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Full text of "Archiv für Geschichte der Philosophie"

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Archiv 


für 


Philosophie 


herausgegeben 


von 


Ludwig   Stein. 


Erste    Abteilung: 
Arcliiv  für  Geschichte  der  Philosophie. 


BERLIN. 
Druck  und  Verlag  von  Leonhard  Simion  Nf. 

1915. 


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Archiv 


für 


Geschichte  der  Philosophie 


herausgegeben 


von 


Ludw^ig    Stein. 


XXVin.  Band. 

Neue  Folge. 
XXI.  Band. 


BERLIN. 
Druck  und  V^erlag  von   Leonhard  Simion  Nf. 

l'J15. 


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Inhalt. 


Seite 

J.    War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlecht- 
hin?   Von  Dr.  Hubert  Rock  in  Innsbruck 1 

II.    Zur  Philosophie  Salomon  Maimons.    Von  Dr.  ß.  Katz  .     .      54 

III.  Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke. 
Von  Dr.  Hermann  Büchel 61 

IV.  Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus  an  der  Hand 
des  Leibniz-Clarke'schen  Streites.  Von  Prof.  Dr.  Job. 
Zahlfleisch 129 

V.    Zur    Methodologie    des    geschichtlichen    Denkens.      Von 

Carl  Fries 162 

VI.   Nietzsche  und  Schopenhauer.  Von  Dr.  Michael  Schwarz 

in  St.  Petersburg l*^ö 

VII.   L'Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.    Von  Ales- 
sandro    Chiapelli,    professore    emerito    della    R.    Uni- 

versitä  di  Napoli 19^ 

Vni.    Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie. 

Von  Karl  Zö ekler 257 

IX.   Paul  Deussen.    Ein   Nachwort  zu  seinem  70.  Geburtstag. 

Von  Dr.  Franz  Mockrauer 297 

X.   Die   Frage    nach    dem    Seelendualismus    bei    Augustinus. 

Von  Dr.  Kratzer,  Regensbnrg 310 

XL   Die    Frage    nach    dem    Seelendualismus    bei   Augustinus. 

Von  Dr.  Kratzer,  Regensburg  (Fortsetzung) 369 

XII.    Das  Substanzproblem,  eine  philosophiegeschichtliche  Dar- 
stellung.   Von  Dr.  phil.  Luise  Krieg 401 

XIIL   Die  Kausalität  bei  Kant  in  neuer  Beleuchtung.    Von  Prof. 

Dr.  Joh.  Zahlfleisch 396 

XIV.    Über  die  Beziehungen  Fichtes  und  seiner  Schule  zur  Uni- 
versität Charkow  (Rußland).     Ein   biographischer  Beitrag 

von  Dr.  Paul  Stähler,  Hochschuldozent 4-24 

Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.     Von  Professor  Dr. 

Horten  in  Bonn 78    227    837    449 

Rezensionen 102    243    353    465 

Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der  Geschichte  der 

Philosophie 126    253    364 

Zeitschriftenschau 128    254    365 

Zur  Besprechung  eingegangene  Werke 255    367    476 

Kantgesellschaft.     Zur  Eduard  von  Hartmann- Preisaufgabe     .    .     .    256 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXI.  Band,    1.  Heft. 


1. 

War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft 

schlechthin? 

Von 
Dr.  Hubert  Rock   in  Innsbruck. 

I. 

Ehemals  galt  die  Frage,  was  unter  „Entelechie"  zu  verstehen 
sei,  als  crux  philosophorum.  Her mo laus  Barbarus  soll  sich  sogar 
an  den  Teufel  um  Erklärung  des  vielumstrittenen  Wortes  gewendet 
und  von  ihm  die  Auskunft  erhalten  haben,  es  bedeute  auf  gut  höllen- 
lateinisch so  viel  wie  „perfectihabia'\ 

Heutzutage  darf  als  philosophisches  Hauptkreuz  die  Frage  gelten, 
was  denn  eigentüch  unter  Philosophie  zu  verstehen  sei,  das  Wort 
nicht  im  Sinne  dieses  oder  jenes  Fachphilosophen,  sondern  ganz  all- 
gemein und  formal  vom  Standpunkte  des  Philosophiehistorikers 
genommen. 

