erscheimmg, die notwendig mit dem entsprechenden Grade der
Abstoßung zwischen Körper und Sauerstoff verbunden ist. Die Körpei-
selbst müssen in diesem Falle das negative Prinzip, den Sauerstoff,
besitzen und darum abstoßen und das positive Prinzip, den Äther,
anziehen. Ist das Verhältnis umgekehrt, so daß die Körper den
positiven Faktor besitzen und abstoßen und den negativen anziehen,
so durchdringt das Licht die Körper als Wärme. Der Grad der An-
ziehung gegen den Sauerstoff ist das, was diesen Körpern den ver-
schiedenen Grad ihrer Verbrennlichkeit oder die spezifische Wärme
gibt. Es ist bereits erwähnt worden, daß jeder Kohäsionszustand auf
einem gewissen Grade der wechselseitigen Wirkung zwischen Ex-
1:
,1
Der Entwicklungsgedanke in .ScheJlings Xatui-philosophie. 281
pan&iv- und Attraktivkraft beruht. Expansion und Attraktion sind
das die Kohäsion Bedingende, das den Körper Gestaltende. Der
Gegensatz von Gestaltung ist Entfaltung. Alle Entfaltung i;-t nach
Schelling bedingt durch das Licht, das den Körper als Wärme durch-
dringt und dem vorhandenen Kohäsionszustand, der Starrheit der
Gestalt, entgegenwirkt. Es ist die Gegenkraft der Kohäsion, welche
die Kohäsion aufzulösen und einen anderen Kohäsionszustand her-
zustellen strebt. So ist das Licht die Ursache jeder Kohäsions-
veränderung. Da aber der Körper beim Durchgang des Lichts kein
l)loß passives, sondern ein wirksames Medium ist, welches das Licht
l)ei seinem Durchgange modifiziert, so entsteht vermöge der Brechung
und Trübung des Lichtes die Farbenerscheinung und deren prismatische
Abstufung, eine Erscheinung, welche Schelling auf die Grade der
Brechung und weiter auf die graduellen Differenzen der im Licht
enthaltenen Elemente zurückführt. Die Farbe selbst bezeichnet
Schelling als „eine Vermählung des Lichtes mit dem Körper" (ein
Ausdruck seiner Hinneigung zur Goetheschen Farbenlehre^'). Der
Grundgedanke also, aus dem Schelhng die Quahtätsunterschiede der
Körper zu entwickeln versucht, beruht auf der Annahme von dem
durchgängigen Verhältnis der Körper zu dem Licht, welches sie
durchdringt, von dem beständigen A\^chselverhältnis zwischen der
imponderablen und der ponderablen Materie. Wer dieses in der Natur
immer wiederkelu'ende Wechselverhältnis richtig auffaßt, habe mit
demselben den Schlüssel zur Erklärung aller Hauptveränderung der
Körper gefunden. Das Licht ist die potenzierende Ki'aft aller Ent-
wicklung, wie sie sich in der unorganischen Natur aus der Stufenfolge
des Magnetismus, der Elektrizität und des chemischen Prozesses er-
gibt. Überall, wo Produkte gebildet und umgebildet werden, bei jeder
Veränderung und Entwicklung, ist das Licht tätig.
2. Abschnitt. Organische Natur.
§ 1. Übergang zur organischen Natur.
Von der größten Bedeutung für die weitere Gestaltung von
Schellings Entwicklungslehre war die Entdeckung des Galvanismus.
]Mit Hilfe des Galvanismus konstruierte Schelling den Übergang der
unorganischen Natur zur organischen. Er glaubte in der galvanischen
41
) I. 2. 399, 400.
282 Karl Zöckler,
Elektrizitätslehre das Lobensgelieimnis entdeckt zu haljen und wies
einer bekannten physikalischen &aft, der Elektrizität, die Stelle der
unbekannten Lebenskraft an. Da der Galvanismus vermöge seiner
erregenden AVirksamkeit Reize verursacht, auf die der Muskel durch
Zuckungen, die Sinnesnerven durch ihre spezifischen Em])findungen
reagieren, welche als Schall und Licht (der Huntersche Bhtz), als
Erschütterung und Wärme, als saurer und bitterer Geschmack emp-
funden werden, so ergab sich hieraus, daß die galvanischen AVirkungen
sowohl elektrischer als auch chemischer Art sind, daß demnach in den
Gliedern der galvanischen Kette sowohl eine elektrische als eine
chemische Differenz stattfindet. Aus der Annahme nur, daß die polare
Entgegensetzung in den Teilen eines Körpers das AA'^esen des Magne-
tismus ausmacht, folgert Schelling, daß der galvanische Prozeß den
magnetischen, elektrischen und chemischen in sich vereinigt und daher
die Totahtät des dynamischen Prozesses ausmacht. Da nun für ihn
in der Erregbarkeit das AWsen eines jeden Organismus besteht und
in der geschlossenen Kette des Galvanismus nur vermöge der Erreg-
barkeit das Gleichgewicht im Organismus beständig gestört und wieder-
hergestellt wird, - — Prozesse, in deren Permanenz das Leben besteht, —
so ging Schelling darauf aus, mit Hilfe des Galvanismus das Leben
aus physikahschen Ursachen zu erldären*'). Die irritablen Organe,
Nerv und Muskel, galten ihm als die galvanischen Elemente, als die
entgegengesetzten Pole der Irritabihtät.
Und da bei ScheUing die Irritabilität gleichsam der Mittelpunkt
ist, um den alle organischen Kräfte sich sammeln ^^), so führte der
Galvanismus von selber in das Gebiet der organischen Natur hinüber.
Er bildet, da er die magnetische, elektrische und chemische AVkk-
samkeit, sowie zugleich die spezifische Lebenstätigkeit in sich ver-
einigt, das eigentliche Band der unorganischen und organischen
Natur. Denn er enthält den dynamischen Prozeß in allen seinen
Momenten und bedingt zugleich das organische Leben ^^).
AVie in der unorganischen Natur die Stufenfolge des Magnetismus,
der Elektrizität und des chemischen Prozesses herrscht, so bestehen
die Funktionen der organischen Natur in Sensibilität, Irritabihtät und
Bildungstrieb. Diese sind von den Funktionen der unorganischen
^'-) I.
3.
163—165.
") I.
2.
560.
'') I.
4.
74, 75. § 61
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 283
Natur nicht verschieden, sie sind in der Wurzel mit ihnen gleich, nur
deren höhere Potenzen. Es ist das von der allerorößten Wichtigkeit
für Schellings Entwicldungslehre, daß Magnetismus, Elektrizität und
chemischer Prozeß einerseits, Sensibilität, Irritalülität und Bildungs-
trieb anderereits als Zweige Einer Iiraft erscheinen. Die unorganischen
Ivräfte und die organischen sind einander verwandt oder analog.
Dem Magnetismus entspricht die Sensibihtät, dem elektrischen Prozeß
die Irritabilität, dem chemischen der Bildungstrieb. Die gemeinsame
Ursache des Magnetismus und der Sensibilität sieht Schelhng in dem
Weltprinzip der Polarität. Diese ist „der allgemeine d3mamisehe
Tätigkeitsquell", daher auch „der Lebensquell in der Natur". Den
Beweis für die Ähnlichkeit zwischen Elektrizität und Irritabihtät
liefere nun der Galvanismus, der als beständiger Strom in der Kette
eine „Elektrizität höherer Funktion" sei. Ebenso sei der organische
Bildungstrieb die „höhere Potenz des chemischen Prozesses. "^^)
Es genügt hier zur Kennzeichnung des Schellingschen Entwick-
liingsgedankens das Resultat dieser Untersuchung hervorzuheben,
daß die unorganischen und die organischen Kj'äfte Zweige oder
Erscheinungsformen Einer Ivi'aft sind, daß also zwischen der un-
organischen und organischen Natur nicht etwa ein Sprung, sondern
ein allmählicher, stetiger und kontinuierücher Übergang stattfindet.
Diesen Übergang bildet der Galvanismus, der sowohl die Funktionen
der unorganischen Natur als auch vermöge der Irritabilität, welche
bei Schelling den Mittelpunkt der organischen Kräfte ausmacht,
die der organischen Natur in sich schließt.
§ 2. Funktionen der organischen Natur.
Das Wesen eines ieden Organismus besteht in seiner Erreobarkeit.
Dadurch unterscheidet sich dieser von dem Toten oder Unerregbaren.
Die Ursache der Erregbarkeit kann nicht im Organismus selbst, sondern
nmß in der ihn umgebenden Außenwelt gesucht werden. Durch sie
empfängt er Eincüiicke, durch die die Sensibilität, der innerste Kern
des Organismus, beständig zu erneuter Tätigkeit angefacht und re-
produziert wird. „Dadurch eben unterscheidet sich das Organische
vom Toten, daß das Bestehen des ersteren nicht ein wirkliches Sein,
sondern ein beständiges Reproduziertwerden ist."*^) In dem Organis-
^5) I. 3. 210—218. 46) I 3 146
284 Karl Zöckler,
mus selbst unterscheidet Schelling zwei Naturen, einen höheren und
einen niederen oder gröberen Organismus, Unter diesem versteht er
den Organisnms als Ganzes genommen, während der erstere den
innersten Kern des Organismus, die Sensibilität, ausmacht. Dieser
eigentliche Organismus wird durch die Vermittlung des gröberen
Organismus von der Außenwelt affiziert. „Der Organismus (als
Ganzes genonunen) muß sich selbst das Medium sein, wodurch äußere
Einflüsse auf ihn wirken."^') Diese Trennung des Organismus in
einen höheren und niederen ist die Bedingung oder der Quell aller
organischen Tätigkeit und der Ursprung des Lebens. „In alles Organi-
sche muß also der Funke der Sensibilität gefallen sein, denn der Anfang
der Sensibilität nur ist der Anfang des Lebens. "*8) Die Ursache der
Sensibilität weiter abzuleiten, ist unmöglich. Sie ist der letzte Grund
alles Lebens, ihre Wurzeln reichen hinab bis in die letzten Bedingungen
der Natur selbst, in die Wirkungsart der weltbildenden Polarität. Die
Sensi])ilität kann demnach nicht erst ein organisches Produkt sein.
„Sensibilität ist da, ehe ihr Organ sich gebildet hat, Gehirn und Nerven
anstatt Ursachen der Sensibilität zu sein, sind sie vielmehr selbst
schon ihr Produkt."*^) Demnach liegt die Ursache der Sensibilität
nicht erst in der organischen Natur, sondern in der allgemeinen oder
unorganischen. Denn die Sensibilität ist bei Schellmg eine allgemeine
oder physikalische Erscheinung.
Geht die Sensibilität, dieser innere Tätigkeit^ quell des Organismus
in Tätigkeit über, so tritt an Stelle der Sensibilität die Irritabilität.
Durch diese reagiert die erstere auf die Einwirkungen der äußeren
AVeit. ,,Das irritable System erscheint als die Bewaffnung des sensiblen,
als das Mittelglied, wodurch dieses allein mit seiner Außenwelt zu-
sammenhängt."'^")
Durch das fortwährende Einwirken äußerer Einflüsse auf den
Organismus wird in diesem das Gleichgewicht beständig gestört.
Die Funktion der Irritabilität besteht nun darin, dieses beständig ge-
störte Gleichgewicht immer von neuem herzustellen. Diese Wieder-
herstellung des Gleichgewichts stellt sich als wechselsei Hge Durch-
dringung entgegengesetzter Bewegungen dar, die sich als Kontraktion
") I. 3. 146.
«) I. 3. 156.
^8) I. 3. 155.
^0) I. 3. 171.
1
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Xaturphilosophie. 285
und Expansion äußern und notwendig als entgegengesetzte Zustände
empfunden werden ^^). Daher kommt es auch nach ScheUings An-
sicht, daß die irritablen Werkzeuge eine notwendige Dualität besitzen.
„Daher, weil durch jede Erregung von außen eine homogene Tätig-
keit gestört und gleichsam in entgegengesetzte zerlegt wird, ist in jedem
Sinn eine notwendige Dualität; daher für den Gesichtssinn die Polarität
der Far))en, für den Gehörsinn die Dur- und Molltöne, für den Ge-
schmacksinn der saure und alkahsche Geschmack."^-) Durch die
Wirkungsart der Irritabilität ist bewiesen, daß der Organismus sich
selbst das Medium äußerer Einflüsse ist.
„Aber die Irritabihtät (wodurch das Organische als innerlich
bewegt erscheint) ist immer noch etwas Inneres, aber jene Tätigkeit
muß ganz zu einer äußeren werden, ganz im äußeren Produkte sich
darstellen, und, wenn sie in ihm sich darstellt, in ihm erlöschen. Aber
diese Tätigkeit, in dem sie ganz in das Produkt als ein Äußeres über-
geht, ist keine andere als die produktive Tätigkeit selbst (der Bildungs-
trieb). Irritabilität nniß also unmittelbar in Bildungstrieb oder Pro-
duktionskraft übergehen." ^^)
Nun darf aber der Bildungstrieb in dem äußeren Produkt nicht
erlöschen; denn das wäre das Ende aller Entwicklung. Er muß viel-
mehr über das Produkt hinausgehen und wieder ein anderes schaffen
usf. bis ins Unendüche. Nur so ist Entwicklung möghch. Die Pro-
duktionskraft muß daher als Reproduktion erscheinen. Diese Art
der Reproduktion, wodurch immer wieder ein neues Individuum
geschaffen wird, ist auf die Gattung gerichtet und dient zur Erhaltung
derselben. Die Reproduktionskraft erscheint daher in diesem Falle
als Gattungstrieb. Nun besteht aber auch eine Reproduktionskraft
innerhalb desselben organischen Individuums, welche dazu dient,
das Leben des Individuums zu erhalten. Das kann nur dadurch ge-
schehen, daß die Irritabilität immer wieder von neuem angefacht und
dadurch unterhalten wird. Das Mittel zur Erhaltung der Irritabihtät
ist die Nutrition, die Aufnahme immer neuer erregender Potenzen.
Der Zweck der Nutrition ist die beständige Wiederanfachung des
Lebensprozesses. Diese auf das Individuum selbst gerichtete Re-
produktion äußert sich daher als Lebenstrieb. Zwar ergibt sich als
51) I. 3. 168, 170.
52) I. 3. 170, 171.
") I. 3. 171.
286 Karl Zöckler,
unvermeidliche Wirkung der Nutrition eine Veiinehrung der Masse
des Individuums, wodurch das Wachstum bedingt ist; doch liegt
hierin nicht der Zweck der Nutrition. Damit nun aber das einzelne
Individuum nicht ins Eiullose wächst, muß die Reproduktion über
das Produkt hinausstreben und entweder ein weiteres Produkt der-
selben Gattung hervorbringen oder ein totes Kunstprodukt z. B. das
Gehäuse der Schaltiere, die Bienenzellen usw. Im letzteren Falle
erscheint die Reproduktion als Kunsttrieb. Gattungstrieb, Lebens-
trieb und Kunsttrieb sind die drei Formen der Reproduktion^-).
Die wichtigste ist der Gattungstrieb. Denn durch ihn wird die Gattung
und damit das Leben in der Natur erhalten, w^ährend die einzelnen
Individuen entstehen und vergehen. Die letzteren sind nur das Mittel,
um die Gattung und damit das Gesamtleben in der Natur zu erhalten.
In dieser Hinsicht redet Siegel geradezu von einem Kampf ums Dasein
zwischen dem Einzeltier und dem Alltier, der Natur ^^).
Jedes Individuum stellt die Entwicklungsstufe dar, auf welcher
die auf das Ganze gerichtete Bildungskraft der Natur, welche doch
nur danach strebt, Ein Produkt darzustellen, gehemmt ist. Die auf
den höheren Stufen stehenden Individuen haben daher notwendig
die niederen durchgehen müssen, um zu höheren zu gelangen. Den
Grund zu dieser Hemmung erbhckt Schelling in der Verschiedenheit
der Geschlechter. Doch glaubt er, daß in den ersten Individuen jeder
Gat<-ung diese entgegengesetzten Richtungen des Bildungstriebs
noch nicht angedeutet waren. ,,So wäre also jedes erste Individuum
seiner Art, obgleich es selbst den Begriff seiner Gattung nicht voll-
ständig ausdrückt, in bezug auf die später erzeugten Individuen
selbst wieder Gattung gewesen.'' ^^)
Erst auf einer höheren Stufe tritt die Geschlechtsdifferenz hervor,
wodurch statt Eines vollendeten Produktes die Anzahl der unvoll-
endeten Produkte oder Individuen bedingt ist. Durch die Verschieden-
heit der Geschlechter wird die Entwicklung von ihrem Ideal, Ein
Produkt hervorzubringen, abgelenkt. Je weiter die Organisation
vorgeschritten ist, um so ausgeprägter ist die Geschlechtsdifferenz.
Hieraus ergibt sich, daß die Entwicldung sich immer mehr von ihrem
Ideal entfernt und so zur Bildung mannigfacher Arten, Abarten .und
^*) I. 3. 171—178.
^^) Siegel, Geschichte der deutsclien Naturphilosophie S. 212.
56) I. 3. 56.
Der Entwicklmigsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 287
Individuen schreitet^"). Auf diese Weise wird die Individualisierung
l)is aufs Höchste gesteigert.
Da nun aber bei ScheUing die höchste Stufe des gestörten Gleich-
gewichts gleichbedeutend ist mit der Wiederherstellung des Gleich-
gewichts, so werden die Geschelchter, wenn jedes für sich den höchsten
Grad seiner Individualisierung erreicht hat, ihre entgegengesetzten
Tätigkeiten zu einem Gemeinschaftlichen vereinigen müssen. Von
diesem Augenbhck an wird die Natur das Individuelle verlassen;
dieses wird somit zu einer Sclu'anke ilu^er Tätigkeit, an deren Zer-
störung sie kontinuierhch arbeitet. Ist nun das gemeinschaftliche,
über jede Individuahsierung erhabene Produkt gesichert, so wird
dieses von seinem homogenen Zustande aus dieselben Entwicklungs-
stufen zu durchlaufen haben wie zuvor, d. h. es wird sich wieder
individualisieren usw. ^^).
Die erregende Ursache der auf die Gattung gerichteten Keproduktion
bildet der Zeugungsakt. Durch ihn wird zunächst der zündende
Funke der Sensibilität geweckt, die dann in Irritabilität und schließUch
in Produktionslvi-aft übergeht. Da nun die Sensibilität das innerste
Wesen des Organismus ausmacht, so ist die Erhaltung dieser organi-
schen Kraft die Grundbedingung alles Lebens ; da ferner die SensibiUtät
in Irritabihtät und diese wiederum in Produktion und Reproduktion.
übergeht, welche letztere, indem sie als Gattungsprozeß die Bedingungen
des Lebens beständig erneuert, in die Sensibilität wieder zurückkehrt,
so bilden Sensibilität, Irritabilität und Reproduktion da:- System und
den Kreislauf der organischen Kräfte.
§ 3. Die Wirkungsart.
Untersuchen wir die drei organischen Ki'äfte auf iiu'e Abhängig-
keit von einander, so ergibt sich ein durchgängiges Wechselverhältnis
derselben. Da nur ein empfindhcher Organismus auf die Einflüsse
von außen reagieren und sein beständig gestörtes Gleichgewicht
beständig wieder herstellen kann, so erhellt hieraus die Abhängigkeit
der Irritabilität von der Sensibilität. Da nun die nach außen gerichtete
Irritabihtät die Kraft ist, durch welche die nach innen gerichtete
SensibiUtät vermittelt wird, so bedeutet das die Abhängigkeit der
") 1. 3. 62.
^■'*) I. .3. 52. (Vgl. auch Siegel, Geschichte der deutschen Natur-
philosophie S. 213, 214.)
288 Karl Zöckler,
Sensibilität von der Irritabilität. Und da ein Organismus, welcher
nicht empfindlich und erregter ist, zweifellos unfähig ist, sich selbst
zu reproduzieren, so müssen Sensibilität und Irritabilität als die Vor-
bedingungen zur Ke])rodukti()n angesehen werden. Die drei organi-
schen Kräfte sind daher notwendig an einander gebunden untl
koexistent. Sie sind in jedem Individuum vereinigt; keine kann
ohne die andere existieren.
Die Verschiedenheit der Organisationen entsteht nur durch das
verschiedene Maß der Verteilung dieser drei organischen Ivi'äfte.
Die Organisationen sind verschieden nicht als Arten, sondern nach
dem Verhältnis der organischen Ej'äfte, nach dem Grade, in welchem
diese verteilt sind oder die eine die andere überwiegt. Unter diesem
Gesichtspunkt erscheinen die organischen Formen und Arten als
Abstufungen der organischen Ki'äfte, als begriffen in einer Skala der
Zu- und Abnahme derselben. Das Gesetz dieser Verteilung der Kräfte
ist das Entwicklungsgesetz der organischen Natur. Vom Menschen
abwärts zeigt sich eine allmähliche Abnahme der Sensibilität; an der
Grenze der Tierwelt ist nur noch ein dumpfes Gefühlsorgan übrig,
in den Pflanzen ist die Sensibihtät gleich einer verschwindenden
Größe. Hieraus ergibt sich, daß die Sensibilität nach abwärts zu in
einer fortschreitenden Abnahme begriffen ist. Ebenso verhält es sich
mit der Irritabilität, welche nur die nach außen gerichtete Erscheinung
der Sensibilität ist. Sensibilität und Irritabiütät stehen also in direktem
Verhältnis. Während diese beiden organischen Ili'äfte nach abwärts
zu immer mehr abnehmen, ist nach dieser Richtung hin die dritte
organische &aft, die Reproduktion, in beständiger Zunahme bc
griffen. Je geringer der Entwicklungszustand des Individuums oder
der Gattung, desto größer die Reproduktionen, die Fruchtbarkeit
in der Zahl der Fortpflanz angen. So waltet ein Gesetz durch die
organische Natur, welches die Kräfte derselben an einander bindet
in direktem und in indirektem Verhältnis. Ein direktes Verhältnis
besteht zwischen Sensibilität und Irritabihtät, ein indirektes zwischen
Sensibilität und Irritabihtät einerseits und der numerischen Leistung
der Reproduktion andererseits. Das Gesetz dieser Ki-äfteverteilung
beherrscht die verschiedenen Organisationen, die verschiedenen
Individuen derselben Art und die Entwickhmgsperioden desselben
Individuums. Die Entwicklungsstufen des Individuums und die
Entwicklunosstufen der Natur sind bei ScheUing Erscheinungen
Der Entwicklungsgedanke in 8chellings Naturphilosophie. 289
desselben Gesetzes. Denn es gbit nur Ein LclDen in der Natur, und
das individuelle Leben besteht nur in der Konzentration des allge-
meinen Lebens. So herrscht also in der organischen j^atur eine
Gradation dei Kräfte, die von der Sensibilität durch die Irritabilität
und Keproduktion sich nach unten abstufen. In demselben Maße,
wie die höhere Kraft fällt, steigt die niedere; jene verhert sich in
diese, sie wird nicht vernichtet, sondern bleibt latent. Das Fallen
der höheren Ki'aft ist notwendig das Steigen der niederen und um-
gekehrt. Dieses Gesetz, welches die Zunahme der einen Kraft an die
Abnahme der anderen bindet, macht das Gleichgewicht und den
Bestand der organischen Welt; die Abstufung und gTaduelle Ver-
schiedenheit bewirkt den Reichtum und den Zusammenhang der
Lebensformen, das System der organischen Welt. Aus dem Gesetz
der Verteilung folgt das Entwicklungsgesetz der Organisationen,
welches Kielmeyer, auf dessen Vorbild Schellings diesbezügliche Lelu-e
im wesentlichen beruht, den „Plan der Natur" nannte. Die Art dieser
Ki-äfteverteilung ist bedingt durch che dynamische Vorstellungs-
weise ^^).
Da immer die Abnahme der einen Kraft an die Zunahme der
anderen gebunden ist, so ist im Grunde alles Leben Erscheinung Einer
Ki-aft in den verschiedenen Zuständen ihrer Gradation, ilu'er Zu- oder
Abnahme. Die verschiedenen Organisationen sind die verschiedenen
Stufen dieser Erscheinung, daher besteht im Grunde nur Eine Organi-
sation, Ein Produkt auf verschiedenen Stufen. Jede dieser Stufen
ch-ückt einen bestimmten Grad oder Entwicklungszustand dieser
Einen lü'aft aus, an die die Kontinuität der Entwicklung gebunden ist.
Schelling bezeichnet die in dem Produkt vorübergehend zum Still-
stand gebrachte Wirksamkeit dieser Einen Ki'aft als eine Hemmunü'
derselben. In dieser Hinsicht erscheint die Eine Ki'aft auf verschiedenen
Stufen ihrer Wirksamkeit gehemmt, wodurch die verschiedenen Stufen
der Entwicklung entstehen. „Wenn im Organismus eine Gradation
der Kjäfte ist, wenn Sensibihtät in IiTitabilität, Irritabihtät in Re-
produktionski-aft sich darstellt, und die niedere Kraft nur die Ei--
scheinung der höheren ist, so wird es in der Natur so viele Stufen der
Organisation überhaupt geben, als es verschiedene Stufen der Ei'-
scheinung jener Einen Ki'aft gibt. Die Pflanze ist, was das Tier ist,
59) I. .3. 196—204.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 3. 19
idO Karl Zöckler,
und das niedere Tier ist, was das höhere ist. In der Pflanze wirkt
dieselbe Kraft, die im Tier wirkt, die Stufe ihrer Erscheinung nur liegt
tiefer. In der Pflanze ha+ sich schon ganz in Reproduktionskraft
verloren, was bei dem Amphibium noch als Irritabilität und beim
höheren Tier als Sensibihtät unterschieden wird und umgekehrt. Es ist
also Eine Organisation, die durch alle diese Stufen herab allmähhch
bis in die Pflanze sich verüert, und eine ununterbrochen wirkende
Ursache, die von der Sensibilität des ersten Tieres an bis in die Re-
produktionski'aft der letzten Pflanze sich verliert."^) „Statt der
Einheit des Produktes also, welche wir oben suchten, und die wir
wegen der Trennung in entgegengesetzte Geschlechter (die alle weitere
Bildung desselben Produktes unterbricht) nicht annehmen konnten,
haben wir nun eine Einheit der Ivi'aft der Hervorbringung durch die
ganze organische Natur. Es ist nicht Ein Produkt zwar, aber doch
Eine Kraft, die wir nur auf verschiedenen Stufen der Erscheinung
gehemmt erbhcken. Aber diese Kraft tendiert urspriingüch nur gegen
Ein Produkt; die Kraft ist auf verschiedenen Stufen gehemmt, heißt
also eben so viel als: jenes Eine Produkt ist auf verschiedenen Stufen
gehemmt — und, was notwendig daraus folgt, daß alle diese auf ver-
schiedenen Stufen gehemmten Produkte nur Einem Produkt gleich
gelten." ^^) Das ist das Prinzip der Stetigkeit und Kontinuität in dem
Entwicklungsgedanken Schehings, daß zwischen Pflanze und Tier,
zwischen niederen und höheren Tieren kein übergehender Sprung,
sondern ein allmählicher, langsam fortschreitender Übergang statt-
findet, der in die ununterbrochene Kette des Ganzen gehört und als
Modifikation jener Einen Grundkraft erscheint.
§ 4. Die Einheit der organischen Natur.
(Zusammengefaßt mit der Einheit der unorganischen Natur.)
Diese Einheit der lüaft herrscht aber nicht nur in der organischen
Natur, sondern auch in der unorganischen. Da hier Magnetismus,
Elektrizität und chemischer Prozeß als sich selbst potenzierende
lü-äfte gedacht sind, die sich nur durch die Verschiedenheit ihres
Grades unterscheiden, so sind auch sie aus einer Grundkraft hervor-
gegangen. Sowohl in der unorganischen als auch in der organischen
<">) I. 3. 206. 81) I. 3. 207.
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Naturphilosophie. 291
■&•
S
Natur besteht demnach die Einheit der Ki'aft der Hervorbringung
Und da die organischen Kräfte nur die höheren Potenzen der un-
organischen sind und das individuelle organische Leben nur die Kon-
zentration des allgemeinen Lebens in der Natur ist, so zieht sich die
Einheit der Kraft durch die ganze Natur hindurch.
Unorganische und organische Natur sind demnach einander
nicht fremd, sondern jene ist die Bedingung für diese; erst aus der
unorganischen Natur konnte sich die organische entwickeln. Alles
organische Leben besteht in einem fortwährenden Ankämpfen und
sich Behaupten gegen den Andrang der äußeren Natur; die äußeren
Wirkungen werden, dadurch daß sie von dem Organismus aufgenommen
und durch Gegenwirkungen erwidert werden, in innere, organische
Wirkungen verwandelt. Ohne äußere Wirkung keine organische
Gegenwirkungen, ohne äußere Natur kein organisches Leben. Das
organische Leben besteht nur mit dem Andi'ange einer äußeren Natur.
Daher gehören beide Naturen, die unorganische und die organische,
notwendig zusammen; ohne die unorganische Natur könnte die organi-
sche nicht existieren '^2). Die Funktionen der letzteren sind die höheren
Potenzen von den Funktionen der ersteren, jene ist die Bedingung
für diese. So herrscht also nicht nur innerhalb der einzelnen Naturen
die Einheit der Ki'aft der Hervorbringung, sondern diese waltet als
allumfassendes Weltgesetz durch die ganze Natur.
Kap. III. Vergleich mit dem Darwinismus und Vitalismus
sowie Würdigung der Schelling'schen Entwicklungslehre.
§ 1. Darwinismus.
Das Vorstehende kennzeichnet den großen Gedanken der Einheit,
wie er in Schellings Entwicklungslehre sich darstellt, den Gedanken,
welcher auch dem modernen Darwinismus, bezogen auf die organische
Natur, zu Grunde liegt.
Beiden, Schelling sowohl wie Darwin, fiel die gemeinsame Aufgabe
der Erldärung der Einheit in den Naturformen zu. Da Darwins Theorie
der Hauptsache nach als allgemeine bekannt angenommen werden
darf, so erübrigt es sich, eine Darstellung derselben zu geben; es sollen
5-) I. :}. G9— 92.
19=*
292 Karl Zöckler,
deshalb nur die Punkte herangezogen werden, welche zum Vergleich
mit Schellings Entwicklungslehre nötig sind.
Darwins Theorie beschränkt sieh auf das Reich der organischen
Natur, Schelhngs Entwicklungslelu-e dagegen umfaßt die gesamte
Welt, die sichtbare sowohl wie die unsichtbare. Schon aus dieser rein
äußerlichen Verschiedenheit des Umfangs der Entwicklungsgedanken
beider folgt, daß die auf den kleineren AVirkungskreis bcsclu'änkten
Ausführungen Darwins eine größere Sicherheit bieten, als die Schelhngs,
welche zu oft durch Kühnheit und Überschwenghchkeit ihrer Beweis-
führung erstaunen. Diese Verschiedenheit der Bewertung ist bedingt
durch die Verscliiedenheit der Voraussetzungen, von denen beide
Theorien ausgehen. Für Schelhng ist das Subjekt der Entwicklung
das einzig Reale, die Natur in ihrer absoluten Produktivität, che natura
naturans; das Objekt, die natura naturata dagegen ist das Sekundäre;
alles Objektive ist nur als ein Durchgangsprodukt anzusehen, durch
welches hindmxh das Subjekt der Entwicldung, die Vernunft, zu
immer größerer Machtvollkommenheit sich entwickelt. Die in der
Entwicklung begriffene Vernunft braucht notwendig ein Objekt, ini
Kampf mit dem sie sich ent^vickeln kann, um so zu immer höherem
Grade der Vollkommenheit zu gelangen. Zu diesem Zweck darf der
Schaffenstrieb der Natur niemals befriedigt werden; denn das wäre
das Ende und der Stillstand aller Entwicklung; vielmelir muß immer
noch ein Restbetrag, ein Gegensatz zwischen dem ewig überlegenen
Subjekt und dem Objekt übrig bleiben, zu dessen Ausgleich wieder
ein neues Objekt geschaffen werden muß usw. bis ins Unendhchc.
Die nach der Bildung eines Objekts sofort wieder von neuem auf-
tretenden, nur dem Grade nach verschiedenen Gegensätze zwischen
Subjekt und Objekt sind die bewegende Ursache aller Entwicklung.
In der ganzen Entwicklungsreihe des Subjekt-Objekt ist diejenige
Form die vollkommenste, in welcher das Subjekt den relativ höchsten
Grad seiner Vollkommenheit erreicht und das Objekt relativ gegen
das Subjekt verschwindet, oder, was dasselbe ist, ganz in das Subjekt
übergeht. Dieses Ziel ist im reflektierenden Menschen erreicht. Hierauf
richtet sich das Streben der ganzen Entwicklung in stetiger kontinuier-
Meher Stufenfolge. Sie ist nichts als werdender Geist, der das Be-
streben hat, sich durch das Stufenreich der unorganischen und organi-
schen Natur bis zum reflektierenden Menschen aus der unbe^^iißteii
Gestalt in die be\^Tißte durchzuringen. Das ist der teleologische
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Natirrphilosophie. 293
Charakter der Entwicklungslehre ScheUiugs. Diese Lehre sucht die
einzelnen Erscheinungen nicht etwa in ihrem kausalen Zusammen-
hang zu erklären; sie bezeichnet vielmehr ein idielles Verhältnis,
welches besagen will, daß sich in jeder einzelnen Erscheinung die
Grundidee des Ganzen ausbreitet, und welche jede einzelne Erscheinung
nur nach dem Platz oder der Rangordnung zu modifizieren sucht,
die ihr in bezug auf den Gesamtzweck der Natur zukommt. Während
bei Schelling nur das Subjekt der Entwicklung Reahtät besitzt und
das Objelrt nur die vorübergehenden Durchgangsstufen des sich ent-
wickelnden Subjekts bildet, haben bei Darwin Subjekt und Objekt
der Entsvicklung gleiche Realität. Daher ist eine Beziehung zwischen
beiden nur durch die Erfahrung möglich. Bei Darwin ist kein In-
dividuum dem anderen gleich, ebenso wenig wie nach der Wissenschafts-
lehre ein Gedanke dem anderen gleich sein kann, da er ja zuerst sein
Gegenteil erzeugt, woraus sich weitere Folgerungen ergeben. Diese
Verschiedenartigkeit der Individuen ist bei Darwin die Veranlassung
zur Entstehung neuer Formen. Die Vervollkommnung regelt sich
durch die Auswahl, welche den Formen, die den jeweihgen Verhält-
nissen des betreffenden Aufenthaltsortes zufällig am besten angepaßt
sind, das Übergewicht gibt vor solchen Formen, die nach dieser Rich-
tung hin weniger begünstigt sind. x\uf diese Weise werden aUmähhch
vollkommene Formen gezüchtet und die unvollkommenen, welche
im Kampf ums Dasein untergehen müssen, ausgeschaltet. (,,Natür-
hche Auslese".) Die organische Form ist bei Darwin insoweit voll-
kommen, als iluT Organisation den Bedingungen der Umgebung
sich anpaßt. Die Vollkommenheit ist daher eine rein zufälhge; denn
da es ungewiß ist, in welcher Richtung sich die Daseinsbedingungen
ändern werden, ist eine bestimmte vorausliegende Tendenz aus-
geschlossen. Es gibt bei Darwin keine Zielstrebigkeit in der Natur,
sondern die Zweckmäßigkeit ist das notwendige Resultat natürhcher,
rein kausal wirkender Faktoren. Sein Entwicklungsplan steUt sich
dar als Linien, die von einem Punkt aus divergieren, so, daß diese
wiederum sich nach allen Richtungen rein zufälüg verzweigen, je
nachdem die Bedingungen der Umgebung dieses ermöglichen. Schel-
lings Stufenfolge dagegen stellt Eine gerade Linie dar, die in stetigem
Drange dem Ziele der Entwicklung zustreljt.
Sonach herrscht sowohl bei ScheUing als auch bei Darwin Ein-
heit in der Entwicklung. Dieser Gedanke der Einheit ist von Darwin
294
Karl Zöcklcr,
bezogen auf die organisclic Natur, von Schelling auf die gesamte
sichtbare und unsichtbare Welt : er ist von dem Empiriker mechanistisch
von dem Ideahsten teleologisch durchgeführt^^].
§ 2. Vitalismus.
Der Zentralbegriff in Schellings Entwicklungslehre ist der Begriff
des Lebens. Ein gemeinsames Leben durchzieht dem Prinzip nach
die gesamte Natur. Was in ihr tot erscheint, ist nur erstarrtes oder
noch nicht vollkommenes Leben. Man darf ihre Erscheinungen nicht
in ihrer Vereinzelung auffassen; sie ist vielmehr nichts als ein großer
Lebenszusammenhang, ein ewiges Lieinandergreifen der lii'äfte, in
welchem es nur auf die Lebendigkeit des Ganzen ankommt. „Es war
gewiß ein sinnvoller Traum, daß die tote Materie ein Schlaf der vor-
stellenden Kräfte, das Tierleben ein Traum der Monaden, das Ver-
nunftleben endhch ein Zustand der allgemeinen Erwachung sei.
Und' was ist denn die Materie anders als der erloschene Geist ? In ihr
ist alle Duplizität aufgehoben, ihr Zustand ein Zustand der absoluten
Identität und der Ruhe. Im Übergang aus der Homogenität
in Duphzität dämmert schon eine Welt, mit der AViederherstellung
der Duphzität geht die Welt selbst auf." (I. 3. 182.)
Der Geist, oder, was dasselbe ist, das Leben, welches durch die
ganze Natur hindurch auf jeder Stufe in stetem Werden begriffen ist,
ist nur möglich durch den fortdauernden Konfhkt entgegengesetzter
Prinzipien, der den Wechsel der Erscheinungen unterhält und den-
selben nötigt, einen beständigen lü'eislauf zu bilden, in welchem aUes
Tote als „erloschenes Leben" und alles Lebendige als „individuah-
siertes Leben" erscheint, in welches letztere sich das allgemeine Leben
der Natur kombiniert. ,,Der Organismus ist nicht die Eigenschaft
einzelner Naturdinge, sondern umgekehrt, die einzelnen Naturdinge
sind eben so viele Beschi-änkungen oder einzelne Anschauungsweisen
des aUgemeinen Organismus. Die Dinge sind also nicht Prinzipien
des Organismus, sondern umgekehrt, der Organismus ist das Prinzipium
der Dinge. Das Wesenthche aller Dinge, (die nicht bloße Erscheinungen
sind, sondern in einer unendlichen Stufenfolge der Individualität sich
annähern) ist das Leben: das Akzidentelle ist nur die Art ihres Lebens,
®^) Mejer, H., Das Verhältnis der Entwicklungstheorie in Schellings
Natui-philosophie zum Darwinismus. (Prog. Görlitz 1906.)
Der Entwicklungsgedanke in Schellings Natui'plillosophie. 295
und auch das Tote in der Natur ist nicht an sich tot, ist nur das er-
loschene Leben/' ^*) Diese Sätze beweisen deuthch, was Schelhng
in seiner Schrift von der Weltseele sagen wollte. Nur so ist sein he-
rührates Wort: „Das AU lebt" zu verstehen. Das organische Leben
ist nur die Konzentration oder Einscliränkung des allgemeinen oder
unorganischen Lebens. Mithin ist das allgemeine Leben das primäre,
das organische das sekundäre, welches sich erst aus jenem entwickeln
konnte. Schelhng fordert also die allgemeine oder die physikahsche
Erklärung des Lebens.
Seine Entwicklungslehre steht daher in völhgem Gegensatz auch
zu dem Vitahsmus im Sinne der Theorie der sogenannten Lebens-
kraft. Die Basis, auf der Schellings Entwicklungslehre fußt, ist der
Gedanke einer durchgängig lebendigen Natur, einer sich selbst ge-
staltenden und organisierenden Materie, welche sich durch das Bereich
der unorganischen und organischen Na+ur stufenmäßig entwickelt.
Einer besonderen Lebenskraft, welche den Organismen allein zu-
konmien soll, bedarf es in dieser Entwicklungskette nicht; denn das
Leben beginnt bei ScheUing bereits in der unorganischen Natur und
zieht sich in immer höherer Stufe durch die gesamte Natur hindurch.
Nur unter dieser Voraussetzung besteht eine natürliche Verbindung
zwischen der unorganischen und organischen Natur, zwischen Körper
und Geist. Jede künsthche Verbindung dagegen, wie die Einscliiebung
einer besonderen Lebenski-aft, würde in der ganzen Entwicklungsreihe
Schelhngs als ein fremdes Ghed erscheinen, welches die Einheit des
Gesamtlebens der Natur vernichten würde. Daher verwirft Schelhng
den Vitahsmus, die Theorie der sogenannten Lebensla'aft : denn diese
würde den ^linismus seines Entwicklungsgedankens zerstören und
nicht imstande sein, das organische Leben zu erklären, dessen Wurzeln
l)ei Schelhng bereits in der allgemeinen oder unorganischen Natur
liegen ^^j.
§3. Die Bedeutung der Schellingschen Entwicklungslehre.
Zum Schluß mögen noch einige Bemerkungen über die Be-
deutung der Entwicklungslehre Schelhngs gegeben werden. Doch
können diese, da che Schellingsche Naturphilosophie schon genügend
") Von der Weltseele II. A. 1.
«■5) I. -2. 5G4.
296 Karl Zöcklcr.
kritisiert worden ist (vgl. Siegel, a. a. 0. S. 214ff., sowie die Abhaiul-
luiig von Heußler in den Khein. Blättern für Erziehung und Unter-
richt 1882, S. 548 ff.) nur beschränlt sein; es sollen daher nnr die
Momente hervorgehoben werden, die in objektiver Beurteilung des
ganzen großzügig angelegten Systems neben kleineren, kaum zu ver-
kennenden Schwächen unserem genialen Autor in den Augen eines
jeden von wahrhaft historischem Geiste beseelten Beurteilers ein
bleibendes Denkmal zu setzen imstande sind. Was Schelhng heute
allgemein vorgeworfen zu werden i)flegt, kann man dahin zusanmien-
fassen, daß er die Erfahrung mißachtet und an ihrer Stelle willkürlliche
Konstruktion gesetzt habe. Daß Schelling allerdings die Bedeutung
der Theorie gegenüber der Erfahiamg hervorgehoben hat, ist richtig;
anderseits aber darf nicht verkannt werden, daß er zur Verifikation
seiner Theorien stets die Erfahrung herangezogen hat. Höchstens
könnte man ihm vorwerfen, daß er dabei aUzu oberflächlich, zum
mindesten nicht sorgfältig genug und öfter allzu kühn vorgegangen
ist. Doch was haben diese und dergleichen ähnliche Vorwürfe zu
bedeuten gegenüber der großartig durchgefühi'ten Idee von der Einheit
der gesamten Natur, womit der untrennbare Zusammenhang zwischen
der organischen und unorganischen Natur gegeben ist ! In dieser
grandiosen Anerkennung der Natureinheit sowie in der konsequenten
Durchführung der dynamistischen Auffassung, in welcher sich die
Natur durch die Einheit der Ki'äfte vor unseren Augen zu immer
höherer Stufe a priori entwickelt, liegt die Hauptbedeutung der
Schelüngschen Entwicklungslehi'e. Gegenüber dieser großzügig
durchgeführten Idee, wie sie nur in dem Kopfe eines so einzig an-
gelegten Menschen, w'e Schelling, heranreifen könnte, treten kleinere
Bemängelungen vollständig in den Schatten, und hier ist der Punkt,
an deni eine objektive Kritik anzusetzen hat.
Mögen diese kurzen Andeutungen dazu beitragen, Licht- und
Schattenseiten in den Leistungen unseres großen Denkers richtig zu
verteilen und ihn dadurch der Mitwelt, bei welcher Schelhng trotz
der unparteiischen geschichthchen Beurteilung, für welche Kuno
Fischer so energisch eintritt, noch lange nicht zur allgemeinen Geltung
durchgedrungen ist, menschhch näher zu rücken.
IX.
Paul Deussen.
Ein Nachwort zu seinem 70. Geburtstag.
Von
Dr. Franz Mockrauer.
Philosophie, die höchste Leistung, deren die Menschheit fähig
ist uiid zu deren Hervorbringung Menschen auf diesem gebrech-
hchen Planeten entstanden sind, Philosophie hat eine seltsame Ge-
schichte und ein kompliziertes Wesen, und nur sie selbst kann zum
letzten Verständnis ihrer Natur gelangen. Völkerwanderungen, Re-
volutionen, Kriege mit all ihrer Zerstörungs^\Tlt konnten bis heute
ihren langsamen, aber doch stetigen Fortschritt nicht hemmen. Alles —
die großen Geister, ihre weniger großen Schüler, ihre umfangreichen
Schulen, die Nationen samt ihren inneren so mannigfachen praktischen
Kräften, die Kunst, die empirischen Wissenschaften — sie alle müssen
ihr dienen, müssen sie aufbauen helfen und sich von ihr leiten lassen,
ob sie es wissen und wollen oder nicht, ob es eingeständlich geschieht,
wie in Indien und im katholischen Mittelalter, oder verhohlen, wie
heute, ob sie sich auflehnen oder freiwillig unterordnen, ob die Philo-
sophie in Gestalt kirchlicher Dogmen oder staatlicher Verfassungsgrund-
sätze oder wissenschaftücher Gedanken auftritt. Nur wenige Menschen
sind sich bewußt, daß die Worte, in denen sie sich ausdiücken, die
Begriffe, die sie durch Schule, Lektüre und Umgebung sich aneigneten,
also auch die bewußte Ethik, zu der sie durch andere und sich selbst
erzogen wurden, die Grundsätze alles geistigen und praktischen Tuns,
daß alles dies aus mühsamer Gedankenarbeit der früheren Genera-
tionen und genialen Offenbarungen weniger Auserwählter hervor-
gegangen ist. Niemals hat Philosophie die Macht der Gegenwart,
um so sicherer stets die Macht der Zukunft, und die Grundgedanken
der in diesen Zeiten sich offenbarenden deutschen Ethik knüpfen
I
298 1' r a n z AI o ck i' a u e r ,
sich insbesondere an die Lehren der deutschen Philosophie des 18. und
19. Jaln-hunderts, soweit sie in die staatlichen Hochschulen und
Jugenderziehungsstätten Eingang gefunden. Inzwischen freilich ist
die Kantische Philosophie, welche im allgemeinen die Grundlage des
philosophischen Denkens der Gegenwart gebheben ist, von einer
infolge ihrer scheinbaren Po))uIarität noch wenig verstandenen Me-
taphysik überholt worden, der Schopenhauerschen: den durch Ee-
aktion gegen Hegels Routine des unklaren Tiefsinns erzeugten empi-
ristischen, psychologistischen, materiahstischen Strünningen der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlt es dagegen an meta-
physischer Vertiefung oder Erkenntniskritik, den philosoijhischen
Dichtungen des genialen Nietzsche an konsequenter Systematik,
Wirklichkeitsbewußtsein, Weite des Tiefsinns und Kritik, so un-
schätzbare neue Elemente auch beide Richtungen, durch einzelne
Grundeinsichten, Probleme, i)artielle Gedanken, Ausdrücke. Be-
obachtungen auf allen Gebieten der Welt, der Philosophie zuzu-
führen vermögen. Die Schopenhauersche Philosophie, welche eine
viel weitere Welt umspannt, als in die Köpfe der letzten Jahrzehnte
überhaupt hineinging, hat Raum für alles, was seit ihrem Urheber
gedacht worden ist. Sie bietet eine feste s3'Stematische Grundlage,
da in ihr überwirkliche Einsichten, Empirie, logische Auflösung und
Konsequenz und die Angemessenheit des Ausdrucks in der erforder-
lichen Harmonie dem formalen Charakter echter philosophischer Er-
kenntnis entsprechen. Aber die Gestalt, in welcher der Autor sie
hinterließ, genügte bei der Fülle der zu verarbeitenden Intuitionen
den Ansprüchen an die logische Verkettung nicht überall: darum
nahm die im allgemeinen vorherrschende rationalistische Philosophie,
die Philosophie der ordentlichen Logik, an ihr so schweren Anstoß,
daß sie mit Spott auf Schopenhauers ,,AVidersprüche"' hinwies und
sich — so unglaublich es klingt — mit diesem Hinweis begnügte,
während nur unproduktive Philosophen, desto lebhafter aber be-
deutende Künstler, Musiker, Dichter, Literaten vom Geiste Schopen-
hauers mehr verspürten, in deren Ivreise der Denker allmählich ein
l)reites Pubükum gewann. Sehen wir von Frauenstädts geringfügigen
anfechtbaren Fortsetzungen, von v. Hartmanns verhegelten und
schellingisierten Phantasien, von all den anderen nur Beeinflußten
und nicht Belehrten ab, so bleiben nur zwei, welche sich in ernst zu
nehmender Weise um Schopenhauers Philosophie bemühten: der
Paul Deussen. 299
schon verstorbene Dresdener Justizrat Carl Bahr, welcher als
junger Student ein heute noch sehr lesenswertes, vom Standpunkt
Kantischor Ki'itik aus verfaßtes und von Schopenhauer selbst außer-
ordenthch gelobtes Büchlein über die „Schopenhauersehe Philosophie
in ihren Grundzügen" (Dresden 1857) schrieb, und Paul Deussen,
welcher, durch Nietzsches persönHche iVuregun«- zu Schopenhauer
geführt, als Dogmatiker die eigenthchen Grundlinien der vom Meister
hinterlassenen Philosophie herausarbeitete in seinem überaus klaren,
schönen, tiefen Buche „Elemente der Metaphysik" (in 5. Auflage 1913).
Dieses Buch, von dem ich gewiß nicht sagen will, daß es nichts mehr
zu tun übrig heße, hat doch die Schopenhauersche Philosophie so
weit konsolidiert, daß nunmehr eine einheithche Organisation der
Schopenhauerschen Schule und die Anknüpfung der empmschen
Forschung an die Grundsätze dieser Pliilosopliie erfolgen kann.
Das ist Paul Deussens Stellung in der systematischen Philosophie
des an echter Metaphysik so arm gewordenen Zeitalters. Wie weit
er mit seinen schon 1877 in feste Form gebrachten Lehrsätzen über
die Schopenhauersche Fassung hinausgelangt ist, wie weit er ancü'er-
seits über seinen Bemühungen hinter der inzwischen fortschreitenden
Empirie und den neuen partikulären Philosophemen seines Zeit-
alters zurückbleiben und mit Schopenhauer für die wertvollen Elemente
der von dessen Zeitgenossen ausgehenden Philosophien unempfänglich
bleiben mußte, für diese einer gründlichen Untersuchung durchaus
bedürftigen Fragen fehlt hier der Raum. Das allein möchte ich nicht
verschweigen, daß eine gedeihhche Entwicklung der Philosophie mir
nur im engen Anschluß an Schopenhauer und seine Schüler Becker*),
Bahr und vor allem Deussen möghch erscheint. AVie die Gelehrten-
welt in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, nachdem die
Stürme der Hegelei sich ausgerast, auf Kant zurückgriff, um ihn nun
erst zu verstehen, so wird man jetzt, fast hundert Jahre nach dem
Erscheinen der „Welt als WiUe und Vorstellung", auf Schopenhauer
zurückgehen müssen, um der allgemeinen Anarchie der Wissen-
schaften Herr zu werden. Man wkd dabei durch Deussen ein besseres
Bild des Systems gewinnen, als vor ihm möglich war, und bedauern,
sich nicht schon vor 37 Jahren bei ihm Rat geholt zu haben. Aber
*) Briefwechsel zwischen Arthur Schopenhauer und Johann August
Becker, herausg. von Joh. Karl Becker. Leipzig 1883.
oUÜ Franz Mockrauer,
man wird, in Scliopenhauers und Deussens Sinne, wiewohl über sie
hinaus, den seit jenen Zeiten neu angesammelten Stoff von Erfah-
runuen undPhilusophemenmitaut'zunehmen haben, um dann wiederum
hieraus neue Grundlinien zur Ordnung der wissenschaftlichen iVrbeit
zu erhalten. Zugleich werden auch die noch in Deussens „Elementen'"
vorhandenen inneren Schwierigkeiten zu lösen sein. So wird auch
diesmal wieder, wie in der Philosophie schon oft, das Zurückgehen
ein Vorwärtsschreiten sein, und man wird mit wachsendem Danke
des Mannes gedenken, der, unbeirrt durch die Bestrebungen seiner
Zeitgenossen, mit einsichtsvoller Treue an einer Philosophie festhielt,
deren Modezeit vorüliergehen mußte, deren wahre Herrschaft erst
jetzt beginnt.
Da ich nicht bei allen meiner Leser die Kenntnis der Schopon-
hauerschen Philosophie im Deussenschen Sinne voraussetzen kann,
so will ich ein kleines Bild von ihr zu entwerfen versuclien, indem ich
einen Extrakt des Extraktes gebe, der, aus Deussens eigener Feder,
im Dritten Jahrbuch der Schopenhauergesellschaft 1913 abgedruckt
ist. „Was ist die Welt?" so hebt Deussen an. Es ist merkwürdig,
sagt er, daß man allein schon diese Frage stellt und sich nicht mit
dem Hinweis auf die AVeit und die sie durchforschenden empirischen
Wissenschaften begnügt. Sie beweist, daß man das Wesen der Welt
von der Welt selbst unterscheidet, und sie zu stellen und zu beant-
worten ist Sache der Philosophie, und, mehr und mehr in die Tiefe
gehend, läßt sie sich dahin beantworten, daß die Welt Materie, Vor-
stellung, Kraft, Wille, Sünde ist. In unendlichen Baume, außerhalb
dessen nichts sein kann, gibt es nur das, was ihn erfüllt, die Materie.
Aber diese materielle Welt ist, wie Kant nicht nur aussprach, sondern
durch strenge Beweise stützte, nur Vorstellung, da ihre drei Grund-
elemente, Raum, Zeit und Kausalität, ,,nur Formen des Bewußt-
seins sind, jenes ewigen und schrankenlosen transscendentalen Be-
wußtseins, welches in jedem empirischen Bewußtsein zur Erscheinung
kommt". Bringt man von der Welt alles in Abzug, was durch jenes
Bewußtsein gesetzt ist, so bleibt als Kern der Dinge die Kraft,
welche nicht die Ursache der Veränderungen und Erscheinungen,
sondern ihr rätselhaftes Innere ist. Dieses eröffnet sich uns aber an
einem einzigen Punkt in der Natur, in unserem eigenen Selbst, „w^elches
einerseits wie alles andere uns von außen gegeben ist als der sich be-
wegende Körper und andrerseits von innen wie nichts anderes, wo
Piul Deusf^en. 301
dann das, was äußerlich als Körperbewegung sich darstellt, von innen
als ein Akt des AVollens empfunden wird." Eine schrittweise fort-
schreitende Analyse ergibt, daß eben dasjenige, was bei jeder will-
kürlichen Bewegung als Wollen empfunden wird, auf anderem Wege
alle vegetativen Funlrtionen des Organisnms regiert, daß der ganze
Mensch nur der in Kaum, Zeit und Kausalität sich darstellende Wille
ist, und daß dasjenige, was in allen Tieren, Pflanzen, unorganischen
Körpern und ilu'en Veränderungen uns entgegentritt, nur der Er-
scheinung nach von dem AVillen in uns verschieden, dem inneren
Wesen nach aber mit ihm identisch ist. Die Welt ist Wille. Dieser
WiUe will leben und sein Leben durch Ernährung und Fortpflanzuno-
erhalten. ,,Die Wurzel aller dieser Bestrebungen aber ist der Egoismus'",
den die heilige Schrift Sünde nennt. „Denn nach der tieferen Auf-
fassung des Christentums liegt die Sünde nicht in den einzelnen Hand-
lungen, welche nach dem Kausalitätsgesetze mit Notwendigkeit aus
dem inneren Charakter hervorgehen, sondern in diesem selbst, nicht
in dem, was wir tun, sondern in dem, was wir sind. Die ganze Welt
mit all ihrer Schönheit ist nur eine Ausbreitung des Egoismus" und
somit der Sünde. Aber dem kausahtätslosen, mithin freien Willen
liegt es gleich nahe, „eine Welt wie die unsere zu wollen oder nicht
zu wollen". Doch obwohl wir wissen, wie sein Wollen erscheint,
lileibt uns unbekannt, „ob auch sein Nichtwollen als Reich Gottes,
Himmelreich, Nii-wana erscheint". Aber nun treten schon innerhall)
der Erscheinungswelt „die moraüschen Handlungen der uninter-
essierten Gerechtigkeit, die niemanden schädigen will, der aufopfernden
Liebe, welche allem Leidenden in seiner Not zu Hilfe kommt, und
der Entsagung, welche die Genüsse dieser Welt verschmäht, weil
sie nach dem trachtet, was da di'oben ist", hervor als solche Hand-
lungen, „welche sich aus dem Egoismus als Prinzip dieser Welt in
keiner Weise erklären lassen und als der Durchbruch der Verneinung
in die Sphäre der Bejahung anzusehen sind." „In der Tatsache dieser
moralischen Handlungen liegt das ganze und sichere Evangelium einer
besseren Welt, welche durch völlige Aufgebung des egoistischen
Willens in unendhcher Annäherung von uns allen erreicht werden
wird und uns einem willensfreien Zustande entgegenführt, welcher,
nach dem Zustande in den Augenblicken der ästhetischen willens-
freien Kontemplation zu urteilen, sich charakterisieren läßt als eine
alle Genüsse des Erdenlebens weit hinter sich lassende unaussprech-
Hche Seligkeit."
302 Franz Mockrauer,
Diese allzukurze Darstellung der Hauptgedanken der Deussen-
schen „Elemente" kann als solche nicht mehr leisten, als der völligen
Unkenntnis ein wenig zu begegnen, und denen, welche Scho])enhauer
kennen, Deussens Auffassung seiner Lehre anzudeuten. Im übrigen
wäre ich wohl in der Lage, den eigentlichen Gedanken dieser Philosophie
in einem einzigen Satze auszusprechen, wie dies Schopenhauer selbst
getan hat. Al)er je abstrakter und kürzer die Formuherung der
Philosophie gefaßt ist, desto intimere Bekanntschaft mit ihi* wird
beim Leser vorausgesetzt, weshalb man sagen kann, daß eine Philosophie
gerade so weit ausführlich dargestellt werden soll, als der Leser, für
den man schreibt, imstande ist, ihre BegTiffe mit Anschauung zu
erfiülen. Doch seltsamerweise ist es nicht einmal Schopenhauers so
überaus Idarer und stets von neuem an die konki'eten Erscheinungen
anknüpfender Darstellungsart gelungen, alle Leser zum Verständnis
zu zwingen, nicht einmal immer diejenigen, welche ihn zu verstehen
glauben, indem sie, durch die Lebendigkeit und Schönheit der Sprache,
die Fülle der ihrer Phantasie vorgeführten Bilder, die Klarheit der
Gedankenfolge entzückt, eine subjektive Befriedigung empfinden,
welche sie fälschlich für das Symptom des wahren Verständnisses
halten. Kann somit im Grunde keine Darstellung die allein angemessene,
d. h. der Mtteilung, der Übertragung in andere Intellekte allein
dienhche sein, so ist es am wenigsten die excerpierende Darstellung
der an sich selbst toten Grundbegriffe eines Systems, welche nicht
unmittelbar der lebendigen Konception, sondern dem Wunsche aller,
es sich bequem zu machen, entspringt. Ich kann daher, um zum Ver-
ständnis der Deussenschen Philosopliie zu führen, nichts Besseres
tun, als auf die Bücher und kleineren Scluiften des Autors zu ver-
weisen, noch mehr auf die eigene Beobachtung der kleinen und großen
Dinge dieser Wirklichkeit und das tief verborgene, bis unter die
Schwelle der Erfalirung und deren Formen reichende Weltgefühl,
das jedem in gewissem Grade gegeben ist.
Eine Kritik der Grundbegriffe der Deussenschen Philosophie
und des durch sie geleiteten Blickes auf das AVeltgeschehen würde
ihre innere logische Widerspruchslosigkeit, das Quantum verarbeiteter
Erfahrung und die Tiefe und den Umfang der inspirierenden über-
wirklichen Intuition, sowie das Verhältnis dieser drei Elemente einer
jeden Philosophie in der vorliegenden, endlich das Verhältnis zu den
Intuitionen, Erfahiungen und Gedanken gegenwärtiger und früherer
Paul Deussen. 30o
Denker zum Gegenstande haben. Dabei würde sich zwar ergeben,
daß diese Philosophie mit den Systemen der nachkantischen Philosophie
völlig außer Zusammenhang geraten, aus der HauptentwicMungs-
reihe der deutschen Philosophie herausgetreten und in eremitischer
Einsamiveit, fern vom Markte der Lehrmeinungen und dem Lärm der
Diskussionen, ihren Weg verfolgt hat und mm wie der Fremdhng
aus einer anderen Welt mitten unter uns steht, vom Zeitgeist ver-
kannt und den Zeitgeist nicht kennend, daß sie ferner mit der un-
geheuren Zunahme der empirischen Kenntnisse auf naturwissen-
schaftlichem, psychologischem, soziologischem Gebiete bei weitem
nicht gleichen Scluitt gehalten hat und vieles, sehr vieles ,, draußen
läßt": aber dafür Mürde klar zu Tage treten, daß sie, abgesehen von
der angesichts der Fülle ihres Inhalts erstaunlichen und mit Leichtig-
keit vollkommen zu machenden logischen Konsequenz, eine Tiefe
imd einen Umfang der ihr zu Grunde liegenden und das Ghaos der
Erfahrungen ordnenden genialen Intuition aufweist, wie außer der
platonischen keine andere Philosophie, darum unter allen bisher ge-
schaffenen Systemen die beste Grundlage bietet zur Organisation
des Aggregats der einander so heterogenen empirischen Erkenntnisse
und von da aus zur Eegelung des praktischen Lebens durch klare
Einsichten, endhch durch ein Verhältnis ihi'er formenden Elemente,
der Inuition, Erfahrung, Gedanken und Worte, zu einander sich aus-
zeichnet, wie es allein dem Wesen der Philosophie als der organisierten
Gesamtarbeit der mannigfachen Ki-äfte des theoretischen, d. h. um
der bloßen Erkenntnis willen tätigen menschüchen Intellektes ent-
spricht. Das war neben ihi'em materialen Wert, den neuen und wahren
philosophischen Gedanken, das gTößte Verdienst der Schopenhauer-
schen Philosophie, daß sie in einer bis dahin unerreichten Weise den
formalen Forderungen, die an eine als Philosophie auftretende Lehre
zu stellen sind. Genüge getan hat, daß in vollendetem Vortrag deutliche
Gedanken, in deutlichen Gedanken eine Idare Anschauung der ganzen
AVeit, in dieser endlich ein über die Erfahrung und ihre Formen hinaus-
gehendes geniales Erfassen der letzten Geheimnisse zum Ausdruck
kommen, gleichviel welches im einzelnen nun ihre Worte, Gedanken,
empirischen Vorstellungen und Intuitionen sind. Und nachdem eine
Philosophie erst diese Höhe erreicht hatte, gab es in gerader Fort-
entwicklung nur die Alternative: entweder das Gewonnene formal
noch zu vervollkommnen und für die Methode der empirischen Wissen-
;]04 Franz Moc krauer,
schafton wie zum tieferen Verständnis der früheren Philosu])hieii,
als der nach der jetzt erreichten Höhe damals erst strebenden Be-
iniihuniieii, fruchtbar zu machen, oder es matcrial durch Aufnahme
der neuen Erfahrungen und I^hilosopheme zu erweitern und eine
wirklich das Denken der Zeit zusammenfassende Philosophie zn
schaffen. Es entsprach der Eigenart Paul Deussens, den ersteren
Weg zu gehen. Aber wenn er nun auch scheinbar hinter den l^rt-
schritten seiner Zeitgenossen zurückblieb und, um seine Aufgabe zu
erfüllen, zurückbleiben nuißte, so gleicht er doch demjenigen, der
auf dem allein rechten philosophischen Wege, der steil und mühselig
ist, langsam vorwärts kommt, indessen seine Zeitgenossen auf mehr
oder weniger parallel laufenden leichteren Straßen ihm rasch voraus-
eilen, um endlich einzusehen, daß sie sich verlaufen halben und
nun zum Ausgangspunkte Kant zurückkehren, von da zu Schopen-
hauer und Deussen vorwärts gehen und über sie hinausgelangen müssen,
damit sie, gleichsam nun erst auf legitime Weise, wirklich dorthin
kommen, wo sie bereits zu sein scheinen, aber nicht sind. Anstatt
von allen Seiten Kenntnisse zusammenzuraffen und sich beliebigen
Meinungen anzuschließen, sobald sie — sie mögen sein, wie sie wollen —
von bedeutenden Köpfen mit bewundernswerter Energie und Fähig-
keit verfochten werden, wird es stets wertvoller sein, derjenigen Ent-
wicklungslinie zu folgen, welche der organisiei'ten Gesamttätigkeit
des menschlichen Bewußtseins, d. i. der Philosophie entspricht, also
es bei aller Tiefe an der klaren Ordnung der Empirie, bei aller FüDe
der Erfahrungen an deutlichen, möglichst konkreten Begriffen, bei
aller Mannigfaltigkeit der Begxiffe am adäquaten, wohlgeghederten
Ausdruck nicht fehlen zu lassen. Stehen dann wenigstens die Er-
fahrungen der allgemeineri Bildung der Zeit dem Denker zur Ver-
fügung, so wird er, als echter Popularjihilosoph, für die Philosophie
mehi" bedeuten als selbst tiefsinnigere, aber weniger von der AVirk-
lichkeit wissende oder minder deuthch denkende oder unlesbar stili-
sierende Kollegen, als jene anderen über eine viel größere Kealkenntnis
verfügenden, an Tiefe, Gedankenklarheit und Ausdruck jedoch hinter
ihm zurückstehenden Gelehrten, als selbst logisch feiner analysierende
und konsequenter schließende, im übrigen aber gehaltlose und fade
schi-eibende Kationahsten, als ferner blendende Künstler des Wortes,
denen alles oder manches andere des Geforderten fehlt und die ihre
Phantasie dei' klangreichen, schöngeistigen Rede supponieren, als
Paul Deussen. 305
alle endlich, denen bei der glänzendsten Begabun"- mit allen oder
manchen der geforderten Fähigkeiten die rechte Verbindung zwischen
diesen, die philosophische Organisation ilires Bewußtseins abgeht.
Sie alle tragen zur Philosophie nur bei — er aber philosophiert, gleich-
viel, wieviel er „draußen lassen" muß, gleichviel, ob er ein großes oder
geringes Quantum philosophischer Produktion zu Tage fördert. Und
diese Bedeutung kommt Paul Deussen zu.
Es wurde bereits gesagt, daß Deussen den AVeg der inneren
Vervollkommnung des Schopenhauerschen Systems, der Anwendung
seiner Grundsätze auf die Methode der empirischen Wissenschaft
und der Aufschließung fremder Gedankenwelten durch die eigene ge-
gangen ist. AVir werden seinen Lebenslauf unter diesem Gesichtspunkt
verfolgen.
Am 7. Januar 1845 zu Oberdreis (Ki'eis Neuwied) als einer der
Söhne des Pastors gel)oren, stand er früh unter dem Einfluß der
metaphysischen, nämlich religiösen Richtung des elterlichen Hauses,
und alle schwer, aber noch rechtzeitig errungene Freiheit von der
Engigkeit theologischer Begriffe hat ihn nicht nur das tiefere Ver-
ständnis der hinter den christlichen Dogmen stehenden Einsichten
erst gewinnen, sondern darüber hinaus ihn eine philosophisch, vielleicht
nicht immer zu rechtfertigende persönliche Neigung für die Gedanken-
welt des Christentums und der primitiven, aber unvergleichlich innigen
und allüberal] den Anfang der Philosophie bildenden Metaphysik der
Rehgionen überhaupt sich weiter bewahren lassen. Der Unterricht
im Elternhause und die Gymnasialzeit in Elberfeld (1857—1859) und
besonders in Schulpforta (1859—1864) erzog ihn zu einer vielleicht
einseitig humanistischen, aber darum außerordentlich gediegenen
Bildung und erweckte in ihm ein unmittelbares Verständnis und
freudige Begeisterung für das klassische Altertum, an das er nicht,
wie es heute geschieht, von außen herantreten, sondern in dem er sich
geistig zu Hause fühlen lernte. Auch ])rachte sie ihm die unersetzhche
Freundschaft mit Nietzsche, über welche er uns einen zur Beurteilung
beider Beteiligten, ihres Lebens, ihres Charakters und ihrer Werke
sein- schätzenswerten Bericht geschenkt hat in den „Erinnerungen
an Friedrich Nietzsche"' (Leipzig 1901), und welcher vor allem wohl
die schöne, klare, plastische Form seiner Darstellung, sodann die für
sein Leben so entscheidende Berührung mit Schopenhauers Philosophie
zu verdanken ist. Es ist interessant, aus diesem Buche zu erfahren,
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 3. 20
306 Franz MorUrauer,
daß J)cuss('ii als StudcMit (1864 — 1868) schon Iriili sich dem Sanskrit
zuwandte, daß er mit Piaton sich sehr einoehend beschäftigte (seine
Doktordissertation war „Commentatio de Piatonis Sophistae com-
positione ac doctrina", Bonn 1869, jetzt bei Brockhaus), daß er dann,
nachdem ihn Schopenhauer zuerst nicht zu fesseln vermocht hatte,
durch Kant auf ihn zurückgeführt wurde, und, wie er in dem Büchlein
„Berühmte Autoren des Verlages Brockhaus" sagt, „in dem Studium
der kantisch-schopenhauerschen Philosophie, verbunden mit dem
der Heiligen Schrift, die bleibende Grundlage meiner AVeltanschauung
fand" (1869—1872). Im Jalu'e 1873 faßte er als Privatdozent in Genf
den Entschluß, seine Liebe zur Philosophie mit der zum Sanskrit derart
zu verbinden, daß er, wie er im selben Büchlein sagt, ,,die lü'aft der
besten Jahre der Bearbeitung der indischen Philosophie widmete,
und dieser Entschluß erweiterte sich bald dahin, als eigentliche Lebens-
aufgabe die Ausarbeitung einer die Gedanken der Philosophen überall an
der Natur selbst prüfenden und nach ihrem wahren Werte würdigenden
Allgemeinen Geschichte der Philosophie zu unternehmen", deren (b"ei
erste Abteilungen er für die indische, die drei weiteren für die euro-
päische Philosophie bestimmte. AVie dann in den Jalu-en 1875 — 1879,
in denen er als Privatdozent an der Aachener Technischen Hoch-
schule lehrte, aus seinen Vorträgen die ..Elemente der Metaphysik'"
im Jahre 1877 als „das eigentliche Lehrprogramm" seines Lebens
hervorgingen, so waren es diese, neben den anderen Philosophen vor
allem durch Schopenhauer und den Schopenhauerschen Kant be-
einflußten, ja im Grunde, bei aller Selbständigkeit des Philosophierens
aus unmittelbaren Erfahrungen und Intuitionen, nichts als eine Klärung
der Schopenhauerschen Lehre unter Einfügung der ihr verwandten
Sätze Kants, Piatons und der Inder darstellenden Gedanken, welche,
ganz abgesehen von dem lebendigen Sichhineinversetzen in den Geist
der früheren Philosophen und dem gründlichen Studium des von ihnen
und über sie ÜberUeferten, ihm nunmehr den Maßstab für deren Wert,
den Schlüssel zu ihi'en oft hinter undeutlichen Worten und Begriffen
verborgenen Meinungen abgab. So ^^^^rde Deussen aus eigener Natur
und mit völliger Selbständigkeit und Freiheit Schopenhauers Schüler ;
er erwarb sich diese Stellung nicht durch ,, Lernen", sondern durch
eigenes Philosophieren und kann die Sätze seines Lehrprogramms als
sein geistiges Eigentum betrachten, da er sie gleichsam zum zweiten
Male koncipierte. Nur diese tief in der Ivraft seiner eigenen Erkennt-
Paul Deussen. 307
nis wurzelnde Orioinalität, der es sozusagen bloß accidentell ist, daß
sie mit Schopenhauers Weltauffassung sich deckt, gibt Deussen den
j\Iut und die Fälligkeit, bei aller Verehrung für den Meister, ihm mit
unbefangener foitik gegenüberzutreten. Deussen lernte von Schopen-
hauer nicht eine Philosophie, sondern das Philosophieren, die wahre
Methode, und wo er die Begriffe seines Lehrers erweitert und korrigiert,
geschieht es gleichsam aus dessen Geiste heraus, aber nicht künstlich
durch mühsames Sichhineinversetzen, sondern unmittelbar aus der
Gleichartigkeit des intellektuellen Charakters, der in beiden Philo-
sophen in der Anknüpfung an die lebendige Wirklichkeit, wie sie
einem allgemein gebildeten Be^Mlßtsein vorschwebt, in dem bis zu
den platonischen Ideen, dem all-einen Willen und dem Mysterium
der Erlösung hinabreichenden Tiefsinn, sowie der ungemeinen Deuthch-
keit der allerdings nur bis zu einem gewissen Grade verfeinerten Be-
griffe und der unvergleichlichen Kraft und Schönheit der Worte,
endüch in der dem philosophischen Erkennen allein angemessenen
Verbindung dieser Elemente miteinander zum Ausdruck kommt.
Bis auf wenige Punkte sind daher Deussens Neuerungen durchweg
Verbesserungen und Fortschritte, vor allem seine in den letzten Jahren
ganz entschieden hervortretende Ansicht, daß das Subjekt als Träger
der Objektenwelt nicht das empirische, sondern das transscendentalc
Bewußtsein sei, d. h. nicht der in der Erscheinungswelt selbst als ein
Teil von ihr auftretende individuelle Intellekt, sondern dasjenige,
dessen bloße Erscheinungen alle in der WirkHchkeit existierenden
Intellekte sind. Die erste Frudit seiner von 1873 an durch 35 Jahre
wähi'enden indischen Studien war das 1887 beendete Werk „System
des Vedänta'" nebst der Übersetzung der ,,Sütras des Vedänta";
später entstanden nach und nach die Übersetzungen der ,, Sechzig
Upanishads" und der ,,Vier pliilosophischen Texte des Mahäbhäratam
und im selben Zeitraum von 1887 — 1908 die der Hymnenzeit, üpanishad-
zeit und nachvedischen Philosophie der Inder gewidmeten drei ersten
Abteilungen seiner ,, Allgemeinen Geschichte der Philosophie'". Eine
kritische Beurteilung dieser ganz außerordenthchen Leistungen muß
ich besseren Kennern der hier betretenen Gebiete überlassen. Aber
so viel scheint man behaupten zu können, und ein gelehrter junger
Inder bestätigte es mir, daß Deussens Auffassung der indischen Philo-
sopliie im wesentlichen so treffend wie keine andere ist. Deussen
hat Eecht, wenn er von sich sagt, daß er die erstmalige Gesamt-
20*
308 Franz Moc krauer,
(larstelluiig der indischen Philosophie sogleich auf eine Höhe der
Betrachtung erhob, von welcher keine niikrologische Spezialforschung
künftiger Zeiten imstande sein wird, sie wieder herabzuziehen. Und
diese Betrachtung ist eben nach Methode und Maßstab diejenige
seines ,,Lelu'programms". Inzwischen wurde er 1881 Privatdozent
an der Universität Berlin, 1887 daselbst außerordentlicher Professor
und 1889 Ordinarius der Philosophie an der Universität Kiel, all-
mählich — zunehmend mit der Entfernung von seinem Wirkungs-
ki-eis — mehr und mehr mit Anerkennung, Titel, Orden, Ernennungen
geehrt, und doch auch heute noch, trotz seiner wachsenden Popularität
bei weitem nicht so berühmt wie manche andere seiner Amtskollegen.
Im Jahre 1911 erschien in Fortsetzung seiner Geschichte der Philosophie
die „Philosophie der Griechen", 1913 die ,, Philosophie der Bibel", zwei
durchaus selbständige Darstellungen, welche in Deussens klarer Weise
manche neuen historischen Behauptungen und viele originelle Deu-
tungen und überraschende Beurteilungen der uns zwar bekannten,
aber bisher von ganz verschiedenen Wissenschaften behandelten Gegen-
stände enthalten. Die „Pliilosophie des Mittelalters", bereits unter
der Presse, und die ,, Neuere Philosophie" harren des Erscheinens,
womit Deussen sein Lebenswerk als beendet ansieht. Im Jahi'e 1910
aber trat der Verlag R. Piper & Co. in München an Deussen mit dem
erfreuhchen Wunsche heran, eine allen Ansprüchen der Wissenschaft
und des Geschmacks genügende, dabei doch zum Studium und Haus-
gebrauch geeignete und des Philosophen wnirdige, pietätvolle Ausgabe
von Schopenhauers Werken zu veranstalten. Trotz seiner Überbürdung
mit eigenen Arbeiten und Anitspfhchten ging Deussen freudig darauf
ein, und so konnten bereits 1911 die ersten der vierzehn geplanten
Bände erscheinen. Bis jetzt sind die Werke des Philosophen außer der
Farbenlehre vollständig, von seinem zum größten Teil noch unveröffent-
hchten Nachlaß die bisher nur in Bruchstücken bekannten Vorlesungen
publiziert. Und als ein weiteres Ereignis im selben Sinne ist die im
Jahre 1911 durch Deussen erfolgte Gründung der Schopenhauer-
gesellschaft zu begrüßen, die heute bereits über 400 Mitgheder zählt,
auf den vom Geiste herzhcher Freundschafthchkeit getragenen General-
versammlungen manch wertvolle Bekanntschaften vermittelt, in ihi'en
Jahrbüchern viele für die Fortbildung der Schopenhauerschen Philo-
sophie, die Kenntnis ilirer Geschichte und die Biographie ihres Ur-
hebers wichtige Aufsätze, Bilder, Faksimilia herausgibt, und in einem
Paul Deusseti. 309
Archiv sämtliche Ausgaben der Schopenhauerschen AVerke und die
ganze Schopenhauerhteratur zu sammeln bestrebt ist, vielleicht auch
allmähUch durch innere Organisation zu bedeutenderen Leistungen
gelangt und eine große Schopenhauersche Schule im antiken Sinne
begründet. So kehrt Deussen im Alter zum Ausgangspunkt seiner
philosophischen Entwicklung zurück, nicht mehr, um zu lernen,
sondern, um zu lehren, und zwar über seinen akademischen Wirkimgs-
lo'eis hinaus.
Mit Befriedigung darf der Jubilar auf sein Lebenswerk zurück-
blicken. Aber der rüstige Mann kennt keine Ermüdung; mit Eifer
sagte er mir einmal: „Wäre ich jung, könnte ich noch einmal beginnen,
ich würde Naturwissenschaften studieren." Und eine Hoffnung vor
allem hegt er unentwegt, die Hoffnung, daß einst Friede geschlossen
werde zwischen der Religion und der Philosophie, nicht bloß ein
äußerer der gegenseitigen Toleranz und Ignorierung, sondern ein
innerer der wahren Versöhnung, ja Verschmelzung. Man mag mit
Deussens Meinung hier nicht in allen Stücken einverstanden sein,
sofern er die Philosophie durch kirchliche Dogmatisierung festzulegen
und damit wiederum wie im Mittelalter ihre Entwicklung zu hemmen
scheint, aber darin wird er hoffentlich Recht behalten, daß die Kirche,
mit ihi'en alten Dogmen und Texten der Gedankenwelt der Gegen-
wart völlig entfremdet, sich nicht bloß wie heute vor Kant, dem
Alleszermalmer, und mit Kant, dem Kritiker der Praktischen Ver-
nunft, durch Flucht in die bloße Praxis retten, sondern auch, dem
Geiste gebend, was des Geistes ist, sich um neue Dogmatisierung ihrer
tiefen Einsichten bemühen wird. Und dabei kann und wird sie von
zwei Männern vor allen anderen sich Gedanken borgen, von Schopen-
hauer, der den denkenden Menschen der Gegenwart das eigenthche
Geheimnis des Christentums neu erschloß, und von Deussen, der durch
jenen die Rehgion sich wiedergegeben fühlte und mit seinen Werken,
insbesondere seiner ,, Philosophie der Bibel", bereits bewußt und mit
geklärten Anschauungen in das Gebiet der Theologie hinübergriff.
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus.
Von
Dr. Kratzer, Regensburg.
Für Augustinus ist es unmöglich, sich die Erkenntnis mit einem
allgemeinen und allgemein gültigen Charakter einzig auf Grund
physisch-psychischer Organisation des Menschen und der Mitwirkung
der gegenständlichen Welt zu erklären; er bedarf dazu eines trans-
zendenten Faktors, der objektiven AVahrheit, der die Seele zugewandt,
von der sie berührt und erleuchtet wird, in deren Lichte sie erkennt.
x\ugustinus, in dessen gegenständlich gerichtetem Denken bloße Be-
ziehungen zu Hypostasen werden, und unter dem Einfluß der neu-
platonischen Seelenlehre stehend, scheint für diese Verbindung der
Seele mit der Wahrheit ein eigenes Vermögen konstatieren zu wollen,
mit einem kontemplativen Charakter, das eigens dem Menschen ge-
geben ist, Gott zu schauen und das den Charakter der Unsterblichkeit
hat (De Trin. V, 1, 2; XV, 15, 25), zu dem der Mensch über seine
wandelbare Natur hinaus vordringen muß, um zur Wahrheit zu
gelangen (Conf. VII, 10, 23). Das Bewußtsein dieser Doppelseite
der Seele hat Augustinus selbst dazu geführt, im Menschen Seele und
Geist von einander zu unterscheiden, und beide dem Körper gegenüber-
zusetzen. Drei Dinge sind es, aus denen der Mensch besteht, Spiritus
anima und corpus, wenn er auch Seele und Geist wieder zusammen-
fallen läßt, quae rursus duo dicuntur quia saepe anima cum spiritu
dicuntur. (Cf. De an et eins orig. 4, 13; De Civ. Dei XI, 27.) Augustinus
unterscheidet klar und bestimmt zwischen intellektueller und spiri-
tueller Seele und läßt erstere mit der mens, der ratio, inteUectus als
dem eigentüchen Bestandteile des Menschen, in dem er das Tier
überragt, wesenthch zusammenfallen (quaest; de Ord. II, 5, 17; de
Trin. XIV, 16, 22.)
Die Frage nach dem Seelenclualismu8 bei Augustinus. oll
Ein weiteres Moment für clie Annahme einer Scheidung voii Seele
und Geist bzw. einer Trichotomie des Menschen l^ann gefunden werden
in De Gen. ad. Lit. XIT, 6, 15: tria genera visionum occurrunt: unum
per oculos, quibus ipsae hterae videntur; alterum per spiritum
hominis, quo proximus et absens cogitatur; tertium per contuitum
mentis, quo ipsa dilectio intellecta conspicitur, und ibid. 7, 16: primum
ergo appellamus corporale, quia per corpus percipitur et corporis
sensibus exhibetur. Secundum spiritale, quidquid enini corpus non
est, et tamen aliquid est, jani recte spiritus dicitur: et ubique non est
corpus, quamquis corpori similis sit, imago absentis corporis, nee
ille ipse obtutus, quo cernitur. Tertium vero intellectuale a intellectu;
quia mentale a mente (ibid. XII, 12, 25f ; 23, 49ff.), wonach Augustinus
drei Erkenntnisarten angibt und sie auf ebensoviel Prinzipien zurück-
führt.
Storz (Die Philosophie des hl. Augustinus, Freiburg 1882), der in
seinem Buche meint, daß Augustinus bisweilen von Körper, Seele
und Geist in trichotomistischen Sinne spricht, will mit der Polemik
Augustins gegen dem SeelenduaKsnuis der Manichäer den Duahsmus
im Menschen bewiesen haben. Doch bekämpft Augustinus die Mani-
chäische Lehre unter ethischen nicht erkenntnistheoretischem Ge-
sichtspunkt. Eine Stelle aus De an. et eins orig., die Storz gleichfalls
anfühi't und wo gesagt ist, daß mit dem spiritus auch die anima aus
dem Körper fliehe, findet ihre Erklärung in De fide et symb. 10, 23
(cf. De (iv. Dei X, 27), wo es heißt, daß Seele und Geist oft unter
einem gemeinsamen Xamen zusammengefaßt werden. Insofern kann
in Augustinus, wenn wir von seinen Ausführungen inDeTrin. X, 11, 18
noch absehen wollen, auch die Grundlage für die spätere scholastische
Ausdeutung im Sinne einer Mehrheit von Funktionen eines einheit-
lichen Lebensprinzipes gefunden werden. Unser Denker folgt der
traditionellen kirchlichen Lehre, wie auch der Gegenstand bei dessen
Betrachtung die zuletzt angeführten Stellen niedergeschrieben wurden,
ein ethisch-rehgiöser ist. Klare präzise Fassung der Begriffe aber,
wie die weitere Erörterung noch zeigen wird, sowie die historische
Abhängigkeit Augustins sprechen mehr für die Annahme eines seeli-
schen Dualismus. Doch können die diesbezüghchen Äußerungen
nicht restlos in diesem Sinne gedeutet werden. Dagegen steht die
kirchliche Lehi-e, die Augustinus jederzeit festhalten will, und vor allem
die Unklarheit seiner Terminologie. Es finden sich Stellen l^ei unserem
312 Krat/.or.
Denker, wo eine Dreihcit von die menschliche Wesenheit konsti-
tuierenden Elementen behauptet wird, was auch Theodor Gan<2:auf
(Die metaphys. Psychologie des heil. Augustinus, Augsburg 1852)
zugibt, wenn er schreibt: es mangelt nicht an Stellen, worin
er eine Dreiheit behauptet, den Geist sonach von der Seele
unterscheidet. Und derselben Auffassung pfhchtet H. Ritter
(Geschiehte der Philosophie, Band IV, Hamburg 1829^1853
bei, der aus der Allgemeinheit der Vernunft im Sinne der den
individuellen Vernunftwesen w'ohl zugänglichen aber transzendenten
Wahrheit eine ZwTiheit des Seelen])rinzips behauptet, indem er die
Wahrheit als Hy|30stase mit der Seele verbunden betrachtet. Was
jedoch an der bedingungslosen Konstatierung eines seehschen
Duahsmus hindert, ist, daß Augustinus Geist nnd Seele unter dem
einheitlichen Begriff anima zusammenfaßt und nur von einer Seele,
die einer oberen und unteren Welt zugewandt sei, spricht, ferner eine
genauere Untersuchung über das Verhältnis von Seele und Geist,
vorausgesetzt, daß dieser Duahsmus ihm restlos zuzusprechen ist,
nicht gemacht hat, wenn nicht seine Darstellungen vom übernatürhchen
Lichte und dessen Beziehung zur Seele in diesem Sinne zu deuten sind.
Und unter diesem Gesichtspunkt fehlt es auch nicht an Erklärungen,
in welchem die Unterschiede in der Psyche auf bloße Tätigkeits-
unterschiede zurückgeführt werden. Dieser Auffassung tritt H. Siebeck
(Geschichte der Psychologie, I. Teil; Gotha 1880) bei, und neuestens
A. Schneider (Die Psychologie in Alberts des Großen, nach den
Que len dargestellt, I. Teil [Beitr. z. Geschichte der Philos. des
Mittelalters, herausgeg. von Cl. Baeumker und G. v. Herthng,
Bd. IV Heft 5, Münster 1903]): was jedoch die Beweisstellen bei
Siebeck betrifft, so ist betreffend quaest. 7 zu bemerken, daß es bei
Augustinus sich hier nicht um mehr als eine Bestimmung des Seelen-
begriffes handelt, der bald in einem weiteren, bald in einem engeren
Sinne gefaßt ist; das gleiche gilt für De Gen. ad. Lit. VIII. 21, 40:
anima hoc est spiritus creatus, wonach er anima mit spiritus identifi-
ziert, welche Stelle dann näherhin erklärt wird in ibid. XII, 7, 18:
dicitur etiam spiritus anima, sive pecoris sive hominis ; dicitur
spiritus et ipsa mens rationahs, ubi est quidam tamquam oculus
animae, ad quem pertinet imago et agnitio Dei.
Die Schwierigkeiten, das können wir schon jetzt sagen, die sich
in der Erklärung des plotinischen Seelenbegriffes ergeben, finden sich
Die Fragt nach dein Seelendualisinus bei Augustinus. 313
auch in der Erldänmg des Begriffes der augustinischen mens. Die
Bestimmungen, die Biotin vom Nous schlechthin, dann auch, weil in
der Seele wohnend und mit der Seele in Einheit gedacht, von der
höheren Seele dem Ich macht, und die Ed. Zeller (Die Philosophie
der Griechen, II. Teil: Leipzig 1892) in folgenden Worten gibt:
,,Der Form nach ist der Nous nicht discursives, sondern kon-
templatives Denken, Schauung; dem Inhalte nach Erfassen seines
Inhaltes. Er ist reine vollendete Tätigkeit, die Objekt, Subjekt und
gegenseitige Beziehung in sich schließt. Daher immer aktuelle Präsenz
alles Wissensinhaltes, lauter Gegenwart ohne Vergangenheit und
Zulvunff. gelten auch für den Begriff der mens und deren besonderer
Bestinnnung als inteUectus. Diese mens nun, wie sie Augustinus
kennt, ist nicht bloß Prinzip, sondern auch Quelle unseres Wissens;
wir wissen nur durch den Geist und wissen nur, was in unserem Geiste
sich findet (De Trin XIV, 6, 8). Er ist nicht die Seele selbst, sondern
das auszeichnende Merkmal in der Seele (ibid. XV, 7, 11) und bestimmt
diesen Begriff näherhin als inteUigentia rationahs schlechthin, sieht
aber in letzterer dann auch eine besondere Qualität der mens, eine
ihr eigentümliche Proprietät, welcher die Tiere entbehren (ibid. X,
5, 7: 8. 11: XV, 1, 1). Diese propria mentis, die sich für Augustinus
als die intelhgentia rationalis ausweist, bezeichnet er De Civ. Dei VIII, 6
dann näherhin als conspectus mentis und bezieht sie auf die Gegen-
stände, auf die sieh das intelhgere erstreckt, auf die inteUgibilia, die
durch das Schauen des Geistes erkannt werden: intelhgibilia dicimus
quae conspectu mentis intelhgi possunt. Hat nun Augustinus, wie
vorher dargelegt, sich dahin ausgesprochen, daß nur das Wahre ge-
wußt werden kann, so bestimmt er jetzt dieses Wahre genau als das
Objekt der intellektuellen Funktion des Geistes, wenn er in quaest 54
erklärt, quod enim inteUigitur verum est. In der intellektuellen
Schauung kann man nicht getäuscht werden; denn entweder erkennt
den nicht, der anders vermutet als es in Wirkhchkeit ist, oder aber
er erkennt, und dann kann das Erkannte nur wahr sein. (De Gen.
ad. Lit. XII, 14, 29; 25, 52.)
Diese Bestimmung des inteUigere ist ein Fundamentalbegriff
in der Philosophie Augustins, im Zusammenhang stehend mit dem
Grundprinzip derselben, dem Prinzip der Selbstgewißheit des Geistes.
Sei es nun, daß Augustinus aus dem bezeichneten Tatbestand erst
den Begriff des intelligere abgeleitet und auf alle Gegenstände an-
314 Kratzer.
gewandt hat, die mit der gleichen Unwandelbarkeit und Sicherheit
des Wissens ihm gegenübertreten wie der eigene Geist im Bewußt-
sein, oder aber den Begriff desselben in historischer Abhängigkeit von
der Sclbstschau des plotinischeri Nus genommen hat, jedenfalls steht
fest, daß Augustinus ihn für die Selbsterkenntnis des Geistes braucht,
wenn er die Stelle de Gen. ad Lit. XII, 10, 21: mens quippe non videtur
nisi mente umschreibt mit den Worten: ibid 24, 50: quo enim aho modo
ipse intellectus nisi inteUigendo conspicitur? und parallel zu dieser
Stelle De Trin XIV, 6, 8 beifügt: mens igitur quando cogitatione se
conspicit, inteUigit se et recognoscit: gignit ergo hunc intellectnm,
et Cognitionen! suam. Res quippe incorporea intellecta conspicitur
et inteUigendo cognoscitur. Augustinus hat damit zugleich einen
anderen, mit dem Begriff der mens identischen Begriff gewonnen, den
Begriff des intellectus, den er ganz in Übereinstimmung mit De Trin.
XIV, 6, 8 in solil I, 6, 13 folgendermaßen bestimmt: ipsa autem visio
intellectus est ille, qui in anima est, qui conficitur ex intelhgente et
eo quod intelhgitur: ut in ocuhs videre quod dicitnr, ex ipso sensu
constat atque sensibili quorum detracto quolibet videri nihil i)otest.
Wir sehen, wie in Augustinus dieser Begriff schon von Anfans; an fest-
stand und doch in seiner späteren Zeit Geltung hatte. Indem die
mens sich erkennt im Denken oder denkend sieh erfaßt, macht sie
sich zum inteUigiblen Objekt und Subjekt des Erkennens zuoieich:
es ist der Intellekt Produkt des Selbstdenken des Geistes, das auf sich
selbst reflektierte Denken, in dem es keinen Irrtum gibt, und die
Tätigkeit des intelhgere dessen irrtumsloses Denken. Der Intellekt
ist also das kontemplative Element, in dem der Geist sich selbst un-
mittelbar erfaßt, um in dieser Selbsterkenntnis die Xormen für sein
Denken und Handeln zu finden.
Zu dem soeben anoeüebenen Problem, ob Augustinus einen
seelischen Dualismus, den einige Historiker in seinen Lehren finden,
behaupte oder nicht, mögen noch folgende Ausführungen gegeben
werden. Xach A. Schneider: Die Psychologie Albert des Großen
kennt Augustinus nur eine einheitliche Seele mit graduell verschiedenen
Tätigkeitsweisen, die die metaphysische Wesenheit der Seelensubstanz
nicht spalten; diese Auffassung gibt den Gedanken Augustins wieder,
insofern unser Denker von der mens im generellen Sinne spricht und
deren Funktionen aufzeigt, als Funktionen eines Prinzips, das das
Wesen des Menschen konstituiere (De Trin. XII, 3, 3; et sicut una
Die Frage nach dem Seelendualisnuis bei Augustinus. 315
caro est duorum in masculu et femina, sie intelleetum nostriim et
actioneni, vel consilium et executionem, vel rationem et apetitum
rationalem, vel si quo alio modo significantiiis dici possimt, una mentis
natura complectitur ; et quemadmodum de illis dictum est: erunt duo
in carne una sie de his dici possit, duo in mente una), das mit seiner
Funktion eine Einheit darstelle (ibid. 4,4: cum igitur disserimus nee
eam in liae duo quae commemoravi, nisi per officia oeminamus:
X, 11, 18: haec igitur tria memoria intelligentia voluntas, quoniam
non sunt tres vitae sed una vita: nee tres mentes, sed una mens:
eonsequenter utique nee tres substatiae sunt, sed una substantia).
Die vollständigste Zurückführung der seelischen Tätigkeiten auf ein
einheithches Sein, in dem die einzelnen Tätigkeiten sich einander
durchdringen, erfahren wir überall da, wo die einzelne Tätigkeit
gleichsam als das Subjekt der übrigen erscheint: ibid. XV, 22, 42 et
quando in memoria mea cogitando invenio jam nie intelligere, jam
me amare aUquid, qui intellectus et amor ibi erant et ante quam inde
cogitarem, intelleetum meum et amorem meum invenio in memoria
mea, quo ego intelhgo, ego amo, non ipsa. Item quando cogitatio
memor est et vult redire ad ea quae in memoria rehquerat, eaque
inteUecta conspicere atque intus dicere, mea memoria memor est
et mea vult voluntate non sua. Ipse quocpie amor mens cum memi
nit atque intellisit quid appeterc debeat, quid vitare per meam non
per suam memoriam memi nit; et per intelligentiam meam, non per
suam, quidquid inteUigenter amat, intelligit. Quod breviter dici
potest: ego per omnia illa tria memini, ego inteUigo, ego diUigo, qui
nee memoria sum nee intelMgentia nee dilectio, sed haec habeo.
i\ugustimis läßt sinnliche und geistige Sphäre mit einandei"
verschmelzen uiid gewinnt durch die Betonung einer Substanz ein
Persönlichkeitsich, einen Mittelpunkt des individuellen Lebens.
Doch fällt ihm diese Einheit wieder auseinander, sol^ald er seinen
dogmatischen Standpunkt vergißt, und das Persönlichkeitsprobleni
unter dem Gesichtspunkt betrachtet, in welchem Verhältnis die
Seele zur transzendenten oder auch immanenten A\'ahrheit stehe.
In dieser Betrachtungsweise erlangt die mens widerspruchsvolle
Bestimmungen. Ich stelle hier einige Stellen einander gegenüber,
nachdem vorausgeschickt ist. De Gen ad Lit. III, 20, 30: id autem
est ipsa ratio vel mens vel intelligentia vel si quo alio vocabulo com-
modius appellatur: De Trin. IX, 6, 9: sed cum se ipsani novit humana
816 Kratzer,
mens et amat sc ipsam, iion aliquid incommutabile novit et amat.
quaest. 45: mens enim huniana de visibilibiis judicans potest agnoscere
Omnibus visibilibus se ipsam esse meliorem quae tarnen cum etiam se
propter defeetuin profectumque in sapientia fatetur esse mutabileni,
invenit supra se esse incommutabilem veritatem. De iniinort an 2,2:
est autem ista ratio immutabilis: igitur ratio est. De Trin. IX, 6, 9:
nach den bereits zitierten Worten fährt Augustinus fort: ahterque
unusquisque homo loquendo ennntiat meutern suam, quid in se ipso
agatur attendens; ahter autem humanam menteni speciah aut generali
cognitione definit. Itaque cum mihi de sua propria loquitur, utrum
intelligat hoc aut illud, an non intelhgat, utrum veht an noht hoc aut
illud credo; cum vero de humana speciahter aut generahter verum
dicit, agnosco et approbo. Unde manifestum est ahunde unumquemque
videre in se, quod sibi ahus dicenti credat, non tamen videat; ahud
autem in ipsa veritate, quod ahns quoque possit intueri: quorum
alterum mutari per tempora, alterum incommutabih aeternitate
consistere, neque enim ocuhs corporis nuütas mentes videndo, per
simihtudineni cohigimus generalem vel specialem mentis humanae
notitiam: sed intuemur inviolabilem veritatem ex qua perfecte
quantum possumus definiannis, non qualis sit uniuscuiusque hominis
mens sed qualis esse sempiternis rationibus debeat. Ep. 14, 4: ita
quihbet homo una ratione qua homo intelhgitur factus est. At ut
populus fiat, quamquis, et ipsa una ratio non tamen hominis ratio
sed hominum. Die in diesen Stellen niedergelegten Gedanken stehen
in vollständiger Ü])ereinstimmung mit der Lehre Augustins, daß die
mens in ilirer Substanz sich ganz erkenne, in der Selbsterkenntnis
aber von der Welt der Erfahrung abhängig sei. Augustinus unter-
scheidet deuthch zwischen einem wandelbaren dem Wechsel unter-
worfenen, und einem unwandelbaren Element in der menschhchen
Psyche, zwischen der individuell liestimmten Vernunft, die in ihrem
Inhalte, in ihrer Betätigung der Erfahrungswelt unterhegt, und der
Vernunft schlechthin, die einerseits zum Inhalt die Idee des Menschen
hat, bzw. selbst ist, deren Inhalte anderseits die intelhgiblen Wesen-
heiten sind, in denen der Mensch unmittelbar die eigentümliche Natur
des Geistes mit all den Bestimmungen und allgemeinen Eigenschaften,
die ihm zukommen, erfaßt. Nicht durch die leibhchen Augen oder
durch einen Analogieschluß zu unserem Geiste gewinnen wir Kenntnis
des Geistes, sei es eines individuellen Geistes, der neben seiner all-
Die Frage nach dem Seelendualisiiius bei Ar.üustinus. 317
gemeinen Natur auch individuell noch näher determiniert ist, sei es
der allgemeinen Menschenidee, sondern nur durch unmittelbares
Hineinschauen in die ewige Wahrheit, in der dann nicht der einzelne
Geist erkannt wird in seinem empirischen Sein und seinen Quaütäten,
sondern die Menschheitsidee, so wie sie im individuellen Menschen zur
Ausgestaltung gelangen soll. In ersterer Beziehung ist die mens
wandelbar, in letzterer unwandelbar. Zu diesen eben dargelegten
Gedanken verhält sich die Forderung Augustins, die Wahi'heit in der
Seele zu suchen, dabei aber über die wandelbare Vernunft hinaus-
zugehen als notwendige Folgerung (ef. Conf. X, 24, 34 ff.; De doc.
Christ. I, 8, 8f; de 1. arb. II, 12, 34; de v. rel. 39, 72: noli foras ire,
in te ipsum redi ; in interiore homine habitat veritas : et si tuam naturam
mutabilem inveneris transcende et te ipsum. Sed memento cum te
transcendis, ratiocinantem animam te transcendere. lUuc ergo tende,
unde ipsum lumen rationis accenditur. Quo enim pervenit omnis
bonus ratiocinator nisi ad veritatem?)
Die vorwürfige Frage nach den Beziehungen zwischen Walirheit
oder Vernunft und Seele läßt sich nach dem bisherigen schwer be-
antworten. Der in de immort. an. und in den Soliloquien entwickelte
Gedanke von der untrennbaren Verbindung der unwandelbaren Ver-
nunft mit der Seele, wodurch diese selbst unveränderhch und unsterb-
lich wird, (Anm. Es ist unschwer ersichtlich, daß Augustinus unter
dem Begriff der incommutabihs ratio der objektive Seinsgrund der
Dinge vorschwebt. Doch vermag unser Denker für diesen BegTiff
die ontologische Form nicht beizubehalten, da er die Dinge nicht zu
denken vermag ohne stete Beziehung zur götthchen ratio, zum gött-
lichen Denken und Wissen, in dem sie seinen Fortbestand haben,
und geht zu einer psychologischen Fassung der Vernunft über, was
er um so leichter unter der Voraussetzung vermag, daß der Logos diese
rationes der Seele offenbare), in der die W^alirheit zu suchen sei,
widerstreitet der in de v. rel 39, 72 aufgesteUten Forderung, in der
Suche nach der Wahrheit über sein eigenes Ich der veränderlichen
Vernunft hinauszugehen und zur ungeschaffenen Wahi'heit zurück-
zukelu-en. Die Lösung dieser Frage wäre für Augustinus um so
cb-ingender, da durch sie die Unsterblichkeit der Seele bedingt ist;
es ist nicht ersichtlich, wo die Wahrheit ihren Sitz haben soll, wenn
nicht in der veränderlichen Seele, da ja ilu'e Unveränderhch und damit
Unsterbhchkeit erst auf die Verbindung mit der unveränderhchen
318
Kratzer,
Wahrheit zurückzuführen ist und ein zweites ewiges l'rinzip nicht
angenommen werden soll.
Ich verweise bezüglich dieses Fragegegenstandes auf die Auf-
fassung Ritters, welche aus den Ausführungen Augustins über die
Vernunft als einem System von allgemeinen Normen und Gesetzen,
das über allen Menschen waltet und auch der Einzelnvernunft gegen-
über als transzendentes Sein aufgefaßt wird (De 1. arb. II, 8, 20)
für einen Dichotomismus der Seele eintritt. Augustinus spricht in
diesem Zusammenhange wohl von der ratio als einem oljjektiven
Sein im Sinne aUgemeiner Wahrheiten, die unal)hängig von zeitlichen
Bestimmungen und der sinnlichen Wahrnehmung unwandelbare
Gültigkeit haben, und, weil über der Einzelvermmft erhaben, Gemein-
gut aller Vernunftwesen sein kann; ethische Werte setzt hierl)ei
Augustinus in die gleiche Ordnung mit den allgemeinen theoreti-
schen (ibid. II, 10, 29, 8, 24ff.), und läßt sie zu einer Einheit für den
Menschen verschmelzen, wie sie auch in der Einheit der Wahrheit
erkannt werden. In der Erklärung der Wirksamkeit dieser AVahrheit
gegenüber den erkennenden Wesen geht Augustinus bereits zu einei"
subjektiven Fassung des Wahrheitsprinzipes über; es erlangt neben
dem objektiven Charakter subjektive Bedeutung, da es, wenn auch
allen zukommend (pubhcum) doch den Einzelnen angehört und im
Innern der Seele des Individuums wirksam ist; und doch soll es sieh
nicht mit dieser in Einheit verbinden (ibid. II, 12, 33: ... sed omnibus
incommutabiha vera cernentibus tamquam miris modis secretum et
publicum lumen, praesto esse ae se pre])ere communiter: omne autem
quod communiter omnibus ratiocinantibus atque intelhgentibus
praesto est, ad ulhus eorum proprie naturam pertinere quis dixerit ?)
Diese Erkenntnisquelle steht über der veränderlichen, mens des
Einzelnen, weil selbst unveränderhch und unwandelbar.