Gerade  die  Fachphilosophen  sind  durch  keine  andere  Frage 
so  leicht  als  durch  diese  in  Verlegenheit  zu  bringen,  vorausgesetzt, 
daß  man  ihr  so  weit  nachgegangen  ist,  um  darüber  ein  Wörtchen 
mitreden  zu  dürfen.  Sonst  wird  man  sich  selbst  unversehens  in  der 
anderen  gegrabenen  Grube  finden.  Vorsichtshalber  soll  man  daher 
nicht  einmal  ohne  weiteres  von  Fachphilosophen,  sondern  von  so- 
genannten Fachphilosophen  sprechen.  Fehlt  es  doch  nicht  an  soge- 
nannten Fachphilosophen,  denen  es  wie  einem  P au Isen  vorkommt, 
„als  hätte  schon  das  Wort  einen  etwas  wunderhchen  Klang,  nicht 
viel  anders,  als  wenn  man  auch  von  Dummköpfen  von  Fach  reden 


1)  Einleitung  in  die  Philosophie  (Berlin  1892),  S.  42. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  1. 


2  Hubert   Rock, 

wollte".  Es  gebe  wissenschaftliche  Forscher  mit  ., philosophischem"" 
Geist  und  ohne  solchen.  Physiker,  Astronomen,  Psychologen,  Biologen, 
Historiker,  Metaphysikcr,  Soziologen,  Moralisten,  sie  alle  könnten 
diesen  Geist  haben  oder  nicht  haben.  Philosophie  als  Spezial- 
fach gebe  es  nicht^j.  Um  gar  nichts  zu  präjudizieren,  soll  alsa 
bloß  von  sogenannten  Fachphilosophen  die  Rede  sein. 

Tatsache  ist,  daß  die  sogenannten  Fachphilosophen,  so  paradox 
es  Mingt,  über  nichts  uneiniger  sind,  als  über  die  wesenthchen  Auf- 
gaben des  von  ihnen  vertretenen  Fachs.  Dies  charakterisiert  überhaupt 
die  aus  den  Ruinen  der  antiken  Philosophie  erstandene  moderne 
Philosophie,  die  mittelalterhche  inbegriffen.  Zu  keiner  Periode  aber 
bestand  ein  solcher  Wirrwarr  von  Behauptungen  über  das  "Wesen 
der  Philosophie,  wie  er  seit  dem  18.  und  vornehmhch  im  19.  Jahr- 
hundert um  sich  gegriffen  hat. 

Was  verstand  man  im  „philosophischen"  Jahrhundert  nicht  alles 
unter  Philosophie!  In  Voltaires  ,, Philosophischem  Wörterbuch" 
(Artikel  „Literatur")  heißt  es  darüber:  „Unter  dem  vagen  Terminus 
Philosophie  versteht  man  bald  die  Untersuchungen  eines  Meta- 
physikers,  bald  die  Beweisfülmingen  eines  Mathematikers,  bald  die 
Weisheit  eines  Menschen,  der  mit  den  Illusionen  fertig  geworden  ist". 
Diderot  sagt,  nichts  sei  jetzt  wohlfeiler  als  der  ]S^ame  Philosoph; 
ein  unbekanntes  und  zurückgezogenes  Leben,  einige  Äußerlichkeiten 
von  Weisheit  samt  etwas  Lektüre  genügten,  um  diesen  Namen  Personen 
zu  lassen,  die  sich  damit  unverdientermaßen  beehren^).  Und  das  ist 
nur  eine  kleine  Blumenlese,  die  vor  allem  Christian  Wolffs  den 
„Professor  der  Menschheit"  trefflich  kennzeichnende  Definition  ver- 
missen läßt:  Philosophia  est  scientia  possibilium,  quatenus  esse 
possunt  (bis  aufs  Holzspalten  hinaus!)^). 

Doch  erst  im  Laufe  des  als  das  „historische"  gepriesenen  19.  Jahr- 
hunderts ist  der  sich  ins  zwanzigste  fortsetzende  Wirrwarr  bis  zu  dem 
Punkte  gediehen,  daß  fast  jeder  sogenannte  Fachphilosoph  sich  seinen 
Begriff  von  Philosophie  nach  Beheben  zurechtlegt.  Dabei  handelt  es 
sich  nicht  etwa  bloß  um  verschiedenen  Grundsätzen  entsprechend 
verschiedene  Gestaltungen  und  Formulierungen  der  nämlichen  Grund- 


2)  Oeuvres  (Assezat),  XVI,  273. 