Die schon angegebene subjektive Wendung wird vollzogen in
De immort an. II, 2, wo sie im Menschen als unwandelbares Element
dem w^andelbaren Körper gegen übergesetzt wird. Mutabile est autem
corpus humanuni, et immutabihs ratio. Mutabile est enim omne quod
semper eodem modo non est. Et semper eodem modo est, duo et
quattuor et sex Item semper eodem modo est, quod est, quod quattuor
habent duo et duo. Hoc autem non habent duo: duo igitur quattuor
non sunt. Est autem ista ratio immutabilis: igitur ratio est. Diese
unmittelbare Beziehung von ratio im objektiven und subjektivem
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 319
Sinne ist klar ausgesprochen de Ord, II, 19, 50, wo Augustinus, wie
in der oben zitierten Stelle aus der Verbindung der „ratio" mit der
„ratio" die Unsterblichkeit begründen will: an ratio non est immortalis ?
Sed unum ad duo, vel duo ad quattuor, verissima ratio est. Nee
magis heri fuit ista ratio vera quam hodie: nee magis cras aut post
annum erit vera: nee si omnis iste mundus concidat, poteritista ratio
non esse. Ista enim semper tahs est; nnmdus autem iste nee heri
habuit, nee cras habebit, quod habet hodie, nee hodierno ipso die,
vel spatio unius horae eodem loco solem habuit: ita cum in eo nihil
manet, nihil vel parvo spatio temporis habet eodem modo. Igitur
si immortalis est ratio, et ego, qui ista omnia vel discerno vel connecto
ratio sum: illud quo mortale appellor non est meum. Sul^jektivität
ist bei Augustinus Objektivität, weil die Vernunft im ausgezeichneten
Sinn, bzw. die ewige Wahrheit nie eine einheithche Natur mit dem
Menschen bildet im Sinne einer metaphysischen Einheit, wie die
oben gemachten Ausführungen zeigen, wenn er auch in der letzt-
genannten Stelle das spezifisch Menschliche in dem unwandelbaren
Element des Menschen findet.
Die vortreffUchen Ausfülu-ungen, die H. Siebeck über die Er-
kenntnislehre Piatos macht, wenn er nach Bestimmung der Ideen
als objektive Wahrheit und Urgrund alles Seins und zugleich als
subjektives Bewußtseinskorrelat in den Begriffen, das Resultat seiner
Untersuchung in folgende Worte kleidet: „Im Zusammenhang dieser
subjektiven Wahrheit und Wirkhchkeit mit der objektiven, d. h. in
dem Hellwerden {dvc[uvr/oig) des objektiven Inhaltes der Idealwelt
im Be\\ußtsein auf Grund der Existenz allgemeiner Begriffe besteht
das Erkennen", heßen sich in gleicher Weise auf Augustinus an-
wenden. Wir finden bei unserem Denker die Lösung des Erkenntnis-
Problems in der gleichen Weise versucht mit der Modifikation, daß
bei Plato das „Lebendigwerden" der Begriffe im Zusammenhange mit
den Bestimmungen der Idee in mehr mechanischer prädisponierter
Form geschieht, wähi^end Augustinus in Konsequenz mit dem theologi-
schen Charakter seiner ganzen Philosophie, die als Analyse des Gottes-
begriffes betrachtet werden kann, die Kausahtät des Logos, eine
positive Ursächlichkeit des götthchen Wesens postuhert. Ich stelle
zur Illustration des zwischen Plato und Augustin bestehenden Ver-
hältnisses ))ezüglich der Erkenntnis der Walulieit die einzelnen, hierbei
beteihgten Faktoren in bildlicher schematischer Weise einander
820
Kratzer,
gegenüber, wobei ich (\v,i^ eine Sclienia H. Siebeck: Geschichte der
Psychologie" entnehme.
Plato
Idee des Guten (Gott)
Wahrlieit
Seele
Idee
Erkennen
Augustinus
Gott
Logos (objektive Wahrheit)
Geist rationes
als subj. Erk. -Prinz. im obi. Sinne
Erkennen
Ich darf hier noch anführen, was Johann Huber (Die
Philosophie der Kirchenväter; München 1859) in dieser Frage
ausführt, wenn er auf die Konzentration aller Wirklichkeitsstufen
in der Seele x\ugustins selbst hinweist, der in der Sichgegenübe]-
stellung dieser Wirldichkeitsstnfen zur Objektivation fortschreitet:
,,Wenn auf solche Weise der auf sich selbst reflektierende Mensch
in sich selbst verschiedene Seinstufen gesammelt findet, die, je mehr
er sich auf den Standpunkt der rein vernünftigen Subjektivität zurück-
zieht, für ihn nicht nur zu einem objektiven überhaupt, sondern auch
zu einem äußerlichen werden, so daß es, auch ohne die Gewißheit
einer realen Außenwelt schon gerechtfertigt erscheinen würde, von
jenen verschiedenen Existenzen zu sprechen, so ergibt die fortgesetzte
Selbstbetrachtung, wodurch ein übermenschhches Gebiet entdeckt
wird, den eingenommenen anthropologischen Standpunkt als einen
durchaus zentralen, in welchem nicht nur die Kadien eines nied-
rigeren, sondern auch eines höheren Seins zusammenlaufen."
Was nun die weitere SteUungsnahme diesem Problem gegenüber
betrifft, so hält Huber an der metaphysischen Einheit der Seele fest
und sieht im Geiste (anima) in seiner niedrigeren Form das belebende
vereinheithchenden Prinzip eines lebenden Körpers bzw. Organismus,
in seiner höheren Form aber die Intelligenz und die Vernunft, in der
er sich betätigt. Doch läßt sich nach meiner Ansicht aus den an-
gezogenen Stellen (De Civ. Dei XXII, 24, 3) diese Folgerung nicht
unbedingt und eindeutig bestimmt ziehen. Augustinus redet von
einem Gegebensein der Vernunft an die Seele durch die Gottheit, die
sich im Laufe der physischen Entwicklung selbst zu entwickeln habe.
Diese Erklärung ist selbstverständlich auch möglich bei der Annahme,
daß in der Seele die ewige Vernunft wohne, die unter dem Einfhiß
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augu-stinus. 321
und nach Maßgabe der Erfahrung an die einzehien Seelen sich offen-
bare. Das Gleiche gilt für De Trin. XV, 7, 11: Quod si etiam sie de-
finiamus homineni, ut dicamus, homo est substantia rationaüs, con-
stans ex anima et corpore ; non est du1)iura homineni habere animani
quae non est corpus, habere corpus, quod non est anima. Ac per hoc
illa tria non homo sunt sed hominis sunt vel in homine sunt. De
tracto etiam corpore, si sola anima cogitatur ahquid eins est mens,
tamquam caput eins vel oculus, vel facies . . . Non igitur anima, sed
quod exceUit in anima mens vocatur, welche Stelle ich der von Huber
zitierten anreihen möchte, in der die mens als ein Etwas der Seele,
als das auszeichnende Moment derselben erscheint, und dem Leibe
und der Seele gegenübergesetzt wird in der gleichen Weise wie
x\ugustinus auch Leib und Seele als zwei getrennte Substanzen ein-
ander gegenübersetzt, und diese drei Elemente nicht zum Menschen
zusammengebildet werden läßt, sondern ihnen noch ein gemeinsames
höheres Sein gibt, den Menschen, in dem sie sich als dem Subjekte
einen (cf. De Trin. XV, 22, 42). Das Gleiche gilt zu sagen von De
Trin. XIV, 16, 22, wo das Verhältnis von mens und Spiritus dargelegt
ist: ich werde weiter unten darauf zurückkommen müssen: der Satz:
sed quia onmis mens spiritus est, non autem omnis spiritus mens est
bildet die Erklärung für: non ibi duas res inteUigi voluit, quasi ahud
sit mens ahud spiritus mentis, ebenso wie die Worte: spiritus mentis
dicere voluit eum spiritum quae mens vocatur. Damit hätte Augustinus
überhaupt die Identität zwischen den beiden Begriffen dargetan, wenn
er nicht an der gleichen Stelle auch erldären ^vürde; dicitur etiam
spiritus in homine, qui mens non sit, ad quem pertinent imaginationes
similes corporum.
Gehen wir in der Erörterung unseres Problems weiter und sehen
wir, wie es sich mit dem menschlichen Erkennen, mit der Wahrheits-
erkenntnis verhält. Gekannt und gewußt werden können nichts
anderes als die ewigen Ideen, wie sie dem Menschen in Einheit durch
den Logos präsentiert sind ; doch ist der Mensch in seinem empirischen
Zustande nicht unmittelbar im Besitze dieser ewigen unwandelbaren,
unvergänglichen Werte, sondern sie schweben ihm vor als ein an-
zustrebendes, zu erreichendes Ideal, in dessen Besitz zu gelangen
Aufgabe und Ziel ist. Daß dieses jedoch nicht ohne subjektive Be-
dingungen möglich ist, wurde gezeigt. Daneben aber besteht für den
Menschen eine andere Welt, eine andere Wirklichkeit, der er mit
Archiv tür Geschichte der Philosophie. XXVIII, 3. 21
322 Kiiitzer,
den Sinnen zugewandt ist, sie mit den Sinnen erfaßt, dann aber in
Überwindung des irrationalen Faktors der Materie der Verstandes-
tätigkeit unterstellt, damit diese unter dem wirkenden Einfluß der
intelligiblen Welt, von ihrem Lichte beleuchtet und unterstützt die
Erscheinungswelt selbst rational gestalte und bilde, Gesetzen unter-
stelle, und auf ihren letzten Grund zurückführe. Aber wenn wir hinter
die Erscheinungswelt zurückgehen, ihre wahre Realität zu erfassen
suchen, so finden wir hier dasselbe rationale System von Ideen und
Gedanken, die wir schon in der Einheit der Idee, im Logos gefunden
haben, mit dem Unterschiede, daß das einheitliche Ganze der Idee
im Logos in der äußeren Wirkhchkeit, wie Storz sagt, als eine Vielheit
und Verschiedenheit veränderlicher Wesen in Gott sich darstellt,
die zwar trotz aUer Verschiedenheit und Vielheit eine harmonische
Einheit sind, aber als solche eben erst durch die ordnende verbindende
Tätigkeit der Vernunft erkannt wird. Der Unterschied zwischen
beiden Welten besteht einzig in der Existenzform. In ilu'em intelligiblen
Sein sind die Ideen ungeworden, ewig, absolut, einheithch in der
universellen Idee im Logos geschlossen, in der materiellen Wirklich-
keit, sind sie geworden, geschaffen: Die Welt war vor der Schöpfung
und sie war nicht, sie war im Wissen Gottes, sie war nicht, wie sie
nach der materiellen Verwirkhchung ist, weil durch das Schaffen ein
Element mit der Idee sich verbunden hat, das als das irrationale
Sein dem rationalen gegenübertritt (De Gen. ad. Lit. V, 8, 36; 15, 33).
Was prinzipahter atque incomnmtabiliter in der ewigen Wahi'heit ist
(De Trin. IV, 1, 3), das findet sich in zeithche, veränderhche Ver-
bindung gesetzt in der Erscheinungswelt; denn bei Gott sind die
Ursachen aller veränderlichen, bei ihm bleiben die unwandelbaren
Ursprünge aller wandelbaren Dinge ; bei ihm leben die ewigen Ugründe
alles dessen, was in vernuiiftloser Weise in der Zeithchkeit geschieht
(Conf. I, 6, 9). Die Welt offenbart die Gedanken Gottes: das Seiende
weist auf das unbedingt Seiende, das Schöne auf das Urschöne, das
Gute auf das Gute schlechtliin (ibid XI, 4). Wie stellt sich nun, fragen
wir, das Erkennen dar, welche Prinzipien kommen hierfür in Betracht?
Augustinus findet eine intelhgible Welt über sich, die in sein Bewußt-
sein hineinragt, er findet eine Welt unter sich als Wirkungsbereich
für seine Seele, die er gestaltet, indem er die aus ikr gewonnenen
Werte mit dem ihm gegebenen allgemeinen Normen vergleicht und
nach deren Übereinstimmunsr oder Nichtübereinstimmuno- er die
Die Frage nach dem Seelendualisnius bei Augustinus. 323
Dinge als wahr oder falsch erkennt. Bei dieser Vergleichung sagt
x\ugustinus, finde ich die unwandelbare und wahre Ewigkeit der Wahi'-
heit über meinen veränderHchen Geiste, in der ich die Dinge zu ver-
gleichen vermag (Conf. VII, 10, 23), und es ist diese Vergleichung nicht
freie und unbedingte Tat des Menschen, sondern sie geschieht divinitus
adjutus internis aeternisque rationibus. Damit haben wir jetzt schon
die Erkenntnis gewonnen, daß das menschhche Erkennen unter dem
Einfluß der götthchen Kausaütät sich vollzieht, durch sie allein nur
möghch wird und letzten Endes auf ein Zusammenwuken zweier
objelctiver Faktoren in der menschhchen Seele zurückzuführen ist,
wobei die Seele selbst, gleicher Natur, zu ihrem Bewußtsein gelangt.
Wie der Seinsgrund der Dinge das göttüche Wissen ist, unbedingt,
dessen Inhalt dem menschhchen Geiste als zu erstrebendes Erkenntnis-
ziel gegeben ist durch die inteUigible Verbindung desselben mit der
Walu-heit, so ist dieses selbe Wissen auch Licht in der intellektuellen
Erkenntnis, so daß im ganzen Prozeß der Entwicklung unserer Er-
kenntnis eine Offenbarungstätigkeit Gottes festgehalten werden muß
(De util cred. 12, 27; De b. vita 35; de Civ., Dei XI, 25. Diese
Offenbarungstätigkeit faßt Augustinus unter einem doppelten Ge-
sichtspunkt, einem praktischen und theoretischen. I^nter dem
theoretischen Gesichtspunkt erscheint sie ihm als die Offenbarung
der Weisheit an den Weisen und als feste Erkenntnis Gottes durch
letzteren De util cred. 16, 34: ut sapientes esse possimus id est inhaerere
veritati. 12,27: nuneautem sapientes voco, non cordatos et ingeniosos
homines, sed eos quibus inest, quanta in esse homini potest, ipsius
hominis deique firmissime percepta cognitio. De Ord. II, 2, 7: sapienti
ergo ante illos interiores intellectus oculos habenti omnia, id est deum
ipsum fixe immobihterque intuenti, cum quo sunt omnia, quae
intellectus videt ac possidet. Unter ersterem Gesichtspunkt als das
dieser Erkenntnis entsprechende Handeln im Weisen selbst einerseits,
und ein Beherrschen der ganzen Wirklichkeit durch denselben ander-
seits De util. cred. XII, 27: nunc auteni sapientes voco ... atque
huic cognitioni vita moresque congruentes. De v. rel. 31, 57: nee jam
ilud ambigendum est incommutabilem naturam, quae supra rationalem
animani sit, deum esse et ibi esse primamvitam-, et primam essentiam
ubi est prima sapientia; nam haec est illa incommutabihs veritas,
c^uae lex onmium artium recte dicitur et ars omnipotentis artificis.
In allgemeinerer Fassung ist das die Weisheit als Beherrscherin der
21*
324 Kratzer,
Wiikliclikoit, Ordnung-, Vorsehung, Gesetz, Gerechtigkeit, welt-
erhaltende Macht De Gene, ad Lit., IV, 12, 23; de 1. arb. II, 16, 42 ff.:
de ord. II, 19, 51; 20, 54; De 1. arb. II, 20, 54; 17, 45: hinc etiani
coniprehenditur oinnia Providentia gubernari. Si enini omnia quac
sunt, forma penitus subtracta nulla erunt, forma ipsa incommutabiUs,
per quam mutabiha cuncta subsistunt ut formarum suarum nummeris
impleantur et agantur, ipsa est eorum Providentia: non enim ista
essent, si illa non esset. Intuens ergo et considerans imiversani
creaturam, quicumque iter agit ad sapientiam, sentit sapientiam in
via se sibi ostendere hilariter, et in omni Providentia occurrere sibi.
Insofern der ganze Kosmos der Ordnung schaffenden Kraft der Weis-
heit untersteht, erlangt das ganze Weltbild den Charakter des Voll-
kommenen, eine Vollkommenheit, die auch nicht durch Disharmonie
gestört wird, ja nicht einmal gestört werden kann; der Weisheit, der
Vernunft kommt es zu zu herrschen über die Torheit. De Ord. I, 7, 18:
ita nee praeter ordinem sunt mala, quae non diligit deus, et ipsum
tamen ordinem diligit: hoc ipsum enim dihgit diligere bona, et non
diligere mala; quod est magni ordinis et divinae dispositionis. Qui
ordo atque dispositio, quia universitatis congruentiam ipsa distinctione
custodit,fit ut mala etiam esse necesse sit. Ita quasi exantitetis quodam
modo, quod nobis etiam in oratione jocundum est, id est ex contrariis
omnium simul rerum pulchritudo figuratur. II, 4, 11 — • der Gegensatz
zwischen Weisheit und Torheit oder, was dasselbe ist, zwischen Gutem
und Bösem, beherrscht den ganzen Gottesstaat. Der historische
Ursprung dieses Gegensatzes ist nicht schwer zu erkennen. Nach
Plato sind nur die Philosophen, die Weisen, die eigentlichen Herrscher
des Staates, weil sie im Besitze der Erkenntnis des zoo/iog vo/jvog sind;
denn der Idee, der Vernunft gebührt die Herrschaft über die Materie,
die" Unvernunft, die Notwendigkeit. Diese Scheidung erhielt bei
Augustinus noch eine morahsch-dogmatische Verstärkung in der
Gegenüberstellung von Sünde und Gnade: der Gottesstaat ist der
durch die freie Huld Gottes Auserwählten, der Staat des Teufels der
im Verderben der Sünde Belassenen. Auch der Gedanke, daß die
göttliche Vernunft den Dingen nicht bloß Sein, sondern auch Er-
kennbarkeit verleihe, dem Erkenntnissubjekt die Erkenntnisfähig-
keit ist platonisch und trifft sich inhaltlich mit der Idee des
Guten bzw. des Plotinischen Nus.
Ob und inwieweit meine Auffassung von der Offenbarungs-
Die Frage nach dem ,Seelendualismus bei Augustinus. 325
tätigkeit des Logos richtig ist, werden die folgenden Ausfiihrnnoen
zeigen. Von Wichtigkeit ist, daß Augustinus um ein Erfahrungs-
wissen im Sinne der naturwissenschaftüchen Erkenntnis nicht weiß,
und alles Wissen auf die Autorität zurückführt De util cred. 16, 34.
Wenn die Gestaltung aller Dinge, die wir unbedenklich aus dem
Urc{uell der echtesten Schönheit ableiten nüissen, und ein gewisses
inneres Bewußtsein alle besseren Geister gleichsam öffenthch und im
Geheimen mahnt, Gott zu suchen und Gott zu dienen, so müssen wir
erwarten, daß derselbe Gott irgend eine Autorität aufgestellt hat,
durch die wir uns, wie auf eine feste Grundlage gestützt, zu Gott
erheben können. Cf. Mausbach: Die Ethik des hl. Augustinus I, 169;
Quelle der walu'en P>kenntnis ist einzig die ewige Wahrheit der Logos,
die göttliche Weisheit in deren Dienste sich dem menschlichen Geiste
in der Erkenntnis mitzuteilen alle Geschehnisse stehen: Conf. VII,
10, 16: et inde admonitur redire ad memetipsum, intravi in intima
mea duce te, et potui, quoniam factus es adjutor mens. Intravi et
vidi quahcumque oculo animae meae, supra mentem meam lucem
incommutabilem . . . nee ita erat, sed superior, quia ipsa fecit me, et
ego inferior, quia factus sum ab ea. Qui novit veritatem, novit eam:
et qui novit eam, novit eternitatem. 0 aeterna veritas ! . . . Tu es
deus mens. De ('iv. Dei XVI, 6, 1. Die Vernachlässigung des empiri-
schen Wissens einerseits, die Betonung der Innewohnung der Wahr-
heit in der Seele anderseits, der das Seelenauge nur zugewendet zu
werden braucht, um die Wahrheit zu erkennen, der untrennbaren
Verbindung der Seele mit der Walu-heit, die dem Geiste präsidiere und
Antwort stehe auf seine Fragen, lassen nur eine primäre KausaMtät
zu, die Kausalität der hypostasierten Wahrheit. De Gen. ad. Lit. XII,
31, 59; De 1. arb. II, 12, 3, 30, de magistro 11, 38 f. Diese Über-
zeugung Augustins hat ihre eigene psychologische Begründung in der
geistigen Entwicklung seiner Persönlichkeit, und deren inneren Er-
lebnissen, die sein ganzes Denken beherrschen und auch in seine
Theologie hineinwirken, und gerade von hier aus meine Auffassung
bestärken; ich meine hier vor allem die Gedanken über Gnade und
Sünde. Vgl. die gründlichen Ausführungen von J. Storz a. a. 0. § 9:
„Das Wort der Logos Gottes, der das schöpferische Formprinzip
aller Dinge ist, ist als Formprinzip für die intelligiblen Wesen zugleich
das sie erleuchtende Prinzip ihrer inteUektueUen Erkenntnis, das
erleuchtend in ihnen wirkt, so lange sie ihr intelhgibles Innere, dieser
Kratzer,
leuchtenden Eiiiwirkuiiü,' uflVn halten, und mittels dessen Erleuehtunu
sie zu ihrer ideenniäßigen Bestimnnmg und Vollendung gelangen
sollen." Soll aber eine Erkenntnis der intelligihlen AVeit bzw. der
göttlichen intelligiblen Wesenheit in dieser intelligiblen Welt möglich
sein, so muß nach einer allgemeinen Forderung Augustins eine Ver-
bindung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden
Objekt bestehen. De Gen. ad Lit. IV, 32, 49: necque enim cognitio
fieri potest nisi cognoscenda praecedant . . . mens itaque humana
]jrius haec quae facta sunt, per sensus corporis experitur eorumque
iiotitiam pro infirmitatis humanae modulo capit quam notitiani
sane praecedebant quae fiebant: quia precedit Cognitionen! quidquid
cognisci potest. Nisi enim prius sit quod cognoscatur cognosci non
potest. De Trin. XIV, 10, 13; de magistro 12, 40. Diese unmittelbare
Verbindung wird in unserem Zusammenhange dargestellt durch die
erleuchtende Tätigkeit des Logos gegenüber der Seele, welcher das
erleuchtende Licht ist für deren Erkenntnis; de Gen. ad Lit. XII,
31, 59: ahud autem est ipsura lumen quo illustratur anima, ut omnia
vel in se vel in illo veraciter inteUecta conspiciat, nam illud jam ipse
deus est. De v. rel. 36, 66 : et haec est veritas et verbum in principio
et verbum deus apud deum . . . ipsa est quia illud ostendit sicut est :
unde et verbum eins et lux eius rectissime dicitur. De peccat. merit.
1, 25: nuUus hominum illuminatur nisi iUo lumine veritatis, quod
deus est. De Trin. XIV, 15, 21: ubi nam sunt istae regulae scriptae,
ubi quid sit justum et injustus agnoscit . . . ubi ergo scriptae sunt,
nisi in libro lucis iUius quae veritas dicitur? VIII, 9, 13: vivendum
tanien sie esse dei ministris, non de aliquibus auditum credimus, sed
intus apud nos, vel potius supra nos in ipsa veritate conspicimus.
IX, 12, 17; de 1. arb. II, 12, 34; de v. rel. 31, 57; de magistro 11, 38;
in mehi' unbestimmter passiver Form ist dieses Verhältnis ausgedrückt in
quaest 54; de 1. arb. II, 12, 34; de mus.VI, 1,1: de Trin. 14, 15]. Das
Ideale rationale Gedankensystem in der Gottheit, der y.ooiio^ ro/jrog
im plotinischen Sinn, und die gedankliche Grundlage für das mensch-
liche Erkennen entsprechen sich, d. h. der Logos ist, wenn auch als
lumen secretum in der Erleuchtung, der Mitteilung der Wahrheit
an die Einzelseele individuelles Erkenntnisprinzip geworden. Die
stufenweise Offenbarung seines Inhaltes ist die Stufe, auf der der
Weise bis zur Gottschau, bis zur amplexio Dei gelangt (De Ord. II,
2, 6: ilü igitur sapiens amplectitur deum; eoque perfruitur qui semper
Die Frage nach dem .Seelendualismiis bei Augustinus. 327
manet nee expectatur ut sit, nee metuitiir ne desit, sed eo ipso quo
vere et semper est praesens). Aus der Gleichsetzung der Vernunft
mit der Wahrheit ganz allgemein (solil II, 18, 32, wo Augustinus die
Seele, animus, mit der wahren Form identifiziert: nam ego puto
eorpus ahqua forma et speeie eontineri, quam si non haberet eorpus
non esset: si veram haberet animus esset. Forma schlechthin aber
oder Vera forma wie Augustinus auch sagt, ist der Logos. De v. rel.
36, 56; 43, 81; de 1. arb. II, 17, 45; Ep. 14, 4) folgt unmittelbar, wie
Eggersdorfer (Fr. H. Eggersdorfer : Der hl. Augustinus als Pädagoge;
Freiburg 1907) meint, daß auch die einzelnen Teilwalulieiten, in platoni-
scher Weise auch die einzelnen Sätze der besonderen wissensehafthchen
Disziphnen Teilvernunft sind. Diese Gedanken decken sich ganz mit
dem, was Augustinus über die mens, bzw. intellectus zu sagen weiß,
und unser Denker ist in diesem Zusammenhang nahe daran, den
Unterschied zwischen menschhcher und götthcher Vernunft zu ver-
üeren. Freihch muß zugegeben werden, daß Augustinus in den be-
tretenen Bahnen nicht weiter ging, und die Konsequenzen nicht
gezogen hat. Davor rettete ihn theoretisch die Unklarheit seiner
Terminologie, praktisch aber sein kirchücher Standpunkt von dem
aus er mit aUer Entschiedenheit nicht ohne verstecktem Spott die
Anschauungen bekämpft, nach denen die Seele als Teil Gottes gefaßt
wird (cf. Gangauf a. a. 0. S. 134ff.).
Von Bedeutung für das Problem, ob bei Augustinus ein seehscher
Dichotomismus zu statuieren ist, oder nicht, ist die Bestimmung des
Intellektes bzw. der inteUigentia. Der Intellekt erfaßt sich unmittelbar
selbst, ist sich selbst immer präsent, indem er sich denkt, und gibt
auf Grund der Verbindung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis
dieser selbst den höchst möghchen Grad der Sicherheit, (qu. 32: nos
autem ahquid, non ita ut est intelhgimus, velut hoc ipsuni nihil
inteUigi, quod non ita ut est inteUigitur. Quare non est dubitandum
esse perfectam inteUigentiam, qua prestantior esse non possit: et
ideo non per infinitum ire quod quaeque res inteUigitur nee eam posse
alium alio plus intelhgere). Sein Sein ist beständige Tätigkeit, und
nur in seiner Tätigkeit ist er bewußt, und soweit er tätig ist, Be-
stimmungen, wie sie Augustinus auch der mens im allgemeinen zu-
weist, Bestimmungen, wie sie zum Teil nur dem götthehen Denken
zukommen können, wie sie aber anderseits eine endhche Vernunft
voraussetzen. Der augustinische Seelenbegriff ist denmach kein
328 Kratzer,
einhoitlichcr ; er ist geteilt in Merkmale, wie sie sich im plotinisehen
Seelenbegi'iffe finden; das Erkennen erscheint als eine Scheidung in
Subjekt und Objekt, als ein bewußtes GegenUbersetzen seiner selbst
oder anderen Gegenständen gegenüber, die sich als die Inhalte desselben
darstellen, welcher Gegenübersetzung aber Keflexion des Geistes auf
sich selbst vorhergeht. (De Trin. XIV, 6, 8 tanta est tamen cogitationis
vis ut nee ipsa mens quodam modo se in conspectu suo ponat, nisi
quando se cogitat: ac per hoc ita nihil in conspectu mentis est, nisi
unde cogitatur, ut nee ipsa mens, qua cogitatur, quidquid cogitatur,
aliter possit esse in conspectu suo nisi se ipsam cogitando: quomodo
autum quando se non cogitat in conspectu suo non sit, cum sine se
ipsa nunquam esse possit, qusi aliud sit ipsa, aliud conspectus eins
invenire non possumus. Unde igitur aufertur mens, nisi a se ipsa et
ubi ponitur in consepectu suo nisi ante se ipsam? Non ergo sibi erit,ubi
erat, quando in conspectu suo non erat; quia ita, inde sublata est.
Sed si conspicienda migravit, conspectura ubi manebit? An cj[uasi
germinatur ut et illic sit et hie, id est, et ubi conspicere et ubi conspici
possit, ut in se sit conspiciens, ante se conspicua? . . . proinde restat
ut aliquid pertinens ad eins naturam sit conspectus eins et in eam,
quando se cogitat, non quia per loci spatium, sed incorporea conversione
revocetur: cum vero non se cogitat, non sit quidem in conspectu suo,
nee de illa suus formetur obtutus, sed tamen noverit se tamquam ipsa
sit sibi memoria sui. Sicut multarum disciplinarum peritus, ea quae
novit, eins memoria continentur, nee est inde aliquid in conspectu
mentis eins nisi unde cogitat. X, 3, 5: quid ergo amat mens, cum
ardenter se ipsam quaerit ut noverit dum incognita sibi est? Ecce
enim mens semet ipsam quaerit ut noverit et inflammatur hoc studio.
Amat igitur: sed quid amat? Se ipsam? Quomodo cum se nonduni
noverit, nee quisquam possit amare quod nescit? ... Quo pacto
igitur se ahquid scientem seit quae se ipsam nescit? neque enim alteram
mentem scientem seit, sed se ipsam. Seit igitur se ipsam. Deinde
cum quaerit ut noverit, quaerentem se jam novit. Jam se ergo novit.
Qua propter non potest omnino nescire se, quae dum se nescientem
seit, se utique seit. Si autem se nescientem nesciat, non sc quaerit,
ut sciat. Qua propter eo ipso quo se quaerit, magis se sibi notam
quam ignotam esse convincitur? Novit enim se quaerentem atque
nescientem dum se quaerit ut noverit; X, 8, 11).
Die dem Intellekt oben zugeteilten Prädikate gelten, wie bereits
Die Frage nach dem Seelenclualismus bei Augustinus. 329
bemerkt, auch von der mens (cf. De Gen. ad. Lit. TU, 20, 30; qu. 54),
von der Augustinus erklärt, in de Trin. XIV, 6, 9: sed quoniam menteni
semper sui merainisse, semperque se ipsam inteUigere et amare quamvis
non semper se cogitare diseretam ab eis, quae non sunt quod ipsa
est ... quacrendum est quonam modo ad cogitationem pertineat
intellectus; notitia vero cuiusque rei quae inest menti, etiam quando
non de ipsa cogitatur, ad solam dicatur memoriam pertinere. Si
enim hoc ita esset non habebat haec tria ut et sui meminisset, et se
inteUigeret et amaret: sed memimerat tantum sui, et postea cum
cogitare se coepit, tunc se intellexit atcpie dilexit. Mag nun hier
der Begriff des Intellectus nach de Ord. I, 6, 13 im Sinne der visio
animae gefaßt werden, oder mit Ep. 218 mit der mens schlechthin
identifiziert werden (cf. de Trin. X, 5, 7), oder aber ein besonderes
Attribut über die Sphäre des mens hinausreichendes Merkmal sein
(De Trin. IX, 6, 11), jedenfalls ist so viel ausgesprochen, daß der
InteUect sich immer denkt (semper se intelhgit) im Ternare des Sich-
erinnerns, Erkennens und Wollens in Einheit des Lebens sich zu-
sammenschließt, ohne daß damit eine Beziehung zu einem von sich
selbst verschiedenen Gegenstande, oder auch zu sich selbst bewußt
gegeben wäre. Das Bild, die Vorstellung jeglichen fremden und des
eigenen Seins ist im mens vorhanden, ist in den psychischen Lebens-
zusammenhang aufgenonmien, der sich in der Erinnerung, Denken
und Lieben erfüllt, wobei in keiner AVeise eine bewußte Apperzeption
der Gegenstände im Denken gegeben sein muß. — (De Trin. X, 10, 14;
12, 19; XV, 10, 17: sed nunc de iis loquamur, quae nota cogitamus
et habemus in notitia, etiam si non cogitemus, sive ad contemplativam
scientiam pertineant, quam proprie sapientiam sive ad actionem,
quam proprie scientiam nuncupandum esse disserui. De his ergo nunc
disserimus quae nota cogitamus et nota sunt nobis etiam si non
cogitentur a nobis. Sed certe si ea dicere velimus, nisi cogitata non
possumus).
Augustinus Zwiespältigkeit der Seele tritt hier wieder hervor,
und ebenso sein Xeuplatonisnms, den er nicht zu überwinden vermag;
die Identifizierung zwischen dem conspectus mentis und der notitia
mentis und die a priori damit gegebene unmittelbare und stetige
Selbstschau ist dem plotinischen NusbegTiffe entnommen; das con-
spectum esse wird identisch mit dem cogitare: eine Verschiebung
tritt jedoch dadurch ein, daß Augustinus den Begriff des cogitare dem
330 Kratzer,
cmpiriselien Bevvußtseinslebeii zuteilt, in das natürlich auch das
semper in conspectum esse mentis bzw. semper se intelligere der mens
nur fällt durch die beNViißte Hinordnung- des Geistes auf diese Tätig-
keit des Geistes, wodurch dann Augustinus die enge Verbindung
zwischen Geist und Seele zeigt, eine Verbindung, wie wir sie auch in
2;leicher Weise bei Plotin finden. Vom Geiste verlangen wir, daß er
seine eigene Wesenheit und was in ihm ist, ergründe. (Enn. V, 3, 3);
es gibt ein einfaches Sichselbstdenken, von dessen Wirklichkeit man
ohne viele Widersprüche nicht absehen kann (V, 3, 1; 3, 6), das im
eigentlichen Sinn nicht Denken, sondern liloße Schauung des Ge-
gebenen ist, weil ja sich selbst stets gegenwärtig (V, 3, 9). Wie in
dieser Selbstgegenwart des Geistes allein die volle Wahrheit begründet
hegt, haben wir bei Plotin wie bei Augustinus schon gesehen. Und
wir dürfen nicht außer acht lassen, daß dieses Denken ein bewußtes
Denken ist; denn obwohl der Geist als eine Einheit wiederholt dar-
yestellt wird, so ist er doch nicht mehr eine Einheit im Sinne der
Einfachheit, sondern er schheßt bereits eine Vielheit ein, die zwar
nicht die Einheit stört, aber doch als einzelne Momente in sie auf-
genommen ist (V, 3, 15; V, 1, 7; VI, 9, 5); wo aber Vielheit, da auch
Bewußtsein (V, 6, 5). Der Geist allein hat ein Denken seiner selbst
wie die augustinische mens, die Seele denkt anderes, bzw. sie hat den
Gegenstand ihres Denkens nicht in ihrem eigenen Sein, sondern in
dem, was ihr vom Geiste gegeben wird, und was sie von seinem Lichte
bestrahlt erkennt. Der Seele ist überhaupt nicht eigen das Denken,
sondern das Nachdenken, die Bereicherung ihi'er selbst durch das
Nachdenken (V, 1, 7); bei Plotin ist Idee Geist und der Geist die Idee
(V, 9, 8), wie bei Augustinus der Logos die Einheit der rationes ; darum
gibt es für ihn nichts zu erwerben, ist nicht gehalten nach außen zu
gehen, wie die Seele, braucht nicht zu finden, nm zu Ijesitzen (V, 9, 8):
lanter Bestimmungen, wie wir sie im augustinischen LogosbegTiff
finden, Bestimmungen, wie sie den Begriff der mens ausmachen, im
Begriffe des Intellektus, der inteUigentia, sich finden, die die inteUigiblen
Dinge in sich schließe. Der Logos ist Leben, Sein, Denken, Licht,
und dadurch, weil Denken und Sein in einem Subjekt, auch Wahrheit.
Der Nus ist Leben und zwar ursprünghches Leben (V, 3, 9), das Leben
ist Weisheit, dieselbe Weisheit, die nicht durch Nachdenken gewinnt
(V, 8, 5), sondern erkennt in unmittelbarem Lichte, welches das Eine
über den Geist ausgießt (V, 5, 7), der seinerseits die Seele zu beleuchten
imstande ist (V, 3, Bf.).
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 331
Der metaphysischen Fassung der Begriffe Geist und Seele folgt
auch eine psychologische. Der Geist schaut sich selbst und denkt
nicht über sich selbst nach ; denn er ist sich selbst stets gegenwärtig ;
die Selbstgegenwart des Ich wird abhängig gemacht von der Hin-
lenkung der Seele zum Geiste, und das reine Denken mit der Tätig-
keit des höchsten Seelenteiles identifiziert (V, 3, 9). Augustinus geht
über Plotin in seinem Logosbegriffe und dessen Verhältnis zur Seele
hinaus; er faßt den Logos transzendenter, da er in ihm doch vor-
wiegend die hypostasierte götthche Vernunft sieht, und insofern in
das rein innergötthche Leben mit einbezieht, wenn er ihn auch unter
der Vorstellung des Inbegriffes der Wahrheit, die dem Menschen
leuchte, zur geschaffenen Vernunft herabzieht, und um durch ihn
ihr die wahre Erkenntnis zu gewähren. Wenn Augustinus von der
mens bzw. dem intellectus die oben angegebenen Prädikate aussagt,
und das Sehen seiner Selbst zu seinem eigenen Wesen erhebt, so hat
er damit die plotinische Bestimmung des Nus aufgenommen (cf. De
Trin. IX, 4, 5 ff.). Wenn er aber dann ausdrückhch von der mens die
Forderung des cogitare erhebt, damit der Geist sich wisse, so hat er
damit auf den plotinischen Begriff der Seele übergegriffen, von der
Plotin auch angibt, daß sie stets tätig sei, aber doch nicht aUes im
Bewußtsein erfasse (I, 4, 9; IV, 8, 8; V, 1, 12), geht aber über den
bloßen Seelenbegriff hinaus, da Selbstwissen für die Seele nach Plotin
nicht besteht. Und so verbindet sich mit dem augustinischen Seelen-
begriff einerseits das stets bewußte Denken des Geistes, anderseits
die stete nachdenkende Tätigkeit der Seele, die ihr Tun bald auf
diesen, bald auf jenen Gegenstand richtet (V, 1, 11), aber nur durch
Hinordnung der Aufmerksamkeit auf das Tun zum be\vußten Tun
wird; so ist es natürlich, daß Augustinus in der Aufnahme dieser
verschiedenartigen Elemente in seinem Seelenbegriff das stete Sich-
selbstdenken des Geistes zum bloßen Selbstwissen, zum nosse, ab-
schwächt, und in ihm gleichsam die Möglichkeit, im Menschen durch
das cogitare bewußt zu werden, sieht. Augustinus scheint hier die
aristotelische Vorstellung des aktiven und passiven Intellektes vor-
zuhegen, nach der die Seele als möghcher Verstand erst formiert würde
durch den denkenden Geist als aktivem Intellekt : cum verosecogitat,
non sit quidem in conspectu suo, nee de illa suus formetur obtutus.
Dieser Gedanke hat noch weitere Bedeutung, und ich verweise hier
auf das, was oben bereits über das Verhältnis von cogitare und nosse
332 Kratzer,
gesagt wurde. Haben wir hier bei Augustinus festzustellen vermocht,
daß gewisse Sätze, die Idee Gottes, das Selbstwissen des Geistes immer
bekannt seien, und daß die Seele in ihrer Tätigkeit stets unwandel-
baren Normen unterUege, daß die Seele jedoch bei all ihrer Tätigkeit
immer bloß auf einen Gegenstand sich zu konzentrieren vermag,
den sie aus einer unendlichen Fülle von Vorstellungen herausgreift,
so finden wir hier, wie schon erwähnt, ein Verhältnis zwischen Geist
und Seele ausgesprochen, das dem Verhältnis von Moghchem und
Wirkhchem für das menschhche Be^^^^ßtsein gleichkommt: die Seele
ist Exijlikation, Analyse des im Geiste (memoria) Gegebenen, wodurch
dann, weil durch Apperzeptionsakte (cogitare) erfolgend, notwendig
auch Bewußtsein gegeben ist; darum, wie Augustinus sagt, kein
Bewußtsein von der Selbsterkenntnis der mens, außer durch das
cogitare. Plotin drückt den gleichen Gedanken so aus, daß er sagt,
wir haben die Ideen in doppelter Weise: in der Seele entwickelt und
getrennt, in der Vernunft aber in Einheit (I, 1, 8). AVie die Vernunft,
der Geist sich stets gegenwärtig ist, so schaut und denkt er sich un-
mittelbar (V, 3, 9), und es ist dies ein Denken seiner Selbst, seiner
Inhalte (V, 1, 4), ein Denken, nicht um zu erkennen, sondern ein
Denken, in dem alles Intelligible in wesenhafter Einheit zusammen-
gefaßt und geschaut wird (V, 9, 8; V, 9, 5), die das Bewußtsein schlecht-
hin ist. Denn der Zustand, in welchem wir uns am meisten unserer
selbst bewußt werden, ist der, in welchem das Wissen von uns selbst
und wir selbst eine Einheit bilden (V, 8, 11). Augustinus und Plotin
treffen sich in der Hinaushebung der eigenthchen geistigen Tätigkeit
über das menschliche Bewußtsein vollständig. Der Geist ist die FüUe,
der Reichtum, und er denkt und weiß in seinem eigenen Lichte, die
Seele steht mit ihm in Zusammenhang, um von ihm beleuchtet, zur
Erkenntnis zu gelangen. Dem voüp (nosse, intelhgere) tritt das
diavotlv (cogitare) zur Seite. Der Geist besitzt schon, und zwar im
sichersten Besitz, in untrüghchster Wahrheit: die Seele ist leer, dem
Geiste zugewandt, um Inhalte zu gewinnen, durch Nachdenken sich
zu bereichern; denn Nachdenken setzt voraus, daß man noch nicht
habe (III, 8, 3; V. 1, 4; V, 8, 4), und Plotin bestimmt dieses Haben
näherhin als Haben im Bewußtsein, wie Augustinus, wenn er sagt,
daß der Gebildete viele Wissenschaften habituell besitze, ohne sie
zu denken, ohne sich aktuell jederzeit sich damit zu befassen; und
wie Augustinus den Begriff des cogitare in diesem Zusammenhange
Die Frage nach dem .Seelendualismus hei Augustinus. 338
kennt, so Plotin das :rQ0C)0yj]v lybiv, das dies Denken des Nus in auf-
merksamer Hinordnung auf dasselbe in der Seele erscheinen lassen
solle (V. 1, 12); denn nur dadurch wird die vom Nus in die Seele ge-
langende Wahrheit eine bewußte Wahrheit (IV, 8, 8; 3, 30). Die
Seele muß den Geist befragen, den sie besitzt, den sie aber oft ver-
nachlässigt (V, 3, 9; 1, 12; 3, 3), sie muß zu dem erleuchtenden Prinzip
hinbewegt werden, um sich selbst gegenwärtig zu sein (V, 3, 9). Die
Seele hat den Geist, oder in der Terminologie Augustinus, den Logos,
die Wahrheit, Clu'istus, den Lehrer: nur ergreift sie nicht, was sie hat,
d. h. sie setzt jene Bedingungen der Aufmerksamkeit und Hinordnung
nicht, die gefordert ist, die Wahrheit zu erfassen (I, 1, 11; 2, 4).
Wenn wir auf die eben gemachten Ausführungen einen Bhck
zurückwerfen, so tritt ein beiden Denkern vor allem gemeinsamer
fundamentaler Gedanke hervor, der Gedanke an das Bewußtsein,
an das unmittelbar erlebte, empirische Bewußtsein. Alle Wirklich-
keit, alle Walirheit, alles Leben und Denken, wie es durch die beiden
Begriffe Nus und intellectus repräsentiert ist, hat im eigenthchen
Sinn für den Menschen doch nur Wert, insofern er dieselbe im Be-
wußtsein zu erfassen vermag. Es hegt ein denkendes Prinzip im
Menschen, ein im höchsten Grade bewußtes Prinzip; aber was für
Erfolge sind damit für den Menschen als physisch-psychisches Wesen
gegeben, wenn dieses uns verborgene, denkende Bewußtsein auf sich
beschränkt bleibt, und dem Menschen als Bewußtseinswesen sich
nicht offenbart? Es liegt im Menschen ein Bewußtsein des Geistes
und ein Bewußtsein der Seele, die beide an sich von einander meta-
physisch unabhängig für sich selbst bestehen, so daß also ein Be-
\^^ßtsein, Tätigkeit, Denken bestehen kann, ohne daß damit ein Be-
wußtsein in der Seele gegeben ist; das Eine ist seinem Wesen
nach Bewußtsein, das andere nur durch erfahrungsgemäße
Bedingungen. So sehr* sie mit dieser Auffassung des Bewußtseins
den metaphysischen Duahsmus auch in die Psj^chologie und in den
Menschen hineintragen, suchen sie ihn zu überwinden durch den Be-
griff der Aufmerksamkeit, der inneren Hinordnung, durch den eine
erkennende Erfassung auch der transzendenten Wahrheit niöghch
wird. Muß dem Geiste Bewußtsein beigelegt — ist es unzulässig,
der Seele das Denken ihrer selbst zuzuschreiben, so ist es erst recht
unzulässig, es der Natur des Geistes beizulegen, wenn dieser die Er-
kenntnis der übrigen Dinge zwar hat, zur Erkenntnis und zum Wissen
334 Kratzer,
seiner selbst aber nicht gelangen soll — und nuiß dieses Bewußtsein
als das Bewußtsein im eminenten Sinn des Wortes aufgefaßt werden,
so wird dieses Bewußtsein zum Unbewußtsein in Beziehung auf das
Erfalu'ungsbewiißtsein der Seele, oder mit anderen Worten: es gibt
auf Grund der Beziehung von Geist und Seele Erkenntnisse, Wissen,
die für sich und an sich bestehen in ihrer Einheit, eine denkende
bewußte Intelligenz konstituieren, für den j\lcnschen aber ein un-
l)e\Mißtes Sein darstellen, und als unbewußtes Erkennen an realen
Wert dem bewußten sogar weit voranstehen; es ist der Begriff des
Unbewaißten bei beiden Denkern ein bloßer relativer, und gilt bloß
in Beziehung auf das erfahrungsmäßige Bewußtsein. Es erhebt sich
hier nun die Frage, auf welche Weise die mens oder unter welchen
Umständen die mens aus der bloßen Selbsterinnerung zur aktuellen,
im Bewußtsein reflektierenden Tätigkeit sich selbst gegenüber fort-
schreitet. Die Lösung dieser Frage gibt unser Denker in seinen Dar-
legungen über Bedeutung und Wert des Erfahrungswissens als er-
regender, ermahnender okkasionaler Ursachen. Doch bleibt un-
erklärt, aus welchem Grunde die mens, die sich selbst stets zugewandt
ist, kein Bewußtsein von dieser geistigen Selbstschau hat. Ich konnte
auf dieses Problem im Sinne einer Lösung desselben keine direkte
Bezugnahme bei Augustinus finden, wohl aber die Bemerkung, daß
der Geist Kenntnis von seiner steten Selbstkenntnis und Selbsthebe
erst habe, durch sein Sichselbstdenken, wenn er in De Trin. X, 8, 11
ausführt: interior est enim ipsa non solum quam ista sensibiha quae
manifestae foris sunt, sed etiam quam imagines eorum, quae in parte
quadam sunt animae, quam habent et bestiae, quamquis intelligentia
careant, quae mentis est propria. Cum ergo mens sit interior quodam
modo exit a semetipsa . . . quae vestigia tamquam imprimuntur
memoriae, quando haec quae foris sunt corporalia sentiuntur, ut
etiam cum absuntista, praestosint tamen imagines eorum cogitantibus.
Cognoscat ergo semetipsam, nee quasi absentem se quaerat, sed In-
tentionen! voluntatis, qua per alia vagabatur, statuat in semet ipsam,
et se cogitet. Ita videbit, quod nunquam se non amaverit, nunquam
nescierit, und daß ihm das obenaufgeworfene Problem selbst unlösbar
sei; ibid. XIV, 7, 9: sed unde diu non cogitaverimus, et unde cogitare
nisi commoniti non valemus, id nos nestio quo eodemque miro modo,
si potest dici scire nescimus. XIV, 6, 8: Augustinus verbindet den
psychologischen Begriff des Bewußtseins und der Seele mit dem
Die 1*1 age nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 335
metaphysischen Begriff der Wahrheit, und läßt beide in seinen Seelen-
begriff eingehen. Die einheitliche Bestimmung des Seelenbegriffes
ist für Augustinus selbst, wie wir sehen, nicht ohne Schwierigkeit.
Den Begi'iff des reinen Denkens, der im mens steckt, hat Augustinus
der griechisch-alexancMnischen Philosophie entlehnt, wo er extra-
mentale Bedeutung hatte, und ihn mit dem Begriff der veränderlichen
Seele verbunden, wie ihn das empirische Bewußtsein angibt. Da
zugleich dieses reine Denken dem historischen Ursprünge nach als
die Quelle aller wahi'en Erkenntnis gefaßt wird, so verstehen wir,
daß Augustinus mit Nachckuck die Abkehr von der Sinnlichkeit und
der Welt der Erscheinung, des Scheines, die der reinen Wirklichkeit
gegenübertritt, fordert, und nie müde wird, zur Einkehr in sich selbst
zu ermuntern, wo die inteUigible W^elt, die reine Wahrheit dem Geistes-
auge sich zeigt. Da diese als die volle Wirldichkeit erscheint, so ist
damit notwendig auch der Begriff der Kausahtät gegeben; und dieser
reinen Wirklichkeit gegenüber, die als solche dann auch als höchste
Kausahtät erscheint, hat das geschöpfhche Sein nur untergeordnete
Bedeutung: es ist nur Werkzeug in der Hand der höchsten Ursache.
Alle diese Momente sind in den Seelenbegriff Augustins aufgenommen,
aber nicht zur Konsequenz entwickelt, weil nach dogmatischer Lehre,
die Augustinus vertreten wollte, das reine Denken, der Logos, die
Weisheit, die Waluheit als transzendentes Sein aufgefaßt werden
muß. Die Nachwirkung aber sehen wir noch in der Lehre, daß der
Logos es sei, der den Menschen die Wahrheit vermittle, die walire
Erkenntnis der Seele einstrahle, der in der ratio der Dinge sich
offenbare.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Metz, den 5. März 1915.
Hochgeehrter Herr Professor,
Im ,, Archiv für Geschichte der Philosophie" Band 23, 1910
findet sich S. 338 — 373 der Schhiß der sehr interessanten und be-
lehrenden Arbeit Leo Jordans. S. 338 wird Malebranche zitiert.
Der Autor bemerkt: ,,So also lehrte M., ohne daß es uns leider
gelungen wäre, die Stelle nachzuweisen, wo er dies sagt."
Mit einer Dissertation über Ms. Psychologie beschäftigt, bin
ich in der Lage, die gesuchte Stelle anzugeben und wäre Ihnen
für gütige Vermittlung dieser Mitteilung an den Herrn Autor
sehr dankbar.
Die SteUe steht: ,, Recherche de la verite" hvre 6, partie 2,
chapitre 3. (In Bouillier's Ausgabe Seite 64.)
Mit vorzüglicher Hochachtung grüßt Sie
Dr. E d. S p e h n e r ,
Metz-Queuleu, Rheinische Str. 8.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam.
Von
Prof. Dr. Horten in Bonn.
(Fortsetzung.)
Huart, M. Clement, Textes Persans relatifs a la secte des Homoüfis publies,
traduits et aruiotes par M. C. Hu. suivis d'une etude sur la religion des
houroüfis pai le docteur Rizä Tevfik commu sous le nom de Feylesouf
Riza. Leiden 1909.
Zu den Werken über die Geheimlehren im Islam tritt diese Publikation
Huarts als letzte und bedeutendste hinzu. Sie bestätigt von neuem, daß den
kabbalistischen Spekulationen eine vollständige Philosophie zugrunde liegt.
Eine Reihe von unbekannten Schriften werden hier in persischem Originale
und fi-anzösischer Übersetzung geboten: 1. Das Buch der richtigen Leitung.
Es bringt einige Prinzipien über den Wert und die Berechnung der Buch-
staben. 2. Das Buch der Geheimlehren bespricht die Stellung der Imame.
3. Das Buch der Ziele entwirft ein neu;;iatonisches Weltsystem, wie es aus
Avicemia bekannt ist. Die Geschöpfe bilden, von der Hyle aufsteigend, eine
kontinuierhche Reihe, indem jede höhere Stufe che Vollkommenheiten der
niederen in einer höheren Einheit, vermehrt um eine neue Entelechie, umfaßt.
Der Mensch umfaßt als iVIikrokosmos alle Stufen des Makrokosmos. 4. Kleine
Abhandlungen. ö. Das Atom. 0. Kabbahstische Abhandlungen, die die
altorientalische Idee des Parallehsnius der \\'elten ausführen (Malo-okosmos
gleich Mikrokosmos). 7. Das Buch Alexandeis.
Einen klaren Einbhck in die neuplatonische Gedankenwelt, der Hurufis
gewälu-t uns die Studie des Dr. Rizä Te\^ik, die den Anhang des obigen Werkes
bildet. Fadlallah, 1394 dinch Miränschah, einen Sohn Timms, hingerichtet,
lehrte seinen Schülern folgendes System, das von Ali aläla, seinem Nach-
folger, in dem Orden der Bektaschis verbreitet wurde. Es existiert eine erste
Kraft, die ewig und einfach in sich besteht. Sie spricht ein seehsches, inneres
Wort (Logos) aus, das abstrakt und universell ist. Dieses individualisiert
sich und wird dadurch zum äußeren, d. h. ausgesprochenen Worte, den
28 Buchstaben des arabischen resp. den 32 des persischen Alphabetes. Diese
Buchstaben sind die Elemente, aus denen die Weltkörper, Materie und Form,
und letzthin das Selbstbewußtsein in uns entstehen. Wie die Welt des Logos sind
die universellen Wesenheiten, die platonischen Ideen, solche die sich zirr Gottheit
wie Attribute verhalten. Sie sind nm' dem Wesen, nicht der Zeit nach später
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 3. 22
338
Horten,
als Gott, und den Dingen immanent. Aus ihnen entstehen die materiellen
Dinge wie der Akt aus der Potenz. Die Sinneswelt ist also eine Aktualisierung
der Ideenwelt. Ebenso wie die „Ideen" ist auch ihr Substrat, die erste Kraft.
Gott, in der Sinneswelt immanent imd aktualisiert sich in ihr. Dadiirch, daß
das Unendliche und Absolute sich begrenzt, determiniert ind kontingente
Formen annimmt, wird es (Gott) zm Welt. Die Welt ist also eine Erscheinungs-
form der Gottheit. Ihie 32 Elemente sind Worte Gottes. Gott ist in sich
(S. 248) weder Substanz noch Akzidens. Die Welt beschreibt einen Kreislauf,
indem sie aus dem Logos entsteht und wieder in ihn veisinkt (Nirwana).
Wir werden also am Ende der Dinge zum Logos selbst. Der Mensch ist die
Inkarnation und Personifikation Gottes. Im Tode trennt sich seine Individualität
von seinem Wesen ,,wie die Haut von dem Körper" und es bleibt das absolute
Sein (buddhistisches Nirwana). Wemi die Simieswelt sich tägUch verändert,
so bedeutet dieses nur, daß Gott sich täghch mit einem neuen Kleide umhüllt.
Daß der Mensch eine Erscheinungsform der Gottheit ist, ist die Geheimlehie
des Koran. Besonders bedeutende Inkarnationen Gottes sind die 120 000
Propheten bis auf Fadlallah, der im Mahdi der Endzeiten, dem Anticluist,
wiederkehren wird. Die sinnliche und philosophische Erkenntnis sind un-
genügend. Die mystische Intidtion muß beide vervollkommnen. Wenn in
dem Gottesbegriffe dieser Sekte che Idee der Potenzialität enthalten ist,
die sich zur Welt entfaltet, so ist vielleicht der Umstand für die Entstehung
dieser Lehie besonders zu betonen, daß das W^ort „Kraft" mit dem man Gott
bezeichnete, wie die termini potentia und dynamis sowohl eine Aktualität
als auch eine Potenzialität ausdrückt. Zwei wesentUch verschiedene Begriffe
sind hier in einem Terminus vereinigt. Die Lehre von dem W orte Gottes, die
einen Grundzug der Kabbahstik im Islam bildet, ist ein Ausläufer der spekulativ
theologischen Streitigkeiten der ersten Jakrhunderte des Islam über das \\'ort
Gottes, den Logos (ob es ewig oder erschaffen, getrennt von Gott oder identisch
mit ihm sei). Neben diesen christlich -altorientalischen Einflüssen (Marduk-
idee) laufen indische (Pantheismus, und Lehre von den Existenzformen der
Buddha-Imamlehre) und persische (CJott wird als das Licht, das Böse als
die Finsternis bezeichnet). Die Rehgion der Drusen und Nusairier stimmt
mit der hier entworfenen in den wesentlichen Zügen (abzüglich der Kabbalistik)
überein.
Frank, Dr. Rudolf: Scheich 'Adi, der große Heiüge der Jezidis in: Türkische
Bibliothek, herausgegeben von Dr. Georg Jacob, 14. Bd., 1911, 134 S.
Der Meister Adi (gen. Hakkäri 1163 f) interessiert die Philosophie,
insofern er ein Gegner der spekulativen Theologen liberaler Richtung (der
Mutaziliten) ist. Er leugnet die Willensfreiheit vmd betont die naiven eschato-
logischen Vorstellungen des Islam, die die liberalen Theologen in geistigem
Sinne interpretiert hatten. Trotzdem ninunt er (S. 13) eine liberal-theologische
Ansicht an, daß nämlich der Glaube vermehr bar und verminderbar sei. Da er
eine Tugend ist, gelten von ihm die Gesetzmäßigkeiten, die Aiüstoteles von den
Qualitäten lehit, daß sie vermehrt und vermindert werden können. Diu-ch
die (indische !) Askese gelangt der Mensch dazu, sein eigenes Selbst zu ver-
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 339
iiichten (23, 13) und sich dadm-ch Gott zu nähern, der ,,ihm ein neues Ich
(S. 23, 5) verleihen wird"'. Der Pantheismus und die Seelen Wanderung (8. 41),
die in ihren Ursprüngen auf Indien hinweisen, treten in den Gedichten^)
(S. 100 — 126) und Prosastücken klar hervor z. B. S. 38 Z. 2 mit: ,,In meinem
Geiste (sirr) ist meine Erkenntnis vorhanden, die besagt: keine Gottheit
existiert außer mir (dem Mystiker Adi)". Auch die indische Idee von der
Wiederkehr des Imam (Wiederkehr des Buddha) lebt in dem von Adi ge-
stifteten Orden fort (S. 47). Das sonst deutlich hervortretende Streben
^) Nach philosophischer Terminologie könnten einzelne Verse anders
rt iedergegeben werden (S. 109 V. 4). Mein (unvergängHcher, weil unkörper-
licher) Geist (sirr) war erhaben über die (vergänglichen) Seinsformen (der
Körperwelt: Bewegung, Ruhe, Verbindung und Tremiung) vor meiner
^.lanifestation (in der sublunarischen Welt). Vor der leiblichen Geburt befindet
sich der Mystiker in Gott und der Geisterwelt. Er . präexistiert daher von
Ewigkeit. Der unkörpeiliche Geist ist wie alle rein geistigen Substanzen ewig
in Gott und aus ihm emanierend. Zeitlich erschaffen ist nm- das Materielle
und räimihch-zeitlich Vergehende, was als „Seinsformen" (akwan) bezeichnet
wird. S. 112 V. 5. Da der Mystiker eine Emanation des göttlichen Wesens
ist, besitzt er göttUche Autorität und Macht. Er ist also der Gnadenspender,
der zu Gott führt. „Ich habe die Macht, so kann er sagen, che Menschen zu
Gott hinzuführen und ihnen die Freundschaft Gottes, die Heihgkeit zu ver-
leihen." V. 7: „Ich bin der Gesetzgeber des Sittengesetzes (stehe über der
sitthchen Weltordnung) und erlasse Bestimmungen über das dem Werden
und Vergehen unterworfene Sein (stehe ebenfalls über den Xatm-gesetzen).
V. 10: Die ,, Distanz zwischen den beiden Kurven" ist ein mystischer Terminus,
mit dem Schirazi (1640 f) in seinem Werke: „Die vier Reisen" die teilweise
Vereinigung mit Gott, in der noch ein Zwischenraum zwischen dem Mystiker
und Gott Ijestehen bleibt, also die Vorstufe des vollstäncUgen Xirwanas, be-
zeichnet. Gott ist der Endpunkt zweier Kurven. Die absteigende bedeutet
das Ausgehen der Geschöpfe von Gott nach den verschiedenen Stufen der
Wesen (Geister — Seelen • — Körper). Die aufsteigende Km-ve hat Gott
zum Zielpunkte (nicht wie die absteigende zum Ausgangspunkte), indem sich
alle Geschöpfe wiederum auf Gott hinbewegen und zwar aufsteigend, d. h.
mit zunehmender Vollkommenheit (Körper — Seele — Geist). Dieses ist der
Kreislauf des Kosmos, eine Vorstellung, der als optisches Bild wohl die Sphären-
bewegung zugrunde hegt. Der Zwischenraum zwischen diesen beiden Kmven
ist ein Gebiet v or Gott, nicht das innerste Wesen Gottes selbst, sondern Gott,
insofern er Ausgangs- und Endpunkt der Geschöpfe ist, also in Beziehimg
zu außergötthchen Dingen steht. Schirazi bezeichnet diesen Punkt, der auch
eine mystische Station ausmacht, als Gott, insofern er Xamen und Eigenschaften
besitzt. Diese kommen ihm nur in Beziehung zu den Geschöpfen zu und geben
nicht sein innerstes Wesen wieder. V. 12: Statt „Gunst" ist „Verbindung
und Vereinigung mit Gott" zu setzen. Zu don ^^'under des wandelnden Felsens
(S. 120 u. 126) vgl. man I. Corinth. 10. 4.
99*
340 Horten,
Hakkäris, seine Orthodoxie hervorzukehren, geht wolil aus dem Bestreben
hervor, seine esoterischen, heterodoxen Lehren zu verdecken.
Die vorliegende Arbeit ist eine sehr dankenswerte und fleißige Studie
ül)er einen sehr einflußreichen Ordensstifter und mystischen Orden im Islam
(die Jezidis und Adawija), die uns philosophische Systeme in ihrer Anwendung
auf das praktische Leben — den Orden in Indien zu vergleichen — zeigen.
Vielleicht gelingt es einmal, einer systematischen Darstolhmg ihrer Welt-
anschauung habhaft zu werden.
(Uittmann, Dr. Jakob: Die philosophischen Lehren des Isaak ben Salomon
Israeh. Münster i. W 1911. 70 S.
In die Gedankenwelt der islamischen Philosophie führt uns der jüdische
Ai'zt und Philosoph Israeli, ein Zeitgenosse Farabis. Er vertritt die neuplatoni-
sche Emanationslehre, wie sie von Farabi gelehrt wird. Sogar seine Terminologie
weist auf diesen Philosophen hin, der in seinen Ringsteinen (Nr. 73) die ver-
schiedenen Welten als ,, Horizonte" (ufq) bezeichnet, wie Israeli. — Der Verstand
erkemit das Unveränderliche und Ewige (S. 26 Z. 17 ,, womit die Erkenntnis
der ihrer Natur nach ,früheren' 1. ewigen — arab. kadim — Dinge gemeint
ist." Das „antiquus" der Anm. 2 bedeutet ebenfalls ,,ewig" als Wiedergabe
des genannten arabischen Terminus). Von den spekulativen Theologen des
Islam ist unserem Philosophen Nazzäm (ca. 845) bekannt geworden (S. 76f.).
Er zitiert ihn gerade in einer Lehre, in der Nazzäm selbst sich in einen Wider-
spruch zu verM'ickeln scheint: Die Körper sind aus aktuell unendlich ge-
teilten Teilchen zusammengesetzt. Dieses verstand Israeli in dem Sinne, daß
nach Nazzäm die Körper aus unteilbaren Teilchen beständen. Nazzäm leugnet
jedoch die Atomistik, da diese besagt: Die Körper bestehen aus aktuell endlich
geteilten Atomen. Unteilbar müssen freilich auch nach Nazzäm die letzten
Bestandteile der Körper sein, da eine aktuell ausgeführte unendliche Teilung
nicht weiter fortgeführt werden kann. Darin berührt sich Nazzäm wiederum
mit seinen Gegnern, den Atomisten, von denen er in allen anderen Punkten
weit abweicht. In die Behaiiptung Guttmanns, Israeli habe Näzzam miß-
verstanden, möchte ich daher nicht ohne Vorbehalt einstimmen. Es könnte
sein, daß er diese Lehi'e sehr- gut verstanden und aus ihr eine naheliegende
Konsequenz deduziert habe. Die Studie CJuttmanns ist eine dankenswerte,
von reicher liiteraturkenntnis und gutem Verständnisse der einschlägigen
Probleme zeugende Arbeit.
Besondere Erwähnung verdient eine Sammlung von ijopulärwissenschaft-
lichen Werken, die von L. Cranmer-Byng und S. A. Kapadia herausgegeben
wird. Sie trägt den Namen: ,,The wisdom of the East" und verfolgt den Zweck,
Orient und Occident ,,East and West, the old world of Thougt and the new
ot Action" in nähere geistige Verbindung zu bringen. Um dieses Ziel zu er-
reichen, ist vor allem die Gedankenwelt des Orientes dem Abendlande zu-
gänglich zu machen. Der Kreis der bereits vorliegenden Publikationen er-
streckt sich a\if alle orientalischen Völker, einschließlich Japans und Chinas.
Im Folgenden sollen nur solche Arbeiten dieser Serie bes{)rochen werden, die
sich mit der .spekulativen Gedankenwelt der islamischen Kultm' befassen.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 341
Mystische Gedichte von Sadi (1201 t) legt uns Wollaston, Arthur N.
(Sadi's Scroll of Wisdom; London, John Murray 1906, 63 S., 120) vor. Die
FJinleitung orientiert über die Lebensschicksale des bekannten Dichters und
seine Tätigkeit, während der zweite seine ethischen und mystisch-religiösen
Lehren in gefälliger englischer Übersetzung (aus dem Pand Namah) bringt.
Hadland, Davis führt uns zwei andere bekannte Mystiker vor, Rümi, Galaluddin
(1273 t) und Gämi (1492 f: The Persian Mystics I Jalaluddin Rümi; 1907,
105 S, 12«; II Jami, 1908, 107 S., 12»). Eine Einleitung berichtet in der ersten
Sclu'ift über die persische Mystik, „die Religion der Liebe", Leben und Werke
Rümis und ihre Bedeutung. Auf sie folgen Gedichte aus dem Diwan, den-
Rümi seinem Freunde Schamzi Tabriz widmete, und aus dem Masnavi.
Platonische und pantheistische Gedanken begegnen häufig. Ebenso will-
kommen wie dieses ist das zweite Werk, das über Gämi handelt. Andere
mystische Poesien des obengenannten Sadi enthält das Werk von Cranmer-
Byng: The Rose — Garden of Sa 'di; 1909, 64 S., 12°. In die seelischen Kämjjfe
des bekanntesten islamischen Theologen und Philosophen führt uns die Schrift
von Claud Field ein: The Confessions of al Ghazzali; 1909, 60 S., 12". Die
Angriffe Gazälis gegen die von ihm als Unglaube empfundene aristotelische
Philosophie werden eingehend gewürdigt. In die moderne Bewegung des
persischen Mystizismus, der den Namen Bäbismus führt (ihr Prophet ist Bäb;
1850 t) führt uns die Schrift von Eric Hammond: The Splendour of God,
being extracts from the sacred writings of the Bahais; 1909, 124 S., 12». Durch
,, sieben Täler" führt der Menschen Weg zum Versinken in Gott, dem Nirwana.
Daß die islamische Mystik eine spekulative Weltanschauung enthält, also in
die Entwickhingshnie der Philosophie einzuzeichen ist, lehren diese sehr*
dankenswerten Arbeiten immer von neuem. Den ethischen Inhalt der arabi-
schen Sprichwörter entwickelt Wortabet, John: Arabian Wisdom, selections
and translations from the arabic; 1910, 75 S., 12°. Derselben Sammlung ge-
hören an: Brönnle, Paul: The Awakening of the Soul, from the Arabic of ihn
Tufail, und: Baerlein, Henry: The Diwan of Abul-Ala (al Maarri). Die vor-
liegende Sammlung befaßt sich hauptsächlich mit der mystisch gerichteten
Philosophie des Orientes. Es wäre zu wünschen, daß sie in derselben an-
sprechenden Art auch die rein theoretische Geistesarbeit des ,, Ostens", in
der das Gefühl nicht dieselbe Rolle spielt, wie in der Mystik, in den Kreis ihrer
Veröffentlichungen ziehe.
Horten, Dr. M., Die Gottesbeweise bei Schiräzi (1640 t)- Fin Beitrag zur
Geschichte der Philosophie und Theologie im Islam. Bonn (Cohen)
1912, S. 102.
Die Gottesbeweise Schiräzis enthüllen uns die ganze Eigenart des Denkens
und Deduzierens dieses Philosophen, der der bedeutendste Denker seiner
Zeit ist und auf der Basis neuer und eigener Grundgedanken eine harmoni-
sche Weltanschauung konstruierte. Seine Tendenz ist es, in den Gottes-
beweisen einen terminus medius zu finden, der von Gott selbst nicht ver-
schieden ist. Die vom Wesen Gottes verschiedenen termini, die die herrschende
Philosophie verwendet, z. B. die Bestimmungen der erschaffenen Dinge als
84-2 Horten,
kontingenter, veriu'sachter und zielstrebiger, scheinen ihm Umwege, wenn
nicht gar Abwege yai sein. Der Mittelpunkt seines Beweises ist demnach das
Sein, das sich vom Wesen Gottes nicht wie etwas Fremdes unterscheidet.
Der Beweis selbst ist ferner eine mystische Intuition, kein Rückschluß von
der Wirkung, den (Jeschöpfen, auf die Ursache, den Schöpfer, — und zudem
ein ontologischer Paralogismus, verwandt mit dem des Anseimus: Das Sein
besagt in seinem eigentlichsten Inhalte, daß es seiend, ist also existiert. Gott
ist nun aber das Sein. Folglich muß er existieren. Das Sein der Weltdinge ist
ein unvollkommenes und potenzielles. Das Unvollkommene setzt nun aber
das Vollkommene, und das Potentielle das Aktuelle voraus. Folghch muß es
ein absolut vollkommenes und aktuelles Sein geben. Diese letzte Argumentation
identifiziert Schiräzi seltsamerweise mit dem obengenannten Beweise.
Sie ist jedoch offenbar von diesem dm'chaus verschieden, enthält einen Rück-
schluß von den Geschöpfen auf den Schöpfer und ist mit dem vierten Gottes -
beweise bei Thomas von Aquin zu vergleichen^). Schiräzi täuscht sich, wenn
^) Er besagt: Das Sein ist uns in der Außenwelt als ein stufenweise
geordnetes gegeben. In einer Kategorie, in der begrenzte Stufen vorhanden
sind, muß aber auch ein Absolutes sein, das diese Kategorie per se darstellt,
quia omne quod est per accidens, reducitur ad id, quod est per se. Mit dem
Kontingenzbeweise berührt sich dei Gedanke: Das Sein ist uns in der Außen-
welt als ein veränderliches gegeben. Es muß also ein absolutes, notwendiges,
unveränderhches Sein geben. Dieses absolute Sein per se ist Gott. Herr Prof.
Ign. Goldziher (Budapest) macht mich darauf aufmerksam, daß die Worte
S. 30 Anm. (Mitte): ,,In jedem Dinge ... und einer ist" ein Vers des abul
Atahija (Agani III 143, 9) ist.
Folgende sind die für- che Geschichte der Philosophie im Islam wichtigsten
Tatsachen, die sich aus dem vorHegenden Texte Schiräzis ergeben. 1. Das
Problem, ob eine anfangslose, ewige Kette von Ursachen und Wirkungen
möglich sei, war im Islam deshalb ein so heiß umstrittenes, weil man von ihm
die Möglichkeit eines Gottesbeweises abhängig machte. Schiräzi erkemit
deutlich, daß der Gottesbeweis von dieser Frage nicht abhängen darf. Er ist
daher bemüht, den Gottesbeweis unter Voraussetzung einer ewigen Welt
zu führen. 2. Das System Suhrawarchs wird klargelegt. 3. Ebenso wird die
Theologie (z. B. die Lehre über die Eigenschaften (xottes, die eine einfache
und klare Lösung alter Schwierigkeiten enthält S. 32 f. Anm.) eines modernen
Philosophen, des Sabzawäri, eines Schülers Schiräzis, aufgedeckt (ca. 1800). Er
mag für eine größere oder geringere Gruppe von Denkern typisch sein. Sicher-
hch beweist er, daß auch in der Neuzeit das Verständnis der Philosophie in
Persien nicht erloschen ist. (Vgl. Hugo Grothe: Wanderungen in Pcrsien;
Berlin 1910, S. 153. Im Besitze seiner traditionellen Philosophie fühlt sich der
heutige Perser sogar der modernen, europäischen überlegen, da ihm in seiner
zu Begriffsdichtungen geneigten Intelligenz das Verständnis für nüchterne
Kritik und Empirie abgeht.) 4. Sehr zu beachten sind ferner die kritischen
Ansätze bei Schiräzi. Sorgfältig unterscheidet er in unseren Begriffen das rein
Logische, dem kein Korrelat in der Außenwelt entspricht, und das Reale,
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 343
er behauptet, auch in dieser Ai'gumentation sei Gott selbst der terminus
medius syllogisnii. — Da die Argumentationen Schirazis möghchst wörthch
wiedergegeben werden, erlauben sie uns einen Einblick in seine Denkweise,
die vielfach nicht gerade leicht verständlich ist. Sie setzt Prämissen — viel-
fach unausgesprochene und unbewußte — voraus, die unserem heutigen
Denken fremd sind. Es ist eine verlockende Aufgabe, aus diesen Deduktionen
Schirazis die zugrundeUegenden Begriffe und Lehren (z. B. S. 87 über die
Subjektivität der Zahl) herauszuschälen und sie philosophiegeschichtlich zu
verwerten. In dieser Schrift mußte von der Lösung der genannten Aufgabe
natiu-gemäß abgesehen werden.
das diesen Inhalten entsprechende Wirkliche außer uns. Diese Kritik er-
möglicht es ihm, eine sophi.stische Spielerei zu entlarven, die man gegen den
Gottesbeweis und die Lehre von den Ursachen vorbrachte: Die Summe, die
aus Gott und der Welt besteht, ist Ursache ihrer selbst. Folglich kann ein
Ding Ursache seiner selbst sein. In dieser Stellungnahme bildet Schiräzi eine
Ausnahme in seiner Zeit — ein Beweis dafür, wie sehr man noch in naiv-
reahstischen Konstruktionen befangen war.
Die von Sclüräzi zitierte Literatur ist eine sehr umfangi'eiche. Sie findet
sich in dem Werke: Horten, Das philosophische System des Schiräzi (Straß-
burg; Trübner) S. 279 — 93 vollständig dargestellt — und erlaubt uns einen
Einblick in die Vielseitigkeit des Verfassers und die zu seiner Zeit als bedeutsam
geltende Literatur. In den Gottesbeweisen zitiert er: 1. Faräbi: Ringsteine
86, 10 unt. 40 (Nr. 1; Nr. 9, S. 15 Z. 11 — vielleicht). 2. Avicenna: a) Die
Genesung der Seele, 9. Anm. (Metaphysik); 26, 10 (viel. Metaph. VIII 1);
ö7, 5 (Metaph. \T;II 3 S. 493 meiner Übersetzung); b) Thesen und Erklärungen
(ahschärät mattanbihät) 24, 15. 3. Schahrastäni 1153 t »j^er Bekämpfer
der griechischen Philosophen" 43, 7. 4. Suhrawardi 1191 f: a) ,,Die Philosophie
der Erleuchtung" 8, 18, 12 unt. 18 Anm. 23 .\nm. 28 Anm. 29 Anm. 54 Anm.
b) ,,Die philosophischen Unterhaltungen" 27, 5. 5. Razi 1209 j: „Die mysti-
schen Untersuchungen" 95 unt. f. 6. Tusi: Kritik des Razi: ,, Kompendium
der theologischen Lelii-en" (muhassal) 64 Mitte. 7. Katibi 1276 f: „Die Philo-
sophie von dem Individuum" 27 Anm. 8. Kiischgi 1474 f vielleicht: Kommentar
zu Tusi: Dogmatik (tagrid) 37 Anm. 9. Schiräzi 1640 t: a) Kommentar zu
Suhrawardi: „Die Philosophie der Erleuchtung" 18 Anm. 23 Anm. b) „Das
erste Prinzip und die Rückkehr" 52. 7 unt. 10. Däraäd 1659 f: ,,Die Ent-
lehnungen" 54 Anm. 11. Lahigi 1670 t: „Die aufgehenden Sterne der götthchen
Offenbarung" 54 Anm. — vgl. Kantstudien XVII 482 (Selbstanzeige). Theol.
Litztg. 1912 No. 13 Sp. 4028 (Goldziher). Rheinische Hochschulzeitung 3. Mai
1912. Archiv f. Religionswiss. 1912 S. 560. Deutsche Litztg. 1912 Sp. 1999.
Horten, Die Philosophie der Erleuchtung nach Suhrawardi (11191 f)- Über-
setzt und erläutert in: Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Ge-
schichte. Herausgegeben von Benno Erdmann. Heft 38. S. XI u-. 83.
Die Philosophie Suhrawardis ist dm-chaus keine ephemere Erscheinung
gewesen. Sie wirkte noch im 17. Jahrhundert im Systeme Schirazis (1640 f)
344 Horten,
nach und enthält eine (hirchaus mystisch-platonische Denkweise, die eine
besondere Richtung in der Philosoplüe luid Mystik begründete. Suhrawardi
hat nicht die Absicht, etwas Neues zu scliaffen. Er schließt sich Platu und
den altpersischen ,, Philosophen", d. h. der Lehre Zoroasters an. Als Vorlauter
seiner Richtung haben die mystischen Schriften Avicennas und die sogen.
Theologie des Aiistoteles zu gelten. — Das Sehen findet weder durch eine
Einjnägung optischer Bilder noch eine Ausstrahlung aus dem Auge, sondern
dm-ch eine ,, Erleuchtung" statt, wenn das Objekt dem Auge gegenübertritt.
In der gleichen Weise haben wir das geistige Sehen, das Erkennen zu erklären —
daher der Xame: Philosophie der Erleuchtung. Unter „Licht" versteht
Suhrawardi das Sein und das Geistige. Nimmt das Licht ab, so nähert sich
das reine Sein stufenweise dem körperlichen, der Finsternis. — Suhrawardi
grenzt seine Weltauffassung und Schule scharf von der l. Avicennas — der
aristotelischen Richtung — 2. der pantheistischen Mystiker, der Sufis — einer
indischen Richtung — und 3. der Theologen, sowohl der liberalen al'^ der
orthodoxen ab. Seine Schule bildet daher einen selbständigen Strom in
der Geisteskultm' des Islam. Sie muß also das Recht beanspruchen, eine
selbständige Stellung in der Darstellung der Geschichte der islamischen
Philosophie einzunehmen. Daß diese zugleich eine markante war. beweist
sein Einfluß.
Eine Eigenart dieses Systems ist folgende: Die Ideenwelt Piatos findet
sich hier als die \A'elt der Schemen wieder. Diese bildet eine Stufe des Seins,
die sich unterhalb der Welt der reinen Geister befindet. Ihrem \A'esen nach
sind diese Wesen hypostasierte Phantasiebilder, die bestimmte Dimensionen,
jedoch keine physisch-körperhche Natur besitzen. Sie wirken auf die sublunari-
sche Welt, indem sie einzelne Individua ihrer Spezies dort hervorbringen. —
Die menschlichen Seelen streben einer geistigen Vollendung zu, indem .sie von
der Welt der Körper zu der der Schemen und schließlich der reinen Geister
aufsteigen. In diesem Prozesse beleben sie zeitweilig die Sphären des Himmels
und setzen sie in Bewegung. Im Systeme Schirazis (1640 t) findet sich ebenfalls
dieser Gedanke des beständigen Aufsteigens der Seelen, indem sie eine reinere
Seinsform amiehmen, sich substanziell verändernd. — Die Zitate aus der
philosophischen Literatur sind (besonders in dem Kommentare) sehr zahlreich.
Von Avicenna sind allein vierzehn Schriften, von Schiräzi (1640 t) sieben ge-
nannt. Dadm-ch gewinnt man einen kleinen Einblick in cUejenige Literatur, die
für- die Gruppe um Suhrawardi, die sich als eine eigene Richtung fühlt und
daher als solche zu bewerten ist, von Bedeutung war. Dabei ergibt sich, daß
Tusi (Kommentar zu Aviceima) von den philosophischen „Unterhaltungen"
Suhrawardis (mutärahat; Brockelm. I 437 sub 3) abhängig ist. S. 365 des
Originals wird ferner Abhari (1264 t) -^Is Schüler Avicemias bezeichnet
(Glosse). — Die bildlich-poetische Ausdrucksweise Suhiawardis könnte die
Veranlassung dazu sein, seine Ausführungen nicht in streng philosophischem
Siime zu verstehen. Diese Auffassungsweise ist jedoch ausgeschlossen, da die
Interpretationen der islamischen Philosophen selbst vorüegen — besonders
des Schiräzi (1640 t) (vgl. die Gottesbeweise; s. d. ob. bespr. Buch S. 27
Anm. 28ff. usw.) Von dem Erkennen als einer Erleuchtung „Aufgehen des
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 345
Lichtes Gottes" über dem Mystiker spricht Avicenna an verschiedenen Stellen
z. B. Thesen 182, 3. Er verwendet diesen Terminus (ischräk) wie einen zu
seiner Zeit beieits allbekannten. Er ist daher keine Neuprägung Suhrawardis.
— Füi" die Terminologie ergibt sich, daß ruwäk (oder riwäk) die Akademie,
also erruwakijün che Piatoni ker bedeutet. Daß dieser Terminus je nach
dem Kontexte auch die Stoiker, wie man ihn früher immer übersetzte, be-
deuten kann, soll damit nicht ausgeschlossen sein. — Der S. 50 A. genannte
ihn Malka (1155 t) (Brockelmann I 460 Xr. 9), in den Originaltexten abul
Barakat genannt, ist der bekamite Kritiker der griechischen Philosophie, der
A'on den Arabern stets mit großer Achtung (vgl. Archiv XXII 413 Nr. 32
und 416 Xr. 9) genannt wird. Sein Werk: ,,Das Beachtenswerte" (d. h.
das zu Beachtende, dasjenige, was der griechischen Pachtung als eine Warnungs-
tafel vorgehalten werden soll und an dem sie nicht achtungslos vorübergehen
könne) hat einen großen Einfluß auf die islamische Spekulation ausgeübt. —
ad 38 A. 3 unt. Die Xaturkraft der Sphären ist keine solche, wie die der
sublunarischen Dinge, die eine geradUnige Bewegung hervorbringt, sondern
eine eigenartige, die nur eine Bewegung der Lage nach, also eine kreis-
förmige erzeugt, allerdings nicht aus sich, sondern unter Einwirkung eines
,,von der Materie getrennten" d. h. reinen Verstandes. — S. 53 A. 6 unt.
ist statt Turteltaube Ringeltaube zu setzen. In Hadimäni S. 3 muß wohl,
wie mir Prof. C. F. Seybold freundlichst mitteilt, Manes (Mäni) stecken, in
Matarbus -vielleicht Dimetrius. Munägät S. \ 20 bezeichnet den intimeii
Verkehr der Seele mit Gott, ist also (nach einer freundlichen Mitteilung von
Prof. Hartmann, Berlin) am besten mit „Zwiesprache" zu übersetzen. Statt
„mekkanischen Eroberungen" ist: ,,mekkanische Erleuchtungen", vielleicht
sogar .»Erscheinungen Gottes" zu setzen.
Gabrieli, La Risälah di Qusta b. Lüqa suUa differenza tra lo ><pirito e Taninia
in: Rendiconti della Reale Accademia dei Lincei. classe di scienze;
Roma 1910; 622 ff.
Die in dieser Abhandlung entwickelten Lehren, deren Quellen Galenus
Hippokrat, Aristoteles und Plato besonders angegeben werden, bilden eine
Vorstufe derjenigen Lehren, die später Farabi und Avicenna vertreten. Die
Terminologie bezeichnet ebenso eine Übergangsstufe zu jener späteren Ent-
wicklung, z. B. wild mit Spezies dasjenige bezeichnet, was später das spezies-
bildende Moment ist. Die vorstellende Phantasie (phantasia in der Scholastik)
wird von der kombinierenden Phantasie (imaginativa in der Scholastik) nicht
genügend unterschieden. Die Prinzipien für die Lokalisierung der inneren
Sinne sind dabei dieselben, wie die der späteren Zeit. Bei Kosta sehen wir
diese Lehre also in einer sehr interessanten Phase ihres Werdens begriffen.
Bauer, Dr. Hans. Die Psychologie Alhazens auf Grund von Alhazens Optik
dargestellt in: Beiträge zm' Geschichte der Philosophie des Mittelalters.
Münster i. W. 1911. S. VIII -J- 72.
Die Bedeutung des ibn al Haitam (1038 t) für die Optik und Psychologie
ist vielfach sehr unterschätzt worden. Manche moderne Gedanken hat er
trotz der sehr unvollkommenen experimentellen Mittel seiner Zeit mit über-
o46 Horten,
raschender Klarlicit erkannt, z. B. die Gesetze der Farbenmischung rotierender
farbiger Sektoren, den Grundgedanken des Webersehen Gesetzes, daß ein
Reiz einen bestimmten Schwellenwert überschreiten muß, um wahrgenommen
zu werden — daß der Unterschiedsschwellenwert von der Größe des bereits
vorhandenen Reizes abhängt — daß die Erkenntniszeit von der Wahrnehmungs-
zeit verschieden ist — daß die Farbenempfindung bei Helladaptation eine
andere ist als bei Dunkeladaptation (das sogen. Purkinjesche Phänomen).
Von psychologischem Interesse sind besonders die Aufstellungen Haitams
über die Apperzeption, die Raumanschauung (trotzdem das Sehfeld ein flächen-
haftes ist) vmd die Allgemeinvorstellungen (formae universales). Das was viele
Vorstellungen individueller Gegenstände Gemeinsames besitzen, haftet als
ein einheitliches, vielfach unbewußtes Bild in der Seele. Es ist in sich un-
bestimmt, wird in der aktuellen Wahrnehmung an den entsprechenden Emp-
findungsinhalt diu'ch einen unbewußten psychischen Vorgang herangetragen
und ergänzt ihn apperzeptiv. Das Erkennen eines Gegenstandes ist eine
Subsumierung unter seine forma universalis. Auch dm-ch assoziative Er-
gänzung ist ein Erkennen möglich.
Dem Verfasser, Dr. Bauer, ist es in dieser fleißigen, wohl durchdachten
und systematischen Arbeit gelungen, ein klares und abgerundetes Bild der
optischen und zu diesen in Beziehung stehenden ps5'chologischen Lehren
Haitams zu entwerfen. Dadm'ch hat er zugleich eine Lücke in der Geschichte
der Philosophie im Islam in dankenswerter Weise ausgefüllt. Seine Arbeit
zeigt zugleich, welch reiche Schätze in den bereits vorhandenen lateinischen
Übersetzungen von Werken Haitams für denjemgen, der sie zu lesen versteht,
vorhanden sind. Möge diese Arbeit die Veröffentlichung neuer Original-
schriften am-egen.^)
^) Die folgenden Iritischen Bemerkungen bittet mich Dr. Karl Lokotsch
(Cöln) anzufügen. Zu pag. 1, Anmerkung 2. Es heißt hier: „Dieses Werk
(sc. die Kreisquadratur des Ibn al-Haitani) ist leider bis jetzt noch nicht
bearbeitet, trotzdem es, wie Cantor voraussetzt, manches Interesse bieten
wird (M. Cantor, Gesch. d. Math.^ I, 744)." Ein Blick in das zwei Seiten vorher
(pag. VII unten) und einige Seiten weiter (pag. 6 oben) nochmals als Quelle
zitierte Werk von Heinrich Suter, „Die Mathematiker und Astronomen der
Araber und ihre Werke", Leipzig 1900, würde den Verfasser belehrt haben,
daß seine Bemerkung nicht richtig ist, wie denn auch in der 3. Auflage des
Cantorschen Werkes, die übrigens 3 Jahre vor dem zu bespiechenden Buche
Bauers erschien, die betieffende Notiz durch eine andere richtigere ersetzt
ist. Tatsächlich hat Suter die „ Kreis quadratur des Ibn al-Haitam" nach zwei
Berliner Handschriften, Codex Mf 258 und Mq 559 (5941), die er bereits 1898
im dritten Hefte der (Enestroem) Bibliotheca Mathematica beschrieben hatte,
und der von Bauer erwähnten Vatikanischen Handschrift, Codex Vatic.
CCCXX (Catal. v. Angelo Mai 1831, pag. 467), im arabischen Originaltexte
nebst einer deutschen Übersetzung und sachhchen Anmerkungen heraus-
gegeben: (Schlömilch) Zeitschrift für Mathematik und Physik XLIV. 1899.
Histor.-literar. Abteihuig pag. 33—47. Die Erwartung Cantors sowie anderei-
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 347
Mathematiker, daß diese Abhandlung des Ibn al-Haitam besonders Inter-
essantes bieten 'würde, ist allerdings arg getäuscht worden, da sie nur von
einigen bereits von griechischen Mathematikern korrekter vorgetragenen
Xäherungsmethoden zur Quadratiu' besonderer krummliniger Figm'cn handelt,
wobei hier und da einige übrigens verfehlte philosophische Spekulationen an-
gebracht werden. Zu pag. 8 unten. „Ein sicherer Nachweis des Reflexions-
gesetzes liegt vor, da die mathematischen Hilfsmittel seiner Zeit ausreichten,
während dieselben für die Feststellung des gesetzHchen Zusammenhanges
zwischen einfallendem und gebrochenem Lichtstrahl versagten, da hier die
Keimtnis der Sinusfunktion notwendig ist." Hierzu ist zunächst zu bemerken,
daß die Funktion sinus bereits den Indern bekannt war, z. B. häufig in der
Sürya Siddhanta (4. oder 5. Jahrhundert) — cf. die Ausgabe von Bm-gess
mit englischer Übersetzung, nebst Anmerkungen von \^'hitney. In Journal
of the American Oriental Society. VI. Xew-Haven 1860. pag. 141 — 498 —
und in den Werken des Aryabhatta (geb. 476) vorkommt. Bei den Arabern
wmde che Sinusfunktion zuerst von Albategnius (f929: Muhammad ibn
(Täbir ibn Sinän abü 'Abdallah al-Battäni) eingeführt; im 3. Kapitel seiner
Sternkunde, welches eine Trigonometrie enthält, wendet er den sinus regel-
mäßig an. Zm Zeit des Ibn al-Haitam ^ca. 1000) muß sie bereits so allgemein
bekannt gewesen sein, daß dieser Begriff sogar schon in die auf mathemati-
schem Gebiete immerhin mehr ,, populär" geschi'iebenen Abhandlungen der
lauteren Brüder (Ihwän as-safä") aufgenommen wurde. Übrigens ist che von
Alhazen gegebene tabellarische Übersicht über das Verhalten des Strahles
beim Übeigang von Luft in Wasser sicherlich im Anschluß an die im Almagest
des Ptolemaeus angegebene Aufstellung entstanden. Dieser Alexandriner
hatte nämUch experimentell die zu den Einfallswinkeln e = 0°, H»", 20*' . . . 80"
gehörigen Brechungswinkel/? = O", 8°, lö^o^ .... 50" festgestellt. Zu pag. 8
Anmerkung 5. Man vergleiche auch noch vor allem M. Baker, Alhazen' s
problem. Its bibliography and an extension of the problem. In (Sylvester)
American Joiunal of mathematics. IV. Baltimore 1882. pag. 327 — 332. Zu
pag. 10 Mitte. Das heutzutage unter dem Xamen „Huygenssches Prinzip"
bekannte Prinzip Heber das „Alhazensche Prinzip" neimen zu wollen,
geht doch wohl nicht an, da zwischen beiden ein wesenthcher Unterschied
besteht: Während Alhazen lehrt, daß von jedem (sc. tatsächlich vor-
handenen) Punkte eines gesehenen Körpers, möge dieser nun selbst -
leuchtend sein oder nur in reflektiertem Lichte erscheinen, Licht nach allen
Seiten hin ausgeht, besagt doch das Huygenssche Prinzip, daß man jeden
(also auch materiell nicht vorhandenen) Punkt einer jeden (sc. fiktiven)
Wellenfläche als Ausgangspunkt einer neuen Wellenbewegung betrachten
kann, ein Prinzip, das doch weit allgemeiner ist als das von Alhazen mit-
geteilte. Im Literaturverzeichnis, das übrigens den Einch'uck der Voll-
ständigkeit hervorruft, vermißt man: R. Wolf, Geschichte der Astronomie.
München 1877. pag. 151 sqg. — A. Heller^ Geschichte der Physik von Aristoteles
bis auf che neueste Zeit. Stuttgart 1882. T, pag. 167 scjg. — M. Steinschneidei,
Xotice sur un ou^Tage inecht d'Ibn Haitham. Supplement. In (Boncompagni)
BuUetino di bibliografia e cU storia delle scienze matematische e fisiche XVI.
Roma 1883. pag. 505—513.
348 Horten,
Die islamische Philosopliie ist die Fortsetzung der hellenistischen. Diese
Ideenverwandtschaft tritt besonders deutlich in dem Werke zu Tage: Rudolf
Asmus: Das Leben des Philosophen Isidoros von Damaskios (ca. 470) aus
Damaskus (Leipzig, Meinei 1911). Man befindet sich hier in demselben Welt-
bilde wie 300 Jahre später in der arabischen Kultmwelt. Die mystisch-weit -
flüchtige Richtung tritt deutlich vervor. Der Einfluß der Brahmanen (8. 42)
ist deshalb besonders beachtenswert, weil er einen Präzedensfall füi die späteren
indischen Einflüsse auf den Islam bietet. Als befremdlich oder gar undenkbar
kann man diese also nicht mehr bezeichnen.
Der Einfluß der islamischen Philosophie auf die jüdische fand im
XIII. Jahrhundert besonders durch Hillel von Verona (ca. 1295 f) statt.
Dr. Max (Teyer schildert in einer wertvollen Dissertation die Tätigkeit und
Bedeutung dieses Denkers nach seinem Werke: „Die Vergeltung der Seele"
(Frankfurt a. M. 1911. tJbersetzung von Kap. I bis IV mit historischer Ein-
leitung). Dmch diese Schrift werden wir mitten in die averroistischen Streitig-
keiten über das Wesen dei Seele geführt, die zur Zeit eines Thomas von Aquin
bis zum Ausgange der Renaissanze-Philosophie die Geister so sehr erregten.
Es ist eine im wesentlichen durchaus homogene Geisteswelt, die im Mittel-
alter den islamischen, jüdischen und christlichen Kulturkreis umspannte.
Die Araber waren dabei das gebende und vorherrschende Element, zu dem
die beiden anderen Kulturkreise — zunächst wenigstens — sich empfangend
verhielten. Man glaubt islamische Philosophen zu vernehmen, wenn man
die Schrift Hillels liest. Die hebräischen Ternnni sind vielfach direkt aus dem
Arabischen übernommen. Auch die deutsche Übersetzung, die an manchen
Stellen dunkel ist, ist des öfteren nur durch ein Zurückgehen auf das Arabische
verständlich.
Horten, Dr. M., Die philosophischen Systeme der spekulativen Theologen
im Islam nach OriginalqueUen dargestellt. Bonn 1912. XIII und 606 S.
Die älteste Phülosophie im Islam stellt sich dem erstmahgen Beschauer
als ein dirrchaus unwegsames Gebiet dar. Die dem Blicke zimächst entgegen-
tretenden Lehren sind so seltsam und befremdend (z. B. Muammar, Nazzam
und abu Haschim), daß sie unfaßbare fata niorgana zu sein schienen. Haar-
brücker versuchte vergeblich die Übersetzung von Schahrastani. Mit griechischen
Ideen lassen sich die Gedankenkon>truktionen eines Muammar und abu
Haschim, die Lehre von der Momentaneität des Seins und der Realität des
Nichtseins wie auch die mystische Nirwana-Lehre nicht aufklären. Die in-
dische Gedankenwelt mußte (mit der persischen und christlichen —
Logoslehre) herangezogen werden. Nun liegt auf eimnal alles klar zutage
\md alle Lehi'en entwickeln sich ganz natürhch. Daß Mesopotamien und Persien
unter einem dreifachen Einflüsse stehen müssen — dem griechischen, persischen
vmd indischen (daneben sekundär dem christlichen und jüdischen) — konnte
man (vgl. Kremer) fast a priori mit Sicherheit voraussetzen. Die Anaylse
der Gedankenkonstruktionen der Zeit von 800—1000 in jenen Ländern erweisen
die genannte Voraussetzung als den Tatsachen konform: die Vorstellung von
der Momentaneität der Akzidenzien (sogar Substanzen) ist wie die der Diver-
s
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 349
sität der Dinge dem Systeme der Sauträntika (direkt oder wohl wahrscheinlicher
indirekt) entlehnt, die von der (infiniten) Inhaerenz und dem eigenartigen
Inhaerenzverhältnisse, ferner der Realität des Xichtseienden dem Systeme der
Waischesika. Die indischen Skeptiker treten als öumanija auf, die zoroastrischen
Lehren (die beiden kontraeren Reihen des Parsismus Licht, Gutes — Finsternis,
Böses) in Systemen wie dem des Nazzam usw. Sogar atheistische Astral-
lehren scheinen im Weltbilde der Dahriten vorzuliegen: Die ewig kreisende,
unerschaffene Himmelssphäre regiert das Weltall. Sie ist die Gottheit.
Die Schwierigkeit, diese Gedanken herauszuschälen, ist zunächst eine
philologische, indem die Lexika zum Verständnisse der philosophischen Termini
nicht ausreichen. Verschiedene Quellen mußten verglichen werden (Murtadas
Munja, Bagdädi, Schahrastani usw.), bis aus der Vergleichung von Parallel-
telien der eigentliche Sinn der manchmal orakelhaften Formulierungen sichtbar
Avurde. So gewannen die Gedankengebilde jener F^ülizeit des Islam dmch
mühsame Vergleichung verschieden gefärbter Berichte langsam Umrisse und
Gestalt, so daß man sie als Systeme der spekulativen Theologen bezeichnen
kami. Durch seine Buntheit imd Eigenart haben jene Systeme besonders in
der verschiedenen Beleuchtung anders orientierter Quellen etwas Reizvolles
und ist die Analyse ihrer Gedankendichtungen in mancher Hinsicht fessehid.
Die Eigenart der Vermischung griechischen und indischen Geistes konnte man
nicht vorher ahnen. Man muß die Berichte der Quellen selbst wieder und wieder
lesen, um sich in jene fremdartige Geisteswelt hineinversetzen zu köiuien.
Vielfach trifft man auf Diskussionen, die als wichtige, ja fundamentale be-
handelt werden, ohne daß ihr selbst relativer Wert einleuchtet. Dieses gilt
z. B. von den heftigen Dislcussionen darüber, ob die Erkenntnisse dadiu-ch
wirklich werden, daß sie in einer ganz bestimmten Weise auftreten, oder nicht.
Zunächst liegt die Schwierigkeit darin, diese Gedanken nachzudenken und
ihren Sinn zu erfassen (vgl. die Erkenntnistheorie des abu Raschid; Archiv
Bd. 24 S. 433 ff.), dann, sie in die Weltanschauung ihres Urhebers einzughedern.
Aus Vergleichen mit verwandten Diskussionen auf andeien Gebieten ergibt sich,
daß es sich dabei um eine Lehre der Sauträntika handelt, che die Schule von
Bagdad zu der ihrigen gemacht hat (Kabi; Lehre von der Diversität der Dinge),
während die Schule von Basra sie bekämpfte. In diesen Ideenzusammenhang
gestellt, lautet sie: Die Dinge verhalten sich nicht etwa so, daß sie verschiedene
Arten eines oder mehrerer Genera bildeten, sondern jedes ist für sich gleichsam '
ein „Genus", also generisch von allen anderen unterschieden. Als ein besonderer
Fall dieses allgemeinen Gesetzes sind unsere Erkenntnisse generisch verschieden,
divers. Dem gegenüber behauptete die Schule von Basra: Un-sere Erkermt-
nisse entstehen dadiu-ch. daß sie innerhalb eines Genus in besonderen Spezies
wirklich werden. Nunmehr ist die Bedeutung dieser Thesis verständlich: Es
handelt sich um ein das ganze Wirkliche beherrschendes Seinsgesetz (ob
Diversität oder Verwandtschaft im Wesen) und um die Erkenntnistheorie. Die
Schwierigkeit des Verständnisses gerade dieser ältesten Periode wird dadurch
zu einem sehr mühevollen, daß sie noch keine gleichbleibende imd präzise
Terminologie ausgebildet hat. In langen Sätzen muß das ausgedrückt
werden, was Avicenna und che Jüngeren in wenigen Worten wiedergeben.
350 Horten,
Trotzdem hat man sich zu liüten, die Ausdrucksweisen einer jüngeren Zeit an
die Stelle der älteren zu setzen, weil dadurch die Eigenart der Begriffsbildung
dieser allzu leicht verwischt Averden könnte.
Die theologischen Kreise im Islam waren besonders in den ersten
Jahrhunderten der Religion des Propheten (bis 1000) und sind zum Teil heute
noch für die höhere Geisteskultur maßgebend. Ihr geistiges Leben muß also
in erster Linie in Betracht kommen, wenn es gilt, die Entwic^klungslinie der
höheren Geisteskultur im Islam zu zeichnen. Die Eigenart und Intensität
dieses Lebens verdient also eine besondeie Darstellung. Die Quellen denselben
sind ziemlich zerstreut und auch viel jünger als die berichteten Ereignisse.
Daher ist es erforderlich, Quellen verschiedener Färbung und Tendenz zu
sammenzuhalten, um den subjektiven Faktor der Berichte um so leichtei
ausschalten und zu den eigentlichen Tatsachen vordringen zu können. Bagdadi,
ihn Hazm und Schahrastani schildern vom orthodoxen, Murtada vom libe-
ralen Standpunkte. Wenn beide Richtungen gemeinsam eine Lehre berichten,
kann man demnach mit Sicherheit armehmen, daß es sich um tatsächliche
Vrrhältnisse handelt.
Die vorüegende Veröffentüchung will zunächst nur eine Vorarbeit liefern.
Sie ist sich bewußt, daß in anderen Quellen noch reichliche Nachrichten ent-
halten sind, die das Bild noch bedeutend vervollständigen werden. Die wichtigen
Angaben der „Stationen" des Igi (1355 j) wurden nicht aufgenommen, weil
eine vollständige Übersetzung dieses bedeutsamen Werkes islamischer Philo -
sopliie geplant ist. Andere Quellen sind die Schriften über das Sekten-
wesen im Islam (vgl. ZDMC!. Bd. 65 S. 349ff.), die Korankommentare
und Erläuterungen von Traditionen, also eine immense Literatm-, die zu
durchsuchen wäre. Erst nachdem diese wenigstens zum giößeren Teile er-
schlossen ist, kann man die einzelnen Systeme der alten Theologen vollständiger
rekonstruieren und die Geisteskämpfe des jungen, mit einer hohen Kultur
zusammentreffenden Islam (ca. 800—1000) klarer überschauen. Eine kurze
^Vndeutnng der Hauptphasen der Entwicklung dürfte vielleicht erwünscht
sein. Von 800— ÜOO macht die liberale Richtung (wohl aus Opposition gegen
die bildungsfeindhche orthodoxe) eine sehr große Bewegung nach links, in-
dem sie Elemente aufnimmt, die vom Islam als Fremdkörper empfunden
werden müssen. Diese heretische Tendenz führte schließhch zu der Apostasie
'des Rawendi (915 f). Es scheint, daß dieser epochemachende Vorgang die
liberale Richtung zur Selbstbesinnung brachte, ihr die Augen über „Glaubens-
gefahren" öffnete, der sie zusteuerte, imd die Veranlassung war, einen etwas
orthodoxeren Kurs einzusehlagen. Von dieser neuen Bewegung war Aschari
(935 t) getragen, der wie ein Pro])het seine frühere Schule, die Liberalen, die
er verUeß. auf die Gefahren ihres Unterfangens, den Glauben wissenschaftUch
zu durchdringen, hinwies. Von ca. 900—1000 wird die Richtung also eh\e
weniger extrem Uberale. Jedoch drangen indische Gedanken ein, die eine neue
Gefahr für den Islam bedeuteten. Diese zMeite Krisis fand in der „Apostasie"
des Ahdab (ca. 1010 t) ihre Entladung, der lehrte: „Das Dasein tritt aus
innerer Kraft, auf Grund eines unkörperliehen Inhaerenz zu den Wesenheiten der
Dinge hinzu. Ein Schöpfer ist zu Erklännig der Existenz der Welt also nicht
■T
Jahresbericht über die Philosophie im Islam, 351
mehr erforderlich"'. Die Existenz Gottes ist für Ahdab eine überflüssige Hypo-
these — eine Lehre die einer Apostasie vom Islam gleichkommt. Freilich wird
nicht berichtet, daß er den Islam in derselben scharfen Weise wie Rawend-
in der „Smaragdkrone" angegriffen habe und formell aus ihm ausgetreten sei.
Die Quellen beeilten sich jedoch , bei der Erwähnung Ahdabs zu bemerken,
daß seine Lehre (die rein indisch ist) den giößten Sturm der Entrüstung ent-
fachte. Zur Zeit dieser Käm^ife gewami nun die griechische Gedankenwelt
einen entscheidenden Einfluß auf die Theologie, der seitdem ständig wächst.
Bei abul Husain von Basra (ca. 1040 |) sieht man schon deutlich die Stoßki-aft
iler Gedanken^^elt Avicennas, die den Strom der theologischen Spekulationen
aus seiner Richtung warf. Dieses griechische System hatte die heilsame Wirkung,
Scheinprobleme und illusorische Diskussionen abzuschneiden und auszuschalten
und die denkenden Köi)fe mit der realen Welt mehr in Kontakt zu bringen. Die
indische Philosophie hatte die Gefahr mit sich gebracht, die islamische Speku-
lation in luftige Gebilde und Phantome zu verflüchtigen (vgl. die Getreuen von
Basra IV 170, 12) „in rein eingebildete Probleme, denen in der Außenwelt
kein reales Wesen entspricht".
Die vorhegende Studie will also nm- eine vorläufige Pionierarbeit sein.
Die Tatsachen und Quellen sind so umfangreich, daß aus beiden nm? ein ver-
hältnismäßig kleiner TeU berücksichtigt werden konnte. Das meiste bleibt
noch zu tun übrig, und erst eine spätere Zeit wird auf diesem Gebiete die aus-
gereiften und fertigen Früchte dei Erkenntnis pflücken können. Ob das Bild
im einzelnen so bleiben wird, hängt von der Erscliheßmig weiterer Quellen ab.
Zu diesen sind neben den biographisch-chronologischen, soweit sie aus
Mangel an Raum unbenutzt bleiben mußten, besonders die philosophischen,
die die Doktrinen entwickeln und über sie diskutieren, z.B. Auüdi (1233^),
„Die ErstHngsfrüchte der Gedanken", die \^'erke Razis usw. zu verwerten —
Ausgeschlossen war es, die späteren philosophierenden Theologen Gazali usw.
in diese summarische Darstellung hineinzuziehen; denn die Darstellmig
der Lebenstäligkeit eines jeden von ihnen erfordert einen eigenen Band. —
Die spekulative Bedeutmig der aufgezählten orthodoxen Theologen ist von
sehr- verschiedenem Werte. Die ultraorthodoxen dürfen nicht ausgeschlossen
werden, wenn sich philosophische Lehren in ihren Schriften finden. Wenn diese
Schattierungen entfernt werden, wird das Bild einseitig. Daher darf ibn Hazm
nicht ganz übergangen werden. — Rawandi hat viele giiechischen Züge.
Es wäre aber ein schweres Mißverständnis, ihn in die Reihe der rein griechischen
Richtung einzuordnen, da er seinem Wesen- nach Theologe ist und er von
seiner Zeit auch als solcher verstanden wird. Deutüch tritt überall hervor,
wie stark manche Theorien an indische Gedanken erirmern. Wenn man in
Rücksieht zieht, daß Vertreter der indischen Philosophie unter den MusHmen
in Persien lebten (die Sumanija), wird man der Behauptung, es hege ein
direkter indischer Einfluß vor, rücht entgegenhalten können: die QueUen-
schiiften der indischen Philosophie seien nicht ins Arabische übersetzt worden.
Die lebendige Übertragung arabisch sprechender Inder hat hier den Einfluß
vermittelt.
Man konnte vermuten, die MutaziUten (die Kberalen Theologen), die
352 Horten.
ja theoretisch freieren Ideen das Wort reden, seien praktisch auch in»
liberalen Sinne wirksam gewesen. Es ist jedoch ein sehr charakteiistisches
Zeichen für die geistige Unreife dieser llichtung, daß sie ihre wissenschaftlich
freiere Auffassung vielfach mit großer Intoleranz verbanden (Goldziher:
Vorlesungen über den Islam. S. 117. und Becker: ChiistUche Polemik
und islamische Dogmenbildung. Zeitschr. f. AssjTiol. XXVI 190). Um
diesen Tatsachen gerocht zu werden, ist es geboten, zwischen den Begriffen
liberal und tolerant scharf zu unterscheiden. Sind doch liberale Rich-
tungen (in bezug auf die Theoiie) häufig sehr intolerant in der Praxis.
Die Scholastik der Dominikaner bildet zweifellos eine doktrinärliberale
Richtung, insofern sie der nichtchristlichen Wissenschaft Einlaß in die
cliristhche Theologie gewähren. Dabei sind sie zugleich die Inquisitoren!
1) Herr Prof. (loldziher hatte die FreundUchkeit, mir folgende Berich-
tigungen mitzuteilen, S. 52, 6 ibn Sabä st. ihn es Sandr,, ib. Z. 14 Salmagani
St. Salamkani, S. 102, 8: Die Samaritaner erwarten natürlich ihren eigenen
Propheten. Diese ihre Hoffnung deuteten die Muslime, so schien mir nach
den Quellen, auf ihren Propheten. In diesem Sinne klammerte ich das Wort
„Muhammad" hinter Prophet ein. S. 566, 4: Dunas st. Dutäs (vgl. Goldziher:
Zahiriten S. 116 A. 1 Z. 4 uut.). S. 383 unt. möchte Prof. G. makälat in dem
Sinne von akwäl „Lehrmeinungen, Schulrichtungen" fassen. Vgl. Kant-
studien XVII 481 f. Deutsch. Litztg. 1912 Sp. 1993. Der Islam III 404—09.
Die dort aus dem Mangel an philosophischer Einstellung seitens des Kritikers
sich ergebenden Mißverständnisse werden ib. V 226—237 berichtigt.
(Fortsetzung folgt.)
Rezensionen.
M. Makarewicz, Die Grundprobleme der Ethik bei Aristoteles (221 S.)-
O. R. Reisland, Leipzig. 1914.
Der Verfasser dieser Schrift hat eine Aufgabe erkaiuit, die schon seit
langem vergebens ihrer Lösung harrt. In der Tat muß Aristoteles einmal
vor der Geschichte gerechtfertigt und der Ewigkeitsgehalt aus seiner Ethik
herausgeholt werden. Leider aber wird man bei der Lektüre des genannten
Buches finden, daß Verf. dieser Aufgabe nicht oder noch nicht gewachsen ist.
Er hat zwar Aristoteles fleißig gelesen, aber dieser Fleiß ist leider darum \\n-
fruchtbar geblieben, weil er bei weitem nicht fest genug in den Problemen einer
wissenschaftlichen Ethik steht, wie wir sie heute sehen. Freilich sehen wir ja
heute die Probleme sehr- verschieden, aber unerläßlich wäre es gewesen, sich
die Probleme der Ethik Kants klar zu machen; ohne daß dies geschehen wäre,
kann man doch nicht Kant von Aristoteles her widerlegen wollen. Daraus
erklärt sich natm-gemäß die große Unklarheit des Buches und die dem Leser
immer wieder empfindlich begegnende Verwechslung der psychologischen und
der rein philosophischen Untersuchung der Probleme. Hier ist Klarheit umso
nötiger, wenn es sich darum handelt, che Ethik des Aristoteles auf ihren
dauernden Wert zu prüfen. Denn die volle Klarheit ist bei Aiüstoteles noch
nicht vorhanden, obwohl sie im letzten Grunde schon wirkt. Hätte Verf. sich
größere systematische Klarheit verschafft, dann wären ihm einige Stellen
nicht entgangen, die er so trotz seines großen Fleißes übersehen hat — Stellen,
die auf tiefste Probleme hinweisen und erkennen lassen, wie hoch Aristoteles
als wissenschafthcher Ethiker zu stellen ist. (Da ich an anderem Orte eine
eingehende Darstellung hiervon zu geben beabsichtige, verzichte ich jetzt
auf weitere Hinweise).
Eine Untersuchung der ethischen Probleme bei Aristoteles muß m. E.
so angelegt sein, daß 1. die Geschichte der Probleme bis Ai'istoteles angedeutet,
daß die Stufen angegeben werden, welche zu des Ai'istoteles Lösung führen.
Nur so läßt sich die Bedeutung der von Aristoteles behandelten Probleme
erfassen. Er hat ja selbst durch die Anlage seiner Werke gezeigt, wie hoch er
eine historisch-genetische Betrachtung anschlägt. 2. ist zu zeigen, welche
Stellung das einzelne Problem und die von Aristoteles ihm gegebene Lösung in
der Geschichte des menschlichen Denkens überhaupt einnimmt. Also: Rück-
blick und Ausblick sind bei der Darstellung unvermeidlich 1. zum Verständnis
des Denkers selbst und 2. zui* richtigen Würdigung seiner Arbeit.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 3. 23
354 Rezensionen.
Leider wird die Benutzung des Buches nocli dadurch erschwert, daß
die griechischen Zitate viele Druckfehler zeigen. Sehr unangenehm fällt dazu
auf: der menschliche Ethos (S. 44 den aristotelischen Ethos S. 34 u. öfter)
statt das (rö 7J9-nc und to h'9-oc).
Berlin-Lichterfelde. Dr. Willi Schink.
L. Annaei Senecae ad Lucilium epistularum moralium quae supersunt, iterum
edidit. Otto Hense, Lipsiae 1914.
Nicht nai die Philologie, auch die Philosophie ist Otto Hense für die
Nefuausgabe der Briefe Senecas zu größtem Danke verpflichtet. Die hervor-
ragende philologische Leistung des Herausgebers ist von Roßbach in der
Berhner Philol. Wochenschrift Nr. 16 (1914) 8. 490—498 gewürdigt worden.
Deshalb können wir uns hier darauf beschränken, den der Philosophie ge-
leisteten Dienst hervorzuheben.
Ein erneutes, tief dringendes »Studium der philosophischen Schriftwerke
der ,, Alten" ist in den letzten Jahren aufgeblüht; dies neue Ziu'ückgreifen
auf die Antike hängt natürlich aufs engste zusammen mit dem lebhaften
philosophischen Interesse der Gegenwart. Mit neuen Gesichtspunkten treten
wir an die Quellen heran; und darin besteht natürlich das Klassische der
klassischen Werke, daß sie jeder Zeit noch etwas zu sagen haben. Es sind
allerdings in erster Linie die Griechen — allen voran Piaton — , mit denen
sich die Philosophie der Gegenwart auseinandersetzt; aber auch die römischen
Philosophen erfahren wieder mehr Beachtung. Die Verdienste der Römer
liegen ja auf einem Gebiete, das als der Gipfel der Philosophie gilt: auf dem
Gebiete der Ethik. Und hier hat vor allem die Richtung glänzende Verdienste,
der Seneca angehört: die Stoa. Daß die »Stoiker che wissenschaftliche Ethik
sehr gefördert haben, ist heute nicht mehr zweifelhaft^). Zu den wertvollsten
Denkmälern der stoischen Schule werden mit Recht die Briefe Seneoas ge-
rechnet; sie sind in der Tat ein Handbuch der Moral. Ihnen kann man durchaus
das bekannte Wort Ciceros als Motto geben: vitae viam invenire. Möge
diese neue Ausgabe der Briefe, die auch stilistische Meisterwerke sind, nicht
nur zum Verständnis einer nach dem höchsten — nach der Erkeimtnis des
Götthchen in der Welt — • ringenden, mit der unserigen so viel Ähnlichkeit
aufweisenden Zeit beitragen, sondern vor allem — und darin liegt ihre eigent-
liche Aufgabe — auch dem Einzelnen Am-egung zum Denken über das Leben,
seinen Sinn und seine Aufgaben geben. Insbesondere sei diese Briefausgabe
den philosophisch interessierten Lehrern des Lateinischen an den Oberklassen
unserer höheren Schulen empfohlen; denn die reiferen Schüler haben ein
außerordentliches Interesse für die ethischen Probleme. Cterade die Briefe
des Seneca eignen sich — natürlich in wohlbedachter Auswahl — besonders
sowohl zm' Einfühlung in die Fragen der Ethik als auch zm- Ergänzung der in
anderen Unten ichtsfächern behandelten Moralprobleme. Wie in allen Jahr-
^) Ich verweise auf meinen Aufsatz über Kant und die stoische Ethik
(Kantstudien 1913).
Rezensionen. 355
hunderten der christlichen Zeit, so werden auch in unserem den Briefen ernste
Leser nicht fehlen.
Berlin-Lichterfelde. Dr. Willi Schink.
J. G. Fichte, ein deutscher Denker. Von Dr. Paul Stählei. Bibhothek für
Philosophie, Bd. XL 50 8. Berhn 1914. Leonhard Simion Nf. 1,50. Mk.
Nicht erst seit der im vorigen Jahrhundert abgehaltenen C4edenkfeier
seines Todestages und dem Erscheinen der neuen von F. Medicus besorgten
Ausgabe seiner Werke ist ein erneutes Studium Fichtes, des deutschesten
Philosophen, erwacht. Es sei niu- an Rudolf Eucken erinnert, der Fichteschen
(ledanken neue und weite Wirkung gab. Heute, in dem großen Weltkriege,
in der schwersten Prüfungszeit Deutschlands schauen wir mit Stolz zu Fichte
auf als einem unserer geistigen Führer; er hat sich in der Tat als Deutschlands
Volkserzieher bewährt. Heute können wir ganz die Fülle und Tiefe seiner
Cledanken ermessen und würdigen. Alles, was in den zahh-eichen Kriegs-
flugscliriften und Reden über deutsche Art und deutsches Wesen gesagt wurde.
ist von Fichte schon vor mehr als 100 Jahren gedacht und verkündet worden.
Gerade die durch die schwere Zeit uns aufgenötigte Selbstbesinnung hat
gezeigt, wie sehr wir uns auf ihn als Führer zu einer Verimierlichung der Lebens-
auffassung und Lebensführung verlassen können. In Fichtes tiefe Gedanken-
welt einzudringen ist aber nicht leicht, er verlangt von seinem Leser scharfes
Nachdenken und eigene Arbeit. Eine Einführung ist daher gerade dem er-
wünscht, welcher zum ersten Male an ihn herantritt. Zu solcher Einführung
eignet sich vorzügUch die oben angezeigte Schrift von Paul Stähler, der wir
weiteste Verbreitung wünschen besonders deshalb, weil hier in klarem Ge-
dankenaufbau und allgemeinverständlicher Sprache das Werk des Plülosophen
vorgeführt ist. Nach einer kurzen Darstellung von Fichtes Persördichkeit
und Lebenskampf folgt eine Würdigung der Wissenschaftslehre. Den Höhe-
punkt erreicht die Schrift in dem Abschnitt IV: ,,Die Bestimmung des
Menschen" und hier besonders im Absatz c ,,Der Glaube"'. Die Gedankenfülle
Fichtescher Werke tritt vor allem in Abschnitt V hervor: ,,Die Reden an die
deutsche Nation". Auf eine Inhaltsangabe der angezeigten Schrift köimen
wir hier verzichten, da es sich ja im wesentlichen um eine Darstellung des
Inhaltes Fichtescher Werke handelt. Dies kleine weitesten Kreisen zu em-
pfehlende Schriftchen ist vielen Kriegsflugschriften überlegen durch die über-
schäumende Kraft Fichtescher Gedanken.
Berlin-Lichter felde. Dr. Willi Schink.
Die Vorbildung zum Studium in der philosophischen Fakultät. Denkschrift
der philosophischen Fakultät der Universität Göttingen. 19 S. Verlag
von B. G. Teubner. Leipzig u. Berlin 1914. (0,80 Mk.).
Das Berechtigungswesen hat schon lange scharfe Diskussionen hervor-
gerufen, besonders stark traten sie wieder hervor durch die ministerielle Ver-
fügung vom 11. Oktober 1913, der zufolge den Absolventinnen der Oberlyzeen
der Zugang zur Universität freigegeben wmde. Auch die philosophische
23*
356 Rezensionen.
Fakultät der Universität Göttingen tritt auf den Plan; sie aber gibt der Streit-
frage weitere Ausdehnung, indem sie Stellung nimmt zu der schon lange und
vielleicht noch lange einer befriedigenden Lösung harrenden Frage: wie kami
die Kluft zwischen Universität und Schule überbrückt werden? Denn es ist
allzu sichtbar, daß ,, zwischen grundsätzlicher Berechtigung und besonderer
Vorbildung in vielen Fällen eine außerordenthche Spannung besteht", daß
nüt der Berechtigung zum Studium noch lange nicht der Eintritt und frucht-
bringende Beginn des Studiums mögUch ist. Der ehemals bestehende Zu-
sammenhang zwischen Schule und Universität ist gestört nicht nur durch
die Verschiedenheit der von den Schulen vermittelten Vorbildung, sondern
auch durch die infolge des Fortschrittes der Wissenschaft im Universitäts-
betrieb erfolgte Differenzierung.
Es werden im II. Abschnitt behandelt die ,, Anforderungen an die Vor-
bildung in den einzelnen Fächern der philosoplüschen Fakultät". Dabei wird
als besonders notwendig zum wissenschaftlichen Studium der Geschichte
weitgehende Beherrschung der Sprachen hervorgehoben; es wird vor aUem
hingewiesen auf die notwendige Kermtnis der klassischen Sprachen und auf
den Wert der humanistischen Bildung auch für das Studium der neueren
Sprachen, des Deutschen und der Philosophie. Im Dritten über ,, Eigenart
und Grenzen der höheren Schulen in ilu'em Verhältnis zum Universitäts-
studium" handelnden Abschnitte kommt die Fakultät zu dem Schluß, daß
eigentlich keine der anerkamiten höheren Schulen in allen Stücken die er-
forderliche Vorbildung gibt, daß es ,,fast nirgends" ,,ohne eine mehr oder
minder erhebliche Ergänzung" abgeht. Die größten Schwierigkeiten aber
hegen in den lateinlosen Anstalten: Oberrealschulen und Oberlyzeen. Am
schhmmsten steht die Sache beim Oberlyzeum, dessen Vorbereitung zur
Universität , ,f ür kein einziges Fach der philosophischen Fakultät ohne weiteres
ausreicht, — für die weitaus meisten Fächer aber . . . Lücken aufweist, die
nicht nebenher, auch nicht diirch eine Ergänzungsarbeit von Jahren aus-
gefüllt werden können."
Wie sind nun die Spannungen auszugleichen? Es werden zwei Vor-
schläge in Abschnitt IV ,, Folgerungen" gemacht: Entweder sind die Er-
gänzungseinrichtungen an die höheren Schulen anzuschließen; dafür sprechen
mehrere Gründe, nicht als letzter, ,,daß es für die Eltern eine sehr- erhebliche
pekuniäre Ersparnis ist, ihre Kinder ein Jahi" länger bei sich zu behalten."
Der zweite Weg der Lösung Hegt in einem weiteren Ausbau der Ergänzungs-
einrichtungen an den Universitäten (Kurse). Mit zwei berechtigten Wünschen
schließt die sehr beachtenswerte Denkschi'if t : Der Verkehr der Universitäten
mit der Unterrichtsverwaltung möge lebhafter werden, und in der Öffentüch-
keit sollte weniger von Berechtigungen imd mehr von den tatsächhchen Ver-
hältnissen gesprochen werden.
Der Denkschrift kann im Interesse der Förderung der Universitäts-
arbeit, aber auch der ökononüscheren Eimichtung der Vorbereitungsanstalten
weiteste Verbreitung gewünscht werden.
Berlin-Liehterfelde. Dr. Willi Sc hink.
Rezensionen. 357
Kant, Laienbrevier, Eine Darstellung der Kantischen Welt- und
Lebensanschauung für den ungelehrten Gebildeten aus Kants Schriften,
Briefen und mündhchen Äußerungen zusammengestellt von Dr. Felix Groß,
F. Bruckmann, München 1912. 2. Auflage, 214 S.
Einen Versuch, die populären Schriften Kants zu sammeln, hat Groß
unternommen. Inwieweit dies freilich dem Verfasser gelungen ist, ist eine
andere Frage. Uns scheint, daß nicht die charakteristischsten Stellen aus Kants
Schriften ausgewälüt sind, zumal wichtige und charakteristische Schriften
wie die „Allgemeine Xatm-geschichte und Theorie des Himmels" ganz fehlen.
Die Orientierung ist mehr eine ethische. Die Hauptlehre Kants, der trans-
zendentale Idealismus, wird nur gestreift. Doch hat der Verfasser diesen
Mangel selbst gefühlt und meint (im Schlußwort), daß ein , »Brevier" (warum
dieses mönchische, mittelalterliche, für den „AUeszermalmer" wenig passende
imd unlaienhafte Wort?) die eigentlichen Tiefen des Kantischen Gedanken-
baus nicht erschließen kann (was wir sein* bestreiten möchten), wohingegen
er uns eine neue Sammlung verspricht, welche dies leisten soll.
Ferner: Während die Aufmachung des Ganzen eine populäre ist,
so sehr, daß es der Verfasser für nötig hält, das Wort Bathos zu erklären
und darauf hinzuweisen, daß es nicht mit Pathos zu verwechseln ist, was
absoluten Unsinn ergäbe, werden andere griechische oder lateinische Worte
wie ,,Mathesis", ,,Clinamen" nicht erklärt, die zimi Teil selbst dem nicht
hmnanistisch gebildeten Gelehrten unbekannt sind, ja auch eine lateinische
Jahreszahl prangt auf dem Titelblatt, was wir in Anbetracht unserer falschen
humanistischen Bildung, welche die Geister verdmnmt imd weitabgewandte
Idioten heranzüchtet, für ganz unangebracht halten.
Wie weit aber der Verfasser davon entfernt ist, in den Geist Kants
eingedrungen zu sein, zeigt am besten das Schlußwort. Hier wird das Lebens-
werk Immanuel Kants bezeichnet als die philosophisch-kritische
Grundlegung unserer gesamten ,,reinmenschlich"-germanischen
Kultur. Das sind Phrasen. Was soll es heißen: Philosophisch-kritische
Grundlegung der Kultur? Was soll es heißen: der ,, reinmenschlichen" ?
Gibt es auch eine tierische Kultm"? Nun gar, der germanischen Kultur,
was schon im Widerspruch steht zu ,,reinmenschUchen" und ,, gesamten".
Das Lebenswerk Kants ist ein viel umfassenderes und erstreckt sich auf die
ganze Menschheit. Was er geleistet hat, ist die Begründung des kritischen
oder transzendentalen Idealismus, abgesehen von seinen übrigen großen
Leistungen, wie der Lehre von der Entstehung und Entwicklung des Welt-
alls, der Vernichtung der alten Metaphysik.
Ebenso falsch ist es, wenn Groß die äußeren Einflüsse bei Kant, so
auch den Einfluß seiner Mutter für so wichtig hält. Dieses Ammemiiärchen
tischen uns nun freilich sämtliche Historiker der Philosophie auf. Das echte
Genie wird nämlich seine Werke schaffen ohne alle äußeren Einflüsse,
ja entgegen seiner Zeit. Der echte Philosoph wird nur geboren, und bei
Kant freilich ist es erstaunlich, wie spät er seine Hauptwerke geschaffen hat,
im Gegensatz zu Schopenhauer, der entgegen seiner Zeit imd Umgebung
schon in frühem Alter seine Werke scliuf.
358 Rezensionen.
Wir glauben auch nicht, daß Groß zum „Sprachverbesserer" berufen
ist, was sich nur ein Genie leisten kann, und empfehlen ihm zur Lektüre
Schopenhauers geniale Schrift über Deutsche Sprach Verhunzung. Wir
glauben nicht, daß Schopenhauer Worte wie „eigentlichst", „allgemeinst",
das „Kultiirelle" als Bereicherungen der deutschen Sprache empfunden und
hätte gelten lassen. Auch ist es gänzlich irrig, wenn der Verfasser Heinrich
Heines herangezogenes Appercu über Kant für ein ,, Lügenmärchen" erklärt,
da es vielmehr wähl" ist und auch Schopenhauer, der doch auch etwas von
Philosophie verstand, sich ganz in gleichem Sinne über Kant geäußert hat,
daß Kant später aus Altersschwäche alles zugab, was er vorher widerlegt
hatte. Ebenso irrig ist die Meinung des Verfassers, daß Kant nicht freisinnig
war, wie es jeder Philosoph selbstverständlich ist, da er sich vielmehr über
alle politischen, reügiösen und sonstigen Angelegenheiten sehr freisinnig
geäußert hat, wenn er auch in einigem wie in der Verwerfung der „Notlüge"
orthodox war und sich geradezu beschränkt zeigte.
So kann unser Lob des Buches nur ein sehr bescheidenes sein, und so sehr
Avir wünschen, daß Kant popiilär würde, soweit das möglich ist, meinen wir
doch, daß eine andere Auswahl getroffen werden muß, und halten die von
Paul Menzer herausgegebenen „Populären Schriften" Kants^) zu
diesem Zweck für weit geeigneter. Georg Wendel.
Adolf Jacobus, Plato und der Sensualismus. (Inaugm'al-Dissertation,
Berlin 1914.)
Eigentlich sollte der Titel lauten: „Piatons Sensualismus" oder „Der
Platonische Sensualismus". Denn der Verfasser wertet den Antisensualisten
Piaton einfach zum Sensualisten um. Allerdings nicht mit vollem Bewußtsein
und daher nicht ausdrücklich. Auf den Namen kommt es aber nicht an, son-
dern auf den damit verbmidenen oder zu verbindenden Begriff. Im allgemeinen
versteht man unter Sensualismus jene erkenntnistheoretische Richtung,
wonach unser gesamtes AA'issen, sei es unmittelbar, sei es mittelbar, aus einer
und derselben Quelle, der Sinneswahrnehmung, entspringt. Nach der
l^ehi'e des Antisensualismus dagegen gäbe es eine zweite, von der Sinnes -
Wahrnehmung wesentlich verschiedene höhere Erkenntnisquelle, den Geist
oder die Vernunft als das Vermögen, „Übersinnliches", „Ewiges",
,, Absolutes" zu erkennen. Erkenntnistheoretiker, die das Vorhandensein
einer eigenen höheren Erkenntnisquelle solcher Art nicht anerkemien, gehören
') Verlag Georg Reimer, Berlin. Vgl. meine Besprechmig derselben in
der „Ethischen Rundschau", 1. Jahrg. Heft 11, und im „Archiv für Philo-
sophie." Zur Popularisierung Kants hat übrigens Schopenhauer außer-
ordentlich beigetragen, wie ich hoffe, auch ich selbst durch mein küi'zUch
erschienenes philosophisches Hauptwerk ,, Kritik des Erkennens"
(Carl Georgi, Bonn 1914), welches das große Werk Kants und Schopen-
hauers unmittelbar fortsetzt .
Rezensionen. 359
eo ipso einer der besonderen Richtungen des Sensualismus an. Nun hat
Piaton von jeher als Hauptvertreter des Antisensualismus gegolten,
wenigstens einer Richtimg desselben, und das zweifellos mit Recht.
Wie jedoch Ad. Jacobus zu zeigen versucht, hätte Piaton von Anfang
an „einen Sinn für den Wirklichkeitscharakter" des Sensualismus gehabt
(S. 35). Im Verlaufe seines Kampfes gegen den Sensualismus hätte dann
Piaton seine unbedingte Identifizierung von Sensuahsmus und Subjektivismus
als Irrtum erkannt und niu" mehr den Heraklitismus mit dem Subjektivismus
identifiziert (S. 4.3). Im ,,Phädon", einer „Bekenntnisschrift des Philosophen
über seine Auseinandersetzungen mit dem Sensualismus" (S. 45), hätte er uns
selber darüber Aufklärung gegeben, welche Frage ihn zui- Revision seiner bis-
herigen Kritik des Sensualismus veranlaßt habe. Es sei die Frage gewesen:
,, Woher kommen wir zu unseren Begriffen?" Sie hätte ihn aus seinem
Ideenenthusiasmus gerissen. Sclu:off, scheinbar ohne alle Beziehung zuein-
ander, ständen Ideen und Wirklichkeit sich gegenüber. Die Ideen seien
das Sein, die Wirklichkeit das Werden. Nun erkenne er plötzlich: „Die
Ideen, unsere Begriffe, von denen wir Rechenschaft ablegen, stammen
nirgend anders woher als aus der Wirklichkeit. Ohne die Sinne, die uns
che Wirldichkeit vermitteln, kämen wir nicht zu unseren Begriffen" (S. 35).
So müsse er sich derm entschließen, die Wirklichkeit als ein Sein neben dem
Sein der Ideen anzuerkeimen (S. 37). Das Ergebnis sei eine „wahrhaft
idealistische" Theorie der Wirkhchkeit (S. 17, P\ 37f.). Während nämlich
die Wirklichkeit, ,,die psychologische conditio sine qua non für das philo-
.sophische Bewußtsein von den Begriffen" sei, seien die Begriffe „die logischen
Prinzipien der Wirklichkeit" (S. 41).
Um dies richtig zu würdigen, muß man außerdem wissen, daß der Ver-
fasser ,, Begriff" und ,,Idee" bei Piaton ohne weiteres identifiziert (S. 42), daß
er ,,die von Aristoteles hei-stammende Auffassung, als seien die Ideen meta-
physische Substanzen" ebenso ohne weiteres verwirft (S. 42, 30), daß er sich
damit begnügt, die uvdfJvrjGig als ,,das philosophische Bewußtsein von
den Begriffen" zu kennzeichnen (S. 38f.) und daß er schließlich daraus die
Folgerimg zieht, daß es Piaton weder mit dem Präexistenzbeweis noch mit
den Postexistenzbeweisen für die Seele ernst gewesen sei (S. 47f.).
In Anbetracht alles dessen wird man zugeben müssen, daß ein solcher-
gestalt zugerichteter Piaton nimmermehr für den Antisensualismus in An-
spruch zu nehmen wäre. Jedenfalls ist der Verfasser den Beweis für das Gegen-
teil schuldig geblieben. Der Beweis wäre auch nicht zu führen. Damit ist
noch nicht gesagt, daß der Verfasser durchaus unrecht habe. Daß sich
bei Piaton eine große Menge von Stellen findet, che als Bausteine für den
„ Antiplatonismus" und somit für den Sensualismus verwertet werden können,
darauf hat schon Laas in seinem Werke ,,IdeaUsmus und Positivismus"
hingewiesen (I. 21 f.). Piaton war eben Synkretist, ein Synkretist freihch, der
trotz alles Liebäugeins mit dem Sensualismus ein t\7)ischer \"ertreter des
Antisensualismus ist und bleibt.
Dr. Hubert Rock (Innsbruck).
1
360 Rezensionen. J
Die Erlanger Doktor-Arbeit von Arnold Fuchs über G. Thaulows
Pädagogik besitzt dieselbe wohltuende Klarheit und Sachlichkeit, welche
den Promotionsreferenten von Fuchs im Kolleg mid in seinen Schriften aus-
zeichnet ; die schlichte Sprache vermeidet jede gesucht wirkende Häufung von
Fachausdrücken. — Nach dem üblichen Schema wird zunächst das Leben
des als Scliriftsteller sekr fruchtbaren Th., über den wenig Literatur vorliegt,
und seine allgemein philosophische Überzeugung geschildert. Th. verfolgt
den Hegeischen Entwicklungsgedanken weiter mit stärkerer Berück-
sichtigung der Persönlichkeit und körperlichen Erziehung des Menschen;
auch wird der ,, Begriff der Sittlichkeit dmch Einbeziehung der Lernarbeit
als eines solchen Faktors weitergefaßf (S. 98ff. und lOl). Auf der philo-
soi^hischen Grundanschauung, die manchmal auch an Schleiermacher an-
klingt (S. 97), baut sich die pädagogische auf: sie erinnert ihrerseits in
dem allgemeinen Satze, ,,daß die in der Geschichte tätige Vorsehung die Er-
ziehung des Menschengeschlechtes sei" (S. 11), an Herder. Im weiteren Ver-
lauf der Untersuchung entwickelt Fuchs die Ansichten Th.s über die Formen
imd Mittel der Erziehung, indem er in übersichtlicher Gliederung und mit
Hervorhebung der einzelnen Hauptpunkte die drei Erzieher, Familie und Staat,
Kirche und Schule (S. 28ff.), die Erziehung durch Unterricht und Disziplin
(S. 54ff.), ähnlich wie Herder, herausarbeitet und am Schluß die geschicht-
liche Stellung der Th. sehen Pädagogik zeigt. In dem letzten Abschnitt werden
in wiederholten Rückblicken die Hauptergebnisse der einzelnen Abschmtte
zusammengefaßt und unter gelegentUcher Berufung auf zeitgenössische
Stimmen auch eingehende Kritik, die freilich nicht immer alle Leser unter-
schreiben dürften, an Th. geübt: z. B. scheint mir die Behauptung, daß Th.
„im Vergleich mit den Anschauungen seiner Zeit nichts wesentlich Neues
bringe" (S. 116), der anderen, daß Th. gegenüber Hegel „Eigenartiges" biete
(S. 98ff. und 120), zu widersprechen. Da selbstverständlich ein Bericht alles
Interessante der 124 Seiten umfassenden Schrift, die auch als 546. Heft dem
pädagogischen Magazin des Verlages H. Beyer & Söhne in Langensalza an-
gehört, umuöglich wiedergeben kann, so möchte ich aus dem von Th. ent-
worfenen „Schulnormativ" einige Gedanken, welche für che Gegen-
wart in positiver und negativer Hinsicht mir wertvoll erscheinen, heraus-
heben.
Als Vertreter des Neuhumanismus, dessen Betonung der auch welt-
männischen Abgeklärtheit Ideen, wie sie z. B. v. Tschirnhausen vertritt,
nachklingend zeigt (S. 48), erstrebt Th. engste Fühlung, ja Vereinigmig
zwischen der Begeisterung für das idealistisch gesehene (S. 57) klassische Alter-
tum und einem innerlichen Christentmn, das folgerichtig ,, absichtliche Er-
weckung von Andachtsgefühlen ablehnt"; dema Th. nennt die von zeit-
genössischen Professoren stiefmütterlich behandelte (S. 25) Pädagogik die
„Wissenschaft von der Sittlichmachung des Menschen" (S. 22), und wendet
sich, als begeisterter Verehi-er der „praktischen englischen Nation", gleich
Plato gegen Banausentum und „unglückselige" Überschätzung des \Vissens
(S. 55). Mit schroffer Einseitigkeit bezeichnet es Th. als einen ,, Frevel
an der Menschheit" für 10- bis 12jährige Kinder Realschulen zu gründen
Rezensionen, 361.
(S. 34 und 37); denn die einzige „Vorbereitungsschule für die Vorbereitungs-
schule", d. h. Universität, der höheren Berufe ist ihm das Gjminasium (S. 39),
das erst nach der Tertia sich in einen g3Tnnasialen und real stischen Ober-
bau gabelt (S. 34/5). Der un ere Tage lebhaft bewegende Gleich-
berechtigungsstreit besteht für Th., der — nebenbei gesagt —
auch Gegner eines weitergehenden Frauenstudiums ist (S. 36), durchaus
nicht, da die Realschule mit gymnasialer Unterlage, die — abgesehen
von der Betonung des Griechischen — ungefähr derjenigen unserer
bayrischen Realgymnasien entspricht, dieselbe Berechtigung hat wie das
Gymnasium (S. 42). Anders als im Gegenwartsgym.nasium beginnt
aus vier Gründen schon in der Sexta das Griechische (S. 57) und nimmt
zusammen mit Latein, das erst von der zweituntersten Klasse ab lebhafter
betrieben wird, über die Hälfte der Gesamtstunden in Anspruch (S. 58).
Um in diesen Fächern grammatische Sicherheit zu erreichen, soll der Ober-
sekundaner und Primaner unter anderem die Grammatikübungen der Tertianer
ebenso ,, korrigieren" (S.68), wie talentvolle Schüler derselben Klasse die mathe-
matischen Aufgaben der jüngeren Kameraden (S. 80); denn gutes Latein-
schreiben ist das höchste Ideal des Gymnasialschülers.
Im Gegensatz zu den Anschauungen, welche besonders seit der Reichs-
schulkonferenz von 1890 herrschend wurden, teilt Th. der Muttersprache,
„abgesehen von Deklamierübungen und Aufsätzen", fiu' die er gute Rat-
schläge gibt und die er entgegen manchen Behauptungen unserer Tage „die
Blüte der Schülerbildung" nennt (S. 74ff.), keine besonderen Stunden zu
(S. 60). Auch die nach seiner Ansicht zu schwierige neuere Geschichte will
Th. aus dem Unterricht verbamit wissen (S. 77ff.), „zumal der Patriotismus
nicht durch Absicht und Ermahnung im Unterricht erweckt werden kami".
(S. 63). — Die Philosophie wird von Untersekunda an in einer Wochenstunde
gelehrt. Die von Th. gewünschte Verteilung dieses Unterrichtsstoffes (S. 67ff.)
ist in der Hauptsache dieselbe, wie z. B. in den auch noch nicht verwirklichten
Forderungen von Dr. K. Siegel, Methodik des Unterrichtes in der philoso-
phischen Propädeutik (Wien 1913). Nur eine der Prima zugeteilte Aufgabe,
Ästhetik mit Literaturgeschichte, wird in manchen Gegenwartsschulen, z. B.
durch Lektüre von Lessings Laokoon oder Hamburgischen Dramaturgie,
von Schillers philosophischen Schriften, mehr oder minder erfüllt. — Die
fremden Sprachen treten in dem Organisationsvorschlag von Th. zurück
und werden hauptsächhch in Privatstunden erlernt (S. 59 und 74). Auch
hinsichtlich der Anschaffung von Klassikern für die Privatlektüre (S. 72),
von geographischen und geschichtlichen Lesewerken (S. 78) belastet Th. die
Taschen der Eltern in einer Weise, daß diese Wünsche den mit anderen Aus-
führangen (S. 36) nicht übereinstimmenden Gedanken nahelegen, als ob Th.
nur die Söhne Wohlhabender zum Gjannasialunterricht herangezogen sehen
will. Die Mathematik schätzt Th. vor allem wegen der sittUchen Ki*aft,
weil Schüler, welche dieses Fach nicht heben, gewohnt werden, auch mit Un-
angenehmem sich ernstlich zu befassen. Singen und Turnen wird ent-
sprechend seiner neuhumams tischen Anschauung von Th. ähnlich hoch be-
wertet, wie bei den Griechen (S. 81f.). Das im ersten Fach Begehrte ähnelt
362 Rezensionen.
tlen weitgehendsten Forderungen mancher bayrischen ( Jesangslehrer im
Frühjahr 1914.
Das Turnen dient der Stählung von Gesundheit und Mut; auch die in
imseren Tagen besonders betonten Schülerwanderungen befürwortet Th.
(S. 94). Die militärischen Übungen, welche für unsere Wehrkraft jungen schon
in der 4. Klasse (Tertia) beginnen, weist Th. nur den zwei obersten Klassen
zu. ,, Gesunde Diätetik und Gymnastik sind auch die besten Maßregeln gegen
die sog. geheimen Sünden". Dieser Krebsschaden, den auch mein leider
ziemlich wirkungslos verhallter Aufruf zur Schaffung eines Merkblattes
(Zeitschr. f. Kinderpflege V, 2, S. 28/29) berührte, erheischt nämlich die größte
Aufmerksamkeit (S. 82); deshalb wird der Rücksicht auf die Pubertät auch ein
in der Gegenwart bedauerlicherweise fast mangelnder Einfluß auf den Stunden-
plan eingeräumt. Dieser Gedanke steigert sich bis zu dem Wunsche, daß
,,Arzt und Psychologe über das Maß der Unterrichtsgegenstände erste Ent-
scheidving hätten" (S. 55), und daß die Schule der , »ständigen Inspektion"
eines Arztes unterstehe. Die in der Gegenwart noch nicht überall erledigte
Schularztfrage hat also Th. bejahend beantwortet (S. 46). Wegen derselben
Erkeimtnis, daß zu den geistigen auch gewisse körperliche Voraussetzungen
für einen erfolgreichen Besuch der Schule gegeben sein müssen, erklärt sich
Th. gegen die Aufnahme von Schülern, welche jünger als 12 oder 10 Jahre
seien (S. 33), und schreibt sogar den an Plato erinnernden Satz (Archiv für
Philosophie 26, 409ff.), welcher vielen Gegenwartseltern wohl ungeheuerlich
klingt, daß ,,der Lehrer entscheiden solle, ob das Kind auf eine höhere oder
auf die gewöhnliche Form des Lebens hinweist" (S. 34). Ebenso soll „die An-
stalt alle ungezogenen Schüler den Eltern zurückgeben können
(S. 87ff.); wie auch Gegenwartspädagogen zu erweisen sich bemühen, daß der
Junge auf Gnmd eines zwischen Eltern und Schule abgeschlossenen Vertrages
die Anstalt besuche, und daß letztere, wie die Eltern, das Recht habe, dieses
Abkommen jederzeit zu lösen, auch wenn keine schweren Vergehen gegen
Schulgesetze, sondern nur die Überzeugung bei dem Lehrerkollegium vorliege,
daß die Anwesenheit des Schülers für seine Kameraden unheilvoll sei; z. B.
können manche vielfach leicht genommenen Neigungen, z. B. zur Lüge, Bos-
heit, Onanie, wie eine ansteckende Krankheit wirken, so daß ich den Fuchsischen
Tadel gegen Th., welcher den sich Verfehlenden aus der Anstalt aus-
schließen will (S. 88 und 120), auf Grund persönlicher Erfahrungen nicht
bilügen kann. Nebenbei gesag; bietet die neueste bayrische Schulordnung
von 1914 die Möglichkeit zu einer derartigen ,, Ausscheidung" eines Schülers.
Im Zeitalter der hochbedauerlichen Kinderselbstmorde wird wohl mancher
wahi-e Freund der Jugend wünschen, daß der für Kind und Allgemeinheit mit-
unter gleich verhängnisvollen Elterneitelkeit dieselbe von Th. vorgeschlagene
Schranke gezogen sei. Umgekehrt will Th., in dem fortschrittliche und kon-
servative Gedanken eine eigenartige Verbindung eingehen, Vertreter der Eltern-
schaft in den „Ortsschulvorstand", wie Gegenwartselternvereinigungen z.T.
mit Erfolg begehren, aufgenommen sehen (S. 44). Wenn auch Th., der auch
das in der Gegenwart sehr mnstrittene Abiturientenexamen als etwas ,, Un-
sittliches" in der vorhandenen Form verwirft (S. 90), für die Jugend volles
Rezensionen. 36B
Verständnis und warmes Herz zeigt, ein verweichlichtes Geschlecht, dem
keine Arbeit zugemutet werden darf, will Th. nicht auf dem GjTnnasium haben ;
denn die Stundenzahl der untersten Klasse ist zwar halb so groß als in der
Gegenwart, steigt aber in den höheren Klassen, besonders nach erlangter
körperlichen Reife bedeutend über die in unseren Tagen übUche. Auch eine
sehr lebhaft betonte häusliche Weiterbildung und Selbsttätigkeit, be-
sonders in den von der Schule wenig oder nicht gelehrten Fächern, nimmt
Zeit und Kraft des Jünglings, ,, dessen Rezeptivität zugleich selbständige
Reproduktivität ist" (S. 66), sehr- in Anspruch.
Zum Schluß gedenke ich nur kurz der Ausführungen Th.s über das Ver-
hältnis von Schule und Kirche, die in gegenseitiger Freiheit und freundschaft-
licher Achtung zu einander stehend gedacht werden (S. 29 ff.). Bei der
eingehenden Besprechung der Gliederung der Schulen wird u. a. der unsozial
wirkende Name ,, Volksschule" abgelehnt (S. 33). Was Th. über den ,, ge-
borenen" Lehrer und Direktor mit einer Reihe trefflicher Eigenschaften,
über Vor- und Weiterbildung, über angemessene Besoldung und Auszeich-
nung, über den ,, widersinnigen" Titel Oberlehrer sagt (S. 46ff.), enthält
auch manche feine Beziehung zur Gegenwart. Die sehr idealistische Auf-
fassung des Verhältmsses von Schule und Haus diü-fte leider vor der rauhen
Wirküchkeit kaum immer Stand halten (S. 92 ff.).
Aus Raumrücksichten muß ich mich mit vorstehenden Hinweisen auf
einzehie Gedanken Th.s begnügen, und möchte nur nochmals wiederholen,
daß Th. Gedanken, die Fuchs geschickt entwickelt, vielfach befrvichtend
wirken können, besonders weim man zu den Originalwerken des Kieler
Universitätsprofessors zurückgeht. Vielleicht ist ihnen nach der eingehenden
Würdigung des Verfassers auch eine kritische Xeuausgabe beschieden!
Dr. .Tegel.
Die neuesten Erscheinungen auf dena Gebiete der
G-eschichte der Philosophie.
A. Deutsche Literatur.
JJericht über den VI. Kongreß für experimentelle Psychologie in (iöttiugen
vom 15. bis 18. April 1914. Leipzig, Barth.
Buchenau, A., Grundprobleme der Kritik der reinen V^ernunft. Leipzig,
Meiner.
Brunswig, A., Das Grundproblem Kants. Leipzig, Teubner.
Christentum und Antike. Von einem deutschen Romfahrer. Leipzig, Haber-
land.
Etthnger, M., Die Ästhetik M. Deutingers. Kempten, Kösel.
Fichte, J. G., Über den Begriff des wahrhaften Krieges. Leipzig, Meiner.
Fichte, J. G., Über Gott und Unsterblichkeit. Berhn, Reuther & Reichard.
Fries, J. F., System der Logik. 3. Aufl. Leipzig, Meiner.
Fridricus, Könighche Gedanken und Aussprüche Friedrichs des (Großen.
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Guyan, J. M., Die englische Ethik der Gegenwart. Deutsch von Pevsner.
Herausgegeben von E. Bergmann. Leipzig, Krüner.
Hall, St., Die Begründer der modernen Psj'chologie (Lotze, Fechner. Hel-
holtz, Wundt). Leipzig, Meiner.
Herbart, J. F., Ethik. Herausgegeben von Flügel und Fritzsch. Leipzig,
Klinkhardt.
Herbart, J. F., Lehrbuch der Psychologie. Ebda.
Kants Werke. Herausgegeben von E. Cassirer. Bd. 5 und 6. Berlin, C'assirer.
Kants populäre Schriften. Bibliothek in Wiss. I.
Külpe, O., Die Philosophie der Gegenwart. 6. Aufl. Aus Natur und (ieistes-
we!t.
Ott, E., H. Bergson. Aus Natur und Geisteswelt.
Piatons Dialog Phaidros. Übersetzt und erläutert von C. Rittei. Leipzig,
Meiner.
Piatons Menon. Übersetzt und erläutert von Apelt. Ebda.
Rousseaus Bekenntnisse aus seiner Jugend. Bibliothek in Wiss. I.
Schopenhauer, Von der Nichtigkeit des Daseins. Ebda.
Spinoza, Ethik. Ebda.
Stähler, P., J. G. Fichte, ein deutscher Denker. JBerlin, L. Simion Nf.
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oder die patristische und scholastische Zeit. 10. Autl. Herausgegeben
von M. Baumgarten. Berhn, Mittler.
B. Englisch-amerikanische Literatur.
Bailey, M., Müton and Jacob Böhme. New Jork, Oxford University Press.
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M. Nii
C. Italienische Literatur.
D'Ercoie. P., L'antico Egitto c la Caldea come precm-sori dell' ebraismoe
del cristianesimo. Bolgna.
Mondolfo, R., Francesco Acri e ü suo pensiero. Bologna, Zanichelli.
Pelazza, A., Guglielmo Schuppe e la filosofia dell' immanenza. Libreria
Editrice Milanese.
Puleini, C, L'etica di Spinoza. Genova, Formiggini.
Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Ztitschrift für Philosophie und j)hilosophische Kritik. Bd. 155 H. 2. Dorner,
Hartmaims Pessimismus mit Rücksicht auf Korwans Aufsatz im
Band 149 dieser Zeitschrift. — Bd. 156 H. 1. Falkenborg, Fichte.
Dosenheimer, Fichtes Idee des deutschen Volkes. Kleinpeter, Goethe,
Kant und Schiller. — Bd. 156 H. 2. Kinkel, W. Wundts Ethik.
Schwarz, Eine neue Metaphysik der Geschichte. Schwandtke, Zur
Kritik von Ostwalds Monismus.
Philosophisches Jahrbuch. Bd. XXVII H. 4. GemeUi, H. Bergson und die
itahenische Neuscholastik. Minges, Zur Erkenntnislehre des Franzis-
kaners Johannes von Rupella. Baeumker, Zur Rezeption des Aristoteles
im itaüenischen Mittelalter. Schreiber, Die Erkenntnislehre des heil.
Thomas und che moderne Erkenntniskritik. — ■ Bd. XXVIII H. 1.
GemeUi und Olgiati, Die zeitgenössische Philosophie in Itahen. Brühl,
Die spezifischen Sinnesenergien nach «T. Müller im Lichte der Tat-
sachen. Dyi-off, Über Heinrich und Dietrich von Freiberg.
366 Historische Abhandlungen in den Zeitschriften.
Archiv für die gesamte Psychologie. Bd. XXXIII H. 1 und 2. Freytag, Be-
merkungen zu Loibnizens Erkenntnistheorie im Anschluß an Couturats
Werk „La logic(ue de Leibniz d'apres des documents inedits".
Kont-Studien. Bd. XIX H. 1 und 2. Medicns, Bemerkungen zum Problem der
Existenz mathematischer CJegenstände. Königswald, Über Thomas
Hobbes' sj'stematische Stellung. Spitzer, Der unausgesprochene
Kanon der Kantischen Erkenntnistheorie. Rickert, Über logische und
ethische Geltung. Hell, Robert Mayer. — H. 3. Curtius. Das .Schema-
tismuskapitel in der Kritik der reinen Vernunft. Scholz, Zu „Alexander
von Goch". Pichler, ^^'indelbands Einleitung in die Philosophie.
Logos. Bd. V H. 2. Bauch, Die Diskussion eines modernen Problems in der
antiken Philosophie.
The philosophical Rerieir. Vol. XXIII. G. Delbos, French works on the history
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Some medieval conceptions of magic.
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Le mecanisme cartesien et la physiologie au XVII siecle. Mieli, Van-
noecio Biringuccio ed il methodo sperimentale. Titrriere, La notion
de tx'anscendance geometrique chez Descartes et chez Leibniz. L'in-
terscendance leibnizienne et l'hypertranscendance. Sarton, Soixante-
deux revues et collections consacrees a l'histoire des sciences.
Bilychis. Anno III. F. XL Neal, Maine de Biran. Murri, Stato e chiesa negli
scrittori itaUani. Rubbiani, Gioberti. F. R., Rousseau. Gide, Charles
Peguy. Formiehi, Michele Kerbaker. Costa, IMitra e Diocleziano.
Zur Besprechung eingegangene Werke.
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Leipzig, Teubner.
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Leipzig, Teubner.
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Hall, Stanley, Die Begründer der modernen Psychologie (Lotze, Fechner,
Helinholtz, Wundt). Cbers. Ton R. Schmidt. Leipzig, Meiner.
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Pelikan, F., Entstehung und Entwicklung des Kontingentismus. Berlin,
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Pfannkuche, A., Staat und Kirche. Leipzig, Teubner.
Piatons Dialog Sophistes. Gbers. und erläutert von Otto Apelt. Leipzig,
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— Dialog Politikos oder Vom Staatsmann Übers, und erläutert von
Otto Apelt. Leii^zi?, Ebd.
— Dialog Phaidros. Übers, "von Const. Ritter. Leipzig, Ebd.
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Otto Apelt. Leipzig, Ebd.
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Spicker, G, Vom Klo^ter ins akademische Lehramt. Münster, E. Ober-
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368 Zur Besprechung eingegangene Werke.
Vahlen, J., Beiträge zu Aristoteles Poetik. Leipzig, Teubner.
Wartensleben, G. Gräfin, Die christliche Persönlichkeit im Idealbild.
Kempten, Kösel.
Weinstein, M. B., Der Untergang der Welt und Erde. Leiitzig, Teubner.
Wolff, A., Der Toleranzgedanke in der deutscheu Literatur zur Zeit
Mendelsohns. Berlin, Mayer & Müller.
B. Englische Literatur.
Bailey, M. L., Milton and Jakob Boehme. New York, Oxford Uni-
versity Press.
Moore, Th. V., A historical introduction to ethics. New York, American
book Company.
Archiv für Philosophie.
I. Abteilung:
Archiv für Geschichte der Philosophie,
Neue Folge. XXI. Band, 4. Heft.
XL
Die Frage nach dem Seeiendualismus bei Augustinus.
Von
Dr. Kratzer, Regensburg.
(Schluß aus dem vorigen Heft.)
x\ugustiniis erklärt, daß das Denken, die Vernunft des Menschen
die intelligible Wirklichkeit nicht hervorzubringen vermöge; es nuiß
aber eine unmittelbare Verbindung mit der transzendenten Welt
bestehen, da sonst ein Erfassen derselben im Erkennen nicht möglich
wäre. Wie die ganze Wirldichkeit, nicht bloß die vom körperlichen
Sein losgelösten allgemeinen Wahrheiten, die als Beurteilungsnormen
gelten, sondern auch die ratioues, die in den Dingen sich auswirken,
im Denken ihren Grund haben, so kann deren Erfassung im Verstände
des geschöpfUchen Wesens nur kraft der Wirksamkeit der schaffenden,
absoluten Vernunft vollzogen werden. In ihr finden sich Denken und
Sein in Einheit vereinigt; und auch nach deren Auflösung in die
Vielheit ist das Sein seinem Wesen nach nichts anderes als der Gedanke
des Absoluten, so daß in der Erkenntnis der Dinge das Denken eigent-
lich nur sich selbst erfaßt. Denn die Erkenntnis ist nach de magistro
nur ein Vergleichen zwischen der in der Seele sich offenbarenden
Wahrheit und dem durch die Erfahrung im Denken gewonnenen
Erkenntnisresultate (cf. Storz a. a. 0., Gangauf a. a. 0., Enn. I,
1, 9; 2, 4).
Wenn auch so nicht verborgen bleiben kann, daß Augustinus
oft nahe daran ist, die Grenzen zwischen natürlichem und über-
natürhchen Sein, zwischen Schöpfer und Geschöpf im Fluge seiner
Spekulation aufzuheben, und besonders in der Frage nach dem Ur-
Arehiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 4. 24
370 Kiat/.er,
Sprunge unserer Erkenntnis, und der Erklärung der Tatsache, daß
die mens AVissen in sieh habe, ohne sieh dessen bewußt zu sein (De
Trin. IX, 3, 3; X, 8, 11), nach der platonischen Präexistenzlehre
zurückzugreifen geneigt ist, oder an Stelle derselben eine geheimnis-
volle Verbindung der Seele mit der Gottheit setzt, und diese Ver-
bindung, die er als particij)atio bezeichnet, im unwandelbaren Elemente
der mens zur Hypostase steigert, so muß doch immer wieder darauf
hingewiesen werden, daß unser Denker mit Entschiedenheit eine
Identifizierung der Seele und der Gottheit bekämpft, wenn dieses
auch weniger unter philosophisch spekulativen, als vielmehr unter
theologisch-dogmatischen Gesichtspunkten geschieht. In dieser
Denkweise bezeichnet Augustinus die Annahme, daß die Seele gleich
Gott sei, als fluchens werte Gotteslästerung, und er kann nicht umhin,
das Verderben vor dem Angesichte Gottes auf die Vertreter einer
solchen Meinung herabzurufen. (Conf. VIII, 10, 22: pereant a facie
tua deus sicuti pereunt vaniloqui et mentis seductores, qui cum duas
voluntates in deliberando animatverterint, duas naturas duaruni
mentium esse asseverant, unam bonam, alteram malam. Ipsi vere mali
sunt, cum ista mala sentiumt, et iidem ipsi boni erunt sivera senserint.
verisque consenserint isti enim dum volunt esse lux, non in domino,
sed in se ipsis, putando animae naturam hoc esse quod deus est, ita
facti sunt densiores tenebrae : quoniam longius a te recesserunt horrenda
arrogantia, a te vero lumine illuminante . . . attendite quid dicatis et
erubescite et accedite ad eum et illuminamini et vultus vestri non
erubescent.)
Doch kann hier die Frage nicht umgangen werden, ob Augustinus
mit seiner Polemik gegen die falsche Lehre über das Wesen der Seele
seinen theoretischen Konsequenzen zu entgehen vermag. Augustinus
hat hier den manichäischen Seelenduahsmus im Auge, den er be-
kämpft, und kommt insofern für unsere Frage nicht in Betracht.
Wichtiger ist, was er aus dem Prädikate der Veränderhchkeit, Wandel-
barkeit der Seele für ihi- Verhältnis Gott gegenüber folgert; wie kann
die veränderliche Seele, die bald dem Guten, bald dem Schlechten
sich zuwendet, bald töricht, bald weise ist, bald zu wissen verlangt,
bald in Untätigkeit verharrt, der unveränderhchen ewigen Gottheit
gleichgesetzt werden. (De v. rel. 30, 54: Ciarum est, eam esse mu-
tabilem, quando nunc perita, nunc imperita invenitur; tanto autem
melius judicat, quanto est peritior et tanto est peritior, quanto alicuius
Die Frage nach dem Seeleiidualisnms bei Augustinus. 371
artis vel discipliuae vel sapientiae particeps est. Ep. 166, 3: quod si
esset, nee deficeret in deterius, nee proficeret in melius, nee aliquid
in semet ipsa vel inciperet habere, quod non habebat, vel desineret
habere quod habebat . . . non est pars Dei anima, si enim hoc esset
onmino incommutabihs atque incorruptibihs esset. De an. et eius
orig. I, 4.)
Mit diesen Erklärungen hat Augustinus einer Forderung genügt,
nänihch den Begxiff der Seele, wie sie im Bewußtsein sich zeigt, nicht
mit der Gottheit zusammenfallen zu lassen, und er konnte dies umso
leichter, da ja sein SeelenbegTiff vielgestaltige Beziehungen ein-
schließt. Seele ist ihm zunächst nicht mehi- als der Gegensatz zum
leblosen Körper, mit deren Verbindung er erst organischer, belebter
Körper wird. Die Seele ist Leben und darum in ilu'er Verbindung mit
dem Körper Prinzip des belebten Körpers, (De fide et symb. 10, 23:
deinde vita qua conjungimur corpori anima dicitur. Enn. in ps. 105, 15
itaque hoc loco animam non secundum id, quod rationalis est dixit,
sed secundum id quod animam corpus animal facit, dixit). Sie ist
formendes Prinzip, welches dem Körper seine besondere spezifische
Eigenart aufdrückt und seine Stelle im Keiche des Seins bestimmt
(De immort. an. 15, 24; de quant, an. 33, 70).
Erst in einem weiteren Sinne hat dann Augustinus auch das
rationale Element in den Seelenbegriff hineingezogen und damit den
Begriff der Seele erst gewonnen (quaest 7; de Trin. XV, 7, 11), ohne
jedoch damit die Beziehungen zum Körper zu verlieren; allerdings
darf dabei nicht übersehen werden, daß x\ugustinus anstatt des Be-
griffes anima den Begriff animus setzt, wohl um damit bereits eine
höhere Ordnung der Seele anzuzeigen. Die Seele ist dann eine Substanz,
welche die Vernunft besitzt, und dem Körper zu seiner Leitung ge-
geben ist (De Quant an 13, 22), was dasselbe bedeutet, wenn er De
Trin. XV, 7, 11, an den Begriff der anima festhält und ein auszeichnen-
des Merkmal ihm beigibt, den Begriff der mens ; wie er denn auch in
einfachen Worten es ausspricht XII, 1, 1: animus qui substantia
spiritahs est, was man schheßhch auch noch auf die spiritueUe Schauung
deuten könnte, zudem er de an. et eius orig. IV, 23 meint, daß animus
nur den Tieren zukomme; in De Trin. XV, 1, 1 setzt er animus aller-
dings identisch mit mens. Und da erhebt sich nun für Augustinus eine
weitere Aufgabe, nach der Aufnahme des rationellen Faktors in dem
Seelenbegriff die Einheit der Seele zu beweisen, das Verhältnis von
24-
372 Kratzer,
Seele und Geist näher zu bestimmen, um so allen pantheisierenden
Tendenzen den j-^oden zu entziehen: Seele und Vernunft bzw. Seele
und Geist müssen im Menschen in Einheit gedacht werden. Inwieweit
es unserem Denker oelungeu ist, diese Einheit zu behaupten, werden
wir noch sehen. Wenn Gangauf die Identität beider aus sermo 128,
wo Augustinus erklärt: homo enim constat ex corpore et spiritu (cf.
])e Trin. XIV, 16, 22) im Zusammenhalt mit De civ. Dei XIV, 4, 2:
et ab anima namque et a carne quae sunt partes hominis, potest totum
significari quod est homo, ableiten will, so geht er über den in diesen
Stellen niedergelegten Gedanken hinaus, da die Begriffe bei Augustinus
nicht eindeutig bestimmt sind, und aus den angezogenen Stellen
auch die Identität zwischen Seele und Körper mit gleichem Kechte
gefolgert werden könnte. Eine unmittelbare Beziehung zwischen
Seele und Geist hat Augustinus hier nicht hergestellt; diese finden
wir in De an. et eins orig. 2, 2, in der Erldärung zweier dogmatischer
Stellen aus der heiligen Schrift, bei der man freilich im Zweifel sein
kann, ob in der Deutung der Worte: et factus est homo in animam
vimam nicht eine Erschleichung vorliegt. Doch es genügt zu wissen,
daß Augustinus den ersten Teil der Stelle: itane tu ignorabas, duo
quaedem esse animam et spiritum secundum id quod scriptum est
alisolvisti a spiritu meo animam meam, et utcumque ad naturam
hominis pertinere, ut totus homo sit spiritus et anima et corpus,
erklärt durch den zweiten: sed aliquaiulo duo ista siinul nomine
animae nuncupari, quäle est illud: et factus est homo in animam
vivam: ibi quippe et spiritus intelHgitur, itemque aliquando utrumque
nomine spiritus dici sicuti est: et inclinato capite tradidit spiritum,
ubi et anima necesse est inteUigatur et utrumque unius esse sub-
stantiae und damit seine praktische Stellungnahme diesem Probleme
gegenüber uns offenbart.
Das Hauptgweicht scheint mir auf die Ausführungen über das
Wesen der mens gelegt werden zu müssen, wobei allerdings zu be-
achten ist, daß es in diesem Zusammenhange für Augustinus nur
dogmatische Motive sind, die ihn zur Untersuchung üljer die Natur
der mens veranlassen. Es müssen diese Stellen mit den bereits oben
angegebenen im Znsammenhang gehalten werden.
Augustinus bestimmt die mens durch die mannigfaltigsten Prä-
dikate; sie erscheint ihm, wie schon gezeigt, in Rücksicht auf das
Wesen der Inhalte und der Beziehung zu denselben als die memoria,
Die Fi'age nach dem Seelendualisinus bei Aiioustiiius. 373
als das dem Menschen auszeichnende Merkmal (JJe Trin. XV, 23, 43:
quamquis memoria hominis, et maxime illa, quam pecora non liabent,
id est, qua res inteUigibiles ita continentur. . .), und tritt uns in einer
doppelten Beziehung entgegen, in der Beziehung auf sich selbst, und
auf ihre Inhalte; sie wird unter diesem Gesichtspunkt mit der mens
schlechthin identifiziert (X, 11, 18: memoria quippe, quae vita et
mens et substantia dicitur ad de ipsam dicitur: quod vero memoria
dicitur, ad aliquid relative dicitur), und so kann auch Augustinus
von der memoria, wie von der mens sprechen, daß ihr nichts so gegen-
wärtig sei, als sie sel])st: nihil autem tani in memoria, quam ipsa
memoria est.
In De Ti'in. X, 5, 7 tritt uns die meus iu anderer Fassung ent-
gegen, und zwar hebt hier Augustinus die Wesenseigenschaften hervor;
die mens ist intelligentia, oder in pleonastischer i\.usdrucksweise,
intelligentia rationalis; sie ist die spezifische Quahtät der mens,
welcher die Tiere entbehren (ibid. X, 8, 11): diese hat mit den sinnen-
fälhgen Gegenständen, und den imagines et simihtudines corporum
nichts zu tun, in denen sich die niedere Seele betätigt, die der Mensch
mit dem Tiere teilt (ibid X, 5, 7). In ibid X, 12, 19 wird sie unmittel-
bai- mit der memoria, in XV, 1, 1 mit der ratio identisch gesetzt, und
auf die mens bezogen.
In Verbindung mit dieser Zweiheit läßt Augustinus regelmäßig,
gleichsam als die Verbindung und Einheit der memoria und intelligentia,
den Willen oder die Liebe erscheinen (X, 21, 41), welche 3 Momente
in gleicher Weise am gleichen Leben der mens teilhaben. Dei' Wille
ist die Liebe der mens zu sich selbst, und so stellt sich dieser uns dar
als ein einheitliches, sich in jenem ternar sich entfaltendes Sein, das
in seinem Ansichsein (mens, memoria), in seiner Selbstkenntnis
(inteUigentia, notitia sui) und Selbstliebe (amor sui) sich zeigt (ibid. XV,
6, 100, 7, 15). Damit hat Augustinus die Erkenntnis und den Willen
auf eine Wesenheit zurückgeführt und wir verstehen jetzt seine Ei-
klärung in X, 11, 18: memoria quippe, quae vita et mens et substantia
dicitur, ad se ipsam dicitur; quod vero memoria dicitur ad aliquid,
relative dicitur, hoc de intelHgentia quoque et de voluntate dixerint:
et intelligentia quippe et voluntas ad aliquid dicuntur. Vita est autem
unaqueque ad se ipsam, et mens et essentia. Quocirca tria haec eo
sunt unum, quo una vita, una mens, una essentia: et quidquid aliud
a se ipsa singula dicuntur, etiam sinuil, non pluraliter, sed singulariter
374 Kratzer,
dicuntur, die mit dem soeben Angeführten in den übrigen Stellen
sich deckt.
Bei dieser Beweisführung Augustins muß jedoch sehr wohl ins
Auge gefaßt werden, worum es sich für unseren Denker in diesem
Zusammenhange handelt. Der Beweisgegenstand ist die Einheit der
Natur in der Gottheit zu zeigen und deren Nachbild im mcnschHchen
Geiste. Was Augustinus in il)id. X, 11, 18: . . . eo vero tria, quod ad
se invicem referuntur: quae si aequalla iion essent, non solum singula
singulis, sed etiam omni])us singula: noji utique se invicent caperent.
Necque enim tantum a singulis singula, verum etiam a singulis onmia
capiuntur. Memini enim me habere memoriam et intelligentiam et
voluntatem; et inteUigo me inteUigere et velle atque meminisse; et
volo me veUe et meminisse et inteUigere, totamque meam memoriam
et intelligentiam et voluntatem simul memini . . . item quidquid
intelhgo, inteUigere me scio, et scio me velle quidquid volo: quidquid
autem scio memini. Totam igitur inteUigentiam, totamque voluntatem
ineam memini. Simihter cum haec tria inteUigo, tota simul inteUigo.
Neque enim quidquam inteUigibilium non intelhgo, nisi quod ignoro.
Quod autem ignoro, nee memini nee volo. Quidquid itaque inteUigibi-
lium non inteUigo, consequenter etiam nee memini nee volo. Quidquid
autem inteUigibiUum memini et volo consequenter inteUigo (damit
wird (las inteUigere als stets aktueUes Bewußtsein des Geistes auf-
gefaßt, nicht als ein bloß habituelles, das das cogitare iioch voraus-
setzt). Voluntas etiam mea totam inteUigentiam totamque memoriam
meam capit, dum toto utor, quod inteUigo et memini. Quai)ropter
quando invicen a singuUs, et tota omnia capiuntur, aequaha sunt tota
singula totis singuUs, et tota singula sinuil omnibus totis, et haec tria
unum. unavita, una mens, una essentia, von dem Verhältnis der
einzelnen GUeder der bekannten Triade, von ihi'er gegenseitigen Durch-
di'ingung und einheitlichem Zusammensein in einer Wesenheit, so daß
der Teil dem Ganzen das Ganze dem Teil immanent ist, und was er
weiterhin zu sagen weiß von der bezeichneten verschiedenen Tätig-
keits weise derselben, die aUe in einem Ich sich treffen (XV, 21, 41 f.),
das läßt er auch mit schwankenden Modifikationen von der Trinität
gelten (XV, 17, 28).
In diesem Zusammenhange nmß der VoUständigkeit halber
noch auf eine andere Stelle hingewiesen werden. In De Trin. XI, 2, 2
führt Augustinus aus, welche Elemente im Begriffe der Liebe, in dem
Die Frage nach dem Seelenclualisraus bei Augustinus. 375
sich der Begriff der Gottheit erschöpfe (XV, 17, '29), eingeschlossen
sind, und erörtert denselben speziell in der Anwendung auf die Selbst-
liebe der mens. Das durch diese Untersuchung gewonnene Erkenntnis-
resultat, daß es etwas anderes sei, sich selbst zu lieben und etwas
anderes, seine Selbstliebe zu lieben, d. h. das wohl zu unterscheiden
sei zwischen dem Objekt der Liebe, und der Liebe als einer beziehenden
Tätigkeit, überträgt er dann auch auf die mens, insofern sie sich liebt,
und kommt in der Frage nach dem Seinswerte und der Reaütät der
Selbstliebe der mens zur Betrachtung des Verhältnisses zwischen mens
und Spiritus. Daß es sich hierbei um eine wirkhche Vielheit von Prin-
zipien handelt, dürfte die ganze Art und Weise der Darstellung von
Seite Augustinus zeigen, wenn auch seine Auffassung in dieser Sache,
wo es sich darum handelt, die Einheit der Gottheit auch in der Seele
dargestellt zu finden, nicht eine zweifellos klare und bestimmte ist.
Spiritus und mens faßt er in der Gegenüberstellung zum Körper, aus
deren Verbindunii' der Mensch bestehe, gleichwertig, d. h. als selbst-
ständii^e Weseidieiten, die auch nach Auflösung des compositum homo
retracto corpore noch fortbestehen: non enim quia mens et spiritus
ahcuius hominis est ideo mens et spiritus est. Retracto enim eo quod
homo est quod adjuncto corpore dicitur; retracto ergo corpore mens
et spiritus manet. Und es verhält sich hierljei nicht so wie bei den
relativen Größen der Liebe, daß mit der Aufhebung des einen Elementes
auch das andere aufgehoben ist: et haec quideni duo relative ad
invicem dicuntur. Amans quippe ad amorem refertur et amor ad
amantem. Amans enim aliquo amore amat, et amor alicuius amantis
est .... retracto autem aniante, nullus est amor, et retracto amore,
nullus est amans. Die Beziehung zwischen mens und spiritus ist eine
Beziehung auf das Wesen: essentiam demonstrat, nicht eine Be-
ziehung, wie sie besteht zwischen der Substanz und deren Qualitäten:
simul etiam admonemur, si utcumque videre possumus, haec in
anima existere et tamquaminvolut aevolvi ut sentiantur et dinumerantur
substantiahter, vel ut ita dicam, essentialiter, non tamquam in sub-
jecto ut color aut figura in corpore aut uUa aha quahtas aut quantitas.
Quidquid enim tale est, non excedit subjectum in quo est. Non enim
color iste aut figura huius corporis potest esse et alterius corporis.
Mag das Wissen und die Liebe der mens in der Identität mit der mens
ein substantiales Sein darstellen, da ja beide in ilu'er Tätigkeit über
die mens hinausgehen und auf eine Vielheit und Mannigfaltiirkeit von
876 Kratzer,
Objekten sich beziehen können, und we^cn ihres identischen Kinlieits-
j)unktes in der mens anch für einander gesetzt werden können (IX, 4, 5),
so trifft dieses Verhältnis bei (Ümi Begriffen der mens nnd sjjiritus
nicht zn: sie sind keine relativen Größen, die etwa da(birch zur Ein-
heit verschmelzen, daß sie einem Menschen angehören. (IX, 4, 6:
cf. Wilhelm Heinzelmann: Augustinus Lehre von der Unsterblichkeit
und Inmaterilität der menschlichen Seele. Jena 1874, der sich über den
Begriff des spiritus folgendermaßen ausspricht: das Subjekt der Wahr-
nehmung von Körperbildern wird von Augustinus in der Regel durch
spiritus bezeichnet, und im Unterschiede von der Vernunft, welcher
das ratiocinari und intelligere zukommt, propio sensu definiert als vis
quaedam aninuie mente inferior, ubi corporalium rerum similitudines
exprimuntur; de Gen. ad Lit. XII, 9. Anderseits will er doch unter
spiritus auch wiederum proprio sensu, distincte, den höheren mit mens
identischen, intellectuellen Teil der menschlichen Natur verstanden
wissen. Schli(>ßlich bemerkt er, die Frage um den spiritus sei schwierig;
das Wort werde in der heiligen Schrift in verschiedener Bedeutung
gebraucht; auch die ganze Seele werde damit bezeichnet, ja im
\veitesten Sinne jede sinnlich nicht greifbare Substanz, mithin sowohl
Gott selbst als der spiritus creator, wie der spiritus creatus, die
Menschen- und Tierseele. Was nun die Anwendung dieser Bezeichnung
auf die menschhchen Seelenvermögen betrifft, so scheint uns aus der
Vergleichung der hierher gehörigen Stellen zu folgen, daß er zwar
spiritus meist medial wie anima gebraucht, und im Wechsel mit aninui
auf beide Seiten der menschlichen Seelen bezieht: daß er jedoch be-
stimmter spiritus fast überall, wo es im Gegensatz zum Körper steht,
mit Einschluß der mens, also für die ganze Seele als ein schlechthin
unkörperliches, wo es dagegen im Gegensatz zur mens steht, aus-
schheßlich zur Bezeichnung des niederen Teiles der menschlichen
Seele gebraucht.)
Ich darf in diesem ZusaunncMihange die Frage nicht unerörtert
lassen, welcher Wert und welche Bedeutung den Stellen De Trin. XII,
3, 3f. ; X, 11, 18 gegenüber den Stellen De fide et sym. X, 23, de anim
et eins orig. 4, 2; 13ff. : De Trin. XV, 7, 11 zukomme. Betrachten
wir die zuerst angegebenen Zitate, so erkennen wdr, daß es Augustinus
in der fraghchcn Abhandlung darum zu tun ist, die mens schlechthin
in den Mittelpunkt des psychischen Lebens zu stellen, als ein Prinzip,
von dem sich Erinnern, Denken, Wollen als Tätigkeiten herleiten.
Die Frage nach dem Seelendualisiiuis bei Augustinus. 377
Der Fragepunkt auf den sich das Interesse unseres Denkers konzentriert,
ist, zu zeigen, daiä wir in der memoria, intelligentia, voluntas als
Tätigkeiten nicht eben so viele Substanzen entsprechen lassen dürfen,
sondern daß es sich um Tätigkeitsweise der einen lebendigen mens
handelt. Die Folgerung geht von der numerischen Einheit der mens
bzw. der Seele auf die numerische Einheit der Seelensubstanz schlecht-
hin. Schon die Bezeichnung der mens als substantia führt dahin, in
der memoria usw. nicht mehr als Zuständlichkeiten zu sehen, die
der mens als Attribut zugehören.
Die am bezeichneten Ort von Augustinus gegebenen Erörterungen
stehen schwerhch in einem Zusammenhang mit einem möglichen
psychischen Dualismus. Mag Augustinus die substantiell eine mens,
die die bekannte trias in sich begreift, im Sinne des menschlichen Er-
kenntnis- und Willensvermögens schlechthin fassen oder aber auch
dessen Beziehung zur ewigen Wahrheit mit in den Begriff aufnehmen,
so bleibt immerhin seine Behauptung von der una substantia bestehen,
weil diese Beziehung die metaphysische Wesenheit der mens in keiner
Weise berührt. Die Anhaltspunkte für die Annahme eines seelischen
Dualismus sind nur in der Beziehung zwischen menschhcher Seele
und göttlicher Vernunft gelegen, welcher die Seele die unwandelbaren,
feststehenden, allgemeinen Sätze verdankt und wodurch die Seele
selbst unvergängUch und unsterbHch wird, wobei natüiiich fest-
gehalten werden muß, daß diese Verbindung eine innere, lebendige,
tintrennbare Verbindung ist. Die inteUigentia erscheint dann als die
subjektive Fähigkeit oder Disposition der Seele, mit dem intelligiblen
Reich der Wahrheit in Beziehung treten zu können, die in Kücksicht
auf den apriorischen Charakter derselben als memoria erscheint,
(De Trin. X, 12, 19; XV, 23, 43), die die intelhgiblen Dinge in sich
hat (solil 11, 17, 33: sive enim figurae geometricae in veritate, sive in
eis veritas sit, anima nostra, id est intelligentia nostra, contineri nemo
ambigit; de Trin. X, 10, 13: duobus enim igitur horum trium memoria
et intelligentia multarnm reruni notitia atque scientia continentur).
Es kann ganz gleichgültig sein, wie Augustinus das Verhältnis
von Seele und Geist bzw. von Seele und Wahrheit und deren obersten
Xormen im Einzelnen gedacht hat. Der durchgehende Gedanke ist
immer der, daß die Seele veränderlich, wandelbar, daß die mens ihre
Aufmerksamkeit auf die unveränderhche Natur richten müsse in der
Erkenntnis der Wahrheit (XV, 6, 10; XIV, 14, 20), daß die unveränder-
378 Kratzer,
liehe Wahrheit dem Geiste gegenwärtiger sei als die Körper und deren
Abbilder dem kür})erliehen Schaiuingsvermögeu (De Gen. ad. Lit. XII,
36, 69), daß die unveränderliche Natur der Wahrheit uns stets nahe-
steht und mit ihrem gegenwärtigen Lichte, wenn auch über uns, so
doch bei uns erscheine (De Trin. XV. 6, 10: De Civ. Dei XI, 27, 2);
die immer wiederkehrende Erklärungsweise ist che durch das Licht,
die in anderer Form wieder durch adhaerere, jungi, inhaerere veritati
gegeben ist, die Walu'heit, das Licht des Lebens, das keinem von uns
lerne steht, in dem wir uns bewegen, leben und sind (De Trin. XIV,
2, 3; cf. qu. 54; de 1. arb. II, 12, 34), einem Lichte von dem die Seele
betroffen, berührt wird (De Trin. XIV, 15, 21; de mus VI, 1, 1), was
üleichbedeutend ist durch den allgegenwärtigen Gott selbst beleuchtet
werden (De Gen. ad. Lit. VIII, 12, 26). Diese Erleuchtung bestimmt
Augustinus als eine participatio verbi, als eine Teilnahme am Absoluten
und der allumfassenden allgemeinen Lichtquelle (De Trin. IV. 2, 4),
durch die der Weise selbst weise ist (De Gen. ad. Lit. o}). imp. 16, 57:
quae utique in deo est, ubi est etiam illa sapientia quae non participando
sapiens est, sed cuius participatione sapiens anima quaecumque sapiens
est; De Trin. XIV, 12, 15: et non sua luce, sed summae iUius lucis
participatione sapiens erit). Die nähere Bestimmung der participatio
nun läßt eine doppelte Fassung zu; erstens liedeutet sie Teilnahme
eines geschaffenen vSeins an seinem Urbild im platonischen Sinn, so
wenn er, wie in der oben zitierten Stelle, die Beschaffenheit eines
Seins abhängig macht von dessen Idee, ])zw. bedeutet participatio in
diesem Sinne Immanenz der Idee im Dinge (quaest 46). Daneben
finden wir eine andere Fassung, die im passiv des Infinitivs tangi,
irradiari, lUuminari ihren bestimmten Auschuck findet. Unter diesem
Gesichtspunkt ist participatio ein se transferre der ungeschaffenen
Weisheit in die geschaffene Vernunft, womit wir allerdings über die Be-
stimmung des bloßen illuminari nicht liinauskommen würden, wenn
Augustinus nicht im Begriffe der affectio eine nähere Erklärung ge-
geben hätte: es ist die participation eine Affektion der Seele, eine
leidendUche Zuständigkeit /um Zwecke der eigenen Lichtspendung
der Seele (De Gen. ad. Lit. L 17. 32: cum enim aeterna illa et incom-
mutabilis, quae non est facta, sed genita sapientia in spiritales atque
rationales creaturas se transfert, ut illuminatae lucere possint, fit in
eis quaedam luculentae rationis affectio), es ist eine Zuständlichkeit
der Seele, in der sie die Einwirkungen der Weisheit aufzunehmen
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 379
vermag, die aber, wie wir schon aus einem anderen Zusammenhange
wissen, ethische Reinigung voraussetzt (De Trin. IV, 2, 4).
Diese Affektion der Seele hat ihren Grund in der intelhgiblen
Beleuchtung durch die absolute Wahrheit, und zielt darauf hin, der
Seele selbst Licht zu geben für die der Seele eigentümliche Tätigkeit.
In diesem Lichte ist es gegeben, daß der mens gewisse Kenntnisse
und AVabrheiten in abdito mentis besitzt, die er stets weiß, und
unter diesem Gesichtspunkt ist dieses Licht selbst aufzufassen als der
rorc 7rou]xix6c für die allgemeinen, der Seele stets gegenwärtigen,
und von der Seele stets ge^vußten Wahrheiten. Doch erhält dieser
Gedanke dadurch eine bedeutende Einschränkung, daß Augustinus der
Seele eine spontane Eigenkraft zuschreibt, die mit Willkür, wenn
auch unter Mitwirkung und Tätigkeit des allgemeinen Lichtes aus der
Vielheit der Gegenstände auf einen die seehsche lü'aft leitet, und
diesen damit zum Gegenstande des Bewußtseins macht. Der Geist
bzw. die Seele wird diesem einen Gegenstande gegenüber tätig, und
setzt ihn gleichsam in das Licht vor seinem Angesichte, so daß dadurch
der Geist erst formiert wird. (Die reine Aktualität des Geistes ohne
Potentialität gilt nur für die eigene Tätigkeit des Geistes; für sein
Selbsterkennen, für sein Selbsterinnern, für seine Selbstliebe ist die
cogitatiü nicht erforderHch, weil für den Geist es keine Veränderung
gibt, wie für die Seele, deren Inhalt vielgestaltig ist, und die deshalb
ihre jeweihge Erkenntnisform von dem Gegenstand, quod cogitatur,
erhält). Das Licht, das über aller Erkenntnis steht, in Verbindung mit
dem seehschen cogitare ist der aktive Intellekt, der den Gedanken
unserer Erkenntnis erstehen läßt durch Herausnahme aus der Vielheit
der Erkenntnisdinge auf irgend eine Ermahmmg hin. (De Trin. XIV,
7, 9: admonemur esse nobis in abdito mentis quarundam rerum
quasdam notitias et tunc quodamodo procedere in medium, atque in
conspectu mentis velut apertius constitui, quando cogitantur: tunc
enim se ipsa mens et meminisse et intelhgere et amare invenit, etiam
unde non cogitabat, quando ahud cogitabat. Sed unde dici non
cogitaverimus, et unde cogitare nisi commoniti non valemus, id nos
nescio quo eoderaque miro modo si potest dici scire nescimus : ep. 120
2, 9); diese Erkenntnis ist ein innerhch gesprochenes Wort, das nur
dem Geiste verständhch ist (XIV, 7, 10; conf. X, 10, 17), setzt den
apperceptiv erfaßten Gegenstand voraus, an dem unsere Erkenntnis
sich formiert (De Trin. XV, 15, 25: Wissen ist der zu seinem
Gegenstand verlangte i\nblick des Geistes).
380 Kral /.CM-,
Dieses Licht, als welches Auj^ustiniis Gott ani>ibt, kiiniicii wir
nach dem Vorbild des Aristoteles als den aktiven Intellekt bezeichnen,
der zwar transzendenter Natur, von der Seele w(>senhalt verschieden,
aber mit der veriiiinftioen Seele in einem natürlichen Zusammenhani>e
steht, so daß er durch diesen Zusammenhan«»; die menschliche Seele zur
vernünftigen Seele macht; er schließt die intelligiblen Fornuui in sich,
die für die Seele selbst unmittelbai- feststehen und ihre wahre Er-
kenntnis erst möglich macht. Unter dem Bilde des Lichtes weist
Augustinus auf die umfassende Bedeutung des Intellektes für die ganze
menschliche Erkenntnistätigkeit hin (Ep. 120, 2, 10).
Da dieser Intellekt etwas Göttliches ist, wie wir gesehen, aber
doch an die Seele geknü])ft ist, so erscheint er naturnotwendig in einei-
doppelten Beziehung; in Beziehung auf sich selbst ist er, wie schon
gesagt, reines Leben, reines Denken, reine Tätigkeit, die sich und was
in ihr ist, erkennt, in Beziehung auf die Seele ist er das formende, er-
leuchtende, wirkende Prinzip. Es ist sofort weiterhin ersichthch, daß
sich dieser aktive Intellekt für die empirische Seele mit dem intelhgiblen
Gedächtnis deckt, in das die Seele denkend sich zu versenken vermag,
weil in ihm die Inhalte für sie bereit liegen: der Geist ist einheitlich,
die Seele ist vielgestaltig, auf eine Vielheit von Gegenständen hin-
geordnet, mögen ihr dieselben durch den Geist oder die Erfahrung
gegeben sein. Daß Augustinus die Seele aus dem Geiste ihre erste,
sicherste, ja die wahre Erkenntnis schlechthin schöpfen läßt, zeigt
von dem nahen Zusammenhang zwischen beiden. Was der Geist
bewußt weiß, weiß die Seele schlechthin, ohne es zu denken (De Trin.
XV, 9, 17; XIV, 7, 9). Aus dieser an sich wesenthchen Verschiedenheit
von Geist und Seele einerseits, des engen Zusammenhangs anderseits,
erklärt es sich, wenn Augustinus in De Trin. XV, 15, 25 von einem
sempiternuni vivere des Geistes spricht, von einem sempiternum
scire des sempiternuni vivere, dann aber vom cogitare sagt, daß es
unterbrochen sei. Was für den Geist ewig ist, ist für die Seele zeithch;
für sie gibt es keinen einheitlichen Akt in Beziehung auf mehrere
Gegenstände: nee tarnen sempiternum est cogitare vitam suam vel
cogitare scientiam vitae suae: quoniam cum aliud atque aliud coepetit,
hoc desinet cogitare quamquis non desinat scire. Ex quo fit, ut si
potest esse in animo ahqua scientia sempiterna et sempiterna esse non
potest eiusdem scientiae cogitatio.
Augustinus hat in der vorliegenden Frage seinen Vorgänger ge-
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 381
fluiden im Plotin: leider hat dieser Denker in der Bestimmung des
Verhältnisses von nus und Seele nicht alle Unklarheiten zu beseitigen
vermocht. Der Seelenbegriff ist bald weiter, bald enger gefaßt, und
so kommt es, daß die Seele schlechthin mit Einschluß des nus als das
wesentliche Merkmal des Menschen erscheint, dann aber mit Aus-
schluß des nus das AVesen des Menschen konstituerit. Der nus er-
scheint bald in allgemeiner, bald in individueller Fassung. In ersterer
Beziehung ist er über der Seele als allgemeine Wahrheit, in letzterer
in der Seele, in der seine Inhalte entwickelt und gesondert hegen,
und in seiner höheren Funktion als Prinzip der unmittelbaren Schauung
des GöttUchen, in seiner niederen Funktion als Prinzip des ver-
mittelnden Denkens uns entgegentritt: nach seiner allgemeinen und
individuellen Bedeutung aber gehört er der höheren Seelensphäre an.
Ich weise betr. dieser unbestimmten Auf fassungs weise hin auf Enn. V,
3, 3, wo wir auch zugleich die enge Beziehung zwischen beiden Denkern
sehen werden. Dabei müssen wir vorher auf einen allgemeinen Satz
Bezug nehmen (Enn. V, 1, 10), w^o es heißt: roig dh o. i/tr /.oyiZo-
f/trog, 6 ds XoyiChodaL xaQtycov und Plotin den vövq loyiL,6iitvoc: als
reines Denken bezeichnet, das fern von allem körperlichen im Intel) i-
giblen wohnt, wobei jedoch dieses Entferntsein nicht in räumlicher
Vorstellung gefaßt sein darf (cf. die Erklärung des platonischen Ge-
dankens, daß die Seele ihr Haupt im Himmel habe durch Plotin in
dem Sinne der moralischen Ablösung der Seele vom Körper mit
Augustinus De Trin. XV, 6, 10, wonach die Trennung und Erhaben-
heit des Geistes bzw. der Wahrheit über die Seele ebensowenig räum-
lich, sondern vielmehr im Sinne einer bloßen Beziehung zu einander
zu verstehen ist, wie auch die Entfernung von Gott oder Annäherung
an ihn zu verstehen ist als morahsche Bewegung, als Erfassen des
Götthchen, bzw. dessen Preisgabe De Gen. ad. Lit. VIII, 12, 26;
Enn. VI, 9, 7). Es ist vielmehr eine Beziehung, die Plotin wie Augustinus
durch den Begriff des Erleuchtetseins der Seele durch den Geist er-
läutert, von dem der reine Seelenteil die Spuren aufnimmt, oder wie
er mit Betonung der Aktivität des Geistes der Seele gegenüber sich
ausdi'ückt, die ivsQy/jfiara. Und Plotin bestimmt diese irsgyi/ficcTa
sogar näherhin durch die Idee der Gerechtigkeit, Gutheit, Schönheit,
von denen aus die Seele erst zur Erkenntnis der Wahrheit und der
Dinge gelangen kann (V, 1, 11), die die Seele, wenn auch vom Geiste
gegeben, doch in sich selbst besitzt (V, 3, 3f. ; aber wie hat es das Gute
382 Kratzer,
in sich selbst, fragt Plotin; deswegen, weil es von der Art des Guten
ist und zur Wahrnehmung desselben durch den Geist gestärkt wurde^
der es erleuchtet; denn dieser reine Teil der Seele nimmt auch die
Spuren des über ihn liegenden Geistes auf), die sie vergleichungs weise
im Interesse der Übereinstimmung der im Innern leuchtenden Wahr-
heit an die äußere Erscheinung der Dinge heranbringt (I, 1, 9:
()ifiXo}tBf ötj T('. xoinc xal ra tdta rc) ra ,««' öojitariyuc xal
orx avev oojfiaroQ nrai öoa 6i ov(hir(u öo'jj/aroc sie; tvtQysiar
Tcwra iöia ipvyfjQ ürat y.al rt/r di/cpoiar tJiixQiOir xoLovidvtjv
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olov owniöd^Tjöu Tijr yh xvQicog r//c ipvyfic r/~c dhid-ovc diävoiav.
cfr. I. 2; 4.)
Wir sehen, wie sehr Augustinus mit Plotin in der Überzeugung von
dem Verhältnis zwischen Geist und Seele, von der Aufgabe der Seele
und ihrer allgemeinen Voraussetzung für die Walu'heitserkenntnis
übereinstimmt; und der oben erwähnte Gedanke ist bei Augustinus
ein durchgehender, ja er tritt in seiner späteren Zeit mit um so größerer
Entschiedenheit und Klarheit hervor (De 1. arb. II, 12, 34; de v. reL
31, 58; de Trin. IX, 6, 10; XII, 2, 2; XIV, 15, 21). Plotin bezeichnet
nun das Verhältnis von Geist bzw. inteUigibler Welt und Seele näherhin
so, daß er dem höheren Seelenteil die Geistigkeit abspricht, weil er
für den Geist Selbsterkenntnis und Erkenntnis seiner eigenen Inhalte
fordert, während der höhere Seelenteil in seiner Tätigkeit gespalten,
auf die außer ihn selbst Hegenden Dinge gerichtet ist. Es ist der Geist
über der Seele, nicht ein Teil der Seele, er ist vom InteUigiblen herab-
gestiegen, und doch ist er der Seele eigen, er ist von der Seele ge-
trennt, und doch gebraucht ihn die Seele ; und doch wiederum ist er
letztes Ziel alles Strebens (V, 1, 3; V, 3, 3); zur Seele tritt der Geist
hinzu als Quelle aller wissenschafthcher Erkenntnis (VI, 9, 5), von dem
die Seele von obenher immer erhellt und erleuchtet wird (III, 8, 5).
Augustinus hat dieses Verhältnis nicht so im Einzelnen aufgefühit
wie Plotin, und er begnügt sich in zusammenfassender Weise zu sagen,
daß disponente ordine, conditore deo die Seele mit der Wahrheit
verbunden sei. Diese Verbindung in eine mystisch gerichtete Philosophie
eingeordnet, hat mehr als theoretische Bedeutung; sie soU die Seele
in allmählicher Ablösung von der Sinnlichkeit zum Wissen ihrer
Abhängigkeit vom Geiste gelangen lassen, aus dem sie hervorgegangen,
von dem sie in ihrem Sein und ihren Inhalten abhängt, zur Kenntnis
ao.
I
Die Frage nach deui Seelendualisuiiis bei Augustinus. 38
dos Geistes selbst vorzudi-ingen helfen, um in der Erkeiintnis des
Geistes sieh selbst und den Geist zu erkennen. Die Seele erkennt sich
selbst mir, soweit sie sich nach innen gekehrt dem Geiste zuwendet
(V, 3, 7) ; sie ist sich nur gegenwärtig, wenn sie sich zum Geiste wendet
(V, 3, 9). Durch den der Seele gegebenen Geist soll der Mensch den
Körper von sich selbst absondern, die animalische Seele mit ihi'en
Passionen abziehen, um in diesem Geiste selbst Licht seiend, den Geist
schlechthin zu erfassen: der Mensch wird durch den Geist Geist, um
im Geiste den Geist zu erkennen (V, 3, 9; 3, 5; VI, 9, 5). Dadurch
wird die Seele in den Stand gesetzt, durch den verliehenen Geist Geist
geworden, im Geiste sich selbst, ihren Ursprung und ihr Prinzip, die
Dinge in ihrer Einheit und Idealität, in ihren letzten Gründen zu er-
kennen. Und wie man vom Geiste sagt, daß er in der Erkenntnis
Gottes als seines Grundes auch alles andere erkennt, das von Gott
ausgegangen, und darum auch sich sel))st erkennt (V, 3, 7), so erkennt
sich die Seele im Geist und soweit sie Geist geworden, und in dieser
Erkenntnis besteht die Weisheit schlechthin, die Glückseligkeit.
Die Tendenz, in der Erkenntnis des einen einheithchen Prinzips
die volle Wahrheit zu erblicken, und entsprechend dieser Tendenz
alle Erkenntnisse auf ihre letzte Einheit zurückzuführen, ist ein für
Plotin und Augustinus gemeinsamer Zug; sie hängt mit dem religiös-
mystischen Charakter der beiden Philosophen zusammen, wonach
letztes Ziel alles Erkennens und Strebens einzig Gott ist, weil in ihm
volle Wahrheit und Ruhe gegeben ist. Dieser religiöse Zug tritt aus-
siesprochenermaßen bei Augustinus hervor, für welchen die Er-
kenntnis des Ursprungs bezüghch des Geistes auch noch dem Bedürfnis
Rechnung tragen sollte, im menschhchen Geiste das Bild der trinita-
rischen Gottheit aufzuzeigen: die fraghche Dreiheit des menschlichen
Geistes ist nicht deswegen das Abbild Gottes, weil der Geist sich
seiner erinnert, erkennt und liebt, sondern erst dann, wenn er daran
sich erinnert, daran denkt, von wem er geschaffen ist, und seinen
Urheber liebt; und in dieser Erkenntnis, in dieser Erinnerung, in
dieser Liebe besteht die Weisheit. Diese AVeisheit, in der Über-
zeugung des Geistes bestehend, seinen Ursprung in Gott zu haben, ist
nicht raenschhche Weisheit, sondern göttliche W^eisheit, und darum
ist der Geist in dieser Erkenntnis weise durch Teilnahme an der Weisheit
Gottes als der wahren Weisheit selbst weise, wähi'end die menschliche
Weisheit eitel ist; und es ist nur dem religiösen Zuge seiner Philosophie
;;84 Kratzer.
entsprechend, wenn Aiii>ustin\is die eii!;en(> Ki;ift des Mensehen o;ei>en-
uber der Ki*aft Gottes hintansetzt und in der Weisheit derer, die die
Weisheit Gottes nicht kennen, sondern iiire eiiiene AVeisheit begründen
wollen, in der Erkenntnis und Liebe ihrer selbst nur Torheit sieht,
und in der Torheit das i;lückselige Leben für unmöglich erachtet:
denn das glückliche Leben ist nur ein ewiges Leben, und da? ewige
Leben besteht in der Erkenntnis der ewigen unwandelbaren intelligiblen
Dinge (De Trin. XIV, 12, 15: XV, 4, 6): ich will wegen der Bedeutsam-
keit der ersteren Stelle diese im ganzen Umfang zitieren: De Trin.
XIV, 12, 15: haec igitur trinitas mentis nun propterea Dei est imago,
quia sui meminit mens, et intelligit ae diligit se: sed quia potest etiam
meminisse et intelligere et amare, a quo facta est. Quod cum facit,
sapiens ipsa fit. Si autem non facit, etiam cum sui meminit, seseque
intelligit ac diUgit, stulta est, meminerit itaque dei sui. ad cuius
imaginem facta est ejumque inteUigat ac diligat. Quod ut bi-evius
dicam, colat deum non factum, cuius ab eo capax est facta, et cuius
particeps esse potest; propter quod scriptum est: ecce dei cuhus est
sapientia: et non sua luce sed summae illiu« lucis participatione
sapiense rit atqueubiaeterna, ibi beata regnabit. Sic enim dicitur ista
hominis sapientia, ut etiam dei sit. Tunc enim vera est: nam si humana
est vana est. Verum non ita Dei qua sapiens est deus. Necque enim
participatione sui sapiens est, sicut mens participatione Dei. Sed
quemadmodum dicitur etiam justitia Dei, non solum illa qua ipse
justus est, sed quam dat homini cum justificat impium quem com-
mendans apostolus ait de quibusdam: ignorantes enim Dei justitiam,
et suani justitiam volcntes constituere, iustitiaeti Dei non sunt
subjecti: sie etiam dici potest dei quilmsdam, ignorantes dei sapientiam,
vel suam volentes constituere, sapientiae dei non sunt subjecti. und
setze dieser gegenüber Enn. V, 1, 1 und gewinne als gemeinsanuMi
Grundgedanken, daß die wahre Weisheit in der Erkenntnis des Ewigen
besteht, daß das Böse einen Grund habe in der Behauptung der eigenen
PersönUchkeit, der Individualität gegenüber der Kraft und Macht
des Absoluten.
Wir kehren nach dieser längeren Erörterung zum nus zurück
und seinem Verhältnis zur augustinischen mens. Dem nus kommt
als Prädikat ununterbrochenes Denken zu: aber die Tätigkeit des-
selben, sowie die Tätigkeit der höheren Seele, braucht, wie Zeller
bemerkt, nicht in das individuelle Bewußtsein zu gelangen; denn das
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 385
Bewußtsein sei nur der Reflex der geistigen Tätigkeit im Wahr-
nehmungsvermögen, und daher durch diese sinnhche Seite der Seele
vermittelt, oder mit anderen Worten: das Bewußtsein der Tätigkeit
des Geistes ist für die Seele, das seelische Bewußtsein nicht ein un-
bedingt bewußtes. Ein Bewußtsein der geistigen Tätigkeit des nus, oder
in der Terminologie Augustinus des Intellektes im Menschen ist dem-
nach bedingt. Augustinus konnte unter seiner Voraussetzung, daß der
Logos die einzige und unmittelbare Quelle alles Wissens sei, zu seiner
Lehi'e von der okkasionalen Aufgabe seines Erfahrungswissens gelangen :
der Geist bedarf der Erfalu^ung, um seines Inhaltes sich bewußt zu wer-
den, bzw. sich selbst als Objekt zu erfassen. „Denn wenn er nicht über
den Gegenstand nachdenkt . . ., denkt er sich nicht selbst, und kommt
nicht zu seiner Selbstkenntnis und Selbsthebe in der Weise, daß ein Be-
wußtseinsreflex dessen im impirischen Bewußtsein stattfinden würde."
Ich verweise hier nochmals auf de Trin. XIV, 6, 8: Ernst
Melzer (Augustini atque Cartesii placita . . . Bonnae 1860) findet
hier, wie schon bemerkt, mit Recht den Gegensatz des se nosse und
se cogitare der mens ausgesprochen und setzt dementsprechend, da
der Geist sich wohl wissen könne ohne sich denken zu müssen, die
perfecta sui scientia der mens, der sui cogitatio derselben gegenüber
als von einander unabhängig bestehend. Dieser Auffassung hegt der
stillschweigende Gedanke zu Grunde von einem transzendenten
Bewußtsein, das im individiellen Bewußtsein unter gegebenen Be-
dingungen zum Durchbruch kommt. Die Selbstschau der mens macht
Augustinus abhängig von dem sich denken: tanta est tamen cogi-
tationis vis ut nee ipsa mens quodam modo se in conspectu suo ponat,
nisi quando se cogitat: ac per hoc ita nihil in conspectu nientis est, nisi
unde cogitatur, ut nee ipsa mens qua cogitatur, quidquid cogitatur,
aliter possit esse in conspectu suo nisi se ipsam cogitando, sieht sich
aber damit unmittelbar im Widerspruch mit den neuplatonischen
Bestimnmngen seiner mens: quomodo autem quando se non cogitat
in conspectu suo non sit, cum sine se ipsa numquam esse possit quasi
ahud sit ipsa, ahud conspectus eins, invenire non possum, und führt
mit Festhaltung der Identität von Sein und Denken in der mens das
Selbstbewußtsein derselben auf einen gewissen latenten Schlummer-
zustand zurück, auf den Begiiff des Gedächtnisses, das geweckt
werden müsse: proinde restat ut ah quid pertinens ad eins naturam
sit conspectus eins, et in eam quando se cogitat, non quasi per loci
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVin, 4. 05
386 Kratzer,
spatium, sed incorporca conversion erevocetur: qiuun vero non se
cogitat, non sit quideni in conspectu suo, nee de illa suus formctur
obtiitus, sed tarnen noverit se taniquam ipsa sit sibi memoria sui.
Sicut multarum disciplinarum peritus ea quae invenit eins memoria
continentur, nee est inde aliquid in eonspeetu mentis eins nisi unde
cogitat ; cetera in areana quadam notitia sunt recondita quae memoria
nuncupatur und weiterhin: mens igitur quando cogitatione se con
spicit, intelligit se et recognoscit: gignit ergo hunc intelleetum et
Cognitionen! suam. Res quippe incorporea intellecta conspicitur, et
intelligendo cognoseitur. Nee ita sane gignit istam notitiam suam
mens, quando eogitando intellectam se eonspicit, tamquam sibi ante
incognita fuerit: sed ita sibi nota erat quemadmodum notae sunt res
quae memoria continentur, etiam si non cogitentur, olme zu merken,
daß dadurch der Begriff mens selbst verloren geht. Halten wir daher
diese Erklärung unseres Denkers fest, dann erhebt sich die notwendige
Frage, zu welchem Zeitpunkte, und aus welchem Grunde die mens
als wesenhaftes Denken zur bloßen Möghchkeit des Denkens herab-
gedrückt wairde, eine Frage, die Plotin lösen konnte, die aber Augu-
stinus selbst nicht in Angriff genommen hat. (De Trin. IX, 12, 18;
XIV, 6, 8f.) Es ist bemerkenswert, daß Augustinus selbst die Schwierig-
keit erkennt, welche in seiner LehiT liegt, daß der sieh stets gegen-
wärtige Geist, in dem Sein und sieh Gegenw^ärtig sein zusammenfallen,
sich denken müsse, falls er seine Selbsterkenntnis gewinnen wolle,
und er zeigt damit an, daß er sich des eigenartigen Doppelcharakters
seines Begriffes wohl bewußt ist, ohne jedoch zu einer klaren Analyse
kommen zu können. Es ist nicht so, als ob die Selbsterkenntnis der
mens an sich ein gewisser, näherhin unbestimmbarer latenter Zustand
w^äre, wde das mehi-gestaltige Wissen eines Gelehrten oder Künstlers
(Plurium disciplinarum peritus), das nicht immer aktuell gedacht
wird. Wäre solches der Fall, dann könnte dem Geiste nicht nach
Augustinus das semper sui meminisse, das semper se ipsam intelhgere
et amare zugesprochen werden, das unabhängig vom cogitare besteht
(De Trin. XJV, 7, 9: sed num qui recte possumus dicere, iste musieus
novit quidem musicam, sed nunc eam non intelügit, quia eam non
cogitat; inteUigit auteni nunc geometricam, hanc enim nunc cogitat?