3)  Vgl.  Zeller,  C4eschichte  der  deutschen  Philosophie  (München  1873),. 
S.  214,  220  f. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  3 

bestrebimg,  sondern  um  oft  grimdverscliieclene  Bestrebungen,  die 
nichts  weiter  als  den  Namen  Philosophie  miteinander  gemein  haben. 

Was  hätte  Hegels  Wissenschaft  vom  Absoluten  gemein  mit 
Herbarts  Bearbeitung  der  Begriffe,  was  Comtes  Positivismus  mit 
Kuno  Fischers  Selbsterkenntnis  des  Geistes,  was  Herbert  Spencers 
vollkommen  vereinheitlichte  Erkenntnis  mit  Riehls  allgemeiner 
Wissenschafts-  und  praktischer  Weisheitslehre,  Avas  Dührings  Wirk- 
hchkeitsphilosophie  mit  Vaihingers  allgemeiner  Prinzipiem\issen- 
schaft,  was  Dörings  Glücksehgkeitswissenschaft  mit  Avenarius' 
Denken  der  Welt  gemäß  dem  Prinzip  des  kleinsten  Ivraftmaßes,  was 
Nietzsches  geistiger  Wille  zur  Macht  mit  Wundts  allgemeiner 
Wissenschaft,  die  die  durch  die  EinzeMssenschaften  vermittelten 
allgemeinen  Erkenntnisse  zu  einem  widerspruchslosen  System  ver- 
einigt, was  Pauls ens  Inbegriff  aller  'wissenschaftlichen  Erkenntnis 
mit  Gutberlets  Erkenntnis  aller  Dinge  aus  ihren  letzten  und  höchsten 
Gründen? 

Insofern  ist  es  für  die  genannte  Periode  wkklich  ein  guter  Vergleich, 
wenn  Windelband  bemerkt,  es  scheine  den  Philosophen  so  zu  gehen 
wie  etwa  allen  den  Namen  Paul  tragenden  Individuen,  bei  denen  auch 
niemand  ein  gemeinsames  Merkmal  aufweisen  könnte,  um  dessen  wiUen 
sie  diesen  gemeinsamen  Namen  trügen'*).  Für  sämthche  Perioden  der 
Philosophiegeschichte  kann  der  Vergleich,  wie  gegen  Windelband 
gezeigt  werden  soll,  freilich  nicht  in  Betracht  kommen. 

Andererseits  ist  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Philosophie  noch 
niemals  so  eifrig  als  während  der  letzten  hundert  Jahre  verhandelt 
worden.  Eine  vollständige  Sammlung  der  ganzen  über  dieses  Thema 
produzierten  Literatur  ergäbe  eme  ganz  ansehnliche  Bibliothek.  Trotz- 
dem stehen  sich  die  sogenannten  Fachphilosophen  mit  iliren  Lösungen 
der  Frage  bis  zur  Stunde  schroffer  gegenüber  als  je. 

Welche  AVandlungen  hat  doch  seit  den  Tagen  des  Hippoki-ates,  wo 
der  „philosophische"  Arzt  gottgleich  genannt  wurde  {hjVQog  (piXoöoffoq 
lood-sog),  die  sich  mit  der  „Philosophie'"  seitdem  so  vielfach  verschms- 
ternde  Medizin  durchgemacht !  Dennoch  waren  die  Ärzte  stets  darüber 
einig,  daß  das  Wesen  der  Medizin  in  der  Behandlung  und  Verhütung 
von  Krankheit  liegt  und  nicht  etwa  in  der  Anatomie  oder  in  der 
Physiologie  oder  in  der  Pathologie  oder  in  der  Diagnostik  oder  in  der 


*)  Präludien  (Freibg.  u.  Tüb.  1884),  „Was  ist  Plülosophie?"  S.  10. 

1* 


4  Hubert   Rock, 

Prognostik  oder  in  der  Bakteriologie  oder  in  der  Pharmakologie  oder 
in  der  Rezeptierkunde  oder  in  der  Geschichte  der  Medizin  oder  in  der 
Anthropologie  oder  in  der  Synopsis  sämtlicher  Naturwissenschaften 
oder  in  was  sonst  immer. 