Absurda est quantumapparet ista sententia), sondern nur die memoria
sui, d. h. die Möghchkeit, sich zu denken, und dem se ipsam intelhgere
et amare müßte das cogitare als Apperzeptionsakt vorausgehen.
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augastinus. 387
Es besteht noch eine zweite Schwierigkeit für Augustinus, die
eben dargelegten Gedanken von dem beständigen Selbsterkennen der
mens, indem er sich ganz nach seiner Totalität erfaßt, in Einklang zu
bringen mit seiner Lehre von der Enge des Bewußtseins, und mit De
Trin] XV, 10, 17 (cf. XV, 15, 25; XIV, 7, 9), wonach von stets ge-
kannten und gewußten Inhalten der mens ohne spezielle apperzeptive
Tätigkeit, und anderen Inhalten, deren Erkennen das cogitare ver-
langt, die Bede ist. Für das nosse der mens gibt es kein latentes nosse,
wie von anderen Gegenständen oder Inhalten es ein latentes Wissen
gibt. Wenn unser Denker das cogitare für das Wissen als voraus-
gehendes Moment fordert, und erklärt, daß es sich damit verhalte,
quemadmodum res quae memoria continentur, etiam si non cogitentur,
dann müssen wir in Betracht ziehen, daß das Gedächtnis sich nicht
bloß auf die vergangenen körperlichen Dinge, sondern auch auf das
gegenwärtige Intelhgible sich erstreckt (De Trin. XIV, 11, 14: qua
propter sicut in rebus praeteritis ea memoria dicitur qua fit ut valeant
recoli et recordari: sie in re praesenti quod sibi est mens memoria sine
absurdidate dicenda est). Es ist sofort klar, daß Augustinus in der
letzteren Bestimmung der memoria sich einen Hilfsbegriff geschaffen
hat, um eine unerklärbare Tatsache sich zu erklären. Der Sache nach
hat das semper se nosse et int elligere des Geistes mit der memoria,
wonach diese Selbsterkenntnis als inteUigibler Inhalt im Gedächtnis
gleich den übrigen gegenwärtigen aber nicht gedachten Inhalten —
und Augustinus zählt dazu auch den Geist : conf . X, 25, 36 — gegen-
wärtig sei, nichts zu tun.
Da Augustinus den conspectus mentis mit der Wesenheit der
mens identifiziert, gleichwohl aber denselben von dem cogitare ab-
hängig macht, so wird letzteres notwendig Voraussetzung und Be-
dingung für ersteres, und beide Begriffe fließen unter der Tatsächlich-
keit der angegebenen Identifizierung zusammen, oder aber es bleibt
das cogitare dem Selbstwissen der mens gegenüber als selbständig
bestehen und wir müssen dann annehmen, daß Augustinus ein vom
ersteren verschiedenes Subjekt konstatieren will, das sich im Akte des
Erkennens als bewußtes Subjekt setzt, und das in diesem Erkennen
sich immer als dasselbe erscheint.
Bezüghch jener Ausfühi'ungen, in denen Augustinus die Möglich-
keit, sich verschiedene Inhalte ins Bewußtsein zu rufen, auf das
Gedächtnis zurückführt, und sonach die Möghchkeit sich selbst im
•25*
388 Kratzer,
Bewußtsein gegenwärtig zu setzen, auf die memoria sui des Geistes
gründet, von einem habitualen Selbstbewußtsein zu sprechen, scheint
mir verfehlt. Wir wollen ganz und gar dahingestellt sein lassen, ob
ein habituales Selbstbewußtsein nicht einen Widerspruch involviert,
ein unbewußtes Bewußtsein sei. Wenn auch bei Augustinus, wie er
in seiner Ausführung über die memoria angibt, das unbewußte
psychische Leben eine große Rolle spielt, von dem der Geist nur in
den Erfolgen desselben Kenntnis gewinnt, und von einer memoria
sui des Geistes spricht, so darf diese Fähigkeit oder Möglichkeit des
Geistes, sich zu wissen, nicht gefaßt werden als eine Ablenkung des
Geistes von sich selbst, und Hinlenkung auf andere Dinge, die aber
jederzeit kraft der intentio voluntatis auf die mens selbst zurück-
geleitet werden kann, sondern als ein stetes unmittelbares Sichgegen-
wärtigsein im Wissen. Denn der Geist weiß um seine Zuständig-
keiten, und darum auch um sein Wissen um sich, und damit ist nach
Augustinus selbst die Erklärung der memoria sui als habituales Selbst-
bewußtsein hinfälhg. Zudem darf, wie schon erwähnt werden mußte,
nicht übersehen werden, daß Augustinus deutlich zwischen Inhalten
unterscheide, die stets nota sind, ohne daß sie gedacht werden, und
zu diesem nota eben das semper se meminisse etc. nebst den eigenen
erlebten Zuständigkeiten des Geistes rechnet und diese von Inhalten
unterscheidet, die erst unter der Wirkung des cogitare nota werden
(De Trin. X, 10, 14; XV, 10, 17); daß aber Augustinus mit dem nota
esse der erstgenannten Dinge ein aktuelles Wissen statuieren will,
scheint hervorzugehen aus ibid. X, 12, 19, wo er von der mens spricht
und einem semper se nosse semperque se ipsam velle, und diese Be-
stimmungen zur Grundlage für weitere Folgerungen macht, nämhch,
daß die mens, da sie sich stets wisse und stets w^oUe, auch seiner sich
erinnere und sich erkenne. Augustinus gibt hier für das theroetische
Verhalten der mens zu sich selbst eine Stufenreihe an, und läßt auf
das se nosse als das ruhende Erkennen ilirer selbst das aktive meminisse
folgen, in dem der Geist sich stets als der gleich gegenwärtige erkennt
(XIV, 11, 14), um im inti iligere sich als Objekt im Subjekt zu erfassen.
Augustinus läßt den Begriff des cogitare in seinem Inhalte zur Geltung
kommen, wenn er auch nicht formell gebraucht wird und ihn erst
verwendet, wo er von der Gegenüberstellung der mens und einem von
ihr verschiedenen gegenständlichen Objekte spricht: mentem quippe
ipsam in memoria et intelligentia et voluntate sui-medipsius talem
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 389
reperiebamus, ut quoniam semper se nosse semperque se ipsam velle
comprehendebatur; simul etiam semper sui meminisse semperque se
ipsam intelligere et amare comprehenderetur, quamquis non semper
se cogitare discretam ad ei quae non sunt quod ipsa est. Und weil
dieses intelligere nicht notwendig eine Beziehung auf ein anderes von
der mens selbst verschiedenes Sein einschließt, sondern diese zum
se intelligere auch einzig in Beziehung auf sich selbst gelangen kann,
darum die große Schwierigkeit, die er für die Unterscheidung der
memoria sui und intelligentia sui des Geistes : ac per hoc diff icile in ea
dignoscitur memoria sui et inteUigentia sui findet, und doch besteht
sie nicht unter der Annahme, daß der Geist in seiner an sich dem
empirischen Bewußtsein verschlossenen Tätigkeit unter gegebenen
Bedingungen in seiner Tätigkeit demselben sich offenbart.
Wollen wir hypothetisch das fragliche nosse der mens auf ein
habituales Selbstbewußtsein deuten, so muß demgegenüber jeden-
falls ein aktuales statuiert werden, das durch das cooitare bedinat
wäre, und in dem der Geist sich selbst gegenübersetzt und denkt,
wie denn auch Augustinus annimmt, daß der Geist erst durch sein
Denken Kunde gewinnt von seinem dauernden Selbstdenken und
seiner Selbstliebe. Diese Erklärung scheitert ebenso an den bereits
gemachten Ausführungen, daß Augustinus dem inneren Leben der
mens, das sich in se nosse, meminisse, amare bewegt, auch ein Wissen
um diese Funktionen zuschreibt, und somit auch für sie selbst die
Unterschiedlichkeit von Subjekt und Objekt konstatiert werden
kann, wenn diese für das Selbstbewußtsein gefordert ist: der Geist
weiß um sich, um sein Wissen, Lieben und Wollen, und dieses Wissen
um sich ist ein aktuelles; er schheßt aber auch eine Beziehung zu
einem von sich selbst verschiedenen Sein ein, er weiß um etwas, das
er selbst nicht ist, und demgegenüber er sich nicht immer in seiner
Unterschiedhchkeit denkt. Li diesem factum das habituale Selbst-
bewußtsein suchen zu wollen, daß die mens sich nicht immer denkt
im Gegensatz zu einem anderen, oder daß sie erst cogitando von sich
weiß, würde das se nosse in seiner Beständigkeit aufheben: dieses se
nosse oder scire soll ein AVissen sein, ein unbedingtes, weil mit der
Natur des Geistes gegeben, und soll zugleich zum Wissen erst werden
unter der Bedingung des cogitare.
Wenn Augustinus in De Trin. XV, 15, 25 ausführt, daß dem Geiste
als Attribut das sempiternum vivere zukommt, und ein ewiges Wissen
390 Kiat/cr,
von diesem Leben, so wiederholt er hier einen liekannten Satz. Und
wenn er dann seinen Gedanken weiterführt: nee tarnen senipiternum
est cogitare vitani suani, vel cogitare scientiam vitae suae: quoniani
cum aliud atque aliud coepetit, hoc desinet cogitare quamquis noii
desinat scire. Ex quo fit, ut si potest esse in animo ahqua scientia
sempitcrna et sempiterna esse non potest eiusdem scientiae cogitatio,
so setzt er hier Bestimmungen, wie sie einem endlichen Wesen zu-
kommen, indem er ihm Akte vindiziert von einem objektiv begrenzten
Umfange, die sich folglich nicht ununterbrochen auf das scire der
mens erstrecken können, weil die cogitatio auch von anderen Objekten
beansprucht wü-d, und diese immer nur auf ein Objekt gerichtet sein
kann; denn die psjT-hische Kraft ist eine eng begrenzte. Wie aber
dann das Wissen der mens noch fortbestehen soll, ist nicht ersichtlich.
Auch dieses bloße Wissen des Geistes um sich muß als Wissen ein
aktuelles sein, weil ja sonst das wissende Subjekt von diesem Wissen
nicht wissen kann. Ein Wissen, von dem ich nicht weiß, ist kein
Wissen, d. h. ich kann nicht wissen, daß ein Wissen in mir besteht.
Muß aber dieses Wissen vorausgesetzt und angenommen werden,
dann muß auch als notwendige Bedingung dessen die Stetigkeit des
cogitare gefordert werden, und so kommen wir wiederum zur Identi-
fizierung von beiden.
Das Bewußtsein erscheint, wie aus all dem hervorgeht, und
worauf schon öfter hinzuweisen war, in einer doppelten Gestalt; den
lebendigsten Ausdruck hierfür finden wir in der Unbegreifhchkeit
dieser Tatsache für Augustinus selbst, daß die mens deren Wesen mit
dem conspectus sui zusammenfällt, einer besonderen Hinordnung auf
sich selbst bedürfen soll, um in iluTn eigenen Blickpunkt zu gelangen.
Was mich hindert, in dem se nosse ein habituales Selbstbewußtsein
mit Storz und K. V. Endert (Der Gottesbeweis in der patristischen
Zeit; Freiburg 1869) zu sehen, ist, wie schon angegeben, die
Identität der mens mit ihrem conspectus, sowie die ausdrückliche Er-
klärung, daß dieses se nosse nicht im Sinne eines pertinere ad memoriam
aufgefaßt werden dürfe, da ja sonst dem inteUigere et amare das
cogitare vorausgehen müsse ; daraus geht Mar hervor, daß Augustinus
das se inteUigere der mens als aktuales stetes Sichselbsterfassen auf-
gefaßt ^\issen will, das aber dem empirisch bedingten Be\^alßtsein der
Seele verborgen bleibt; weiterhin die Tatsache, daß er den Begriff
der memoria modifiziert und ihn in die Bedeutung der steten Sich-
Die Frage nach dem Seelendualismus bei Augustinus. 391
Selbstgegenwart des Geistes setzt. Die Ideutifizieriing der mens in
ihrem Wesen mit dem conspeetum esse oder im conspectum suum
poni ist eine Bestimmung des plotinisclien nus, die Forderung des
cogitare für das Wissen der Selbstschau von selten der mens ist dem
plotiuischen Seelenbegriff entnommen ; in das unmittelbare emph'ische
Bewußtsein ragt ein denkendes Prinzip herein, das in seinem Denken
erst durch einen seehschen Akt von der Seele erkannt wird. Für
dieses empirische erfaln-ungsmäßige Be^^^,lßtsein gilt dann, daß das
conspectum esse der mens sich verhalte als ein Wissen, das potentiell
sei und der Aktuahsierung bedarf, wenn es ein bewußtes Wissen
werden soll. Wir kommen immer wieder auf eine Zwiespältigkeit im
Begriffe der mens bei Augustinus zurück. Der stets sich denkende
Geist schheßt Erkenntnissubjekt und Erkenntnisobjekt zugleich in
sich. Das Erkenntnisobjekt erzeugt im Erkenntnissubjekt die Er-
kenntnis; diese setzt also beide Faktoren voraus. Soll aber etwas er-
kannt werden können, muß es erkennbar sein, womit aber keines-
wegs gefordert ist, daß alles Erkennbare auch faktisch erkannt wird.
Diese Erörterung wendet Augustinus auf die mens an und läßt sie
unter den soeben gegebenen Bestimmungen zur Urheberin ihrer
Selbsterkenntnis werden, in welchem Erkenntnisakte sie sich ganz
erfaßt; und nicht bloß das: da die Erkenntnis der mens mit deren
Wesen identisch ist, so setzt mit jedem Erkenntnisakt die mens sich
selbst (De Irin. IX, 12, 18; XIV, 6, 8f); daß dieses Sicherzeugen
der mens nicht als unterbrochenes aufgefaßt werden darf, ist klar;
ebenso klar ist, daß zwischen dem nosse als Erkenntnisakt des Geistes
und der darauf eintretenden notitia sui der mens nicht eine zeitHche
Differenz hegt, sondern bloß eine kausale Abhängigkeit bezeichnet
sein soll, da ja Sein und Erkennen bei der mens zusammenfallen;
und weil das, deshalb wie beim plotinischen nus nicht eine teilweise,
sondern eine vollständige Erkenntnis ihrer AVesenheit. Und bei dieser
Identität von Denken und Sein im Begriffe der mens hat es unter
Voraussetzung des gleichen Objektes keinen Sinn zu sagen; nee ita
sane gignit istam notitiam suam mens, quando cogitando intellectam
se conspicit tamquam sibi ante incognita fuerit : sed ita sibi nota erat
quemadmodum notae sunt res quae memoria continentur etiam si
non cogitentur; (De Trin. XIV, 6, 8). In der genannten Konfundierung
des plotinischen Geist- und Seelenbegriffes in dem einen Seelenbegriff
der mens steht dann unser Denker die Forderung, daß, falls sie sich
392 Kratzer,
erkennen solle, denken müßte (De Trin. X, 9, 12). Die gleiche immer
im Wissen sich gegenwärtige mens bedarf einer besonderen Hinordnung
auf sich durch irgend welche Anregung. Indem Augustinus dann
weiterhin erklärt (ibid. IX, 13: non ergo adjungat aliud ad id, quod
se ipsam cognoscit, cum audit, ut se ipsam cognoscat, zeigt er offenbar,
daß es sich mit dieser Angabe überhaupt um keine nähere Bestimmung
des uns geläufigen Begriffes mens handelt und daß die Selbsterkenntnis
desselben auf eine äußere Anregung hin einen anderen Sinn hat.
Augustinus konfundiert hier unmittelbares Bewußtseinserlebnis mit
den durch Analyse des Begriffes gewonnenen und vom plotinischen
nus herübergenommenen Merkmalen. Der Intellekt hat sich immer
gewußt, weiß aber dieses Wissen erst durch einen Willensakt der
Aufmerksamkeit (ibid. VIII, 11): cognoscat ergo semet ipsam nee
quasi absentem se quaerat, sed intentionem voluntatis, qua per alia
vavatur, statuat in semetipsam et se cogitat. Ita videbit quod nunquam
se non amaverit, nuncquam nescierit).
Den Begriff der mens als wesenhaftes Denken hat Augustinus
bei Biotin gefunden, während das subjektive individuelle Bewußtsein
dessen bedingt ist durch ein Objekt, dem sich die mens gegenüber-
setzt (ibid. XII, 19). Diese schon oben angeführte Stelle im Zusammen-
hang mit ibid. 9, 12 : sed cum dicitur menti: cognosce te ipsam, cognoscit
se ipsam macht das Bewußtsein der mens abhängig von der Scheidung
in Subjekt und Objekt; hierin liegt die Grundlage für die von Augustinus
in de Magistro gemachten Erörterungen. Die oben besprochene
Konfundierung ist es auch, welche Augustinus seine eigene Forderung,
daß die mens sich denken müsse, wenn sie ein Bewußtsein von sich
haben solle, nicht verstehen läßt. (De Trin. XIV, 6, 8: quomodo
autem quando se non cogitat, in conspectu suo non sit, cum sine se
ipsa nuncquam esse possit, quasi ahud sit ipsa aliud conspectus eius
invenire non possum, wenn er auch dann an derselben Stelle eine
Lösung in dieser Frage zu geben sucht, indem er schreibt: nee ista
sane gignit istam notitiam suam mens, quando cogitando intellectam
se conspicit, tamquam sibi ante incognita fuerit: sed ita sibi nota
erat, quemadmudum notae sunt res quae memoria continentur
etiam si non cogitentur). I
Bei dem jetzigen Stand der Erörterung läßt sich die Frage, ob
wir bei Augustinus einen psychischen Dichotomismus zu konstatieren
haben oder nicht, wohl leichter entscheiden. Vor allem wird zu er-
■^1
Die Frage nach dem .Seelendualismus bei Augustinus. 393
iiinern sein, daß Augustinus zu einer letzten endgültigen Entscheidung
in diesem Punkte nicht gelangt ist. Diese wird ihm unmöglich, durch
Aufnahme der neuplatonischen Gedankenreihe, die ja selbst der Un-
klarheit und Unbestimmtheit in diesem Gegenstand nicht entbehrt,
in denen er in gleicher Weise wie seine Autorität die Seele als das
Mittelglied zwischen der AVeit der Erscheinung und der Welt des
Geistes betrachtet, mit der höheren Sphäre dem Intelhgiblen zu-
gewandt, mit der niederen in der Welt der Ei'scheinungen, des Körper-
lichen sich betätigend, von der ersteren erleuchtet, mit unwandelbaren
Wahrheiten erfüllt, und in lebendiger Verbindung mit ihr, die letztere
selbst bildend und formend (De Trin. XII, 3, 3). Von weiterer Be-
deutung ist die Gegenüberstellung von mens und spiritus, wenn
auch in der Erweiterung der Bedeutung des Begriffes spiritus dieser
der mens wieder gleichgesetzt wird. So klar und deutlich auch
Augustinus vom spiritus und mens spricht, und durch Überweisung
des ersteren an die Erfahrung, des letzteren an das intelhsible Er-
kenntnisgel)iet eine reale Scheidung zu begTünden scheint (XIV, 16, 22 ;
De Gen. ad. Lit. XII, 7, 16: quidquid enim corpus non est et tamen
aUquid est, jam recte spiritus dicitur ; et utique non est corpus quamquis
corpori similis sit, imago absentis corporis, nee ille ipse obtutus quo
cernitur), die im späteren Mittelalter noch zur Annahme einer Viel-
heit von Wesensformen im Menschen f ühi'te (Eberle : Der Augustinismus
und der Aristotelismus in der Scholastik gegen Ende des 13. Jahr-
hunderts ; Archiv f. Lit. u. Kirch. Gesch. d. M. A. Bd. V, Freiburg 1889),
so hebt er durch Hineinnahme der Funktion des spiritus in die mens
diese Scheidung wieder auf, um in diesem selbst zwei Seiten zu schaffen,
die eine der Welt des praktischen Handelns, die andere der unmittel-
baren Schauung der intelhgiblen Wesenheiten, dem Reiche des In-
telhgiblen, losgelöst von allem Körperhchen, zugewandt, um aus ihm
alle Wahrheitserkenntnis zu schöpfen (De Trin. XII, 3, 3; XIII, 14, 22).
Xach diesen Darlegungen scheint die vormirfige Frage unter der
Fülle der Motive, die Augustinus Denken beherrschen unlösbar. Unter
dem Gesichtspunkt des Entstehens und Werdens unseres Wissens,
der Analyse des Begriffes mens wird dafür zu sprechen sein, daß
die mens das Doppelelement des platonischen nus einschheßt (XV,
15, 25: illa etiam quae ita sciuntur, ut nuncquam excidere possint,
quoniam praesentia sunt, et ad ipsius animi naturam pertinent, ut
est illud quod nos vivere scimus. Id ergo et si qua reperiuntur simiha,
n94 Kratzer,
in quibiis imago Dei potius intucnda est, etiamsi semper sciuntur,
tarnen qiiia non semper etiam eogitantur quoniodo de his dicatur
verbiim senipiternum, cum verbum nostrum iiostra cogitatione dicatur
invenire difficile est. Sempiternum estenimauimo vivere sempiternum
est scire quod vivit: nee tarnen sempiternum est cogitare vitam suam
vel cogitare scientiam vitae suae: quoniam cum aliud adque aliud
coepetit, hoc desinet cogitare, quamquis non desinat scire. Ex quo
fit, ut si potest esse in animo aliqua scientia sempiterna et sempiterna
esse non potest eiusdem scientiae cogitatio), wonach die mens ihrem
Wesen nach Denken ist, wesenhaftes Selbstdenken und doch der An-
regung zum Selbstdenken, d. h. zum Denken, das der einzelnen Ver-
nunft in das Bewußtsein kommt, bedarf, ein Moment, das auch in der
mittelalterhchen Philosophie, speziell bei Albertus Magnus noch nicht
Uberwoinden ist. Die mens ist nach Augustinus wie der nus nach
Plotin das wesenkonstitutive Element des Menschen, oder die mens
rationahs, wie er öfters auch sagt in genauer Präzisierung dieses
Begriffes. (De Trin. XII, 3, 3.) In ihrem idealen Zustande ist sie, wie
alle Dinge, Leben im ewigen ungeschaffenen Lichte, im Worte, in dem
aUe Dinge vor ihrer Schaffung, in ihrem vorwelthchen unzeithchen
Sein Leben haben, das keinem Geschöpfe ferne steht. (Ibid. IV, 1, 3;
De Gen. ad. Lit. V, 15, 33 ff.; DeMagistro XI, 38; die Hypostasen bei
Augustinus und Plotin treffen sich im allgemeinen in ihren Bestim-
mungen nicht; über die Identität im Einzelnen vergleiche Grand-
george: St. Augustin et le Keoplatonisme, Paris 1896, Im Ein-
zelnen darauf einzugehen, ist nicht meine Absicht, und hegt
nicht im Rahmen dieser Arbeit. Ich will nur hinweisen, daß
die Bestimmungen, die Augustinus vom Intellektus, vom Logos,
der zweiten Hypostase der Trinität gibt. Plotin bereits dem Einen
zuschreibt, und daß in den betr. Attributen die Übereinstimnmng
eine wörthche ist; das eine erscheint bei Plotin in Beziehung auf das
außer ihm Liegende als das Belebte, das Leben, das Tragende, in dem
die Dinge sind, indem sie sich bewegen, das allen Dingen nahe ist,
das als die Erzeugerin der Dinge erscheint, das selbst nicht gut,
nicht schön, nicht denkend ist, sondern über all diesen Prädikaten
steht. Augustinus ist in den Bestimmungen seines Logosbegriffes
hierin Plotin nicht gefolgt, wohl aber in der Bezeichnung seines Logos
als Lebensquelle cf. Enn. VI, 9, 9: ov yaQ djroTSTfj///i6f}^a ovÖi
'/co()\q tOf/8V ei xal jrccQefiJceoovoa t] of'>//«roc (fvoig jtqoc avrrjV
Die Frage nach dem Seelendualisinus bei Augustinus. 395
ijl^iäc aiXxvotr, CüX' tf/jivtofiev xal acoCöfad-ai oc dovrog, tira
djioöTcwxoq axeivovg, alX cht ■/oQrjyoirTog tcog. äv ^ ojtSQ aüriv.
AVenn auch Augustinus mit Vorliebe in der Erkenntnis der Wahr-
heit die Seele mit dem Logos in Beziehung setzt und die Wahrheits-
erkenntnis von der Berührung der Seele durch den Logos abhängig
macht, so dürfen wir doch nicht übersehen, daß er besonders unter
ethischen Gesichtspunkten mehr die Gottheit schlechthin, Deus,
nicht seinen Logos als Quelle des Lichtes anerkennt und damit den
Begriff Deus in Korrespondenz mit dem plotinischen Einen setzt
VI, 9, 7: ov yccQ XBirai Jtov iQ/j/tcöüar avrov ra al'j' Iöxlv tcö övra-
(Jtrcp d^iysiv txelro jtccqov, rfö 6' ddcvccTovrTt ov xc'cQiijriv, wobei
die Annäherung oder Entfernung von Gott im Sinne der Annäherung
oder Entfernung im Willen gefaßt wird Conf. X, 26; De Gen. ad.
Lit. 8, 12), anderseits aber wieder das Licht der Seele, das nach Biotin
unmittelbar für die Seele vom nus ausgeht auf die Erleuchtung von
Seiten Gottes nicht des Logos zurückgeht. Die ursprünglich gegebene
Verbindung der Seele mit dem Leben, Sein, der Weisheit schlechthin,
bleibt auch noch bestehen nach der Vereinigung dieser ideal be-
gründeten Wesenheiten mit dem materiellen Sein, wenn dieselbe
auch in bedeutendem Masse durch Abkehr von dem ewigen Lichte
gelockert erscheint. Gegeben zur Erleuchtung der Menschen, die in
Sünde und Irrtum befangen, es zurückwiesen, hat es die Seelen zur
Aufnahme seiner selbst geeignet und fähig gemacht, und zwar durch
den Heraustritt aus der Gottheit und Vereinigung mit der Menschen-
natur. So erscheint als vornehmster Zweck der Inkarnation die Ver-
mittlung der Weisheit, die Erleuchtung des höheren Seelenteiles, die
Augustinus als participatio bezeichnet. (De Trin. IV, 2, 4: contra
Acad. III, 19, 53; contra Ep. manich. 36: docet autem unus verus
magister, ipsa incorruptibilis veritas, solus magister interior qui
etiam jani exterior factus est ut nos ab exterioribus ad interiora
revocaret.)
XII.
Die Kausalität bei Kant in neuer Beleuchtung.
Von
Prof. Dr. Joh. ZahlHeisch.
In der Kausalität haben wir zwar anch ein Beharrliches, nämlich
das Kansalitätsverhältnis, wie in der Substanz; aber hier ist der not-
wendio- vorauszusetzende Begriff auf Wandelbarkeit ausschließlich
gebaut. Man könnte sagen: AVährend der Substanzbegriff auf dem
Wandel beruht, ist die Kausalität auf der Beharrung aufgebaut. Aber
so gut, wie wir die Substanz nicht durch Erfahrung im gewöhnlichen
Sinne bestimmen können, da eher die Erfahrung wegen des den Bestand
der Substanz bedrohenden Tatbestandes es unmöglich machte, insofern
die Substanz nur im Spiegel der Veränderlichkeit wahrgenonnnen
wü"d, ebenso kann die Kausalität nur dui"ch eine gewisse Alt des Be-
harrens gefunden werden. Diese Beharrung beruht dai'auf, daß, da
Kausalität immer die Annahme einer Erscheinung vor einer anderen
unter Zugrundelegung der ewig formalen Zeitanschauung als Funda-
mentes bedeutet, immer das Bleibende an der Kausalität darin be-
steht, „daß dadm-ch als notwendig bestimmt wird, welcher" jener
beiden Zustände, die in der Imagination das Eine dem Anderen
vorangehen läßt, vorher, welcher nachher und nicht umgekelirt müsse
gesetzt werden" (Kiit. d. r. V. S. 181). Habe ich z. B. ein mit Pulver
gefülltes Faß, welches durch einen Funken explodiert, so ist immer
zuerst das Pulver gegeben und dann erst fällt der Funke hinein, nicht
umgekehrt, daß ich einen Funken habe, in welchen jenes Faß hinein-
gerät. Daher nenne ich den Funken die Ursache dafür, daß das bereit
stehende Faß in die Luft fliegt, nicht umgekehirt dieses Pulverfaß
eine Ursache für irgend eine Besonderheit jenes Funkens. Wenigstens
ist das der natürliche und gewöhnliche Vorgang. Und so in allen
anderen FäUen: Die Sonne und der Regen nüissen unbedingt gegeben
sein, auf daß der Regenbogen entstehe, nicht der Regenbogen ist
Ursache der Sonne und des Regens usw. Also eine bestimmte Sukzession
muß vorhanden sein, welche durch den Zeitablauf charakterisiert
und durch eine integrale Wahrnehmungsbestimnning materialisiert
ist. Darauf deuten die Worte S. 191 und 196, erstere bezüghch des
Die Kausalität bei Kaut in neuer Beleuchtung. 397
Zeitablaufs, letztere bezüglich der Materialisierung. In Hinsicht der
letzteren nehmen wir, nm die Einzelheiten des jeweihgen Kaiisal-
prozesses zu gewinnen, die materielle Kegel vorweg. „Wk antizipieren
nur unsere eigene Apprehension, deren formale Bedingung, da sie
uns vor aller gegebenen Erscheinung selbst beiwohnt, allerdings
a priori muß erkannt werden können.'" Natüi-hch gilt das für jeden
einzelnen Kausalfall, aber auch für die ganze Kausalität. Bedenken
wii- aber nun, was fiü- ein gewaltiger Apparat an Methoden und
Operationen dazu gehört, einen besonderen Fall zu erkennen, indem
wir ja die Wahrnehmung, Einbildungsla-aft, Bestimmung des Falls
nach den Kategorien usw. zunächst in Anwendunir bringen müssen,
so ergibt sich, daß wir das betreffende Ziel erst dann erreichen, wenn
wir uns zuerst alle rudimentären Erscheinungsweisen zurecht gelegt
oder, besser, wenn wü' vor allem die niecb-igeren Potenzen bestimmt
haben, von denen der zu erklärende Fall die Vollendung, wenigstens
in relativem Sinne, bildet. Eines der hier notwendigen Ingredientia
ist der unter den „Grundsätzen erwähnte Satz des saltus non datur
(Kl-, d. r. V. S. 2131). Er will nicht weniger besagen, als daß in der
Natur keine Zufälligkeit herrscht. Damit meint K. natüi-lich die der
Wissenschaft unterworfene Natur.
Wir gelangen aber damit zu einer prinzipiellen Frage: Hat die
Philosophie Wissenschaftscharakter? Denn mit der Bejahung oder
Verneinung dieser Frage steht und fällt alle Kausalität, alle damit ver-
knüpfte Notwendigkeit. Man kann darauf sagen: Aber z. B. Mathe-
matik beweist doch die absolute Notwendigkeit der Ereignisse und
wenn nichts anderes, so muß die Mathematik den Dingen und der
Philosophie unter allen Umständen Wissenschaftscharakter verleihen.
Aber Mathematik ist nur etwas Formelles, während die Entwickluno-
der Philosophie auch den substantiellen, dynamischen, materiellen
Faktor unter die Lupe ihrer Betrachtung bringt. Mathematik als
solche bietet keinen Anhalt, diese letzteren Bestandstücke al.^ solche,
die Dynamik, die Materie, die Substanz zu entwickeln. Wohl ruht sie
auf diesem Fundamente, denn die Ursprünge der Mathematik (Zahlen-
lehi-e und Geometrie) weisen mit Naturnotwendigkeit auf dieses
Dynamische usw., ja in der praktischen Verwendung des Mathemati-
schen werden wir immer gestört durch unvorhergesehene physikalische,
elementare Einflüsse, wie wir z. B. alle Tage erleben, falls es sich zeigt,
daß selbst die genannten mathematischen Messungen, Schienen-
398 Johann Zahlfleisch,
geleise, Tuiinelbautcn, Maschinenkonstruktionen vor der Allgewalt
der Naturmächte keinen Bestand haben und, ohne daß wir ein Unglück
voraussehen, dasselbe eintritt. Also ist auch Mathematik kein Elixier
in philosophischer Beziehung, kein Allheilmittel, welches es doch sein
sollte, WTun Philosophie ilu"en Zweck erfüllt. Ja nicht einmal das
relativ beste Heilmittel ist Mathematik; hat man es ja doch gerade
dieser Wissenschaft zum Vor\nu'fe gemacht, daß sie das Massenelend
durch Fabriken und Maschinenbetrieb, der doch nur auf der genauen
Konstruktionsmöghchkeit beruht, durch Erfindung von eben solchen
AVaffen u. dgl, durch die in ilu^em Gefolge auftretenden Schäden in
der Sozietät (Sozialdemoki'atie) auf ihrem Gewissen hat. Mindestens
kann man von der physischen Seite auf die mathematische die Schuld
an aller Misere besagter Art wälzen und die Grenze ist schwer zu ziehen.
Also, wenn die Mathematik kein ewig geltendes exaktes Mittel
gegen die Gebrechen dieses Lebens ist, was sollte es dann sein? Kurz —
die Philosophie als solche hat keinen Wissenschaftscharakter. Wir
müssen uns daher schon bescheiden und in jene Worte Kants vom
saltus non datur das hineinlegen, was sie im eigenthchen Sinne be-
deuten wollen: Wenn wir von Kausahtät reden wollen, — und daß
wir dieselbe brauchen, daran ist gar kein Zweifel — so besteht kein
Zufall, keine außerhalb der Notwendigkeit befindliche Wunderkraft,
sondern Alles hängt naturgemäß zusammen. Daran ändert sogar die
Einsicht in überirdische Zustände nichts. Denn in der Tat gibt es
solche ; wir brauchen nur unsere Augen zu erheben ; denn da erblicken
wir die Sterne, auf welche wir keinen Einfluß nehmen, obschon wir
selbst unter der Kraftwirkung vor allem unserer Sonne stehen, von
welcher doch auch angenommen werden muß, daß sie gleichfalls
der Einwirkung von selten anderer Gestirne unterliegt. Freilich haben
wir hiermit keine sichere Gewähr gegeben. Aber das Ablaufen aller
Erscheinungen in der Natur und im Menschenleben, sowie es sich
unseres Geistes Augen vorspiegelt, zeigt trotz Elementarereignissen,
Naturumwälzungen und KJ:iegsungiück doch so viel Konsistenz und
Widerstandsfähigkeit, daß man mit fast gi'ößerer Sicherheit darauf
schwören kann, daß auch in Zukunft die Dinge so weiter gehen werden,
als man davon überzeugt ist, daß das Menschengeschlecht immer
wieder nur dm"ch Geburten seine Lücken ausbessert, so wie ihm die-
selben allerdings durch den sicheren Tod der Individuen und — Völker
veranlaßt werden. Zudem finden wir, daß in unserem Gefühlsleben,
Die Kausalität bei Kant in neuer Beleuchtung. 399
in Sitte, Recht und Gesetz, in Gesellschaft und Kunst die Einfluß-
nahme des Rechten und Guten auf etwaige Auswüchse reoelmäßig
in dem Sinne der Ausgleichung erfolgt und Überhebungen immer auch
wieder — man weiß nicht immer recht, wie? — zu Boden geschlagen
werden, während geringfügigeren und umechtmäßig unterjochten
Faktoren der endliche Sieg über das Gemeine und Niedrige mit Natur-
notwendigkeit geUngt. Also es ist richtig: in mundo non datm casus,
non datm* fatum, non datur hiatus. Man könnte auch hier sagen:
In hoc signo vinces. Vertrauen zur Natur, Vertrauen in ihre dadurch
prognostizierten Gesetze, das allein veranlaßt uns zu dem wissen-
schafthchen und praktischen Tun, welches die Menschheit nun vielleicht
schon Milhonen von Jalu'en übt.
Vergleichen wir nun aber diesen Beweis mit dem Kantschen.
K. sagt, daß ein bloß subjektives iVufeinanderfolgen noch keine Gewähr
dafür biete, daß am Ende der Sachverhalt nicht auch umgekehrt
werde. Bei Betrachtung der Teile eines Hauses könnten diese entweder
von unten nach oben oder auch umgekehrt von oben nach unten
reproduziert werden. Wollten wir diese subjektive Betrachtungsart
auch bei Beurteilung von an sich in gleicher Weise bezüglich des
Beisammenseins der Elemente des Kausahtätsgedankens beschaffenen
Teile desselben (Ursache — Wirkung — Pulver — Funke) anwenden,
so müßte, insofern wü* von einer Ursache erst nach vollzogener Wirkung
sprechen (denn wo und wann eine Wirkung, da und dann ist auch eine
Ursache, so daß beide wenigstens in Gedanken einen Moment zu
gleicher Zeit gegeben sind), der Entscheid schwer fallen, welches
von den beiden Ursache, welches Wü'kimg ist. Daher bedarf es eines
uns dmch eine Verstandesregel (nicht dmch die Humesche Gewohn-
heit) gegebenen Apriorisatzes, auf daß wir uns in den zuletzt bezeich-
neten Fällen kausahter ziu^echt finden.
Also einer Regel bedürfen wir, die uns, ebenso wie die einzelnen
Kausalvorgänge, objektiv gegeben sein muß, d. h. die a priori, wie
auch bei der Substanz, den Kategorien und bei Raum und Zeit
gesetzten Apriorismen müssen hier objektive Bedeutung haben.
Indem diese Apriorismen durch Erfalu'ung sich in uns festsetzen, er-
halten wir zugleich den Eindruck der Notwendigkeit, womit zugleich
das Gesetz der Kausalität gestützt wird, weil uns dasselbe besagt,
daß unbedingt auf eine zum Zwecke der Hervorbringung einer Sache
gesetzte Ursache auch die Wirkung erfolgen muß, wozu eben und
400 Johann Zahlflcisch.
wodurch jede Zufälligkeit ausgeschlossen ist, insoferne alles auf Ver-
änderung beruht, eine Veränderung uns aber immer nm- unter dem
Bilde der wirkhchen oder vermeinten Kausalität klar gelegt werden
kann, da sonst der menschliche Verstand kein Verstand mehr wäre
oder derselbe nur bruchstückweise wirken müßte. Zu dieser Kausalität
gehört aber auch das feste Fundament der äußeren Anschauung.
Denn wo Erfahrung, da ist Anschauung. Diese muß innerhalb des
Rahmens der Kausalität sich in Form der Bewegungsqualität äußern
(Kr. d. r. V. S, 219), weil Kausalität auf dem Grunde der Veränderung
ruht und weil letztere nur durch die Anschauung der Bewegung
möglich ist. So basiert das eine auf dem anderen; und sowie wir
Substanz auf Veränderung, diese auf der Natm- der Kausalitäts-
beziehung, diese wieder auf Bewegung, Raum, Zeit sich gründen
sahen, ebenso verhält es sich mit den Postulaten, Kategorien usw.
Nichts anderes will w^ohl auch Natorps Erldärung der Objektivität
des Erkennens bei Kant durch das Bild von der Bewegung nach zwei
entgegengesetzten Richtungen (bei Frischeisen-Köhler, moderne
Philosophie S. 90), wobei nur zu bemerken wäre, daß dem wegen des
bloß idealen Zusammentreffens der beiden Richtungs- und Bewegungs-
zustände es immer noch nötig erscheint, daß zum Zwecke der Aus-
füllung der hiermit entstehenden Lücke aller menschliche und götdiche
Intellektuahsmus allein nicht ausreicht, da ja noch andere Faktoren,
wie Schopenhauer, Deußen, Siegwart, Wartenberg, Hartmann, Drews,
Fichte, AVundt, Schleiermacher, Jacobi beweisen, mächtig um Einlaß
begehi-en. Alle die von diesen Männern gemachten Einwendungen
gehen darauf hinaus, daß zwischen zwei Dingen die Entscheidung
fallen muß. Entweder ist Subjekt und Objekt getrennt, oder die
beiden faDen in dem Ichbe\Mißtsein, auf welches Alles bezogen wird,
zusammen. Letztere Annahme ist wiegen Fichtes Fiasko unmöglich
geworden. Also bleibt nur, daß man den Dualismus annimmt, freihch
einen durch hypothetische Bestimmungen gewährleisteten Duahsmus.
Eine Überbrückimg dieses Duahsmus könnte durch die in neuester
Zeit in die Wege geleitete Untersuchung des emotionalen Faktors
insbesondere in Hinsicht auf seine Verwendung beim Denkprozesse
(Heimich Maier in Tübingen) auf Grund psychophysischer Unter-
suchung a la Alfred Lehmann möglich werden. Vgl. meine, nächstens
in der „Neuen metaphysischen Rundschau'' in Berlin erscheinende
Abhandlung über diesen Gegenstand,
^
XIll.
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche
Darstellung.
Von
Dr. phil. Luise Krieg.
Der Glaube an die lebensfrohe Götterwelt des Homer und Hesiod
war erschüttert. Mochte der künstlerische Sinn der Griechen sich
auch durch den olympischen Kult befriedigt gefühlt haben, dem
denkenden, forschenden Geiste konnte er auf die Dauer nicht ge-
nügen. Mit der Sehnsucht nach dem unbekannten Gotte verstärkte
sich der Trieb nach Wahrheit. Wer ist der Ursprung alles Seins,
wenn es die Olympier nicht sind? Was ist Wahrheit? Was ist das
Beharrende, Beständige, Absolute, welches ist die Lebensquelle, die
nie versiegt, sondern ewig ist, ohne Anfang, ohne Ende? Man nannte
diesen Lebensspender, diesen Grund des Seins die Substanz. Die
Griechen suchten sie bald in der stofflichen, bald in der gedanklichen
Welt, immer aber war es die Frage: Was ist die wahre ovoia, was
ist die Substanz?, die sie bewegte.
AVar die überlebte Volksrehgion eine Vergötterung der Natur-
kräfte gewesen, so Heß man nun den Mythos bei seite und suchte
das Wesen der Natur mit dem Verstände zu erfassen. Man wollte
den Schleier, mit dem die Außenwelt die Substanz verhüllte, lüften.
Die ersten, die das unternahmen, waren die Milesier. Sie glaubten.
die Substanz in einem Urstoff, einem Element gefunden zu haben,
aus dem sieh alles andere Sein entwickelt. So führte Thaies alles
Leben auf das Wasser zurück, Anaximander sah die Substanz in
einem gedachten Urstoffe, dem ajcsiQor, einem unbestimmten, un-
endhchen Etwas, aus dem sich auf mechanischem Wege durch Aus-
sonderung das Kalte und das Warme, das Flüssige und das Trockene
bildete, und Anaximenes erklärte die Luft für den Ursprung alles
Seins nach Analogie der menschüchen Seele. Denn wie diese den
Körper, so halte die Luft die Welt zusammen.
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVin. 4. 26
402 Luise Krieg.
Es war die Liebe zur Natur, die den Milefieru diesen Weg der
Forschung wies, während die Pythagoreer, vom Geiste der Musik
getrieben, die Lösung des Welträtsels mit Hilfe der Mathematik
versuchten. Diese Wissenschaft lehrte sie, daß nur die Zahlen und
ihre Verhältnisse unbedingt gewiß, „ohne jeden Lug" sind. Ein
Hauch der Ewigkeit wehte sie an bei der Erkenntnis, daß die Eins
mit ihrer unendlichen Vermehrbarkeit nach oben und ihrer unend-
lichen Teilbarkeit nach unten auch das einzige Unendhche, Ewige
auf Erden ist. Sie spürten den wahren, ewigen Formen, dem Maß
und der Harmonie in der Welt nach, und da sie die mathematische
Gesetzhchkeit in der ganzen Natur wiederfanden, so war für sie die
Zahl — ein Gedankending — das Element aller Dinge, der Erzeuger
alles Lebens. Aus der Eins entwickelten sie den Gegensatz der un-
geraden und geraden Zahlen, des Begrenzenden und Unbegrenzten
und führten den Begriff des Gegensatzes überhaupt in ihrer Welt-
erklärung durch.
Diesem Duahsmus traten die Eleaten entgegen. Xenophanes,
hingerissen von Bewunderung für die Natur und das Göttliche in
ihr, brach in das anbetende Bekenntnis aus: „Gott ist tv xcd jräv\
Es ist dasselbe Gefühl, das Kant zu dem Geständnis trieb: „Zwei
Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Be-
wunderung und Ehi-furcht, je tiefer und anhaltender sich das Nach-
denken damit beschäftigt. Der bestirnte Himmel über nur und
das morahsche Gesetz in mir." Es ist dasselbe Gefühl, das dem Men-
schen sicher sagt, das Gemeinsame des Einen und des Alls, des Geistes
und der Natur ist das Göttliche, in ihm ist alles. Die Gottheit, das
Sein ist nur eines. Denn nur, was widerspruchslos gedacht werden
kann, ist wahr, existiert. Die unendhche Zeit, der unendhche Raum
existieren. Denn sie haben keinen Gegensatz. Und so dachten sich
die Eleaten das wahi'e Sein unendhch, unteilbar und unkörperlich
(Mehssos), überall sich selbst gleich; ein Sein, das nur gedacht werden
konnte, das aber nicht erkennbar war. Ihre Einheitslehre gipfelte
in dem Satze des Parmtnides: „Dasselbe ist Denken und Sein."
Die Vielheit der Außenweltdinge und ihre Abwandlungen war für
sie nur eine trügerische Vorspiegelung der Sinne.
Gerade diese Veränderlichkeit hielt Heraklit von Ephesos für
das Einzige, was immer war und ist und sein wird. Für ihn gab es
kein Sein, sondern nur ein Werden, für ihn war das einzig Feststehende
Das Substanzproplem, eine philosophie geschichtliche Darstellung. 403
die Erkenntnis, daß ,, alles fließt", daß alles in ewigem Wechsel be-
griffen ist. Denn erwiesenermaßen erzeugt jedes Ding sein Gegen-
teil, aber beide sind nur verschiedene Äußerungen ein und derselben
Grundkraft, des Feuers, das den ewigen Kreislauf der Dinge hervor-
ruft. Aus dem Feuer wird Wasser, aus diesem Erde, das Trockene
verwandelt sich wieder in das Flüssige und dieses in Äther, den feu-
rigen Hauch. So ist das Feuer der Ausgangspunkt der ewigen Ord-
nung, das Gesetz, das alles Werden, das alle Veränderung bewirkt.
Weder die Eleaten mit ihrer starken Einheitslelu-e vom Sein noch
Heraklit mit seiner Lehre vom Werden haben die Welt des Seins
und die der Erscheinung in Einklang miteinander gebracht.
Diesen Mangel suchten Empedokles, Anaxagoras und Demokrit
zu beseitigen, indem sie zu dem einen unwandelbaren Sein die Be-
wegung hinzufügten, durch die das Werden erklärt wird. Ihre Sub-
stanz besteht aus immer sich gleichbleibenden, unveränderhchen
^lassenteilchen, die sich nur in verschiedener Menge verbinden und
trennen und dadurch die verschiedenen Gegenstände und den Wechsel
der Erscheinungen schaffen. Empedokles setzt die Substanz aus
vier (nCcö/iaTa, aus vier Lebenswurzeln: Feuer, Wasser, Erde, Luft,
zusammen, die zu einer Kugel vereinigt waren und durch den von
außen herantretenden Streit in Bewegung gebracht und voneinander
getrennt wurden, so daß sie sich nun verschieden mischen zu orga-
nischer und anorganischer Welt. Der Streit hat weiter keine Funktion
als die des ersten Bewegers. Die Verbindung der Teile ist daher
eine zufälKge, aber nur die sinnvollen Körper haben Lebenskraft.
Wie bei Empedokles aus Würzelchen, so geht bei Anaxagoras die
Welt aus unendhch vielen o.-rtQf/ara oder Lebenssamen hervor. Sie
wurden, damit sie sich verbinden und trennen konnten, von außen
her durch den rovc, die Weltvernunft, bewegt. Dieser vovg ist die
Ursubstanz, das feinste, reinste und leichteste aller Dinge, also noch
stoffhch gedacht, aber ungemischt, wenn auch teilbar; denn er
ist nicht nur der Anstoß zur Bewegung, wir finden ihn auch in den
Menschen, den Tieren, den Pflanzen. Im Gegensatz zu dem Streit
des Empedokles verfolgt er noch einen besonderen Zweck, die Welt-
regierung; denn er herrscht mit Einsicht über die Dinge. So unter-
scheidet Anaxagoras zwei quahtativ voneinander verschiedene Sub-
stanzen, den votg und die ojrtQfiata.
Durch das Moment der Bewegung wird der Gedanke des mecha-
26*
404 Luise Krieg,
nischen in dio Philosophie eiiiii^cführt. Der bedeutendste Vorläufer
der modernen mechanischen Naturauffassung ist Demokrit. Die Welt
des Seienden, die Substanz, besteht nach ihm aus unendlich vielen,
kleinsten Teilchen, sie sind unteilbar, unge worden, unvergänglich,
unsichtliar, aber doch körperlich gedacht. Ihrer Unteilbarkeit wegen
nannte er sie Atome. Sie bewegen sich aus Notwendigkeit, ohne
Zweck, und damit sie sich bewegen können, denkt er sie getrennt
durch den leeren Raum. Mit dem Begriff der unsichtbaren Atome
und des leeren Raumes konstruiert er ein „Sein ohne Materie". Die
Atome sind nur quantitativ voneinander verschieden, nur verschieden
an Gestalt, Lage und Größe, „an sich" existiert nur das Atom, die
reine Form, die ö;f/y//«T«. So stellt Demokrit der Stoffsubstanz eines
Tales die Formsubstanz gegenüber. Zwischen beiden liegen die
mannigfaltigsten Denkmöghchkeiten für Substanzerklärungen. Eine
jede könnte, weil logisch folgerichtig aufgebaut, wahr sein. AVelche
von ihnen entspricht nun der tatsächhchen Welt? Welches ist das
Kriterium der Wahrheit?
Gibt es überhaupt eine allgemein gültige Wahrheit? Die So-
phisten waren es, die diese Frage aufwarfen und dahin beantworteten,
daß für jeden Menschen das wahr sei, was ihm als wahr erscheine.
Es gab für sie keine absolute, nur eine relative Wahi'heit, eine Er-
kenntnis, die ihrer Art nach dazu angetan war, zu leugnen und ein-
zureißen. Es mußten erst die ganz Großen kommen, um wieder auf-
zubauen, die ganz Großen, die den genialen Glauben an eine allgemein-
gültige Wahrheit in sieh trugen und die Kraft spürten, sie zu finden.
Sokrates sah von dem eigenthchen Substanzproblem ab. Ihm
lag vielmehr daran zu ergründen, was jeder einzelne Gegenstand
„an sich" sei. Durch die Fragestellung: quid iuris? suchte er die
Berechtigung der Benennungen, suchte er das Wesen der einzelnen
Dino;e aufzudecken und in einer Definition festzuhalten. Durch
diese seine Methode wies er seinen größeren Schüler Plato auf das be-
gTiffliche Sein hin.
Plato ging den Definitionen auf den Grund und fand, daß die
Begriffsbestimmungen uns nur möglich sind, weil wir in unserem
Geiste die Idee des wahren Seins haben. Die irdischen Gegenstände
sind nur Spezialfälle der Uridee, diese ist das Musterbild, das Allge-
meine, von dem die Einzeldinge nur Abbilder sind. Die Vernunft-
dinge, die Gedankendinge sind das ursprüngliche, das walu'haft Seiende,
Das iSubstanzproblein, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 405
sie sind die Substanz. Aber wie kamen dieee Vernunftdinge in unsere
Seele? Die x\ntwort ist von hinreißender, poetischer Schönheit.
Sie sind nicht durch Abstraktion, durch Denkprozesse erworben oder
der Seele eingeboren, sondern sie sind Erinnerungen, die die Seele
aus ihrem vorirdischen Dasein mit auf diese Welt brachte. Anfangs
existierten nur der Demiurg, das formlose Substrat — beide vergäng-
lich gedacht — und die sich selbst stets gleichbleibende Ideenwelt.
Aus diesen beiden mischte der Demiurg die Weltseele, aus ihr ent-
standen die Seelen. Ehe nun die Seelen auf die Erde gingen, traten
sie eine Fahrt nach den seligen Gefilden der Wahrheit an, wohnten
bei den göttlichen Ideen und brachten von dort Erinnerungen mit,
die auf der Erde durch die Sinne getrübt werden. Mag Plato nun den
Ideen außerhalb der irdischen Welt eine reale Wirkhchkeit zuer-
kannt haben oder nicht, jedenfalls erklärte er die allgemeine Idee,
das Vernunftding, wie wir es in unserem Geiste erschauen, für die
Substanz, für das walire Sein.
An diesem Punkte setzte sein Schüler Aristoteles, der dem hohen
Gedankenfluge des Meisters nicht folgen konnte, ein. Ihm ist nicht
das Vernunftding die Substanz, für ihn existiert wahrhaft nur der
einzelne Gegenstand. Das den einzelnen Gegenständen Gemeinsame
— die platonische Idee — , das in sie hineingelegt wird, ist die Sub-
stanz. Sie ist der Träger der Eigenschaften, die wir durch die Sinne
wahniehmen. Jeder einzelne Gegenstand hat auch eine Ursache
und einen Zweck, die in ihm verborgen liegen und sein Wesen aus-
machen. Dies ist der DuaHsmus von Ursache und Zweck, so daß
wir bei Aristoteles schließlich drei Substanzen unterscheiden müssen.
Neben dem einzelnen Gegenstande nennt er auch noch Stoff und
Form, die Ursache und Zweck entsprechen, als Substanzen. Der
Stoff ist gestaltlos und enthält nur die MögMchkeit zu einer realen
Existenz in sich. Zur Wirklichkeit erhebt ihn erst die Form, erst
sie gibt dem Stoff das Leben, erst sie verleiht ihm das wirkliche
Dasein.
Demgegenüber faßten die Stoiker Stoff und Form, Körper und
Geist als eine Einheit auf, für sie war nur der Körper wirklich. Da-
durch wurden sie zur Annahme einer stoffhch körperlichen Substanz
geführt. Alles, was Kraft, was Leben hat, alles, was wirkt, ist Körper,
also auch Abstraktes, auch die Seele ist Körper, ist Substanz. Man
fing eben an, nach dem hohen Geistesflug der drei Heroen die wahre
406 Luise Krieg,
ousia wieder woniger in der begrif fliehen und wieder mein* in der
sinnlichen AVeit zu suchen.
Das tat in konsequenter Durchführung Epikur von Sanios.
Er wollte die Vielheit der irdischen Erscheinungen dadurch erklären,
daß er alles Bestehende in Atome zerlegte. Die Atome sind die Sub-
stanz, sie bewegen sich im leeren Räume. Während sie aber bei
Demokrit nur gedachte Wirklichkeit besaßen, legte ihnen Epikur
reale Wirklichkeit bei unter Leugnung jedes Zweckgedankens.
So lösten die philosophischen Systeme einander ab. Das eine
hob das andere auf, und jedes beanspruchte doch Allgemeingültig-
keit für sich. Da war es kein Wunder, daß sich schließlich eine skep-
tische Grundstimmung der Menschheit bemächtigte, die daran ver-
zweifelte, die Beschaffenheit der Dinge „an sich" überhaupt je er-
fassen zu können. Sie ist unbekannt und wird immer unbekannt
bleiben. Denn die Sinne trüben die Kräfte des Verstandes.
Unser Gang durch die griechische Philosophie von Thaies —
zur Skepsis zeigt uns, daß im Altertum der Begriff der Substanz
direkt auf die Dinge selbst geht. Die Substanz ist den Alten eine
Form des Seins und darum auch des Denkens. Das Substanzproblem
ist hier rein ontologischer Natur.
Im Mittelalter verband sich in der heidnischen wie in der christ-
lichen Philosophie mit dem Wunsche nach Erklärung des rätsel-
vollen Universums eine starke religiöse Sehnsucht und der Glaube
an die Unsterbhchkeit. Neuplatonismus einerseits, Patristik und
Scholastik andrerseits befehdeten und befruchteten einander gleicher-
weise.
Ihnen allen gemeinsam ist der Gedanke von der Einheit der
Substanz, den Plotin als Panentheismus entwickelte. Das wahrhafte
Sein ist nach ihm das göttliche Ureine, das Ungewordene, die Su))-
stanz ohne alle besonderen Eigenschaften, das Absolute schlechthin.
Aus ihm geht durch Ausstrahlung die Weltvernunft mit der Ideen-
welt hervor, aus dieser die Weltseele, welche die Ideen in der sinn-
Hchen Materie sichtbar darstellt. Die Materie, die Körper sind das
gewordene Sein oder nach Plato das Nichtseiende und dementsprechend
das, was vergeht.
Die chisthche Philosophie fülnte den Gegenstaz von ungewordenem
und gewordenem Sein in das ethische Gebiet über und leitete die
Lehre von der Unsterblichkeit der Seele daraus ab. Das Ungewordene
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 407
ist das Prinzip des Guten im Menschen, repräsentiert durch die Seele,
die, weil ungeworden, nicht vergehen kann, also unsterblich ist.
Das Gewordene ist das Prinzip des Bösen im Menschen, der Körper,
der, wie alles gewordene Sein, auch vergänghch ist.
Hatte der Neuplatonismus die Substanz als Einheit aufgefaßt,
deren Ausstrahlung das Nichtseiende ist, so sah die christliche Philo-
sophie von der Ausstrahlungstheorie ab und lehrte eine einheitliche
göttliche Substanz, die die Fülle der untergeordneten Substanzen
umfaßt. Man glaubt an Gott als den Quell alles Seins, aber man
identifiziert ihn in keiner Weise mit dem All. Die götthche Sub-
stanz ist die überwelthche Ursache alles Seins.
Dieses Dogma soll nun philosophisch begründet werden, daher
die Versuche der Gottesbeweise, deren berühmtester der Anselmsche
ist. Anselm konstruiert aus dem reinen Begriff Gottes dessen Existenz.
Weil wir uns Gott als schlechthin vollkommen denken, so kann er
nicht nur ein Begriff sein. Denn sonst müßten wir uns ein noch
vollkommeneres Wesen vorstellen, das auch Eealität besäße, also
kommt Gott als dem vollkommensten W>sen nicht nur begriffliche,
sondern auch objektive Realität zu.
Wie stellte sich nun die christliche Philosophie zu den der gött-
lichen Substanz untergeordneten Substanzen? Die untergeordneten
Substanzen waren die Begriffe und die Körper. Kam den Begriffen
oder den Körpern Realität zu, und wie war diese zu denken? Um
diese Frage drehte sich der UniversaMenstreit, der die Gemüter das
ganze Mittelalter hindurch erhitzte. Es ist dieselbe Frage, die schon
Plato und Aristoteles in Gegensatz zueinander gebracht hatte, die
dann die Syrer, später die Araber übernahmen und die nun auf syrisch-
arabischem Wege an die christhche Philosophie des Abendlandes
herangebracht wurde. Sind die Vernunftdinge oder die einzelnen
Gegenstände das Reale? Im Mittelalter spielt das Moment des zeit-
lichen prius eine große Rolle, das Ursprüngliche, das Erste ist auch
das Reale.
Die Realisten, an ihrer Spitze Scotus Eriugena, erklärten: außer-
halb Gottes ist nichts. In ihm sind die Ideen, die Allgemeinbegriffe.
Diese sind die Substanzen, welche die einzelnen Gegenstände aus
sich heraus entwickeln, bilden. Sie sind daher nicht nur die logi-
schen, sondern die wahrhaft realen Formen des Seins.
408 Luise Krieg,
Diesem schroffen Realismus gegenüber nahm Abälard einen ge-
mäßigteren Standpunkt ein. Er spricht dem Allgemeinen an sich
und im besonderen Existenz zu. Die AUgemeinbcgriffe, die Ideen,
waren in Gott vor aller Zeit, ,,v()r" allen Dingen. Gott brachte seine
Ideen an den einzehien Gegenständen zur Erscheinung, sie existieren
also „in "den Dingen, sie machen deren eigenthches Wesen aus, und
wir finden durch den Denkprozeß der Vergleichung, durch Ausschei-
dung des bloß Zufälhgen und Zusammenfassung des Gemeinsamen,
Gleichartigen das Allgemeine, wir schafften es im menschlichen Ver-
stände „nach" den Dingen. Die Gattungsbegriffe haben demnach
ihre Wirklichkeit an den einzelnen Gegenständen.
Den gemäßigten Standpunkt nahm auch Thomas von Aquin
ein. Er beweist die Existenz Gottes mit Hilfe des Kausalgesetzes,
indem er von der Wirkung, nämlich der Welt, auf die erste Ursache,
auf Gott schheßt. Nur Gott, die absolute Substanz, existiert an
sich, von sich, aus sich selbst. Seine Wirkung, die Welt, stellt ein
Stufenreich der substanzialen Formen dar, eine Entwickelungsreihe
von den niedrigsten Formen bis hinauf zur Vernunftseele des Men-
schen, die Gott, das unendliche Sein, erkennen, erfassen möchte.
Im Gegensatz zu den Realisten standen die Nominahsten. Sie
hielten die einzelnen Gegenstände für das Ursprünghche, für das
wirkhch Existierende, die Gattungsbegriffe aber nur für Abstrak-
tionen des Verstandes aus den Einzeldingen, also erst nachträglich
auf logischem Wege gefunden. Wie damals alle philosophischen
Lehren, so wurde auch diese auf das kirchliche Dogma angewandt.
Roscehnus erläuterte daran die Unmöglichkeit der götthchen Trinität,
und so wurde der Nominalismus von der Kirche verdammt.
Erst im 14. Jahrhundert gewann er wieder an Bedeutung. Duns
Scotus und besonders Occam griffen diese Lehre von neuem auf.
Sie schrieben dem Einzeldinge den höheren Wert zu. Denn erst
durch die persönhche Note erhalte das Allgemeine das Leben. Die
Allgemeinbegriffe seien nur Zeichen, nur termini, die nur das gedachte,
das objektive Sein der Dinge angeben. Die einzelnen Gegenstände
aber seien das Wirkliche, sie zeigen das Leben, das „an sich" Sein
der Dinge, das subjektive Sein an.
Beide Strömungen, Realismus und Nominalismus enthielten die
Keime zu den großen Systemen, die aufzubauen der Neuzeit vor-
behalten blieb. Hatte der Realismus das Vernunftding für das einzig
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 40!*
Reale erkannt, so erklärten nun die neuzeitlichen Rationalisten die
Vernunft selbst für das einzige Erkenntnismittel und demzufolge
nur das für walu-, was unsere Vernunft erkennt. Aus dem Stand-
punkt des Nominalismus, der nur die einzelnen Gegenstände als
wirklich bezeichnete, ergab sich in konsequenter Weiterführung
das Studium der Einzeldinge und nur, was wir von diesen erfahren,
ist wahr, lehrten die Empiristen. Die Neuzeit geht also von der
Methode aus an alle Probleme und so auch an das Substanzproblem
heran.
Die scholastische Philosophie hatte um 1500 abgewirtschaftet,
sie stand doch immer mehr oder weniger unter der Herrschaft des
Glaubens. Sie war im ganzen doch die Magd der christlichen Theo-
logie.
Am Eingang zur Neuzeit, ehe wir zu den großen Systemen der
Rationahsten und Empiristen gelangen, steht die Renaissance.
Die neue Zeit kündigt sich bereits durch eine ganz andere Frage-
stellung an. Die Frage: Was ist die Substanz? Was ist die Ur-
sache des Seins, des Lebens? war bis zur Erschöpfung behandelt
worden, ohne doch zu einer allgemeingültigen Lösung geführt zu
haben. An Stelle des „Was" interessierte jetzt das „Wie'"? Wie
wirkt, wie ist die Substanz? Statt der früheren Ansicht, die in den
gestaltlosen Stoff die Form von außen hereintrug, vertrat man jetzt
den Standpunkt, daß die Substanz durch die in ihr wohnende Kraft
wirke. Stoff und Kraft fallen jetzt in eins zusammen, der Sitz des
Lebens ist im Stoff selbst. Die poetischen Gemüter faßten die Kraft
als Lebensprinzip, als Seele, Weltseele auf und erkannten daher
das ganze Weltall als beseelt, während die ernsteren Naturforscher
die Gesetze der Kraft suchten.
Der schönheitstrunkene Panentheismus eines Bruno reißt uns
noch heute zum heroischen Affekt hin. Gott ist ihm das All und das
Eine, die Monade der Monaden, die Substanz. Er baut das ganze
Weltall aus unzähhgen, graduell verschiedenen Monaden auf, von
denen jede eine Offenbarungsform des unendhchen, göttlichen Seins
ist. Außerhalb der Monaden gibt es keinen Gott, und Gott ist die
Monade. Zu dieser Erkenntnis führte ihn die Vielheit der Erschei-
nungen, der Sinneseindrücke, die uns ,,zwar nicht belügen, uns aber
doch nicht die volle Wahrheit sagen". Um diese zu finden, führte
er die Vielheit auf die Einheit, auf die Monade zurück. Leider aber
-^10 L u i E e K r i 0 g ,
blieb er bei dieser mehr intuitiv erschauten Erkenntnis stehen, er
unterHeß es, die Monade mathematisch zu bestimmen.
Diesen Schi'itt tat erst Galilei. Als die realen Eigenschaften der
Dinge sah er Gestalt, Zahl und Bewegung an. Diese machen die
Substanz, das Bestehende im Körper aus, so daß man Gestalt und
Zahl als extensive Größen, also als Stoff, Bewegung als intensive
Größe, also als Kraft auffassen kann. Weil er durch die Mathematik
erkannt hatte, nur was meßbar ist, ist wahr, so maß er die Größe
der Bewegung und stellte ihre Gesetze fest. Er lehrte die Gesetze
von der Erhaltung des Stoffes und von der Erhaltung der Kraft,
die Bruno schon genial erschaut hatte, wie er denn in ,,von der Ur-
sache, dem iVnfangsgrund und dem Einen" sagt: ,,Das Universum,
das ein großes Ebenbild und Abbild und die einheitliche Natur dar-
stellt, ist ebenfalls alles, was sein kann, sofern die Arten und haupt-
sächlichsten Gheder in ihm dieselben bleiben und die Gesamtkraft
der Materie sich als dieselbe erhält."
Auch für Gassendi ist die Bewegung die erste Ursache. Sie be-
wirkt die Verbindung und Trennung der Atome. Die Atome bilden
die Substanz, die, nicht weiter teilbar, den Raum erfüllen und durch
das Leere voneinander getrennt sind.
Dem Atomismus gegenüber erkannte Boyle nur eine, ausgedehnte,
undurchdringliche, aber teilbare Substanz an. Die in ihr wohnende
Kraft oder Bewegung zerlegte sie in kleinste Körperchen oder Korpus-
keln von bestimmter Größe, Gestalt und Lage, die sich zu zusammen-
gesetzten Körpern-Molekülen mischen können, so daß die Korpus-
keln den Elementen gleichkommen. Auch er führte alle Natur-
erscheinungen auf Bewegung, also auf Druck und Stoß, auf Mechanik
zurück, und alles Mechanische ist nuithematisch bestimmbar.
Das System der mathematischen Prinzipien der Naturphilo-
sophie aufgestellt zu haben, ist das Verdienst von Newton.
Das Studium der Mathematik und der Natur bestimmen die
Philosophie im 17. und dem folgenden Jahrhundert. Von der Mathe-
matik nimmt der Rationalisnuis, von der Naturwissenschaft der
Empirismus seinen Ausgang.
Unter den rationahstischen Denkern beschäftigte sich besonders
Descartes mit dem Substanzproblem. Er ging vom methodologischen
Zweifel aus, um die erste Grundwahrheit zu finden in dem berühmt
gewordenen cogito sum. Die Tatsache des denkenden Bewußtseins
Das Substanzproblem, eine philosophiegcschichtliche Darstellung. 41 1
war ihm der Beweis für die Wirklichkeit des denkenden Subjekts.
Dieser wSatz besaß, weil unmittelbar einleuchtend, AUgemeingültig-
keit, er gehörte zu den eingeborenen Ideen. Darauf weiter aufbauend,
erkannte er, daß alles gewiß ist, was wir ebenso klar und deutlich
erkennen wie dieses cogito sum. Die höchste Idee, die wir in unserem
Geiste haben, ist die der Substanz. Er definiert die Substanz als
das, was zu seiner Existenz keines anderen bedarf, also der unge-
schaffene Gott. Die Gottesidee können wir nicht selbst durch Denk-
prozesse gebildet haben, da sie weit über alles hinausgeht, was auf
Erden existiert. Sie kann uns daher nur von einem vollkommenen
AVesen, von Gott selbst, eingegeben sein. Zu einem schlechthin
vollkommenen Wesen gehört auch seine Existenz. Es ist derselbe
ontologische Gottesbeweis, den schon Anselm aufstellte. Und schon
damals wurde dagegen eingewandt, daß man die Realität eines Vor-
stellungsinhalts niemals wieder durch eine Vorstellung begründen
könne. Anselms Gegner Gaunilo von Montigni aus dem Kloster
Marmoutiers hielt ihm vor, daß die Vorstellung einer vorzüglichsten
Insel durchaus kein Beweis sei für das Vorhandensein dieser vor-
zügUchsten Insel. Denselben Zirkelbeweis wie für das Dasein Gottes
beging Descartes sogleich noch einmal, indem er von der Wahrhaftig-
keit Gottes, der uns keine Scheinwelt vortrügen könne, auf die Wirk-
lichkeit der Außenwelt schloß. Er unterschied neben Gott, der un-
endlichen Substanz, die Welt als die endliche Substanz. Diese ge-
schaffene, endhche Substanz ist eine zweifache: Geist und Körper.
Ihre konstitutiven Merkmale sind Denken und Ausdehnung. Geist
und Denken, Körper und Ausdehnung sind dasselbe, sind identisch.
Von dem Geiste haben wir, wie schon das cogito sum zeigt, ein un-
mittelbares Bewußtsein. Die Körper halten wir für wirklich, weil
sie mathematisch bestimmbar sind. Die beiden endhchen Substanzen
sind reahter von einander unterschieden, sie negieren sich, sie haben
nichts miteinander gemein. Da aber das Denken doch im Körper,
im Kopfe stattfindet, so mußte der Seele ein Sitz in diesem ange-
wiesen werden. Der Platz mußte möghchst unräunüich, ohne Aus-
dehnung, punktförmig sein, und da die Zirbeldrüse der einzige un-
paarige Teil des Gehirns ist, so wurde die Seele dort einquartiert.
Zwar hatte Descartes eine gegenseitige Beeinflussung von Geist
und Körper durchaus geleugnet, doch lehrte ihn der Augenschein,
daß auf gewisse Denkprozesse stets gewisse körperliche Erschei-
412 Luise Krieg,
nungcn folgen und luii gekehrt. Diese Aufeinanderfolge erklärte
er für AVirkungen der Lebensgeister, unendlieh feiner Substanzen,
die durch den ganzen Körper verteilt sind und zum Gehirn aufsteigen
und hier den entsprechenden Vorgang auslösen. Nur durch die
Lebensgeister kann die Seele den Leib zu Richtungsänderungen
der Bewegungen veranlassen. Das Merkwürdige an der Descartes-
schen Substanzauffassung ist der doppelte Dualismus zwischen un-
endlicher und endlicher Substanz einerseits und der denkenden und
ausgedehnten Substanz andrerseits. Geradezu aber eine Schwäche
ist die Erfindung der Lebensgeister, um gewisse Wirkungen, die
er erst negiert hatte, nun doch erklären zu können. An diesen beiden
Punkten setzten seine Nachfolger ein.
Die Okkasionahsten erklärten sich gegen die Wechselwirkung
der denkenden und ausgedehnten Substanz. Denn man kann nur
das vollbringen, wovon man weiß, wie es geschieht. Wir wissen
aber nicht, wie die Seele die Gheder zu Bewegungen veranlaßt. Sie
schoben daher diese Veranlassung auf die unendliche Substanz, auf
Gott ab und sagten: ,,Bei Gelegenheit" meines Willens bewegt
Gott meinen Körper, bei ,, Gelegenheit" meiner Bewegung ruft Gott
eine Vorstellung in meinem Geiste hervor.
Den Duahsmus und die Wechselwirkungstheorie korrigierte
Spinoza. Auch er definierte die Substanz als das, was Ursache seiner
selbst ist: causa siii, ewig und unendlich. Mehrere Substanzen, meh-
rere Unendliche kann es nicht geben, denn sie könnten durch nichts
voneinander unterschieden werden, sie wären identisch. Die Sub-
stanz oder Gott offenbart sich uns unter Attributen, deren Zahl
unendlich ist, von denen wir aber nur zwei kennen, nämlich Denken
und Ausdehnung, Geist und Körper. Diese sind keine Substanzen,
weder als Ausfluß der göttlichen, noch als geschaffene oder unter-
geordnete, sondern sie sind der Ausdruck der Wesenheit Gottes.
Die Attribute haben nichts miteinander gemeinsam, sie stehen in
keiner AVechselwirkung zueinander, sondern ihre Äußerungen gehen
nebeneinander her, sie entsprechen einander restlos. Zwischen Geist
und Körper findet Parallelismus statt. Neben jedem körperlichen
Vorgang läuft ein entsprechender geistiger her. Die Attribute Gottes
stellen sich wieder in den Einzelobjekten dar, die modi oder Akzi-
denzien genannt werden. x\uch der Mensch ist nur ein solcher modus,
ohne selbständiges Dasein, nur an der und durch die Substanz exi-
stierend.
Das Substanzproblein, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 413
Wie Descartes und Spinoza, so kam auch Leibniz vo!i der Mathe-
matik ]ier an das Substanzproblem. Er wollte die Prinzipien der
Mechanik fest begründen und fand, daß die Annahme einer aus-
gedehnten Masse nicht hinreichte, sondern daß noch der Begriff
der Kraft hinzugenommen werden müßte. Er ging nun bei seiner
Substanzerklärung von der Tatsache des Zusammengesetzten in
der Welt aus und sagte: „Es muß eine einfache Substanz geben,
weil es zusammengesetzte gibt." Denn das Zusammengesetzte ist
nichts Anderes als eine Anhäufung des Einfachen. Leibniz schüeßt
hier falsch. Denn die logische Notwendigkeit der Begriffsfolge ergibt
noch keineswegs die reale Folge der Existenz der Dinge, die unter
diesen Begriff fallen. Er schheßt aus der Realität des Grundes des
Zusammengesetzten auf die Wirklichkeit der logischen Folge des
Einfachen. Das Zusammengesetzte ist teilbar, teilbar bis in das
Unendliche, und auch bis in das Unendliche geteilt. Es liegt kein
Grund vor, mit der Teilung bei sogenannten kleinsten Körpern oder
Atomen halt zu machen, da ein Materielles immer geteilt werden
kann, WTnn es auch noch so klein ist. Das Einfache aber muß unteil-
bar sein. Er ging nicht wie Boyle auf eine chemische Lösung des
Problems aus, für den das Element der einfache unteilbare Stoff
war. Er fand keine andere Lösung, als eine metaphysische. Nur das
Geistige gibt uns unteilbare reale Einheit. Er setzt also die Körper
aus einfachen unkörperUchen Bestandteilen zusammen und nannte
diese Einheiten Monaden. Sie sind die wahre Substanz. Da die
Monade unräunüich ist, so kann sie nicht von außen beeinflußt werden,
sie entwickelt ihre eigenen Zustände aus sich heraus. Die Monade
ist nicht das, was aus sich selbst „ist", sondern das, was aus sich
selbst „handelt", der Monade eignet das Moment der tätigen Kraft,
die keine Anregung von außen braucht, wie es die Ansicht früherer
Jahrhunderte war, sondern die sich selbst in Bewegung setzt. Die
Monaden sind durch ihre Tätigkeit verschieden, alle einzelnen Dinge
unterscheiden sich, selbst wenn sie scheinbar gleich sind, innerhch.
Darum ist jede Monade ein einzelner Körper nach dem Prinzip der
Individualität. Denn wenn sie innerhch nicht unterscheidbar wären,
dann wären sie in Wirklichkeit „ein" Ding, sie wären absolut identisch
nach dem principium identitatis indiscernibiüum. Hieraus ergibt
sich noch ein Weiteres. Jede Monade trägt die Gesetze ihi'er Zustände
in sich und zwar von Ewigkeit her, die Leibesmonaden ebenso wie
414 Luise Krieg,
die Seelenmöiiaden. Beide sind individuell, also ganz verschieden
geartet, sie stehen demnach nicht in Wechselwirkung miteinander,
sondern ihre Zustände laufen parallel und stimmen genau zueinandei'.
Da die Tätigkeiten aller Monaden genau zueinander passen, einander
entsprechen, so ergibt sich im Weltgeschehen eine Harmonie, die,
weil von Ewigkeit her vorausbestimmt, die praestabiüerte Harmonie
heißt.
Während die rationalistischen Denker sich bemühten, der Sub-
stanz Kealität zu verleihen, so suchten die Empiristen den Glauben
an ihr Dasein zu erschüttern.
Locke war der erste, der den Substanzbegriff gehörig revidierte.
Auf dem Wege der Analyse fand er, daß von den Körpern schlechter-
dings nichts übrig bleibt, wenn man ihre einzelnen Eigenschaften
abzieht, daß also ein Substrat, an oder in dem die Eigenschaften
vorkommen, nicht vorhanden ist. Ebensowenig bilden die Eigen-
schaften eines Körpers eine durch Mischung entstandene, einheit-
liche Masse. Die Substanz ist daher weder der Träger noch die Summe
der Eigenschaften eines Körpers. Es gibt keine Substanz, und doch
kommen wir um die Idee der Substanz nicht herum, sie ist einmal
da und läßt sich nicht wegleugnen. Sie ist das große X, das „I know
not what", sie ist ein Begriff, den zu bilden, unser Geist das Vpr-
mögen hat.
Einen Schritt weiter ging Berkeley. Für ihn gibt es keinen
Unterschied zwischen sekundären und primären Qualitäten, den
Locke noch anerkannt hatte. Die ursprünghchen Eigenschaften:
Größe, Gestalt, Lage, Bewegung existieren ebensowenig außerhalb
unserer Vorstellung wie Farbe und Geruch. Es existiert nur unsere
Idee von den Dingen, es gibt nur unsere Seele und das, was wir voi-
stellen. Nur Geister und deren Vorstellungen haben Realität, .-^ie
stammen von Gott und sind die eigentlichen Reaha, die wahre Sub-
stanz. Alles andere löst sich in Schein auf. Demgemäß faßt er seine
Substanzerklärung in die Worte zusammen: „esse est percipi".
Berkeley erkannte die geistige Substanz noch an, für Hume
fällt auch diese dahin. Ebensowenig wie dem Körper ein Substrat
zugrunde liegt, ebensowenig hegt dem Geist oder der Seele ein be-
harrliches Selbst oder Ich zugrunde. Wie der Körper nichts ist als
die Summe seiner Eigenschaften, so ist der Geist nur die Sunune
seiner inneren Zustände. Die Erscheinung einer körperlichen oder
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 415
iieistioen Substanz beruht nur auf dem Eindruck einer sleichniäßi"-
wiederkehrenden Ideenassoziation. Die Ideenverbindungen sind
jedoch zufällig und können sich ändern. Hume löst also die Substanz
in Ideenassoziation auf.
Für die Empiristen ist die Substanz lediglich eine Form des
Denkens, sie hat nur logische Bedeutung. Nur Berkeley erkannte
tine Substanz an und zwar die des Geistes.
Zu einem ganz entgegengesetzten Resultat gelangten Hobbes
und die französischen Materiahsten, obgleich sie ihren Ausgangs-
punkt auch von der Empirie nahmen. Sie leugneten die geistige
Substanz. Denn jede Geistestätigkeit beruht auf innerer Bewegung,
die durch eine äußere Bewegung hervorgerufen wird. Wir können
uns äußere Bewegung nicht vorstellen ohne ein ihr zugrunde hegendes
Substrat. Das zwingt uns, eine Materie oder Substanz anzunehmen.
Diese Substanz besteht aus Atomen, besser Molekülen, die quahtativ
voneinander verschieden sind und in denen die Bewegung als Selbst-
erhaltungstrieb hegt. Die Bewegung beruht auf der chemischen
Wahlverwandtschaft, auf den Kräften der Anziehung und Ab-
stoßung.
Während Rationahsten und Empiristen ihren Ausgang von dem
Erkenntnismittel, sei es die Vernunft, seien es die Sinne, nahmen,
war die Grundfrage für Kant nicht: Welches ist das wahre Erkenntnis-
mittel?, sondern die Frage: Wie kommt Erkenntnis zustande? So
untersucht denn Kant auch in seiner transzendentalen Logik, wie
sich die reinen Denkbegriffe zu den reinen Erfahrungen der Natur-
wissenschaften verhalten. Wie es keinen Inhalt ohne Form gibt,
so muß auch jede Anschauung, die Erfahrung werden will, in die
Kategorie eingegangen sein. Erst dadurch kommt eine Erkenntnis
zu Wege, Umgekelut dürfen wir auch die Kategorie nicht gebrauchen,
wenn ihr nicht eine Anschauung zugrunde hegt. Die Kategorien
sind Elementarbegriffe, Stammbegriffe des Verstandes, die das Mannig-
faltige der sinnhchen Erscheinungen auf eine Einheit beziehen und
zusammenfassen. Es gibt soviel Kategorien als es Verknüpfungs-
weisen des Verstandes gibt, also 12. Unter diesen 12 Kategorien
befindet sich auch die der Substanz. Kant erklärt sie für das Kon-
stante, sich selbst Gleichbleibende im Gegensatz zu den Zuständen,
die die Dinge durchlaufen. Sie ist der Träger der Bewußtseins Vor-
gänge. Das Quantum der Substanzen kann weder vermekrt noch
416 Luise Krieg,
vermindert werden. Sie sind, sofern sie im Räume als zugleich wahr-
genommen werden können, in durchgängiger Wechselwirkung. Die
Substanz kann nur auf die Objekte der sinnlichen Erfahrung be-
zogen werden, sie gilt aber nicht für die intelligiblen Dinge „an sich".
Ob Kant selbst die intelligiblen Dinge „an sich" leugnete, ist nicht
sicher festzustellen. Gewiß weiß man, daß er ihre Erkennbarkeit
leugnete. Demnach hat für Kant die Substanz weder eine ontolo-
gische noch eine logische Bedeutung, für ihn ist sie eine Form des
Deidvens und darum auch des Seins, nämlich des Seins in der Erfahrung,
sie hat also erkenntnistheoretische Bedeutung.
Es schien, als hätte Kant mit seinem Kritizismus der Meta-
physik für immer ein Ende bereitet. Aber das Bedürfnis des Menschen
nach einer Erklärung der übersinnlichen Welt ist zu stark, als daß
es sich länger als auf kurze Zeit eindämmen ließe. Und so kommt
um 1800 die große Reaktion gegen Kant, die an seinen Begriff des
Dinges „an sich" anknüpft. Er hatte verboten, die spekulative
Vernunft auf die Dinge „an sich" anzuwenden. Es fehlte daher eine
letzte Ableitung des Seienden aus einem obersten, höchsten, meta-
physischen Prinzip, um das Kantische System einheitlich zu gestalten.
Das Ende des 18. Jahrhunderts erwachte Spinozastudium führte
zu diesem Prinzip hin. In Spinozas Identitätsgedanken war der
Satz für die denknotwendige Ableitung gegeben, und so stellen die
Systeme der großen Idealisten: Fichte, Schelling, Hegel, Schopen-
hauer eine Synthese von Kant und Spinoza dar.
Fichte negierte die Reahtät der Dinge „an sich", für ihn war der
mundus intelhgibihs dahingefallen. Man fragt sich, welche Stellung
er überhaupt zu Sein und Denken einnahm, in welcher Synthesis er
sie sich wiederfinden ließ. Da das Sein nichts mit dem Denken ge-
meinsam hat, so kann es dieses auch nicht hervorrufen. Wohl aber
hat das Denken mit dem Sein ein gemeinsames Moment in dem
Bewußtsein; denn es ist bewußtes = denkendes Sein. Also kann
man aus dem Denken das Sein ableiten. Der erste gewisse Denksatz,
der das Bewußtsein ausmacht, ist der Satz Spinozas von der Identität:
A = A, der aber über die Existenz von A durchaus nichts sagt. Über
die Existenz sagt der Identitätssatz erst etwas aus, wenn es heißt
Ich= Ich, das setzende Ich ist das gesetzte Ich. Das Ich setzt sich
selbst, ist also causa sui, absolut. Es ist causa sui wie die Substanz
des Spinoza, doch aber fehlt ihm das Sein dieser Substanz als konstitu-
Das Substanzpioblem. eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 41 <
tive? Merkmal, es besitzt das Sein nur konsekutiv. Denn ursprüng-
liche Eioenschaft des Ich ist die Tätijs;keit, und erst durch die Tätig-
keit wird das Sein gesetzt, also ist dieses abgeleitet. Die Tätigkeit
des Ich ist auf sich selbst gerichtet. Das Ich selbst ist der Grund
seiner eigenen Tätigkeit, und die Folge dieser Tätigkeit ist seine
eigene Negierung. Es setzt damit das Nicht-Ich, näniHch die AVeit
des Seienden. Die Denktätigkeit hat die endüchen Gegenstände
als Produkte. Da Ich und Nicht- Ich einander in demselben Ich
negieren, so kämpfen sie miteinander um die Herrschaft, damit
sie sich aber nicht vernichten, beschränkt sich ein jedes. Aus der
beiderseitigen Beschränkung entsteht die Reflexion auf die Relations-
kategorien, aus ihrem gegenseitigen Kampfe entsteht die Produktion
der Vorstellungsvermögen. Das Ich ist ein Ich der absoluten Posi-
tion, das Gute schlechthin, das Nicht-Ich seine Negierung, die Welt,
das Schlechte. Im Bewußtsein seiner selbst hat das Ich gegen das
Nichtich anzukämpfen, der Welt seinen Charakter aufzuprägen, dei
in ihm liegt, es hat seine Bestimmung zu erfüllen. „Damit wir sollen
können, dazu ist die Welt da."
So haben wir hier das Merkwürdige, daß Fichte mit dem Ich
ein Absolutes, eine causa sui setzt ohne Substanz — d. h. ohne Seins-
charakter. Anfänglich war Gott für ihn identisch mit dem abso-
luten Ich. Erst später erhob er ihn über das Ich, über die reine Tätig-
keit, indem er ihm das reine Sein, also Substanz verlieh.
Schelling begann seine philosophische Laufbahn in geistiger
Abhäugifikeit von Fichte mit dem Gegensatz von Ich und Nicht-
Ich. Das Ich oder das Denken ist ihm der Inbegriff des Subjektiven,
das Nicht- Ich oder die Natur der Inbegriff des Objektiven. Ur-
sprüngüch sind Subjekt und Objekt identisch gewesen. Die Trennung
fand erst statt, als die Intelügenz in uns bewußt ward und sich von
der bewußtlosen Natur schied. Über Subjekt und Objekt erhebt
sich als Einheit das Absolute, das aUe Gegensätze in sich vereinigt,
zur totalen Indifferenz, das Absolute, das identisch ist mit Subjekt
und Objekt. ScheUing denkt sich das Absolute als Substanz, als
Gottheit ebenso wie Spinoza, nur daß er das Moment der Intelligenz
stärker betont, das Absolute ist ihm absolute Vernunft, während
Spinoza mehr die Ausdehnung hervorhebt. Und noch mit einem
anderen Gedanken steht er in Gegensatz zu Spinoza. Bei ihm ent-
wickelt die absolute Identität aus sich heraus die ganze Natur, von
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIIl. 4. 27
418 Lxiise Krieg,
der aiiorgaiiischon an bis hinauf zur organischeu, bis hinauf zum
Menschengehirn. Spinoza aber dachte die absohite Substanz als
immanente, die Natur ist ihm der Ausdruck des vollkommensten
Wesens, aber sie hat sich nicht aus diesem allmählich entwickelt.
Auch Hegel bekennt sich zur Identitätsphilosophie des Spinoza.
Das Absolute stellt auch ihm die Einheit von Gott und Natur dar.
Zugleich aber macht sich der Einfluß seiner klassischen Studien gel-
tend. Die Phiolosophie der Eleaten mit ihrer Behauptung: „Das-
selbe ist Denken und Sein", und Heraklit mit seiner Lehre vom ewigen
AVerden w\^ren bestmmend für seine Erklärung des Absoluten. Das
Absolute, die wahre WirkUchkeit, ist der Gedanke, die Idee. Das
Denken ist auch das Sein, beide sind identisch. Oberster allgemeinster
Begriff ist das Sein. Nach der Methode der Selbstbewegung der
Idee, die Thesis, Antithesis und Synthesis aufstellt, um die Wahrheit
zu finden, sucht er das Gegenteil vom Sein und findet das Nichts.
Sein und Nichts sind dasselbe. Denn sie sind beide qualitätslos.
Bei dem Übergang vom Sein zum Nichts und vom Nichts zum
Sein ensteht das Werden. In ihm treffen sich beide zur Einheit, das
Werden ist ihre WaMieit. So ist das Absolute bei Hegel nicht die
ruhende Substanz, sondern das sich selbst entwickelnde, lebendige
Substanzsubjekt. Wie bei Plato existierte die Ideenwelt ursprüng-
lich als ein System von Begriffen. Die Ideen modifizierten sich später
in der unbewußten Natur, um dann im Menschen als Selbstbewußt-
sein zu erwachen. Im menschlichen Geiste erlangte die Idee ihre
höchste Vollendung in den Schöpfungen der Kunst, der Rehgion
und der Wissenschaft. Die Idee hat ihre Bestimnumg erreicht und
kehrt in sich selbst zurück. Jeder einzelne Gegenstand auf Erden
stellt eine Entwickelungsstufe des Denkens, der Vernunft dar, und
darum ist das Wirkliche das Vernünftige und das Vernünftige das
Wirldiche. Hegel führt sein System konsequent durch.
Im Gegensatz dazu ist Schopenhauer inkonsequent genug. Er
geht aus von den Kantischen Kategorien, die er auf eine einzige zurück-
führt, nämlich auf den Salz vom zureichenden Grunde oder die Kate-
sorie der Kausahtät. Dieser Satz hat eine 4fache Wurzel, den Grund
des Seins, des Geschehens, des Handelns und des Erkerinens. Für
uns kommt die 2. Wuizel in Betracht. Der Satz vom Grund des
Geschehens fordert für jede Veränderung eine vorhergehende, die
ihre Ursache ist, und eine Substanz als unveränderliches Substrat
o
ö
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 419
derselben, die Materie. Alle Veränderungen sind notwendig, alles
Wirkliche ist materiell. Aber die Kategorie der Kausalität gilt nur
für die Erscheinungen, nicht für die Gedankendinge und nur für
die Zustände der Substanzen, nicht für diese selbst. Das wahre Wesen
der Dinge „an sich" können wir nicht erkennen. Raum, Zeit und
KausaHtät trüben den Blick für die außer uns gegebene Welt. Ich
sehe die Außenwelt nicht, wie sie ist, sondern wie meine Sinne sie
malen. Nur ein Ding auf der Erde ist uns von außen und innen ge-
liehen, das sind wh* selbst, unser Selbstbewußtsein. Wir erbhcken
unseren Körper, und sofort fühlen wir uns, wissen wk uns als wollend.
Unser Wille ist keine Vorstellung, sondern er ist das, was unser walu'es
Wesen ausmacht, das wahrhaft Seiende. Auf den Willensakt fol£>:t
augenbhcküch die Körperbewegung, beide sind identisch. Der AVille
ist nur der von innen gesehene Leib, der Körper der von außen ge-
sehene Wille. Diese Erkenntnis überträgt Schopenhauer auf die
ganze übrige Welt Wie unser Körper, so ist auch das Universum
reahsierter Wille. So haben z. B. die Steine den Willen zum Fallen.
So erhebt sich hinter der Welt als Vorstellung die Welt als Wille.
Das ,,an sich'" des Urwillens können wir nicht erkennen. Der Wille
ist das wahrhaft Seiende, das Absolute, er ist ewig, ungeteilt, an sich
unbewußt, einheitlich, er ist das Ein und Alles tv xai jiav. Sein
AVesen ist das Verlangen nach Reahtät. Er stellt sieh materiell in
immer vollkommeneren Stufen dar, in dem menschüchen Gehirn
hat er sich ein Organ geschaffen, mit dem er sich selbst denkt. Gehirn
und Denken sind dasselbe. Schopenhauer scheut sich nicht, seiner
anfängUchen Behauptung, die Welt ist meine Vorstellung, die Materie
ist nur Vorstellung, am Schluß den Satz gegenüber zu stellen: ,,Die
Vorstellung ist eine Gehirnfunktion."
Schopenhauer ist der letzte der großen Gelehrten, die im An-
schluß an Kants Ideahsmus ihre Philosophie entwickeln. Je nach
dem Punkt, den ihre Systeme besonders betonen, nennt man den
Ideahsmus Fichtes den ethischen, den ScheUings den physischen,
den Hegels den logischen und den Schopenhauers den subjektiven.
Nach Abschluß dieser 4 großen ideahstischen Systeme treten die
Geisteswissenschaften ihr Zepter an die mathematischen Natur-
wissenschaften ab. Die Philosophie der neueren Zeit ist von diesen
beherrscht.
Herbart geht von der Erfalmmg aus an den SubstanzbegTiff
27*
420 Luise Krieg,
heran. Die P^rfahi'uiip; lehrt den Gegensatz von Erscheinung und
Sein, sie lehrt, daß jeder Erscheinung ein Sein zugrunde Hegt. Was
die Dinge an sich wirldich sind, können wir nicht erkennen, weil
sie uns nicht unmittelbar gegeben sind. Wir können nur aus der
Erscheinung auf das Sein schließen. Da die Dinge der Außenwelt
viele Eigenschaften haben, so müssen wir aus der Vielheit der Er-
scheinungen auf die Vielheit des Seins schließen. Weil die Gegen-
stände der Erscheinungswelt die Summe vieler Eigenschaften sind,
so ist auch das Ding „an sich", das wahre Sein, ein Zusammen vieler,
einfacher Realen. Jedes Reale oder jede Monade ist uranfängüch,
unveränderUch, voneinander verschieden, raumlos und ohne innere
Zustände. Er bezeichnet seinen Standpunkt als den des qualitativen
Atomismus. Obgleich er mit Leibnitz den Begriff der übersinnhchen
Monade gemeinsam hat, so folgt er ihm doch nicht in seiner Lehre
von der praestabilierten Harmonie. Jedes Reale hat Individualität,
aber ihre Zustände sind nicht aufeinander abgestimmt, sondern sie
widersprechen, sie stören, sie hemmen einander. Darum ist das
Wesen der Realen der Trieb der Selbsterhaltung. Dieses Verlangen
nach Selbsterhaltung ist das einzige Geschehen, die einzige Verände-
rung, auf sie ist die Welt der Erscheinung zurückzuführen. Näher
als alle anderen Realen liegt uns unsere Seele, die sich im Gehirn be-
findet und, weil sie als Reales raumlos ist, punktförmig gedacht wird.
Auch sie übt Selbsterhaltung gegen die Störungen, gegen die Vor-
stellungen. Herbart faßt die Vorstellungen als Kräfte auf, Kräfte
kann man messen und berechnen, und so macht er den Versuch,
Statik und Mechanik auf die Seelenkräfte, die Vorstellungen, anzu-
wenden, ein Versuch, der ihm mißlang.
Fechner war es, der an diesen Gedanken Herbarts wieder an-
knüpfte. Das Naturgesetz von der Erhaltung der Energie sollte ihm
den Weg weisen. Er glaubte, daß jedem geistigen Vorgange ein
körperlicher zugrunde liege. Beide stehen in einem bestimmten
Verhältnis zueinander, etwa wie innere und äußere Seite des Kreises.
Bestimmte Verhältnisse kann man messen. Man mußte nur die
Maßeinheit der geistigen und körperüchen Vorgänge, der Vorstellungen
und ihrer körperüchen Ursache finden, und diese heferte das Gesetz
von der Erhaltung der Energie, das für beide Arten von Vorgängen
gilt. Die psychische Intensität wächst nicht so schnell wie der ent-
sprechende physische Eindruck, sondern nur im Verhältnis des Reiz-
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 421
Zuwachses zu der schon vorhandenen Reizptärke. Auf Grund von
Beobachtungen war dieses Verhältnis festzustellen, was auch gelang.
Das Experiment war damit in die Seelenlehre eingeführt. Zugleich
war die Auffindung der psychisch-physischen Formel der Beweis,
daß tatsächlich ein Parallehsmus der geistigen und körperhchen
Vorgänge stattfindet. Fechner schloß aus dem Parallehsmus im
Menschen auf den Parallehsmus im Universum. Überall entsprechen
Geistiges und Körperhches einander. Unendhches und Endhches,
Gott und Welt, bilden eine Einheit wie Seele und Körper im Menschen.
Beide, Unendhches und Endhches, bauen sich auf einer Einheit auf,
die höchste geistige Einheit ist das Gottesbewußtsein, die letzte körper-
liche das Atom. Er faßt das Atom allerdings nur als wissenschaft-
liches Hilfsmittel auf, um kleinste Kraftzentren zu gewinnen. Da
jedem Körper ein Geistiges zugrunde hegt, so hat alles Endhche
auch Seele, Organismen wie Anorganisches. Alles ist beseelt. Die
Einheit dieser einzelnen Seelen ist die göttliche, die Weltseele, mit
der sie nach dem Tode einen, von räumhch-körperhchen Schi^anken
befreiten Zusammenhang l)ilden. Er stellt diese Lehre von den Seelen
als „Tagansicht" der atomistischen „Nachtansicht" gegenüber.
Auch Fechners Schüler Lotze unterscheidet zwischen der äußeren
und inneren, der endhchen und der unendhchen Welt. In der end-
lichen Welt, in der Welt des Scheins, herrscht die Notwendigkeit,
die Mechanik. Die Welt des Scheins setzt sich aus Atomen zusammen,
die im Kausal- und Wechselwirkungsverhältnis zueinander stehen.
Hinter dieser endhchen Welt steht die unendliche, die Welt des Seins,
die sich aus geistigen Realitäten zusammensetzt. Wie die Gesamt-
heit der Atome die endhche Materie ausmachen, so bilden die Seelen,
die geistigen Reahtäten, die Ursubstanz. Diese ist absolut, aber nicht
qualitätslos, sondern absolute Persönlichkeit. Ihr Gesetz ist nicht
die Notwendigkeit, der Mechanik der endlichen Welt entspricht der
Zweck der unendhchen. Der Zweck der Ursubstanz ist die Reahsierung
der Welt der Werte. Jedes Reale verfolgt einen Zweck, trägt eine
Idee in sich, die es verwirklichen soll, und daher stehen alle Realen
in Beziehung, in Wechselwirkung zueinander. „Sein" heißt also
bei Lotze in Wechselwirkung stehen, und „das Sein" ist die Ursub-
stanz, die absolute Persönlichkeit.
Wie Lotze und Fechner, so wandte auch von Hartmann die
naturwissenschafthche Methode für seine Erklärung der Substanz
422 Luise Krieg,
an. Die Dinge ,,an sich" haben eine reale Existenz außerhalb unserer
Vorstellung. Das Wesen der Ideenwelt ist Tätigkeit, ist mit sicli
selbst identische Wirksamkeit, es ist die unbewußte Einheit von
Vorstellung und Wille. Von Hartmann erhebt zur obersten Einheit
das Unbewußte. Das Unbewußte ist die Substanz, es produziert
den Bewußtseinsinhalt und die Materie, also geistige und körperliche
Welt.
Von Hartmann war es, der in seiner Kategorienlehre wieder die
Frage aufwarf, ob der Substanzbegriff nur eine Form unseres Denkens
oder, weil eine Form unseres Denkens, auch die des Seins ,,an
sich" sei.
Die Beschäftigung mit dem Substanzproblem zeigt, daß es ein
metaphysisches Problem sei, denn es führt über die Erfahrung hinaus
in das Außersinnliche. Das Übersinnhche ist uns vernunftmäßig
gegeben. Daher war die Metaphysik immer mit der Methode der
Deduktion verbunden. Erst durch den Einfluß der Naturwissen-
schaften verfielen Lotze, Fechner und Hartmann darauf, die Induktion
und das Experiment auf die Metaphysik anzuwenden und so der
Metaphysik von ,,oben" die von ,, unten" entgegenzusetzen. Das
einzige außersinnliche Sein, das uns gegeben ist, ist unser eigenes
Denken, unsere Seele. Deshalb unternahmen es jene Philosophen,
die Seele naturwissenschaftlich zu betrachten, ihre Zustände, ihre
Wirkungen zu beobachten, ihre Gesetze mathematisch zu bestimmen.
Indem die moderne Psychologie die Seele, das geistige Wesen studiert,
hofft sie dem Übersinnlichen näher zu kommen, ebenso wie die Natur-
wissenschaft die sinnhche Materie ergründen will, indem sie den
Begriff des Körpers feststellt. Beide Wissenschaften arbeiten an
ihrem Teil zur Klärung des Substanzproblems mit. Sie stellen die
Grundtatsachen, die Grundbegriffe fest.
Für die moderne Naturwissenschaft ist der Körper das Element,
aus dem die Substanz sich zusammensetzt. Die Außenwelt besteht
aus einem Inbegriff von Körpern, die in Raum und Zeit gegeben
siiid. Der Körper ist relativ beharrhch, im Gegensatz zur früheren An-
sicht, nach der die Substanz absolut beharrhch war. Der Körper
ist ferner im Raum und er muß einen Raum erfüllen. Die Größe
der Raumerfüllung ist bestimmt durch den Begriff des Raumes, der
.ihn dreidimensional gibt. Demnach hat auch der Körper drei Dimen-
sionen, seine Gestalt verändert sich nicht, wenn er sich im Räume
Das Substanzproblem, eine philosophiegeschichtliche Darstellung. 423
verschiebt. Ein Körper ist ein einzelner Körper nnr durch seine
zeithch-räumhchen Bestimmungen, nicht aber durch ein principe
interne. Denn zeitüch kann an demselben Orte nicht noch ein zweiter
Gegenstand sein. Der Körper ist auch eine Masseneinheit, er hat
Volumen, ist undurchdringlich. Die Masse des Körpers ist das, was
bei allem Wechsel beständig bleibt, was bei aller Veränderhchkeit
feststeht. Die Masse ist der RealgTund für die Undurchdringlichkeit.
Da die Masse das Konstante ist, so galt es vor allen Dingen, sie zahlen-
und größenmäßig genau zu erfassen. Da zeigte die Forschung, daß
nur eine Erfahungstatsache an der Masse gegeben ist.: Körper er-
fahren beschleunigte Bewegung. Die Auffindung der Fallgesetze
zeigte dann weiter, daß die Masse der Realgrund der Trägheit, des
Beharrungsvermögens der Körper ist, die Masse, die man hier als
Schwerkraft auffaßte. In der Schwere hatte man die Grundkraft
der Materie entdeckt. Und so löste die mechanische Naturauffassung
die Körperwelt in die Bewegungen der Atome auf. Im Gegensatz
dazu fand Ostwald die Einheit von Materie und Geist in der Energie.
Alles ist Arbeit, mechanische, magnetische, elektrische, chemische
Energie. Wieder andere halten die Elektronen für die Elemente des
Seins, der Materie und hoffen, von hier aus eine neue, die wahi'e Sub-
stanzerklärung zu finden.
So stellt die Geschichte der Philosophie „das Ringen um die
Kategorie der Substanz" dar. Wir wollen diese Erkenntnis erweitern
und sagen, das Ringen um die Erkenntnis der Substanz ist die Ge-
schichte der Menschheit überhaupt, und die Stellung des Menschen
zu diesem Problem ist sein Schicksal. Und doch müssen wir uns
bescheiden. Wir können der Lösung nur immer näher kommen.
Es ist dem Menschen gesetzt, die Walii'heit zu suchen, das Finden
ist die Vollendung. Und so bleibt das Endhche für die Forschung,
aber das Unendüche, das wir im Geiste erschauen, das beten wir an.
t
XIV.
über die BeziehungeD Fichtes und seiner Schule
zur Universität Charkow (Russland).*)
Ein biographischer Beitrag
Yon
Dr. Paul Stähler, Hoclischuldozent.
a) Fichtes Berufung nach Charkow.
Der Bruch mit der weimarischen Regierung infolge des Altheis-
musstreites war vollzogen, und Fichte wollte sich als Einsiedler
nach Rudolstadt zurückziehen, was ihm jedoch sein Fürst, Herzog
Karl August, verweigerte. So wandte sich Fichte nach Berlin, dessen
geistiges Leben er mächtig beeinflussen und anregen sollte. Am
3. Juni 1799 traf er hier ein. Der preußische König gewährte ihm
bereitwillig den Aufenthalt. So sieht sich denn bald Fichte von einem
Kreis ehrhcher Freunde umgeben, wie Tieck, Schleiermacher,
die beiden Schlegel, Hufeland, Varnhagen, Chamisso u. a. —
Ein neuer akademischer Wirkungskreis, das Wieb jedoch seine Sehn-
sucht: die so notwendige Vorbedingung seines geistigen Schaffens.
Sich entzünden am eigenen Wort — das war sein Bedürfnis. Zwar
bot ihm Jacobi Düsseldorf als Zufluchtsstätte an, aber seine Hoff-
nungen setzte Fichte auf eine Professur in Heidelberg.
Fichte näherte sich in Berlin dem Religionsproblem, und ge-
waltige Werke entfheßen seiner wuchtigen Feder, wie „die Bestim-
nmng des Menschen", „der geschlossene Handelsstaat" (1800), den
er ja eigentündicherwcise für seine größte Leistung hielt, u. a. —
Trotz der fruchtbaren Tätigkeit fand sein Gemüt nicht die nötige
*) Vgl. meine Schrift: „Fichte, ein deutscher Denker", S. 16 — 17,
Verlag Leonhard Simion Nf., Berlin 1914.
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 425
Befriedigung. Die gewaltige Predigernatur in ihm wolKe ihre Rechte.
Das Feuer der edelsten Begeisterung suchte Nahrung, suchte Herzen,
in denen es zünden konnte. Den Stempel seines Geistes der Welt auf-
zudrücken — das war sein innerstes Bedürfnis. Die Spuren des Fichte-
schen Geistes sind unverwischbar geMiebcn — wir wissen es heute.
Da erreichte ihn unverhofft ein ehrenveller Ruf an die neu-
gegründete Kaiserliche Universität Charkow (Südrußland). Die
Berufung traf gleichzeitig mit derjenigen von Bayern, nach Lands-
hut, ein. Die Verhandlungen wegen der Professur in Landshut zer-
schlugen sich, da die Bedingungen Fichtes in bezug auf AVirkungs-
freiheit außerordentlich weit gingen. Die Bedingungen aber, die
Fichte von Charkow aus angeboten werden konnten, waren, wie
wir unten sehen werden, in materieller Hinsicht hervorragend, mit
der Einschränkung, daß die später eintretende Geldkiisis eine be-
deutende Entwertung der russischen Assignaten bewirkte, unter
der auch die Charkower Professoren empfindlich litten.
Keineswegs verlockend waren die Bedingungen der Lehrtätigkeit.
Fichte wäre gezwungen gewesen, lateinisch zu lesen. Das stellt an die
Kenntnisse dieser Sprache naturgemäß bedeutende Anforderungen,
sowohl auf selten des Lehrers als auch der Hörer. Die deutsche Sprache,
mit der Fichte ja gänzlich verwachsen war, hätte er vollständig preis-
geben müssen. Daraus ergab sich aber die Unmöglichkeit einer nach-
haltigen Wnkung auf die Umgebung, und gerade das war ja Fichtes
Element und Lebensbedürfnis.
Sei dem wie immer ! Fichte hatte schon derart tiefe Wurzeln im
deutschen Kulturleben geschlagen, hatte schon frühzeitig, z. B. auch
in Warschau den kulturellen Gegensatz kennen gelernt, daß alle
jene Bedingungen ihn mir zur Ablehnung der Berufung bewegen
mußten.
So wandte sich denn der Kurator der Charkower Universität
Graf Potozki, nach Weimar. Dem Historiker Professor Bogalei,
dem gründlichsten Kenner der Charkower Universitätsgeschichte
als auch der Geschichte Südrußlands, ist es gelungen, im Archiv des
Unterrichtsministeriums in St. Petersburg einen Brief Goethes
vom Jahi'e 1803, gerichtet an den Charkower Kurator, zu entdecken.
In diesem Schreiben wird J. G. Schad, damals Professor der Phi-
losophie an der Universität Jena, für die Lehrkanzel der neugegründe-
ten Universität empfohlen.
426 Paul Stählcr,
1)) Biographisflios.
Johann Baptist*) Schad wurde im Jahre 1758 in Mürsbac-li
bei Bamberg geboren. Sein Vater war Bauer nnd unterhielt dabei
ein kleines "Wirtshaus; er war streng katholisch und kleinbürgerlich
sittlich und auch von Aberglauben nicht frei. Was ihn ferner aus-
zeichnete, war eine ausgesprochene Unduldsamkeit gegen Anders-
gläubige. Bis zu seinem 10. Jahre wurde Johann Baptist in der Familie
erzogen und lernte die Beschäftigung des Vaters. Seine schöne Stimme
und seine musikahsche Begabung entschieden aber bald sein Schicksal.
Er sollte in den Chor des Benediktinerklosters in Banz eintreten.
Sein Lehrer war musikbegabt; wissenschaftlichen Unterricht erhielt
er nicht, sondern er wurde nur in der lateinischen Sprache und in der
Musik unterwiesen. Von sittlicher Erziehung konnte keine Rede sein,
nur schlechte Beispiele gab ihm seine Umgebung. Sein Aberglaube
während seines vierjälirigen Aufenthaltes wurde nur verstärkt. Vier-
zehn Jahre alt kam er in das Jesuitenseminar nach Bamberg, um
humaniora zu studieren. Der Unterricht wurde unentgeltheh erteilt,
und dazu bezog er ncoh 30 Taler Einkommen als Chorsänger. "Die
jesuitische Methode bestand in mechanischen Gedächtnisübungen
und lateinischer Syntax. Die Ivlassiker wurden nur zu gTammatischen
Beispielen benutzt, der Inhalt aber wurde mit Absicht nicht be-
achtet, weil der IiTtum schlecht und gefährlich sei. In den zwei un-
teren Klassen wurde Geschichte und Katechesis auswendig gelernt
und auch die allgemeine Geschichte mechanisch durchgetrieben.
In der dritten Klasse wurden die griechischen Ivlassiker gelesen,
ohne den Inhalt zu berücksichtigen, bloß das Neue Testament diente
als eigenthche Unterrichtslektüre. Zwar wurde auch in jener Zeit die
deutsche Sprache eingeführt, aber schlecht unterrichtet. Mittel-
alterlich-scholastisch war die ganze Methode und traditionell w^aren,
auch die öffentlichen feierlichen Dispute.
Der junge Schad konnte infolge seiner schlechten Kenntnisse
nur als letzter aufgenommen werden, aber sein Elu"geiz regte ihn
zu unermüdhchem Fleiß an; bald hatte er alle andern überholt. Jetzt
begann auch seine selbständige Arbeit; die Musik und die Klassiker
waren seine Lieblingsbeschäftigung. Sein Lehrer regte seinen eitlen
Ehrgeiz noch mehr an. Prälat war sein Ziel im Kloster, Heiliger und
^) wie er vor seinem Übertritt zum Protestantismus hieß.
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 427
Gelehrter dasjenige im Seminar. Tiefe Wirkung, nachhaltigen Ein-
druck machten auf ihn „die Legenden der Heihgen". Durch Selbst-
geißelung, durch Keuschheitsgelübde suchte er das hohe Ziel zu er-
reichen. Um seine geschlechthchen Instinkte vollständig zu unter-
drücken und zu ersticken, schnitt er auf seiner Brust den Namen
Jesus ein. Nichts half. Ratlos wendet er sich an seinen Beichtvater,
der ihm den Rat erteilt, ins Kloster einzutreten. Sein Entschluß
war bald gefaßt, sein Erzieher verlangte von ihm blinden Glauben
und unbedingten Gehorsam. Trotzdem fiel ihm die Aufgabe leicht,
weil er ziell7e^nlßt an seiner sinnlichen Befreiung arbeiten wollte.
So verbrachte er sieben Jahre im lüoster Banz. Eigenes Denken
und Fühlen wurden ihm Sünde, und der Sinn zur Natur wurde ge-
waltsam unterdrückt. Die häufigen Bestrafungen aber, denen er
nicht entging, quälten sein Gewissen immer melir, und schließlich
geriet er in heftige Selbstbeschuldigung, indem er sich der Unfähig-
keit zur Seligkeit anklagte. Dazu kamen schwere körperhche Leiden,
so daß in ihm bald der Selbstmordgedanke reifte, mit dem er Gott
zu dienen glaubte. Strenge Warnungen und Drohungen aber hielten
ihn von der Ausführung des Gedankens zurück.
Nun erst erfolgte der Umschwung in seinem Denken. Das „sapere
aude" wurde ihm das Mittel des seehschen Gleichgewichts. Jetzt be-
gann auch seine Kritik des Mönchtums. Von dieser aber ist nur ein
Schritt zur Kiitik der päpsthchen und kirchhchen Autorität. So
fing er an, den blinden Glauben zu hassen. Es erfolgte jetzt in ihm
ein sittlicher Umschwung. Aus einem „Egoisten" wurde ein humaner
Mensch, der den Sinn für die Natur bald wieder gewann und die gött-
liche Liebe in den Mittelpunkt alles Lebens stellte. Die Ehe erschien
ihm als eine von Gott gewollte natürliche Einrichtung. 12 Jahre
noch blieb er im Kloster, um, wie er selbst sagt, andere von der
Knechtschaft zu befreien. In dieser Gesinnung wirkte er als Religions-
lehrer, Beichtvater, Prediger, Geisthcher und Schriftsteller. Be-
sonders nachhaltig aber war die Wirkung seiner Umarbeitung „der
Legenden der Heiligen", in der er seiner antimönchischen Moral Aus-
druck verschaffte. Die Ausgabe erregte Anstoß und wurde als ketze-
risch bezeichnet. Der Verfasser suchte dann durch seine Apologie
in der ,, Mainzer Monatssclu'ift von geistlichen Sachen'' nachzuweisen,
daß er nicht den Katholizismus, sondern ausschließlich das Möncli-
tum angegriffen habe. Der Abt Valerianus verlangte seine Bestrafung,
428 Paul Stähler,
aber der Fürst-Bischof erklärte sich mit der Apologie einverstanden.
Die Umarbeitung der „Legenden" hatte eine nachhaltige Wirkung
auf sein ganzes geistiges Leben. Handelte es sich doch hier um kri-
tische Prüfung auf Grund der Kirchengeschichte, d. h. um Aus-
schaltung der erdichteten abergläubischen und zweifelhaften Legenden.
Was ihm 1)esonders zustatten kam, war die ausgedehnte Benutzung
der großen Klosterbibliothek, die ihm eine kritische Prüfung und
gründUche Quellendurchsicht ermöglichte. Die dogmatischen Miß-
verständnisse des Christentums wollte er durch geschichtliche Studien
berichtigen. Das gedankliche Ziel, das ihn bei seiner Arbeit leitete,
war ein harmonisches System des Christentums, eine Versöhnung
des Kathohzismus und der Vernunft. Jedenfalls standen ihm eine
ausgezeichnete Schulung in der scholastischen Dialektik und Logik,
sowie eine gründhche Kenntnis der griechischen und römischen
Klassiker zu Gebote.
Li jener Zeit geht ihm „die wirkliche Sonne" auf, die alles mit
ihrer blendenden Helle überflutet, die seinem ganzen Leben Richtung
verleiht, nämhch Kants „lü-itik der praktischen Vernunft". Hier
fand er, was er solange sehnHch gesucht hatte: die innere Freiheit.
Ablehnend aber verhielt er sich zur ,, Kritik der reinen Vernunft".
Nach seiner Meinung war es nur ein Grundbuch des Skeptizismus
und infolgedessen weiter nichts als eine besondere Begründung der
Autorität. Genau wie der Katholizismus, so meint Schad, führt
„die K. d. r. V." zum ()ffenl)arungsglauben, weil sie uns beweist,
daß Gott durch Vernunft nicht erkannt werden kann. Mit Leibniz
verlegt Schad die Quelle der Offenbarung und der Vernunft in Gott,
d. h. die göttMche Offenbarung wird unmittelbar durch die Vernunft
erkannt. So bekämpfte er den Winden Glauben aller orthodoxen
Richtungen jeder Konfession, sich dennoch kritisch gegen Kant ver-
haltend. Freudig aber begrüßt er Fichtes Philosophie; diese Idee
der Selbstentwicklung unseres Geistes entsprach seinem Denkbe-
durfnis. Ohne diese sei kein Leben, denn sie sei frei und unabhängig.
Auch weiterhin suchte er morahsch-religiös auf das Volk einzu-
wirken, so durch Übersetzung des Bibelkommentars Le-Maistre de
Sacy. Es handelte sich ihm nicht um Übersetzung, sondern er ver-
suchte eigene Deutungen, die Bibelkommentare protestantischer
Theologen zu Rate ziehend. Li demselben Sinne entstand aus seiner
Feder eine umgearbeitete Ausgabe des „Handbuchs zur Religion",
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 429
worin der Geist „der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Ver-
nunft" Kantens in eigener Deutung verarbeitet wurde. Schads letztes
Werk iin Kloster waren: ,, Lebensschicksale des unwürdigen Vaters
Sincerus", die ihm später so verhängnisvoll werden sollten.
In jener Zeit wurde Schad vom Herzog Karl von Württemberg
als Hofprediger berufen. Man suchte ihm jedoch das Schreiben der
Regierung vorzuenthalten, da der Prälat und der Fürstbischof mit
seinem Weggange nicht einverstanden waren. So sah er sich ge-
zwungen, abzusagen und ließ sich durch Versprechungen des Fürst-
bischofs abhalten. Auch einer Einladitng nach Straßburg folgte er
nicht.
Eine schwere Lungenentzündung mit nachfolgendem Blutspucken
warf ihn auf ein langwieriges Krankenlager. Der Arzt verhieß ihm
nur ein halbes Jahr zu leben. So faßte er den Entschluß, seine „Lebens-
schicksale", jene bittere Satire auf das Mönchtum, zu veröffentlichen,
und zwar sollte der erste Teil direkt nach seinem Tode erscheinen.
Wider Erwarten aber genas er, infolgedessen jedoch war eine Flucht
unumgänglich notwendig, weil er sonst der Inquisition unverweiger-
hch in die Hände gefallen wäre.
In einer dunklen Nacht bereitete er sich zur Flucht vor, sprang
über die Ivlostermauer und irrte in der Dunkelheit undier, da er
mehrere Male den Weg verlor. Endlich war er der Gefahr entronnen, —
bei aufgehender Morgenröte sah er ein protestantisches Dorf vor sich.
So konnte er, nach seinen eigenen Worten, die 21 jährigen Ketten
seiner Knechtschaft abschütteln, seine reichhaltige, teuere Bibhothek
aber und sein geliebtes Cello hatte er im Stich lassen müssen.
Das einzige Mittel, dem Mönchtum zu entkommen, sah er in
dem Übertritt zum Protestantismus, den ihm auch Hofrat Schaubert
dringend angeraten hatte. Jetzt suchte er den philosophischen Doktor-
grad in Jena nach, ohne Prüfung, auf Grund bereits veröffentHchter
Schriften. Seine Absicht war, Vorlesungen in Jena zu halten. Zu
diesem Zwecke legte er Fichten, der damals Professor in Jena war,
die genaue Wiedergabe seiner Philosophie in drei Teilen vor.
Fichte war über die philosophische Begabung Schads erstaunt und
nahm besonderes Interesse an der Ai'beit, weil der Autor ein früherer
Mönch war. Schads Dissertation zur öffentKchen Verteidigung lautete :
,,De nexu philosophiae theoricae cum practica". Er entledigte sich
seiner Aufgabe mit Erfolg und erhielt die ,, Venia docenti". Beim
430 Paul Stähler,
Verlassen der Universität Jena soll Fichte die Studenten auf Sehad
als seinen Nachfolger hingewiesen haben, wenn man dieser Behaup-
tung Schads Glauben schenken soll.
Vom Jahre 1799 bis 1804 erschienen folgende Werke Schads:
1. „Grundriß der Wissenschaftslehre", 2. „Geist der Philosophie
unserer Zeit", 3. ,, Transzendentale Logik", 4. Ziemhch starke Ab-
handlung in dem phihjsophischen Journal, 5. Abhandlungen über
die Verbesserung des Mönchwesens, 6. ,, System der Natur und trans-
zendentale Philosophie", 7. ,, Meine Lebensgeschichte", 8. „Gefahren
des Staates und der Rehgion von selten des Mönchtums", 9. „Das
Paradies der Liebe" — Mönchsroman in 2 Teilen.
Im Jahre 1799 trat Schad in die Ehe. 1804 wurde er als Professor
für praktische und theoretische Philosophie an die neu eröffnete
Universität Charkow (Südrußland) berufen. Als Gehalt waren ihm
2400 bis 3000 Taler zugesichert nebst Erstattung der Reiseunkosten.
Schad nahm die Berufung an.
Material findet sich mehr wie reichlich in seiner SelbstbiogTaphie:
, .Johann Baptist Schads Russisch kaiserhchen CoUegienrathes und
Professors der Philosophie in Jena ehemals Benedictiners zu Kloster
Banz, Lebensgeschichte von ihm selbst geschrieben (Fürsten, Staats-
männern, ReUgionslehrern und Erziehern vorzüghch gewidmet.
Neue, durchaus umgearbeitete, mit Reflexionen über die in unsern
Tagen besonders interessanten Gegenstände 2. Auflage, 3 Bände,
Altenburg 1828, mit herzogüch Sächsischen Censur)"
und ferner ,,J. G. Schad" von Professor F. A. Selenogorsky,
Charkow, Universitätsberichte vom Jahre 1890 (russisch).
c) Über die Lehre Schads.
Seh. mußte lateinisch lesen und verfaßte auch seine Werke in
Rußland ausschließlich in lateinischer Sprache. Der lateinische Mittel-
schulunterricht heß damals sehi* zu einsehen übrig, so daß Seh.
hier mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Trotzdem war
Seh. bei den Studenten recht beliebt, und Professor Rommel lobt
ausdrücklich das flüssige Latein seines Kollegen.
Die Logik ist nach Sch.s Lehre nicht unmittelbares Organ zur
Entdeckung der Wahi'heit; sie fördert nur das Denken und die Über-
mittlung von Gedanken. Begxiffe werden hier aus Grundbegriffen
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 431
abgeleitet, welche alsdann genau abgegrenzt werden müssen. Der
Grundbegriff jedoch braucht Wahrheit nicht zu enthalten, nur von
Wahrem kann AVahres abgeleitet werden. Die Wahrheit des Grund-
begriffes aber ist nicht Sache der Logik, — das beweist uns der Ma-
terialismus. So behauptet Seh.: ,,Logieam immediate et primario
iiptam non esse ad veritatem inveniendam".
Hier stimmt Seh. mit der Kritik Kants überein, der die Grenze
zwischen Verstand und Vernunft aufgerichtet und dem Verstände
jede Möglichkeit des Erkennens abgestritten hat. Es gibt ein Denken
per intellectum und ein Denken per rationem. Durch Vernunft allein
wird das Universum erkannt, wie es in sich existiert. Der Intellekt
aber wird durch die Erscheinung begrenzt.
Das Werk Sch.s, welches seine philosophische Ul)erzeugung
charakterisiert, heißt: ,,Institutiones philosophiae universalis
Tomus primus. Logicam puram et applicatam complec-
tens 1812. Charkow." Die reine Logik zeigt den Nutzen und den
Gebrauch der logischen Kegeln. Sie hilft der Ausführung der Wahr-
heit durch gesetzliche Folgerung. Aus den bereits angeführten Grün-
den aber l)leibt die Logik stets eine Fehlerquelle der Philosophie.
Die formale Logik vor allem schafft die GegensätzHchkeit von Subjekt
und Objekt. Der Doppelcharakter in der Natur des Intellekts wird
zum Prinzip erhoben. Der Intellekt findet Substanz und Veränderung
(Accidenz), welche zufällig ist. So wird die Unterscheidung von innen
und außen erst abgeleitet. Kant und in der Foloe auch Reinhold
haben durch die Setzung des absoluten Gegensatzes von Subjekt
und Objekt nur neue IiTtümer hervorgerufen.
Die Formen der Dinge und diejenigen des Geistes sind identisch.
Die notwendigen Formen des Geistes drücken die Natur der Dinge
aus und erzeugen ideell die Wirküchkeit. Demzufolge also herrscht
auch das Prinzip der Gegensätzhchkeit in der Natur. So findet Seh.
den Übergang zu den Naturwissenschaften und zu Schelhngs Natur-
philosophie. Magnetismus, Elektrizität, Chemie, ja das ganze Leben
liefern ihm den deutlichen Beweis seiner Behauptung, und auch der
Qrganismus in der Mannigfaltigkeit seiner Teile stellt Einheit und
Harmonie der Gegensätze dar.
In der reinen Logik verarbeitet Seh. in traditioneller Weise Be-
griff, Urteil und Schluß unter Anwendung der von Fichte geschaffenen
heuristischen Methode von Thesis, Antithesis und Synthesis.
432 Paul Stähler,
Sch, behandelt dann Begriff und Idee. AVie sich der Begriff zum
Verstand verhält, so verhält sich die Idee 7A\r Vernunft. Es besteht
jedoch kein wesentlicher Unterschied zwischen Urteil und Schluß.
J>r mittlere Terminus, die kopula verbindet Subjekt und Prädikat
und ist beiden gemeinsam. Sind aber zwei Größen einer dritten gleich,
so sind sie auch untereinander gleich. In jedem Urteil ist das Ver-
bindungsmittel als mittlerer Terminus wenigstens „implicite" ge-
dacht. Sobald der mittlere Terminus „exiDÜcite" gedacht oder offen
ausgesprochen wird, so geht das Urteil zum Schluß über. Der Schluß
also unterscheidet sich nicht wesentlich vom Urteil; denn hier wird
der mittlere Terminus implicite dort expücite gesetzt. Die Kanteaner
haben daher einen groben Fehler begangen, das Urteil zum Verstände,
den Schluß aber zur Vernunft zu zählen.
Aber auch das Urteil und der Begriff zeigen keinen wesentlichen
Unterschied. Einen Begriff haben wii', wenn wir die Ähnlichkeit
zwischen einem Begriff und dem andern durch einen dritten Begriff
sehen, was expücite ausgesprochen oder implicite gesetzt wird.
In jedem synthetischen Urteil wird das unbekannte, zum ersten
Male perzipierte Ding zusammengestellt mit einem bekannten Ding.
Sehen wir eine Ähnüchkeit zwischen dem unbekannten Ding und dem
Gattungsbegriff des Dinges, das früher bekannt war, so haben wir
einen Begriff vom Ding. Wir haben es in ein bestimmtes, vorher
bekanntes Gebiet hineingezogen und mit ihm verbunden. Zuerst
percipimus, dann concipimus.
Im ersten Akt gibt es keinen Geist, keinen vorhergehenden Be-
griff, der die Beziehungen des Geistes und des Objekts bestimmt.
Im zweiten Akt verändert sich die Lage; d. h. der erste Akt geht
über in den Begriff der objektiven und subjektiven Welt. Es entstehen
neue Arten und Gattungen, mit welchen alles, was neu aufgenommen,
verbunden wird.
Hier behandelt auch S. die Kategorien, die er übereinstimmend
mit Kant als reine Verstandesformen bezeichnet; und zwar unter-
scheidet er ein elementum sensibilc und ein elementum intellectuale.
Das letzte sind die Kategorien, das erste ist das, was von den äußeren
Sinn aufgenommen wird.
Im Geiste selbst unterscheidet er die leidende receptivitas
und die tätige, unabhängige Produktivität des Geistes, die spon-
taneitas. Die Dcdulrtion der Kategorien aus den Urteilsformen,
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 433
die schon längst bekannt waren, durch Kant findet Seh. mangelhaft.
Vor allem sei Kant zu weit gegangen, indem er die Modalität, d. h.
die Beziehungen der Dinge zum menschlichen Verstände und die
Relation, d. h. die Beziehungen der Dinge untereinander, in eine
Kategorie gebracht habe, als zwei Arten ein und desselben Denk-
begTiffes. Das sei eine logische Inkonsequenz. Die Modaütät (Möglich-
keit, WirkUchkeit und Notwendigkeit) bezeichnet die Grade der
Erkenntnis und gehört folglich zum subjektiven Gebiet. Die Relation
dagegen gehört zu den Dingen der objektiven Welt. Da nach Kant
eine Erkenntnis der Außenwelt objektiv nicht möghch sei, verbindet
dieser die Modalität mit der Relation und richtet sein Augenmerk
nur auf die subjektiven Formen. Das Wesen der Dinge wird durcli
das Urteil ausgedrückt, welches Beziehungen und Verbindungen unter
Dingen behauptet. Es ist nicht, wie die Kanteaner es wollen, eine
Übertragung der Geistesformen auf die Dinge, sondern es sind wirk-
liche Verbindungen, die den Dingen selbst eigen sind, denn sonst
sei die Allgemeinheit und Einheit der Dinge im Universum undenkbar.
Die Anzahl der Urteilsformen sei durch die Kategorien
und deren Anzahl bedingt, nicht umgekehrt.
Die Modalität gibt die Grade des Erkennens an. Zuerst ist eine
Untersuchung der Möglichkeit des Dinges notwendig. Möglichkeit
aber ist noch keine Existenz; daher ist es auch nötig zu wissen, ob
das nötige Ding auch in der Wirklichkeit existiert. Wird diese Existenz
durch die Erfahrung bestätigt, so führt diese Tatsache zur Anerken-
nung der Notwendigkeit des Dinges. Auf diese Weise umfaßt das
apodiktische Urteil (Notwendigkeit) das problematische und asser-
torische (wirkliche Existenz). Damit aber sind die drei Grundformen
des Urteils abgeleitet.
In der reinen Logik behandelt auch Seh. Raum und Zeit, und
zwar als Ideen. Raum und Zeit werden unendlich vorgestellt, und
deshalb sind es keine Vorstellungen, die durch äußere Sinne empfangen
sind, denn diese percipieren nur einzelne Dinge. Raum und Zeit
sind also Wirkungen der absoluten wiUkürrchen Produktivität (spon-
taneitras) unseres Geistes. Die mathematische Evidenz beweist
die Einheit der Natur der Dinge mit derjenigen unseres Geistes; sie
wird mit Notwendigkeit erzeugt und stimmt mit der Natur der Dinge
selbst überein.
Die Gattungs- und Artbegriffe erläutert Seh. naturphilosophisch
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 4. 28
434 Paul Stähler,
und evolutionistisch. Die Natur ist die Entwicklung der entgegen-
gesetzten Kräfte, und zwar 1. der Anziehung und Abstoßung in der
unbelebten Natur, 2. des Reizes und der Empfindung in der be-
lebten Natur und 3. der Willenskraft und der Denkfähigkeit in der
vernünftigen Natur. Allem ist der gemeinsame, positive und nega-
tive Charakter eigen, der einen Aufstieg in höhere Stufen ermöglicht.
Die entgegengesetzten Kräfte bewegen sich um einen Mittelpunkt,
um ihr Gleichgewicht. Dieser mittlere neutrale Punkt ist die Gattung
(genus reale); die entgegengesetzten Punkte sind die species reales.
Der Amor der Natur ist es, der alles erzeugt, durch eine ständige
Verbindung der Gegensätze. So entsteht der absolute Organismus,
so entsteht aus dem Tode sogar das Leben — das Grundgesetz des
Erkennens ist demnach dasjenige der Existenz. Beides ist eins und
dasselbe.
Sehen wir nun, daß Seh. sich in seiner theoretischen Philosophie
eklektisch verhält, so steht er mit seiner poütischen Überzeugung
mitten auf dem Boden Fichtes. Am 25. Dezember 1814 wurde die
Befreiung Rußlands durch einen feierlichen Akt der Universität
festlich begangen. Seh. hielt eine glühende lateinische Rede: „de
libertate Europae vindicata". Er leitet sie mit seiner philo-
sophischen Hauptidee der Gegensätzlichkeit aller Dinge, jenem uni-
versalen Lebensgesetz, kraftvoll ein. Dieses Gesetz beweise die un-
geheure Wichtigkeit des Sieges und der Freiheit; denn es ist das Ent-
wicklungsgesetz für Familie, Stände und Staat, die sich wie alle Or-
ganismen durch Wirkung und Gegenwirkung entfalten müssen. Auch
für die Nationen gilt dasselbe Gesetz. Nach ihrer Verschiedenheit
sollen sie sich entwickeln, dem Mma, ihren geistigen und psychischen
Bedürfnissen entsprechend. Diese Gegensätzhchkeit aber ist die
Bedingung jeder Entwicklung zur Vollkommenheit. Mit Entrüstung
greift er die Verteidiger der Universalmonarchie Napoleons in Europa
an, Wahnsinnige nennt er sie. Die gefährlichste Wunde des mensch-
lichen Geschlechtes, der morahsche Tod der Völker, das Grab der
Freiheit, Würde, Vollkcnimenheit und des menschlichen Glückes,
das sei eine derartige allgemeine Selbstherrschaft. Der beständige
Frieden werde dann erkauft durch den Preis der Freiheit und der
Menschenwürde; eine große Tierherde sei dann die Menschheit dem
Herrscher zum Füttern, zum Gehorsam und zum Opfer verdammt.
Die Gegenwirkungen seien aufgehoben, aber dafür sei auch jeder Funke
über die Beziehungen Fichtes zm* Universität Charkow. 435
des Strebens nach Vollkoiiimenheit ausgelöscht. „Si vis pacem para
IjeUiim", das gilt immer und überall.
Aber nur wilde Tiere, denen nichts heiUg ist, können Kiieg führen
aus Habsucht und Herrschsucht. Wer aber aus unreinen und
selbstischen Motiven dem gerechten Kriege ausweicht, verdient das
größte Elend. Zu ewigem Frieden sind wir nicht berufen, denn dieser
ist der Anfang alles Bösen. Das alte zusammengebrochene römische
Reich hatte dieses verdammungswürdige Gut besessen, dieses unglück-
lichste Glück. Die Frankogallen hielten sich für berufen, dieses
zweifelhafte Erbe Roms anzutreten und in ihrer habgierigen, boshaften
Absicht suchten sie auch Rußland zu unterjochen. Doch ein fiu:cht-
l)ares, aber gerechtes Schicksal ereilte sie.
In seinem Vorwort zur Logik hatte Seh. eine Metaphysik, eine
Ethik, ein natürliches Recht versprochen. Er hat jedoch nur ein
System des natürUchen Rechts gehefert in seinem Buche „Insti-
tutiones juris naturae" 1814, von dem weiter unten noch oft
die Rede sein wird.
Seh. kennt also negative und positive Mittel zum Auffinden
der Wahrheit. Kants Kritik kann nur ein negatives Mittel sein, nur
eine Vorbereitung zur wahren Philosophie. Diese aber befaßt sich
mit den selbst erzeugten Vernunftideen und der Intellekt erkennt
die vollkommene Harmonie aller Gegensätzhchkeit im Universum.
Diese Gegensätzlichkeit ist das allgemeine Gesetz des Lebens und
ihre Vernichtung ist ewiger Tod. Der Unterschied von Geist und
Natur ist nicht wesentlich, denn die Formen des Geistes sind eine
Reproduktion der Formen der wirklichen Natur. Jenes Gesetz der
Gegensätzhchkeit gilt auch in der morahsch-politischen Welt. In-
dividuum, Staat und Gesellschaft befinden sich im dauernden Zu-
stand der Veränderung, des Werdens, des Fortsclu-itts und damit
im Zustande des Überganges zur Vollkommenheit.
Überbhcken wk den Entwicklungsgang Schads, so sehen wir,
wie er vergeblich versucht, die Fesseln des Rationahsmus, welche
ihm die Schule Leibnizens angelegt hatte, abzustreifen. Das Ein-
dringen in den Geist der Kantischen Kritik bleibt ihm versagt; aber
rücksichtslos wendet er sich der Fichteschen Lehre von der Freiheit
des tätigen Ich zu, und nur zu bald sieht er sich gezwungen, seinen
unkritischen, dogmatischen Naturbegxiff an ScheUing zu stützen.
28*
436 Paul Stähler,
d) Die Ausweisung Schads aus Rußland.
Zwei Hauptgründe waren es, welche die Ausweisung Schads
herbeiführten: 1. die Begünstigung der Doktoranden Kowalewsky
und Grine witsch durch unerlaubte Nachhilfe bei den Dissertationen;
2. seine eigenen Abhandlungen, die als schädlich und gefährlich für
die russische Jugend bezeichnet wurden.
In der Sitzung des Senats vom 22. Dezember 1815 beantragte
der französische Professor Degouroff, die Dissertation des Kandi-
daten Grinewitsch mit den Kollegienheften der Studenten Soro.-
schinski und Koladin zu vergleichen, wodurch der Beweis gehefert
werden könnte, daß die Arbeit eine Abschrift aus den Vorlesungs-
heften sei. Der Senat setzte zur Prüfung der Angelegenheit eine
Kommission ein und verfügte weiterhin, daß das Doktordiplom nicht
auszuhändigen sei. In der Sitzung vom 5. Januar 1816 behauptete
Degouroff, daß die Dissertation des Doktoranden Kowalewsky dem
Wortlaute nach mit früheren Abhandlungen Schads übereinstimme
(iisdem verbis conspecta). Degouroff stellte daher den Antrag auf
Untersuchung und Zurückhaltung des Diploms. Wiederum wurde
zur Erledigung der Angelegenheit eine Kommission angesetzt. Diese
Konmiission sprach sich am 9. Februar dahin aus, daß Schads Unter-
suchungen zwar bedeutend größer als die Kowalewskys seien, daß
aber die hervorragenden Fachkenntnisse und das fließende Latein
fremde Hilfe vernieten. Trotz des Protestes von Seh. wurde in seiner
Abwesenheit und derjenigen Degouroffs verhandelt. Am 16. Januar
wurde in der Sitzung ein Schreiben des Ministers verlesen, das die
Einsendung der beiden Dissertationen sowie der Sch.schen KoUegien-
hefte verfüg-te. Schad behauptete, daß er keine Manuskripte besitze,
und so übermittelte man die Hefte dreier Studenten.
In der Sitzung vom 26. April wurde, nachdem der Kurator die
Entscheidung des Senats verlangt hatte, das Protokoll der Prüfung
Kowalewskys vorgelesen. Es stellte sich heraus, daß die Dissertation
bloß vom Dekan der Fakultät unterschrieben worden sei. Später
behauptete der Sekretär der Fakultät, er habe auch unterschrieben,
wisse aber nicht, ob die Unterschrift mit derjenigen Schads in die
Druckerei gekommen sei. Am 29. April erfolgte die weitere Ver-
lesung des Fakultätsjournals. Es geht daraus hervor, daß man Schad
ermächtigt hatte, die Arbeit Kowalewsky zu erweitern und heraus-
zuarbeiten. Am 3. Mai wird die Angelegenheit Kowalewsky wieder
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 437
verhandelt und Professor Degouroff bemerkte, daß die Dissertation
nicht von allen Fakultätsniitgliedern gutgeheißen sei. Übrigens sei
Kowalewsky von Seh. allein examiniert worden und nicht durch den
Adjunkten Dudrowitsch (Logik). Am 22. November machte der
Kurator den Vorschlag, Kowalewsky nach einem Jahi'e ergänzenden
Studiums zu einer neuen Prüfung zuzulassen. Dasselbe verordnet
er auch für den Doktoranden Grinewitsch.
Am 5. Januar 1816 wurden auch Bemerkungen Degouroffs über
Seh. Schulbuch: ,,De viris illustribus urbis Romae" vorge-
legt und Seh. mitgeteilt. Am 3. März wurde ein Schreiben des Mi-
nisters verlesen, welches ersuchte, das Buch durchzusehen, die Mei-
iiungen darzulegen und die Gründe der Ausgabe auf Kosten der Uni-
versität zu rechtfertigen. Der Denunziant Degouroff stand
nämlich mit dem Ministerium in dauerndem aneeberi-
schem Briefwechsel. — Der Senat teilte dem Ministerium
mit, Degouroff habe das Buch dem Unterrichtsrat selbst unter-
Ijreitet, und dann sei es an die literarische Fakultät gelangt. Vorher
habe Seh. den Vorschlag gemacht, die Herausgabe des Buches selbst
zu übernehmen, ohne ein Entgelt zu beanspruchen. Der Senat habe
dann Seh. mit der Herausgabe beauftragt, weil nach ministerieller
Verfügung vom 22. Juli 1811 die lateinischen Klassiker auf Universi-
tätskosten gedruckt werden könnten; zwar sei ein Einverständnis
mit dem eigentlichen Zensurkomitee nicht erfolgt, aber die Heraus-
gabe sei dem Kurator gemeldet. Das Ministerium verlangte am
28. Januar 1816 die unverzügüche Einsendung eines Exemplars.
Das Buch war gedruckt, aber infolge des Protestes Degouroffs noch
nicht erschienen. Zwei Exemplare wurden nach St. Petersburg ge-
sandt und ein Exemplar dem Kurator überreicht.
Die Kommission zur Untersuchung der Angelegenheit Grine-
witsch und Kowalewsky entschied in ihrem Gutachten: im ersten
Falle sei der Beweis geliefert, daß die Dissertation zum allergrößten
Teil wörtheh aus den Vorlesungsheften abgeschrieben sei. Die Arbeit
Kowalewskys dagegen sei nur zum geringen Teil abgescluieben, aber
sie stimme mit dem Sinne der Abhandlung Sch.s, welche nur bedeu-
tend umfangreicher sei, fast überall überein. Jedenfalls sei Seh. für
Ijeide die einzige materielle und sprachliche Quelle der Wiedergabe.
Am 15. Februar 1816 reichte der Magister Kowalewsky eine
Ivlage an den Minister ein, worin er gegen die ungesetzlichen Hand-
438 Paul stähler,
lunsen des Senats protestiert und besonders auf die offizielle Ge-
nehmigung des Senats, welcher Seh. eine Ülierarbeitung gestattete,
hinwies.
Gleichzeitig lief auch beim Ministerium eine lüage Sch.s gegen
Degouroff ein, worin er sich über die Verletzungen der Universitäts-
nrdnung beklagt; man mache ihm eine Verteidigung unmöghch,
und infolgedessen bleibe er den Senatssitzungen fern. Ebenfalls
hebt er die offizielle Genehmigung des Senats zur Überarbeitunii'
der Dissertation Kowalewskys hervor. Grinewitsch habe zwar teil-
weise seine (Sch.s) Arbeiten benutzt, aber die Lösung des Haupt-
problems sei ihm vollkommen selbständig gelungen. Die Studenten
hätten keine andern Quellen als seine eigenen Bücher und Manu-
skripte. Es genüge vollständig, wenn die Studenten öffentlich mit
Lob seine Philosophie verteidigen könnten. Demnach sei also Degou-
roffs Anklage gegen Grinewitsch hinfäUig, seine wissenschaftliche
Befähigung vor allem sei über jeden Zweifel erhaben. Im übrigen
bezieht sich Seh. auf seine Rede vom 25. Dezember 1814, die von
allen gebilligt worden sei. Professor Dela\ngne habe es aber gewagt,
ihn wegen seiner Angriffe auf die Franzosen zu beleidigen. Der Senat
jedoch bestand auf Ausmerzung dieses unwürdigen Mitgliedes.
Dieser formalen Erwiderung Schads kann jedoch keine Bedeu-
tung beigemessen werden; vor aUen Dingen wurde sie durch das
von Seh. selbst unterschriebene Senatsprotokoll widerlegt. Soviel
war jedoch sicher: Seh. hatte sich durch seine überaus scharfe Kritik
Napoleons und der französischen Nation den tötlichen Haß dei-
französischen Kolleo;en zuo;ezooen.
Sei dem wie immer ! Am empfindlichsten trafen Schad die An-
klagen, die sich auf den Geist seiner Werke gründeten. Am 22. No-
vember 1815 reichte Degouroff eine Anfrage ein, ob die Arbeit Sch.s:
„de viris illustribus urbis Romae" dem Zensurkomitee vorgelegt
worden sei. Außerdem bemängelte er das Vorwort und die persönliche
Widmung dieses Schulbuches, das doch im Auftrage des Senats heraus-
gegeben worden sei. Im gegebenen Falle erhob Degouroff formell
Protest gegen das Erscheinen des Buches. Am 29. November machte
Degouroff dem Zensurkomitee gegenüber folgende Einwendungen:
Das Vorwort hätte nicht ohne BiUigung der Universität gedruckt
werden dürfen; außerdem enthielte es beleidigende Bemerlmngen
gegen den eigenthchen Verfasser des Buches Laumont (1718 — 94).
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 439
Übrigens sei das Buch 40 Jahre früher herausgegeben, und der Ver-
fasser hätte demnach zu Napoleon keine Beziehungen haben können.
Die Hinzufügungen von Seiten Sch.s seien meist für die Jugend
durchaus ungeeignet, so sagt z. B. der frühere Verfasser „Rea Silvia
Remum et Romuluni uno partu edidit". Seh. fügt hinzu „complexu
Martis", und weiterhin ])emerkt er: ,,fabula conficta est Martem
amplexu suo eam Romuli et Remi matrem efficisse". Ferner lautet
eine Bemerkung Sch.s: „Acca Laurentia propter quaestum corporis
a vicinis lupa appeUata est unde ad nostram usque aetatem meretricum
celullae lui)anaria vocantnr."
Der frühere Verfasser erzählt in einigen Worten die Geschichte
LukiTz : „Sextus Lucretiae vim intulit"; Seh. fügt hinzu: „Res autem
ita contigit". In einer Erzählung des Titus Livius findet sich fol-
gender Ausdruck: „Vestigia viri alieni collatine in lecto sunt tuo".
Weiterhin machte Degouroff auf einige undeutliche schwer
zu erklärende Stehen aufmerksam und tadelte die unerlaubten An-
spielungen auf Napoleon und Franki'eich. Jedenfalls sei der Zweck
der Herausgabe nicht erreicht. Schad habe das Buch des früheren
Verfassers, welches nur fünf Druckbogen betrug, durch meist nutz-
lose Hinzufügungen auf 18 Druckbogen erweitert, ohne den Namen
des Verfassers im Vorwort auch nur zu erwähnen. Die Widmung
des Buches, das dem Unterrichtsministerium zugeeignet war, sei
eigenmächtig und hätte nur nach eingeholter Genehmigung von selten
des Senats erfolgen dürfen.
Das Zensurkomitee erklärte diese Bemerkimgen Degouroffs
für zutreffend und g-erecht und beschloß, die Angelegenheit dem Senat
zu unterbreiten. Dieser sollte dann alle Bemerlmngen Seh. selbst
mitteilen.
Am 5. April 1816 wurde im Senat ein Schreiben des Ministers
verlesen, welches ein Gutachten über „Institutiones " verlangte.
Dieses stellte fest, daß die „Institutiones juris naturae" zu
breit und unklar, also als Lelnraittel für die russische Jugend nicht
geeignet seien. Im Grunde seien sie nur eine breite Darstellung des
Sch.schen Systems. Unpassend seien auch die Bemerkungen über
politische Ereignisse und Persönhchkeiten. Der Autor folge in der
Hauptsache der Schellingschen Lehre, deren Wert für die Jugend
fraglich sei. Als Lehrbuch sei es jedenfalls unvorsichtig und unbe-
scheiden, da es durchaus ungehörige Vorwürfe gegen die russischen
440 l'aul Stähler,
staatlichen und kirchlichen Einrichtungen enthalte. Von der Ein-
führung als Lehrmittel sei daher abzuraten.
Degouroff nahm jetzt offen Partei gegen Sch.s Buch: „de viris ..."
Degouroff hatte selbst die Absicht gehabt, dieses Buch zu bearbeiten,
und war zudem gegen Seh. wegen dessen Angriffe auf die Franzosen
aufs tiefste erbittert. Jedenfalls aber beweist das Schreiljen des Mi-
jiisters an den Kurator wegen der Begutachtung der „Institutiones . . .",
daß die Verdächtigung und die Anzeige von Charkow stammten.
Die geheimen Denunziationen waren im Gange, und Profesosr
Bogalei entdeckte im Ai-chiv des Unterrichtsministeriums zu Peters-
burg zwei Originalbriefe von Degouroff. Hier klagte er seinen Kollegen
im Falle Grine witsch und Kowalewsky an und bemängelt dessen
Prüfungsmethode. Er kritisiert ferner die physikalischen Definitionen
Sch.s, die für die russische Jugend nicht geeignet seien. Besonders
verwerfhch aber sei die These: „Finis absolutus omnis matrimonii
non est procreatio sobolis, sed amor. . .", das sei gegen Religion und
Recht. Degouroff mußte nämlich genau, daß der Minister Graf Rasu-
mowski ein Feind der Schellingschen Lehre war, deren er Seh. so
gerne bezichtigt hätte.
Degouroff holte zu einem zweiten Schlage aus, der wirkUch
seinen Gegner vernichtete. Diese zweite Anklage gründete sich auf
Sch.s von uns oben erwähnte Autobiographie und auf seine Schrift
„Das Leben des unwürdigen Vaters Sinzerus", jener Satue auf das
Mönchtum, welche anonym erschienen war. Degouroff versorgte
das Ministerium mit kompromittierenden Auszügen und sendet auch
die Bücher ein. Er sclileudert gegen Seh. die Anklage des Rationahs-
mus, der sich gegen Kirche und Moral richte und Seh. das Recht ab-
spreche, weiterhin als Lehrer zu wirken. Das führte die Entscheidung
herbei. Degouroff hatte Einfluß auf den pietistischen Minister Fürst
Gohzin gewonnen. Dieser ordnete eine Untersuchung der Angelegen-
heit an, und das Schicksal Sch.s war bald entschieden, denn der Mi-
nister holte sich Aufschluß und bildete sein Urteil auf Grund des von
Degouroff eingelieferten Materials. — Seh. hat das nie gewußt,
selbst nicht geahnt; er hat vielmehr- stets geglaubt, es handelte
sich um seine Bücher: „De viris" und ,, Institutiones".
Zu der Schrift: ,, Leben und Schicksale des unwürdigen Vaters
Sinzerus" ^\^lrde im Auftrage Golizins anonym eine Rezension ver-
faßt, die sich in den Hauptpunkten folgendermaßen äußert: „Das
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 441
Buch enthält Angriffe auf die ewigen "Wahrheiten des Christentunis
und sucht die göttüche Offenbarung als Absurdität darzutun. Es
enthält einen Schmutz und Übertreibungen ohnegleichen, um an-
geblich Mißbräuche aufzudecken. — Die Vernunft ist der oberste
Gerichtshof. Der Autor glaubt an die Unsterblichkeit der Seele
und an Gott, den Schöpfer und Erhalter. Christus jedoch ist
nur ein außergewöhnhcher Mensch, ein von Gott „gesandter Lehrer
der Menschheit". Die Begriffe ,, Dreieinigkeit" und ,,Fleischwerdung"
sind absurd; demnach enthält also das Buch eine empörende Lästerung
der christlichen Dogmen. Wer dem alten Glauben anhängt ist ent-
weder eine schwache Natur oder ein schlechter Betrüger. Die Lehre
des Protestantismus ist für die, die etw^as mehr Licht vertragen können.
Werden alle Ketten des Aberglaubens und der Vorurteile abgeworfen,
so herrscht die Vernunft, und dorthin werden schließlich Katholizis-
mus und Protestantismus gelangen. Dann whd der große Tag
anbrechen des Friedens und der BrüderHchkeit der Völker und In-
diviouen. Der Kathoüzismus war notwendig im Barbarismus des
Mittelalters; der Protestantismus aber leitet in die Regionen des
wahren Lichtes, der Vernunft. Die Tätigkeit der Regierung aber,
diesen Fortschritt aufzuhalten, ist verblendet und vergebüch. Die
Gelehrten und Vernünftigen lassen sich kein Gesetz geben. Früher
oder später werden alle knien vor der Vernunft, denn ewig nur hier
findet die zweifelnde Seele Ruhe.
Weiterhin wird die reine Empfängnis der Jungfrau skandaUsiert
und die Mönche als verabscheuungswürdige, üljerflüssige Wesen ge-
brandmarkt.
Daß Seh. der Verfasser dieser Schrift ist, darüber kann kein
Zweifel sein; denn in seiner AutobiogTaphie (vgl. oben S. 430) gesteht
er die Autorschaft dieses Buches offen ein. In jener Autobiographie
findet sich derselbe Schmutz und dieselbe Übertreibung.
Wie der schon öfter erwähnte Professor Bogalei urteilt, hat die
Rezension eine auffallende ÄlmUchkeit mit dem Gedankengange
Degouroffs. Ein volles Recht jedoch, ihn als Verfasser des Gut-
achtens zu bezeichnen, besteht nach Bogaleis Meinung nicht. Was
nun die Hauptsache war: der Minister bildete sich auf Grund dieser
Rezension sein Urteil, seine vorgefaßte Meinung war bestärkt, Seh.
galt ihm als ein Feind des Christentums.
Der frühere Minister Rcsumowski hatte den Beschluß über das
442 Paul Stähler,
Werk „Institutiones" am 15. März 1816 mitgeteilt. Er enthielt für
Seh. nichts nachteiliges und verbot nur den Gebrauch dieses Buches
in den Schulen. Das Buch „de viris" würde nach der Meinung Bogaleis
dasselbe Schicksal gehabt haben.
Der neue Minister GoHzin hatte sich mit der Angelegenheit weiter
zu befassen und er führte die endgültige Entscheidung herbei.
Aus eigener Initiative unterbreitete er die Angelegenheit dem Minister-
komitee unter Darlegung des Sachverhaltes, indem er Degournffs
Kritik und die Rezension fast wörthch zitierte. Seh. sei ein Verführer
der Jugend, da er die Monarchie, die Kirche und die Ehe bekämpfe.
Um zu verhindern, daß Seh. weiteren Schaden anrichte, wurde eine
Ermächtigung des Ministerrates erbeten. Am 3. November 1816
erkannte der Ministerrat in der Angelegenheit Seh. auf Amtsent-
setzung, Ausweisung des Schuldigen und auf Vernich-
tung seiner beiden Bücher. Der Beschluß sei den Universitäten
bekannt zu geben.
Nun lautete § 66 des Universitätsstatuts: bei Nachlässigkeit,
Ungehorsam oder Vergehen kann der Senat auf Entfernung vom
Amte erkennen, und zwar nach vorhergehender Untersuchung und
bei zwei Drittel Stimmenmehrheit. Demnach hätte also das Ministerium
ohne formelles Gericht eine Ausweisung Sch.s von Rechts wegen
nicht verfügen dürfen.
Seh., der instinktiv die Katastrophe herannahen fühlte, der aber
im Grunde nur auf Vermutungen angewiesen war, wendete sich in
einem Schreiben vom 23. November 1816 an den Minister Golizin,
um sich zu rechtfertigen. Seh. gibt sich als Pietist aus und überreicht
die Übersetzung der Psalmen und eine Erklärung einiger Bücher
des Alten und Neuen Testaments, Schriften, die den Kampf gegen
die Entsitthchung dienen sollten, zum Trost und zur Stärkung für
jedermann. Die ebenfalls beigefügte Übersetzung sei von einem
gewissen Grinewitsch verfaßt, einem der besten und gelehrtesten
Studenten, der alle Prüfungen bestanden, dem man aber das Diplom
bisher vorenthalten habe, wie auch dem vielseitig gebildeten Kowa-
lewsky. Seh. verteidigt wiederum seine beiden Kandidaten, indem er
auf den schlechten Lateinunterricht der Gymnasien hinweist. Kein
, Professor der Universität schreibe Latein ohne grammatische Fehler
und Barbarismen. Degouroff aber sei dieser Sprache am wenigsten
kundig. Eine Verteidigung sei ihm unmöglich, da seine Meinung im
über die Beziehungen Fichtes zur Universität Charkow. 443
Senat nicht gehört werde. Seine Philosophie aber kämpfe um die Ver-
breitung des Glaubens, um Moral, Vaterlandsliebe und das allgemeine
Wohl. Bis zum letzten Atemzuge werde er an seiner Überzeugung
festhalten und trotz aller Verfolgung vor Gott gerecht erscheinen.
Irgendeinen Einfluß auf den Gang der Dinge konnte dieser Ver-
such der Kechtfertigung nicht ausüben, denn die Entscheidung war
ja schon am 3. November gefallen. Am 8. Dezember 1816 wurde
Seh. nach der Vorschrift des Polizeiministers sofort ausgewiesen
und unter mihtärischer Eskorte an die Grenze transportiert. Am
13. Dezember wurde der Senat von dem Entschlüsse des Minister-
rates durch Golizin in Kenntnis gesetzt.
Damit war die Angelegenheit aber keineswegs erledigt. Seh.s
Energie und sein Glaube an eine gerechte Sache ließen ihn immer
wieder von neuem den Versuch machen, eine Entschädigung für den
ihm zugefügten morahschen und materiellen Schaden zu erlangen,
sei es auf direktem oder diplomatischem Wege. Zuerst suchte er
die gesellschaftUche Meinung für sein Schicksal zu interessieren durch
einen Artikel in der „Halleschen Allgemeinen Literaturzeitung"
(März 1817 Nr. 58). Vom Gouverneur sei er innerhalb 24 Stunden
aus der Stadt verwiesen und über Bjelostok an die Grenze gebracht
worden. Famihe, Haus und Hof habe er im Stich lassen müssen und
eine Anklage sei ihm nicht mitgeteilt worden. Dieser x\rtikel wurde
dem russischen Gesandten am preußischen Hofe mit einem Gesuch
Sch.s an den Zaren überreicht. Der Gesandte berichtet nach St. Peters-
burg, daß der ausgewiesene Professor Seh. plus fertile qu'estime
durch Hufeland als außerordentlicher Professor nach Berhn gekommen
sei. Dieser Seh. behaupte, die deutschen Gelehrten in Bußland seien
verfolgt und den Franzosen geopfert. Er verlange eine Geldentschädi-
gung und habe eine schrifthche Darstellung des Falles für den Kaiser
überreicht, man solle ihm doch den Mund mit Geld stopfen.
Am 6. Mai 1817 schreibt der Generalkonsul von Hamburg von
Struwe an den Minister: der „deutsche Beobachter" in Hamburg
habe einen Artikel aus Berlin über Seh. gebracht. Er selbst habe
die sofortige Unterdrückung des Artikels verlangt, aber er könne
nicht verhindern, daß der Artikel nicht sonst wo gedruckt würde;
gleichzeitig fügt er einen Auszug aus dem Artikel bei.
Am 17. Mai 1817 rechtfertigte sich Gohzin dem Minister des
Äußern gegenüber wegen seines Vorgehens und wies im besonderen
444 Paul Stähler,
auf die in Deutschland veröffentlichten Bücher Sch.s hin, als deut-
lichen Beweis seiner Immoralität und Irreligiosität. Gleichzeitig
lanciert Gühzin eine Erwiderung auf Nr. 58 der „Halleschen Allge-
meinen Literaturzeitung": die Angelegenheit Seh. werde sehr streng
durchgesehen, ohne Zweifel aber sei dessen Ziel, durch seine Lelu*-
bücher schädüche Lehren zu verbreiten. Das könne das Ministerium
nicht dulden, sein Schicksal habe er selbst verschuldet. — Man sieht,
Seh. war es gelungen, die öffenthche Meinung zu beeinflussen, und
nach Bogaleis Meinung war Golizin nicht abgeneigt, sein Schweigen
durch eine Geldsumme zu erkaufen.
Seh. suchte am 4. Dezember 1818 durch eine ausführliche
Rechtfertigungsschrift sich Genugtuung zu verschaffen und
Degouroff zu vernichten: er schildert die gewaltsame Ausweisung,
seine beträchtlichen Vermögensverluste und seine jetzige prekäre
Lage. Er verantwortet sich wegen seiner Angriffe auf Napoleon,
den größten Tyrannen, den Vernichter jeder menschlichen Würde.
Er legt seine Überzeugung von der ethischen Bedeutung der Mono-
gamie dar, verteidigt sich gegen den Vorwurf, er huldige ScheUingschen
Ideen und bekennt sich zu den Grundwahrheiten: Gott, Freiheit,
Tugend, Unsterljlichkeit. Degouroff, sein Verleumder, verstehe nicht
einmal deutsch, er sei ein charakterloser Mensch, der während der
Revolution als Buchhändler in Paris die Jugend zu demoralisieren
suchte. Er (Seh.) habe sich bereits an die Weimarer Regierung ge-
wandt, um seine Rechtfertigung durchzusetzen. Er verlange die
Erstattung seines Vermögens in Charkow und die ihm rechtmäßig
zustehende Pension, denn er habe bei der Übernahme von Lehr-
aufträgen weit mehr als seine Pflicht getan.
Seh. hatte offenbar den Geist der Zeit noch nicht begriffen.
Gewiß, er hatte im Anfang der Regierung Alexanders I. Beifall ge-
funden, aber jetzt hatten sich die Zeiten völlig geändert. Eine rück-
sichtslose Reaktion in der zivihsierten Welt, nach Napoleons Sturz
hatte längst eingesetzt.
Die Jenaer Stadtverwaltung machte vergeblich den Versuch, die
Einziehung des Vermögens in Charkow zu bewirken und die Weimarer
Regierung vermittelte eine Entschädigung von 300 Goldstücken durch
den Zaren, als dieser sich geleaenthch in Weimar aufhielt. Seh. war
wiederum Professor in Jena, aber ohne Gehalt, und seine materielle
über die Beziehungen Fichtes zur Univeisität Charkow. 445
Lage, verschlimmert durch seine zerrütteten Famiüenverhältnisse,
muß bedauernswert gewesen sein.
Einen letzten entschlossenen Versuch zu seiner Rehabilitation
machte er durch seine ausführliche Bittschrift an den Zaren
am 3. Februar 1820. Mit der ihm (Seh.) eigentümhchen Breite und
Weitläufigkeit unternimmt er seine Rechtfertigung und fügt als
Beweis seiner Gesinnung seine religiös-poetischen Übungen bei. Er
dankt für die Überweisung der 300 Goldstücke, unterstreicht bei
jeder Gelegenheit seine chiistlichen Anschauungen und sucht seinen
früheren ausgesprochenen Rationalismus zu retouchieren. Den Ge-
samtverlust seines Vermögens schätzte er auf 52 000 Rubel. Der
Verleumder Degouroff habe nur die Seiten seiner Bücher genannt,
aber niemals den Text zitiert. Auf Grund von Zitaten aus seinen
Büchern sucht Seh. die Ungeheuerlichkeit der Vorwürfe : er habe die Ehe
und die Einrichtung des russischen Reiches angegriffen, nachzuweisen ;
auf jeden Fall verlangt er eine neue, gTündlichere Untersuchung
der Angelegenheit. Man klage ihn der Philosophie SchelKngs an.
Der Ankläger Degouroff aber kenne weder die deutsche Sprache
noch die deutsche Philosophie. Natur und Gott seien nicht identisch,
er stehe auf dem Boden des Naturrechtes, welches göttlich und daher
christhch sei. Das Evangehum sei höher als alle Philosophie, und
das KiTuz Jesu sei das einzige Katheder der wahren Weisheit. Er
gesteht auf Leibniz, den christlichen Philosophen, zurückgegriffen
zu haben; gewiß habe er auch von Kant gelernt, aber dieser sei nicht
im Besitze der Wahrheit.
In seinem Lehrbuche: „De viris illustribus urbis Romae" habe
er die Schüler mit den römischen Sitten und Gebräuchen bekannt
machen wollen; dabei habe er nur patriotische, sittliche und päda-
gogische Ziele verfolgt. Trotzdem erfolgte jene schwere Verurteilung,
und das Buch wurde öffenthch im botanischen Garten verbrannt.
Die Kaiserin habe ihm aber eine wertvolle Tabaksdose mit dem Bilde
der Famihe verehrt. In dem beigefügten Brief lobt sie ihn wegen
seiner ausgezeichneten, für die Volksaufklärung so wichtigen Arbeiten.
Seine ehrhche Absicht sei gewesen, die römischen lüassiker als die
gTößten Lehrer der Keuschheit der Jugend nahe zu bringen. Dazu
aber war gleichzeitig eine kurze Geschichte Roms und seiner Sitten
und Gebräuche notwendig. Wenn er Hannibal und die Punier
mit der Treulosigkeit Napoleons und des französischen Volkes
446 i'aul Stähler,
vcrirliehen habe, so sei das nur aus pädaf^ogisehen Gründen ge-
schehen.
Die Ausarbeitung der Dissertation seines Kandidaten „De libertate
inentis" sei vorher von dem Senat gebilligt worden, weil dieses Thema
für seine eigene Philosophie grundlegend war. In der Vorrede habe
er vor dem französischen Skeptizismus (Bayle) gewarnt. Die Ansicht,
daß der Mensch eine physisch-moralische Maschine sei, erreicht in
„L'homme-machine" den Höhepunkt und damit die Spitze der Ge-
wissenlosigkeit. Fast alle Franzosen sind von dieser Lehre angesteckt,
und nur so sind die gewissenlosen Räubereien Franki-eichs erklärUch.
Er greife auf das Gewissen zurück und begründe mit Paulus die Tugend
nicht durch einen Begriff, sondern durch den Glauben, denn der
französische Materialismus führt auf die gefährlichsten Irrwege;
aber auch der Kantische Empirismus wirkt zerrüttend auf den Glauben,
weil er über die Erfahrung hinauszugehen verzichtet. Seine (Sch.s)
Lebensaufgabe sei es gewesen, den christhchen Glauben und die
cluistUche Dogmatik zu begTÜnden und mit den natürlichen Wahr-
heiten zu versöhnen.
So soUe man seine Werke und nur seine Werke prüfen, und seine
Gegner werden vernichtet w^erden. Ihm sei durch die plötzhche Aus-
weisung die Rechtfertigung unmöglich geworden, aber er sei bereit,
nach St. Petersburg zu kommen, um sich zu verantworten und seine
rechtmäßigen Ansprüche geltend zu machen; dafür unterwerfe er
sich jeder Strafe, die ein rechtmäßiges Verfahren ihm zusprechen
sollte.
Wiederum wurde Seh. zurückgewiesen, und sieben Jahre lang
schwieg er. Im Jahre 1827 bestieg Nikolaus I. den Thron. Jetzt
wendet sich Schad in seinem Schreiben vom 27. Februar 1827 an
den Minister des Unterrichtswesens mit dem Eruschen, seine Ari-
gelegenheit von neuem zu prüfen. Wirklich wurde auch verfügt,
alle Werke, Akten und Beschuldigungen genau durchzusehen, da
in dem Sclueiben Gohzins an den Ministerrat die Anldagen ganz
allgemein gehalten und nicht genügend begründet waren.
Im Jahre 1828 begab sich der Sohn Sch.s nach Petersburg mit
einem Gesuch an den Zaren, der sich als Ki-onprinz schon für die
Sache interessiert hatte. Der Minister des Unterrichtswesens holte die
Meinung des Charkower Kurators ein, welcher die Lage des Vaters
in Deutschland gesehen hatte und eine Entschädigung von 10 000
über die Beziehungen Fichtes zur Univeisität Qharkow. 447
Rubel und eine Pension von 1000 Rul^el befürwortete (Sehr, vom
28. Februar 1828).
Diesem letzten Gesuch Sch.s wurde aber nicht stattgegeben,
und so endeten alle seine Bemühungen, seine Rechte geltend zu
machen, erfolglos. Im Jahre 1834 starb Schad.
e) Schluß.
Es ist das gxoße Verdienst Professor Bogaleis, in der oben er-
wähnten Sclirift*) eine endgültige Untersuchung des Falles Schad
gehefert zu haben. Wenn sich auch in Schads ,,Lebensgeschichte""
von 1828 mehr als reichhches biographisches Material findet, so
konnte sich doch der Verfasser aus den angegebenen Gründen nie
über das Urteil des Ministers klar werden. Indem ich also nur russische
Quellen benutzte, war eine Beleuchtung des Falles von der entgegen-
gesetzten Seite möglich.
Daß Schad in den Werken seiner Klosterperiode einem radikalen
Rationalismus huldigte, darüber kann kein Zweifel sein. Gewiß hat
er diesen Rationalismus immer mehr zu läutern versucht, aber gerade
jene biographischen Werke haben — das konnte ihm selbst nie klar
werden — seine plötzhche Katastrophe herbeigefidnt. Jedenfalls
hat sich Seh. nie eine Vorstellung davon machen können, mit welche i-
Macht nach dem Sturze Napoleons die europäische Reaktion ein-
setzte. Im Jahre 1817 wurde das Unterrichtsministerium in ein Mi-
nisterium der geistlichen Angelegenheiten und der Volksaufklärung
verwandelt; ein gelehrtes Komitee war mit der Durchsicht der ge-
fährhchen Bücher rationalistischer Färbung beschäftigt; das Natur-
recht soUte von den Hochschulen verschwinden. Nicht bloß die
Charkower Universität erfuhr derartige Eingriffe, auch die Kasaner
Universität blieb u. a. davon nicht verschont. Es w^ar ein großes
System, welchem Seh. zum Opfer fiel; ein System, das in der ,, heiligen
Alliance" ruhte. Kaum zehn Jahre nach Fichtes Tode waren ver-
gangen, da wurde bekannthch eine neue Herausgabe seiner ,, Reden
an die deutsche Nation" verhindert, d. h. sie wurden öffentlich ge-
brandmarkt.
*) Bogalei, D. J., Die Entfernung des Professors J. B. Schad au.s
der Charkower Universität. Charkow 1899. (russisch.)
448 Paul Stählor.
Die Untersuchung hatte, wie oben dargelegt wurde, ergeben,
daß die Dissertationen der beiden Kandidaten Sch.s Plagiate waren,
und besonders im Falle Grinewitsch war es dem Angeklagten nicht
gelungen, sich zu rechtfertigen. Zwar galt Seh. für bestechlich, aber
in diesem Falle konnte von niemandem ein derartiges Vergehen nach-
gewiesen werden, höchstens ruhte ein Verdacht auf ihm.
Auf Grund der in der Charkower Universitätsgeschichte nieder-
gelegten Forschungen Prof. Bogaleis hatte Seh. bedeutende Charakter-
fehler, die durch seine zerrütteten Familienverhältnisse wohl noch
verschlimmert wurden, aber ohne Zweifel war Seh. einer der be-
deutendsten Professoren der Charkower Universität in jener Zeit.
Von allen Seiten sah er sich schheßhch von Feinden umgeben. Ganz
gewiß hätte man bei einigem guten Willen die anstößigen SteDen in
seinen Büchern streichen können, denn daß er in seinem Werke:
„de viris " das Keuschheitsproblem erörtert hatte, war keines- i
wegs so ungeheuerüch, da das Buch auch für Studenten bestimmt war.
Die schwere Strafe aber, die Seh. traf, nämhch Absetzung und
Landesverweisung, war ohne vorhergehendes formelles Gericht gewiß
ungerecht. Selbst die Fürsprache des Kurators, den er irrtümhcher-
weise stets für seinen Todfeind gehalten hatte, konnte eine Rehabili-
tation nicht bewirken.
Die Angelegenheit Seh. ist ohne Zweifel eines der interessantesten
Ereignisse in der Geschichte der Charkower Universität. Sie zeigt,
wie Seh. dasselbe Schicksal ereilte, das Fichte gewiß ereilt haben
würde, hätte er noch gelebt; ein Schicksal, das sich nur an Fichtes
hinterlassenen Schriften auswirken konnte.
Durch Sch.s Ausweisung erfolgte naturgemäß ein jäher Ab-
bruch der Beziehungen der Fichteschen Schule zur Universität
Charkow.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam.
Von
Prof. Dr. Horten in Bonn.
(Fortsetzung.)
Horten, D. M., Die philosophischen und theologischen Ansichten von Lahigi
ca. 1670 nach seinem Werke: „Die aufgehenden Sterne der Offen-
barung" einem Kommentare zur Dogmatik des Tusi (tagrid) 1273 f-
Lahigi ist ein orthodoxer Theologe. Um so interessanter ist es, bei diesem den
Einfluß der griechischen Philosophie und hberaler Lehren festzustellen. Es
ist nun eine offenkundige Tatsache, daß er ganz und gar von giiechischer
Philosophie beherrscht ist und auch offen für dieselbe eintritt, obwohl er sich
dadurch in eine oppositionelle Stellung zur altorthodoxen Theologie, d. h.
zu den Traditionen seiner eigenen Schule setzt. Das Eindringen und Obsiegen
des griechischen Geistes in die islamische Theologie ist also noch bei diesem
späteren Vertreter derselben zu beobachten. Seit A\acenna ist tueses das all-
gemeine Entwicklungsgesetz islamischen Geisteslebens, das man in seinen
Phasen in den verschiedenen Jahrhunderten feststellen kann. Die Nachrichten,
die Lahigi selbst in seinem Wei ke gibt, erlauben es, sogar bei den großen Gegnern
Avicennas, Razi und Taftazani dieses selbe Gesetz wirken zu sehen. Sie be-
kämpfen Aviceima nur in einzelnen seiner Thesen, bewegen sich dabei aber
durchaus im Banne griechischei Gedanken. Noch \iel deuthcher tritt dieses
Entwicklungsgesetz bei den A\dcenna freundlich gesinnten Theologen auf.
Die inteiessante Tatsache ist vor allem zu konstatieren, daß der „Heide"
Avicenna von orthodoxen Theologen des Islam gegen die Angriffe anderer
Theologen verteidigt wird. Eine der auffälligsten Beispiele füi jenes Gesetz
ist schließlich Lahigi, der eine strenge Orthodoxie vertritt, dabei sich aber
so sehr den Gedanken Avicennas nähert, daß man einen unmittelbaren Schüler
dieses Meisters zu hören glaubt. Seine Lehren übei die Wissenschaft, das Sein
und dessen Modi, die Ursachen, das Wesen der Natm-dinge (Hyle und Form),
die Gesetzmäßigkeit im Natm-geschehen, das Wirken Gottes, den Nus usw.
sind durchaus in griechischem Geiste gehalten^).
1) Das Werk Schahristanis: „Die Bekämpfung der griechischen Philo-
sophen" (musaraat alf.) findet sich hier S. 31 und auch bei Schiräzi unter
dem Titel: Der „Totschläger der griech. Philos." (musari'alf. bei i. Hall,
almusäraät). — vgl. ferner: Kantstudien XVII 483.
Archiv für Geschichte, der Philosophie. XXVIII. 4. 29
450 Horten,
Horten, Die spekulative und positive Theologie des Islam nach Räzi 1209 t
und ihre Kritik durch Tusi 1273 nach Originalquellen übersetzt und
erläutert mit einem Anhang: Verzeichnis philosophischer Termini im
Arabischen, Leipzig 1912.
Mit dieser Veröffentlichung werden der vergleichenden Religionswissen-
schaft Dokumente vorgelegt, die im Mittelalter des Islam für lange Zeit und
breite Kreise die Theologie ausmachten. Sie wm-den wegen ihrer klaren und
kurzen Form als Kompendium der philosophisch orientierten Theologie be-
nutzt. Aus ihnen ersieht man, welche Probleme für die höher gebildeten Mus-
lime im Zentrum des Interesses standen und wie sie behandelt wurden. Die
Stellung und Behaiidlung der Probleme ist eine durchaus philosophische.
Nach Avicenna und Gazali sind alle maßgebenden Theologen im Islam in
der griechischen Philosophie ausgebildet oder wenigstens über sie genügend
orientiert. Sie keimen ihren Altmeister Avicenna von Grund auf und wenn sie
auch in einzelnen Fragen gegen ihn Stellung nehmen — dieses beweist ihre
geistige Selbständigkeit — bewegen sie sich doch diu-chaus in den Bahnen
des philosophischen Denkens. Mit Razi ist der Punkt der Entwicklung ge-
geben, in dem die große Masse der gebildeten MusUnie sich mit der griechischen
Philosojihie zu befassen anfängt, zuerst aber noch mit einigem Zagen und
manchen Polemiken gegen das ., Heidnische" in Avicenna zu Werke geht,
um in der weiteren Entwicklung (z. B. Igi und Gurgani) sich dem philoso-
phischen Denken unbefangener zu öffnen.
Die Kritik Tusis zeigt deutlich, daß das Verständnis der griechischen
Philosophie in theologischen Kreisen im XIII. Jahrhundert im Fortschreiten
begriffen ist. Räzi ist vielfach ganz unsicher. So versagt er in der Erklärung
des Wissens Gottes (S. 57), schwankt selbst in seinen Begriffen (z. B. der
Definition des Wissens S. 57 Z. 4 unt. u. Anm.), unsicher in seiner Beweis-
führung und mehr auf das Logisch-Formale sehend (S. 58, 6 unt. u. passim),
wälirend Tusi die Gedanken sachlich klarer und tiefer faßt (S. 63, 9 f., wo Räzi
einen Fehlschluß in aliud genas, ex ordine logico in ordinem realem macht,
59, 5 unt.: Das Prinzipielle betonend; 58, 10 unt. usw.). Allerdings begeht
auch Tusi ein Versehen, indem er die Möglichkeit eines Instrumentes der
Schöpfung damit widerlegt, daß er die Frage nahezu zu einer Wortfrage macht
(S. 35 A. 1), was sie in der Tat nicht ist. Die Korrekturen, die Tusi (passim)
an den Äußerungen Räzis über die griechischen Philosophen vornimmt, sind
gerade für das Besserwerden des Verständnisses der griechischen Gedanken-
welt beachtenswert. Das auch für das Verständnis der älteren Theologie ein
Gewinn erzielt wird, zeigt die Behandlung der Modustheorie des abu Häschim,
die deutlich ein Inliaerens \;nd das Inhaerenzverliältnis unterscheidet (S' 63,
2f. u. ib. Z. 28, ferner 72 Mitte), ersteres sogar als etwas der Gottheit nicht
,, Anhaftendes" bezeichnet. Jene uns fremde Gedankenwelt (im Grunde die
Lehre der Vaischesika von der Inhaerenz) wird dadurch in wünschenswerter
Weise beleuchtet. An der Oberfläche haften ferner die Beweise Räzis, daß
das formelle Objekt des Sehens das Sein ist (70). Vielleicht körme das des
Hörens einen gleichweiten Umfang haben. Die Hörbarkeit des innergöttlichen
Wortes und visio beatifica soll damit als annehmbar erwiesen werden. Die
ii
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 451
Kritik Tusis nimmt sich dagegen sehr kühl und nüchtern aus. Ähnliche Ober-
flächlichkeiten begeht Räzi 75 — 76 (duo agentia in unum obiectum), 76 Mitte,
77 unt. (die Konsequenzen der Handlung), 81 (naive Antwort auf die bekannte
Schwierigkeit gegen die freie Handlung betr. den sensus compositus und divi-
sm-) usw. Aus dem vorliegenden Werke läßt sich also derjenige Geist charak-
terisieren, der den Kampf gegen mehrere Thesen Avicennas imternomnien hat.
Die Verteidiger der griechischen Philosophie haben sich von nun an gegen
Räzi zu wenden und seine Aufstellungen zu erschüttern. Wie leicht ihnen
dieses gelingt und wie sicher und überlegen sie sich ihrer Sache fühlen, zeigt
Tusi. Noch schärfere Kiitik üben spätere Theologen z. B. Kuschgi, Schirazi
(1640 t), Lahigi usw. Im ganzen kann man sagen: Es ist der islamischen
spekulativen Theologie und Philosophie nicht schwer gefallen, die Bedenken
Räzis abzuwehren und dem griechischen Geistesleben die Bahnen, auf denen
es in den Islam eindrang, offen zu halten.
Die Übersetzung des Kompendium (muhassal) Razis (vgl. die Rezension:
Archiv XX. Bd. 1907 S. 411f.), dieses Merksteins der islamischen Philosophie,
ist nunmehr beendet. Die allgemein philosophischen Teile sind in dem Werke
wiedergegeben: Horten: Die philosophischen Ansichten von Razi und Tusi
(Bonn 1910), die Aufsührungen über die Modustheoiie in ZDMG. Bd. 63 S. 303
bis 324. Danach waren noch die theologischen Teile zu geben (von S. 106 des
arab. Teiles), die hier also voiliegen. Sie bilden ein größeres Ganze mit meinen
übrigen Veröffentlichungen über islannsche Theologie (,,Die philosophischen
Probleme", „Räzi und Tusi", ,,Abu Raschid" und „Die philosophischen
Systeme"), die Bausteine zu einer allseitigen Darstellung der philosophischen
Ideenbildungen der ersten Zeit des Islam sein wollen. Die philosophische
Beiu'teilung der einzelnen Lehren und die Wertung der Gedanken Räzis im
Vergleiche zu Tusi und anderen vom logischen und ideologischen Standpunkte
ist eine Aufgabe, die erst nach eingehenden Vergleichen mit früheren und
späteren Systemen in historischem Sinne erledigt werden kann.
Der Anhang bringt eine Zusammenstellung philosophischer Termini im
Arabischen. Er zeifällt in zwei Teile, das eigentliche Lexicon und die Termino-
logie der „Thesen" Avicennas, die mit den „Definitionen" Gurganis und den
Ausdrücken der „Erlösung der Seele" (eines Werkes Avicemias) als besondere
Einheit zusammengefaßt wm-den. Die Berechtigung zu dieser Gruppierung
liat Forget in seiner Ausgabe der „Thesen" bereits ausgesprochen. A\äceima
ist in denselben bestrebt, den Anfänger in die Philosophie einzuführen und
besonders die Terminologie zu fixieren. In der historischen Entwicklung
sind sie in der Tat auch zu einem Maßstabe der philosophischen Ausdrucks-
weisen geworden. Eine verwandte Tendenz verfolgen Gurgani und Arabi in
ihren Lexicis. Es ist daher berechtigt, diese als die Grundlagen der philo-
sophischen Terminologie gesondert für sich zu betrachten.
Es ist eine anerkarmte Tatsache, daß die gesamte höhere Geisteskultur
des Islam von philosophischen Voraussetzungen durchdrungen und getragen
wird. Wollen wir uns daher dieses eigenartige Geistesleben in der Weise ver-
gegenwärtigen, in der es einst wirklich war, und woUen wir es so nachdenken,
wie es gedacht wm-de, dann können wir die ihm zugrunde liegenden philo-
29*
452
Horten,
sopliischen Gedanken nicht außeracht lassen. Der Einfluß der Philosophie
erstreckt sich im Islam nicht nur auf die Theologie, die Koranexegese und
Traditionswissenschaft, sondern auch auf die (beschichte (ihn Haldän), die
Naturwissenschaften (besonders in Einleitungen und allgemeinen Erörterungen),
die Medizin (z. B. die „Allgemeinbegriffe der „Medizin", ein Werk Avicennas),
die Mystik, Ethik und sogar die Poesie, insofern sie das eine oder andere
dieser (ilebiete (z. B. die Mystik) berührt. Daher ist es im Interesse der
Erschheßung der islamischen Geisteskultur berechtigt, die philosophischen
Termini, deren Klarstellung mit besonderen .Schwierigkeiten verbunden ist,
eingehend zu behandeln.
Nicholson, Reynold A., The Kashf al-Mahjüb by 'Ali b. 'Uthmän
al JuUabi al Hujwiri in: E. J. W. Gibb Memorial Series. vol. XVII, 1911,
iS. XXIV + 443, gr. S».
In dem vorhegenden stattlichen Bande erschUeßt Nicholson, der Meister
in der Kermtnis der islamischen Mystik, weiteren Ki-eisen den ältesten
mystischen Text der persischen Literatur. Der übersetzte Text: „Die Ent-
hüllung des Verschleierten" ist ein späteres Werk des Gaznawi (ca. 1073 t)-
Er gibt eine historische und dogmatische Darstellung der Mystik im Islam.
Diese eigenartige Form der Erlebnis- und Gefühlsreligion ist sowohl in ihrem
Asketismus als auch ihrer pantheistischen Spekulation (die die W^elt als Phä-
nomen auffaßt und Gott als das eigentüche Sein, der Realgrund der Phäno-
mene) ein indischer Einfluß, der sich in koranische Formeln zu kleiden sucht.
Im Islam selbst hat er jedoch eigenartige Umgestaltungen erfahren, wie die
Lehren der einzelnen Meister, die Gaznawi aufzählt, zeigen. Jeder sclüldert
in seiner Weise das ihm eigene reügiöse Erlebnis und gelangt dabei vielfach zu
besonderen dogmatischen und ethischen Aufstellungen. Trotz der harmoni-
sierenden imd apologetischen Tendenz des Gaznawi leuchtet deutlich durch,
daß in der mystischen Strömung zwei Richtungen geltend waren, eine extreme
— die ausgesprochen pantheistische — imd eine gemäßigte, die die panthe-
istischen Ideen als heterodox ablehnte. Letzterer gehört Gaznawi an. Nach
ihm ist die Substanz des menschlichen Ich unvergänglich. Sie wird also
auch im Nirwana nicht von Gott absorbiert. Die menschUchen Eigen-
schaften fallen jedoch bei dem Versinken in die Gottheit der Vernichtung
anheim. Durch die Lehre von diesem gemäßigten Nirwana sucht Gaznawi
buddhistisches und islamisches Gedankengut zu harmonisieren. — Der Mensch
besteht nach Gaznawi aus vier Teilen: dem Geiste (sirr), dem Pneuma, der
sensitiven Seele und dem Leibe (S. 309; S. 199 werden mu- drei aufgezählt).
Diese bilden konzentrische „Sphären", deren imierster Kern der Geist und
deren äußerste Schale der Leib ist. Die Ewigkeit des Lebensgeistes, eine weit-
verbreitete Lelire (S. 266) wird von Gaznawi entschieden abgewiesen. Er
ist sehr bestrebt seine Orthodoxie hervorzuheben, besonders auch durch seine
Polemik gegen die liberalen Theologen.
Die Zusammenstellung mystischer Termini S. 367 ff. ist als Ergänzung
der bekannten mystischen Lexika von Arabi 1240 f, Käschi (Abdarrazzak)
1330 t und Gurgäni 1413 t sehr dankenswert. Sie zeigt, wie mystische Aus-
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 453
drücke durch .Schultradition zu sehr abliegenden Bedeutungen gelangen können.
Von der philologischen Kiitik darf also dagegen kein Bedenken erhoben werden,
daß man diese Termini „freier" übersetzt, ohne sich an die Grundbedeutung
zu enge anzuschließen; denn diese „freiere" Übersetzung gibt den Gedanken
wieder, den der Autor ausdrücken will, während ein Festhalten an der Grund-
bedeutung einen anderen Gedanken wiedergeben würde, also eine geradezu
fehlerhafte Übersetzung bedeutete. Tauhid := unification (385,5 unt.) be-
zeichnet z. B. vielfach schlechthin Gott (Bekemitnis und Preis der Einheit
Gottes) und sogar den Gedanken, daß Gott die Universalursache des Welt-
alls ist. Der eigenartigen Biegsamkeit der arabisch-peisischen Termini ist
Nicholson in der Weise trefflich gerecht geworden, daß er in kiitischen Fällen
eine entsprechend freie Wiedergabe findet^). Die Haschvvija, über deren
Lehren ich in dem Buche: Die philosophischen Probleme der spekulativen
Theologie 1910 mehrere Berichte beibringen konnte (vgl. auch Zeitschr. f.
Assyr. 1911 Bd. XXVI S. 196) treten bei Gaznawi als Anthropomorphisten
^) Statt Sulami (Azdi 1021 t) ist nimmehr mit Mart. Hartmann Or. L. Ztg.
1912 Sp. 128 Sullami, der Begründer der Lehre von der mystischen Stufen-
leiter, Klimax zu lesen: Die Termini sind durchgängig diejenigen der Philo-
sophen: hudüt (,,origination" 8.280): zeitliches Entstehen, mulidat (phä-
nomenal; 270): zeitüch entstanden, tasdik (verification; 286): Fürwahrhaiten,
,, Glauben", sirr (heart; 309 u. oft): reiner Geist, der abstrakt denkt und Gott
erschauen kann, kaifljat (nature; 308): Eigenschaft im Gegensatz zur Sub-
stanz, aijäran (hidden spiritualist; 100): Mystiker die jegliche Kultur ver-
spotten (und \deUeicht ganz unbekleidet umhergehen vgl. 'ar — nach indischem
Vorbilde), gama 'a bain assari 'ah wal hakikah (he combined the Law and the
Truth; 139): er betätigte sich gleichzeitig in der praktisch-ethischen wie
auch der theoretisch- kontemplativen Seite der Religion, 'ain (the true idea;
149 unt.): die konkrete Wirklichkeit (,,das Indi^aduum"), baka (subsistance ;
185), vielfach: ,, unvergängliche Dauer", S. 204: the qualities of a horse are
altered by ,,mortification", doch wohl ,, Dressur" (wenn auch der arabische
Terminus für beide derselbe ist), mugassam (incarnate; 224) : mit einem Körper
ausgestattet (auch ohne Inkarnation), intikal (transmigration; 236): räum-
liche Bewegung (die für ein unkörperliches Wesen wie Gott undenkbar ist
(und tagzia = Zusammensetzung aus Teilen), huwija (the Absolute; 238):
d i e Individualität (die absolut besteht, also Gott — mit pantheistischen
Grundgedanken!), mähall i hawadit (locus of phenomena; 244): Substrat
zeitlich entstehender Akzidenzien (das der Veränderung unterworfen ist),
ta'til (denial of the Creator; 257, 1) vielleicht besser: Thesis, daß Gott keine
Einwirkung auf die Welt ausübt (W^urzelbedeutung: müßig, tatenlos sein),
die Bahshami sekt (295) sind die Anhänger des abu Häschim 933 fi der mehr-
mals genannte Sulami ist unter dem Namen Azdi 1021 t bekannt. Die Ver-
zeichnisse f. 421 ff. sind sorgfältig gearbeitet (Bangäri fehlt). Eine chrono-
logische Zusammenstellung der genannten Mystiker würde den geschichtlichen
Überblick erleichtert haben.
454 Horten,
auf, was mit ilircr anderweitig bekannten intellektuellen Rückständigkeit
übereinstimmt.
Folgende sind die Themata der Mystik, die Gaznawi von dem Stand-
punkte einer durchaus idealistischen und durchgeistigten Lebensauffassung
aus behandelt: Gotteserkenntnis, Wert der Armut, mystische Reinheit,
das Mönchsgewand (Bettlergewand, ein Symbol der Weltentsagung), das
Streben, von den Menschen verachtet und getadelt zu werden, Glaube, Reue,
GeselUgkeitstugenden, kurz: Regeln für jede Betätigung des Lebens. Möge
dieses Werk zum Verständnisse islamischer Gedankenwelt beitragen.
Nicholson, A. R., The Tarjuman al-Ashwäq, a coUection of mystical ödes by
Muhyi'ddin ihn al-Arabi; London Royal Asiatic Society 1911; VII +
155 S. 8°.
Arabi 1240 f gilt als der bedeutendste Mystiker im Islam. Seine Ge-
dankenführung und Weltanschauung kennen zu lernen ist daher ein lebhafter
Wunsch mancher Forscher. In seinen hier vorliegenden Gedichten scheinen
seinen philosophischen Lehren nur stellenweise durch, und ohne den bei-
gegebenen Kommentar, den Arabi selbst zu seinen mystischen Liebesgedichten
verfaßte, wären deren tiefere Gedanken wohl unerkennbar geblieben. Arabi
ist ein pantheistischer Mystiker. Die Welt ist die Summe der Differenzierimgen
der göttlichen Substanz, d. h. „der Namen Gottes". Das Glück des Menschen
besteht in dem Aufgehen in der Gottheit, dem Nirwana. Das Weltall stellt
sich in drei Stufen dar, dem Weltintellekte, der niederen, sublunarischen und
der zwischen beiden liegenden mittleren Welt. Diese vermittelt die Ein-
wirkungen von der Geisteswelt zur niederen Welt und ist mit der Natm* des sen-
sitiven Prinzipes ausgestattet zu denken. Der Lebenskampf besteht in einem
Streben nach dem Geistigen, den Visionen des GöttHchen in der jenseitigen,
unmateriellen Welt. AUe Reügionen sind gleichwertig. In der Religion der
Liebe werden alle zu einer höheren Einheit und zu wahrhaft edler Toleranz
zusammengefaßt. Jede Rehgion ist eine berechtigte Offenbarungsform der
einen großen WeltreUgion. — Indische imd neuplatonische Lehren durch-
dringen sich hier zu einer schönen Harmonie.
Mit diesem Mystizismus berührt sich in manchen Punkten die Philo-
sophie der Babi-Behäi-Sekte. Sie gibt dem Neuplatonismus mehr Spiekaum
und macht gegen den extremen Pantheismus Front. Die Literatm- über diese
moderne Erweckungsbewegmig im Islam und ihre Geschichte findet man
übersichtUch zusammengestellt und mit Verständnis erläutert von Römer, j
Dr. Hermann: Die Bäbi-Behäi. Potsdam 1912. Drei dieser CJedichte
des Arabi wurden in deutscher Übertragung mit Kommentar und orientierender
Einleitung besonders herausgegeben: Horten: Mystische Texte aus dem Islam. |.
Drei Gedichte des Arabi. Bonn 1912. S. IS. Die Einleitmag bespricht die -
drei Hauptzweige der islamischen Mystik (den christlichen, griechisch-
persischen und indischen), die Weltanschauung Arabis und das Wesen der
mystischen Intuition, der mit der Seinslehre der Philosophen (Kontingenz-
beweis) verglichen wird. Vgl. Theol. Litrtztg. 1912 Sp. 45(».
\
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 455
Ikbal, Shaikh Muhammad, The Development of Metaphysics in Persia:
a contribution to the history of muslim Philosophy; London 1908.
XII + 195 S.
Der Verfasser bemerkt in der Einleitung, die Perser seien nur für eine
oberflächliche Betrachtung der Dinge geeignet. Glücklicherweise trifft diese
Behauptung in ihrer naiven Allgemeinheit nicht zu, leider bewahrheitet sie
sich aber bei dem Verfasser selbst. Sein Buch ist von der Psychologie eines
18 — 20jährigen Knaben aus geschrieben. In den Kreis der persischen Philo-
sophie sind hineingezogen che Lehre des Zaroaster, der Manichaeismus, die
islamisch-theologischen Streitigkeiten, das Ismaeütentum usw. also alles
was Weltanschauung bedeutet und zwar mit großem Rechte. Dabei laufen
allerdings die allerschwersten Mißverständnisse unter, die aufzuzählen über-
flüssig ist, da das Buch keinen Anspruch darauf erheben kann, wissenschaftlicli
ernst genomnien zu werden. Da der Verfasser manche noch unbekannte Quellen
heranzieht, bringt er einiges Neue, das aber jedesmal nachzuprüfen sein wird.
Psychologisch ist dieser Essay in gewissem Sinne interessant. Er zeigt, wie
die Psychologie eines Orientalen, die scheinbar eine ,, moderne Bildung" er-
langt hat, in wissenschafthchen Fragen reagiert.
Die ]\Iystik nimmt in der Darstellung einen sehr großen Raum ein, ein
Beweis für die Wichtigkeit, die ihm von persischer Seite beigelegt wird. Die
europäischen Darstellungen von der Gesamtkultm- des Islam müssen diesen
Tatsachen Rechnung tragen. In der Erklärung dieses die orientalische Kultm-
so tief ergreifenden Phaenomens der Mystik unterscheidet Ikbal das tiefer
liegende Wesen von den äußeren Erscheinungs- und DarsieUungsformen.
Die europäische Wissenschaft habe nur auf das Äußere geachtet, wenn sie
vermeint, mit dem Hinweisen auf Neuplatonismus, indische oder altarabische
Gedanken das innere Wesen der persischen Mystik begreifen zu können.
Dieses ist vielmehr in den psychologischen, politischen und sozialen
Verhältnissen der Zeit zu suchen, die zur Weltflucht, Askese und Versenkung
in Gott (dem Wesen der Mystik) hintreiben mußten. Dieselben Gesichtspunkte
werden auch von Prof. Mart. Hartmaim (Berlin) zm- Erklärung der islamischen
Kultm- mit Glück und guten Gründen betont. Ob dieser im Zeitcharakter
liegende Hang zur Weltfluclit und Flucht ins Jenseits nun neuplatonische
oder indische Gewandung anlegt, ist für sein Wesen durchaus gleichgültig.
Der Nachweis dieser äußeren Einflüsse erklärt also fast nichts und wendet
die Aufmerksamkeit auf Nebensächliches. Sicher ist an dieser beachtens-
werten Auffassungsweise, daß ein so tiefUegendes und delikates Problem wie
das religiöse Leben der mystisch Denkenden und Empfindenden nicht als
hineingetragene äußere Kiütureinflüsse restlos verstanden werden kann. —
Sehr im Recht ist Jkbal auch, wenn er der Ansicht entgegentritt, daß mit
Avicenna und Gazali die islamische Philosophie zu Ende gegangen sei. Es
ist leicht verständHch, daß ihm, dem Orientalen, der mit der orientalischen
Gedankenwelt in engerem Kontakt steht, wie ein Em-opäer, die genarmte An-
sicht als etwas Ungeheuerliches erscheint. FäUt doch die philosophische
Bewegung in ihren breiten Strömen erst in die Zeit nach GazaU. — Würde
der Verfasser sich möglichste Beschränkung in allgemeinen Beirrteilungen und
456 Horten,
Überblicken auferlegen vjid seine Tätigkeit auf die Herausgabe einzelner
Quellen konzentrieren, dann könnte er der Wissenschaft sicher noch manche
Dienste leisten. (Ein anderes Urteil s. unten sub Xo. 125.)
Von islamischer Philosophie ist in einer Studie von Dr. S. Horovitz:
Die Psychologie des Aristotelikers ihn Daud (Breslau 1912, Jahresbericht des
jüdisch -theologischen Seminars für das Jahr 1911) viel die Rede. Die Denk-
weise dieser jüdischen Philosophen ist durchaus identisch mit der Avicennas.
Die Ausführungen des Verfassers geben ein klares Bild der psychologischen
Lehren des i. D. Von einzelnen Ungenauigkeiten abgesehen bedeutet diese Ar-
beit einen dankenswerten Beitrag zxrr Geschichte der mittelalterlichen Philo-
sophie, die eine für Christentum, Judentum und Islam in den (Irundzügen
gemeinsame Gedankenwelt darstellt, in der dem Islam zweifellos der
Vorrang zukommt ^).
.Sauter, Constantin: Avicemias Bearbeitung der aristotelischen Meta-
physik. Freiburg, Herder, 1912. S. 114.
Die islamische Philosophie stellt der geschichtUchen Forschung die Auf-
gabe, ihren Werdegang aus dei' griechischen und ihren Übergang zu der latei-
nischen-mittelalterlichen Philosophie aufzuklären. Zu dem letzten Teile
dieser Aufgabe will S. einen Beitrag liefern, indem er zu seiner Schilderung
Avicennas sich ausschließlich auf die den Scholastikern bekannten, latei nischen
Übersetzungen stützt unter Nichtbeachtung der modernen Übersetzung
(Horten: Die Metaphysik Avicennas; Halle 1907) und anderer orientalistischer
Arbeiten. Die bedenklichen Konsequenzen dieser Arbeitsmethode zeigen sich
jedoch fast nm" in den einleitenden Kapiteln (auf fast jeder Seite mußte ich
Fehler notieren), während die philosophischen Ausführungen des zweiten
Teiles, also das Wesentliche, sehr zutreffend sind. Dadm-ch ist der Beweis
geliefert, daß auch Xichtorientalisten bis zu einem gewis.sen Grade an der
Lösung der genannten großen Aufgabe mitzuarbeiten berechtigt sind. Die
wichtigsten philosophischen Lehren sind ja auch in den lateinischen Übei-
setzungen erkennbar und können daher auf Grund cUeser geschichtlich (Trennung
des aristotehschen Kernes von den späteren Weiterbildungen) behandelt
werden. Es muß jedoch betont werden, daß das Bild des lateinischen
Avicenna in manchen Zügen von dem des arabischen verschieden ist. Es
hat den Anschein, daß Avicenna in seiner lateinischen Gestalt kein gläubiger
MusHm war und die Lehre von der doppelten Wahrheit gelehrt habe-). Nichts
^) Die Lehi-en des i. Daud erinnern sogar in ihrem W^ortlaute stark an
Farabi und Avicenna. Neues ist bei i. D. nicht zu verzeichnen. Viele pole-
mische Bemerkimgen des Verfassers hätten fortbleiben müssen. An diesem
Orte ii5t ferner zu nennen: Horovitz, Dr. S., Die Stellung des Aristoteles bei
den Juden des Mittelalters. Ein Vortrag. 18 S. 1911. In: Sclu-iften, herausg.
von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums.
-) Dabei geht es nicht ohne Widersprüche ab. 8. 111 erkermt S. auf Grund
unzweideutiger Texte an, daß (Muhammad) der Prophet eine übernatürliche,
alles menschliche Maß nicht nur graduell, sondern wesentlich überschreitende
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 457
liegt dem arabischen Avicenna ferner als dieses. — flott erscheint unserem
Philosophen (S. 89, 15) nicht nur als der erste Beweger — bei Averroes tritt
dieser Gedanke in den Vordergrund — , sondern als der Verleiher des Seins
(almügid). Auch Averroes hat in seiner lateinischen Gestalt das .Schicksal
erlebt, zum Freidenker gestempelt zu werden, obwohl gerade er mit besonderer
Ängsthchkeit an der Orthodoxie des Islam hängt. Daß Gott die materiellen
Individua nach ihrer ganzen individuellen Wirklichkeit erkennt, lehren beide
sehr deutHch. In einem Punkte scheint mir das frühe Mittelalter eine bessere
Kematnis als das spätere zu haben. Wie bereits de Boer 1894 gefunden hat (Die
Widersprüche der Philosophie S. 63, 101 — 103), ist Averroes Pantheist oder
hat wenigstens solche Tendenzen. In der Zusammenstellung des Averroisnuis
mit den pantheistischen Lehren eines Amalrich und David in der Verurteilung
von 1215 (S. 23 — 25) könnte eine richtige Tradition hierüber liegen.
Den wenigen Orientalisten kann man es nicht sehr zum Vorwurfe machen,
daß sie die philosophische Literatur etwas außer acht gelassen haben. Wohl
aber kann man es den sehr zahlreichen Gelehrten, die sich mit der Geschichte
der mittelalterlichen Philosophie befassen, verargen, daß sie die lateinischen
Übersetzungen der islamischen Philosophen bisher noch nicht in textkritischer
Weise ediert haben. Wemi dadm-ch auch für die Textkritik des arabischen
Originals nichts besonderes Wertvolles erzielt werden sollte, so würde dadurch
doch der Einfluß der Muslime auf das Abendland verständlicher werden. Zu-
gleich müßten die Zitate aus den musHmischen Plülosophen bei den Scho-
lastikern gesammelt und untersucht und vor allem der Einfluß jener auf die
Lehren der christhchen Philosophen klargestellt werden.
Als Ganzes ist die Arbeit Sauters sehr zu begrüßen. Sie bedeutet eine Ein-
führung in die scholastisch-musHmischen Beziehungen im Mittelalter. Die
leider sehr zahlreichen Fehler sind dem gegenüber zu entschuldigen. Sie be-
treffen meistens nur solche Punkte, die sich auf orientalistische Fragen und den
originalen, arabischen Avicenna beziehen. Zu dessen Verständnis ist die Kennt-
nis der islamischen Umwelt erforderhch , die zur Zeit Avicennas eine ganz
erstaunliche, an moderne Verhältnisse erinnernde Höhe erreicht hatte, was
aus der Biographie Guzgänis und seiner Einleitung zm- ,, Genesung der Seele"
hervorgeht. (Vgl. meine Rezensionen desselben Werkes in ZDMG. 66,
175ff. Theol. Litztg. 1913 No, 6 Sp. 17.S. Zeitschr. f. Phil. u. philos.
Kiitik Bd. 152.)
Erkenntnis besessen habe. Dann muß dieser göttlichen Erleuchtung die Philo-
sophie untergeordnet sein, was Avicenna in der Tat lehi't und zwar gerade an
der Stelle, wo S. nach dem Lateinischen einen Rationalismus bei Avicenna
sieht (S. 107 f. Horten: Metaphys. Avic. 633). Als etwas ,, Überwundenes"
(S. 7, 8) erscheint ihm also der Islam nicht. Wenn man die jenseitige Vergeltung
als eine geistige auffaßt, ist man ebensowenig ein Verteidiger der doppelten
Wahrheit (108, 23), als wenn man den koranischen Ausdrücken von ., Augen
Gottes" usw. einen übertragenen Sinn unterlegt.
458
Horten,
Bauer, Dr. Hans: Die Dogmatik al-Ghazalis nach dem zweiten Buche seines
Hauptwerkes; Halle a. S. 1912; 77 8. 8".
Zur Lösung der kulturhistorischen Aufgaben, die der Islam stellt, sind
neben der philologischen Schulung die speziellsten Fachkemitnisse der ein-
zehien Kulturge biete erforderlich. Die Geisterwelt des Gazali 1111 t vereinigt
Theologie, Mystik und Philosophie. Eine ausgezeichnete Vorschule für das
Verständnis seiner Gedankengänge ist die clu-istliche Scholastik, die der Ver-
fasser der vorHegenden treffUchen Arbeit schulmäßig kennen gelernt hat.
Daher ist er in der Lage, die schwierigen Originaltexte zu verstehen und
adäquat wiederzugeben. Er bietet in der genaiuiten Arbeit weiteren Kreisen
eine treffliche Übersetzung eines wichtigen Abschnittes aus dem Hauptwerke
Gazalis: ,,Die Neubelebung der Religionswissenschaften" dar, die er mit er-
läuternden Anmerkungen ausstattet. Die Stellung G.s zu den Philosophen und
liberalen Theologen tritt dadurch deuthch hervor und damit zugleich auch
seine Lebensaufgabe, eine umfassende Darstellung der herrschenden mystischen
und religiösen Ideale des Islam zu geben. Da Gazah, der bekannte Gegnei
Avicemias und Farabis, auch heute noch im islamischen Oriente maßgebend
ist. besitzt diese Arbeit sogar ein aktuelles Interesse. Vgl. meine Bespr.
ZDMG. 1913; 67, 563—65, wo gezeigt wird, das Gh. nicht so selu- Philo-
soph, sondern mehr Mystiker ist. Den Sinn wichtiger philosophischer
Probleme übersieht er vollständig in der Formuherung seiner Gegner, dei
liberalen Theologen.
Taeschner, Franz: Die Psychologie Qazwinis. ' (Kieler Dissertation.)
Tübingen 1912. 67 S.
Kazwini 1283t ist der Phnius des islamischen Orients. In seiner Kosmo-
graphie gewährt er uns einen umfassenden EinbHck in die Geisteskultur seiner
Zeit. Dm-ch die Ai-beiten von Prof. G. Jacob, H. Ethe. Ruska und Ansbacher
wurden wichtige Teile dieses Werkes, das den Titel trägt: „Die Wunder der
Geschöpfe und die Denkmäler (,Spm'en' d. h. Wirkungen der menschlichen
Tätigkeit) der Länder" allgemein zugängUch gemacht. Taeschner verfolgt
diese Aufgabe weiter , indem er in präziser und klarer Weise die psycho-
logischen Abschnitte übersetzt und erläutert. Die Lehre von den Seelenkräften
(vgl. auch H. Ethe: Morgenländische Studien, S. 125ff.: „Die Körper- und
Geisteskräfte nach Kazwini") fußt durchaus auf Farabi und Avicenna, von
denen manches wörtlich entlehnt zu sein scheint. Die Anordnung der achtzehn
Tugenden, die ziemhch .-ystemlos zu sein scheint, verrät keinen griechischen
Zug. Die Art der Behandlung (i:rläuterung dvu-ch Beispiele) ist die sufische,
die in dem Tabakat immer wiederkehrt. Griechisch ist jedoch die Auffassung,
daß die Tugend die goldene Mittelstraße zwischen zwei Lastern bedeute
(o2 Mitte), z. B. die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit. In den
Lehren über die eine Wunderkraft ausübenden Seelen treten platonische
(bedanken deutlich zutage: In der himmlischen Welt (54f.) sind Ai'chetypen
vorhanden, die die Arten der irdischen darstellen. Sie sind also subsistierende
Spezies, d. h. platonische Ideen, die die sublunarischen Dinge dirigieren,
jeder Archetypus die ihm wesensgleiche Art. Durch Emanation aus diesen
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 459
reinen Geistern der Himmel erkemien die reinen, lichtartigen Seelen auf der
Erde die Wesenlieiten der Dinge. Die A'orherbestimmung der Ereignisse
diu-ch die Sternenwelt geht so weit, daß in belanglosen Vorgängen z. B. dem
Zerbrechen eines Glases (65, 6) oder dem Ausschütten von Wasser aus einem
Schlauche (67, llff.) Zukünftiges wie in Indizien enthalten ist — zweifellos
von den himmlischen Wesen mit Absicht hineingelegt. Der Wahrsager
und Hellseher kann aus diesen Anzeichen die Ereignisse also voraussagen.
Die naive Art und Weise, wie die wundersüchtige Psyche des Menschen im
Mittelalter auf die Betrachtung der Natur eingestellt war, findet dadiu^ch
eine lehrreiche Illustration. Zu einzelnen Punkten der Übersetzung möchte
ich folgendes bemerken:
Unter Kainat 9,3 versteht der Araber die dem \^'erden und Vergehen
(dem kaun und fasad vgl. ZDMG. 1911 Bd. 65 S. 539ff.) unterworfenen Dinge,
also alles Vergängliche, Veränderliche, Gewordene im Gegensatz zu den
Geistern, die in instanti diuch Schöpfung entstehen d. h. nicht allmählich
geworden sind und deshalb auch nicht in dem Sinne veränderlich sind wie
die materiellen Dinge. Den Begriff „Existenzen" würde er durch wugudat
ausdi-ücken. — Alle aus Elementen gebildeten Dinge werden mauludat, hier
muwalladat genannt, einschließlich der Metalle. Die wörtliche Übertragung
dieses Terminus mit ,,die Erzeugten" führt also leicht zu unadäquaten Vor-
stellungen, weshalb der im Mittelalter geprägte Terminus: „die Komposita"
zu bevorzugen ist. Hiss (ib. 8ff. „Gefühl") = sinnliche (iimere und äußere)
Wahi'uehmung. Kazwinis Stil charakterisiert sich durch viele Einschachte-
lungen und Schwerfälligkeit. T. hat dieses Kolorit beibehalten wollen. An
vielen Stellen wünscht man jedoch im Interesse des Deutschen eine größere
Zerlegung der Perioden. — „Zerfällt in Abschnitte" (12, 2) = Text; eistreckt
sich auf \-iele Dinge; „Sirmeswahrnehmungen" (12, 1 unt.) = clie bekannten
Sirmesorgane ; „er übertrug ihm die Macht über die geistigen Substanzen"
(13, 6) = Text: ,.ej ü' eitrug den geistigen Substanzen die Macht über dasselbe"
d. h. das Gehirn, so daß der Verstand die Fähigkeiten desselben in seinen
Intentionen beliebig verwenden kann; „Realitäten" (13, 18) = eigentliche,
innerste Wesenheiten; ,,der tierischen Richtung" (14, 1) = freier: den tierischen
Funktionen. Subjekt ist 15,6 wohl alma'lum in dem Sinne: Der Mensch als
Objekt des Selbstbewußtseins, also das ,,Ich" erkennt in allseitiger Weise
aUe erkemibaien Dinge (der Außenwelt), ohne dabei ein Verlangen zu be-
.sitzen, sein eigenes Wesen (seine Innenwelt) zu begreifen. 'Amr (ib. 11 „Macht",
Befehl) bezeichnet die Welt des Logos — • wird wenigstens in diesem Sinne
von den Philosophen verstanden (nach dem syr. mimar) — ,,Wir (16, 14ff.)
haben als Wahrheit gefunden (konstatiert), was unser Herr uns verheißen
hat". Zu dem Gedichte Avicennas über die Seele (18f.) wurden die in ibn
abi Usaibi'a (II 10) und tis'rasä'il (Konstantinopel 1298: Neun Abhandlungen
Aviceimas S. 129f.) vorliegenden Textzeugen wohl deshalb nicht herbei-
gezogen, weil sie nicht Wesentliches beitragen. Interessant ist, daß Avicenna
Vers 17 auf eine Stelle des neuen Testamentes anspielt (I Kor. 2, 9), die von
den Philosophen (z. B. Farabi: Ringsteine Nr. 22, meine Übersetzung S. 19,
22f.) häufig zitiert wird. Über die Geschichte dieses Zitates vgl. Macdonald:
i
460 Horten,
The life of Gazäli lAOS. 1899 Bd. 20 S. 70 A. 2. Die „tief eingewurzelte"
(räsiha) Disposition (22, 2) ist identisch mit dem habitus nach Aristoteles.
„Man kam (22, 4f.: in A. 2 trifft Fleischer das Richtige) dazu (in der De-
flTÜtion der Charaktereigenschaft) die Bestimmung hinzuzufügen, daß sie
tief in der Seele eingewurzelt sein muß, weil jemand z. B. nicht als frei-
gebig (mit dem habitus der Freigebigkeit behaftet) bezeichnet wird, der
nur aus bestimmten Anlässen . . . die Handlung des Gebens ausübt". „Man
(ib. 9ff.) stellte ferner die Bestimmung auf, daß die Handlungen mit Leichtig-
keit erfolgen und zwar nur aus dem Grunde, weil . . . ." ,,Form" (ib. oft
= hai'a) ist identisch mit: dispositio. Die Gegenüberstellung von Offen-
barung und natürlichem Verstände (I 306, If., Übers. 22, 15ff.) erinnert an
die theologischen Diskussionen über die Frage, ob es eine natürUche Sittlich-
keit gebe, auch unabhängig von der Offenbarung. Kazwini entscheidet sich
hier für die liberale Thesis. — Der Mensch kann eine Tugend entweder ab-
solut neu erwerben „oder (23, 3 min nafsihi) an seiner Seele eine Anlage
vorfinden, von der aus er zu einer anderen (Tugend, die dann also nur teil-
weise neu erworben ist) gelangt."
Zu beachten ist, daß der Sufi Gunaid 910t I 307, 9 (Übers. 25, 4 unt.)
schlechtweg als Pfau (Ta'üs) bezeichnet wird (vgl. meine Besprechung von
Frank: Scheich 'Adi in: Theolog. Literaturztg. 1912 Nr. 14 Sp. 418f. und
Nicholson: Kashf al-Mahjub 189, 1). 'Ata' (wohl ibn 'Atä ib. 150, 9) ca. 930t
und Muzahid ca. 933 (vgl. Horten: philosophische Systeme 428, 8) waren die,
Zeitgenossen dieses Tä'üs^), der also nicht Sarräg (abü Nasr ca., 1050) gewesen
sein kami, der ebenfalls diesen Beinamen hatte. — „DeinVater war ein Renner,
dessen Staub nicht gespalten wird (werden kann; 27, 1) — ein Bild, das auch
von Philosophen gebraucht wird, die Unerreichbares geleistet haben sollen
(vgl. Horten: Verzeichnis philos. Termini 370 Mitte). Der Ciedanke ist wohl
der, daß der erste Renner soweit voraus ist, daß der von ihm aufgewirbelte
Staub sich senkt, bevor der folgende Renner dieselbe Stelle der Bahn ei-
reicht hat. Von diesem wird also der aufgewirbelte Staub des ersten nicht
„dm-chschnitten". Daß der erste Renner „den Staub nicht durch seinen eigenen
Körper teilt" (ib. A. 2) wird dem (bedanken des Unerreichbaren, der in diesem
Bilde ausgedrückt sein soll, nicht genügend gerecht. Ad. 30 A. 4. Auch
haffaftu 'äridaija bedeutet: „ich rasierte (wie hafaftu) meine beiden Wangen"
— nach dem stehenden Ausdrucke: hafif al'äridain = mit geschorenen beiden
Wangen. — „Nicht habe ich vor" (31, 18) = Text: „Ich finde („sehe") nicht,
daß die . . ." Ad. 37, 1. „Das Schlechte, was du nicht von mir kennst, über-
wiegt das, was du von mir kennst." Für „ungezählt" (39, 12) lies: „ohne
Rechenschaftsablegung". — „Ich sah (40, 19) kein gutes Werk (an andern),
das ich nicht bekannt machte, und kein schlechtes, das ich nicht (mit dem
Mantel der Nächstenliebe) bedeckte". — Die Wahrhaftigkeit besteht darin,
daß die Zunge (die Rede) mit dem „Gewissen" (der persönlichen Überzeugung,
i) Kazwini nennt (I 57, 9) den Gabriel den „Pfau" der Engel. Ein ge-
heimnisvoller Pfau (ib. I 1(35, 7 unt.) erscheint auf dem Berge Schakrän an
Stelle eines Lichtes auf einem Leuchter.
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 461
— nicht „dem Simie" 41, 10) übereinstimmt. Ad. B16, 9: 'in wa scheint mir
mit: .,wahrUch auch" (ihren Reiter; Übers. 50, 3 u. A. 1) wiederzugeben zu
sein. — „Die Seelen der Wahrsager stehen in Kontakt mit den geistigen »Sub-
stanzen (58, 10)". Statt ,, unterbrochen werden" lies (59, 18): „endigen".
Die mit großem Verständnisse ausgeführte Arbeit Taeschners zeigt, daß
Kazwini ohne ein Zurückgehen auf neue Handschriften nicht ganz übersetzbar
ist und daß die Anmerkungen von Fleischer (handschriftl. Berlin Imp. c.
notis mscr. 421) mit bewundernswerter Treffsicherheit vielfach das Richtige
finden. Die noch nicht übersetzten Teile Kazwinis z. B. Botanik (I 245 — 301)
und Anthropologie (I 322 — 368) usw. müßten nun auch bald eine ebenso
A-orzügliche Bearbeitung wie die vorhegende von Taeschner es ist, erfahren.
Die Keniitnis der islamischen Geisteskultur würde dadurch wesentlich ge-
winnen.
Luciani, J. D. : Les Prolegomenes Theologiques de Senoussi. Texte arabe
et traduction frangaise. Alger 1908. XII und 245 S.
Sanüsi ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr griechisches Denken in die
orthodoxeste Theologie des Islam eingedrungen ist. Als Basis seiner theo-
logischen Auseinandersetzungen dient ihm die Lehre des Aristoteles von den
Urteilen und Begriffen. Er ist sich bewußt, daß ohne diese logische Fundierung
die Aufarbeitung der dogmatischen Gedankenwelt nicht reinlich vollzogen
werden kann. Die imiigste V^erbindung von theologischem und philosophischem
Denken ist ihm also Lebensbedingung der Theologie. Auch sonst ist sein
Denken durchaus von der Philosophie beherrscht. Er sucht z. B. die Prin-
zipien, aus denen sich die Einteilung eines Gebietes a priori deduzieren läßt,
z. B. die der vier Prächkate, die eine Handlung als ethische haben kann (17, 1).
Die Definitionen sucht er in echt scholastisch-scharfsinniger Weise in allen
ihren Teilen klarzustellen und gegen verwandte Gebiete abzugrenzen. Das
formelle Prädizieien ist ihm in Fleisch und Blut übergegangen. In den von
ihm aufgestellten Thesen sind die Termini immer primo et per se zu verstehen .
Dieses sind bereits die wesentlichsten Eigenschaften des griechisch-philo-
sophischen Denkens, die wir in der islamischen Theologie eingebürgert
finden.
Die Tendenz dieser Prolegomena richtet sich gagen die überalen Theologen
(167, 3) z. B. ihre Lehren, es gebe eine natürliche Sitthchkeit, die die mensch-
hche \ernunft auch ohne che Offenbarung erkenne und aufstehe (21), — die
sekundären, geschöpflichen („empirischen") Ursachen wirkten aus eigener
Kraft unabhängig von Gott (111) — und die der Basrenser (169, 3), es gebe
einen göttlichen WiUen (den 'amr = Befehl und Wort, Logos), der außerhalb
Gottes wie eine selbständige Substanz existiere und die Welt bilde (Demiourgos)
— und besonders: Gott besitze keine Eigenschaften in der Form von realen
Inhaerenzien (ma'äni; 169, 5). Man könne von ihm nm- die (rein logischen)
Inhaerenzverhältnisse (sifät, mä'nawija 169, 6f.) aussagen, d. h. die Bestim-
mungen, die sich bei anderen Wesen aus jenen Eigenschaften ergeben in Gott
aber mit der Wesenheit zusammenfallen. Die orthodoxe Thesis, Gottes Wesen
sei das notwendige Sein, richtet sich ebenfalls gegen die mu'tazihtische: die
462
Horten,
innerste und speziellste Bestimmung Gottes sei die Ewigkeit (178, 6). Dabei
ist jene orthodoxe Lehre der Begriffswelt der Philosophen entnommen. Mit
Waffen, die den „Heiden" (den Griechen) entlehnt sind, bekämpft Sanüsi
also die eigenen Glaubensgenossen. — Bakillani wird als ,,der Imam der
wahren Forscher" (101, 5) neben Gazäli, Räzi (Fahraddin) und Guwaini
zitiert, was auf seine große Bedeutung schließen läßt. Auch über Xazzäm,
(iahiz und Tumäma finden sich beachtenswerte Notizen. Die im folgenden
zusammengestellten Bemerkungen betreffen einzelne Punkte der im ganzen
vorzüglichen Übersetzung.
Mit ,,adventicite" (3, 3 unt.) kommt L. dem Begriffe des hudüt d. h.
des zeitlichen Entstehens ('ihdät Erschaffen in der Zeit) näher als seine Vor-
gänger mit: ,,nouveaute". Das auf übernatürlicher Offenbarung beruhende
Urteil auch der theologisch Ungebildeten nermt Sanüsi: hukm sar'i, während
man unter ,,jugement dogmatic[ue" (4 Mitte) ein solches der systematischen
Theologie versteht; demi Dogmati k ist die intellektuelle Durcharbeitung
der geoffenbarten Sätze, die S. mit jenem Ausdrucke nicht bezeichnen will.
— Darüri körmte in rein philosophischen Texten mit „intuitif" (6, 16) gut
wiedergegeben werden. S. überträgt diesen Terminus aber auch auf das Ge-
biet der diu-ch den bloßen Verstand nicht erreichbaren, sondern nur durch die
koranische Offenbarung den Menschen zuteil gewordenen I^ehren. Von einer
Intuition des inneren und notwendigen Zusammenhanges von Subjekt und
Prädikat kann bei diesen Sätzen, die eigentliche Mysterien sind, nicht ge-
sprochen werden. Darüri bedeutet dann also das mit unzweifelhafter Sicher-
heit als zum Bestände der Offenbarung gehörig Erkamite, das sich zu anderen
Sätzen wie ein Prinzip verhält, also eine gewissere äußere Evidenz. Die innere
Evidenz ist das darüri'akli. Ummahät (10, 2 übergangen) bedeutet wohl
(in Zusammenstellung mit 'aba' Eltern) die sozialen Verbände oder die Auto-
ritäten der Gemeinden. Mukallaf = rechtsfähiges Subjekt (dem deshalb Pfhchten
auferlegt werden kömien) wird vielleicht etwas zu unbestimmt mit ,,capable"
wiedergegeben. 'Ibäha d. h. Freistellung einer in sich indifferenten Handlung,
sie zu tun oder zu unterlassen, sie für ethisch indifferent erklären, wird (14,
4 unt.) mit ,,Autorisation" übersetzt. Es zeigt sich an diesen und ähnlichen
Fällen, daß die überaus knappe arabische Terminologie vielfach nicht mit
derselben Kürze nachgeahmt werden kann. Man muß zu Umschreibungen
greifen und das Prinzip der größten Kürze im Interesse der Deuthchkeit und
adäquaten Wiedergabe aufgeben. Wie vortreffUch Luciani in das Verständnis
des Textes und der Termini sonst eingedrungen ist, zeigt die Gleichsetzung
von tard (gesetzmäßiges Verbundensein zweier Tatsachem'eihen im Dasein)
mit „correlation positive" und 'aks (Parallehsmus und innere Verbindung der
Dinge im Nichtsein) mit „correlation negative" (22 ob.). ,Sans que cette
relation (von Ursache und Wirkung; 32, 9) soit necessaire" trifft den Ge-
danken von: ma'a sihhati — ttahalluf (= „dabei ist es möglich, daß die
Wirkung hinter der Ursache zeitlich zurückbleibe" oder : „daß ein Mißverhältnis
zwischen beiden eintrete"). „Relation" (34, 8 unt.) = Verknüpfung nach
Alt innerer Notwendigkeit, „creee" (36, 10 unt.), ga'lij = auf willkürlicher
Setzung {9-iGic) beruhend „contraire" (40, 6 unt.) = contradictoire (wie
Jahresbericht über die Philosophie im Islam. 463
richtig 42, 9 = nakid), „regle imposee" (42 Mitte) = willkürhche Amiahme
(vgl. lAP. 1897 8. 3fil), „canonique" (44, 12 imt.) = auf übernatürlicher
Offenbarung beruhend ((Gegensatz: auf die natürliche Vernunft und die Er-
fahrung sich stützend), „ni impose, ni etabli (44, 9 unt.) = weder willkürlich
aufstellbar, noch herstellbar, impenetrabilite" (47, 1 unt.) ^ Räumhchkeit
(der Körper wie 48, 8), ,,anteriorite eternelle" (48, 1) = die Notwendigkeit
der ewigen Existenz, ,,a posteriori" (48, 11) = auf deduktivem Wege, ,,mystique"
(60, 5 unt.) =: ReaHtät der Tatsachen, l'optimisme logique" (112 Nr. 2) = die
Lehre, daß die natürhche Vernunft (ohne Offenbarung) die sittliche Vortrefflich-
keit einer Handlung erkennen und als Norm aufstellen könne (attahsin al'aklij)
— nach 117,1 unt. von den Brahmanen und (119, 5 unt.) liberalen Theologen
vertreten, la favem' avec laquelle il considere" (124, 12) =^ weil er die unsichere
Vermutung für richtig hält, auf die sich seine »Spekulationen stützen, ,,predo-
minance et superiorite d'une chose sm- une autre" (150, 3) = willkürliche
Amiahme (oder sophistische Argumentationsweise; tahakkum vgl. Horten:
Verzeichnis philos. Termini S. 29(3, 7 unt.) und uf sachloses (leschehen (,, Über-
wiegen der einen Wagschale über die andere ohne ausschlaggebendes Prinzip"),
,, indubitable et forcee" (160, 3) ^ in denknotwendiger Evidenz, „atti'ibuts
des idees" (162, 6 unt.) = diejenigen Eigenschaften Gottes, die reale Inhären-
zien (ma'äni vgl. ZDMG. Bd. 64 S. 391 ff.) darstellen (z. B. das Wissen) —
im Gegensatze zu solchen, die Inhärenzverhältnisse bedeuten (sifät ma'nawija
z.B. das Wissendsein), „independance" (164, 10) = substanzielle Existenz
(Gegensatz: inhärieren in einem Substrate), „correlation" (170, 11) ^ inner-
lich notwendige Abhängigkeit und Unterordnung (nicht reziprokes Verhalten).
,,monde moral" (172, 10 unt.) = die verborgene d.h. göttliche Welt (der
Bestimmungen und Eigenschaften des Wesens Gottes), ,,modes d'action"
(202, 11) = die Beziehungen der Rede auf äußere Objekte (che bezeichnet
werden sollen; ta'allukät); ,,fausse dans sa conversion affirmative" (214, 10)
= falsch (ist eine Definition), wenn sie unkonvertiert verstanden und an-
gewandt wird (weil sie nicht alle Dinge und Teile enthält, che das Definituni
bilden), „fausse dans sa conversion negative" (216, 4) = falsch (ist sie) als
konvertierte, wemi sie mehr Dinge und Teile enthält, als das Definitum er-
fordert. Man kann sie dann nicht umkehi'en.) Die Definition muß alle Teile
enthalten, wie L. 244 treffend entwickelt, also vollständig sein (daim wiid
sie als Gämi' und muttarid, sahih attard bezeichnet) und auch nur diese,
damit sie konvertierbar (mun'akis) ist und „ausschließend" (mäni) — ,,In-
tegi'ite (226, 6) = Treue" (in der Erfüllung der religiösen Pflichten, Gewissen-
haftigkeit; Text 'amäna, nicht saläma). Demgegenüber bedeutet hijäna
Untreue, Gewissenlosigkeit. An die bekannten aristotelischen Gedanken übei
Wahrheit und Falschheit, die sich nm in der Aussage findet (Anfang der
Logik) nicht in anderen sprachlichen Äußerungen, schließen sich die Lehren
über habr (Präcükativ, Aussage) und 'inschä' (nicht prädikative Sprach-
äußerung, vielleicht gut mit ,,Exklaniation" wiederzugeben, Luciani: ,,in-
choation" S. 209 und 241) an.
Die christliche Trinität faßt Sanüsi als Sein, Wissen und Leben Gottes
(77, 7), eine Auffassung, die auch bei christlichen Theologen des islamischen
464 Horten.
Kulturbereichcs z. B. Paulus Bischof von 8idon (XIII. Jahrh. vgl. Philo-
sophisches Jahrbuch 1906 S. 146, 6 und Horten: Systeme lOB A. 1) vertreten
wurde. Die darauf folgende hochmütige Polemik gegen christliche Dogmen
— eine Diskussion Räzis 1210t •"it einem Christen wird geschildert — zeigt
deutlich, wie sehr sich der Islam dem Christentum auch wissenschaftlich
überlegen dünkte. Die Intoleranz Sanüsis tritt vielfach schroff hervor. Für
die Geschichte der islamischen Theologie ließen sich noch manche Einzel-
heiten aus dieser reichen Quelle gewinnen. Das Mu'tazilitentum ist für die Zeit
Sanüsis eine noch aktuelle Größe, die sich wie eine gefahrdrohende Macht
erhebt. Daraus wird man jedoch nicht folgern dürfen, daß in jener Zeit noch
rein mu'tazilitische Systeme in dem alten Sinne bestanden haben. Es handelt
sich wohl nur um Lehren dieser Richtung, die in späteren Systemen mit reich-
licher Beimischung von griechischem Gedankengute fortleben. Luciani be-
.sitzt die genügende Stoffbeherrschung und Energie, um sich von den Fesseln
der arabischen Ausdrucksweise und engherzig iihilologischer Betrachtung
freizumachen und das Inlialtliche in den Vordergrund zu rücken. Auf diese
Weise gelingt es ihm, eine klare und verständnisvelle Übersetzung zu liefern.
Witt mann, Dr. M. : Die Unterscheidung von Wesenheit und Dasein in der
arabischen Philosophie. (Festgabe zum 60. Geburtstag von Cl. Baeumker
S. 34ff.)
Die islamische Philosophie bietet manche Aufschlüsse über scholastische
Ideenbildungen, z. B. in der Lekre von den iiuieren Sinnen. Ein- solcher Auf-
schluß ergibt sich auch für die Lehre über Wesenheit und Dasein. Während
Plato Wesenheit inid Individuum gegenüber stellte, findet sich in der
lateinischen Scholastik ziemlich unvermittelt das Begriffspaar: Wesenheit
und Dasein. Der Übergang zwischen beiden vollzog sich in Farabi (Ring-
steine 1). Er beginnt mit der platonischen Antithesis und ersetzt sodann die
Individualität durch das Dasein, das für ihn zunächst das konkrete, dann
aber auch das allgemeine Dasein ist. Damit ist die scholastische Lehre gegeben
inid zugleich der Boden für die großen Diskussionen im Islam über diese Frage
(wie ein Reales, das Dasein, einem Um-ealen, der Wesenheit, inhärieren
könne). Sie führen mit der Zeit zu einer Identifizierung beider.
Eine andere Form des Gegensatzes zwischen beiden findet sich in den
Systemen der islamischen Theologen. Die Wesenheit existiert als non-ens
in schemenhafter Weise in einer vorwirklichen Welt (Lehre von der Realität
des NichtSeienden vgl. das indische System der Vaisesika), aus der sie durch
Hinzutritt des Daseins in die reale Wirklichkeit tritt. Vielach haftet sie der
Wesenheit nur momentan an (vgl. das System der Sautrantika). Der Verfasser
ist bemüht, diese offenbar indischen Lehren aus der griechischen Philosophie
abzuleiten. Mir scheint, daß dieses Vergewaltigungen von Begriffen sind.
Die nichtSeienden aber doch ,, realen" Wesenheiten sollen die platonischen
Ideen verschmolzen mit dem leeren Räume, dem ,,Nichtseienden" der Ato-
misten sein. So dankenswert also auch die klaren Ausführungen W.s betreffs
des ersten Teiles sind, so weiüg treffen sie das Richtige im zweiten.
(Schluß folgt im nächsten Heft.)
Rezensionen.
Theodor Meyer-Steineg, Ein Tag im Leben des Galen. Mit Titelholz-
schnitt von F. H. Ehnicke. Verlegt bei Eugen Diederichs. Jena
1913. 63 S. 80. 2 Mk.
Der Verfasser stellt aus Galen, Dioskui-idos, Celsus u. a. Dialoge zu-
sammen, die einen Tag in Galenos Leben darstellen. Erstens eine Vivisektion
von erstaunlicher Modernität, dann eine wissenschaftliche Disputation über
den Vorrang der Chirurgie oder inneren Medizin und zuletzt eine Beinoperation,
Die Tendenz ist in allen, die Medizin von bloßer Theorie zu befreien und als
historisch fundierte und empirische \A'issenschaft hinzustellen, also ein
Beitrag zur Geschichte des Denkens überhaupt. Nun hat der Verfasser das
mit einer solchen Fülle lebensvoller Züge auszustatten, so das antike Leben
zu erneuern verstanden, dabei den subtilen Stoff so anschaulich klargelegt,
daß man das Heftchen mit Genuß durchliest und dankbar aus der Hand
legt. Der Verfasser ist ein vorzüglicher Erzähler und ein gelehrter Kenner
des Altertums zugleich. Seine philosophisch -wissenschafthche Tendenz wird
man natürlich billigen. C. Fries.
Wilhelm von Christ, Geschichte der griechischen Literatur; fünfte Auf-
lage, unter Mitwirkung von Otto Stählin bearbeitet von Wilhelm
Schmid; zweiter Teil: die nach klassische Periode der griechischen
Literatur. Mit alphabetischem Register und einem Anhang von 45 Por-
trätdarstellungen, ausgewählt und erläutert von J. Sieveking.
München 1913. C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. Preis II 1:
9 Mk., II 2: 14,50 Mk. 1319 S. 8".
Aus der gedrängten Übersicht, die Wilhelm Christ einst gab, ist somit
ein gewaltiger Doppelband geworden. Der jetzt vorüegende zweite Teil be-
handelt den Zeitraum von 320 v. Chr. bis 530 n. Chr. Zuerst wird die Prosa
der Kaiserzeit mit besonderer Betonung der Philosophie besprochen, dann
folgen die exakten Wissenschaften, die konstantinische Zeit und endlich mit
umfänghcher Genauigkeit die christhche Literatvu-. Den ungehem-en Fleiß
der Verfasser muß jeder bewundern, wenn auch die der ganzen Anlage des
Werkes entsprechende Art eines Handbuchs durch die Mehrheit der Verfasser
nicht günstig beeinflußt wird. Eine klassische, abschheßende Darstellung
des griechischen Schrifttums wird man nicht erwarten, aber das Gebotene
zeigt ein Specimen echt deutscher Gründlichkeit und treuester Akribie. Die
Literatur ist ungemein sorgfältig zusammengetragen und berücksichtigt
worden, wodiu-ch der Eindruck musivischer Arbeit erweckt wird, wenn die
Archiv für Geschichte der Philosophie. XXVIII. 4. 30
466 Rezensionen.
Verarbeitung auch niit großem Geschick vorgenommen worden ist. Da ich
die ersten Bände ausführlicher besprochen habe, kann ich mich hier kürzer
fassen. Griechische Literatur ist ein Thema, das zu tiefster Intuition, zu
schauendem Produzieren anregen sollte, ein kUngendes Mammonbild. Den
Philologen steht es gut an, über Abfassungszeiten, Authentien und Rekon-
struktionen in einzelnen mit der mikrologischen Andacht zum Allerkleinsten
sich auszulassen. In eine höhere Klasse gleichsam gelangt man, wenn die
Literatur nun im ganzen betrachtet werden soll. Das hat mit jenem Klein-
kram nichts zu tun; der Historiker des Ganzen soll all das perzipieren, apperzi-
pieren, aber nur soweit durch diese kleinen Farbentöne dem Kolorit des
Ganzen noch eine entscheidende Schattierung beigefügt werden kann. Ihm
fällt die viel größere Aufgabe zu, die durch philologische Verstandesarbeit
rekonstruierten Gestalten nun mit Fleisch und Blut zu erfüllen, ihnen ge-
schichtliches und menschliches, warmes Leben zu verleihen, sie aus ihrer
Zeit heraus ganz zu verstehen und zu verdolmetschen. Wie ein bewegliches
lebendes Bild muß die Historie am Auge des Schülers vorbeiziehen. So darf
man vorhegendes Werk in all seiner prächtigen Fülle, seinem staunenerregen-
dem Reichtum, seiner stupenden Gelehrsamkeit doch schließUch nur als
Materialsaramlung betrachten, aus der ein großer Baumeister dami einmal
das Kunstwerk errichten wird. Diese Art der Darstellung ist Martha, die
alles Notwendige mit Fleiß erledigt; nun fehlt noch die Maria, die das himm-
lische Teil erwählt und den Bau der wahren Wissenschaft zum Himmel ragen
läßt. Einstweilen aber freuen wir uns des Geleisteten, dem das gesamte Aus-
land an Fülle und Gediegenheit nichts Gleichwertiges an die Seite zu stellen hat.
C. Fries.
Philodemi de ira Über, ed. Carolus Wilke, Lipsiae in aed. B. G. Teubneri.
1914. LIV + 115 p. 8«.
Aus den Lavahaufen von Herkulaneum stieg des Epikvireers Philodemos
Buch gegen den Zorn auf. Der NeapoUtaner Giambattista Casanova rollte
das Volumen 1802 auf und schrieb es ab. 1824 wurde es in Oxford, 1862 in
Neapel neu ediert, beidemal unvollständig. Heut wird das Original unter
Comparettis Auspizien sorgfältig unter Glas und Rahmen verwahrt. Der Her-
ausgeber verbreitet sich über die Handschrift selbst, die Reihenfolge der
Fragmente, die Wiederherstellung der Korruptelen. Ein besonderer Ab-
schnitt ist dem Inhalt gewidmet (p. XIII--XXI). Philodemos' Gegner, auch
seine Gewährsmänner werden behandelt. Vor allem ist zu konstatieren, daß
de ira nur der Unterteil eines größeren Werkes Tvsqi xaxiwv oder mql iq&aiv
xal ßiwv war. Dem folgt das zerstückelte Werk selbst, das, vom Vesuv
mcht verschüttet, nun Gleichmut der Seele, Beherrschung des Zornes und
der Leidenschaften predigt. Habet sua fata! Die Ausgabe verdient wegen
ihrer gewissenhaften, subtilen Genauigkeit alles Lob, vor allem, weil sie den
sonst schwerer zugänglichen Text nun in aller Hände gibt und leichten Genuß
und bequemes Studium vermittelt. Sehr- wertvoll für die Sprachwissenschaft
ist der beigegebene Index vocabulorum (p. 101—115). Den Text begleitet
noch ein ausgiebiger kritischer Apparat. C. Fries.
Rezensionen. 467
Marci Antonini Imperatoris in semet ipsum ibiri XII, recognovit
Henricus Schenkl, editio maior. XL + 267 p. 8". 3,60 Mk. —
Idem, editio minor, X + 168 p. 8". B. G. Teubner. Lipsiae 1913.
2 Mk.
Das Bucli des tiefsinnigen, humanen Imperators, dessen Reiterstandbild
auf dem Kapitol noch jetzt die milden Züge des sinnenden Cäsars überliefert,
wird hier in neuem Gewände vorgelegt. Aurel hebt, wie man wohl schon be-
merkt hat, mit einer ätiologischen Zergliederung seines Wesens an, vom
Vater habe er die Stille des Gemüts und den mämilichen Sinn, von der Mutter
die Gottesfurcht und die Enthaltung vom Bösen, vom Großvater und einer
großen Reihe von anderen Personen diese und jene Eigenschaften über-
nommen, ganz wie Goethe kürzer den Anteil der Eltern an seinem Wesen
zerlegt. Das mag auf Reminiszenz beruhen. Der österreichische Philologe
Heim-ich Schenkl hat das Buch mit ausführlicher praefatio und eingehendem
kritischem Apparat herausgegeben. Er konstatiert im Eingang, Buch 1 und 2
seien in Carnuntum und im Land der Quaden während des Feldzugs ge-
schrieben. „Man fühlt die Quelle", sagt Hippolyte Taine, den Otto Kiefer
vor seinem Mark Aurel zitiert, „Abends bei der Lampe wurden diese Sätze
geschrieben — und alle haben sie eine starke Tat, ein Wort des hohen Herzens
gewirkt. — Kurz, schroff, genau, aufglänzend sind sie immer verhaltener
Begeisterung ersticlrte Schreie ; sie offenbaren die Seele eines großen Dich-
ters" usw. Bis zum Anfang des fünften Jahrhunderts waren die Selbstbe-
trachtungen in aller Händen (p. Y). Dann gerieten sie in Vergessenheit, bis
Arethas, 907 Erzbischof von Cäsarea, ein altes, korruptes Exemplar aus-
findig machte, das er nach Kräften zu rekonstruieren sich bemühte. Dies
scheint nach Ansicht der Editoren das Archetypon der späteren Manuskripte
zu sein. Schenkl zerghedert nun mit großer Gelehrsamkeit den Stammbaum
der erhaltenen Handschriften, von denen ein Vaticanus am besten zu sein
scheint. Die editio minor bringt den Text mit gekürzter Einleitung und ohne
Apparate. Die auf den tiefsinnigen Cäsar verwandte Mühe ist sehr dankens-
wert, und die Teubnersche Offizin, die erst vor elf Jahren den Text in Joh.
Stichs Ausgabe bot, erwirbt sich durch die Edition aus so bewährter Feder
ein Verdienst. C Fries.
Friedrich Nietzsche, Philologica, Band III, Unveröffenthchtes zm- an-
tiken Religion und Philosophie. Herausgegeben von Otto Crusius
und Wilhelm Nestle. Alfred Kröner Verlag in Leipzig 1913.
(Werke Bd. XIX. 462 S. S». 10 Mk.
Der erste Band der Philologica Nietzsches enthielt Theognidea, Laertes
Diogenes, Rezensionen u. a., der zweite hauptsächhch griechische Literatur-
geschichte, Rhetorik und Rhythmik, der jetzt vorliegende dritte Band ist
dem eigentlichen Fachgebiet des großen Einsiedlers, der Philosophie des
Altertums gewidmet. In dem ersten großen, dem Gottesdienst der Griechen
gewidmeten Aufsatz überrascht die Intuition, mit der die Ursprünge des
Hellenentums konstruiert werden. Er nimmt eine semitische Schicht vor
der hellenischen an. „Der Gestirndienst, die Verehrung der Planeten — und
30*
468 Rezensionen.
die daran geknüpfte Astrologie gehörte zur semitischen Urreligion; er wurde
am besten in Babylon und AssjTien entwickelt; die Benennung der Wochen-
tage nach den 7 Planeten und die siebentägige Woche ist rein semitisch.
Dieser Dienst ist den Griechen vollständig fremd, die Lehre von den 7 Planeten
bringt erst Pythagoras mit; sie haben nicht die siebentägige Woche, noch
ihre Beziehung zm Sonne und den Planeten. (17.) Es folgt eine Aufzählung
des Vorkommens der Siebenzahl bei den Griechen auf Grund phönizischer
Überlieferung (S. 17 f.). An die vortreffUchen Forschungen von Ernst
Siecke gemahnt es, wenn er schon „die drei Töchter des Prötos längst als
Siimbilder der Mondphasen erkannt" nennt (ibid) „Auf dem Schild des Tydeus,
der am Prötidentor fiel, war der klare Vollmond in der Mitte des Sternen-
himmels abgebildet," (ibid) „Der Eingang zu den semitischen Tempeln war
wie der zu den hellenischen der olympischen Götter regelmäßig nach Osten
gerichtet: dennoch war das Mondtor von Theben das Haupttor, welches sich
an der Ostseite befand. Europa, die phönizische Mondgöttin, machte hier-
durch ihren Einzug in die Stadt. — Der erste Tag der Woclie ist dem Monde,
der letzte der Somie geweiht." (S. 19.) Vgl. Siecke, Hermes der Mondgott,
derselbe: Götterattribute u. a., wo diese Lehre auf wissenschaftlicher Basis
begründet wird. Man wird solche Anregungen mit Genugtuung schon bei
Nietzsche finden, Avie denn auch die Lektiu-e der übrigen Aufsätze, über die
platonischen Dialoge, die dtuSoxat der Philosophen, Democritea für
seine Auffassungsweise des Altertums leluTeich sind. Von dem Fleiß der
Herausgeber zeugen ein Anhang (S. 383), ein Nachwort (41G), ein Verzeichnis
der handschriftlichen Philologica Nietzsches (S. 419) und ein Namen- und
Sachi-egister (423—462). Der Verlag hat sich durch die Herausgabe dieser
Nachlaßschriften, die manches neue Licht auf des großen Denkers geistige
Entwicklung werfen, ein wahres Verdienst erworben. C. Fries.
Hans Volkelt, Über Vorstellungen der Tiere. Arbeiten zur Entwicklungs-
psychologie, hgg. V. Krüger. Leipzig 1914. Wilh. Engelmann.
126 S. 4 Mk.
Das Hauptproblem, das V. sich stellt, ist: Wie erscheinen dem Tiere
die Dinge seiner Umgebung? Die allgemeine Voraussetzung, die V. macht,
besagt, daß den Tieren jedenfalls Bewußtsein zukommt, welches in dieser
Arbeit bloß auf seine Vorstellungsseite untersucht werden soll. Die Unter-
suchung beginnt mit der Unterscheidung von angepaßten und unangepaßten
Handlungsbildern. Diese Zweiteilung betrifft die Beziehung von Umgebung
des Tieres und Reaktion auf diese Umgebung. Um zu erkennen, wie das Tier
seine Umgebung erfaßt, ist es notwendig, zu wissen: 1. wie sich die Tiere in
andern Situationen zu verhalten pflegten; 2. ob die Dinge für das Tier noch
jetzt den gleichen Wert haben. Es kommt nun vor, daß das Tier, wider seine
Gewohnheit und wider sein Interesse, eine Reaktion nicht ausführt. Daraus
müssen wir schließen, daß das Tier den sonstigen Reaktionserreger nicht er-
kannt hat. Das eine Mal ist das Tier den Verhältnissen angepaßt, das andere
Mal nicht. Angepaßt ist so die Fang- und Aussaugebewegung der
Spinne, wenn eine Fliege im Fangnetz sitzt. Sitzt hingegen eine
Rezensionen. 469
Fliege im Röhrennetz der Spinne selbst, also in dem Räume, in
welchem diese wohnt, so tritt die Merkwürdigkeit ein, daß sich die
Spinne vor der Mücke zurückzieht. Wie ist diese, wie sind ähnliche Tat-
sachen zu erklären. Dies ist nach V. nur dadurch zu erklären, daß die Tiere
nicht dinghafte Konstanten in ihrem Bewußtsein haben, sondern daß sie
Komplexqualitäten (der Begriff nach Fei. Krüger definiert) enthalten, die
insbesondere zwei Eigenschaften aufweisen: 1. sie sind struktvu^los in bezug
auf innere Gliederung; 2. sie sind diffus in bezug auf äußere Abgegrenztheit.
So wird der Komplex Fliege und Fangnetz etwas wesentlich ganz anderes
bedeuten als der Komplex Fliege und Röhremietz. Auf das erste wird reagiert,
auf das zweite nicht. — Diese Erklärung des Verfassers ist wahrscheinlich,
immerhin aber nicht zwingend. Denn bei solchen Reaktionen handelt es sich
um motorisch sukzessive Prozesse, die bei Tieren von geringer Intelligenz durch
gewisse Umstände ausgelöst werden. Nm* unter einer Bedingung ist die Er-
klärung V.s unangreifbar, wenn nämlich die Formel gilt: Erkennen := Reagie-
ren. Sonst aber könnte man sich ganz gut vorstellen, daß die Spinne instinkt-
mäßig eine positive Reaktionsbereitschaft bloß in sich hat, wenn das zappelnde
Ding gerade im Fangnetz und nirgends anders sitzt. In dem Tiere ist ja nicht
die Erkenntnis vorhanden: „Aha, da ist was zum Fressen, also drauf los!"
sondern bloße Reaktionsbereitschaften, die ererbt sind und die vielleicht
mit irgendwelchen Formen der Anschauung gar nichts zu tun haben. Das
Tier ist vielleicht nm- gewöhnt, entweder eine bestimmte Abfolge von
Reaktionen durchzuführen oder gar nicht zu reagieren. Wenn die Fliege
in der Wohnung der Spimie sitzt, so kann zweifellos die ererbte Reaktionen-
kette nicht in ihrer sonstigen Vollständigkeit ablaufen: sie bleibt ganz aus.
Es kann also die Unzweckmäßigkeit sowohl in der mangelnden Dingvor-
stellung als auch in der mangelnden Möglichkeit, ererbte Reaktionsketten
in ihre Einzelgbeder aufzulösen, liegen. — Darum wird es gut sein, dieses
Problem weiterhin insbesondere empirisch zu untersuchen und auf solche
Palle auszudehnen, wo man — wie eben nur bei höheren Tieren — eine Auf-
lösung der Reaktions ketten und Variation der Elemente derselben wird nach-
weisen können. Denn auch der merkwürdige Gegensatz zwischen hoher und
geringer Angepaßtheit in einem und demselben Individuum läßt sich sowohl
durch die Eigenart der Komplexqualitäten, als auch durch die Starrheit der
Abfolge von Reaktionen erklären. Auf jeden Fall ist das Werkchen durch
seine Pioblemstellung von dankenswerter Anregung.
Heinz Werner-Wien.
Ottmar Dittrich, Die Probleme der Sprachpsychologie. Leipzig 1913.
Quelle u. Meyer. 148 S.
Die Darlegungen, die Dittrich als Programm angesehen wissen will,
gliedern sich in eine Dreiheit von Problemen. Diese Dreiheit ist dadurch in
allgemeiner Hinsicht ermöglicht, daß die Sprachpsychologie aufgefaßt wird
als Grenzwissenschaft, welche einerseits zusammenstößt mit der Sprachwissen-
schaft, anderseits mit der Psychologie und iluen Hilfswissenschaften. Die
Sprache ist nun nicht bloß eine Ausdrucksleistung, sondern auch eine Ein-
470 Rezensionen.
drucksleistung. Mitteilsamkeit ist ein wesentliches Merkmal aller
Sprachen. Damit würde die Sprachpsychologie zu einem Teile der Völker-
psychologie geworden sein, wenn solcher Auffassung nicht das Bedenken
entgegenstände, daß dadurch bloß die Masse als sprachbildender Faktor
berücksichtigt würde: es ist aber ebenso zweifellos, daß schon ein Verband
zweier Individuen zu einer auf Spraclischö]ifung hinzielenden Verständigung
gelangen kann. Diese Zweiheit, die logisch und psychologisch den elemen-
tarsten Ansatz zur Sprachentwicklung in sich birgt, bedingt auch die wich-
tigste Problematik der Sprachpsychologie, welche von D. als phylonto-
genetische Problematik bezeichnet wird. Sie knüpft nämlich einerseits
an die Wirksamkeit des Einzelindividuums an, anderseits aber bedeutet sie
schon den Keim der Wechselwirkung von größeren Massen, die zweifellos
für das Werden der Sprache von Einfluß ist. So bildet sich also eine Dreiheit
von Problemen heraus: die phylontogenetischen, die ontogenetischen und
die phylogenetischen Probleme. Das phylontogenetische Problem, und hier
insbesondere das der Bedeutung, ist das primäre; von hier muß alle Sprach-
psychologie ihren Ausgang nehmen. Indem D. die H. Gomperzsche Unter-
scheidung zwischen objektivem und subjektivem Gedanken aimektiert, findet
er das Wesen des Bedeutungsbegriffes in der Richtung von der subjektiven
zur objektiven Seite des Gedankens. Mit Gomperz unterscheidet D. die Aus-
sage nach dreierlei Hinsicht: nach Lautung, Inhalt, Tatsachengrundlage.
Die Relation zwischen Inhalt und Lautung neimt er Ausdruck; die Relation
zwischen Inhalt und Tatsächlichem: Auffassung. Dann ist die Relation
zwischen Ausdruck und Auffassung die Bedeutung. Die Problemstellung
hat also zu beachten, daß die Bedeutung zwar eine eindeutige, aber kom-
plexe Relation ist. Sie geht von der Aussage (Ausdruck) zum ausgesagten
Sachinhalt (Auffassung). Die ontogene tische Problematik nimmt insbesondere
Stellung zum Verhältnisse zwischen Wort und Satz (Psychologie der Syntax)
und zur Wortbildung. D. beginnt hier mit Gebilden, die durch eine Frage,
z. B. : „Hat er es getan ?" und ihre Antwort: ,, Ja" — entstehen. Diese scheinen
in der Antwort eine Mitwirkung des Fragestellers unbedingt einzuschließen.
Damit führt die Analyse in das Problem des eingüedrigen Satzes ein. Nach
der pathempirischen Anschauungsweise von H. Gomperz ist die Aussage-
grundlage in einer individuellen Totalimpression primär gegeben: es ist die
AUgenieinvorstellung des „er" als Täter. Diese ganz vage Form verfolgt die
bestimmte Richtung zum Sachverhalt hin, der hier in Form einer Frage dar-
gestellt erscheint, die unter Umständen die Antwort einschließen kami. Die
Bedeutungsrelation wird nun ihrerseits wieder Ausgangspunkt einer doppelten
Relation: einerseits verbinden sich Inhalt und Aussage zur Bedeutung
der Aussage, anderseits wird die Aussage durch Zuordnung der Lautung
zu einer eindeutigen. Die sprachlichen Gebilde erscheinen dadurch als
Gebilde, welche einerseits eine Bedeutungsseite, anderseits eine Lau-
tungsseite erkeimen lassen. Daraus ergibt sich also eine doppelte Glie-
derung des Lautgebildes „Satz" genamit. 1. In bezug auf die Bedeutung
ergibt sich eine Längsgliederung in zwei Teile: in ein Generalsubjekt und ein
Generalprädikat. Generalsubjekt ist die relative Konstante innerhalb einer
Rezensionen. 471
variablen Stellungnahme des Subjektes, während man die variable Stellung-
nahme als Prädikat bezeichnen kann. So ist also Generalsubjekt: „er als
Täter dessen"; Generalprädikat ist der Fragczweifel und die Auskunfts-
forderung. Daraus ergeben sich dann das Spezialsubjekt bzw. Spezialprädikat.
2. In bezug auf Lautung ergibt sich einmal eine Längsgliederung der Laut-
kette in Blöcke. Ferner aber ergibt sich eine Quergliederung in Satzbasis
und Satzmodulation. Satzbasis ist der lautliche Stoff, Modulation die Meloska-
denz (Frage, Gewißheit), in der sich die Basis ausdrückt. Diese Grundauf-
stellungen bahnen eine Problematik sowohl der Syntax als auch der Wort-
bildung an, deren Besprechung in diesem Referat zuweit führen würde.
Schließlich werden die philogenetischen Probleme in dem Kreise der
sprachpsychologischen Problematik zm- Lösung gelangen müssen. Hier nimmt
D. einen Standpunkt ein, der zu den heute in Betracht kommenden An-
schauungen, insbesondere der H. Pauls in seinen „Prinzipien der Sprach-
geschichte", in prinzipieller Opposition steht. Während Paul immer nur die
Veränderung, die Umgestaltung des Sprachusus in den Kreis seiner Erörterung
stellt, verlangt D. in psj-chologisch-konsequenter Weise die Lösung des philo-
genetischen Problems der Entstehung dieses Usus selbst. Es ist insbesondere
das Verdienst der vorliegenden Schrift, daß sie zeigt, wie wenig noch trotz
Steinthal, Wundt und Paul die Frage der Genesis des Sprachgebrauches:
Wortbildung und Festhaltung der Wortbedeutung einerseits, Wortbedeutungs-
wandel anderseits in ihrer vollen Tragweite verstanden worden ist. Die Um-
arbeitung der Sprachpsychologie im Sinne der Darwinschen Selektionslehre.
wie sie vorzügüch von Paul vertreten wird, muß notwendigerweise hier
wie überall, wo die reine Selektionslehre angewendet wird, zu einer mechani-
sierenden Sterilität führen. Die Sprache ist ein organisches Gebilde, lebendig,
wie niu- irgend eines, dessen Wm-zel bloß im Triebleben des Einzelnen und der
Masse aufgefunden werden kami — und niu: eine teleologische Orientierung
der Sprachpsychologie wird es ermöglichen, einer wissenschaftUchen Disziplin
den Geist wieder einzuflößen, den man ihr mit allen Mitteln der künstlichen
Mechanisierung der lebendigen Xatm- ausgetrieben hat. Wollen wir hoffen,
daß dieses Werk dazu beitragen wird, die weitere Entlebendigung dieser
Wissenschaft aufzuhalten! Heinz Werner- Wien.
In seinen Studien zur Theorie pädagogischer Grundbegriffe
(W, Speemann, Stuttgart 1913) entwickelt Prof. Dr. Richard Hönigswald,
der, ein Anhänger von E. Riehl, dem Neukantinismus nahesteht, in schritt-
weiser Auseinandersetzung, (deren sprachüches Gewand auch „durch schwierige
Konstruktionen und orakelhafte Kürze" von heraklitischer Dunkelheit mcht
immer frei ist), verschiedene Begriffe und beschäftigt sich am längsten mit
dem der Anschauung.
Nachdem der Verfasser gezeigt, daß der landläufige Sprachgebrauch
manche falsche Vorstellungen auslöst, bietet er seine eigene Darlegung (S. 67):
„Anschauungen sind, kurz gesagt, .Bedeutungen'; Bedeutungen freilich von
spezifischer Geltungsbeschaffenheit und Struktur. Stets handelt es sich, so
kann man auch sagen, um Relationen eigentümUcher Ait, deren spezifischer
4 ( 1 Rezensionen.
Geltlingswert sich in , Bewußtheiten' darstellt, die seihst wieder nur an sinnlich-
,anschauUchen' Elementen zur Ausprägung gelangen können." In diesem Satz
spricht Dr. H. aber nicht nur seine Ansicht über das Wort „Anschauung" aus,
sondern läßt auch seine Stellung zu manchen in der Philosophie herkömm-
lichen Ausdrücken ahnen. Die Rücksicht auf den Umfang, welche auch an
2Ü Stellen der 111 Seiten unumwunden als Ursache angegeben wird, warum
einzelne Punkte nur angedeutet werden, bewirkt nämlich auch, daß nur in
gelegentlich eingestreuter Ablehnung von „Schlagwörtern" (S. 38 und 85)
und insbesondere durch häufigen Gebrauch von Anführungszeichen die Fach-
sprache kritisiert wird. Wiewohl jene zunächst nicht nur das lediglich sirm-
fällige Lesen, sondern auch das Verständnis mitunter erschweren, so erspart
doch dieses Vorgehen langatmige Ausführungen über den Sinn, den der Ver-
fasser mit einzelnen Worten verbindet. Auch erhält die Lektüre durch diesen
Umstand einen anregenden Reiz, da der Leser prüfen muß, ob die Anführungs-
zeichen ,,die betr. Ausdrücke für unzm-eichend definiert" oder ,,in einem von
dem gangbaren verschiedenen Sinn gebraucht" bezeichnen sollen. Jeder
grundsätzliche Gegner von mehr oder minder willkürlich geprägten Be-
nennungen — um das Fremdwort Terminologie zu vermeiden — ^, wird seine helle
Freude an dieser feinsinnigen Art haben sich mit der Zunftsprache — wie einer
meiner philosophischen Hochschullehrer scherzend zu sagen pflegt — , ausein-
anderzusetzen. Vielleicht wünschen auch nicht nur Anhänger des deutschen
Sprachvereins, daß der Verfasser noch weiter möchte gegangen sein und ins-
besondere manches Fremdwort ersetzt haben, selbst auf die Gefahr hin, daß
die Kürze gelitten hätte.
Da Dr. H., wie anfangs angedeutet, vor allem den praktischen Schul-
männern etliche „Begriffe an sich" klarlegen will, gewissermaßen als Maßstab,
ob wir sie in ihrer ganzen Tiefe ausschöpfen, so sei es gestattet, einiges heraus-
zugreifen, was dem Lehrer, welcher Jägerschen Lehrkunst huldigt, wichtig
sein dürfte. Zweifellos muß jeder Schulmann von Zeit zu Zeit sozusagen los-
gelöst von allen den BUck beengenden Tatsächlichkeiten des Alltags über die
letzten Ursachen und Ziele seines Bildens und Erziehens sich Rechenschaft
ablegen, sowohl der schon länger im Amt stehende, der im ermüdenden Klein-
kram des Unterrichtsgetriebes für das Weiterarbeiten auf dem Gebiete der
philosophischen Pädagogik — ■ man könnte auch sagen pädagogischen Philo-
sophie — leider nur schwer Zeit oder richtiger Ruhe findet, als auch der frisch
von der Hochschule kommende Lehrer; denn weil letzterer rücht selten ge-
neigt ist die für das Staatsexamen erarbeiteten philosophischen Grund-
begriffe, insbesondere aus der Werkstätte Herbarts, dessen „Interessenorgel"
schon viel Unheil angerichtet hat, zu überschätzen, so vergißt er mitunter
die Beziehung der als Student sich angeeigneten Kemitnisse zur Berufstätig-
keit. Wenn allerdings die Angehörigen beider Gruppen glauben, daß die in Frage
stehenden Studien von Dr. H. zum bequemen Genießen vorgeschnittene Speisen
bieten, so irren sie sich: H.s Arbeit erfordert gediegene allgemeine
philosophische Bildung und vor allem Beherrschen der philosophischen
Kunstausdrücke. Sind aber diese beiden Bedingungen gegeben, so kann
man sich in die feinsimiige Untersuchung, die tatsächlich Grundsteine alles
Rezensionen. 473
Unterrichtens und noch mehr alles Erziehens bietet, mit größtem Gewinn
versenken: z. B. auch in die Ausfülirungen über Fragen, wemi auch zu-
nächst mehr an Hochschulbedürfnisse gedacht wird (Kap. 8 § 6f.). Diese Ge-
dankem-eihe gipfelt in dem Satz, daß ,,in derWissenschaft wie in der Pädagogik
des Fragens kein Ende sei" (>S. 103); denn „die höchste Form des Lehi-ens
besteht in der Anregung zum Mitforschen"(S. 85) und „das Ziel aller Päda-
gogik im Siime einer Technik der systematischen Wissensüberheferung ist
die planmäßige Erzeugung einlieitlicher Bedeutungsbewußtheiten, wie sie
der sj\stematischen Einheit der Geltungszusammenhänge der Wissenschaft
entsprechen" (S. 76). Die ganze Schwere, ich darf wohl sagen Tragik des
Lehrberufes für denjenigen, der sich nicht mit stumpfsinnigem Übertragen
von Einzelkenntnissen begnügt, khngt auch in den nachstehenden Worten
wieder: ,,Der Anschauungsunterricht muß die schwierige Arbeit leisten,
die repräsentative Funktion der Anschauungsrelation nach Maßgabe der
Geltungsbedingungen des vorliegenden Falles in einer der individuellen Re-
aktionsnorm des Schülers angemessenen Weise zrun Ausdruck zu bringen"
(S. 73); vgl. auch S. 64: „seinen Blick auf Gang und Struktur der Forschung
gerichtet, sucht er (der Pädagoge) die individuellen Reaktionstypen seiner
Schüler den Fordermigen nutzbar zu machen, die der Begriff der Wissensüber-
lieferung an seine Tätigkeit stellt".
Da ich mir wie der Herr Verfasser der besprochenen Studien Raum-
beschränkung auferlegen muß, möchte ich zum Schlüsse nur nochmals betonen:
\V^enn ich auch trotz aller hohen Verehrung für Prof. Dr. H. nicht alle kri-
tischen Gedanken unterdi'ücken zu dürfen glaubte, so kann ich doch allen
Männern und Frauen, die Beruf oder persönliche Neigung mit Erziehung und
Unterrichtsfragen sich beschäftigen heißt, das Buch warm empfehlen, be-
sonders da es zum selbständigen Weiterforschen durch zahkeiche ein-
gestreute Problemaufstellungen anregt und von wahrhaft humanistischem
Geiste durchweht ist; denn es wendet sich in seinem ganzen Tone gegen jene
— natürlich nicht namentlich — genannten Zugeständnisse mancher Unter-
richtsverwaltungen an das große PubUkum, daß nämlich die Schule mögUchst
nur solche Kenntnisse, welche beim Lebensberufe sofort in Geld umzusetzen
sind, vermittele statt in erster Linie den Geist zu entwickeln, wemi anders
er vorhanden ist. Dr. Jegel.
Marta und Adolf Wedel, Das höhere Leben. Oswald Mutze, Leipzig 1913.
150 S.
Man tut den Systemen, die sich als Theosophie, Okkultismus usw. be-
zeichnen und ich in unheimlicher Weise vermehren, zu viel Ehre an, wenn man
sie, wie es auch von manchen berufenen Beurteilern geschieht, als moderne
Mystik ernst nimmt. Gut die Hälfte alles dessen, was auf diesem Gebiete
produziert wird, ist das Resultat bewußter betrügerischer Spekulation auf
Leichtgläubigkeit und weil verbreitete Instinkte, während der größte Teil
des Restes lebhaft an die Symptome gewisser Geisteskrankheiten erinnert.
Zu diesem Restteil gehört offenbar das vorliegende Buch, indem man z. B.
folgendes lesen kann: „Dem Pole der Materie am nächsten ist die Schwingungs-
474 Rezensionen.
geschwindigkeit die geringste und am Pole des Geistes am höchsten, demgemäß
muß die Lebenskraft und die Materie am unteren Pole am trägsten und am
dichtesten sein, während die Regionen des Geistes eine geistige Lebenskraft
und eine ätherische Materie als das Produkt derselben vorzeigen muß."
(S. 85.) Dr. Viktor Stern.
Dr. Hans Eibl, Metaphysik und (beschichte. Eine Untersuchung zur
Entwicklung der Geschichtsphilosophie. Erster Band. Hugo Heller,
Leipzig und Wien 1913. 258 S. Mk. 5.
Die vorliegende Arbeit beweist, daß ihr Verfasser mit großem Fleiß und
viel Verständnis die in Betracht kommende Literatiu* studiert hat. Da der
Autor überdies einen klaren Stil schreibt, mit viel Geschick wesentliches
hervorzuheben und in die Fülle des dargestellten eine übersichtliche Ordnung
zu bringen versteht, bleibt sein Werk wertvoll genug, so sehr an der Auswahl
des Stoffes imd an der Durchführung der vorschwebenden Grundideen vieles
zu bemängeln ist. Der Autor hat zwar nicht ganz Unrecht, wenn er glaubt, daß
bezüglich der Festsetzung des heranzuziehenden Materials jeder einer anderen
Meinung sein werde, daß diese darum der individuellen Auffassung überlassen
bleiben müsse. Aber eine gewisse Grenze war doch durch die Natur der selbst-
gestellten Aufgabe objektiv vorgezeichnet, und selbst diese Grenze wurde
ganz und gar nicht eingehalten. Der Autor hatte sich selbst zur Aufgabe ge-
macht, unter Benützung bereits vorliegender Forschungsresultate ohne An-
spruch auf neu gefundene Ergebnisse zu zeigen, ,,in welcher Weise innerhalb
bestimmter räumlicher und zeitlicher Grenzen der menschlichen Denk-
geschichte metaphysische Begriffe die Auffassung des historischen Prozesses
beeinflußt haben, und dadm'ch einen Beitrag zur Genesis der Geschichts-
philosophie (zu) liefern". Damit war ein lohnendes Ziel klar aufgezeigt. Aber
der Autor hält keinen streng begrenzten Begriff von Metaphysik fest. Daß
religiöse Vorstellungen ohne weiteres dem Begriff Metaphysik untergeordnet
erscheinen, mag noch hingehen, aber auch der Einfluß ganz allgemeiner philo-
sophischer Ideen, die nichts mit Metaphysik zu tun haben, ja an zahlreichen
Stellen sogar solcher Gedanken, die nicht einmal mehr philosophisch genannt
werden können, wird mit in den Kreis der Betrachtungen gezogen.
Ein weit verhängnisvollerer Fehler scheint es mir zu sein, daß die Ent-
wicklung religiöser und philosophischer Anschauungen viel zu ausführlich dar-
gestellt und erläutert wird; das war nicht nötig, um den Einfluß jener Vor-
stellungen auf die Geschichtsauffassung klarzulegen und in seiner Entwicklung
zu beschreiben. Man kann nicht zwei Herren zugleich dienen und wer die Ent-
wicklung der ( Geschieh tsphilosophie darstellen will, muß eben die Geschichte
der Religion und Philosophie selbst bis zu einem gewissen tkade voraussetzen.
Wohl sind die vielen Partien, die aus diesem Grunde meiner Ansicht nach nicht
in das Werk hineingehören, gut und klug geschrieben, aber sie verhindern
ein bedeutsameres Hervortreten dessen, worauf es doch eigentlich ankam, und
stören vor allem das einheitliche Bild einer großen, kontinuierlichen Ent-
wicklmig der Geschichtsphilosophie selbst.
Zwei Bände sollen diese Entwicklung schildern, die nach Ansicht des
Rezensionen. 475
Autors durch Augustinus einen vereinheitlichenden Abschluß findet. Der
erste vorliegende Band behandelt die ägyptische, babylonische und jüdische
Theologie, ferner die griechische und römische Philosophie und (Geschichts-
schreibung. Der Perser werden ganz ohne Grund nicht berücksichtigt, während
bei den Indern eventuell geltend gemacht werden könnte, daß ihr Einfluß
auf die geschilderte Entwicklung in Frage stehe. Der zweite Band soll Philon,
das Evangelium, die christliche Theologie, Neuplatonismus und Gnosis be-
handeln. Ein abschließendes Urteil auch über den ersten Band wird erst
nach Erscheinen des zweiten möglich sein. Der Autor selbst sagt, daß sich
die beiden Abhandlungen (gemeint sind wohl die darin dargestellten Perioden)
im großen Stil wie Problemstellung und Antwort verhalten. Erst die Kenntnis
jenes zweiten Bandes wird lehren, ob es dem Autor wirklich gelungen ist, zu
„zeigen, wie die psychologischen Bedingungen einer historischen Denkweise
sich allmählich durchsetzen". Soweit sich schon jetzt darüber urteilen läßt,
will mir freilich scheinen, daß sehr oft niu* die aufeinanderfolgenden Theorien ein-
fach aneinander gereiht und festgestellt werden, ohne daß che Notwendigkeit
des Überganges erkarmt und herausgearbeitet wurde. Auch dürfte der Autor
auf falschem Wege sein, wenn er so absolut das Geschichtsbild des Augustinus
für wertvoller hält als aUe antiken.
Anzuerkennen ist die übersichtliche Gliederung der betrachteten geschichts-
philosophischen Probleme. Dr. Viktor »Stern.
Otto R. Hübner, Aszendismus. Der Glaube an den Lebensaufstieg. Eine
neue Welt- und Lebensbetrachtung. Fritz Eckardt, Verlag. Leipzig
1912. 114 S. Mk. 1,50.
Wieder eimnal: „die lang ersehnte neue Weltreligion", ,,die berufen er-
scheint, der kämpfenden Menschheit ein hochragendes Banner zu sein auf
ihrem Siegeszuge durch das Weltall im kommenden Jahrtausend", in Wahrheit
eine klägliche Gedankenarmut, durch den pathetischen Wort- und Phrasen-
schwall, der sie verdecken soll, nm- um so unerquicklicher gemacht. Einige
wenige Einfälle, zurii Teil rechter Unsinn, werden unermücUich wiederholt
und in maßloser Überschätzung als letzte und tiefste Weisheit angepriesen.
Dr. Viktor Stern.
Max Adler, Wegweiser. Studien zur Geistesgeschichte des Soziahsmus.
J. H. W. Diez Nf. Stuttgart 1914. Mk. 2,50.
Studien eines strengen Marxisten und gleichzeitigen Neukritizisten.
Adler steuert in seinem neuen Buch den gleichen Kurs wie in seinen „Marxisti-
schen Problemen". In einer Reihe von Einzelabhandlungen, die sich vor allem
an die klassisch -deutsche Philosophie und ihre Ausläufer anlehnen, spürt er
sozialistischen Gedanken und Tendenzen nach, um zu zeigen, daß der Ideen-
gehalt dieser Philosophie zu Marx als seinem Vollender führt; also Bloß-
legung rein geistesgeschichtlicher Wurzeln, nicht historische Untersuchungen
aus der Zeit heraus. Und der Sozialismus erweist sich dabei für Adler ,,als
eine Wegbereitung für immer höhere Ziele der Menschheit". Der Gesamt -
Inhalt, von dieser Zielrichtung beherrscht, ist denn im Wesentlichen von
psychologischer Analyse getragen; einer Analyse, die einnoal Denktypen wie
476 Rezensionen.
Rousseau, Fichte, Lasstille usw. in ihrer geistigen Verfassung begreifen will
und dann damit häufig zu historischen Berichtigungen führt. — Die radikalste
Kritik übt Adler an der bisherigen Auffassung Stioners als eines Anarchisten,
auf den sich auch der heutige Anarchismus stützen köimte. Um einiges andere
Bemerkenswerte herauszugreifen — denn eine eingehende Kritik, zu der des
Vei fassers Ausführungen geradezu reizen, verbietet sich darum, weil sie sich
eingehend gegen den ganzen Aufbau richten müßte, der sich wohl dem Vor-
wxnf der „Konstruktion" kaum entziehen könnte — so findet er bei Schiller,
daß der Kern seiner ästhetischen Begriffe politisch war, daß Fichte ganz nur
dann zu begreifen ist, wenn man ihn als politischen Denker haßt. Die Zu-
sammenstellung St. Simons, dem noch sehr viel vom Sozialisten fehlt, mit
R. Owen, dessen Bedeutung für den Sozialismus bis in die Gegenwart reicht,
verführen zu Unrichtigkeiten. Er ist weiter der Ansicht, daß der mathodologische
Zusammenhang von Hegel und Marx noch stark unterschätzt wird. Am
interessantesten für den Neukritizisten sind dann natürlich die zweifellos
scharfsinnigen Ausführungen über Kants Zusammenhang mit dem Sozialismus.
Indem uns der SoziaUsmus das Ziel Kants „Die Herausarbeitung einer wirk-
lichen und vollendeten Kultmgemeinschaft im Volke" zum erstenmal in der
Geschichte zum Objekt einer zielbewußten und planmäßigen Arbeit macht,
erscheint schon von da aus diese gewaltige Kultm-bewegung als die am Werke
befindhche Verwirklichung des großen Kultiu-zieles der Kantischen Philosophie."
Und nicht nm' in Geschichtsphilosophie und Ethik, sondern auch schon in
der erkenntnistheoretischen Arbeit Kants findet Adler diesen Zusammenhang
mit dem Soziahsmus. — In deutschen sozialistischen Kreisen, die wesentlich
historisch nationalökonomisch interessiert sind und Wer noch ein weites un-
gefurchtes Land vor sich sehen, dürften Adlers Ausführungen starken Wider-
spruch erwecken. Dr. Karl Schröder-Zech.
Zur Besprechung eingegangene Werke.
Eleutheropulos, Die Philosophie und die sozialen Zustände des Griechen-
tums. 3. Auflage. Zürich, Orell Füssli.
Hamburger, M., Das Form-Problem in der neueren deutschen Ästhetik
und Kunsttheorie. Heidelberg, C. Winter.
Krueger, F., Über Entwicklungspsychologie, ihre sachHche und geschicht-
liche Notwendigkeit. Leipzig, W. Engelmami.
Külpe, O., Die Ethik und der Krieg. Leipzig, S. Hirzel.
Löwenstein, A., Der Rechtsbegriff als Relationsbegriff. Studien ziu- Me-
thodologie der Rechtswissenschaft. München, C. H. Beck.
Pfannkuche, A., Staat und Kirche. Leipzig, Teubner.
Schafheitlin, A., Lehrbuch des Lachens. Spiegel der Modernität. Zürich,
Orell Füssli.
Schnyder, O., Grundzüge einer Philosophie der Musik. Frauenfeld, Huber.
Wirkt die Tiagödie auf das Gremüt oder den
Verstand oder die loralität der Zuschauer?
oder
Der aus den Schriften des iristoteles erl)rac]ite
wissenscliafüiclie Beweis für die
intellektualistisclie Bedeutung von „Katharsis".
Von
Stephan Odon Haupt,
Znaim.
Erkenne dich selbst I
Preis Mk. 2,50.
-H-
BERLIN
W 57, Biüowstrafse 56
Druck und Verlag von Leonhard Simion Nf.
1915
Zitate aus Aristoteles sind nach der Berliner Ausgabe von Inim.
Bekker angefühlt. Absichtlich habe ich bei den wichtigen Beweis-
stellen stets den griechischen Text und die deutsche Übersetzung
angeführt, damit den Lesern das doppelte lästige Nachschlagen er-
spart bleibe. Die Übersetzungen sind großenteils der Langenscheidt-
schen BibHothek entnommen, einige mußte ich, da ich anderer An-
sicht war als die Übersetzer, ganz oder teilweise ändern. Ein bei-
gefügtes (St.) bedeutet die Übersetzung von Stahr, ein (B.) die von
Bender, Wo nichts hinzugefügt ist, ist es meine Übersetzung.
Sonstige Abhandlungen, die benutzt wurden, sind: Bernays, Zwei
Abbandlungen über die Ai-istotehsche Theorie des Drama. Berlin, Hertz,
1880. Zeller, Philosophie der Griechen. Leipzig, Reisland, 1879. Blaß,
Attische Beredsamkeit. Leipzig, Teubner, 1868. Littig, Andronikos
von Rhodos. Programm, München, 1890. Gomperz-Berger, Aristoteles'
Poetik. Leipzig, Veit, 1897. Stisser, Nochmals die Katharsis in Aristo-
teles' Poetik. Program.m, Norden, 1889. Finsler, Piaton und die
AristoteMsche Poetik. Leipzig, Spirgatis, 1900. Knoke, Begriff der
Tragödie nach Aristoteles. Berlin, Weidmann, 1906. Süß, Ethos.
Leipzig, Teubner, 1910. Goethes Werke. Leipzig, Hesse. Haupt,
Dispositionen der Aristotelischen Theorie des Dramas. Programm,
Znaim, 1907. Haupt, Die Lösung der Katharsistheorie des Aristo-
teles. Znaim, Fournier & Haberler, 1911. Haupt, Die Wiedergeburt
der Tragödie. Wien, Alfred Holder, 1912.
Eines der höchsten Ziele, dem der Kulturmensch zustrebt, ist
die Erhebung der Kunst zur Wissenschaft; denn dann ist die echte
Kunst von der Afterkunst und die berechtigte Kritik von der After-
kritik von selbst geschieden wie der Weizen von der Spreu. Daß
diese „Wissenschaft der Kunst" schon im Altertum von Aristoteles
erreicht worden war, bezeugt das uns erhaltene Fragment seiner
Poetik sowie das zielbe^vußte und unbestrittene Schaffen und Wü-ken
der alexandi-inischen Gelehi-ten, denen die Ai-i&totehsche Poetik als
Grundlage ihi'er lü-itik diente. Leider ist uns diese Poetik desAi'istoteles,
wie gesagt, nm- bruchstückweise erhalten und gerade seine Fundamen-
tallehre, die sogenannte Katharsistheorie, hat die Ungunst der Zeit
verschlungen. In zwei Abhandlungen, „Die Lösung der Katharsistheorie
des Aristoteles" und „Die Wiedergeburt der Tragödie", habe ich mich
bemüht, die Aristotelische Lehre wiederherzustellen und die Grund-
lagen zu einer Wissenschaft, zunächst der chamatischen Kunst, neu
zu schaffen und so che Stheidiing der echten Tragödie von den anderen
Dramenarten und die Zm'ückdrängung der sich immer mehr breit-
machenden subjektiven Kritik zu ermöghchen. Trotzdem muß ich
gestehen, daß ich selbst noch nicht ganz von dem Ergebnis meiner
langjährigen Studien über die Whkung der Tragödie befriedigt war,
und die nachfolgende Arbeit soll meine vorhergehenden oben genannten
Abhandlungen berichtigen und ergänzen. Zunächst wollen wir den
streng logischen, ganz voraussetzungslosen Beweis aus Aristoteles
selbst führen, daß die Definition der Tragöehe, die Aristoteles im
6. Kapitel seiner Poetik gibt, richtig und vollständig ist und nichts
Überflüssiges enthält, und wie sie, wenn sie richtig ist, übersetzt
werden muß, d. h. wa^ die einzelnen Worte bedeuten. Voraussetzungs-
lo? muß der Beweis deshalb sein, weil einige Forscher sogar behaupten,
daß der Schlußsatz über die AVirkung der Tragödie gar nicht in die
Definition gehört, sondern nm* aus polemischen Gründen von Aristoteles
absichthch der Definition angehängt wm'de.
6 Stephan Odoii Hmpt,
Aiüstoteles definiert die Tragötlie als die .,iiiinnu^ jrQic^.eoj^
öJiovöaiaq xai reXticu, fJtyt>}-oc ayovo/jg, /'/dvOfitroj ^jr/cp, X^'^i"^
kxdüTor Twr elÖojv iVToig {fOQioig. dQOJWOJV xcu ov di djtay/eX'iac.
(Si DJoi^ xca ffcji-iov JTEQab'orrxi t/)}' töjv TOiovrfDV rraih/judTcjv
xiUfaQOir''^.
Eine richtige Definition anfzustellen, ist, wie .Vristoteles sagt,
das Schwierigste und dabei ist sie doch am leichtesten zu wider-
legen^). Wie man zu einer richtigen Definition kommt, gibt er in den
Anal. post. 13. Kap. in so klarer Weise kund, wie etwa ein tüchtiger
Mechaniker einen komplizierten ^lechanismus klar und kurz erklärt,
wobei der Hörer mit dem Kopfe nickt, um anzudeuten, daß er alles
verstellt, obgleich er nichts versteht, weil er sich schämt einzugestehen,
daß er den Erklärer nicht versteht.
Eine Definition darf nach des Aristoteles eigenen Worten nichts
anderes enthalten als den ersten Gattungsbegriff und die Unter-
schiede 2).
In der Definition der Tragödie ist also „ulin/oiS' das .-ronZrov yhoc.
der erste Gattungsbegriff, alles andere sind Unterschiede. Über den
Gattungsbegriff sagt er: „Der Gattungsbegriff hat den Zweck, das
anzugeben, was etwas ist, und muß deshalb an die Spitze der Definition
gestellt werden^). Mit aneleren Worten: Der Gattungsbegriff ist nach
unserem grammatikalischen Sprachgebrauch immer ein Prädikats-
substantiv. Über die Unterschiede sagt er: „Der Unterschied ist eine
Eigenschaft*) des Gattungsbegriffes"^). ., Unterschied ist niemals
Gattung, denn kein Unterschied zeigt an, was eine Sache ist, sondern
jeder Unterschied ist vielmehr ein Attribut.^") Ferner heißt es: „Es
ist klar, daß der keine Definition aufgestellt hat, welcher nicht mittels
') QÜGiov TvdvTtüv vqov uvutQBiVj xaraGxsvuQetv da xuXstiwtutov.
Topik ri 5. 151a 17.
^) ovdev ydo hsoöv ionv iy t(Ö öqiGijcö ttXijv x6 re ttowtov 7^fy6fisvov
yivoc xat ul öiucpooai. Metaphysik ^ 12. lü;>7b 29.
^) zö öi yirog ßovLixui xö xt icxi GrjfiaCvetv xat TtqüJxov vTXoxC^exui
xuiv iv XM ÖQiGfjxö leyo/Jirwv. Topik ^ 5. 142l> 27.
*) oder nach unserem grammatikalischen Sprachgebrauch ein
Attribut
*) ^ SiucpOQÜ TTOiöxrixa xov yerovg GrjfJuCrai,. Topik 6 6. 128» 26.
'') ovSsvug t] Stcf.(poQÜ yevog iaxfr ' ovdsfiCa ydo dtaffood Gi]fiuivsi,, xf
aGxiv, uXXd fiülXov not,6v xi ' Topik d 2. 122^ 15.
über die Wirkung der Tragödie. 7
früherer und bekannterer Bestimmungen definiert hat^); denn wer
gut definiert, muß ja doch mittels der Gattung und der Unterschiede
definieren; diese gehören aber zu dem, was schlechthin bekannter
und früher ist als die Art.''^) Ferner: „Ein Unterschied ist nie
etwas Akzidentelles, we auch die Gattung nicht; denn es ist nicht
möglich, daß der Unterschied einer Sache zukomme und auch nicht
zukomme.^") B.
Auf Grund dieser Lehrsätze wollen wii zunächst den Anfang
der Definition der Tragödie durchgehen. „Die Tragödie ist die Nach-
ahmung einer Handlung."^") „Tragödie" ist der zu definierende Be-
griff, die Art, „Nachahmung" ist der erste Gattungsbegriff. Da dieser
bekannter sein muß als die Art, so muß Aristoteles seine Abhandlung
über die Nachahmung und ihre Arten schon frühei vorgetragen haben,
es muß, wie ich dies in der „I^ösung der Katharsistheorie" auseinander-
gesetzt habe, dem uns erhaltenen unvollständigen Buch über die
Poetik ein Buch vorausgegangen sein, oder mit anderen Worten:
das uns erhaltene Buch der Poetik ist nicht das erste, sondern das
zweite Bach und dieses ist zudem unvollständig, da die Abhandlung
über die Komödie und den Dithyrambus fehlt.
„Handlung" ist der erste Unterschied, also das erste Attribut
zu Nachahmung. In unserem Fall ist aber „Nachahmung, „(ilinjaic:''
nur ein verkapptes Verbum und „Nachahmung einer Handlung" ist
demnach nur eine Periphrase für ,, nachgeahmte Handlung" und
steht statt: „Die Tragödie ahmt Handelnde nach". Jetzt versteht
man auch, warum Ai-istoteles gleich am Anfang der Poetik von
Objekten und nicht Attributen der Nachahmung spricht, ferner von
den Mtteln und der Art und Weise der Nachahmung^ i).
'i SrjXoi' ow bn ovy iÖQiarai 6 ,u>J diu tiqotsqwv xal yvujoifiMTiowr
öoiGdfJSi'og • Topik l, 4. 141b 1.
**) eYjiEQ dsl jj^sv d'id rov yavovc xal twi' d'iacpoQwv OQi'QeGS^ai, toi'
xu'uZq VQtQöi^svorj, rama de rüJv uTiXcüg yi'wgi/JcoTiouJV xal nQOiiqLov rov
sl'dovg iaitv ' Topik ^ 4. 1411» 25.
^t ovdsfiCu ydg dtacpoga twv xutu Gv/jßsßijxöc vTrao/övriov iöiC,
xa&ujrsQ ovSe t6 yivog ' ov yuq IvdixsTui, T7]p diacpoQur' VTidq^siv tivI xal
fjkt] vTidq^ur. Topik ^ 6. 144» 24.
^°) ißTiv ovv Tquywdia /.u/nriaig nqa^iojg.
") TiuGui ivy/^dvovGii' ovGui ^priGSig to Gl'io'aov, diuffioovGi Si
u/J.7]X(xJv jqiGlv, rj yuq zw tv hiqoig (ji^hgO^ui, (Mittel) i] rw sreou (Ob-
jekte) i] TCO hiqwg (Art und Weise) xul /j/i] tov uvrov Tqönor ' Poetik 1.
1447a If). ' '
8 Stephan Odon Haupt,
Es folgt also zunächst, da „Nachahiuung'' ein verkappter V^erbal-
begriff ist, daß der erste Gattungsbegriff dieser Definition in die
Kategorie des Tuns {jvoulr) fällt. Aristoteles unterscheidet 10 Kate-
gorien: 1. Das Was(T/), 2. die Quantität (jroöor), 3. die Qualität (jioior),
4. die Relation (jr(>oc n), 5. das Wo (jiov), 6. das Wann (.tots), 7. das
Liegen (xeiaO-aiJ, 8. das Haben ßyuv), 9- das Tun {jtoieiv), 10. das
Leiden jräaxfiv). Die Kategorien des Tuns und Leidens erörtert er
nur ganz kiu'z. Im 9. Kapiiel der Kategorien (11^1) sagi er nur, daß
diese Kategorien die Entgegensetzung und das Mehi- und Minder an-
nehnieni2). Auch im 9. Kapitel des 1. Buches der Topik (103^ 20 ff. )
läßt er uns bezüglich dieser Kategorien im Unklaren.
Wichtig sind flu- uns folgende Sätze: „Das Akzidens, die Gattung,
das Eigentümhche und die Definition werden immer in einer dieser
Kategorien enthalten sein"^^^), und „Gattung und Art müssen der-
selben Kategorie angehören"!'*). Wenn demnach „Nachahmung" zur
Kategorie des Tuns gehört, was ja selbstverständlich ist, so gehört
auch „Tragödie" ziu- Kategorie des Tuns, weshalb auch Aristoteles
sie, sowie die Komödie usw. unter die „rtyvrj jioifjTixj]'" einreiht.
Wü- haben es also in dieser Definition mit Verbalbegriffen zu tun.
Nachdem „Nachahmen" ein transitives Verbum ist, so ist der erste
Unterschied im Akkusativobjekt zu suchen, äk anderen Unter-
schiede könnten diu'ch andere Objekte und dm-ch die Umstände des
Ortes, der Zeit, der Ali; und Weise und des Grundes ausgedrückt sein.
Das Verbum „Nachahmen" wkd nm- durch ein Aklmsativobjekt
näher bestimmt; alle. anderen Bestimmungen sind daher adverbiale.
Da aber Aristoteles am Anfang der Poetik in der bereits zitierten
Stelle 1447^^ 15 nur von den Objekten {tcö txeQaj, den Mtteln
{tm h hkQoig) und der Art und Weise {zcö tTtQcog) der nachahmenden
Darstellung spricht, nach deren Differenzierung Fich die verschiedenen
Arten der nachahmenden Darstellung ergeben, so müssen wü-, da er von
den Umständen des Ortes, der Zeit und von den anderen Umständen des
12) ivöixsTUt öe xal ro jroieTr xal ro ndoxH'V srafiioTrjTa xai rd
fuLÜXXov xui TÖ rJTTOr.
'^) u8t yuQ t6 Gvfißfß)]xdc xal rö /f'roc xul xd yöiov xal 6 cQißfidc iv
fjim TOvTüJV Twv xairjyooiuJv iGiui. Topik « 9. 103^ 23.
") vjto Tiijv avxiiv 6t,aiQiGiv dsl i6 ytroc tm iidiv dvai. Topik ö 1.
121a 6. Daß hier diuCqiGig soviel wie xaitiyoQlu ist, wie Bonitz im Index
bemerkt, ergibt sicli aus Topik 6 1. 120 b 36 ö".
über die Wirkung der Tragödie. 9
Grundes an dieser Stelle nicht spricht, annehmen, daß diese entweder
akzidentell sind, — der Unterschied darf, wie wir oben gesehen haben,
,,nie etwas Akzidentelles sein, wie auch die Gattung nicht; denn es ist
nicht möghch, daß der Unterschied einer Sache zukomme und auch
nicht zukomme" — oder allen von ihm erwähnten Arten der Nach-
ahmung, dem Epos, der Tragödie, Komödie, dem Dithyrambus usw.
gemeinsam sind und daher keine Differenzierung ergeben. Nun sind
Ort und Zeit tatsächlich akzidentell; denn es ist gleichgültig, ob ein
Drama im Altertum oder in der Neuzeit, in Japan oder in Frankreich
spielt; tatsächlich finden wir auch in der Tragödiendefinition keine
Andeutung eines Ortes oder einer Zeit. Von den übrigen Umständen
des Grundes kann man dies aber nicht behaupten. Bei allen ver-
nünftigen Handlungen, also auch bei den Nachahmungen von solchen
Handlungen muß es irgendeinen Beweggrund geben, also eine Absicht
des Handelnden, resp. Nachahmenden, und zu ihrer Erreichung muß
der Handelnde, resp. Nachahmende bestimmte Mttel anwenden, es
müssen also in jeder Tragödie der Zweck and die Mttel zum Zweck
erfcichtüch sein. Soll dieser Zweck nicht ein akzidenteller sein, so
muß er sich der Wirkung anpassen. Tatsächlich hat Aristoteles,
wie aus dem Ausdruck ,,:itQaivovöci' ersichtüch ist, die Wirkung in
die Definition der Tragödie aufgenomm,en, eigentlich nach dem Ge-
sagten aufnehmen müssen. Da er aber bei den Unterschieden der
Nachahmung von dem Zweck, resp. der Wü-kung nicht spricht, so
muß das in diesem Umstand des Grundes Ausgedrückte allen von ihm
aufgezählten Arten der Nachahmung, also insbesonders dem Epos,
der Tragödie, Komödie und dem Dithyrambos, gemeinsam sein, denn
sonst hätte er diesen Unibtand des Grundes bei den Unterschieden
der Nachahmung anführen müssen. Anderseits kann dieser Umstand
des Grundes schon deshalb nicht akzidenxeU sein, weil sonst Aristoteles
diesen Umstand des Grundes, die Wirkung, nicht in die Definition
aufnehmen hätte dürfen. Denn dann hätte er falsch definiert, da er
etwas Akzidentelles aufgenommen hätte, was ihm seine Feinde
und Neider nicht stillschweigend hingenommen hätten. Schon daraus
ergibt sich also, daß die „Katharsis" weder wegen Plato noch wegen
eines anderen Philosophen der Definition der Tragödie angehängt
wurde, sondern ein unbedingt notwendiger Unterschied sein muß,
also zur Defiintion gehört, weil diese sonst unvollständig wäre, ferner,
daß Aristoteles nur der Logik folgte, weder Rücksicht nehmend auf
10 Stephan Odon Haupt,
die Dramen noch auf Plato oder einen anderen Philosophen, auch
nicht auf die Rhetorik, sondern wie unser deutscher Aristoteles,
Leasing, sagt, als wahrer Kunstrichter keine Regeln aus seinem Ge-
schmack folgerte, sondern seinen Geschmack nach den Regeln ge-
bildet hat, welche die Natur der Sache erfoidert. Daflir gibt es, weil
ArL^oteles aUes Icgisch ableitete, keine Kunstart, ja es kann keine
neue erfunden werden, die sich nicht in sein Schema der darstellenden
Künste einreihen Meße, es gibt kein Drama, das sich nicht leicht
und zwanglos in sein Schema der Dramen, das ich in der „Wieder-
geburt der Tragödie" erneuert habe, einreihen und erklären ließe.
Denn sonst wäre ja seine Definition der Tragödie unrichtig, wie die
Bernaysianer bei ihrer irrigen Auslegung der Tragödiendefinition
immer wieder mit Vergnügen konstatiert haben. Wir rekapitulieren:
In der Definition der Tragödie finden wir also, nachdem wir f es [gestellt
haben, daß „Nachahmung" ein Verbalbegriff ist, daß die einzelnen
Glieder der Definition folgendermaßen zusammengehören: (ji/irjOig
= Nachahmung ist der erste Gattungsbegriff, alles andere sind Unter-
schiede, u. zw.:
ist jiQa^ewc identisch nüt dtm Akkusativobjekt = jigäzTovrac.,
öJtovdaiag zal TElsiaQ, fiiYsihoc, £xov67jq, die Attribute zu jigä^scog,
sind eigenthch, da auch jiQÜ^Ecoq ein Verbalbegriff ist und dem
jiQärrovrac entspricht, Adverbia; rjÖvGfiivfp löyci drückt das
äußere Mittel der Darstellung aus, es ist noch näher bestimmt durch
die begleitende Folge: xcoqIq sxdözov rröi: eidwv tv rote {joqioic:
ÖQojvTOJv y.ai nv dl djcayyeJJag bezeichnet die Art uvd Weise
der Darstellung;
Durch dl tXkov xcd (poßoi^ jrsgaivovoa rr/v tmv roiovrcor
xaihrjiidTmv xäd-agOLV ist die Wirkung samt ihren Mitteln bezeichnet.
Von diesen Ausdrücken hat Aristoteles die Bezeichnungen:
„fjdvantvcp Xoyfp^ XcoQig I'/mötov rcöv tlöoJv Iv rolg /to^tioig,
ÖQcovtatv xcd ov öl cmayyüAag^'' selbst deuthch erklärt. Uns obüegt
es also, die näheren Bestimmungen zu jxiiä^uog und den Schlußsatz
genau zu zerghedern und zu erklären.
Was nun die Worte ,,6jTovdaiag xai Tt/.siag, [ilytii-og ex^v^^i?"
anlangt, so ist der Ausdruck ^.fi^yedog lyoüörjg"' auch unzweideutig
auseinandergesetzt. Anders verhält es sich mit den Worten „ö.7rovd'ß/«c
xai Tsleiag", die man gewöhnhch mit ,, ernst" und „vollendet"
übersetzt.
über die Wirkung der Tragödie. 1 1
Von den Bestandteilen einer Definition verlangt Aristoteles,
daß sie unbedingt bekannt und klar, d. h. eindeutig sind. Namentlich
müsse man sich vor Homonymen hüten; es ist dann unklar, welche
von den verschiedenen Bedeutungen gerade gemeint ist^^). „Es ist
also klar," heißt es dann in dem schon zitieiten Satz, „daß, wer nicht
mittels früherer und bekannterer Bestimmungen definiert hat, keine
Definition aufgestellt hai.''^^) Nachdem die Worte „(movöalog'"
und ,,T£?.£Log' vieldeutig waren, mußte also Aristoteles die in der
Definition geltende Bedeutung dieser Worte unmittelbar vor oder
nach der Definition genau fixiert haben. TafcsächHch führt Aristoteles
den Ausdruck „ojtovöcäog' schon im 2. Kapitel seiner Poetik (1448'' 1)
ein, indem er sagt: „Lrd de iiifiovvrai ol fdfiovfiEvoi Jigarrovraq^
äväyTcrj öl rovrovg ij Ojrovöaiovg)] (pavlovgelvai'' , und 1448=^17 heißt
es: „?) nlv jag xojficpöia xEiQOvg, tj 6e Tgayroöia ßsZziovg [Ufiaad-aL
ßovXstaL rmr rvvJ' Daraus ist klar, daß an dieser Stelle die „OJtov-
dcäoi" identisch sind mit ,,ßtXriovg zcöv vZv'\ daß er dagegen unter
,,(f.avXoL' die ,,ydQovg röiv vvv'' versteht. Weil aber in 1448*^ 34
„öjrovöaloc'' scheinbar im Gegensatz zu „ysloiog" steht, hat man
..rjjrovöalog" mit „ernst", .,yshHog' mit „lächerHch" übersetzt. Und
doch steht bei Aristoteles ,,ü.-rovdaiog' immer in der Bedeutung von
„außergewöhnUch". „Ernst" heißt bei ihm „öf//roc". Aristoteles hebt
an dieser Stelle (1448^ 34) nur hervor, daß Homer der erste richtig
dramatisiert und komödisiert hat, indem er zu Helden seiner Epen
„Gjrovöaioi'g'' nahm, während die ersten Dramatiker Tugrnd-
helden vorführten. „Die ernsteren Dichter ahmten herrliche Hand-
lungen, u. zw. tugendhafter Menschen nach^"). Homers Helden, die
ojtovSaioi, sind keine Tugendmenschen, sondern wohl keine gemeinen
Menschen, aber doch mit Fehlern, ja sogar großen Felilern behaftete.
„Die leichtlebigeren Dichter ahmten die Handlungen der gemeinen
Menschen nach, indem sie zunächst tadelten."^^) „Homer dagegen
^^) E'lg fjev ovv totvoc tov dcaifujüc, d öfuorv/jör iGrl rin tö siqi]-
fiivov • . . . . (lö}]lov ovv oTroTSQOv ßovXeTui ItyHV Tiüv örjlovfiivujv vno
TOV nXeoru^Mc leyopivov. Topik L, 2. 139'' 19.
^^) S^XOV ovv ÖTl OVX WQlGTUl 6 ^Yl 8ld TiqOjiqiOV Xai yi'UJQl./JMT{QUJV
ooiGupsvog. Topik ^4. 141 b 1.
'^ oi /jsv yu.o GefJVÖTeQoi rdc xaXuc tfii^wvvro Ttou^eic xal rag twv
TOiooTwV Poetik 4. 1448b 25.
'^ oi öe fvTsliGTSQOt rüg twv cpuvlMV, TiQWTor ipöyovg novovrr^g.
Poetik 4. 1448b 2G.
12 Stephan Odon Haupt,
hat richtig nicht den Tadel auf die Bühne gebracht, sondern diese
gemeinen Menschen lächerlich gemacht"^^), u. zw. nicht alle Hand-
lungen der gemeinen Menschen, sondern nm* diejenigen, durch die
sich dieselben lächerlich machen, ohne einen Schmerz oder gar den
Untergang deshalb zu finden^''). Eine „jiqcc^ic fpai^xor' ist daher
nicht identisch mit „jigä^iQ yeloia', ebensowenig als die „jiQägLc
ojtovöaia' dasselbe bedeutet wie „jiQcc^ig asf/r/j''''. Diese 4 Begriffe
sind disparat. Da aber die Definition nur Merkmale enthalten darf,
die immer zutreffen, so kann und darf man „ojrovdaiag"' in der De-
finition der Tragödie nicht mit ,, ernst" übersetzen. Denn auch der
Dutzendmensch kann ernste Handlungen verrichtend^). Was näm-
hch dem Dutzendmenschen und dem einen von denen, die /loch
schlechter sind als er, dem böswiUigen Furchxsamen, immer abgeht,
ist der Wagemut und die Entschlossenheit. Und gerade, weil dem
gewöhnüchen Menschen diese Eigenschaften abgehen, sind solche
Taten für ihn interessant, sie packen ihn. Dazu konmit noch eine
djitte Komponente. Aristoteles erklärt in seiner gewohnten nach-
lässigen Weise, nachdem er zuerst „rfAtmc" in § 7 erklärt hat, das
„öJtovöaiag'''' teilweise erst im Kapitel 9. „Aus dem Gesagten ist
klar, daß es nicht Aufgabe des Dichters ist, das vorzubringen, was
zu geschehen pflegt, sondern das, was geschehen soll und was geschehen
kann nach der AVahi'scheinlichkeit oder Notwendigkeit"^^). Also eine
„jtgä^ig a.-rovdaia'' ist zugleich eine Handlung, wie sie eintreffen
muß {xara ro dvayyMLov), oder in plausibler Weise eintreten kann
(xara ro Etxog dvvaTf/), oder eintreten soll {ola av ytvoivo), jeden-
falls muß sie außergewöhnlich sein.
Wir wollen also das Wort „öjiov<^aiog"' in seine an dieser Stelle
passenden Komponenten zerlegen und mit „außergewöhnlich wage-
mutig und entschlossen" übersetzen.
^^) od xfiöyov dXXu ro ysXoTov ÖQUfiuTOTion^Gug. Poetik 4. 1448 1^ :^>7.
-") To ydo ysXoiöi' ißriv u/JUQTrjfid. rt xul aißyoc ui'wdvrov xai ov
(pdaQiixöv. Poetik 5. 1449 * 34.
-') Ebenso wenig ist ,,G7tovÖuToc"' identisch mit ,,xak6g xul uyud-oc
= tugendhaft" und „(puvlog" mit „fioyd^rjoög = Bösewicht". Sondern
wenn wir als Dutzendmenschen (ol xad^'fifxüg) die gutmütigen Furcht-
samen annehmen, so sind ßjrovSuXoi, die gutmütigen Tollkühnen und
(puvlot die böswilligen Furchtsamen und böswilligen Tollkühnen.
^^) (puvsoor de ix twv dqmjivojv xal ort, ov ro rd ysv6fi?ra Xiyeir,
TOvto 7tot,T]TOv iQyov iüriv, d)JJ' ola uv yiroiTO xai rd Svvurd xard ro
atxdg ^ 10 dvuyxutov. Poetik 9. 1451 » 36.
i
über die Wirkung der Tragödie. 13
Auch das Wort „rsXeiag"' läßt sicli nicht einfach übersetzen,
sondern muß auch erst in seine Komponenten zerlegt werden. Diese
Arbeit hat uns Aristoteles erleichtert, indem er die Komponenten
selber nennt. In Kapitel 7 finden wir neben „Tslelag'' auch „xal oh]q'\
da? in Kapitel 8 noch durch „f/täg' erweitert wird, „ölt] (= ganz)
•ycccl (lia (= einzig) sind also 2 Komponenten von „reZsla''. Nun
ist aber „ganz" identisch mit „vollendet", folghch kann „rt/f/ac"
nicht „vollendet" oder „in sich abgeschlossen" allein bedeuten.
In der Metaphysik 6 16. 1021^ 12 ff. erklärt Aristoteles das
Wort .,T£Äüog'' zunächst in der Bedeutung „vollendet" (von der
Zeit), dann „vollkommen", ferner als das, was sein Ziel, sei es ein gutes
oder schlechtes, erreicht hat. „Ziel und Zweck ist aber das letzte",
fügt er hinzu^^). Was also seinen Zweck erreicht hat, hat auch sein
Ziel erreicht. Da w also auch diese Komponente in „zsUiag"
berücksichtigen müssen, die Aristoteles in der Ethik und Metaphysik
durch das Wort „jiQoaLQezöv' ausdrückt, was unserem „planvoll"
entspricht, so woüen wir das „rf/f/ac", entsprechend seinen 3 Kom-
ponenten oh^g, fit-äg) JtQoaiQszf/g'''', mit „einheitlich und planvoll
abgeschlossen" übersetzen. Wer handelt aber in der Tragödie plan-
voll? Nehmen wir z. B. die Antigene des Sophokles. Nur Antigene
handelt planvoll, Ivreon läßt sich von seinen Stimmungen hinreißen.
Antigene hat nur ein Ziel: lauten Protest zu erheben gegen das un-
gerechte Gebot Kreons, mag sie dabei umkommen oder nicht, und ihn
zu zwingen, dieses ungerechte Gebot zurückzunehmen. Ihre Absicht
erreicht sie in schauerlicher Weise, doch so, wie man in ihrer Lage
handeln muß und soU, und wie es auch möglich ist. Daher ist ihre
Handlung packend, interessant, es ist eine „ojrovdaia'', eine außer-
gewöhnUch wagemmige und entschlossene Handlung. Die Handlung
muß aber auch, um eine „rf^-fm" zu sein, ganz oder abgeschlossen
sein, d. h. Anfang, Mitte und Ende haben. Der Anfang ihrer Handlung
ist der Anstoß, die Veranlassung, das ungerechte Gebot Ivreons,
Mtte ist ihre Verhaftung und Verurteilung; weil sie ih.e Absicht
durchsetzt, d. h. weil Kreon, auch nachdem sie zum Tode abgefülirt
wurde, durch die begleitenden Umstände veranlaßt, doch nachgeben
mußte, ist ihre Handlung beendet, also abgeschlossen. Und weil sich
alles nur um das Eine dreht, daß die veranlassende Ursache, das un-
■^•^) liXog ös xat tö ov ivaxa iG^^TOv.
14 Stephan Odon Haupt,
gerechte Gebot, aufgehoben werde, ist die Handlung auch eine „ein-
heithche, ///«". Und weil Antigone vorbedacht handelt, so ist die
Handlung „planvoll, jTQoaiQar/j''; die ganze Handlung ist mithin
eine „rsXsia'. Die spannende Handlung bezieht sich aber nur auf
die Niederzwingung des Mächtigen, der den Anstoß zu ihr durch
irgendeine Gewalttat oder einen Akt des Übermuts gegeben hat.
Schon daraus folgt, daß alle Dramen, die nur die Tat des Übermütigen
behandeln, also nur den Arfang bringen, keine Tragödien sind, so
z. B. die „Emilia Galotti" von Lessing. Ja, solche Dramen sind direkt
verwerfhch, denn sie sanktionieren den Frevelmut der Tyrannen.
So erklärt sich der einseitige Beifall, den solche Dramen finden. Erst
Grillparzer hat den Fehler Lessings gut gemacht, indem er im „Treuen
Diener seines Herrn" die eigentliche Tragödie zur „Emilia Galotti"
schuf.
Ferner ergibt sich aus dem oben Gesagten, daß die Schicksals-
tragödien, zu denen ich aber nur die reebne, die einen neuen treibenden
Faktor unmotiviert einführen, eo ipso schlechte Tragödien sind;
Aristoteles selbst nennt solche Tragödien „episodenhafte, tjieiaoöio)&?f'.
In ihnen ist die Handlung nicht planvoll abgeschlossen {zeXsta),
weil eben ein neues Element hinzutritt, das außerhalb der Handlung
steht und mit ihr weder natürhch {xara x6 dvayaLov), noch wie es
wahrscheinUch sein kann oder soll (%ar« t6 sizog), sondern nur zu-
fällig {y.aza ro öi\uß8ß?]xög) in Verbindimg tritt, was bei den Zu-
schauern wohl Staunen und Grauen im allgemeinen, aber nicht geteilte
Furcht hervorruft. Deshalb sagt auch Aristoteles: „Die Dichter, die
uns nicht das sinnlich Fluchterregende, sondern niu* ein Wunder
vorführen, haben mit der Tragödie nichts zu tun^^). Wohl zu unter-
scheiden von diesen Schicksalstragödien sind solche, in denen Geister
oder Orakel oder Ähnliches eine Kolle spielen, ohne daß sie dabei
ein treibender Faktor sind. Solchen Dramen, zu denen z. B. der
Ödipus des Sophokles, Schillers Braut von Messina, Giillparzers
Ahnfrau, Shakespeares Hamlet gehören, schaden diese Geister-
erscheinungen usw. nichts, denn diese Zutaten sind angeregt durch
Zeiteinflüsse, man kann in ihnen diese Zutaten weglassen, ohne daß
die Handlung den Zusammenhang verliert.
24\
*) ol Ss jWjJ Tu (foßaoov 6vd Trjg oxlnwg u/Jm rö reQUTtüSeg fiövov
nuqa6-/.evdt,oviiQ ovöiv TQuyojöCu xoiPtüvovGiv. Poetik 14. 14ö3b 8.
über die Wirkung der Tragödie. 15
Was nun den Schlußsatz anlangt, der, wie wir gezeigt haben,
schon im allgemeinen, wenn auch mit Unrecht, angezweifelt wird,
so hat das Wort „Katharsis", dessen Erklärung verloren gegangen
ist, eine verschiedene Deutung im Laufe der Jahre gefunden.
Diese verschiedenen Deutungen hat Kiioke in seiner Abhandlung,
„Begriff der Tragödie nach Aristoteles", so kurz und treffend zu-
sammengefaßt, daß ich seine Ausführungen hierüber hier teilweise
wiedergebe.
„Und nun gar das Wort xdOaQöig. Was hat man sich nicht
alles unter dieser Handlung vorgestellt! Zwar, daß es Reinigung
bedeutet, \vußte man. Aber in welchem Sinn sollte eine solche Reinigung
sich vollziehen ? Wir übergehen hier die Erklärung älterer Gelehrten,
wie auch Castelvetros, der in seinem 1570 erschienenen Kommentar
der Poetik der Ansicht Ausdruck gab, Mitleid und Furcht stumpften
sich bei' wiederholtem Zuschauen der Tragödie allmähhch ab, während
Dacier 1690 sich dahin äußerte, der Zuschauer überwinde jene Gefühle
bei dem Vergleich des eigenen Schicksals mit demjenigen des Helden.
Auf der anderen Seite lag es nahe, die Katharsis aus der Sprache
prie^terhcher Tradition zu erklären, d. h. im Sinne einer Scbuld-
sühnung zu fassen, i . zw, um so melir, als Aristoteles selbt an einer
anderen Stelle den Ausdruck so verwendet^^). Wiiklich reichen
denn auch derartige Erldärungsversuche noch in die Zeiten früherer
Jahrhunderte zurück. (So im 16, Jahrhundert bei Lnmbinus, ferner
1611 bei Heinsius, endüch bei Herder.) Gegen diese Auffassung hatte
sich indessen schon Reiz in einer im Jahre 1776 erschienenen Ab-
handlang ausgesprochen, indem er ganz richtig' den vom Philosophen
gemeinten Vorgang als eine Reinigung und Befreiung von einer kiank-
haften Gemütserregung verstand. Und wirldich steht jener Erklärung
insbesondere im Wege, daß die Katharsis offenbar doch an dem Zu-
schauer sich vollziehen soll. Von welcher Schuld soll dieser aber denn
entbunden werden? Der Ausdruck wäre in dem bezeichneten Sinne
nur verständhch, wenn er auf den schuldbeladenen Helden selbst
bezogen werden dürfte. Das ist aber doch nicht möglich.
0. Müller wollte die Katharsis aus dem bakchischen Kultus er-
klären. Es seien diejenigen, die nach einem wilden Taumel die Ruhe
^*) 145">b 14f.: ohr iv icn "OQißit] t] (xavta, öl i{q iXi]q)d'r], xal i^ Gu>-
rrjoCa diu. rrjg xu&dgGewg.
16 Stephan Odon Haupt,
und lOarheit der Seele wiedererlangten, als die Gereinigten bezeichnet
worden, was indessen Döring mit der Benierknug zurückweist, es sei
ja der Ekstatische gerade des Gottes voll gewesen, so daß er unmöglich
als unrein hätte angesehen werden können. Andere faßten die Katharsis
im Sinne einer Reinigung oder Veredelung des Gemütes, die angesichts
der tragischen Handlung sich vollziehe. Diese moralische Wirkung
legte auch Lessing der Katharsis unter, wenn er im 78. Stück seiner
Dramaturgie sich folgendermaßen äußerte: „Da närahch diese Reinigung
in nichts anderem beruht als in der Verwandlung der Leidenschaften
in tugendliafte Fertigkeiten, bei jeder Tugend aber, nach unserem
Philosophen, sich diesseits und jenseits ein Extremum findet, zwischen
welchem sie inne steht, so muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid
in Tagend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu
reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen."
Auch ist man später immer meder auf diese Anschauung ziu-ück-
gekommen. (Den Standpunkt, daß die Wirkung der Tragödie nach
Aristoteles eine ethische sein müsse, vertraten insbesondere Franz
Biese, „Die Philosophie des Aristoteles", Berlin 1842; ferner Brandis,
„Aristoteles und seine akademischen Zeitgenossen", Berlin 1857;
sodann Spengel, „Über die Katharsis twv .■Jiad-7]!(aTcov, ein Beitrag
zur Poetik des Aristoteles", München 1859. Geradezu wird auch wohl
ein ethischer Zweck angenommen, so von Manns in Masius' Jalirbuch
1877 S. 256 ff. Nach ihm soll die Tragödie von Selbstsucht und Über-
mut reinigen.)
Hingegen ist jedoch mit Recht eingewandt worden, daß die
Tragödie wie alle Kunst ihrem Wesen nach nicht einen moralischen
Zweck verfolgen könne und daß es insbesondere Aristoteles fern-
gelegen habe, wenigstens in der von ihm gegebenen Definition, eine
solche Aufgabe dem tragischen Dichter zuzuweisen. Bezeichnet er
doch an anderen Stellen als Zweck der Kunst schlechthin uns die
Lust. Auch Goethe verwarf die besprocheire Erklärung, indem er
geltend machte: „Die Musik so wenig als ngendeine Kunst vormag
auf Moralität zu wirken", und über den Zuschauer der Tragödie
äußert er, „er werde nach dem Stück um nichts gebessert nach Hause
gehen".
Im Gegensatz zu jenen nach Lessings Vorgange vertretenen
Anschauungen entwickelte Weil in einer Abhandlimg, flie den Ver-
handlungen der im Jahre 1847 zu Basel tagenden Philologenversamm-
über die Wirkung tier Tragödie. 17
liing beigefügt wurde, zum ersten Male die Ansicht, daß die Katharsis
des Aristoteles auf einen medizinischen Begriff zurückzuführen,
dagegen jeder moralische Zweck von der Tragödie auszuschließen sei.
Die Katharsis wnke ähnMch wie ein ,,Piu'gativ'\ Während jedoch
die Erklärung dieses Gelehrten längere Zeit unbeachtet blieb, so
erreichte Bernays einen um so größeren Erfolg, als er, ohne die Schrift
Weils zu kennen, zehn Jahre später in einem Aufsatz, der zuerst in den
Abhandlungen der historischen Gesellschaft in Breslau erschien, eine
ähnliche Ansicht vortrug. (Grundzüge der verlorenen Abhandlung
des Ai'istoteles über die Wkkung der Tragödie. Breslau 1857.) Nach
Bernays ist der Ausdruck yAd^c.QOi^ „ein ästhetischer Terminus", der
als solcher erst von Aristoteles „geprägt" worden ist. Indem Bernays
nun ebenfalls jeden sittlichen Zweck von der Tragödie ausschheßt
und sich mit Entschiedenheit dagegen verwahi-t, daß sie, wie er sich
ausdrückt, in ein ,,morahsches Korrektionshaus" verwandelt werde,
sondern nur den ,, pathologischen (besser therapeutischen) Gesichts-
punkt" gelten lassen will, besteht nach ihm die Katharsis in einer
,, Entladung der Gemütsaffektionen", die dm'ch Erregung von Mitleid
und Fiu'cht in der Tragödie bewirkt wkd, oder, wie er sich an einer
anderen Stelle äußert, Katharsis sei ,,eine vom Körperlichen auf
Gemütliches übertragene Bezeichnung für solche Behandlung eines
Beklommenen, welche das ihn beklemmende Element nicht zu ver-
wandeln oder zurückzudrängen sucht, sondern es aufregen, hervor-
treiben und dadurch Erleichterung des Beklommenen bewirken will".
Es war nicht nur die Neuheit dieser Ansicht — denn die Abhand-
lung Weils war in Deutschland so gut wie unbeachtet geblieben, —
was überraschend wirkte, sondern die streng wissenscLaftüche Methode,
mit der der verdienstvolle Forscher seine Hypothese vortrug, war
geeignet, ihm einen bedeutenden Anhang in der Geleln-teuwelt zu
sichern. In der Tat Heß sich denn auch eine stattliche Zahl von Kennern
der griechischen Tragödie dm'ch die Bernayssche Ansicht gewinnen
und man kann wohl sagen, daß sie im wesentlichen gegenwärtig noch
die herrschende ist, wenn auch zugegeben werden muß, daß sie im
Laufe der Zeiten eine m^ehrfache Weiterentwicklung oder Umbildung
erfahren hat.'
In einer Programmarbeit: ,, Disposition der Aristotehschen
Theorie des Dramas und Erldärung einiger Hauptpunlvte derselben",
Znaim 1907, habe ich die drei Hauptansichten über die Katharsis,
2
18 Stephan Odon Haupt,
nämlich die Lessingisclie. Goethische luul Bemaysische zu vereinigen
gesucht und damit, vde sich im folgenden zeigen wird, unbewußt
wenigstens teilweise das Richtige getroffru. Damals schrieb mir Herr
Universitätsprofessor Dr. Otto Iramisch in Gießen unter dem 10. X.
1907: „Bislang glaube ich noch: 1. daß der Passus über diu Katharsis
nur infolge einer Polemik gegen Plato der Definition angehängt ist:
das Hjyor (die Wirkung) hat an sich, nach ikistoteles' eigenen Sätzen
über das Definieren im oQog nvöiag nichts zu suchen; 2. daß die
Katharsis in Aristoteles' Sinn weder ethisch noch „hedonisch" noch
therapeutisch ist, sondern intellektualistisch." Ich habe mich lange
gegen Immischs Auffassung im 2. Punkt gesträubt, endhch aber die
Richtigkeit derselben eingesehen und nach langem Studium die
Bedeutung „Aufklärung" als die einzig passende gefunden nnd mit
dieser haben sich alle Schwierigkeiten der Poetik, Rhetorik und
Pohtik, die bisnun jeder Erklärung spotteten, in nichts aufgelöst,
vde jeder unparteiische Leser im folgenden sehen wü*d.
Daß Aristoteles unter „Katharsis" nichts anderes versteht als
wk unter „Aufklärung" in dem Sinne, wie ich es in der „Wieder-
geburt der Tragödie" auseinandergesetzt habe, dafür habe ich 3 Be-
weise: 1. daß es mir möghch ist, mit dieser Erklärung alle Schwerig-
keiten, die sich mit Bezug auf die Poetik ergeben, nicht nur in der
Poetik selbst, sondern auch in allen seinen anderen Schriften leicht
und Mar aufzuhellen. 2. daß es mii- möghch war, in der „Wieder-
gebm*t der Tragödie" auf Grund dieser intellektualistischen Er-
klärung des Wortes „Katharsis" ein System aufzustellen, in das sich
alle poetischen Werke eimeihen lassen, wobei man auf den ersten
Bück jedes Drama nicht nur klassifizieren, sondern auch objektiv
auf seine Mängel untersuchen und diese nachweisen kann: — trotzdem
es, wie ich nachge^^'iesen habe, 864 Arten von Dramen gibt, so läßt
sich doch mit Hilfe von nur 6 Kombinationen jedes Drama augen-
bhckhch einreihen und objektiv kritisieren. Weit entfernt, daß die
Aristotehsche Poetik, wie viele Ivritiker meinen, veraltet und auf
unsere modernen Dichter unanwendbar ist, ist sie für alle Zeiten;
aUe Völker und selbst für alle noch möghchen Erfindungen der Kanon;
— 3. daß es mir möghch ist, besonders aus dem Organen des Aristoteles
die Beweise für die inteUektuahstische Bedeutung von „Katharsis"
zu erbringen.
Es ist bezeichnend, daß Bernays selbst sowie alle seine ein-
über die Wirkung der Tragödie. .19
gefleischten Anhänger über Aristoteles im allgemeinen sowde über die
Katharsistheorie im besonderen ein absprechendes Urteil fällen,während
Lessing, Goethe und Schiller sowie alle Anhänger der ethischen
(Lessing) oder ästhetisch-intellektuahstischen (Goethe) Katharsis-
erklärung den Aristoteles als den unfehlbaren Kunstkritiker be-
trachten. So z. B. schi-eibt der Bernaysianer Alfred Freiherr von
Berger in seiner Abhandlung: ,,Walirheit und Irrtum in der Katharsis-
theorie des i\ristoteles" (S. 73): „Sie (= diese Katharsistheorie) vermag
den Ästhetiker sachlich nicht voll zu befriedigen. Diese Unbefriedigung,
unter dem Einfluß des scholastischen Vorurteils 2^) erweckt den
Wunsch, daß die Theorie nicht die des Aristoteles sein möge, und
dieser Wunsch ist der Vater all der Gedanken, mit welchen die zahl-
reichen Streitschriften angefüllt sind, die noch immer wider den
Stachel der medizinischen Auffassung locken."
Einen neuen heftigen Angriff auf Aristoteles hat in neuerer Zeit der
Bernaysianer Georg Finsler in seinem vielgelobten Buch ,, Piaton
und die Ai'istoteUsche Poetik" unternommen, indem er den Nachweis
zu erbringen sucht, wie sehr Aristoteles von seinem Lelirer Piaton
abhängt. Natürhch erscheint ihm und seinen Anhängern Aiistoteles
als ein geistiger Zwerg, Plato als ein Riese. Er betrachtet eben Plato
durch ein stark vergrößerndes Opernglas, während er bei der Be-
trachtung des Aristoteles das Glas verkehrt nimmt. „Aristoteles
darf eben nur aus sich selbst erklärt werden." Trotzdem aber Finsler
die Berechtigung dieses Satzes anerkennt, indem er auf S. 10 das
Vorgehen Vahlens lobt, daß dieser „flu- seinen Zweck mit vollem Recht
Aristoteles aus sich selbst erklärt und nur gelegenthch auf Piaton
hinweist, und wiederum mit Recht es an einer Stelle ausdrückhch
ablehnt, den Aristotehschen Text dm'ch Hinweisung auf Piaton
interpretieren zu lassen", schlägt er in dem erwähnten Buche gerade
den umgekelu-ten Weg ein, um herauszuklügeln und herauszutüfteln,
„was Ai'istcteles dem Piaton verdankt" und ,,was er aus Piatons
Anregungen gemacht hat". Auf diesem Irrweg gelangt Finsler zu
folgendem Ergebnis (S. 214): „Wir erkennen in den Abweichungen
der Poetik von Piaton, von dem sie in umfassender Weise abhängig
ist, die Resultate des Versuches, die Poesie für den besten Staat zu
-*) d. i. der Denknötigung, eine Frage für entschieden zu halten
durch einen autoritativen Ausspruch des Aristoteles; selbst Lessing war
nicht frei von dieser Neigung (S. 71)
9*
20 Stephan Odon Haupt,
retton. Es war der Erkenntnis des Wesens der Poesie nicht förderlich,
daß Aristoteles diesen Versuch gemacht hat. Gewiß verdient die
Poetik trotz ihrer Schwächen die Be^Mlnderung, die ihr die Jahr-
hunderte gezoUt haben, und daß sie lange Zeiträume hindurch fast
unumscliränkt geherrscht hat, ist bei der Tiefe und Feinheit ihrer
einzelnen Sätze wie bei dem geschlossenen und imponierenden Aufbau
des Ganzen wohl zu begreifen. Darüber jedoch muß man sich ver-
wundern, daß viele sie noch heute für das eigentliche Gesetzbuch der
Poesie halten können. Während die Wissenschaft seit der Renaissance
die Bande der Scholastik gebrochen hat, gelten die Ausführungen
der Poetik vielen noch immer als unantastbare Dogmen. Nicht
Aristoteles trifft der Tadel dafür, sondern die das tun. So manche
Wahrheit die Poetik unzweifelhaft enthält, so darf sie doch nicht über
die Poesie zu Gerichte sitzen. Reicht sie doch nicht nur flu- die großen
modernen Dichter nü-gends aus, sondern nicht einmal für die des
alten Athens. Als Lessing den Regelzwang der Franzosen zerbrach,
berief er sich auf Shakespeare und die Alten und Aristoteles war ihm
ein guter Helfer, aber nur, weil er mit dessen Gründen nicht fertig zu
werden wußte. Das war für ihn der rechte Weg und zeigt uns den
unsern. Den Dichter muß man fragen, was Poesie sei, und er gibt
bereitwilhg Antwort. Einen Dichter hat man bis jetzt \del zu salten
gefragt, und zwar einen großen, Piaton, weil man ihn bezichtigte,
die Grenzen der Poesie und der Politik verwirrt zu haben. Daß der
Vorwurf unhaltbar sei, dafür ist des Aristoteles Poetik der beste Beweis.
Auch Piatons Anschauungen sind keine Lehrsätze, aber sie sind, wie
wenig andere, geeignet, die unseren zu erweitern und zu vertiefen."
Finsler beruft sich auf Lessing, soweit er ihn braucht, und gibt
uns dann sein Arkanum bekannt: „Den Dichter muß man befragen,
was Poesie sei", und „Piaton ist ein Dichter", folglich: ..muß man
Piaton befragen, der gibt uns bereitwilhg Antwort". Allerdings ver-
gißt Finsler an dieser Stelle, daß der „Dichter" Piaton die Dichtkunst
aus dem Staate verbannt wssen will, da sie nach ihm nicht nur wert-
los, sondern sogar schädHch ist. Übrigens befrage man nur die Dichter
um das Wesen der Dichtkunst: ein jeder gibt freihch bereitwilhg
Antwort, aber eine jede Antwort ist verschieden. Bedauerlich ist
nur, daß sich auch ein so vorsichtiger Gelehiler wie W. Schmidt von
den Ausführungen Finsleis so einnehmen Heß, daß er in seiner
„Griechischen Literaturgeschichte" ihm durch dick und dünn Gefolg-
über die Wirkung der Tragörlie. 21
Schaft leistet. So sagt er S. 669: „Die Art von Aristoteles' Polemik
gegen den ^Meister ist, wenn man in Anbetracht zieht, in welchem
Umfang Aristoteles mit Piatons Gedanken Wncher getrieben hat,
und v\enn man Piatons Verhältnis zu Sokrates oder den Eleaten ver-
gleicht, höchst pietätlos". Und doch ist W. Schmidt zu entschuldigen,
daß er dem Sirenengesang Finslers erlag. Ich muß aufrichtig gestehen,
daß mir, als ich Finslers Buch wiederholt durchstudiert hatte, wenn
ich auch an Aiüstoleles nicht irre ^mrde, doch Plato übermenschlich
groß erschien. Denn wenn auch Aristoteles fast in allen Punkten der
Poetik andere Lehrsätze aussprach als Plato, so schien er doch nach
Finslers Ausführungen alle Anregungen seinem Lehrer Plato zu ver-
danken. Doch konnte ich mich nicht mit dem Gedanken vertraut
machen, daß gerade Plato der Erfinder all dieser Gedanken sei, weil
ich es für unmögHch hielt und halte, daß ein Dichtergenie über das,
was seine Seele vollkommen beherrscht, also über die Dichtkunst,
Aufschluß geben könne. Denn dazu gehört Reflexion und die ist im
Gerie nicht gut möghch, wohl aber im Talent. Und da Plato nach
dem übereinstimmenden Urteil seiner Zeitgenossen ein Dichtergenie
war-, so können che richtigen Ausführungen Piatos über das Wesen
der Dichtkunst nicht von ihm ausgegangen sein. Da leinte ich durch
Herrn Prof. Dr. Karl Mras in Wien den ,, Ethos" von W. Süß kennen
uikI wie Schuppen fiel es von meinen Augen. Süß bringt dort den
unwiderleghchen Nachweis, daß schon Gorgias in seiner ,, Helena"
die Gedanken Piatos über die Dichtkunst kennt, daß also nicht Plato,
sondern Gorgias oder wahi scheinlich noch ältere Gelehrte diese Ge-
danken durchgedacht habeix. So ist uns also Plato menschhch näher
gerückt und Finslers Buch hat nur mehr historisch s Interesse. Wenn
auch die Schlußfolgerungen, ehe Süß zieht, wie ich zeigen werde, nicht
richtig sind, so erklärt sich doch aus seinen Enthüllungen manches
bis jetzt Unklare.
Die Echtheit der unter dem Titel .^FAivriz lyxco^uov'' über-
heferten Schiift des Gorgias wd wohl von einigen Gelehrten, so be-
sonders von Spengel, Wiiamowitz, Gomperz bezweifelt. Blass kommt
in seiner ..Attischen Beredsamkeit" auf Grund einer eingehenden
Untersuchung über die Echtheitsfi'age der „Helena" zu folgendem
Schluß: „Man kann die Annahme einer Fälschung mit nichts widei-
legen. Und so mögen denn diese beiden Reden (des Gorgias, nämhch
die ..Helena" und der „Palamedes") unter dem Verdacht de. I^n-
22
Stephan Odon Haupt,
echtheit bleiben; ein entschiedenes Urteil zu fällen steht uns nicht zu."
x\uch w lassen die Echtheitsfrago offen. Aber das, was Süß aus der
„Helena" zitiert, spricht sehr für die Echtheit, weil ja auch Plutarch
in der Schrift „de gloria Athfcniensium" in Kap. 8 bezeugt, daß Gorgias
sich mit der Erldärung der Tragödie beschäftigt hat. Seine Definition
der Tragödie lautet bei Plutarch: „Die Tragödie ist ein wunderbarei
Ohrenschmaus und eine wundeibm-e Augenweide. Sie bewükt durch
die Erzählungen und Leiden eine Täuschung, wobei derjenige, der
durch sie getäuscht hat, gerechter ist, als der, dem diese Täuschung
nicht gelungen ist. und derjenige, der sich täuschen läßt, weiser ist
als der, bei dem die Täuschung rieht wirkt. "2') Doch auch Gorgias
ist wahrscheinhch nicht der Begründer dieser Definition, sondern,
wie Süß mtint, eher Thrasyniachos. Für uns von Wichtigkeit ist das,
was Süß in seinem „Ethos" über die Wkkung dei Tiagödie vor-
bringt (S. 83 ff.), was ich aber nur stark verkürzt wiedergebe. „Die
rednerische Wkkung", sagt Süß, ,, sucht Gorgias in seiner Helena 8—14
aufzuhellen. Ganz im allgemeinen wd zunächst als Wirkung des
Logos angegeben: qößor jruvoai, AvjTf]v dffeXür,yaQav IvEQYa^aoihu,
IXeov Ijravsi'iöca, und schheßhch folgt die zusammenfassende
Stelle: rov avzov öl Xoyov lyu /j re zov Xoyov dvvafug .tqoq Ti)r
T/'/g ^w/j/c räsiv /y t£ rcov (paQuäxfov rd^ic jrQog Tt]v riör öiDij/cTcov
cpvoiv. ojOjieq yd() zdir (faQ(.idxcov dXlovq ulla yvfiovg tx vor
öojuarog Is^r/u xal rd (ilv voöov, xd 6\ ßiov jcaisi, ovtco xid rmv
Xdyoyv ol [ilv eXv^rr/aar, ol Öe stSQipar, ol Öt Iq^dß/jOcu-. o/ de
eig {>-dQaog xaT£OT/]Gav zovg dxovovtag, ol dl :jTud-oi riri xaxfj
rrjv ipryj/v IffaQjidxsvaav xal es^yo/jrevOav. In diesen Aus-
führungen haben wir nichts weniger als die Lehre von der
xdOaQOig -iad-t]iidTcov, wie sie uns Bernays verstehen gelehrt hat,
und zwar ist hier alles, was bei Aristoteles infolge des Zustandes der
Übcrheferung abrupt ist und die Quelle vialer Mißverständnisse in
der wetteifernden Interpretation vielei Jahihunderte abgegeben
hat, klar, da das secundum comparationis mit drastischer Anschauüch-
keit ausgeführt ist. Zugrunde liegt die Vorstellung der Humoral-
pathologie, daß sich in dem Körper verhaltene yv(toi (Säfte) stauen
und die Ursache von Beschwerden werden. Wie unsere Altvorderen
-') i'aiiv Oi'i'TQuycodfu ßui'iJUGTor dxooa/iu xul ß^tafiu, TruQuaxovGa
loTc fjvftoig xal loTg rrddiaiv (Indri^v, i]v ö n dnnDiaac. öixuioTfitog rov
fji] d7Tuni]Gu.viog. xal ö dnaTijd^dc aoifiöiegog tov fn] dnan]i}i:rTOZ. ...
über die Wirkung der Tragödie. 23
zur Fiühjabiszeit ein „blutreiiiigendes" Mittel anwandten und sich
eine frische fröhhche Laxation verschafften, so erfüllen die griechischen
(pccQimy.a ähnhche Piugationszwecke, aXlov< v.lla t^t'r/ei, yvitovc,
d. h. ein jedes Tränklein seinen zugehörigen, Gebresten verui'sachenden,
bösen Humor. Die genau entsprechende Wirkung (övvcquc) des
Logos wd an verschiedenen Beispielen veranschauHcht. Dabei ist
jedoch zu beachten, daß das Grundprinzip überall das gleiche ist,
daß aber Gorgias diese Möghchkeit der Variation benutzt hat, um
verschiedene Seiten des Vorgangs anschauhch zu machen. Wii be-
ginnen mit der jcoh/öig. Fremdes Leid (die f/aQ^taxa) wird ein-
geführt {(ha TV)v Äoycor) in das Bewußtsein, der Hörer erlebt es als
Uior Jüdd^yfia, d. h. die entsprechender, in seiner Bewußtseins-
disposition aufgespeicherten Spannungen erlel)en durch diese Kur
eine Auslösung. Ausgerechnet ffoßog und tÄsog werden dabei genannt
und es scheint, daß Gorgias hier vorzugsweise die Tragödie im Auge
hat, der ja auch seine anderwärts überlieferte Definition galt. Be-
zeichnenderweise nennt der Autor der Helena die Auslösung des
ffoßog eine f/olz// rrsQiffoßog, die des ^'/foc einen .i:olr()rcx()vg.
Er deutet damit die motorische Form der Entladung des vorhandenen
Reizes an. Die Entladung einer Spannung ist unter allen Umständen
mit einem Lustgefühl verbunden. Man kennt die Wollust der Träne.
Dieser Sachverhalt w^ird durch das jr6{)-ag r/)/2o.7r£rö-;/c veranschaulicht,
die süße Sehnsucht des sein Leid Äußernden ist der Grund des Ver-
gnügens an tragischen Gegenständen. Es ist die xäfi-aoöi^ tcör
.^aß'ijfi/jTcov Öiä Tcöv roiovrcor jtad-rj^fc'xojv gemeint. In dem zweiten
Beispiel ist der berückende Zauber des einlullenden Zaubergesanges
das (pdQfiaxov. Es verbindet sich mit einer vorhandenen, zur Aus-
lösung di-ängenden Disposition der Wünsche, der do^a^ Der Erfolg
ist die Fieiwerdung eines gewissen Affekts, den der beeinflassende
Logos gerade haben \^ill. In dem angeführten, zusammenfassenden
Schlußsatz wird als solche früher gebundene, nun dm'ch den Logos
entfesselte Erregung Schmerz. Freude, Furcht und Mut genannt.
Die Wirkungen der Poesie sind also die gleichen wie die der lebendigen,
überredenden Rede, soweit die QuaHtät und der Prozeß ihrer Genese
in Betracht komnit. Aber die Poesie ist wie der Xoyog yQccjTTog der
Technogiaphen nm' /(linjoig, mu" v'm schönes Abbild. Ungleich höher
steht für Gorgias und seine Schule die Wirkung der lebendigen, nüt
dem xcuQÖg gesprochenen Rede Auch Plato behandelt die
24 Steplian Odon Haupt,
Poesie als Logos. El xia .-rsQitXoiro r/^j rrot/'/tUroc .-räot/j: tö rt
inkog y.cd ror (n'fhffov y.fu t6 ittTQor, aXlo ri /j /.dyoi yiyvovrcu
To leiJiöftevor; (Gorgias 502 c.) Mit der Rhetorik fällt auch die Poesie
beiPlato demselben Verdammungslirteil anheim. Sie unterliegen ja, wie
Ol mit Gorgias glaubt, denscll)en Gesetzen der AVirkung. Sie müssen
nach Gorgias Schmeichelkünste sein, d. h. sie erreichen ihre Wirkungen,
indem sie den vorhandenen Dispositionen des Hörers durch gleich-
artige (focQ/fccxa beikommen und ihm ein wohliges Gefühl der Auslösung
verschaffen. .hjiniyoQia uQa rig lörir /) rroi/jTixf'j. ovxoZr (hjtoqixii
(hjfaiyoQia äv shy, (Gorgias 502 D.) ]\Iit Hilfe des Alkidamas
gelingt es, die auffallende Betonung der itii/fjou: in der Poetik ins
rechte Licht zu stellen. Da die lebendige Rede ein C^7or ist, so ist
der Redenschreiber ein ^ory^dcfoc. Die geschriebene Rede gleicht
einem Standbild, einem Gemälde. Ebenso wird die geschriebene
Rede bei Allddamas, Plato und Isolvrates mit einem .to//;//« ver-
ghchen. Dichter und Maler stehen also in einem, ähnhchen Verhält-
nis zum Leben selbst. Li unzähhgen Variationen wiederholt die Welt-
literatur den peripatetischen Vergleich der Komödie oder des Dramas
überhaupt mit einem speculum vitae, woflü" auch noch imago veritatis,
imitatio cousuetudinis eintritt. Dieses zu weltnistorischer Berühmt-
heit gelangte Schlagwort ist nun gar nicht peripate tisch, sondern
mindest alkidameisch, der Sache nach gorgianisch, u. zw. gestattet
uns ein glücklicher Zufall der ÜlDerheferung gerade die bezeichnende
Duphzität der rhetorischen und der poetischen Verbindung zu kon-
statieren. Nach dem Zeugnis des Ai-istoteles (Rhetorik 78, 1406^12)
nannte Alkidamas die Odyssee einx«/or cwfhQoj.^irov ßiov y.ärojitQor.
und anderseits sagt er am Schluß seinei Sophistenrede (§ 32) bei der
Hervorhebung der rJativen, mnemonischen Bedeutung der Schi'ift:
Eic öl ra yQccjJiiaTa yMTiöovrag ojöjteg Iv yaTo.TTTQco BeroQriOai Tac
rrjg tpvy/jg L-rriddoHC (»aöior loriv Die lebendige Rede ist ein
Cr'joivalso muß auch ihr Spiegelbild, die gesclu'iebene, wenigstens, so^Yie
das Standbild und das Gemälde der dargestellten Person ähnelt,
Kopf, Hand und Fuß hat, eine övöraoig sein. Kööiing und rd^tg
sind Liebhngsworte der gorgianischen Helena aus dieser Grund-
anschauung heraus geworden. Diese Forderung erscheint im platoni-
schen Phaidros in einem verschiedenen Zusammenhang, einmal bei
der Ivritik des Lysias {dür mcrra löyor foOJteQ Comr orrsOrarai
Oöjfia Tt r/orra avror avrov, Sojrsi) jn'jTt äyMfcÜJW dvai in'/Ts
über die Wirkung der Tragödie. 2
(crrovr. a/./.a ^itoa t lyuv y.ul ('r/.Qa, .7r(>t::Tor r (U.y.t'j'/.oi^ xai tv)
oX(o '/r/Qo.itiiü'a, [264 c]j, dann bei der scherzhaft herangezogeneu
Technik der Tragödit, aus der Sokrates das t« ohl-aqu iiEydkcoQ xal rä
ifsyala OfiixQcög xoiEiv fficiveodai und den tlsog und rpoßog erwähnt,
worauf Phaichos erwidert: -xal oizoi (^offoxl/jg xal EvQiJciötjg)
av, CO ^oTXQatsg. oiffcci, xaraysyMei', ei rig olszat TQayoiÖucv cOJm
Ti eivc.i fj Tf'/r tovtojv övOtuölv, JtQtxovOav dXlrj)jOig rs xal t<ö
oXfo Go'iüTdfjsrov. (268 D.) An beiden Stellen ist an anderer
Stelle und aus anderen Voraussetzungen Gorgias als Quelle erwiesen.
Mit dieser Forderung der ovoraaig gewinnen wir ein neues, Poetik
und Rhetorik gemeinsam umschlingendes Band."
Was Süß tatsächlich Neues vorbringt, ist also folgendes : iiiinioig,
Ovovaoic. T&/.siog, iir/td-og i/ovija, tjöiujfavog Xöyog, iiIt^ov
t'/eiv, xdTi: To eixcg rj xo uvayxalov, oZog, vor allem aber die
medizinisch-therapeutische Katharsis sind Ausdrücke, die schon
vor Plato von Gorgias und seiner Schule durchdacht und zur
Erklärung des Logos sowe des Diamas herangezogen wurden.
Nicht mit Piatons Gedanken hat also Aristoteles, wie Finsler
und Schmidt glauben. Wucher getrieben, sondern Plato und
Aristoteles fanden die Bausteine für eine Poetik schon vor und
was hat jeder der beiden daraus gemacht? Plato wirft auf Grund
des Vorhandenen alle Poesie aus dem Staate, Ai'istoteles schafft ein
für alle Zeiten und Völker gültiges Lehrgebäude, das leider nur ver-
stümmelt auf uns gekommen ist und daher Mißdeutungen ausgesetzt
war und ist. Was Plato zu seinem vernichtenden Urteil über die
Poesie veranlaßt hat, ist dmch Süß klar geworden. Es ist dies die
von Gorgias oder einem Vorgänger des Gorgias erfundene medizinisch-
therapeutische Katharsis. Daß Gorgias schon den Auschuck „Katharsis"
dafür gebraucht hat, ist aus der Pohtik des Aristoteles, wie wir sehen
werden, oifenkundig.
Dank der ,, Helena" des Gorgias und dem ., Ethos" von Süß sind
wir nun in der Lage, konstatieren zu können, daß die Frage nach
dem „Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen" schon
vor Plato unter den führenden Geistarn der Griechen vielfach erörteit
worden sein mußte. Denn Gorgias darf nicht als der Anfaag, sondern
maß als das voiaristoteüsche Endghed der wissenschafthchen Unter-
suchungen über die Wijkung der Tragödie angenommen werden.
Es bleibt das unbestrittene Verdienst Bernays', daß er, ohne die
2G Stephan Odoii Haupt,
„Helena" des Gorgias zu kennen, — denn wer würde in ihr dij thera-
peutische Katharsis vermuten und suchen? — selbständig auf diese
Erklärung gekommen ist, die, mag sie noch so unappetithch sein,
doch etwas Bestrickendes an sich hat und daher trotz ihrer Schwächen
und UnzulängMchkeiten doch von den meisten Gelehrten als richtig
angenommen wird.
Gegen diese Gorgianische Auffassung wendet sich nun Plato.
Sie ist so treffend, so packend, so überzeugend, daß er jeden Wider-
stand aufgibt. Da er aber, der Ästhetiker katexoehen, sich anmögüch
mit ihr abfinden kann, so muß er natüi'lich alle Poesie aus seinem
Staate verbannen. Blutenden Herzens nimmt er sogar von seinem
LiebHng, dem alten Meister Homer, Abschied, — auch der muß hinaus.
Nur Hymnen auf die Götter und Preisheder auf Helden dih-fen in
seinem Staate erschallen. Denn nur an eine derartige Poesie reicht
die „verruchte Katharsis" nicht heran.
„Trotzdem aber soll es gesagt sein," sagt er im Staat X., 8. 607 C,
,,daß w, wenn die niu' zur Unterhaltung dienende Dichtkunst und
das Theater nur irgend einen Grund angeben könnte, daß sie in einem
wohlgeleiteten Staat eine Existenzberechtigung hat, sie gerne auf-
nehmen mirdon; wir lassen uns ja gerne von ihr bezaubern; doch
unfromm wäre es, das, was uns wahr erscheint, preiszugeben. Oder
wirst nicht auch du, o Freund, von ihr bezaubert, zumal wenn du sie
mit den x\ugtn Homers betrachtest? Verdiente sie also iiicht zm'ück-
zukehren, damit sie sich verteidige im Liede oder in einem anderen
Versmaß? Ja, wir möchten sogar* wohl auch ihi'en Verfechtern, soweit
sie nicht selbst Dichter, sondern niu* Musenfieunde sind, gestatten,
in einer Kede für sie einzutreten, daß sie nicht nur dem Vergnügen
dient, sondern auch für den Staat und das menschliche Leben von
Nutzen ist." Diese von Plato sehnsüchtig verlangte letzte Kettung
der Poesie hat sein Schüler Aristoteles pietätvoll vorgenommen. Wenn
aber Plato, wie nach den Ausführungen von Süß klar ist, gegen die
Gorgianische medizinisch-therapeutische Auffassung von der Wirkung
der Tragödie polemisiert und auf Grund derselben zu seinem Ver-
danmiungsurteil der Poesie kommt, kann da Aiüstoteles wieder die
medizinisch-therapeutische Wirkung ins Treffen geführt haben,
konnte er überhaupt von einem neuen Terminus „Katharsis" sprechen,
wie er es in der Politik tut, wo er außerdem, ^^^e w sehen werden,
ausdrücklich gegen die Gorgianische Katharsis polemisiert^
über die Wirkung der Tragödie. 27
Nach Zeller micl Gomperz, deren Meiiiimg ich mich hierin an-
schüeße, hat Aristoteles am Ende seiner Laufbahn nach der Abfassung
seiner Pohtik und vor jener der Rhetorik seine Lehi'vorträge über die
Dichtkunst endgültig in einem Werke zusammengestellt. Wenn aber
die Poetik das vorletzte und die Rhetoiik das letzte Werk des Aiistoteles
ist, so ist es ein nutzloses Bemühen, die in der Poetik vorkommenden,
von der sonstigen Verwendung abweichend gebrauchten Worte aus
den früheren Werken des Aiistoteles oder gar aus Plato oder aus
noch älteren Philosophen erklären zu wollen. Denn es steht fest.
daß er nur in den seltensten Fällen etwas von seinen Vorläufern \nder-
spruchslos annimmt, fast im.mer benützt er sein von ihm erfurdenes
Organon als den Prüfstein für die Ansichten seiner Vorläufer und
diese Prüfung fällt natü/hch in der Regel schlecht aus ; denn vor ihm
waren eben solche Definitionen und schematische Zusammenfassungan,
wie z. B. eine Poetik, gar nicht möghch, daher auch bei Plato und
Gorgias nur eingestreute geistreiche Bemerkungen über die Poesie,
aber nichts Zusammenhängendes zu finden ist.
Daß ich mich der Ansicht von ZeUer-Gomperz anschließe und
nicht der Immisch-Süßischen: „Aristoteles schrieb seiuo Poetik als
Ergänzung der Rhetorik, und als mit der Rhetorik zusammenhängend
hat sie in der Tradition des Orients ein Glied des Organon gebildet '^s),
hat seinen Grund im folgenden:
Erstens spricht alles, was Eduard Zeller in seiner „Philosophie
der Griechen"^^) anfühi't, für die Reihenfolge „Pohtik, Poetik, Rhetorik"
und nichts gegen sie. Außerdem ist mü' aber folgender Umstand maß-
gebend: Aristoteles hat im 8. Buch seiner Pohtik die Jugenderziehung
abgehandelt. ,,Der heutige Jugendunterricht", sagt er dort in Kap. 3,
„umfaßt etwa folgende 4 Gegenstände: Grammatik, Gymnastik,
Musik und hie und da auch Zeichnen; die Grammatik und das Zeichnen
als nützhch für das Leben und vielfach zur Anwendung kommend,
die Gymnastik als geeignet, den männlichen Mut auszubilden. Was
die Musik aiüangt, so werden über ihre Nützhchkeit schon Zweifel
erhoben; denn die meisten treiben sie heute nur zum Vergnügen."
(St.) Sein3 eigene Ansicht über die Lehrgegenstände hat er
einige Zeilen früher ausgesprochen. „Man weiß durchaus nicht, ob
-^) Immisch, PMlologus L\'. (1896) p. 20.
-9). II. Teil, -2. Abt., S. 107 und 130.
"28 Stephan Odon Haupt,
man die Ivinder in dem nnterrichten soll, was sie für das praktische
Leben branchen, oder in dem, was sie znr Tngend hinleitet, oder
endUcli, ob raai sie darüber hinaus auch in den höheien spekidativen
AVissenschaften unterrichten lassen soll. Jede dieser Ansichten hat
ihre Verteidiger gefunden Hiei ist nun so^^el geuiß, daß unter
den nützlichen Dingen diejenigen gelehrt werden müssen, welche
notwendig sind, aber auch diese nicht alle ohne Ausnahme. Da die
Beschäftigungen in solche zerfallen, die einem Freien wohl anstehen,
und in gemeine Arbeit, so wd die Jugend aus dem Gesamtgebiete
nützhcher Tätigkeit nur diejenige üben, die sie nicht herab^vlirdigt.
Für herabwüi'digend aber ist jede Tätigkeit, Kunst und Wissenschaft
zu achten, welche den Leib, die Seele oder den Verstand freier Menschen
zur Anwendung und Ausübung der Tugend untüchtig macht." (St.~i
Weiter sagt er in Kap. 3: ,, Jeder wählt sich seine Unterhaltungen
nach seiner .Tndi\äduantät und Beschaffenheit ; aber dei beste Mensch
wählt die besten und trachtet nach denjenigen, welche aas der reinsten
und edelsten Quelle fheßen. Aus chesem Unterschiede erhellt die
Notwendigkeit jener Forderung, daß man auch für den Genuß der Muße
manches zu lernen habe, daß für ihn eine gewisse Bildung erforderhch
ist, und man begreift ebenso leicht, daß die hieher gehörigen Bildungs-
mittel mitsamt dem Unterrichte sich selbst Zweck sind, wälirend die
zm" Geschäftstätigkeit vorbereitenden als notwendige anderen Zwecken
dienen." (St.)
Mit Ausnahme der Musik erörtert ^Aristoteles im weiteren Ver-
laufe des 8. Buches nichts über die Künste und Wissenschaften, die
herab^^1^•digend oder veredelnd sind, also der Jugend gelehrt oder
nicht gelehrt werden sollen; ja, auch bei der Musik vermißt man
manches. Wenn aber seine Erziehungslehre vollständig sein und
reformierend wirken sollte, dann mußte er seine angedeuteten Forde-
rungen begründen und dies konnte er nur in einer Kunstlehie einer-
seits und der Khetorik anderseits, — die Kunstlehre als Luxusbildungs-
nnttel, also Selbstzweck, die Rhetorik als zur öffentüchen Tätigkeit
vorbereitend, zu einem außer ilu" hegenden Zweck, also Mttel zum
Zweck. Da aber der Schluß des 8. Buches der Politik mit Xotwendigkeit
zur Kunstlehie hinüberleitet, so folgte jedenfalls als 9. und 10. Buch
der Pohtik die Kunstlehre, wobei das uns erhaltene unvollständige
Buch über die eigentliche Poetik — es fehlt ja in diesem zumindest
die Abhandlung über die Komödie und den DitlATambos — natürhch
tiber clie Wirkung der Tragödie. 29
nur das 10. gewesen sein konnte, als 11., 12. und 13. Buch der Politik
die Khetorik. In dieser sieht man deuthch, daß Aristoteles die Jugend
vor den Ausmichsen der Rhetorik warnt. Denn die Afterrlietorik ist
wie die Afterkunst herabwürdigend und macht Leib, Seele und Ver-
stand zur Anwendung und Ausübung der Tugend untüchtig.
Daß dem wldich so war, dies bestätigt das Verzeichnis der
Aristotelischen Schriften nach Ptolemaeos Chennos (aus dem Arabischen
übertragen von Maur. Steinschneider).
Dort folgen auf die logischen Schriften I^r. 25^ y.artjyoQuu a
bis Nr. 29 ooffiOTixol tÄey/oi a zunächst Xr. 30 ?j{hx(J5r {isyäXoyv ß\
Xr. 31 rjdiy.cöv Evör/ftsicor rf, dann Nr. 32 -co/utc/ccöv ?/, hierauf
Nr. 32 ^ T&yrr/g rrou/Tixr/j: ß' und Nr. 33 rt/rr/c otjzoQix/jg y'.
Der vielgeschmähte Ptolemaeos Chennos (er lebte um 50 n. Chr.)
hat uns, unbeeinflußt von Andronikos von Rhodos, der um 50 v. Chi',
lebte, wohl die ursprüngüche Anordnung der Aristotelischen Scluiften
überliefert^".; allerdings ist Poetik und Rhetorik von der Pohtik
schon getrennt, die Poetik aber in charakteristischer Weise mit der-
selben Nummer wie die Politik bezeichnet. Eist Diogenes Laertius
(um 200 n. Chr.) und Hesychios von ililet (um 530 n. Chi-.) haben
vielleicht die Ausgabe der Aristotelischen Schriften, resp. die Neu-
einteilung derselben durch Anckonikos von Rhodos benützt und sind
ihr gefolgt. Aber auch bei diesen beiden finden sich Poetik und
Rhetorik noch nicht bei den logischen Schriften, wohl aber steht die
Poetik nach der Rhetorik, ist ihr aber nicht angehängt. Bei Diogenes
Laertius ist die Ethik unter Nr. 38, die logischen Scliriften sind unter
Nr. 48—60, Nr. 75 ist die Politik 7/, Nr. 78 die Rhetorik "j^, Nr. 83
die Poetik ß: bei Hesychios ist die Ethik unter Nr. 39, die logischen
Schriften sind unter Nr. 46 — 59, die Pohtik // unter Nr. 70, die
Rhetoiik 7' unter Nr. 72, die Poetik ./ unter Nr. 75. Erst die Philosophen
des 6. Jahrhunderts nach Chr. teilen die Aiistotehschen Schriften
in der 2. Vorbemerkung zum Kommentar zu den Kategorien nach
dem Vorgang des Porphyrios und Ammonios anders ein^^), u. zw.
^^) Dies zeigt besonders deutlich schon die Reih^■Dfolge Ethik,
Politik. Es fehlt wohl die Nikomachische Ethik, deren letzte^ Buch klar
und deutlich den Zusammenhang mit der Politik im Schlußkapitel (^v?)
ausspricht, doch schon der Umstand, daß auf die Ethik überhaupt die
Politik unmittelbar folgt, spricht dafür, daß Ptolemaeos die Aristotelische
Reihenfolge einhält.
31) Ygl. Littig, Andronikos von Rhodos, 1890, S. 43.
30 Stephan Odon Haupt,
Pliiloponos, ohne Poetik und Rhetoiik zu den logischen Schriften
zu rechnen, Simplikios führt hei den logischen Schriften schon die
Rhetorik an, aber noch nicht die Poetik, erst Elias (David) und
Olympiodoros rechnen auch die Poetik zu den logischen Schiiften^s),
nnd al-Ja-'qübi, ein arabischer Geschichtsschi-eiber des 9. Jahrhunderts,
zeigt in seiner Inhaltsangabe der Aristo teüschen Schriften vnter
A. Xoyixa folgende Reihenfolge: 1. xaTyyoQicu, 2. jt^qI tQ(iriri:iac,
3. draXvTiyM, 4. il-rothiy.tix/c, 5. rocrixä, 6. Goffiarr/M, 7. (njTOQiyM
frj'), 8. jroLrirr/M ()]'), er folgt also bis auf die Umstellung von 6 und 7,
und auf die sonderbare Angabe von 7 Büchern der Rhetorik und
Poetik der Einteilung des Elias (David).
Daraus folgt, daß nicht Ai-istoteles und seine Nachfolger, abe:
auch nicht Andronikos von Rhodos nnd seine Nachfolger, sondern
erst die syrischen Philosophen des 6. Jahrhunderts nach Christus
dazu gelangt sind, indem einer den anderen in den Erklärungen iil)er-
trumpfen wollte, die Rhetorik und später auch die Poetik zu den
logischen Schriften zu rechnen. Da aber, ^vie ich bereits in der „Lösung
der Katharsistheoiic desAiistoteks" gezeigt habe, nur die eigentüche
Poetik dazu verwendbar war, so hat einer vo.i ihnen das erste Buch
der Poetik, welches alle anderen Künste behandelte, von dem 2., der
eigenthchen Poetik, getrennt und so den Verlust dieses Buches ver-
ursacht.
Wähi-end Ammonios (im 5. Jahi'hundert n. Gh.), der Lehrer des
Philoponos und wahrscheinlich auch des Simplikios, noch beide Bücher
der Poetik in seinem Buch „De interpr. Schol." zitiert, indem er
dort 99 a 12 Jr rol^ .-rfQi .-xoirinySjJ' schreibt, desgleichen
auch Boethius (gest. 524 n. Ch.) in seinem Buch „De interpr." 290
ausdrücklich in „libris, quos de arte poetica scripsit" sagt, wobei
man keineswegs, wie Zeller meint, annehmen muß, daß sie Älteren
nachschreiben, nennt Elias (David), sowie Olympiodoros nm* mehr
das eine Buch der Poetik. Ich habe in meiner „Lösung" die beiden
bei Olympiodoros und Elias (David )ange wandten Ausdrücke „txxa-
d^a'iQovra'' und ijtoövciieva' identifiziert; das ist aber nicht
=*-') und zwar Elias (David) mit folgenden Worten: „rä di vttoÖv-
6!iiva avrijv ttJi' dn6dsi,'S.iv elGi^ tu tottixo., al QrjTOOixm liyvai, ol Gocpißri-
•/.ot tleyyoi, y.(u ro tt^qI 7roi.)]Tix~]c", bei Olympiodoros heißt es:^ „txxa- .
S^uCoovai öa Tt]r fjiüod'or ol aotpiarixot t7.ey/o( xal ol tÖjtoi xcd ui orjroQi- f
xal Tiyrai y.ut tö Ttegt Troirjnxijc tu xuXovfiaror".
über clie Wirkung der Tragödie. 31
richtig, beide haben sogar eine entgegengesetzte Bedeutung. Der
erste von den syrischen Kommentatoren, der den Ausdruck
.,vjroö'ioi/a(" anwendet, ist Philoponos. Nachdem er nämhch die alo-o-
amatischen Schriften des Aristoteles in theoretische, praktische und in
das Organon geteilt hat, — die theoretischen enthalten die Entscheidung
über Walu- und Falsch, die praktischen über Gut und Schlecht, —
fügt er folgenden Satz ein ^3): J)q, aber die Theorie manches als
Wahres einschmuggelt, was nicht wahr ist, und ebenso die Praxis
manches nicht Gute mit der falschen Marke ,.o-ut" einschmusrffelt,
so bedürfen wir eines AVerkzeuges, um solche Schmuggeleien zu er-
kennen. Und das ist der Beweis."
Philoponos ghedert dann die theoretischen Werke in die theo-
logischen, mathematischen und physiologischen, die praktischen
Werke in die ethischen, ökonomischen und politischen; das Or-
ganon enthält 1. die Zerghederung dessen, was zum wissenschaftlichen
Beweis fülu't^^), und zwar versteht er darunter die Kategorien, die
die Satzglieder behandeln^^), ferner die Hermenie, die die Vorder-
sätze abhandelt^^), sowie die erste Analytik, die die Behauptungs-
sätze enthält^^), 2. den eigentüchen wissenschaftlichen Beweis^^),
3. die sophistischen Beweise^^). „Denn so wie die Äi-zte ihi'e Kunst
der studierenden Jugend vortragen und zugleich mit den Heilmitteln
auch die Gifte erwähnen, damit sie die ersteren anwenden, die letzteren
fhehen, so sclu-eibt auch Aristoteles, da die Sophisten den Freunden
der Wahrheit Fallstricke legen, indem sie sie durch ihre sophistischen
Beweise von der Wahrheit ablenken wollen, die sophistischen Beweise
■'^) „dlV ijrfiSi] Tu i9HüOPjt,xdv vnoövnat rivu lug (D.r^d^TJ fiiv ona,
in] ovTU Jf dXrid-ri, y.ul ttquxtixo}' (\aotwc rird t(o rov dyad^ov y.^yomafiiva
ovü/JUTO fj/rj OVTU dyud^d, dn i^^lv ogyarov th'cc jov öiu.y.otrovTOC rd toi-
avTu. TC de tau tovto; uTrodeihg."' „viroövo^ui" und „yqoit^u)'' sind
tropisch angewendet. ,,vnodvoi^w.i" entspricht unserem „einschmuggeln",
,,;/(»tJt,'w" dem „Färben" (zur Täuschung), ,,übertünchen'^
*) rd [jsv eig rd Tregi rwr uQyjZv rrjg ^u,a&vSov.
^) rd ör(jf.i,aTU fiir ovr xat rd. oi]ii,axa öiöd'S.ovavv ul xarrjyooCai.
"j rag ös TtgoraGaig xo ttsov tofirivstag.
^0 rov Ob xad-dXov CvXkoyiGfiov id jvooTfQu dvalvrixd.
■^^) die ,,6£vTsgu urulvTixa avTr]v '^f/ug diöd'^n z?]»' pi&odoi'j romfCTt
Tvv d.7To6(iXTCxw av'/SLoyia^iöv".
■^^) GoffiGiixot Gv7J.oytafwC.
34^
35
36^
32 Stephan Odon Haupt,
nieder, damit wii- uns vor ihnen hüten''"). Ans dem dieser Stelle fol-
genden Schluß ersieht man, daß diese Einteilung von Philnponos
selbst erfunden ist, denn er verteidigt sie gegen Einwendungen anderer.
Das Eine ist klar, daß er die Poetik und Rhetorik nicht zu den logischen
Schi'iften, die er sämthch namenthch anführt, rechnet. Da er die
theoretischen und praktischen Schi'iften nicht namentlich anführt,
so läßt sich nicht entnehmen, zu welcher Gruppe er beide rechnet.
Auffallend ist, daß Philoponos die von Andi'onikos als unecht ver-
worfene Hermenie anführt, dagegen die Topik nicht erwähnt.
Sein Rivale Simpükios rechnet schon die Rhetorik zu den lo-
gischen Sclu-iften; auch erwähnt er bei den logischen Schriften die
Topik, dagegen finden wh auch bei ihm die Poetik weder bei den theo-
retischen noch praktischen Werken. Bei den logischen Sclu-iften be-
hält er bei den 2 ersten Gruppen die Einteilung des Philoponos, aller-
dings umgestellt, bei, indem er sagt: „Zum Organon gehören 1. die
Sclu-iften über den eigentlichen wissenschafthchen Beweis'*^). 2. die
Schriften, die zum wissenschafthchen Beweis fühi-en, als da sind
die erste Analji^ik, die Hermenie und die Kategorien^^y-. ^yäiu-end
aber Philoponos den Ausdruck „vrroöcoin'.r' nicht bei den lo-
gischen Schi-iften anw^endet, sondern bei den theoretischen und prak-
tischen, gebraucht Simplikios dieses Wort für die logischen Schriften,
die den streng wissenschafthchen Beweis zu verdunkeln suchen, indem
er sagt: 3, ..die Schi'iften, die unter dem Deckmantel des ^Aissenschaft-
lichen Beweises sich einschleichen, als da sind die Topik (= der Wahr-
scheinlichkeitsbeweis), die Trugschlüsse und ihi-e Widerlegung und
die Rhetorik^-^)." Offenbar ist Simphkios mit dieser Einteilung in
gesuchten Gegensatz getreten zu Philoponos. Dieser hat das allge-
mein übhche Wort „vxodvofica'-, weil es ihm gerade paßte, ange-
40) ä'/ld nakiv wGirto o/ laTooi z« haoixd iraQuöidiiVT^z to^c vtoic
d^£u)0)jn/.ju fjbtiJri]VTUO avr lolg okpslorGi /.ui rwv ör,h]T)]oiwv vntn tov tu
fi(r i'uTv T« da (pvyeTv, oinix) xat iVTuld^u, tTist^rj oi GocpiaTcu Trody^aia
Tiuoiyovai JOiQ TTJc dh]&(iuc tcpsvosratc, ao(pi6Tiy.oTz tiGi Gv'/J.oytGfJO^c
avToig l&fLovTsg -nuQaxqovBGd^ai, /gdtpei xai tovjovz ö (ptlÖGocfog. 'ivu
(fivywper uvrovc.
") TWJ' öh doyarixiZv rd ,ua' TTfoi uvrr^g tGJi Ji]g d7rodaixjrxr;C
fitd^oöov.
4-) 7« da naol nZv tvou cuir^g wg rd Trooraou dru7.vTixd xai id Treoi
aQfJH]va(ag -/.ut a'i xuTr]yoQiui..
") rd da Tiaql Twr ii]r äjToSaiivv vnodvojxavoiv, wg ol tÖttoi xai oi
GocpiGTCxot D.ay/oi, xut al mjioqixal rap'ut.
über die ^\'irkiiug der Tragödie. 33
wendet. Siniplikios dagegen muß es bewußt in polemischer Weise
aus einer der Schriften des Ai*istoteles entliehen haben, um die Ein-
teilung des Philoponos herabzusetzen und seine eigene zu rechtfertigen.
In der Tat finden wh in der Ehetorik des Aiüstoteles alles wieder,
was wir bei Simphldos gehört haben; erstens, daß die Ehetorik
zm* Politik gehört, zweitens, warum Simplikios sie zu den logischen
Schriften rechnet. Im 2. Kapitel des 1. Buches der Ehetorik heißt
es: „So ergibt sich denn, daß die Ehetorik, sozusagen, eine Art von
Nebenschößling ist aus der Dialektik (= Topik) und aus der Ethik,
die man mit Fug imd Eecht eine politische Wissenschaft zu nennen
hat. Darum hüllt sich denn auch die Ehetorik und die, welche mit
dieser Kunst Staat machen, in das Gewand der Politik, wovon bald
Mangel an Bildimgseinsicht, bald Eitelkeit, bald andere menschliche
Schwächen die Ursache sind. In Wahi'heit nämlich ist sie ein Teü
und Seitenstück von der Dialektik (= Topik), wde wir gleich zu An-
fang gesagt haben." (St.)**) Dort heißt es nämhch: ,, Drittens ist
es nötig, daß man imstande sei, entgegengesetzte Ansichten zu ver-
fechten, gerade wie auch bei den Syllogismen, nicht um davon prak-
tischen Gebrauch zu machen, — denn kein Ehi'enmann darf das
Schlechte verfechten, — sondern einmal, damit wh wissen, wie man
es macht, und sodann, damit wh, wenn ein anderer solche Gründe
zum jVachteil der gerechten Sache anwendet, unsererseits die IVIittel
haben, sie in ihrer Nichtigkeit aufzuzeigen. Von aUen anderen Dis-
ziplinen unternimmt es freilich keine einzige. Entgegengesetztes
gleichmäßig diu-ch Schlüsse zu beweisen; die Dialektik und die Ehe-
torik sind die einzigen, welche dies tun, denn beide begreifen, die eine
wie die andere, das Entgegengesetzte in sich. Aber freilich, die der
Behandlung zu gTunde liegenden Tatsachen verhalten sich nicht
auf dieselbe Weise, sondern hier sind immer das Wahre und Bessere
ilirer Natur nach auch, sozusagen, das leichter zu Beweisende und
leichter glaublich zu Machende." (St.)*^)
"**) iüGT8 Gtijiißaiyst ri]}' QrjroQiy.rjv olov TraQUfpvic ti ttjc Sta/^sxTixrjg
eivui xu.l Tr>g nsot tu ijß)] TTgu/fJUTSiac, iji' SCxuiöv ißri TigoßayoQfvsn'
TroXmy.ijr. dio xal vttoS v sto-i, vivo tö G/rjfiu ti, Tijg uoXniySg ij qujooix)]
y.ul ol uvTiTVOiovi-tivoi laciriQ tu fjiir Öl' ujiuiöenGfur tu de öi' dXu/^ovatur
TU. öe -/Ml öl' u.~/Jmq uhiuQ di'd^QWTTixäg . eßTt yO.o yoQiov Ti zJjc öiu-
'/.h/.T ly.Tig /.ut o/toiwfju, y.udujTfo xui uo^afisroi eiTioiisr. (1356^ 25.)
*^) tri öi Tu.vuvitu öeT öivuG&ai tth&bi,v, xuS^ujreo xui tv ToTg gvI'Lo-
yiGfiolc, ov/ uTTLug uf.t(fCTeou Trod.ntoijer, (ov yuQ öfl tu (puilu TTsfü^eir)
3
34 Stephan Odon Haupt,
Dann heißt es : „Ferner haben wk gesehen, daß es Aufgabe
der Rhetorik ist, das wh-klich und das nur scheinbar Glauben Er-
weckende zu erkennen, geradeso wie es Aufgalie der Dialektik (-= To-
pik) ist, sowohl den echten als auch den scheinbaren (= sophistischen)
Schluß zu erkennen; denn der sophistische Schluß beruht nicht im
Können, sondern im bewußten Wollen. Unterschied ist also nm* der,
daß im ersten Fall einer ein Redner sein wird entweder nach dem
Wissen oder nach dem bewußten Wollen, im letzten Fall einer nur
nach dem bewußten Wollen ein Sophist sein wird, wähi'end im zweiten
Fall einer nicht nach dem bewußten Wollen, sondern nm* nach dem
Können ein Dialektiker sein wird.^^)" Mit anderen Worten : Der Sophist
wül falsche Schlüsse ziehen, der echte Dialektiker kann richtige
Schlüsse ziehen, und wenn er einen Fehlschluß tut, so ist es
unabsichthch geschehen; der echte Rhetor wiU im guten Glauben
überreden; wenn er zu etwas Schlechtem überredet, so ist seine schlechte
Einsicht schuld.
Zusammenfassend spricht sich Ai'istoteles über das Wesen der
Dialektik und Sophistik noch deuthcher in der Metaphysik aus und
dort verwendet er auch das Wort „vjrodvofKu'. Der Philosoph
muß außer dem Seienden auch die demselben zukommenden Merk-
male untersuchen und kennen.
„Auch die Dialektiker und Sophisten", heißt es dann, ..geben
sich das Ansehen {Ijroövorrai ö/jl^ua), als ob sie Philosophen
wären (die Sophistik ist nämlich nur eine Scheinweisheit und die
Dialektiker disputieren eben über alles); das Seiende aber ist für alle
Gemeingut. Sie disputieren aber darüber offenbar deshalb, weil
das Seiende der Philosophie zukommt. Denn Sophistik und Dia-
dlX' ha iJijre lavf^ürri Ttiög ^'xsi, xui OTTwg üXlov yQwijivov rolg löyoig
fjbri Sixaiu)c amot Xveiv i;fO),ufv. tmv fjh ovv ukXujv Texrtur ovdefiiu
Tuvuriia CvXXoyiL.irui, r] öe diuXixnxri xul tj Qrjooixi] /joyat rovjo noi-
ovßiv ' c/JoCwc yüo elaiv u[ifp6ieoui rmr ivavrkor. tu pirioi vttoxh^ivu
TTQdyfJUiu ovx öpoitog Ix^h (^^^^^ «** Täh]d^~i xui tu ßüriLU ti; cpvGn ev-
GvXioytGTüTeQa xul nid^uvojisou mq oJvliZg sitthv. lM55a "Ji».
*^) TTQoc de lOvTOig oxi T,rig uvirig TÖ t? mS^uvdv xui t6 (fMvöfjavov
Ideiv md^uvöv. tuGTrso xut ijrl t^c öiuXexiuTig avXloyiG/Jor ts xui cpuivo-
fisror GvXkoyiG/Joi'. 6 yuQ Go(ftGTixdg ovx iv iT; övrüfjei ulk' tf rr ttqo-
uiQiGev ' n'kiv triuvd-u fjev tGTui, 6 fiiv xutu Ti]V tmGJrji)]v 6 öe xutu T)]V
TCQOuiqeGiv QiJTwQ, ixsl 6s GocpiGTijg juer xutu ti]v 7iQ0u(osGiV, StuXsxTixtg
de ov XUTU TTiv TtQOuiqeGiv, uXlu xutu t)]v övvu^iv. 1355 ^ 15.
über die Wirkung der Tragödie. 35
lektik behandeln dasselbe Wissensgebiet wie die Philosophie; aber
diese unterscheidet sich von der Dialektik durch die besondere Ait
ihres Vermögens (d. h. dm-ch ihi' Können), von der Sophistik diu-ch
ilu-en besonderen Lebensplan (d. h. durch ihi- Wollen). Der Dia-
lektiker probiert, wo der Philosoph weiß, und der Sophistiker ist
nur scheinbar ein Philosoph, in Wü'klichkeit niclit^')."
Es ist mithin Idar, daß Simplikios, indem er die Dialektik {ol toxoi
ist mit diaXexTixrj identisch), die Sopliistik und die Ehetorik zu
den logischen Schriften rechnet, die den Beweis zu fälschen imstande
sind, diesen Ausführungen des Aristoteles gefolgt war; denn daß er
nicht den Einteilungsgründen des Andi'onikos, die wü* übrigens gar
nicht kennen, beipfhchtet, erhellt schon daraus, daß er auch die Her-
menie, die Andronikos als unecht verwhft, zu den echten Aristotehschen
Schi'iften rechnet. Und während Philoponos das Wort „vjioövofim'
selbständig findet, — denn er beruft sich nicht auf Aristoteles, um
seine neue Einteilung zu begründen, da er sonst wie Simplikios auch
die Topik und Rhetorik neben den sophistischen Beweisen hätte
anführen müssen, — nimmt Simplikios das Wort „vjrodvof/cu"
sowie seine Einteilung der 3. Gruppe der logischen Schriften direkt aus
der Rhetorik des Ai'istoteles.
Elias (David) muß ein Schüler des Simplikios gewesen sein. Denn
er nennt die 3. Gruppe der logischen Schriften wieder wie Simplikios
die „vjtodvof^fEra t/)v mtd^oöov', doch hat er die Einteilung des
Simplikios erweitert dm-ch das Buch der Poetik: ,,7-0 jceQi .roir]Tijt/jq".
Er ist es also, der zuerst das eine Buch der Poetik zu den logischen
Schriften rechnet und der deshalb den Verlust des ersten Buches
indnekt verschuldet hat. Von Wichtigkeit ist seine Begründung.
Er sagt nänihch: „Die Schriften, die sich fälschlich als logischen
Beweis einführen (vjioövöffsva), sind: die Topik, Rhetorik, die
sophistischen Widerlegungen und das Buch über die Poetik. Es
gibt nämhch 5 Arten von Schlüssen, und mit Recht; denn auch die
■*') ol yUQ Öiu'LSXJlXOl Xut GOtpiGlul TUVXbV fliV VTTodvOViai G/rj/ilU TM
(pUoGÜpro, (1) yuq GocpiGitxi] cpaivofjivr] fj.Cvov GO(pia eGzC, xui 01 diuAsxuxot
dia'liyovTai, jreot dndvjwv), xotvov de ttüGi, ti Iv Igiiv. SiuliyovTui öe
Ttaql lovruiv öqlor iWi Sid tu rrjg (filoGocfiag dvcu uvxu OiXiTa. Tffoi ph
yuo t6 uvto yivoQ GTOirpsTut, ?; GotpiGxixi} xut rj öialexux)] t/; (piloGotpio.,
dklu öioAfioiv Trjc fjev t(o tqitko tT^q övvd^swc, tiJc da tov ßtov Trj ttqo-
(uoiGBi. iGjt de 1] ö/ulfXTixi] TTfioaGTixt] 71801 Uli' fi (piXoGO(pia yrwoiGTixrj,
i] äf GorpiGiiy.rj cpuirofAiV)], ovGu d' ov. Metaphysik y 2. lOÜ4b 17.
.3*
36 Stephan Odon Haupt,
Voraussetzungen, von denen aus diese abgeleitet werden, sind fünfer-
lei: entweder sind 1. alle Voraussetzungen durchaus wahr und dann
ergeben sie den logischen Beweis, oder 2. alle durchaus falsch und
dann ergeben sie den poetischen Schluß, den mäi'chenhaften, oder
3. sind sie in einer Beziehung wahr, in der anderen falsch, und zwar
auf di'eierlei Weise: a) entweder bringt der Betreffende lieber Wahres
als Falsches vor und dann hat man den dialektischen Schluß, oder b)das
Falsche überwiegt vor dem Wahren und bewkkt den sophistischen
Schluß, oder c) Wahi'es und Falsches hält sich das Gleichgewicht
und wir haben den rhetorischen Schluß vor uns^^)."
Auffallend ist in dieser Begründung die Bezeichnung ,,</"tr(3//c
= falsch" für alle Voraussetzungen des dichterischen Schlusses,
sowie für einen Teil der Voraussetzungen des dialektischen, sophi-
stischen und rhetorischen Schlusses. Aber gerade durch dieses Wort
,,?^£tirf?/c" hat sich David (Elias) verraten. Sein Gewährsmann,
aus dem er seine Weisheit holt, ist natiü-hch wieder Aiistoteles. Was
xAristoteles unter ,,fsvd//g'''' versteht, erörtert er im 29. Kapitel
des 5. Buches der Metaphysik. Er unterscheidet zwischen falschen
Vorstellungen, falschen Behauptungen und lügnerischen Menschen.
„Falsche Vorstellungen sind dann, wenn man einem Ding oder einer
Person etwas zuschi'eibt, was ilmen nie zukommt oder nicht immer
zukommt oder wenn solche Vorstellungen nm* Phantasiegebilde,
z. B. Träume sind."^^) ,,Eine Behauptung ist falsch, wenn von
etwsrs das behauptet wkd, was nicht wii'khch ist."^"^) „Eine falsche
Behauptung ist also mit einem Worte ein Nichts. "^^) Solche falsche
Vorstellungen und Behauptungen so^^^e alle Traum- und Phantasie-
^^) TU df vnoövöi^iBvu uvT)]i' T)]r dTi6dsi'S.(v sIgl tu tottixü, ui ^jjio^f-
xat Tip'ui, Ol GocpiGTixot Iksy^ot y.ut t6 TteQi 7toiriTix)]g. Tiivrt yüq siGiv
sl'drj TiZv Gv'/J.O)iGu(i)r, djtodiiXTixog, StuXexTixcc, GO(fiGTixöc, wjtoqixÖc,
7roii]Tixöc. xul sixcTwg, ijrfidrj xut ui ttootuGsic, ö&fv KuytiävovTui,
TTii'TS ecGiv ' ij yuo' TravTii uX]]&£7g iiGiv ui TTOOTUGetg xat ttoiovGi tov
uTioSsixTixov, ij TTUVTrj ipstjösTg xat ttoiovGi tov ttohjtixov, tov fiivd^üjörj, /f
TtT] fiev äXrid-sig, jrrj ^e rl'SvdsTg, xut tovto TQiytlig ' i] yuq fJÜX'Aov uLrid^evet,
rjjTOv fif ^ifvöirai xut jtoih 70j' SiuJ.sxTixir GvXloyiG^icr, /; TTliov tyei tö
ipivdog TOV u'krid^ovg xut ttoih tcv G0(piGTix6v, i] tTTiGov tyei tö u'/^ij9^ig tm
ipsvSd xui TtoiH TOV grjTOoixor.
*^) TTQdyyuTtt jjtv ovr ^tevStj oitco layerui, r tm ,u>/ sfvui uvtü, r,
TM Ttjv un' uvidör (puvTuGfuv fji] oviog ilvui. Metaph. d "29. lO'2-tb 24.
^'') J^yog di ^nvörig 6 iiZv fj)} oi'Ttur tj ilisvdijg. 1024b 26.
'"^j 6 ^£ ipsvdrjg loyog ovdevög ißTir uirXwg Xöyog. 1024^ 31.
über die ^^'irkijng der Tragödie. 37
gebilde, zu welch letzteren auch die Werke der Dichtkunst gehören,
sind an und für sich noch nicht lügnerisch, sondern niu In'- oder
AVahnbilder, erst die Absicht des Menschen macht sie zu Lügenbildern.
,, Der jenige Mensch ist ein Lügner, der mit solchen Behauptungen
gleich bei der Hand ist und absichthch lügt, nicht aus einem anderen
Grunde, sondern nur, weil er flu die Lüge emgenommen ist, und der
auch anderen solche Behauptungen beibringt, geradeso wie wü" von
den Vorstellungen diejenigen falsch genannt haben, welche eine
Wahnvorstellung erwecken. " '^^)
Es gibt 4 Arten von falschen Schlüssen ^^). Uns interessieren
hier nur diejenigen, die aus falschen Prämissen hervorgehen. Über
diese Schlüsse sagt nun Aristoteles: „Die Beweisführung ist falsch,
wenn die verwendeten Vordersätze falsch sind. Dabei wüd der Schluß-
satz bald falsch, bald wahr sein. Denn das Falsche wüd wohl immer
dm'ch falsche Vordersätze geschlossen, das Wahi'e aber kann auch
aus nicht Walu-em geschlossen werden, wie dies fi'üher gezeigt worden
ist." (B.)5*) Es bezieht sich diese Stelle auf das 2. Kapitel des 2. Buches
der 1. Analytik. Dort sagt Aristoteles: „Es können nun die Vorder-
sätze, . diu-ch welche der Schluß zustande kommt, sich so verhalten,
daß sie beide wahr sind, aber auch so, daß sie beide fal^^ch sind, und
drittens so, daß der eine wahi-, der andere falsch ist. Der Schlußsatz
aber ist notwendig entweder wahi- oder falsch. Aus wahren Vorder-
sätzen nun läßt sich nichts Falsches schüeßen, wohl aber aus
falschen Vordersätzen etwas Wahres, jedoch nicht ein Wai'um,
sondern ein Daß ; über das Warum nämhch ergibt sich kein Schluß
aus falschen Vordersätzen". (B.)^^)
^-) ävd^QWjrog Sa t^iavdi]g u £v/eo)]g y.ul Tvoo/.onixcg Ttov tuiovtcuv
).6yu)v, fii] 6v' hegov n OjJm öi' aviö xat ü a.lloic ijJTTOivjr/.üc twv toi-
ovTiov Itywv, uiffTTfo xul TU TiQuyficf.Td (fju/ner il>svSfj sivai, oGa IpTioiH
(pavTUGiav iffaviSrj. 1025a' 2.
"■■') Topik d- 12. 162b 3.
'"*) ifjevdrjg 6s Xoyog yMAsnac, raTouywg, . . . u/Slov da roönov luv diu
il'evd'wr 6v}J7iaQu(vrixui. toitov d' aarui Ttora juat' tö GvjLiTiEQaGiLiu ipavdog,
TTOia 6' uh]fhag ■ tu ftar yuo iliavöog äst 6iu ifievöcöy TiaouiraTui, tu ö'
L/.}jx9ag ayyiooal y.al fj)] a'S a/j/.'^wr, (ZoTrao aYmjrat y.0.1 nooTanor. Topik
.9- 12. 16jb 3.
^^) a6Ti fjav ovr ovjiug a'/air lüoi' ulri&alg stvui Tug TTQOTÜGaig Si.' tuv
.-- GvV.oyiGitvg, l'öT* J' U)GT£ ipavdaTg, I'gti ö' würa Ttjv fMv ulr^d-J] t^v da
ipavd'ri. TU da GvfijraguGfia Ij ulijd-ag ij cpavdog a^ urdyy.rig. a'S olqd^iZv
,(iav ovr ovx iGJi, ipaidog Gv'Ü.oyiGuGd^ui, ay. ipavöiör J" tOTiv u'At],9L, ttk^v
38 Stepluin Odon Haupt,
Ferner: ,,Sind aber die Vordersätze falsch, so ist es iriöglicli,
etwas Wahres aus ihnen zu schüeßen und dabei können sowohl beide
Vordersätze falsch sein als auch der eine, nur ist es im letzteren Falle
nicht immer gleichgültig, welcher von beiden falsch ist, sondern es
muß der 2. sein, wenn man ihn als ganz falsch nimmt: nimmt man
ihn aber nicht als ganz falsch, so ist es gleichgültig, welcher von
beiden Vordersätzen es ist." (B.)^^)
Offenljar hat Aristoteles im 1. Buch seiner Poetik die Wirkung
des Dramas auseinandergesetzt. Und da beim poetischen Schluß
beide Vordersätze falsch sind, aus falschen Vordersätzen aber ein
wahrer Schluß gezogen werden kann, der aber nie den Zweck, das
Warum, sondern nur die tatsächliche Wirkung, das Daß, ergeben
kann, so folgt daraus unmittelbar, daß diese Wirkung des Dramas
nur eine intellektualistische sein kann, nie eine ethische oder ästhe-
tische, weil niu- erstere unausblei])licli ist, also eine Tatsache enthält,
letztere aber akzidentell sind, weil sie einen Zweck enthalten. Die
Kunst des Dichters vermag jeden Zuschauer zu fesseln, so daß er
in einer der dai'gestellten Personen einen Gesinnungsgenossen, in der
zweiten einen Geo;ner sieht. Daher werden die tatsächlich falschen
Prämissen, auf die der Dichter sein Drama aufbaut, von keinem Zu-
schauer als falsch empfunden, sondern sie sind für jeden Zuschauer
richtige Annahmen — Aristoteles nennt solche vom Hörer als richtig
anerkannte falsche Annahmen im 10. Kapitel des 1. Buches der 2. Ana-
lytik „t\70öt'o£tc". Anerkennt ein Zuhörer solche falsche An-
nahmen nicht, dann sind sie fin* ihn „(uvfjffnTa'. Dies trifft aber
nur beim rhetorischen Beweis zu. Für die Anhänger des Redners
sind seine Beweisgründe ,.r.To.9-ta£f--", für seine politischen Gegner
sind sie „ah/juara''. Ebenso ist der, der einen sophistischen Be-
w^eis glaubt, durch „vjioD^osiq' gewonnen, während derjenige,
der sich nicht fangen läßt, „akfjfiara'' vor sich hat. Im selben
Kapitel führt Aristoteles ein schlagendes Beispiel für die absolute
Richtigkeit eines Schlusses trotz falscher Annahmen an. Wenn nämhch
ov diÖTt ulV ÖTi • T<w yuQ (hon ory. iGiir i/. ifftvÖLZr auAloytCf/ö^.
Anal. pr. B. 2. 5:]b 4.
='^) ix ifiivdöir d' dÄt]^ec ißn avlloyiGaaihu y.ai dfKfOTfoior töjv
7VQ0TÜ.6SWV tjitvdiZr ovGwr y.ut ir^g fiiäg, ravTrig S' ov/ tjroitoo.g hv/ev
diXd rrjc Ssviioug, idmaq öh]r /M-fißart] tpsvöfj ' firj oÄf?^' öi /M^ßaro-
fjiivrjc Igtiv ÖTtoTeQUGovv. öo^' "26.
über die Wirkung der Tragödie. 39
der Geometer mit einem verjüngten Maßstab Berechnungen anstellt,
so hat er doch nicht, wie einige Philosophen behaupten, eine falsche
Annahme gemacht; diese sagen nämhch, man dürfe keine Lüge ge-
brauchen, der Geometer lüge aber, wenn er behaupte, daß der ver-
jüngte Fuß ein Fuß sei oder eine mit freier Hand gezeichnete Linie
sei eine Gerade. Sondern der Geometer stützt seine Schlüsse nicht
auf die Beschaffenheit der angenommenen Linie, sondern auf das,
was er darunter versteht^'^).
Wü* finden nun in der Begründung des David (Ehas) die Nutz-
anwendung dieser Stelle aus der Analytik auf den poetischen Schluß.
Auch der Dichter geht von Annahmen {ip6v(h~j) aus. Indem er die
Folgerungen aus den erdichteten x\nnahmen. die aber der Wnldich-
keit entsprechen, zieht, führt er dem Zuhörer einen gültigen Beweis
vor, geradeso wie die Berechnungen des Geometers trotz des ver-
jüngten Maßstabes stimmen, vorausgesetzt, daß er richtig rechnet:
ebenso müssen auch die Folgerungen des Dichters, sollen sie als richtig
erkannt werden, so dargestellt werden, daß sie mit Naturnotwendig-
keit eintreten müssen oder doch eintreten können oder sollen.
Olympiodoros weicht von seinen beiden Vorgängern nur bei
der Bezeichnung der 3. Gruppe der logischen Schiiften ab, die Simp-
likios und Elias (David) als „t« dh .tsqI tcöv rrjv dji66sis(r
vjiodvouhfov'' bezeichnet hatten. Er nennt sie ,,r« dt xad^aiQovTa
rrjv fitD-odor' und bei der Spezifizierung dieser 3. Gruppe sagt er:
„ixyCftihctQovOc OB T/)i' [itd^odov Ol öoffiüTiy.ol lltyyoi xal ol tojtoi
xMi cd (njTOQiy.cu xiyvai xal x6 Jisgl jtou/rixr/g ro xaZovf^ievov". Und
zur Begi-ündung seiner von Simplikios und Elias (David) abweichenden
Bezeichnung der 3. Gruppe fügt er hinzu: ., Einige untersuchten, wozu
die sophistischen Widerlegungen, die Dialektik. Rhetorik und das Buch
über die Poetik nütze sind und weshalb der Philosoph diese Bücher
veröffentlicht hat. Diesen erwidern wir, daß, sowie den Söhnen der
Asklepiaden nicht nm' die Kenntnis vom gesunden, sondern auch
vom kranken Menschen beigebracht wird, damit sie das eine wählen,
das andere fhehen, so auch der Philosoph diese Schriften als gefähr-
"'') ov d' 6 yfwfJiTfji]^ (/»£(•()";] vnoiid^irat,, cÜGTrso Tiviqifpo.Gav. liyorreg
WC ov Sei TM tftsvdai yoriadui, tov de YSU)}itroriV ifindsa&ui kiyovTa
jrodiuiuv Tr,v ov Ttoöiaiav ij sv&eTar Tjjr yeyQu.^iiitr)]v oix fv&s7av ovßuv.
ü 6e yfuJfAiToijg ovdlr (TVfiTrfQuCveTai. to) r^vde ehui yQUfif^njr, fjv avTog
icptteyxTui, dVul rü did tüvtlov S)]loi\asra. Anal. hyst. A. 10. 76b 39.
40 Stephan Odon Haupt,
liehe Waffen beilegen zu müssen glaubte, nicht daß wir sie gebrauchen,
sondern damit w sie durchschauen und uns nicht von ihnen unioarnen
lassen; denn er hatte erkannt, daß einige sophistische Schlüsse die
Wahrheit zu verkehren und zu vernichten trachten. "^^)
Diese Begründung deckt sich dem Sinne nach vollkommen mit
der des Philoponos, auch kommt bei beiden der ungewöhnüche Aus-
druck „(jvj/i^aUi^öfha' vor, so daß wh nüt Sicherheit annehmen
können, daß Olympiodoros ein Schüler des Philoponos ist und seinen
Lehrer gegen die Angriffe des Simplikios verteidigt. So >Yie dieser
und Elias (David) nimmt auch er Zuflucht zu Aristoteles, um sich
bei diesem seine Waffen zu holen. Und während Simplildos, wie wh*
gesehen haben, die Rhetorik und Elias (David) die Analytik ausge-
beutet hat, findet Olympiodoros seine Waffen in der Poetik. Das
zeigt schon das Wort ,,y.ai>aiQovxa\ das er an Stelle des von Simp-
likios aus der Rhetorik zu Hilfe genommenen Wortes „vjrodvoicai''
anwendet. Die Dialektik, Sophistik. Rhetorik und Poetik dürfen
uns nicht verwkren, indem sie den wissenschafthchen Beweis ver-
dunkeln {vjroövo^usra), wie Simplikios meint, sondern müssen
auf uns aufklärend wirken {yMdcuQovra), damit wir sie dm-ch-
schauen und uns nicht von ihnen umgarnen lassen {iru yr/rojoxorTtg
in) -lEQLjiiöomav rolq a-irolc), sagt Olympiodoros. Allerdings
hinkt die Begründung des Olympiodoros. Denn sie paßt nm-
auf die sophistischen Beweise voll und ganz, weniger auf die dialek-
tischen, rhetorischen und poetischen. Was al)er Olympiodoros. seinen
Ausch'uck „yMdaiQorra' in etwas unbehilflicher Weise erklärend,
sagen wollte, ist, daß man vor der 3. Gruppe der logischen Schiiften,
den aufklärenden, auf der Hut sein müsse. Sie dienen dazu, das Walu'e
und Falsche, Gute und Böse, das nicht eindeutig durch einen klaren
Beweis ersichthch ist, dm-ch Beispiele zu erörtern und aufzuhellen;
denn dazu dient eben die Dialektik, Rhetorik und Poetik und indirekt
5S) f^/^rrjGur fU tivhc. ttooc rf (rvfißuXloiTui oi GofpiGn/.oi l'/.fyxo' y-ci
ol TÖTtoi xul a'i o)]roQi/xd rip'ai, xui lo tt^oi 7T0i,)]Tr/Sjc, y.ai öid ti ruTna
i'§id-aTO 6 ^Moocpog. TiQtg ol'g <pufjsr trt xu&djrfQ oi uöv ylGy.hjTTiadwr
TiaJSeg ov ßövov t?jj' twv vyisiviör uVm xul rrjv rwv roGegtöv jiuidivovTO.v
yvöJGiv vTceo rov tu fisv ileh' tu öt (fvysir, ovtw xul o cpilÖGocpog yiyrtö-
Gxwv oTi TTerpvxuGi iirsg GocpiGnxol Gvl'AoyiGfiol TTatQwyivoi Ti]r dhjd^HUv
■JVeQVTQtTTSiV XUl TUVTl]V UfpUv'lGUi, ÖsiV O^ljd^)] TOVTOVg TVSQldiGd^Ulj OV^ *'»'«
/griGiü/j^d^u TOvroig, uXk' Ivu yiyrwGxovTsg fj-rl ireqmiGioiiav lo^g avjolg.
über die Wirkung der Tragödie. 41
die Sophistik. Aber nui" das eine Buch der Poetik Aviikt aufklärend,
das die Taten der Menschen behandelt. Hierin stimmt er dem
Elias (David) bei, weshalb er: ,,r6 jisql jtoir/ziySjg ro xa?.oh(i8vory
das sogenannte Buch über die Poetik," sagt. Er sagt ,, sogenannt"
und deutet damit an, daß diese Teilung der Poetik nicht von ihm,
sondern von Elias (David) ist. Das erste Buch behandelt die schaffenden
Künste, die nicht ,, handelnde Personen" zum Gegenstande ihrer
Darstellung nehmen, bei denen es also nicht auf die Unterscheidung
von Wahr und Falsch, Gut und Böse ankommt, sondern von Schön
und Unschön, weshalb er dieses erste Buch nicht zu den logischen
Schi'iften rechnen durfte. Dagegen mußte es ihm bekannt sein, war
es doch noch dem Ammonios bekannt, und außerdem hat sich Olym-
piodoros seine Weisheit, wie aus den Ausdi-ücken ..yMd-aiQovxa''
und „ty.xad-al()ov6i'' ersichthch ist, aus der Poetik geholt, und
zwar können diese Ausdrücke nm* aus dem verlorenen Teil der Poetik
stammen. Es erübrigt uns noch, die Reihenfolge der 3. Gruppe der
logischen Sclu^iften bei den 3 zuletzt genannten selbständigen Denkern
einer Kritik zu unterziehen; denn Abweichungen in der Reihenfolge
müssen in einem 'solchen Falle begründet sein.
Simphkios hält folgende Reihe ein: Topik, Sophistüv, Rhetorik;
Elias: Topik, Rhetorik, Sophistik, Poetik;
Olympiodoros: Sophistik, Topik, Rhetorik, Poetik.
Die Araber haben folgende Reihe: Topik, Sophistik, Rhetorik,
Poetik.
Daß Elias und Olympiodoros auseinander gehen müssen, ist
klai"; denn Elias hebt die negative Seite der 4 Beweise, die Möghch-
keit der Täuschung durch sie, das vjcodv8<h%cc, hervor, wälu'end
Olympiodoros die positive Seite, die Aufklärung, das y.icdcciQtw,
betont. Warum aber weicht Elias auch von Simplikios ab und warum
die Araber von Olympiodoros?
Zunächst ist klar, daß die Ai*aber dem Simplikios folgen, nur daß
sie auch noch die Poetik ameihen.
Was die Reihenfolge des Elias (David) anlangt, so ist sie eigent-
lich durch seine oben erwähnte Begründung gegeben. Bei ihm handelt
es sich in erster Linie um die Voraussetzungen. Beim Dialektiker
sind mehr wahre Voraussetzungen als falsche, beim Rhetor halten
sich beide das Gleichgewicht, beim Sophisten sind mehr falsche als
wahre Voraussetzungen, beim Dichter sind nm- falsche Voraussetzungen.
42 Stephan Odon Haupt,
Bei Olympiodoros ist die Reihenfolge ethisch bewertet: Sophist iiiul
Dialektiker wirken auf den Verstand des Hörers, Rhetor und Poet
auf den Willen; und zwar ist der Sophist am niedrigsten bewertet,
weil er die Wahrheit fälschen will, der Dialektiker wohl nicht fälschen
will, aber kann; der Rhetor treibt an oder hält ab von Handlungen,
der Poet, der den höchsten Rang einnimmt, mW bessern. Simp-
likios und die Araber bewerten in ihrer Reihenfolge die Schwierigkeil
der einzelnen Beweise, ohne Rücksicht zu nehmen auf den morahscheu
Wert derselben. Dialektiker und Sophist wirken auf den Verstand
des Hörers, haben also eine leichtere Arbeit als der Rhetor und Poet,
die auf den Verstand und das Gemüt des Hörers wirken müssen;
diese beiden müssen auch noch Psychologen sein; und zwar hat der
Dialektiker die leichteste Arbeit, denn er will ja die Wahrheit be-
weisen und diese läßt sich leichter glaubwürdig darstellen als das
Falsche, das der Sophist beweisen will; und der Rhetor hat eine leichtere
Arbeit als der Poet, denn er hat es mit der leicht erregbaren Menge
zu tun, während der Poet sich an die schwerer lenkbaren Gebildeten
wendet.
Schon aus diesen Ausführungen der syrischen Peripatetiker des
6. Jahrhunderts nach Chr. erhellt demnach unwiderleglich, daß Aristo-
teles die Wirkung der Tragödie nm als eine intellelvtualistisch auf-
klärende aufgefaßt haben kann.
Im folgenden wollen wir noch aus der Definition der Definition
des Aristoteles beweisen, daß der Schlußsatz zur Definition gehört.
Es gibt nach Aristoteles 3 Arten von Definitionen. ,, Definition
ist 1. unbewiesene Aussage dessen, was etwas ist; 2. Schluß auf das,
was es ist, nur in der äußeren Form unterschieden vom Beweis; 3. das
Ergebnis des Beweises für das, was etwas ist." (B.)^^) Der erste Satz
bezieht sich nur auf solche Begriff e, die keine Mittelbegriffe haben (d.h.
deren Ursache man nicht weiter bestimmen kann, weil sie Endur-
sachen sind^"). Aristoteles erörtert diese 3 Alten der Definitionen
an dem Donner. 1. Donner ist Geräusch in den Wolken. Diese Defi-
nition ist aber unzulänglich, weil Geräusch erklärbar ist. Die 2. lautet :
I
•■'') I'gtiv toiGfiöc eig (JI:)' Aoyog io7 ji lajir äiurroö st,XT.iy.üC, üg 6l
GvkXoytGfiog Tov li icTiv, jiTwß&t diaffioior r7]g uTTOchfieiog, jqItoq öl rr^g
TOv iC iaitv d7rodfi'<^s(jüg avf^7T£Qaaf^ta. Anal. post. B. 10. 94» 11. „
^) 6 6a Twr ufjiGwv oQiGfidg Ofßig tGri rov ri ißriv, ävunööic/.iog. ^
Anal. post. B. 10. 94a 9.
über die Wü'kung der Tragödie. 43
Düiiiier ist die Folge des Erlöschens des Feuers in den Wolken. Die
3. lautet: Donner ist das Geräusch, welches entsteht, wenn das Feuer
in den Wolken erhscht.
Dasselbe wie über die Definition des Entstehens sagt auch Aiisto-
teles von der Definition der Dinge.
„Wenn man definiert, was ein Haus ist, und sagt, daß es eine
Anzahl Steine, Ziegel, Hölzer ist, so gibt man das potentielle Sein
des Hauses an, die Materie, sagt man aber, ein Haus sei ein Behältnis,
welches zum Schutz von Personen und Sachen dient, oder sonst etwas
derartiges, so gibt man das aktuelle Sein an; setzt man aber beides
zusammen, so hat man die ch'itte, aus den 2 ersten zusammengesetzte
Definition." (B.)'^\) ..Daraus ist klar, was man unter der Definition
des sinnüch AVahrnehmbaren sich zu denken hat und in welcher Weise
sie gebildet wird: sie ist einerseits der Stoff, anderseits die Form,
weil sie in dem Fall aktuell ist, drittens das Produkt der zwei ersten."^^)
Die erste Ai't der Definition kann man also niu* anwenden, wenn die
Ursachen nicht angegeben werden können, weil sie nicht Mittel-
begTiffe. sondern Axiome sind. Die 2. Art enthält nicht das Wesen
des Begriffes, sondern die Veranlassung seines Entstehens. Sie ist
demnach nur anwendbar, wenn man das Wesen nicht bestimmen kann,
z. B. bei der Definition der Sonnenfinsternis. Die 3. Art ist demnach
die gewöhnhche Definition und diese muß, wie wir sehen, außer dem
Wesen auch seine Gründe angeben.
Was nun das Kunstwerk selbst anlangt, so sagt darüber Aristoteles :
., Durch Kunst entsteht das, dessen Idee in der Seele ist. Unter der
Idee aber verstehe ich die erste Ursache eines jeden Seins und die
erste Substanz, das ist den abstrakten Begriff."^^) Die jtqojtjj ovaia
ist nach den Kateg. 5. 2'' 11 nichts anderes als der ,, abstrakte Be-
griff'. Unter ro tI f'/r H'rai versteht Aristoteles nichts anderes
61\
') Jto TW) üQi,L,ofitrwr o'i /iev /JyovTi.:, ri aonr oix(u, oti iC&ot,
tc'aCvS^ol, §t'Ä«j Ti]v din'u,afi otxiui' kiyotißiv, vkt] yuo rama ' ol ds uyyHOv
GXeTruGTtXOl' (TWflUTMV -/mI yQYl^f/.TAJJV, ■)] Tl Xal UAAO TOIOVTOV TTQOGd^ivTac,
ii]v ivsQyaia leyovGiv " ol d' äfiqxo juvra Gwiid^ivieg zijr tqCttjv xal Trjv
ix TouTivv ovGiuv. Metaphysik ?] 2. lOlSa 14.
''-) (pavBQÖv 6i] ix TMv HQrif.iivn)v, TIC }] uiGd^r]T7j ovGta IgtX xal ttloq '
?■ fisv yuQ (jjg tXri, ?; f^' tue /^'OQcpi] oti hioyeia, fj dl toCti] >; ix tovtwv.
Ebenda 1043a 26.
''') UTio Tfp'fjg ds yiyviTai. vGior to ffd'oc it' tT; tpv/ji. sMog 6e kiyio
t6 tC i]v dvui, ixÜGTOv xal Ttjv TrQOJTrjv ovGiav. Metaph. t, 7. 1032^ J.
44 Stephan Odon Haupt,
als die 2. Ai't der Definition und diese ist die aktuelle Form, Ursache
eines Enstehens. Tatsächlich finden w das ,,to tI ijr drut
{= was ist es, das die Ursache war, daß etwas ist) als die wichtigste
erste Ursache bei den 4 Ursachen wieder. Aristoteles unterscheidet
nänilich 4 Ursachen, die natürhch nach der zeittichen Abfolge an-
gegeben sind^'^). Die erste und wichtigste Ursache alles Entstehens
ist „To TL i)v dvai'. Was ist nun die erste Ursache alles
Entstehens? Bei dem natüi'lichen Entstehen ist es das Vorhanden-
sein der Ai"t, z. B. damit em Mensch entstehe, muß die Art schon vor-
handen sein; beim künstlichen Entstehen, z. B. beim Kunstwerk,
ist es der erste Anstoß, mag dieser nun die Anregung, das Erlebnis,
der Auftrag oder etwas Ähnhches sein, km'z das, was das Kunstwerk
ins Rollen bringt. Dazu kommt der abstrakte Begriff des zu Schaffenden,
die üiQcöx}] ohOia, und so entsteht die Idee, z6 elöog, die nun
im Innern verarbeitet whd, bis sie zm* Ausfühi'ung kommt. ..Vom
Entstehen und von den Bewegungen", sagt Ai'istoteles. ..heißt der
eine Teil Überlegung, der andere Schaffen. Die Überlegung erstreckt
sich vom Anfang a:i und über die Idee, vom Ende der Überlegung
an beginnt das Schaffen*^')." Unter der Idee des Kunstwerks ver-
steht also Aristoteles die erste Am-egung zu demselben und den ab-
strakten Begriff.
Was also die 4 Ursachen alles Entstehens anlangt, so ist die erste
Ursache flu* das künsthche Entstehen die Am-egung, die 2. ist der
wu'khche Stoff, das Material, denn dies ist unter ,,to rivfor orron'
drdyx)] rovr'dvai. = was muß vorhanden sein, damit das Be-
treffende ist?" verstanden. Die 3. Ursache ist das, was etwas zuerst
in Bewegung brachte, also in der Regel der Künstler oder der Dichter.
Die 4. Ursache ist der Zweck. Daß dieser bei dem Kunstwerk identisch
sein muß mit der tatsächhchen Wü-kung, haben wh schon oben be-
wiesen. Diese 4. Ursache ist für aUe Kunstwerke entscheidend. Denn
anders wird eine Statue ausfallen, wenn sie für ein Theaterfoyer, anders,
wenn sie füi' ein Grabmal bestimmt ist. Daher muß der Zweck beim
^*) fjia /itiv TV TV rjv sivui, /nCu öe rö rCvojv ovtwv druyiC7] tovto eivai,
iiiqu ös 1] Ti TTQioTov ixivrjas, TfTÜQTi] ds TU rCroc srexu. Anai. post.
ß. 11. 94a 21.
^•'j zwv 6e yavidsojv xat y.vrr^Gewv i] juev vvi]Gig xukHjat, i] dh TtoCi]Gic,
i] fxiv UTTÖ rrjc doyrjg xul to7 hÖovc. v6)]Gic, i] S' d.Tio zov xii^ivTuiov rrjg
ro)JGeioc notriGic. Metaph. 'Q 7. l()3-2'' 15.
I
über die Wirkung der Tragödie. 45
Auftrag schon gegeben sein. Ebenso ist es bei der Tragödie. Niu* daß
bei diesem Kunstwerk weniger von einem Auftrag, als vielmehr von
einer Anregung, von einem Anstoß oder Erlebnis als erster Ursache
gesprochen werden kann. Da die Anregung zu einer Tragödie in
der Regel vom Dichter selbst ausgeht, so hat er auch das Recht, sich
den Zweck selbst zu bestimmen. Die edelsten Dichter haben immer
die Belelmmg und Besserung ihi'er Mtmenschen als Zweck und Ziel
ihrer Stücke im Auge gehabt. Doch die Menschheit und die Wissen-
schaft, nach der sich die Menschheit richtet, bem'teilt alles zunächst
nicht nach der Absicht des Schaffenden, sondern nur nach der Whkung.
Und da zeigen sich in der Tat die auffallendsten Widersprüche bei
der Beurteilung der Dichterwerke. Dies hängt mit den verschiedenen
Charakteren der bem'teilenden Zuhörer zusammen. Denn je nachdem
der Bem'teiler ein Tapferer, gutmütiger oder bös^^^lliger Tollkühner,
gutmütiger oder böswilliger Fmchtsamer oder ein Bösewicht ist, wird
auch sein Urteil über die Tragödie ein anderes sein. Und Lessing
hat in seiner ethischen Kci,tharsiserklärung die Gefühle der gutmütigen
Tollkühnen zum Ausdruck gebracht — er war eben ein solcher — ,
Goethe hat in seiner ästhetisch-intellcktuahstischen Katharsis-
erklärung die Gefühle des abgeklärten, besonnenen Greisenalters
geschildert und Gorgias-Bernays hat in seiner medizinisch-thera-
peutischen Katharsiserklärung die Gefühle der böswiUigen Fm'cht-
samen drastisch vorgefühi't. So könnten noch die Gefühle des bös-
wilhgen Tollkühnen, des gutmütigen Fm*chtsamen und des Böse-
wichts zum Ausgangspunkt von drei anderen Katharsiserklärungen
genommen werden und jede der 6 Erklärungen hätte eine, wenn auch
nm- bedingte Berechtigung und Richtigkeit. Und doch haben alle
diese 6 Katharsiserklärungen in der Tragödiendefinition nichts zu
suchen; denn eine jede von den 6 Wirkungen ist nur akzidentell,
denn sie trifft nm bei dem gleichgeeichten Zuhörer ein. Nur die wieder
entdeckte intellektuahstische Wirkimg, die Aufklärung, ist unaus-
bleibhch. Bis jetzt kam sie den Zuhörern nur nicht zum Bewußtsein,
weil sie auf diese Wirkung einer jeden echten Tragödie noch nicht
aufmerksam gemacht wurden: der Wissende wird sie jetzt stets zu
verspüren bekommen.
Noch könnte man im Zweifel sein, ob der Schlußsatz der Tragödien-
definition den Zweck oder die Wü'kung ausdrückt. Denn Zweck oder
Absicht ist bei jeder vernünftigen Tat und bei jedem vernünftigen
46 Stephan Odon Haupt,
Schaffen, also auch beim Dichten vorhanden. p]benso ist bei jeder
Tat und bei jedem Schaffen eine Wirkung zu verspüren. Soll aber
de.- Zweck und die Wirkung in einer. Definition einen Platz finden,
so müßten alle Tragödien den gleichen Zweck verfolgen und die gleiche
Wirk ng ausüben, ja Wirkung und Zweck müßten sich decken, was nun
zu beweisen ist. Entspricht die Wirkung dem Zweck, dann ist sie
beabsichtigt; tritt sie unabhängig vom Zweck und anders, als sie
beabsichtigt war, ein, dann ist sie unbeabsichtigt, und zwar kann
diese unbeabsichtigte Wirkung entweder automatisch eintreten oder
zufällig. Eine beabsichtigte Wükung auf Menschen ist nie allge-
mein, weil die Menschen in ihrer Gesamtheit unberechenbar sind.
Daraus folgt, daß der Zweck oder die Absicht des Dichters nicht in
die Definition der Tragödie gehört, wohl aber die unbeabsichtigte
Wirkung, und zwar muß diese unbeabsichtigte Wüimng automatisch
eintreten, denn die zufällige ist selbstverständlich nicht allgemein.
Tatsächhch hat Aristoteles niu die Wirkung in die Definition der
Tragödie aufgenommen, denn „xsQcuveir' heißt .,bewü-ken''.
Wohl ist mit der Wukung auch der Zweck gegeben, diese beiden
müssen aber identisch sein und liegen außerhalb der Macht des Schaffers,
also hier des Dichters ; in unserem Fall können wir also nur von einem
Zweck der Tragödie, nicht von einer Absicht des Dichters sprechen.
Erst wenn der Dichter das Wissen von dem Wesen der Tragödie hat,
dann arbeitet er bewußt mit Zweck und Ziel, weil er Zweck und Wir-
kung in Einklang bringen wird. Wirldich sagt auch Ai'istoteles :
,,Bei einigen Dingen kann m.an auch den Zweck (in die Definition)
ziehen." {B.y^)
Über Kunst und Kunstwerk äußert er sich folgendermaßen:
Jedes Kunstwerk ist ein Entstehen. Es gibt 3 Arten des Entstehens.
,,Was entsteht, wird entweder durch die Natur oder Kunst oder von
selbst."^^) „Unter „yertötig"' versteht man aber mu das natiü-lich
Gewordene, alles andere Entstandene heißt Erschaffenes. Und dieses
ist entweder ein W^erk der Kunst oder des Genies oder des Talents. "^^)
ß6) 1] hl y.ai TO ov ersxu in' ivkov iaiir. Metaphy. j; 2. 1043a 9.
^'') lijjv di ytyrofjirw)' id fih' (pvGei yiyvsrui, xd Jf rf/r?;, rd Se
dno zov avioiJ.djov. Metaphy. ^ 7. 10^2'* 11.
^^) oirw fjiv olv yfyrsiut, id yi,yv6^,Bva diu zi]v (pvGiv ' u.l d' u)JMt,
yevicstg Xiyovjai, Tioiijffeig ' nußui S' etat ul nnirfisig 1] dno J^X^'^H V '^■^'^
Svi'd}iHüc rj and diuvotaq. Ebendort 1032^ 25.
über die \Virlaing der Tragödie. 47
..Einiges von diesen entsteht auch von selbst oder durch Zufall. "^^)
Aristoteles unterscheidet also Werke der Kunst, Werke des Genies
und Werke des Talents. Am höchsten steht ihm das Kunstwerk.
Denn auch dieses muß das Werk eines Genies sein oder Talents. Der
obige Satz ist nämhch nach seiner Gewohnheit stark verkürzt ; unver-
kürzt sollte er lauten: „Das Erschaffene ist entweder ein Werk der
Kunst, und zwar geschaffen von einem Genie oder Talent, oder ein
lamstloses Werk des Genies oder Talents.''™) ,,Ein Kunstwerk ist
das, dessen Idee in der Seele des Künstlers ist. '^^) Das Kunstwerk
zeichnet sich also durch die Planmäßigkeit aus ; die wilde Ungebunden-
heit des „Originalgemes oder Talents" ist niu- die Bahnbrecherin
für die Kunst, solange diese nicht organisiert und systemisiert, also
zur Wissenschaft erhoben ist. Künste und Wissenschaften haben
Jiämlich ihren Ursprung in der Erfalu'ung. Erst wenn genügend Er-
fahrungen gesammelt sind, kann von einer Kunst und Wissenschaft
die Rede sein, vorausgesetzt, daß sich ein Baumeis er findet, der die
vielen Einzelerfalirungen als Bausteine zu eint-m festen Lelu'gebäude
benutzen kann.
„Der Wissenstrieb", sagt Aristoteles im 1. Kapitel des 1. Buches
seiner Metaphysik, „ist etwas, was zur Natm* des Menschen gehört.
Hierfür spricht die Wertschätzung der Sinneswahmehmung. Aus
der Sinneswahi'nehmung aber entsteht die Erinnerung. Während
imn die übrigen lebenden Wesen bloß in der Vorstellung und Er-
innerung leben, Erfahi'ung aber um- im geringen Maße haben können,
ist beim Menschen das Spezifische, daß er zm theoretischen Tätig-
keit und zum vernünftigen Denken sich erhebt. Den Menschen er-
zeugt sich nämlich aus der Erinnerung die Erfahrung so, daß viele
Erinnerungen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, schheßhch
eine (einheitliche Erfahrung =) Regel ausmachen. So scheint die
Erfahrung innerlich verwandt zu sein mit der Theorie und der Wissen-
schaft. Erfahrung ist nämlich das, wodurch sich dem Menschen Wissen
und Theorie vermittelt. Theorie entsteht nämlich dann, wenn aus
vielen von der Erfahrung gegebenen Vorstellungen eine einheitliche
^^1 TOVTWv 6i Tirsg yiyyovxut xal und tuvio^utov y.ai uttö tvxU?-
1032a 28.
^") TTU-Gai d' sißtv ul ironaac ij (atto reyrrjg ^y.i'1 tovjo i] und övvü-
//fwc i] und diuvoiuc] i; unC d'vru,u£iog // und diuroiuc [/(J^Qi^ t^c ie;!f»'>;cj.
■'O uTrd ri/i'^ig <?f yfyi'srui, oGlov z6 bIÖoq tv rtj ^v^fi. 1032» 32.
48
Stephan Odon Haupt,
Ansicht über das wesentlich Zusammengehörige gebildet wird. Fin-
den praktischen Zweck scheint nun freihch die Erfahrung den gleichen
Wert zu haben wie die Theorie, ja, die Emphiker haben oft mehr
Erfolg als die Theoretiker. Die Erfahrung ist eben Kenntnis des
Einzelnen, die Theorie Kenntnis des Allgemeinen; das praktische
Handeln und Hervorbringen hat es aber immer mit dem Einzelnen
zu tun. Aber dennoch gilt uns der Theoretiker für weiser als der Empi-
riker; der letztere kennt nämhch die Tatsache, aber nicht den Grund;
der Theoretiker dagegen kennt den Grund und die Ursache. Der
Theoretiker kann daher seinen Gegenstand lehren, der Praktiker
nicht." (B.)
„Das Denken allein aber", sagt Aristoteles in der Nikomachischen
Ethik, „bewegt nichts, sondern nur das auf einen ethischen Zweck ge-
richtete, das ethische Denken; ebenso wie nur das auf ein wirkliches
Schaffen gerichtete poetische Denken. Denn jeder schaffende Künstler
schafft zu einem Zweck und das Werk ist nicht Zweck an sich, sondern
zu einem Zweck und wegen eines Zweckes.'"^) jyf^r ei^e gute, also
ethische Tat ist Selbstzweck, der Lohn für den Handelnden ist das
Verlangen danach."'^)
Aus dem Gesagten ergibt sich die Unstichhältigkcit des Schlag-
worts „Fart pour Fart, d. h. nur den Künstlern gehört das Werk,
nm- sie haben das Recht, darüber ein Urteil abzugeben, und nui- der-
jenige ist ein echter Künstler, der nur für sich und die anderen Künstler,
nicht aber auch für die Menge schafft ; nie darf die Kunst einem ethischen
oder einem anderen außer ihr hegenden Zweck dienen; nur seine
Zunftgenossen können verstehen und beurteilen, was er geleistet
hat, gerade wie nur die Frau, die schon geboren hat, die Wehen einer
Kreißenden verstehen und würdigen kann."
Nun, es müssen wehe Künstler sein, die ein derartiges Verständ-
nis besitzen, daß sie solche Wehgeburten eines ki-eißenden Künstlers
verstehen und wiü-digen können. Der wahi'e Künstler weiß nicht
viel von ki-eißenden Wehen, er arbeitet leicht, in göttlicher Begeiste-
") diavoia ö' avTi] oidiv Xivfi, all' i] svsxd rov ml nqu/.TiAt] ' uvii]
ydo xut t7q noirjTiySjc äox^i' ' 'irexa yÜQ lov jvoisl nuc, 6 noitZv, /.ut ov
rdog dMg ulXd 7ro6c\i, xut tivoq xo ttoititöv. Nikomachische Ethik
C 2.1 139a 35.
"; ^ yuQ svTVQa^ta tHoq, n S' OQshg tovtov. Nikomachische Ethik
^ 2. 113yb 3.'
über die Wirkung der Tragödie. 49
rimg, alles quillt wie von selbst heraus. Solche Wehleidende sind eben
keine walu-en Künstler, sondern Dilettanten. „Es gibt auch After-
künstler: Dilettanten und Spekulanten," sagt Goethe. „Die Dilet-
tanten treiben die Kunst um des Vergnügens willen, die Spekulanten
um des Nutzens willen." Goethes Einteilung der „Afterkünstle]'"
ist nicht ganz richtig. Denn es ist doch auch möghch, daß seine „Spe-
kulanten", wenn sie dabei Genies sind, doch echte Kunstwerke schaffen,
trotzdem sie dieselben „um des Nutzens willen" schaffen, ander-
seits ist letztere Bezeichnung viel zu allgemein gehalten, um sie für
eine logische Einteilung zu gebrauchen. Wie will man denn feststellen,
ob ein Dichter oder Künstler nm- „um des Nutzens willen" schafft?
Der Maßstab für die Spekulanten muß daher aus ihren Werken ge-
nommen werden, und zwar muß dieser anders sein für die darstellenden
Künstler, Maler, Bildhauer usw., anders für die Dichter, die wir hier
nur berücksichtigen wollen. Alle jene Dichterwerke, in denen Unrecht-
tuende über Um'echterleidende triumphieren, sind Spekulationsdich-
tungen und die Dichter solcher Dichtungen wollen wir „Spekulanten"
nennen. Denn ihr Vorgehen ist ein frivoles, nur berechnet zur Unter-
haltung und Ergötzung jener IvlaSse von Zuhörern, die im Drama
gegeißelt werden soll oder zumindest sich unbehaglich fühlen soll.
Es ist dies stets die große Mehrzahl aller Zuschauer, nämlich die bös-
^^111igen Fm'chtsamen, die böswilligen Unbesonnenen und die Böse-
wichte. Und da diese 3 Kategorien von Zuschauern, wie wir später
sehen werden, gegen 83% aller Zuschauer umfassen, so erklärt sich
die kolossale Begeisterung für ein solches Schundwerk, so daß sogar
300 und noch mehi- Aufführungen eines solchen Schundes nacheinander
möghch sind, ohne daß die Begeisterung dafür abflaut.
Nur die Dichter solcher demorahsierenden Werke sind also Speku-
lanten, denn sie haben es nur auf die niederen Instinkte des Volkes
abgesehen. Sie und die Dilettanten sind allein dem Ansehen und
Wirken des Theaters gefährlich, erstere, indem sie die schon demora-
hsierten Zuschauer in ihi-em eigenen Schlamm unter behaghchem
Grunzen wühlen lassen — und das ist doch nicht der Zweck des
Theaters — , letztere, indem sie den echten Dichtern ins Handwerk
pfuschen, dadm'ch, daß sie Talmidramen dichten und die Aufführung
derselben durch ihren Anhang erzwingen.
Die Spekulanten erhalten auch ilu-en khngenden Lohn. Aber
unerbittHch geht schon die nächste Generation über sie hinweg und
4
50 Stephan Odon Haupt,
fegt sie so gründlich voin Schauplatz, daß oft nicht einmal ein leerer
Name übrig bleibt. Und die Dilettanten, die nur des eigenen Ver-
gnügens wegen dichten und schaffen, auch sie ernten den verdienten
Lohn. Von gleichgesinnten und gleichgestimmten Weh-Dichtern,
Künstlern und Snobisten werden sie gehätschelt, wie sie dafür ihre
Lobredner verhätscheln. Diese Dilettanten hat der scharfblickende
Goethe mit folgenden Kennzeichen stigmatisiert. „Der Dilettant",
sagt Goethe, „verhält sich zur Kunst, wie der Pfuscher zum Hand-
werk." „Alle Dilettanten greifen die Kunst von der schwachen
Seite an." „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit,
der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit." „Dilettanten oder
eigentlich Pfuscher scheinen nicht nach einem Ziele zu streben, nicht
vor sich hinzusehen, sondern nur das, was neben ihnen geschieht. Darum
vergleichen sie auch immer, sind meistens im Lob übertrieben, tadeln
ungeschickt, haben eine unendliche Ehrerbietung vor ihresgleichen,
geben sich dadurch ein Ansehen von FreundUchkeit, von Bilhgkeit,
indem sie doch bloß sich selbst erheben." „Der Dilettant wd im
Drama nie den Gegenstand, immer nur sein Gefühl über den Gegen-
stand schildern; er flieht den Charakter des Objekts; alle dilettan-
tischen Gebm-ten im Drama werden einen pathologischen Charakter
haben und nur die Neigung und Abneigung ihres Urhebers auschücken."
„Alles Vorliebnehmen zerstört die Kunst und der Dilettantismus
führt Nachsicht und Gunst ein. Er bringt diejenigen Künstler, welche
dem Dilettantismus näher stehen, auf Unkosten der echten Künstler
in Ansehen." „Der wahre Künstler steht fest und sicher auf sich
selbst; sein Streben, sein Ziel ist der höchste Zweck der Kunst. Er
wh-d sich immer noch weit von diesem Ziele finden und daher gegen
die Kunst oder den Kunstbegriff notwendig allemal sehr bescheiden
sein und gestehen, daß er noch wenig geleistet habe, wie vortreff-
lich auch sein Werk sein mag und wie hoch auch sein Selbstgefühl
im Verhältnis gegen die Welt steigen möchte."
Was Goethe gegen den Dilettantismus vorbringt und wie er ihn
charakterisiert, das paßt genau auf die l'art pour Tart-Winsler. Sie
alle, die diesem Grundsatz huldigen, die dieser Parole Gefolgschaft
leisten, sind keine echten Dichter und Künstler, sondern nur wehleidige
Dilettanten. Ihr Urteil und ihre Kunstansicht darf uns daher nicht
maßgebend sein, wenn wir Freunde der Wahrheit und daher Freunde
der echten Kunst sind; sie sind ja nur ein Klub mit lächerhchen
über die Wirkung der Tragödie. 51
Statuten, der auch gar keinen Anspruch darauf erhebt, daß das Publi-
kum ihm Gefolgschaft leistet, weil er von der Menge gar nicht ernst
genommen werden will. Noch weniger dürfen wir dem Skenen-
gesang der Spekulanten lauschen, die es nur auf unseren Sinneskitzel
abgesehen haben.
Wälu-end also die Dilettanten als den höchsten Zweck der Kunst
ihre SelbstverherrUchung ansehen — die Kunst ist ihnen nm- das Mttel
hierzu — . die Spekidanten sich ganz in den Dienst der niederen In-
stinkte der Menge stellen, um klingenden Lohn einzuheimsen, sind
nur die echten Dichter und Künsuler der edlen Kunst orgeben, ohne
Rücksicht zu nehmen auf ihren eigenen Kitzel noch auf den der Menge.
Dafür \\änkt ihnen als Lohn die Unsterblichkeit ihrer Werke. Denn
nur ihre Werke haben auch bei der Nachwelt Geltung, daher unver-
gänglichen Wert, weil sie allein dem höchsten Zweck der Kunst ge-
recht werden, indem sie nicht der Unterhaltung, sondern der Vered-
lung der Menschen dienen.
Was ist also der Zweck und die Wirkung der Tragödie, was ist
Zweck und Wü-kimg der Kunst überhaupt nach Aristoteles? „Jede
Kunst und jede wissenschaftüche Untersuchung," so beginnt Aristo-
teles in der Niko machischen Ethik, ..ebenso jede Handlung und jedes
Vorhaben erstrebt nach der allgemeinen Ansicht irgend ein Gut."^^)
„Dieses Gut scheint in der einen Handlung dies, in der anderen jenes,
in der einen Kunst dies, in der anderen jenes zu sein."'^°) „Da aber
Schaffen und Handeln Verschiedenes ist, so muß die Kunst zum
Schaffen und nicht zum Handeln gehören."'^) ,, Kunst ist nichts anderes
als die Gabe, etwas mit richtiger Liberlegung hervorzubringen.""')
,, Kunst verwÜTung ist die Gabe, mit falscher Überlegung etwas von
dem hervorzubringen, was auch anders ausdrückbar ist."'^) Wie ge-
langt aber der Dichter und Künstler zu der Einsicht, daß er von dem,
was verschieden darstellbar ist, die rieh. ige Darstellung wählt? Offen-
''*) Tid.6u Ttyv)] xal ttügcx /jidoSog, oiioioig ds TTQÜ'^fg tb xui nqoaC-
osßic dyu,9ov Tivog icpiea&ai doy.eT. Nik. Ethik, a 1. 1094» 1.
''^) (fiuu'STut u?J.o h üXX>] TTou^st xat TiX^U' Nik. Ethik « 5. 1097» 15.
™) «Vft Öb 7roir]Gtg xat TiQu^tg ärsgov, ävdyxr^ ti)v rip'iqv jrotTJffsujg
dkV ov TTQu^fUjg eh'ui. Nik. Ethik ^ i. 1140a 16.
^^) >] {jh oiv li'/ri] eiig Tic yeTu löyov ulr]d-ovg Tvoiririxr, Jaiiv.
Nik. Ethik ^ 4. 1140^ '-20.
^^) ?' de uTiyi'iu tovvuviCov, jjstu Xöyov xpevdovg TTOirjTixtj f§ig, jtsqi
TU h'öax'öpsvov uil(x)g l>f»'. Nik. Ethik ^ -l- 1140=^ 21.
4*
52 Stephan Odon Haupt;
bar durch seine Veranlagung, sein Genie, so daß ihn dieses vor einem
Fehlgriff bewahrt, und zweitens durch die Erfahrung. Aus der Er-
fahrung entwickelt sich aber das Wissen. Es muß also auch von
jeder Kunst ein Wissen geben, das beweisbar ist. Und der Grundstock
für das Spezialwissen einer Kunst ist die Definition derselben. Denn
aus dieser ergibt sich alles andere. Die Definition ist und muß also
beweisbar sein und gehört und muß gehören zur Wissenschaft der
betreffenden Kunst. Tatsächhch spricht auch Aiistoteles in der
Metaphysik von einer ethischen und schaffenden Wissenschaft. „Da
es eine Natur^vissenschaft gibt, so muß sie natürHch etwas anderes
sein als die Wissenschaft der Handlungen und der schaffenden Künste.
Bei letzteren hegt der Anstoß ziu- Bewegung in dem Schaffenden
und nicht in dem Geschöpf, mag dieser Anstoß nun Kunst sein oder
ein anderes Vermögen."'^) Über den Endzweck dieser Wissenschaft
der schaffenden Künste spricht sich nun Aristoteles deutlich aus
im 7. Kapitel des 3. Buches seiner Himmelskunde. „Zweck der Wissen-
schaft der schaffenden Künste ist die Wirkung, Zweck der Natiu:-
wissenschaft ist das immer gemäß der naiven Wahrnehmung sich
Zeigende."^^) D. h. die Wissenschaft der schaffenden Künste, also
besonders die Definition, fragt nicht nach der Absicht des Schaffenden,
sondern hat es nur mit der tatsächlichen Wirkung zu tun, die das
Werk auf den Beschauer oder Hörer ausübt, geradeso wie die
Naturwissenschaft nicht spekulativ, sondern niu- deskriptiv ist, also
keine Antwort über den Zweck der Welt geben kann.
Also der Zweck, die Absicht des Dichters, hat auch in der
Definition der Tragödie nichts zu tun, dagegen nauß die Wirkung
darin stehen. Es ist mithin die Wirkung, die irgendein Kunstwerk
auf den Beschauer resp. Hörer ausübt, der höchste Zweck der
Kunst, also nicht, wie die dilettantischen Anhänger der Fart pour
l'art- Hypothese meinen, die Befreiung des Künstlers von den
kreißenden Schmerzen.
Noch deutUcher wird diese selbstverständhche Wahrheit aus
dem 4. Kapitel des 2. Buches der Seele: „Der Zweck ist ein doppelter;
''^) iTVsi S' eart, tk i] tvsqI (pvGsuiq eTttar^/Jt], ^fjXor ort xut jtQuxrixijg
hiou xul TioiriiixTiQ iCJUt- jroirjnx'rjg /j-sv ydo iv zrj) Troiovvit xut ov im
jtoiovfjei'M rrjg xiriiGetug r] oQX'h '^"^ tovt' lanv aXie T^/rr] bit üXXt] rig
dwu/Jig. Metaphy. x 7. lü;4a 10.
^°j TiXog irjq /j-sv TTOirjTixrjg iTci6n^^,riQ tö Iq/ov, rrjg Se (fvGtxrjg zt)
cpuivoysvoi' det xvQiwg xuid iriv uXod-qaiv. SOJ» lö.
über die Wirkung der Tragödie. 53
der eine bezieht sich auf den Schaffenden, der zweite auf den, für den
etwas geschaffen ist."^^) Der Zweck des Schaffenden ist aber seine per-
sönliche Absicht. Der eine Künstler schafft, um reich, der andere,
um berühmt zu werden, der ch-itte mll die Gunst der Menge gewinnen,
der vierte will die Welt verbessern, der fünfte will sich von seinen
geistigen Wehen erlösen. Alle diese Absichten sind aber nur per-
sönlich und decken sich nicht mit der Wirkung.
Trotzdem könnte man doch noch den Einwand erheben, daß die
Wirkung ebenso wenig als der Zweck in die Definition gehört, da
sie nur Eigentümliches jeder Tragödie seien.
Denn die Eigentümlichkeit (ro löiov) gehört tatsächlich liicht
in die Definition.
Im 1. Buch der Topik erörtert Aristoteles das Eigentümhche,
anknüpfend an die Schlüsse, zu denen man Vordersätze (= Voraus-
setzungen) und Probleme (-- Behauptungen) braucht. ,,Jede Voraus-
setzung und jede Behauptung bezeichnet entweder ein Eigentüm-
üches oder eine Definition oder eine Gattung oder Akzidentelles."^^)
Unter Definition {oqoq) versteht er hier, da er die Gattung (/tVoc)
trennt, die 2. Art der Definition, die nackte Form ohne Angabe
des Stoffes. „Definition ist die Bezeichnung dessen, was die Ver-
anlassung des Enstehens war."^^) „Gattung ist das, was mehreren
der Art nach verschiedenen Gegenständen als Prädikatssubstantiv
zukommt."^^) „Eigentümlich ist das, was nicht die nackte Form
ohne Angabe des Stoffes (also die 2. Definition) bezeichnet, aber doch
dem Gegenstand allein zukommt und mit ihm identisch ist, d. h.
Umstellung zuläßt. "^^) „Akzidentell ist das, was keines von den dreien
ist, weder 2. Definition noch Eigentümliches noch Gattung, was
aber der Sache doch zukommt, freilich so, daß es irgend einem Gegen-
stand, und zwar einem und demselben einmal zukommen, einmal
"0 TÖ d' oll iPexa öirrör, t6 fjei' ov, ro öi o). 415b 2.
*^) jiäffa de ttoötugiq xal tiuv nQÖßXri/ju ij ]'Stov i] öqov i] yivoc i]
av^ßaftrixdg di]}.oL Topik « 4. 101 b 25.
^•^) I'gti S' iooc fj^ev loyoQ o to tC f^v ilvai Gri/JuCnui'. Topik « 5.
101b 39.
^*) yfvoc ö' sGTi T() xard TrXsiövior xai SiacpeQÜrTWf t<ö sYSfi er rw
7/' ion xnniyoQov^inov. Topik a 5. 102a 3].
**^) Xdiov ö'tGTiv o fjiij drjXoT fjsr tu ti rjr shat, fjörco d' v7rd.Q/c( /.ul
uvTixurrj/oosiTui tov nody^uurog. Topik a 5. 102'' 18.
rj4 Stephau Odon Haupt,
nicht zukommoii kaiiii."^^) „Wohl ist es möglich, (Uß das Akziden-
telle in gewisser Beziehung und zu gewissen Zeiten ein Eigentüni-
hches ist, schlechthin Eigentümliches wird es aber nie sein."^') „Alles,
was über eine Sache ausgesagt wird, muß identisch sein mit derselben
oder nicht, also sich vertauschen lassen oder nicht. Läßt sich die
Umstellung vornehmen, so hat man die diitte Ait der Definition
oder Eigentümhches vor sich. Läßt sich die Umstellung nicht vor-
nehmen, so gehört das Ausgesagte entweder zur 3. Art der Definition,
und ist dann Gattung oder Unterschied; gehört es aber nicht zur
3. Art der Definition, so muß es etwas Akzidentelles sein."^^) Da
die 1. Art der Definition nur den Gattungsbegriff {ytvog) umfaßt,
der sich mit der Sache nicht vertauschen läßt, weil diese eine Art
der Gattung ist, die 2. Art der Definition, wie wir oben gesehen liabeii,
die Ursache des Entstehens enthält, die in Vereinigung mit dem
Gattungsbergiff erst die 3. Art der Definition ergibt, die sich daher
ohne Gattungsbegriff mit der Sache nicht vertauschen läßt, so versteht
Aristoteles liier unter oQiOffoc die 3. Art der Definition, die die
beiden ersten Arten umfaßt und enthält, daher er auch in der Parentese
sagt: „l^fachdem die Definition aus Gattung und Unterschieden be-
steht. "^^) Was folgt aus dem Gesagten? Nachdem wir schon oben ge-
zeigt haben, daß „Nachahmung" ein Verbalbegriff ist, der nach den
Umständen des Ortes, der Zeit, der Art und Weise und des Grundes
näher bestimmt wird, so haben wir nur zu untersuchen, ob die in
der Definition angeführten Umstände jeder Tragödie zukommen.
Denn dann sind sie charakteristische Merkmale der Tragödie, die
wohl jeder Tragödie zukommen, die sich aber einzeln mit der Sache,
hier der Tragödie, nicht vertauschen lassen, oder Eigentümliches
das sowohl jeder Tragödie zukommen, als auch sich mit dem Begriff
^^) Gvfjßfßfjxdg da tanr ö [j-rjcUv jjh tovtioi' ißrC. firjs oqo^ /jijts
Xdtov iJ/t]TS yivog tTvdQx^eb St rw TrgüyiJiaji,, xat ö ifdi^frai vndQxa^v
oTWOvv ivt xat tw uvio) xal fifj vTVUQysiv. Topik a 5. 102 b 4.
^'') tüöTe xai TVQÖQ tv xaC ivoie ovölv xwlvst ro av^ßsßrixoc Idior
yfyvsG&uc' unlwc S' fdt,ov ovx sGiai. Topik « ö. 102b 24.
^^) uvdyxrj yuQ Tcäv lo TtegC tivoq xuTrjyoQOVjLiii'iov JJTOi uviixaz)]-
yOQSiad-ut rov nqdyfJiaTOQ fj jurj. xai d fisv dvirxartjyoQslTUt, VQOC rj iSioi'
UV iYrj. at Ss fj.rj ui'TtxaTrjyoQshat, rov Ttody^axoc, r]TOi, tcoi' iv tcö öoiGfifö
rov vnoxaifiivov Xeyo/ni'on', yivoc i] diU(pood dr aYi], il 6t [D], drilov ort,
GvfjißtßrixdQ UV tYr}. Topik « 8. 103 b 7.
^) tTveidri u ooiGfjog ix yivovg xui dmtpoqvüv iOTtr. 103b 15.
89>
über die Wirkung der Tragödie, 55
„Tragödie" uiiitaiisclien lassen muß. Da stellt sich sofort heraus,
daß die intellektualistische Ivatharsis ein charakteristisches Merk-
mal jeder Tragödie, also ein Unterschied, aber kein Eigentünüiches
ist, während die Lessingische, Goethische und Gorgias-Bernaysische
Katharsis weder ein charakteristisches Merknial jeder Tragödie,
also ein Unterschied, noch ein Eigentümhches ist. Denn jede Tragödie
bewirkt, wie ich schon oben gezeigt habe, Mtleid und Fiu'cht und
dm-ch diese Affekte che xAnfklärung eines jeden über seinen diesbe-
züglichen Gemütszustand, aber nicht alles, was diese Wirkung her-
vorruft, ist eine Tragödie, auch das Epos, die Komödie etc. tut die-
selbe Wirkung. Nehmen wir dagegen eine der 3 anderen Katharsis-
erklärungen, so sieht man sofort, daß sie nur akzidentelle Wirkungen
enthalten, denn weder bewirkt jede Tragödie, wie Lessing meint, die
Reinigung, d. h. Besserung jedes Zuschauers, sondern diese Wirkung
erstreckt sich mu" auf die gutmütigen Übermütigen, noch wird, wie
Goethe meint, jeder Zuschauer um nichts gebessert nach Hause gehen —
dieses Glück genießen nur die Weltweisen — , noch bewirkt jede
Tragödie, wie Gorgias-Bernays meint, die erleichternde Entladung
jedes Zuschauers von seinen Fm-cht- und Mtleidsaffektionen — . das
wird nm' den böswlligen Furchtsamen zuteil — , noch ist alles, was eine
dieser 3 Wirkungen hervorruft, eine Tragödie; jede dieser 3 Wir-
kungen kann auch außer dm"ch jedes andere Theaterstück dm-ch eine
entsprechende Zeitungsnotiz hervorgerufen werden. Das sind also
wkhch nur akzidentelle Wirkungen, die daher in der Tragödien-
definition weder als charakteristischer Unterschied vorkommen,
noch der Tragödiendefinition als Eigentümliches (löioj') auge-
hängt werden können und dürfen. Wenn sie wenigstens ein Eigen-
tümhches wären, könnten sie wohl auch der Definition angehängt
sein, denn gewöhnhch vereinigt man die Definition mit dem Eigen-
tümüchen: wenigstens deutet dies Aristoteles in der Topik mit den
Worten an: ., Meistens wird ja das EigentüniHche im Zusammenhang
(mit der Definition) angegeben^"). '" Dann müßten sie sich aber sogar
mit dem Subjekt ., Tragödie" vertauschen lassen, was aber, wie wir
oben gesehen haben, nicht niöghch ist.
Der Zweck, der sich auf den bezieht, flu- den etwas geschaffen
ist, ist also die Wirkung. Doch auch diese ist verschieden. Der eine
^) WC yuo ijTi t6 TToXr ii' GvfJbTtloxJ; t6 Ydior dnodf()oru.i. Topik
ri 5. 150 b 15. '
5G Stephan Odor, Haupt,
Zuschauer wird durch eine Tragödie so erschüttert, daß er sich vor-
uiiuint, sich zu bessern (Lessingische Auslegung), der andere, freut
sich an den Schönheiten des Werkes und über die befriedigende Lösung
der Konflikte (Goethische Auslegung), der di'itte freut sich über das
vorgeführte Mißgeschick seines ihm verhaßten Gegners (Gorgias-
Bernaysische Auslegung); alle diese AVirkungen sind tatsächlich vor-
handen, vielleicht auch vom Dichter beabsichtigt, sie sind aber doch
nur akzidentell, d. h. können eintreten, müssen aber nicht. Jeder
dieser 3 Forscher und so auch alle anderen Forscher, die sich mit dieser
Frage beschäftigt haben, haben eben nur die AVirkung geschildert,
die sie selbst beim Anblick eines Trauerspiels empfanden, ohne zu
bedenken, daß nicht alle Zuhörer dieselbe AVirkung, die sie empfanden,
empfinden müssen, ja können. Jeder dieser 3 Forscher hat also nur
eine Teilwirkung geschildert, die alle in eine gemeinsame AA^ü-kimg
zusammenlaufen müssen. AA'enn man diese allgemeine AVirkung der
Tragödie ergründen mtU, muß man alle möglichen Zuhörer beachten
und nachweisen, welche AVii'kung bei allen Zuhörern zutreffen muß.
Und da findet man, daß nur eine AVirkung unausbleiblich ist, also
automatisch eintritt.
„AA^enn wii- nachahmende Darstellungen auch ohne Tanz und
Musik anhören, so sympathisieren wir alle^^).'" AA^'ie und warum alle
Zuschauer und Zuhörer sympathisieren müssen, habe ich in der „AAaeder-
gebm't der Tragödie'" auseinandergesetzt. Der Deutlichkeit halber
wollen w, bevor ^vir weitergehen, mit der herrschenden verwü-renden
Terminologie brechen und für die Bezeichnimg „tragischer Held'' und
..Gegenspieler" andere eindeutige Bezeichnungen gebrauchen, ob-
gleich ich schon in der ,,AA'^iedergeburt der Tragödie" diese beiden
Ausdrücke genau fixiert und mit ersterer Bezeichnung den unrecht
Tuenden bezeichnet, dagegen den um'echt Leidenden ,, Gegenspieler"
genannt habe. Da nämlich das AA^ort ,, tragischer Held" früher oft
für den um'echt Leidenden und heldenhaft Kämpfenden gebraucht
^^^.u•de, so paßt die Bezeichnung ,,Held" nicht mehr für jeden un-
recht Tuenden, denn diese sind meist wenig heldenhaft. AA^ir wollen
also nunmehr den um'echt Tuenden die ,, tragische Person", den
unrecht Leidenden die ,, vergewaltigte Person" nennen. Jeder
Zuschauer wd aber, ^vie w gesehen haben, unbedingt für eine
'^' dxQoiüjjevoi, TLüi' /Ji/Lolasiüv yfyvovic.i tiüvts^ GvfiTiu^i^g xcd xloqL
T(Zr (ii'd^iJtZr y.at tlüv ftskwr uvTUJr. Politik n] 5. 1840 a- 1'2.
über die Wirkung der Tragödie. 57
dargestellte Person Partei ergreifen müssen, sie wii-d ihm sympa-
thisch sein, die andere wii'd ihm antipathisch sein. Da aber die Tragödie
wie jedes Knnstwerk aufgebaut ist mit Rücksicht auf den Zuschauer,
so wollen wii-, wenn wir von der Wii'kung der Tragödie auf den Zu-
schauer sprechen, die Person, die einem Zuschauer sympathisch ist,
kwcz mit „Partner", die andere, die demselben Zuschauer antipathisch
ist, mit ..Gegenspieler" bezeichnen, wobei zu beachten ist, daß ,, Part-
ner" sowohl die tragische als auch die vergewaltigte Person sein kann,
we umgekekrt es auch mit dem „Gegenspieler" der Fall ist. Jeder Zu-
schauer wird also mit seinem Partner {r[uoiog) und für seinen Partner
Fmcht empfinden, und zwar mit seinem Partner die egoistische Fmxht.
wenn er sich nämhch mit ihm identifizieren kann oder muß, für seinen
Partner die sympathische Fm'cht, wenn er sich ihm ge sin nungs ver-
wandt fühlt, wenn er ihm sympathisch ist; für den Gegenspieler
wird derselbe Zuschauer entweder gar kein Mitleid, sondern Schaden-
fi'eude empfinden — Schadenfreude ist identisch mit zu wenig Mtleid — .
dann ist er ein gemeiner Mensch {(faclog), oder er wü*d echtes Mit-
leid empfinden, und zwar entweder das altruistische Mitleid, wenn
er ein edler Mensch ist, oder das egoistische Mtleid, das Bedauern
(rfilavd-Qf'j.-ria) aus Scheu vor Gott und den Menschen, wenn
er ein Dutzendmensch (xaH' ißiäq) ist. Daß dies richtig ist, zeigt
unmittelbar die Poetik des Aristoteles. Während x\ristoteles nänilich
auf die vergewaltigte Person keine Rücksicht nimmt, — er lobt nur
gelegenthch Homer und Sophokles, daß sie kühne Helden (örroj'öß/ot^c)
als vergewaltigte Personen bevorzugen; der Dichter soll also alle
möglichen Kombinationen für die vergewaltigten Personen vor-
nehmen, damit er nicht eintönig ist: denn je nach dem Charakter
der vergewaltigten Person gestaltet sich die Abwehr der Vergewalti-
gung: anders rächt sich eine Medea, anders ein Bankbanus, anders
ein TeU. anders ein Jago, anders eine Hedda Ga1)ler (Hedda Gabler
ist nicht, wie ich in der .."Wiedergeburt" S. 84 irrtümüch annahm,
die tragische Person, sondern die vergewaltigte; es ist eine echte
Tragödie und nicht ein Schauerdrama), — begrenzt Aristoteles die
tragische Person genau. Sie darf weder tugendhaft (l-iaix?jg)
sein noch ein Bösewicht (//o/.9//()oc); denn über das unverdiente
Unglück des Tugendhaften müßten sich alle entsetzen {luaQor).
über das verdiente Unglück des Bösewichts müßten alle befriedigt
sein {vt'iaOLQ), höchstens könnte einer oder der andere den Böse-
58 Stephan Oclon Haupt,
wicht bedauern; ..eine solche Handhmg könnte vielleicht Be-
dauern erregen, aber weder Mitleid noch Furcht^^^ " Während also
xVristoteles in der Definition von „Mitleid und Furcht" spricht, beides
muß in jedem Zuhörer geweckt werden, sagt er hier, wo nur von einer
Person, der tragischen, die Rede ist, austhUcklich, daß in jedem Zu-
schauer mit Bezug auf die tragische Person nui* „entweder Furcht
oder Mitleid" erregt wd. Ist die tragische Person nämhch für einen
Zuschauer Gegenspieler (= dvccsiog), so empfindet er nur irgend
einen Grad von Mtleid, wenn sie ins Unglück gerät, ist sie Partner
(= o(WLog), so empfindet er nui- irgend einen Grad von Fiu'cht^^).
Doch braucht das treibende Agens nicht die vergewaltigte Person
zu sein, eine andere Person kann ihre Rolle, die Rache, übernehmen,
nm- muß die Handlung so aufgebaut sein, daß alles walu-scheinlich
sein kann oder sein soll {xara xo dxfk), — eine solche Tragödie
ist ja besonders wirksam; darauf beruht eben das, was Ai-istoteles
mit „Peripetie" bezeichnet, wie z. B. im ,, König Ödipus" das Auf-
treten des Boten, der den Tod der Merope meldet und ganz unge-
zwungen Auskunft gibt über die Auffindung des Ödipus; ferner
die ungewollte Erkennung, die „Anagnorisis", wie z. B. im Ödipus,
in der Braut von Messina, in der Ahnfrau. Doch auch die gewollten
Erkennungen, wie z. B. wenn sich Odysseus den Freiern zu erkennen
gibt, die auch etwas darstellen, wie es sein kann, wirkea packend
auf die Zuschauer; alle diese 3 Punkte, einzeln oder ve'eint, bestimmen
die verwickelte Tragödienart. Doch auch die vergewaltigte Person
allein kann den Schicksalsumschwung der tragischen Person veran-
lassen und zu Ende f ühi'en, was ja aucl~ sehr packend ist, wie wh es
in der Uias sehen, es geht dann alles ganz naturgemäß (xara to
(tvayxulov) vor sich, eine solche Tragödie ist aber doch nicht so er-
greifend wie eine verwickelte {.-is.-rlfyjttvi])', Aristoteles nennt
sie eine einfache {ajih]). Das Erlebnis {jcQ(utc}, dessen Nach-
ahmung die Tragödie ist, spielt sich aber in Wahrheit nur vor einer
kloinen Menge von Zuschauern ab, oft sind die handelnden Personen
die einzigen Zeugen. Dadurch, daß ein gottbegnadeter Dichter eine
^■■^) TO fA^ev ydg (ptXdv&QtoTior i^oi äv i] loiavir] OvaxaöiC, dXV Ovis H
iliov ovrs (fößov. Poetik cap. 13. 1453» 2. | !
^^) Das bedeuten die sonst unverständlichen Worte: o juiv ydo
[sXeogl TCSQt loy dvd'^iöv icnr övCivxovvTu, u öl [(fößoc] Tveol top o^uoior '
iXfOc f.isv Tvsol TÖr dvd'^tov, (pößog df tvsqI tov ofiooov. Poetik 1.?. 1453» 4.
I
über die Wirkung der Tragödie. 59
solche spannende Handlung fixiert und ihr Ewigkeitsdauer und Bil-
dungswert verleiht, wächst die Zuschauermenge ins Unendliche,
denn sie ist nunmehr weder an Raum noch an Zeit gebunden. Diese
Fixierung erfolgt also durch die „nachahmende" Darstellung,
die, wenn sie alle anfangs erwähnten Eigenschaften hat, eine Tragödie
ist. Die Seelenschmerzen der Antigone, die statt des Brautgemaches
die Totenkammer betreten muß, sie wken heroisierend auch auf
späte Geschlechter, und die Janmierklagen des Kreon, sie wecken
schauerndes Unbehagen und fröstelndes Mchtigkeitsgefühl auch in den
Herzen späterer Tyi'annen. Darum mußte Aristoteles diese unaus-
bleibliche intellektuahstische Wirkung, die Aufklärung eines jeden Zu-
schauers über seinen Furcht- und IVIitleidszustand, in seine Tragödien-
definition hineinbringen. Daher sagt er „jttQaivovoa'' (= be-
wü'kerd) und stimmt dieses Partizip mit ^^filffr/oig''' und nicht
mit ,,7r(>«^"ff'>c" überein. Der Schlußsatz ist also schon aus diesem
Grunde nicht die Erklärung von „öjrovdaiac', wie Knoke in seiner
oben zitierten Abhandlimg meint.
Indem aber Aristoteles in dem Schlußsatz sagt: ,,Die nach-
ahmende Darstellung bewkt durch Mitleid und Fm"cht die
x\ufklärung, ^^^e wh uns bezüghch solcher Gemütsaffektionen in
unserem Innern verhalten"^*), gibt er mit den ersten Worten
noch eine unausbleibliche Whkung an; denn „durch IVIitleid
und Fm'cht" (<3/ sltov xcd (poßovj ist ja nichts anderes als
eine adverbiale Bestimmung des Grundes und drückt das Mittel zum
Zweck aus; da aber, wie A¥ir gesehen haben, in unserem Fall der Zweck
identisch ist mit der Wirkung, so ist im Ausdruck ,, durch Mtleid
und Furcht" das Mttel angegeben, durch das die Wirkung erreicht
wird. Der Schlußsatz lautet demnach eigenthch: ,,Die nachahmende
Darstellung bewhkt in jedem Zuschauer die Affekte Mitleid und
Furcht und durch diese Affekte die Aufklärung über unsere dies-
bezüghchen Gefühlsdispositionen Mtleid und Furcht. "^^^ Damit
ist auch die Streitfrage, ob „jr«^oc" und ,,.t«.9////«" dasselbe be-
deutet, endgültig erledigt; es kann gar nicht dasselbe sein. Die ganze
Definition der Tragödie lautet demnach: Die Tragödie ist die Nach-
^*) ()V i'/.iov xal (poßov TTSQcuvot'Ga t?Jj' tcüJ' toiovjvjv Trcx&rjfJUTO)!'
'^) Tifouii'ovrya iXiov xal (pößor xai diu tovtiov twv Traß^iiJr tijv twv
jotovTiüV TVu&rifJidnjor xdS^ugffiv.
CO (Stephan Odon Haupt,
ahmung einer außergewöhnlich wagemutigen und entschlossenen,
einheithchen und planvoll abgeschlossenen Handlung, die eine ge-
Avisse Länge hat und in heblicher Sprache abgefaßt ist, wobei jede
Art von Liebüchkeit in den einzelnen Teilen getrennt zur Anwendung
kommt; die Nachahmung geschieht dramatisch und nicht in er-
zählender Form und bewirlrt Mitleid und Fm'cht und durch diese
Affekte die Aufldäruug über unsere diesbezüglichen Gefühlsdispo-
sitionen.
Es könnte nun scheinen, als ob durch diesen Schlußsatz alle
unsere Erklärungen über den Haufen geworfen seien, oder daß Ari-
stoteles mit den Worten „(h' kliov xal rpoßov' doch etwas Über-
flüssiges in die Definition aufgenommen hat. Da wir aber mit Lessing
annehmen, daß Aristoteles niemals irrt, zumal wo es sich um eine
Defimtion handelt, anderseits alles, was mr deduziert haben, folge-
richtig ist, so müssen wir die eine Wirkung ,,öi e/Ltov ymI (foßor''
noch näher erklären. Daß sie bei der Tragödie immer eintritt, wollen
w vorläufig glauben. Daß sie aber auch in der Komödie immer
eintreten muß, das können wir trotz Aristoteles doch nicht recht
glauben. Und doch muß dies der Fall sein: diese Wirkung muß allen
von ihm angeführten Dichtungsarten gemeinsam sein, denn sonst
hätte er die Wirkung, oder wenigstens die Mttel zur Wü'kung, wie
wir schon oben erwähnt haben, bei den Unterschieden der Nach-
ahmung anführen müssen. Wir müssen also be weiser, soll Aristo-
teles recht behalten, daß z. B. auch die Komödie „Mitleid und Furcht
und durch diese Affekte die Aufklärung über unsere diesbezüglichen
Gefühlsdipositionen bewikt".
So wie es in der Mathematik eine positive und negative Zahlen-
reihe gibt und es dem Mathematiker ganz geläufig ist, mit der nega-
tiven Zahlenreihe geradeso zu operieren ^vie mit der positiven, so
müssen wir auch in der Ethik unter den Affekten positive und negative
Affekte annehmen und ebenso positive und negative Gefühlsdispositio-
onen zu den betreffenden Affekten. Bei der Furcht haben wir die
bekannten 3 Grade zu unterscheiden: 1. Zuviel Furcht, 2. zuwenig
Fm'cht, 3. die richtige Furcht. Die richtige Furcht hat nur der tugend-
haft Tapfere, der Weise. Seine Fiu'cht bezeichnet den NuUpunkt
der Zahlenreihe ; rechts ist die positive Furchtskala, huks die negative.
Auch der Tollkühne befindet sich auf der positiven Furchtseite. Seine
Tollkühnheit versetzt ihn in einen Rauschzustand, so daß er seine
4
I
über die Wirkung der Tragödie. 61
Furcht künstlich betäubt. Wenn er aber aus dem Bausch durch hgend
ein aufnüchte^ndes Ereignis plötzüch zu sich kommt, da empfindet
auch er seine wkliche Fm'cht, und ein solches Ereignis spielt ihm
die Tragödie vor. Wenn vm die Grenzen zwischen demToUkühnen und
deni Fuichtsamen graphisch darstellen sollen, so würde, wenn wü-
füi- die ganze Skala 100 Teilstriche annehmen, der Tollkühne die
positiven Zahlen 1 bis 3 umfassen, was zwischen 4 imd 98 steht, gehört
in das Gebiet des Furchtsamen. Der Tapfere ist über ehe Fmcht er-
haben, er ist nicht jenseits der Furcht, aber seine Fu cht ist Besonnen-
heit und Vorsicht. Nm* der Bösewicht ist jenseits der Fuicht; er
nimmt also ehe ganze 2 Teilstriche umfassende negative Fiirchtseite
ein von der Schamlosigkeit bis zum Zynismus und der Buchlosigkeit.
Alle Menschen haben demnach für jeden bestimmten Fall einen
bestinmiten und bestimmbarer Grad der Fm-cht. Aber aus
der Furchtskala allein läßt sich der Chajakter des Menschen
noch nicht bestimmen. Dazu braucht m,an noch die Skala
des Mitleids. Mitleid ist wohl auch Furcht, aber der Unter-
schied avkischen beiden Affekten ist doch gioß. Fiucht bezieht
sich nämlich auf uns selbst oder auf alles, was uns sympathisch ist
bei unmittelbar drohender Gefahr, ]\Iitleid bezieht sich vor allem
auf das, was uns nicht sjrmpathisch ist, bei eben eingetretenem Un-
glück, außer elem empfinden wir Mtkid auch über elas Unglück der
uns sympathischen Personen, wenn dasselbe schon längere Zeit hintei
uns hegt. Für das Drama kommt diese letztere Ait von 3Iit]eid nicht
in Betracht.
Jeeler Zuschauer empfindet also einen Grad von Fm'cht, wenn
seinen Partner eine Gefahr unmittelbar beeh'oht. Daher sagt Aristo-
teles: „Die Furcht bezieht sich auf den Partner,"^*^) Was empfindet
aber elerselbe Zuschauer, wenn sein Partner wirküch ins Unglück
gerät? Dann ist er entsetzt, und elas Entsetzen läßt das Mitleid nicht
aufkommen; dagegen werden andere Gefühle wach, che Rachegefühle.
Diese bewhken, daß derselbe Zuschauer, wenn sein Gegenspieler
bedroht ist, je nach seinem Charakter mit grausamer Lust odei doch
wenigstens mit Befiiedigung ehe drohenele Wolke über das Haupt
des Gegenspielers wd aufziehen sehen. Für ihn wird er sicher
keine Furcht empfinden. Erst wenn das Unglück über den Gegen-
»«) 0 di [cpößog] Tieoi jöv ufjbovov. Poetik 13. 1403» 4.
62 Stephan Odon Haupt,
spioler hereinbricht, größer als er es ihm selbst zugedacht, dann emp-
findet er über den unglücldichen Gegenspieler irgend einen Grad
von Mtleid. Daher sagt iVi'istoteles an derselben Stelle: ,,Das Mit-
leid bezieht sich auf den ungliickhchen Gegenspieler."^') Fi'eiiich
kann dieses Mtleid auch negativ sein. Daraus ist klar, daß die Mit-
leidsskala nicht identisch sein ka,in mit der Furchtskala. Aber eben-
deshalb ist es so möglich, daß jeder Zuschauer seinen Charalrter aufs
genaueste erkenne, er erhält gleichsam eine Photographie seines
Charakters. Da aber diese Wirkung automatisch eintritt, so ist es
notwendig, daß die Menschheit erst auf das Vorhandensein dieses
„Automaten für geistige Photographien" aufmerksam gemacht und
mit dem allerdings ungemein einfachen Mechanismus desselben be-
kannt gemacht wh*d. Denn bis jetzt wußten wir nur und glaubten
nur daran, daß die x\ffekte „Älitleid und Furcht" beim Anhören
einer Tragödie in uns erregt werden, unsere photographische Platte
war eben nur belichtet, aber nicht entwickelt. Denn die Ent^\^ckler,
die uns die 3 oben erwähnten Forscher gelehit hatten, erwiesen sich
als unzulänglich, da sie nicht bei allen Stücken und allen Zuhörern
ein Seeleubild hervorbrachten, daher niemanden ganz befriedigten;
außerdem waren sie nicht imstande, das Seelenbild zu fixieren. Und
so me die behchtete Platte ohne Entwcklung kein Bild ergibt, trotz-
dem dieses aber latent enthält, so hat ein solcher naiver Zuschauer
— und naiv waren mr bis jetzt alle — nur die Behchtung erfahren
durch die in ihm erregten Gefühle Mtleid und Furcht, die Aufklärung
über seinen Charaktei, sein Seelenbild, ist ihm aber nicht zum Be-
wußtsein gekommen. Dazu dient aber vor allem die Bestimmung
und Deutung des Aftoktos „Mithid".
Die Mitleidsskala hat nämlich die besondere Eigenschaft, den
menschlichen Charakter auf seine Güte zu prüfen. Es gibt gute und
böse Menschen, außerdem gutmütige und böswillige. Unter ,,grte
Menschen" wollen wir solche verstehen, div bewußt nie etwas ab
solut Böses tun, die also jenseits des „Bösen" stehen; es sind dies
die Tugendhaften, Weisen. Alle diejenigen, die bewußt nie etwas
absolat Gutes tun, die also jenseits des „Guten" stehei. nennen wir
Bösewichte. Die Mehizahl der Menschen steht aber zwischen Gut
und Bös, sie sind schwankende Charaktere, während die Tugend-
97
) 6 fjsv ydg [fXfog] ttsqi ror dvü'^iöv iartv dvarv^Oiivra.
über die Wirkung der Tragödie. 63
haften und Bösewichte abgeschlossene Charaktere sind, erstere im
Guten, letztere im Bösen. Doch auch sie waren einst schwankende
Charaktere und sind erst durch fortgesetzte Übung im Guten oder Bösen
und nach großen Seelenkämpfen Tugendmenschen oder Bösewichte ge-
worden. Aus manchen schwankenden Charakteren entwickeln sich also
mit der Zeit feste Charaktere, der Großteil der schwankenden Charaktere
bleibt aber sein Lebtag so, es sind dies die Dutzendmenschen. Sie
lassen sich immer von ihren Leidenschaften und von momentanen
Affekten leiten, „himmelhochiauchzend, zu Tode betrübt" schwanken
sie, bald Gutes, bald Böses tuend, dm-chs irdische Leben. Schwankende
Charaktere und zwar die Kühneu, zu retten, d.h. zu verhindern, daß
sich aus ihnen böse Charaktere bilden, dies ist der höchste Zweck und
das höchste Ziel der Tragödie und der Komödie. Und dazA dient
eben die automatische Wirkung beider. Diese ist aber, wie wir ge-
sehen haben, eine doppelte; denn sie besteht 1. in der Erregung der
Affekte Mitleid und Furcht und 2. in der dadurch bewkten Auf-
klärung eines jeden Zuhörers über seinen Charakter. Aber nur die
erste Wirkung ist jedem Zuhörer ohne weiteres offenkundig, auf die
zweite, die Aufkiärung, muß er erst aufmerksam gemacht werden, sie
muß ihm erklärt werden, damit er sie versteht. Aus dem Umstand,
daß aus der uns eihaltenen Poetik, wie es scheint, sogar absichthch
die Erklärung des Wortes Katharsis sorgsam entfernt wurde, ferner daß
auch aUe antiken Gelehrten nach Aristoteles sich über die Bedeutung
dieses Wortes gänzhch ausschweigen, indem sie dagegen nicht ein-
mal polemisieren, können wir mit Fug und Recht schüeßen, daß die
Gelehrten des Altertums von Aristoteles bis zu den Syriern des 5. Jahr-
hunderts nach Chr. ehe Katharsiserklärung als eine Geheimlehre be-
trachteten, die man dem großen Haufen vorenthalten müsse. Denn
daß die Alten über Geheinüehre schweigen mußten, vielleicht auch
konnten, das beweisen die bis jetzt noch unaufgeklärten eleusinischen
Mysterien. Ob schon Aristoteles seine Katharsislehre als Geheimlehre
empfohlen hat, ist wohl nicht zu ergründen, doch dürfte cües nicht
wahrscheinüch sein. Jedenfalls hatte man in der automatischen
Katharsis ein Mttel gesehen und gefunden, den Charakter eines jeden
Zuhörers untrüghch zu ergründen, vorausgesetzt, daß er sich nicht
verstellte; und dies war mu* dann mögUch, wenn er ganz naiv die
Tragödie oder Komödie auf sich einwirken ließ, also von ihrer se-
kundären AYirkung keine Ahnung hatte. Nur die Eingew^eihten zogen
64 Stephan Odon Haupt
ihre Schlüsse, die, wie man aus manchen Andeutungen des Dio Cassius
und Sueton entnehmen kann, für die betreffenden naiven Zuhörer
einer Tragödie manchmal verhängnisvoll waren. Diesem Übelstand,
daß man bei der naiven Betrachtung einer Tragödie oder Komödie
seinen Gemütszustand, ja seinen ganzen Charakter unzweideutig
verrät, kann man jedoch auf eine höchst einfache Weise begegnen.
Wenn in allen Theatern das Beifallklatschen während des Aktes und
bei den Alrtschlüssen jeder Ausdruck des Mißfallens verboten würde,
dagegen alle Zuschauer zum BeifalUdatschen aufgefordert wiü'den,
wie es ja auch in den Komödien der Alten walirscheinlich aus eben
demselben Grunde tatsächhch geschah, so würde in dem allgemeinen
Beifallklatschen am Schluß eines jeden Aktes die detektivmäßige
Beobachtung der einzelnen Zuschauer unm,öglich sein. Mit anderen
Worten: die Zuschauer müssen sohdarisch jedesmal Beifall klatschen,
wenn sie ihren Charakter nicht prostituieren wollen, sie müssen sich
also verstehen, indem sie auch an Stellen, die sie tief verwunden,
Beifall klatschen. Dafür haben sie den großen unbezahlbaren Vor-
teil, daß sie das schwieligste psychologische Problem, in der diskre-
testen Form und auf die bilhgste Weise ohne jede Mühe und Anstren-
gung von selbst gelöst finden, ihre Selbsterkenntnis, das rvmdi
oavTov, wonach die Alten bis zu Aristoteles vergebens geseufzt und
gestrebt haben. Dazu ist aber notw^endig, daß alle Zuschauer vor dem
Anhören des Stückes über den Inhalt desselben, über die tragische
und vergewaltigte Person und über die Schlußfolgerungen, die sich
aus der aufklärenden Wü'kung des Stückes auf den Charakter der
einzelnen Zuschauer ergeben, aufgeklärt werden. Auch dies haben die
Alten wenigstens teilweise schon getan.
Feste Charaktere, die ja nicht mehr geändert werden können,
bekom.men dann den sicheren Aufschluß, daß sie tugendliafte Weise
oder Bösewichte sind. Der Großteil des Pubhkums besteht aber aus
den schwankenden Charakteren, die nie wissen, wie sie sind. Es
sind dies die Tollkühnen und das ungehem'e Heer der Furchtsamen.
Beide Teile sind nun entweder gutmütiger Natur, d. h. sie sind
weder Tugendmenschen noch Bösewichte, wenn sie aber zwischen
Gut und Bös sich entscheiden müssen, so neigen sie Heber zum Guten
als zum Bösen, oder böswilhger Natur, d. h. sie neigen mehr zum
Bösen. Gerade die Mitleidsskala läßt einen jeden Menschen tief in
sein Inneres bücken und die Aufklärung, die er diesbezügUch beim
über die Wirkung der Tragödie. 65
Anblick einer Tragödie bekommt, ist ein Ventil, das einen Teil vor
der Gefahr der Verrohung warnt. Wenn mr närajich den uns unsympa-
thischen Gegenspieler im Unglück sehen, dann werden nur die gut-
mütigen Tollkühnen und die gutmütigen Furchtsamen mit ihm ein
gedämpftes Mtleid empfinden, das Bedauern, die böswilligen Furcht-
samen werden jauchzend triumphieren und die böswilhgen Toll-
kühnen werden ihn ingrimmig noch weiter hassen. Daher müssen
die böswilligen Tollkühnen und die böswilligen Furchtsamen von der
rechten Furchtseite auf die hnke Mitleidseite übertragen werden. Die
rechte Seite der Mitleidsskala wird also nur 2 Teilstriche gutmütiger
Tollkühner und 15 Teilstriche gutmütiger Furchtsamer, also im ganzen
17 Teilstriche umfassen; die hnke wd von 0 bis 1 den einen Teilstrich
der böswilligen Tollkühnen, dann 80 Teilstriche der bös^^•illigen Furcht-
samen und dann erst die 2 Teilstriche der Bösewichte, also im ganzen
83 Teilstriche, umfassen. Und aUe. die auf der linken Seite der Älit-
leidsskala stehen, zeigen beim Anblick des leidenden Gegenspielers
negatives Mtleid. Schadenfreude und triumphierendes Hohn-
gelächter. Die Mtleidsskala kom])iniert mit der Furchtskala gibt
also einem jeden Zuschauer ein untrügliches Abbild seines Innern.
Am reinsten erhält man dieses Spiegelbild beim Anblick einer echten
Tragödie und einer echten Komödie; denn tatsächlich erreicht auch
letztere ihre aufklärende Wii-kung nur durch die Mfekte Mtleid und
Furcht. Denn Gelächter und Lustigkeit, hervorgerufen durch den
Anblick eines blamierten Komödienhelden, sind ja negative Seiten
des Mtleids, nur daß bei der Komödie die Seiten der Skala etwas ver-
tauscht sind und auf der linken Seite, der Lachseite, die gutmütigen
und auch böswillige Menschen stehen. Die Zuschauer teilen sich
also beim Anblick einer echten Tragödie in 6 Gruppen: 1. die Tugend-
haften, 2. die gutmütigen Tollkühnen, 3. die gutmütigen Furchtsamen,
4. die böswilligen Tollkühnen, 5. die böswilligen Furchtsamen, 6. die
Bösewichte. Die tugendhaften Zuschauer werden mit der verge-
waltigten Person sympathisieren, also die sympathische richtige Fiu-cht
für diese und beim Unglück der tragischen Person das altruistische Mt-
leid mit ihr empfinden^^); die gutmütigen Tollkühnen werden, wenn sie
98) Diese sympathische richtige Furcht äußert sich beim Tugend-
haften, der catürlich auch wirklich tapfer ist, darin, daß er die Hand-
lungen der vergewaltigten Person nur dann billigt, wenn diese auch
tugendhaft ist, sonst sie verbessern möchte in seinem Sinne.
5
(36 Stephan Odon Haupt,
sich mit dor tragischen Person identifizieren können, die egoistische
Furcht für sich empfinden, wenn sie mit der tragischen Person nur
sympathisieren, die sympathische Furcht für sie empfinden, beim
Anblick der leidenden vergewaltigten Person werden sie diese be-
dauern. Die gutnüitigen Furchtsamen werden, wenn sie sich mit der
vergewaltigten Person identifizieren können, die egoistische Furcht
für sich, und wenn sie mit ihr nur sympathisieren, die sympathische
Furcht für sie empfinden, beim Anblick der leidenden tragischeu
Person werden sie diese bedauern; die böswiUigen Furchtsamen werden
sich wie die gutmütigen Furchtsamen verhalten, nur daß sie beim
AnbMck der leidenden tragischen Person Schadenfreude empfinden;
die böswilligen Tollkühnen werden sich wie die gutmütigen Toll-
kühnen verhalten, nur daß sie beim Anblick der leidenden verge-
waltigten Person grausame Schadenfreude und ungesättigtes Rache-
gefühl empfinden; die Bösewichte werden weder für sich noch für
eine der beiden Parteien fürchten, noch Mitleid empfinden über eine
der beiden Parteien, außer wenn die vergewaltigte Person ein Böse-
\\icht ist, dann werden sie die egoistische Furcht empfinden. Diese
genaue Unterscheidung der Charaktere ist aber nur bei einer echten
Tragödie möglich. Es ist daher unerläßlich, genau zu bestimmen,
ob wir eine echte Tragödie vor uns haben. AVelche ]\Icrkmale eine solche
haben muß und wariim, habe ich in der ..Wiedergeburt der Tragödie"
bereits auseinandergesetzt.
Sie, die echte Tragödie, dient also hauptsächHch dazu, das kost-
barste Menschenmaterial, die Tollkühnen, zentripetal zur Weisheit
zu leiten. Denn sie flankieren, vcie wii gesehen haben, in der Mit-
leidsskala die Tugendhaften, die Weisen. Leichter gelingt dies natür-
lich mit den gutmütigen als mit den böswilligen TollkiUinen, die be-
reits die abschüssige Bahn der linken Seite betreten haben.
So wie die Tragödie auf die gutmütigen Tollkühnen wirkt und
für sie vom größten Wert ist, ja wie sie eigentlich nur für sie be-
stimmt ist, so ist die Komödie fast ausschließlich für die böswiUigen
Tollkühnen bestimmt und soll diese möglichst zentripetal führen.
Es war ein guter ( rriff des Aristoteles, daß er die alte politische
Komödie entthronte und an ihre Stelle die sogenannte Charakter-
komödie verlangte. Denn in der politischen Komödie wurde kern
Stand gegeißelt, sondern nur eine politische Person oder ein politischer
Klub lächerüch gemacht. Das Theater teilte sich demnach in 2 un-
ii
über die Wirkung der Tragödie. 67
gleiche Parteien: auf der einen Seite die verhöhnte Einzelperson,
auf der anderen alle anderen Zuschauer. Ganz anders bei der Charalder-
komödie. Der Dichter schafft eine ernste Situation, die sich aber
in Wohlgefallen auflöst, in der also kein Teil vernichtet wird. Und
da der unrechttuende Teil der Komödie eine typische Figur ist, ge-
nommen aus der gi'oßen Masse, so tiitt die l^Iitleids- und Fm-chtskala
mit ihrer posHiven und negativen Seite tatsächhch auch bei der Komödie
in ihre Rechte. Auch die Komödie muß also wie die Tragödie als un-
rechttuenden Teil einen Übermütigen haben, die vergewaltigte Person
kann ])ehebig sein. Denn die Komödie Märt auch alle Zuschauer
über ihren Gemütszustand Furcht und Mtleid auf, sie dient aber
speziell der Besserung der böswiUigen Übermütigen und Tollläihnen.
Während diese nämhch durch die Tragödie nicht ergiiffen, sondern
sogar noch mehr erbittert werden, sucht sie der versöhnhche Schluß
der Kom,ödie zur Einsicht zu bringen und ^oll sie also vor der A^'er-
rohung bewaliren rtsi». ihren Übergang in den Seelenzustand des
Bösewichts aufhalten und verhindern. Tragödie md Komödie sind
also für die Tollkühnen und Übermütigen ethisch zu bewerten, sie
sollen, können, ja müssen diese bessern; und dadm'ch erheben sie
sich ül)er alle anderen Dramenarten himmelhoch. Denn diese nehmen
als unrechtuenden Teil entweder Tugendhelden oder Feige oder Böse-
wichte. Tugendhelden können aber nur mibewußt ein Unrecht tun. Feige
oder Bösewichte aber tragisch enden zu lassen, ist ethisch zwecklos, da
die feigen und bösen Zuhörer nicht besserungsfähig sind. Aristoteles
hat daher die ethisch zwecklosen Dramen unter einem Sammel-
namen zusammengefaßt, indem er sie bei seiner Aufzählung im An-
fang der Poetik „7) ötd^vQa/jßo.-ioir/rix//"' nennt. Er versteht dar-
unter sowohl den Dithyrambus, der als unrechtuenden Teil einen
Tugendhelden hat, als auch die Dramen, welche Feige oder Böse-
^vichte als unrechtuende Person haben. Denn wenn er unter
„di&vQafißojroirjTix/j"' nur den Dithyrambos gemeint hätte, so hätte
er ihn auch so bezeichnet und nicht das ungewöhnhche Wort
„6i{f^v(jaf/ßojroi/jTiz//' angewendet. Wir wollen, seinem Vorgang fol-
gend, aUe jene Dramen, in denen Tugendhelden, Feige oder Böse-
wehte die um'echttuendtn Personen sind und tragisch enden, mit dorn
Sammelnamen ,, tragische Dramen" bezeichnen, wenn sie nach Art
der Kom.ödie mit einei Versöhnung schUeßen, sie Lustspiele ntnnen.
Dagegen bleibt die Bezeichnimg „Tragikomödie" für alle Dramen-
5*
t)8 Stephan Odon Haupt,
•
artfji, in dtueii nur die vergewaltigte Person tragisch endet, die nnrecht-
tuende Person also triiimphieit.
Da ich in der ,, Wiedergeburt der Tragödie'' noch der irrigen
Ansicht war, daß die unrechttuendc Person der Komödie ein Feiger
sein müsse, so muß ich einiges, was ich infolge dessen dort hrig aus-
einandergesetzt habe, berichtigen. Die Einteilung der freiwilhgen
Handlungen (S. 35) in solche mit guter Absicht (g) oder böser Absicht
(b) entfällt, weil dem dramatischen Zuschauer jedes Unrecht böswiUig
erscheint. Ebenso ist die Differenzierung der gezwimgenen Handlung
infolge schlechter Gewohnheit (zm) überflüssig. Die Bezeichnung
„ohne Überlegung" (oü) bei der gez\^aingenen Handlung ist gleichfalls
überflüssig.
Dagegen wollen wir eine Tat, die absichtlich und wohl überlegt
geschieht, wenn sie von einem Tugendhelden ausgeht, mit dem In-
dex „a", und wenn sie vcm einem Bösewicht ausgeht, mit dem Index
„b" bezeichnen.
Es ergeben sich demnach für aUe dramatischen Handlungen folgende
8 Kombinationen:
Ij^ Der Täter (Tugendheld) handelt wissentlich (w), absichthch (a),
wohlüberlegt (ü),
Iii, Der Täter (Bösewicht) handelt wissentHch (w), absichtlich (a),
wohlüberlegt (ü),
12 Der Täter handelt wissenthch (w), absichthch (a), imüberlegt
(uü),
13 Der Täter handelt ^^-issentlich (w), gez\nmgen (z).
Ilia Der Täter (Tugendheld) handelt unwissentlich (uw), absicht-
lich (a), wohlüberlegt (ü),
Uli, Der Täter (Bösemcht) handelt unwissenthch (uw), absicht-
lich (a), wohlüberlegt (ü),
112 Der Täter handelt unwissenthch (uw), absichthch (a), unüberlegt
(uü),
113 Der Täter handelt unwissenthch (uw), gezwungen (z).
Für die unrechttuende Person der Tragödie kommt nur die Kom-
bination I2, für die der Komödie Ig und II2 in Betracht, letztere als
die Nvirkungs vollere. Es ergeben sich mithin, da die vergewaltigte
Person jeder der 8 Urkombinationen entnommen sein kann, für die
Tragödie folgende 8 Kombinationen:
1
über die Wirkung der Tragödie. 69
1. Unreclittuende Person
2.
vergewaltigte Person Ij,,
" Mb
.. L
'■2
I, •• " ^3
lila
IIl.
IL.
3.
4.
5.
6-
7.
8
und da jede TragödienkomJjination (vgl. ,,AViederg0burt", 8. 50)
4 Arten hat, so gibt es 32 Arten von echten Tragödien, und da jede
der 16 Koraödienkombinationen niu* 2 Arten hat, ebenfalls 32 Arten
von echten Komödien. Ferner gibt es, entsprechend den 8 Helden-
dramenkombinationen (unrecht uende Person liJ 32 Arten von
Heldendramen, ebenso 32 Arten von tragischen Schauspielen (un-
rechtuende Person Ij^,). Nach I3 kann nm* ein Feiger als unrechttueude
Person handeln, solche tragische Dramen wollen wir Suggestivchamen
nennen. Es gibt mithin auch 32 Arten von Suggestivcb-amen (unrecht-
tuende Person I3). Alle tragischen Dramen, in denen die um-echt-
tuende Person, gleichgültig, ob sie ein Tugendheld oder Bösewicht
oder Übermütiger oder Feiger ist, unbewußt Unrecht tut, wollen
wn „Schauerdramen" nennen. Es gibt also 32 Kombinationen oder
128 Ai-ten von Schauerdramen (unrechttuende Person n^a, IIi^,, Hg,
113). Lustspiele gibt es, nachdem flu die Komödie die 2 Kombinationen
I2 und II2 reser\iert sind, 48 Kombinationen oder 96 Lustspielarten
(um-echttuende Person: I^^, Iib, I3, i^u, Hib, ^h)- Tragikomödien,
das sind solche Dramenarten, in denen nur die vergewaltigte Person
erhegt, die unrechttuende Person aber triumphiert, gibt es zu allen
8 Ürkombinationen, also im ganzen 64 Kom])inationen, und da jede
Kombination 2 Arten hat, so gibt es im ganzen 128 Tragikomödien-
arten.
Außer den Tragödien, den tragischen Dramen, Komödien, Lust-
spielen und Tragikomödien sind aber noch solche Theaterstücke
möglich, in denen der tragische Ansatz weder zu einem tragischen
Ende noch zu einer allgemeinen Versöhnung führt, sondern in
denen entweder beide Parteien, die unrechttuende und die ver-
gewaltigte Person, oder nur eine Person, entweder die un-
rechttueude oder die vergewaltigte Person, lächerlich gemacht
wird. Wii wollen solche Stücke, in denen nur die unrechttuende
70
Stephan Odon Haupt,
Person lächerlich gemacht wh-d, „Scll^Yänke'■ nennen. Danach gibt
es, da alle Urkombinationen niöghch sind, 64 Konil)inationen oder
128 Schwankarten. Wird nur die vergewaltigte Person lächerlich
gemacht, so haben wk die „Posse" vor uns, die gleichfalls 64 Kom-
innationen oder 128 Possenarten ergibt. Werden beide Parteien
lächerlich gemacht, so wollen wir ein solches Stück Travestie nennen.
Deren gibt es gleichfalls 128 Arten. Es gibt also:
32 Arten von echten Tragödien,
32
32
32
32
128
96
128
128
128
128
Komödien. "
Heldendramen,
tragischen Schauspielen,
Suggestivdramen,
Schauer cb-amen,
Lastspielen.
Tragikomödien,
Schwänken,
Possen.
Travestien, im ganzen also
896 Dramenarten,
und zwar 384 Arten von ernsten und 512 Arten von heiteren Dramen.
Interessant ist, daß sowohl Goethe als auch Bernays in ihren
diesbezügüchen Abhandlungen die intellektualistische Wirkung der
Tragödie, die Aufklärung, sogar mit derselben Bezeichnung streifen.
Während aber der Gelehrte Bernays jede moralische Wirkung oder
„intellektuelle Aufklärung'' ganz und gar zurückweist, da sie ihm
nicht in seine Erklärung paßte, hat Goethes Genie selbst dort, wo
er als Forscher zu einem Fehlschluß gelangt ist, diesen Fehler anbe-
wußt ausgeglichen. AVährend nämlich Bernays am Schluß seiner
Abhandlung: „Aristoteles über Wirkung der Tragödie'' (S. 78) aus-
tlrücklich sagt: „Die Tragödie und das letzte Ziel, auf welches alles
in ihr hinbhckt, die tragische, vom Mitleid angefachte „Furcht"
erschien dem Ai-istoteles zu moralischer Besser ang oder intellektuellei
Aufklärung weder befähigt noch berufen; für solche Zwecke wollte
er andere Mittel aufgeboten wissen", und zur Begründung seiner Be-
hauptung Goethe zitiert, indem er fortfährt: „er würde Wort
für AVort dem beigestimmt haben, was ein Künstler wie Goethe zu
bekennen aufrichag genug war"; ..keine Kunst vermag auf Mora-
I
über die Wirkung der Tragödie. * 71
lität ZU wirken: Philosophie imd Religion vermögen dies allein, "• hatte
sich Goethe, da er sich ja nur gegen die Wirkung der Kunst auf Mora-
htät, nicht gegen die intellektuelle Aufklärung derselben wendet,
ganz anders ausgedrückt. In seiner „Nachlese zu Aristoteles' Poetik"
sagt er: ..Aristoteles versteht unter Katharsis diese aussöhnende
Abrundung, welche eigentlich von allem Drama, ja sogar von allen
poetischen Werken gefordert wird die Verwicklung whrd den
Zuschauer verwirren, die Auflösung aufklären", Alleidings
meint Goethe damit nur. daß die Auflösung des Knotens den Zuschauer
nur insofern aufklären werde, als er die Verwicklung des Knotens
nach der Auflösung versteht, aber trotzdem hat er gerade an der
richtigen vStelle. ohne es zu ahnen und zu wollen, ja gegen
seinen Willen, das richtige Wort ausgesprochen, denn ei war eben
ein Genie.
Wir wenden uns nun der Deutung der für die intellektuaüstische
Kathaisis wichtigsten Stelle zu. der bekannten, bereits erwähnten
Pohtikstelle. Dort, im 8. Buch kündigt nämlicL Aristoteles das
Wort ,, Katharsis" als einen neuen Terminus an. ,,Was wir unter
.Katharsis' verstehen, wollen wir jetzt nur einfach (d. h. mit einem
Worte) sagen, s])äter werden wir es \\ieder in den Büchern über die
Poetik deuthcher sagen. "^^)
Nachdem wir nun durch den ,. Ethos" von Süß wissen, daß ,,Ka-
tharsis"' als medizinisch-therapeutischer Teiminus in der Bedeutung
„erleichternde Entladung" schon vor Plato allgemein bekannt und
geläufig war, so konnte Aristoteles schon aus diesem Grunde mit obigen
Worten nicht den Thrasymachos-Gorgianischen Terminus neu ein-
führen wollen, denn seine Hörer hätten ihn einfach ausgelacht. Dank
Süß ist es nun ganz klar, daß Gorgias oder, wie Süß vermutet. Thrasy-
machof die Wirkung des Dramas als eine medizinisch-therapeutische
hinstellt, ganz wie es Bernays, ohne Kenntnis von der be^vllßten
Stelle in der „Helena" des Gorigias zu haben, erklärt hat: und wenn
auch in der Helenastelle das Wort „ Katharsis '" selbst nicht genannt
ist, so kann Gorgias kein anderes Wort fiü diese Purgierung der Affekte
angewendet haben als ., Katharsis." da dies auch der medizinische
Terminus für die körperhche Purgation war. So erklärt es sich jetzt
"") Ti oe Aeyofif)' rip' y.uxTaoaiv. vvr fuv a.nUxiC, nakiv o sr toiq
TTfQi TTOn]iiy.r,c SQovfjev GacfeaTsgor. Politik 9 7. 1.341b 38.
72
Stephan Odon Haupt,
dank Süß ungez^YnIlgen, wieso Plato, da er die Lehre des Tlirasy-
machos-Gorgias nicht zu widerlegen vermochte, als echter Künstler
und Idealist alle Dichtkunst, selbst seinen Liebling Homer blutenden
Herzens aus seinem Idealstaat verbannen mußte. Und weil er selbst
kein Mittel fand, diese teuflisch berückende Lehre zu widerlegen,
so spielt er, der Hoffnungslose, doch noch mit dem Gedanken, daß
vielleicht ein Retter der Poesie erstehen könnte, der nachweist, daß
die Poesie nicht im Sinne des Thrasymachos-Gorgias ,,kathartisch"
wirkt, sondern veredelnd. Denn dann wäre sie für den Staat wieder
gerettet.
Und dieser Ketter der Poesie war sein Schültr x\ristoteles. .,Ja,
die Tragödie wkt medizinisch-therapeutisch kathartisch." so lauteton
dessen Ausführungen, „aber das ist nur eine Nebenwirkung, die nur
den i\rmen im, Geiste zuteil wd, denen sie eine unschädliche Freude
bereitet. Die Furchtsamen und Jammersehgen. sie erfahren die ,ei-
leichternde Entladung', indem sie beim Anhören einer echten Tragödie
über die, vor denen sie sich fürchten, gefahi'los in unschädhcher Freude
triumphieren können." Das ist der Sinn der Stelle in 1342* 11 1°*^).
Gerade dadurch, daß Aristoteles dem neu augekündigten Terminus
,, Katharsis" dasselbe Wort im alten medizinisch-therapeucischon
Sinne folgen läßt, hat er w^ohl absichtUch die Verwirrung hervor-
gerufen. Noch wll er seinen Hörern seine Erfindung nicht mitteilen,
— er vertröstet sie auf die Poetik — , er mW sie nur andeuten, die
Erwartung seiner Hörer spannen, er gönnt sich noch einige Zeit die
Freude, mit ihnen zu spielen. Er lüftet den Schleier, er spricht sich
sogar schon miverhüllt aus und doch kann ihn keiner verstehen.
Daß er wkhch neben der Gorgianischen Katharsis, der erleichternden
Entladung, eine neue Bedeutung dieses Wortes einführen will, er-
hellt klar aus dem 6. Kapitel des 8. Buches der Pohtik. Dort erörtert
er, welche Instrumente die Jugend spielen lernen soU. Er spricht
sich gegen die Flöte aus. „Sie ist eher aufregend {oQyiaonxor)
als ethisch wirkend, weshalb man sie nur zu solchen Gelegenheiten
spielen soU, wenn das Anhören eher eine .erleichternde Entladung
^°°) „Tuvrd öl] TOtTO dvayxnTor irdax^"' ^«^ ^ovc ilsi]fiovac xut Toug
(foßriTixovc xul Tovg Ökujg TTuO^rjnxovc, rotg d' üXXovg xuS' oGov tjiißäXXBv
xwv TOtovTwv sxdßTM, xut Ttdßi, yCyvfGd^uC riva xd&aoatr xui xov(pit,((fy^(n
fj,sd^' }]öorrjg.''
über die Wirkung der Tragödie.
73
der Gefühle' als ein , Lernen' bewken soll."^*'^) Hier wendet Aristo-
teles das Wort „Katharsis'' zum erstenmal in der Politik als einen
geläufigen Terminus an; denn es steht ohne Bemerkung. Dieser ge-
läufige Terminus kann nur der Gorgianische sein, die „erleichternde
Entladung". Denn wenn Aristoteles einige Zeilen tiefer (1341^38)
bei der zweiten Setzung des Wortes „Katharsis" den oben zitierten
Satz: „AVas wü- unter , Katharsis' verstehen, wollen wir jetzt nur
kurz sagen, später werden wir es wieder in den Büchern über die Poetik
deutlicher ausdrücken," hinzufügt, und durch diesen Zusatz das
Wort „Katharsis" bei. der 2. Setzung als einen neuen Terminus an^
kündigt, so hätte er diesen Zusatz doch schon bei der ersten Setzung
des Wortes , Katharsis" machen müssen, wenn er eben dort (134J-^ 23)
seinen neuen Tei minus zum erstenmal angewendet hätte ^"^j. Was soll
aber das Wort „^a«i9-/^(;^g" ? Was soll denn der Zuhörer von der Flöte
lernen? Aristoteles spricht hier sowie bei sein m neuen Terminus
„Katharsis" in Rätseln, deren Lösung er seinen Zuhörern erst in
der Poetik geben will, wie er ausdrückhch sagt. Dort eist will er
ihnen ausführheher sagen, was Katharsis ist, vorläufig will er es nur
mit einem einfachen Worte erklären. Vergebens suchen wir nach
dem angekündigten einfachen Worte. Und doch hat er sein Ver-
sprechen erfüllt, nur daß er seine Zuhörer foppte. Wenn er es an
dieser Stelle (1341^ 40) gesagt hätte, so hätte er sich st inen Spaß
selbst verdorben; er hatte das Wort schon früher genannt, ohud daß
es einer merkte, nämMch eben in 1341'' 23. „i/dd-r/atc = yMd^aQ(ng'\
,, Katharsis" ist identisch mit „Mathesis" und entspricht, wie ich
schon zeigte, unserem, deutschen Worte „Aufklärung." Aristoteles
mU dort sagen: Die Flöte ist ein Instrument, welches aUe Zuhörer
aufregt. Jeder wird dm-ch die Klagetöne der Flöte an sein Leid er-
innert, denn jeder hat schon Leid erfahren; daher werden aUe Zu-
hörer durch die Flöte gerührt. Es findet also bei allen Zuhörern eine
'"^j IV«. 6' ovx ianr ö uvXoc i^d^ixör uaXu (iuklor OQyiaGnxöv, (vor^
jTQog rovq toiovtovq uvtm xuiqovc ^QtjGiiov, iv oig ?/ &ewQiu xdd^uQGir
^äXXov övvaTUi )] fjdd-rjGiv. Politik ^- 6, 1841» 21,
i""-*) Aus dieser Einführung des Wortes „Katharsis" als eines neuen
Terminus ist aber auch klar, daß Plato das Wort in der neuen Be-
deutung von „Aufklärung" noch nicht gebraucht haben kann, und ich
ziehe daher meine in der „Lösung der Katharsistheorie des Aristoteles"
S. 35 aufgestellte Behauptung, daß „Katharsis" im Sinne von „Auf-
klärung" schon von Plato im Phaidon angewendet worden sei, zurück.
74 Stephan Odon Haupt..
mehr oder minder große „erleichternde Entladung" der Rührscüi;-
keit, weniger eine ..Aufklärung'" über diesen Seelenzustand statt.
Denn es wird nur wonige geben, die ungoriilnrt bleiben, und das sind
entweder lünder, die noch kein J^eid erfahren haben, oder geraüts-
rohe Menschen, für die die Musik und Kunst nicht oder noch nicht
besteht. Im 7. Kapitel des 8. Buches der Politik bespricht Aristoteles
Rhythmus, Harmonie und Lieder. Die Lieder scheidet er, indem er
sich der Einteilung einiger Philosophen anschließt, in ethische {^B-iy.a
idh]) praktische (:fiQaxTrAd) und enthusiastische (h-ihovCtuOTixä).
Gomperz behauptet, daß Aristoteles für die lyrische Poesie kein
Auge besitzt. AVenn auch di'^s nicht der Fall ist, so wertet Aristo-
teles doch die Lyrik und die Musik nicht sehr hoch. Dies ersieht man
schon aus dei Nachlässigkeit, mit der er diese Einteilung einiger
Philosophen olme ein Woit der Entgegnung annimmt. Jedenfalls
kann man daraus den Schluß Jehen, daß er wie Sokiates rieht musi-
kalisch war. Daß er mit obigei Einteilung dei Lieder eigentUch nicht
einverstanden ist, deutet er schon im 5. Kapitel des 8. Buches (1340''
11) an, wo er vom Enthusiasmus spricht und denselben als ein
Pathos eiklärt^^^). ,.Der Enthusiasmus ist ein Affelrt einer seelischen
Eigenschaft", d.h. er schlummert in der Seele desjenigen, der begeiste-
rungsfähig ist und lodert auf als Affekt, wenn die Gelegenheit ge-
boten ist, sowie der Zorn in der Seele des Zornmütigen lauert; kurz
statt „kVi^ovöiaOTixa idhf' sollte „jtaihizixa" stehen. Daß
dem wirklich so ist, zeigt Aristoteles gleich, indem er zum P^nthusias-
raus Mitleid und Furcht hinzufügt. „Der Affekt nämlich,'' sagt er,
,,der in einigen Gemütern heftig auftritt, ist in allen voihanden und
unterscheidet sich nur dem Grade nach, z. B. IVIitleid und Furcht,
dazu auch Enthusiasmus."^"*) Für das, was Aristoteles über die
Wirkimg der Lieder sagen wollte, war sowohl die Art der Einteilung
als auch die Vollständigkeit derselben nebensächlich. Er brauchte
eigentüch nur die ethischen Lieder. Diese nämlich läßt er allein für
den Jugondunterricht zu. „Für den Jugenduntcrrichf darf man, wie
gesagt, niu" ethische Lieder und ebensolche Tonarten anwenden,"^"^)
^°') 0 d' ivd^ovGiaffjJog lov tisqi rrji' xlivxrjv ij&ovg irud^oc iarfr.
^*'*) o yuQ Tcaql irCuc GvjjßuCvit jiu&og ifwyO.c Igx^iqm:, jovto tv
Ttüoo.i; indQ^ii, reo Ss rJTior diutpiqet/ xal tm ^üXlov, oiov eXsoc xat
(pößog. hv ivi^ovGiaGfiög. 1342» 4.
"■') ngog 6s naiddav, wßjriQ hquitui,, rdig ^d-ixoig iLÜr fieXiür
)(Qrjajior xui ralg ägfiovicug tuIq TOiaijaic. 134.:! «^ 28.
tJber die Wirkung der Tragödie. 75
also Hyiimen auf Götter und edle Menschen, eventuell auch Rüge-
iieder.
,,Zun] Anhören anderer ausübendCi- Künstler dienen (außer
der ethischen Tonarten und Liedern) auch die praktischen und die
enthusiastischen. ''^°"}
Ethische Lieder sind also solche, die Tugenden besingen, prak-
tische solche, die Taten besingen, und die enthusiastischen, eigenthch
pathetischen, sind solche, die Gefühle zum x\usdruck Iwingen. Absicht-
lich und ironisch stellt Aristoteles neben den Enthusiasmus auch Mit-
leid und Furcht. Denn alle 3 sind Affelrte desselben Ursprungs und
unterscheiden sich nur durch den Grad. Alle drei sind Mutäußerungen.
Der Enthu-^iastische hat ihn scheinbar im höchsten Grade, wenifrei
Mut hat der ^litleidige. am wenigsten der Furchtsame. Nun ist
aber der Enthusiasmus nicht gleichbedeutend mit Mut. eher mit Toll-
kühnheit, und diese ist bekanntlich Strohfeuer, wenn es zum Ernst
kommt. Wern also solche leicht zu erregende Zuhörer die berauschende
Musik und das begeisternde Lied hörer, das vielleicht zum Helden-
tode auffordert und diesen voi Augen stellt, dann werden sie auf ein-
mal ernüchtert. Sie wartn wie im Rausch, nun haben sie ine kalte
Dusche bekommen, sie sind gleichsam geheilt und gleichzeitig sind
sie aufgeklärt über ihren eigenthchen Seelenzustand, daß sie doch
nicht so tapfer sind, um mit derselben Begeisterung wie wkhch
Tapfere in den Tod zu gehen. Ihrer Ernüchterung folgt der Katzen-
jammer, ein mit guten Vorsätzen verbundenes gemischtes Gefühl.
Gute Vorsätze erwecken immei ein Lustgefühl, daher auch diese Kathar-
sis ( -- Aufklärung) ein wenn auch stark gedämpftes Lustgefühl hervor-
ruft, ähnlich dem. wenn man durch Schaden klug wird. AVenn Stisser
in seiner Schrift „Nochmals die Katharsis in Aristoteles' Poetik"
meint, daß heilige Lieder und orgiastische etwas Verschiedenes sind,
denn dieselben Lieder könnten unmöghch eine entgegengesetzte
AVirkung erziekn. so irrt er: bei allen Narcoticis folgt auf das Stadium
excitationis das Stadium depressionis, und doch sind beide durch
ein und dasselbe Narcoticum be^\^lkt. Die Furchtsamen und Mit-
leidigen werden durch das Anhören dieser enthusiastischen Lieder
306 1
') Tioüc di uxQÖuGiy tjioiov ^HQOvqyovvTUüV xui tuIc 7iQaxTi-/Mlg xul
rate IvS^ovGiaßTixojz. 13i2« ■!. Daß hier uouovfa =^ Tonstück in der-
selben Geltung steht wie /.(f/.og = Lied, ersieht man aus den dort
folgenden Worten.
76 Stephan Odon Haupt,
gehoben; sie sind \Nie nüchterne Wassertrinker, die hie und da Wein
genießen; sie kommen dadurch in eine gehobene Stimmung. Sie
fühlen sich geheilt von ihrer Furcht und haben die medizinisch
therapeutische „erleichternde Entladung'" von diesem Ijangen Furcht-
und Mtleidsgefühl crfahron, was ihner Freude bereitet. Wieder macht
Aristoteles an dieser Stelle denselben versteckten Wortwitz wio ])0i
.,Mathes)S". Während die enthusiastischen Zuhörer beim Anhören der
heihgen Lieder nur seine Katharsis, d'e intellektuahs tische Auf-
klärung, erleiden, die sie nicht besonders freut — sie sind ja für diesen
Fall die eigentlichen Kranken — , niieht aber die Gorgianische, erfahren
die Furchtsamen und Mtleidigen außer seiner Katharsis, die ihnen
aber nicht zum Bewußtsein kommt, weil hierzu Eeflexion nötig ist,
die medizinisch-therapeutische Katharsis, die erleichternde "Ent-
ladung, die mit großem Lustgefühl verbunden ist. Daher sagt er
von den Enthusiastischen: „Wh sehen, daß die enthusiastischen
Zuhörer unter der Einwirkung der heiligen Lieder, wenn sie uämhch
die begeisternden heiligen Lieder auf sich wirken lassen, gedäftet
werden, gleichsam als ob sie eine Heilung und Aufklärung erfahren
hätten"^"^); von den Mitleidigen und Furchtsamen dagegen heißt
es: „ihnen allen wird irgend eine mit Lustgefühl verl)undene er-
leichternde Entladung zuteil. ■'^"^)
Aristoteles hat mithin tatsächhch vorläufig sehr einfach durch
ein einzelnes Wort (/l-t/mS). uämhch durch das Wort „luUh/otS',
seinen neuen Terminus „Katharsis" erklärt und so sein Z. 1341'' 38
gegebenes Versprechen erfüllt, freilich in Form eines Vexierrätsels.
Und dies treibt er im folgenden Satz auf die Spitze. 1342'* 15 heißt
es: ,,In gleicher AVeise gewähren auch die kathartischen Lieder den
Menschen eine unschädliche Freude. "^"^) Was sind nun kathartische
Lieder? Hier ist wieder sein neuer Terminus angewandt. Da er vorher
die ethischen und enthusiastischen (eigentlich pathetischen) Lieder
abgehandelt hat, so können es nur die pralrtischen (rrfKcxTtxd)
^'^') ix di T(jjv liotov peXtZr OQuJfMi' rovrovg [tovc ti'&ovGtaGTbXovc],
mar ^/^qr^Gdwiak xoig i'§ooyiü^ovGv iiijv ^iv)(i]v ^iXißi, y.u^'^iGTUfievovg (ogttso
luTQsCag Tv^öviug xut xui9uqgswc. 1342^1 8.
^°®) xat Ttö.Gt yCyveG&aC riva xad^aoGir xai xovcpC^sGÜai {neS'' ^6orrjc.
1342 a 14.
'"^) o^oCoic dt xai tu fiiXt] tu xad^aQiixu TruQe/ji X^^^'-^' f^-ß'^MßT]
TOtC (ivd^OLÖTTOlC.
über die Wirkung der Tragödie. 77
sein, und zwar können dies nur Lieder sein, in denen Taten verherr-
licht werden. Hier haben wir den unmittelbaren Anschluß an das
Drama, das ja die Nachahmung von Taten ist. Beider Wirkung,
des Dramas und der praktischen Lieder, ist gleich: sie bewirken
die Aufldärung, ^\ie mr uns bei solchen Taten verhalten würden,
und diese iVufklärung ist immer mit einem Lustgefühl verbunden.
Daher sind die praktischen Lieder kathartische genannt.
Es bleibt uns noch übrig nachzuweisen, daß diese aufklärende Wir-
kung der Tragödie stets mit einem Lustgefühl verbunden ist. Denn ab-
gesehen von der schon erörterten Politikstolle (1342^ 8 ff.) erwähnt
.Vristoteles auch in der Poetik an mehreren Stehen die hedonische
AVirkung der Tragödie. So heißt es im 14. Kapitel der Poetik: „Man
daif nicht jede Lust von der Tragödie verlangen, sondern nur die ihr
eigentümliche. "^^°) „o^xeroc" ist synonym mit ,,M^oc". Wenn also
Aristoteles von einer der Tragödie eigentümüchen Lust spricht, dieser
Lust aber in seiner Tragödiendefinition keine Erwähnung tut,
so ist diese Lust entweder in der Wirkung, also im AVort
,, Katharsis" inbegriffen, oder akzidentell. Denn sonst müßte sie
nach seinen eigenen Worten über die Teile der Definition in derselben
stehen. Akzidentell kann sie abei nicht sein, weil ei sie eine „eigen-
tümüche" nennt; folgüch muß sie in „Katharsis" inbegriffen sein.
Nachdem wir oben schon nachgewiesen haben, daß seine ,, Katharsis"
identisch ist mit „iiaßf/öig = Lernen," so können wir ihn selbst
die mit dem Lernen verbundene Lust begründen lassen. Denn im
4. Kapitel der Poetik sagt er ausdrückMch, „daß das Lernen der höchste
Genuß nicht nur für die Philosophen ist, sondern auch für alle anderen
Menschen"-^^), zumal wenn es den Menschen ohne geistige Anstrengung
beigebracht wird, nänüich durch das vorgeführte Beispiel, wie es ja
auch in der Tragödie geschieht. Ein solches Lernen läßt sich selbst der
Faulste gefallen. Noch deutücher drückt sich Aristoteles in der Rhetorik,
seinem letzten Werke, aus. Dort im 11. Kapitel des 1. Buches bringt
er das Lernen in Verbindung mit dem Wunderbaren. Und wunder-
bare Schicksale werden uns in der Tat in der Tragödie vorgeführt.
Peripetie und Erkennung beruhen ja auf dem Wunderbaren. „Auch
"'') ov yuQ TVÜGuv dsT l,r}Ti7i' ^dovijv djrd TQu/MÖCag, uXXd rijv oIxhuv.
1453 b. 10.
^") OTV fiuvddveiv ov fiovov ToXc (fiXoGÖffOvc i\di670v. dXXu xat töic
uaXovq öfioiujg. 1448 b 12.
78 Stephan Odon Haupt,
das Lernen und das Sichwundorn", sagt Aristoteles dort, ..ist meist
angenehm. Denn in dem Sichwnndern ist die Begierde zu lernen,
so daß das Wunderbare ein Begehrenswertes ist; in dem Lernen aber
liegt die Versetzung in deit natüihchen Ridiezustand." (St.)^^^) i).^
aber das Lernen und das Sichwundern angenehm ist, so muß auch solches,
wie z. B. das Nachgeahmte, z. B. in der Malerei, Bildhauerei und Dicht-
kunst und so auch alles, was gut nachgeahmt ist. auch wenn das
Nachgeahmte selbst nicht angenehm ist, angenehni sein. Denn nicht
über das Nachgeahmte freut m,an sich, sondern es findet ein Schluß
statt, daß dieses jenes ist. so daß eine Art Leinen stattfindet; auch
die Peripetie, und wenn man mit knapper Mühe aus den Gefahren
gerettet wird, gehört hierher; denn alles dies ist wunderbar."^ '^)
Kann es noch einen deuthcheren Beweis geben für die Identifi-
zierung von Katharsis mit Mathesis?
Gerade bei der Tragödie erkennt der Zuschauer in seinem Partner
entweder sich selbst oder eineii, der ihm besonders nahe steht, und
freut sich, selbst wenn sein Partner erliegt, trotz der Fm-cht, die er
empfindet, doch auch, daß es nicht Wirldichkeit ist. und tröstet sich
damit, daß es mit ihm in Wirklichkeit doch nicht so weit kommen
würde und wird. Es ist dieselbe gruselige Freude, die wir bei einem
schreckbaren Traume em,pfinden, wenn wii- uns trotz der Lebhaftig-
keit des Traumbildes doch bewußt sind, daß wü' träumen. Es ist der
Grund des besonderen Vergnügens an Stücken wie Grillparzeis ..Traum,
ein Leben'".
Außer dieser jeder Tragödie eigentümlichen Lust werden, wie
wh" schon oben gezeigt haben, noch 6 akzidentelle Lustgefühle er-
regt, und zwar diu^ch die verschiedenen Grade des Mtleids: L bei
allen böswiUigen Furchtsamen die Thrasyn\achos-Gorgias-Bernaysische
..erleichternde Entladung", die mit einem besonderen Lustgefühl
verbunden ist; und dieses Lustgefühl ist die besondere Schadenfreude,
"2) xul To i.mv9^dvii,v xal tu d^av^-uQuv t]Sv oSc im tu tioXv ' ir
fjsv yuQ T(o d-uvfiuL,Hv TO ini&v}JHV fiud^HV iGTti', loGts tu d-uvf.iaOTdv
iiTi&vfJipov, 61' de T(ö fAuyS^ui'Siv eig tu xutu cßvGir xuS^Cotuo&ui. 1371 a 31.
^*') iTTH de TU fjuv&drsn' re )']dv xut tu SravjjiaQuv, xal tu. TOidöe
dvdyx)] rjdiu iivat,, o'tov t6 ts /jffjiyrjfjit'ot', wOttsq yQucptxi] xut uvÖqiuv-
TOTT(n(a xul 7T0H]Ti,x>] xut Ttuv, o UV ev iJ,efiifi}]fJiyov t';, xür r; fir] rjSv tu
/j.f}j.ifii]lniroy ' ov ydo ircl tovtm /uiost, uklu GvX'/MytGfiög tGnv, oti,tovto
ixHvo, d'GTS fiuvd^dveiv ti Gv/jj-iuirst. xut ui jieotjriTSiui, xut tu Ttuod
^ixouv Gio'QsGdut, ix TWJ' xn'dvvwr ' ndvTU ydq SuvfjuGTu tuvtu. 1371 '' 4.
über die Wirkung der Tragödie. 79
die die böswilligen Furchtsamen beim Anblick der Leiden dos Gegen-
spielers empfinden. Sie ist unschön, aber unschädlich, eine yaQu
dßXaß/j^, weil der böswillige Furchtsame sich doch nicht gegebenen-
falls bis zur bösen Tat, der Rache, aufraffen wird. Gefähihcher sind
die Lustgefühle 2 und 3, die mit der 1. verwandt, aber wegen der Cha-
raktere der Empfindenden doch anders zu werten sind; die 2. Art
des Lustgefühls empfinden die böswiUigen Übermütigen; auch sie
empfinden Schadenfreude; sie fühlen sich aber trotz der Entladung
doch nicht erleichtert, denn sie wirden mit Vergnügen bei gegebener
Gelegenheit wirklich Rache nehmen, während die böswilligen- Furcht-
samen mit der fingierten Rache zufrieden sind; die 3. Ai't des Lust-
gefühls empfinden die Bösewichte; sie haben eine doppelte Schaden-
freude sowohl über den Partner als auch über ihren Gegenspieler.
Die 4. Art des Lustgefühls ist die Lessingische Katharsis, die die
gutmütigen Übermütigen ausschheßhch empfinden: es ist dies die
gedämpfte Freude des Bußfertigen. Die 5. Art des LustgefiUils
empfinden alle gutmütigen Zuschauer, besonders die gutmütigen
Furchtsamen; es ist die mit einem eigentümüchen Lustgefühl ver-
bundene Befriedigung, die im Gefolge der Hochherzigkeit ist. Alle
gutmütigen Zuschauer werden nämlich mit dem leidenden Gegen-
spieler Mtleid haben. Während aber das Hochgefühl der Weisen
und gutmütigen Übermütigen echt ist, ist das der gutmütigen Furcht-
samen vorgetäuscht. Aber gerade diese Täuschung bereitet ihnen
eine gewisse Genugtuung. Sie sind wie Menschen, die Simihdiamanten
tragen und nun meinen, für reich gehalten zu werden. Ebenso glauben
solche Fm'chtsame hochherzig zu sein. Die 6. Lust empfinden alle
Kunstästheten; es ist dies die Goethische Katharsis, die Freude über
die Vollendung und Abrundung des Kunstwerks. Diese Freude emp-
finden theoretisch alle Kunstästheten, tatsächhch aber nur die
Weltweisen, da diese weder die hohen Grade der Furcht noch die
niederen des Älitleids empfinden und daher vom eigenthchen Kunst-
genuß nicht durch heftige Affekte abgezogen v/erden wie alle anderen
Zuschauer.
Alle diese 6 Lustgefühle konnte aber Aristoteles aus allen oben
angeführten Gründen nicht in die Definition der Tragödie aufnehmen.
Trotzdem sind auch sie unausbleibhch ; denn sie sind ja in dem Schluß-
satz inbegriffen, sie sind eben nichts anderes als die vollständige
Teilung des Schlußsatzes.
80 Stephan Odon Haupt,
Der Schlußsatz lautet demnach vollständig: Die Tragödie be-
wirkt in jedtm Zuschauer die Affekte ]\Iitleid und Furcht und durch
diese Affekte die Aufklärung über unsere diesbezüglichen Gcfühls-
dispositionen Mitleid und Furcht, und zwar ist 1. derjenige Zuschauer,
der mit der vergewaltigten Person sympathisiert, also die richtige
sympathische Furcht flu' sie empfindet, und beim Unglück der tra-
gischen Person das altruistische Mtleid für sie fidilt, und außerdem
die Goethische Katharsis erfälirt, ein Weiser; 2. ist derjenige Zu-
schauer, der mit der tragischen Person die egoistische Furcht oder
für dieselbe die sympathische Furcht empfindet, die leidende verge-
waltigte Person aber bedauert und die Lessingische Katharsis er-
fährt, ein gutmütiger ToUkUhner; 3. ist derjenige Zuschauer, der
mit der vergewaltigten Person die egoistische Furcht oder für dieselbe
die sympathische Furcht empfindet, beim Anblick der leidenden
tragischen Person aber schadenfroh jubelt, wer also auch noch die
Bernaysische Katharsis erfährt, ein böswilüger Fm'chtsamer ; 4. ist
derjenige Zuschauer, der mit der tragischen Person die egoistische
Furcht oder für dieselbe die sympathische Furcht empfindet, beim
Anbhck der leidenden vergewaltigten Person aber grausame Schaden-
freude und ungesättigtes Rachegefühl empfindet, ein bösvnlliger Toll-
kühner ; 5. ist derjenige Zuschauer, der mit der vergewaltigten Person
die egoistische Furcht odei für dieselbe die sympathische Furcht
empfindet, die leidende tragische Person aber bedauert, ein gutmütiger
Furchtsamer; 6. ist derjenige Zuschauer, der weder für sich noch
fiü* eine dargestellte Person fiü-chtet, außer es wäre dies ein Bösewicht,
und keine der dargestellten Personen bedauert oder bemitleidet, sondern
beim Leiden beider hämische Schadenfreude empfindet, ein Böse-
wicht.
Die Tragödie und Komödie sowie alle Dichtungsarten, die han-
delnde Personen nachahmend darstellen, wken also zunächst nur
auf das Gemüt des Zuhörers. Denn nur derjenige Zuhörer, der den
Zusammenhang zwischen den von der Dichtung in ihm erregten Ge-
fühle und seinen Gefühlsdispositionen versteht, kommt auch zum
Bewußtsein der Wii-kung der Dichtung auf seinen Verstand. Dann
ist dieselbe allerdings unausbleiblich. Trotzdem ist sie auch ohne
dieses Verständnis vorhanden, bleibt abei, solange dieses Verständnis
fehlt, verborgen; geradeso, wie eine belichtete photographische Platte
das Bild in sich enthält, es aber nur nach der bekannten Entwicklung
I
über die \^'irkung der Tragödie. 81
zum Vorschein bringt. Schade, daß Goethe die Photographie noch
nicht kannte! Er hätte dann nicht gesagt: „Keine Kunst vermag
auf Moralität zu wirken: Philosophie und Religion vermögen dies
allein." Es ist genau so, als wenn er jetzt sagen würde: „Kein Bild
kann auf einer photographisclien Platte entstehen: durch den Ent-
wickler allein entsteht das Bild.'' Nein, das Bild entstellt auf der
belichteten photographischen Platte auch ohne Entwicklung, nur
ist es so lange unsichtl)ar, als es nicht entwickelt ist. Was uns bis
jetzt nur fehlte, war die Kenntnis der Entwicklung der aufgenommenen
Platte. Nachdem \\ir jetzt die Reagentien kennen, die uns unser
Seelen bild fixieren, so zeigt es sich klar und deutlich, daß unter allen
Künsten die Tragödie und Komödie doch auf die Moralität wkken,
freilich nur indirekt, indem sie jedem ein getreues Spiegelbild seines
Charakters vorhalten durch einei. Zauberspiegel, der nur bei sehr
wenigen ein ungetrübtes Bild, wenigen ein ganz schwarzes zeigt, der
M(dirzahl aber genau die Flecken vorweist, die seinem Seelenbilde
anhaften.
Wenn man daher bedenkt, daß die Menschen, zumal der Groß-
stadt, die nach des Tages Plagen, Mühen und Hasten abends einige
Stunden sich ausrasten und erheitern wollen, vor die Wahl gestellt
werden, ein Kinostück oder eine Varietevorstellung oder ein Lust-
s])iel oder eine Oper oder eine Operette oder ein Trauerspiel zu be-
suchen, so darf man sich nicht wundern, daß die Mehrzahl lieber zu
den ersteren Aufführungen geht als zum Trauerspiel. Denn das Kino
und die mit ihm verwandten Bühnen wollen den Zuschauer bezaubern
und in hochgradige Verwundernng versetzen, das Variete, das Lust-
spiel, die Posse und ähnliche Stücke wollen ihn unterhalten, die Oper
und Operette tragen durch die starke Betonung des nuisikalischen
Teiles dem kunstsinnigen Teile des Publikums Rechnung, nur die
Tragödie war bis jetzt ganz natürlich das Stiefkind. Denn wer mochte
sich zm- Erholung und Unterhaltung nur zu Mitleid und Furcht gerne
reizen lassen? Ist es da ein AVunder, daß sich der Besuch des ernsten
Theaters immer mehr verringert, ja ganz einzuschlafen droht? Wie
ganz anders wh'd dies jetzt sein, wenn das Pulilikum die wunderbare
Zaul)erwü-kung des Trauerspiels kennen lernen wird ! Jeder wird sich
dazu drängen, ein solches Stück anzuhören, damit er sein Seelenbild
unverfälscht und klar vor seinem, geistigen x\uge sich entwickeln
sieht. Wie nichtig und schal werden ietzt die anderen theatralischen
82 Stc])lian Üdon Hau])t,
Belustigungen neben deni. ernsten Trauerspiel erscheinen! Denn
dieses hat jetzt mit einem Schlag den höchsten Edelwert bekommen,
indem es einem jeden Zuschauer zu dehi höchsten geistigen Gut ver-
hilft, zur Selbsterkenntnis.
Was schließlich die von Bernays in seinen „Al)handlungen über
die Aristotelische Theorie des Drama" zitierte Jamblichos- und Prok-
losstclle anlangt, so hat uns Süß in seinem „Ethos" die Mühe erspart
nachzuweisen, daß beide Stellen nicht aus Ai'istoteles, sondern jeden-
falls aus Sophistenschriften stammen. „Bei Jambhchos (S. 40)",
schreibt Süß, ,, lesen wir, daß die öwäiitLc. rojv (\ri){><orriv(')v
jn:l)/ji/('cT('))- y.(u Ol jrQog ß'iav (crcc.7raro}'T(C(. Diese auf-
ffiUende Übercnnstimmung mit des Gorgias Definition der Rhetorik,
wie sie im Philebos 58 A zitiert wird, kann unmöglich auf Zufall be-
ruhen. Da nun erst die Nutzanwendung auf Tragödie und Komödie
gezogen wird"^), so scheint mir die Folgerung unumgänglich, daß
jene erste Schilderuiig in der Vorlage des Jambhchos eine allgemeine
AVirkung des Logos schlechthin schilderte." Die ganze Stelle trägt
nichts Peripatetisches an sich, sie ist vielmehr eine deutliche Wieder-
holung der von Süß entdecktim und nachgewiesenen Thrasymachos-
Gorgianischen SoUizitationstheorie. Dasselbe gilt auch von der bei
Bernays zitierten Proklosstelle (S. 46). Den Aristoteles erwähnt
Proklos nur nelienbei auch als Gegner Piatos, seine Widerlegung
richtet sich gegen die Anhänger und Verfechter der SoUizitations-
theorie, die den Plato zu seinem blanialjeln Verdammungsurteil über
die Poesie verleitet und gezwungen hatten; Proklos sucht, indem er
di(i Aristotelische Poetik ignoriert und ihr gegenüber als echter aka-
demischer J)oktrinär Vogel Strauß spielt, Piatons Ansichten über die
Dichtkunst durch neue doktrinäre Gründe zu stützen. Da er an
Aristoteles nicht ganz vorbeigehen kann, so fertigt er ihn mit einer
kurzen, schmolkmden Bemerkung ab, um sich den anderen, weniger
gefährlichen Gegnern, die er zu widerlegen hofft, zuzuwenden. Auch
hier konstatiert Süß Gleichheit und Parallelen mit den Gorgianischen
Ausführungen in der „Helena", so daß wir trotz der Nennung des
Aristoteles doch auch diese Stelle wieder als Thrasymachos-Gorgianisches
Gut ansprechen müssen.
Aus alledem ist Idar, daß Aristoteles nicht aus Rechthaberei,
s^ondern ans echter Pietät gegen seinen großen Lehrer Plato die von
'^', ()'k). iiit'io tr ](■ y.wiKod'fo. .... (Ijroxc.Oc.fooiif):
über die Wirkung der Tragödie. 83
diesem verbannte nnd verkannte Poesie, speziell die Tragödie und
das Epos, wieder für den Staat gerettet hatt&, indem er bewies, daß
beide nicht nur nicht scliädücli sind, sondern sogar groJ^en Segen stiften
können. Denn die Übermütigen, für. die die Tragödie in erster Linie
bestinunt ist und die das künftige Material für die wii-küch Tapferen
abgeben, erhalten durch sie eine Warnung, damit sie nicht erst durch
Schaden Idug werden müssen, ihrer Tollkühnheit wird ein Dämpfer
aufgesetzt; die wirldich Tapferen bleiben durch die Tragödie un-
berührt und die Feigen erfahren durch sie ein unschuldiges Ver-
gnügen. Von ihrer allzugroßen Furcht können sie freilich durch dit
Tragödie nicht geheilt werden, aber fm-chtsamer werden sie durch
sie auch nicht.
Die früheren Katharsiserklärungen haben niemand befriedigt;
meine intellektualistische gipfelt in einem klaren System, in das sich,
wie ich gezeigt habe, jedes Drama leicht und zwanglos einreihen läßt.
Wo das Wahre liegt, zeigt uns Goethe, indem er sagt:
,,Das Wahre fördert, aus dem Irrtum ent\vickelt sich nichts,
er ver^vickelt uns nur."
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