Die  sogenannten  Fachphilosophen  allein  gewähren  der  Welt  das 
absonderliche  Schauspiel,  daß  sie  nicht  zu  wissen  scheinen,  welches 
wenngleich  nur  in  formaler  Hinsicht  gemeinsame  Endziel  sie  von 
Beruf-;  wegen  anstreben  wollen,  anstreben  sollen,  gerade  als  ob  das 
Wesen  der  Philosophie  in  solcher  Zerfahrenheit  bestände. 

Am  absonderlichsten  macht  dieses  Schauspiel,  daß,  wo  die  einen 
das  erste  und  wichtigste  Problem  der  Philosophie  erblicken,  die  anderen 
—  und  sie  bilden  weitaus  die  Mehrzahl  —  sich  anstellen,  als  ob  da  gar 
kein  Problem  vorläge,  oder  daß  sie  höchstens  das  scheinbare,  nicht 
aber  das  wirkliche  Vorhandensein  eines  Problems  anerkennen.       i 

Zur  Minderzahl  gehört  auch  Kant,  was  merkwiirdigerweise  noch 
immer  nicht  die  verdiente  Beachtung  findet,  obschon  A.  Döring 
in  seinem  Aufsatze  „Über  Kants  Lehre  von  Begriff  und  Aufgabe  der 
Philosophie"  schon  vor  nahezu  dreißig  Jahren  mit  Nachdruck  als  auf 
„den  eigentlichen  Herzpunkt  des  Kantischen  Philosophierens"  hin- 
gewiesen hat^).  Näher  darauf  einzugehen,  ist  hier  nicht  der  Ort,  ab- 
gesehen von  Kants  grundsätzlicher  Stellungnahme  zum  Problem  der 
Philosophie  als  solcher  oder,  um  dafür  ein  einziges  Wort  zu  haben, 
zum  Philosophieproblem.  Ich  werde  am  Schluß  darauf  zurück- 
kommen. 

Nicht  zuletzt,  wenn  nicht  hauptsächlich  unter  der  Am^egung 
Kants  hat  sich  Döring  selbst  das  Philosophieproblem  in  mehreren 
Schriften  schärfer  und  schärfer  zum  Bewußtsein  gebracht.  In  seiner 
ersten  diesbezüglichen  Schrift  „Über  den  Begriif  der  Philosophie" 
(Dortmund  1878)  sagt  er:  „Genau  zu  wissen,  was  die  Philosophie  ist 
und  will,  ist  wichtig  für  den,  der  sie  betreibt,  um  über  die  Richtung, 
die  sein  Forschen  zu  nehmen  hat,  sich  orientieren  zu  können  und  nicht 
auf  Abwege  zu  geraten"  (S.  1  ff.).  Sein  Absehen  sei  nicht  auf  eine 
materiale  oder  inhaltliche  Definition  gerichtet,  die  darauf  abziele, 
in  kürzester  Form  das  von  dem  betreffenden  Denker  angebüch  oder 
wirkhch  Erreichte  zum  Ausdruck  zu  bringen,  sondern  auf  eine  solche 
Begriffsbestimmung,  die  man  in  Anbetracht  dessen,  daß  der  Begriff 


5)  Preußische  Jahrbücher,  Bd.  56  S.  464. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  5 

in  einer  den  inhaltlich  verschiedensten  Richtungen  und  Systemen 
gemeinsamen  Weise  fornuüiert  werden  soll,  eine  formale,  und  in 
Anbetracht  dessen,  daß  sie  nicht  eine  Verständigung  über  die  Lösungen 
der  Probleme,  sondern  nur  eine  vorläufige  Orientierung  über  die 
Probleme  selbst  herbeiführen  soll,  eine  orientierende  nennen  könnte 
(S.  3). 

Ebenso  ist  Alois  Riehl,  der  sich  mit  dem  Philosophieproblem 
gleichfalls  viel  beschäftigt  hat,  dazu  nicht  zuletzt  von  Kant  an- 
geregt worden.  Die  ihm  eigene  Auffassung,  daß  die  Philosophie  einen 
förmlichen  Doppelberuf  zu  erfüllen  hätte,  schon  bei  den  Alten  zu  er- 
füllen gehabt  hätte,  ist  im  Grunde  nichts  anderes  als  eine  Übertragung 
des  von  Kant  gemachten  Unterschieds  zwischen  Schulbegriff  und 
Weltbegriff  der  Philosophie  auf  das  Wesen  der  Philosophie  als  ge- 
schichtlicher Erscheinung.  Sein  Hauptwerk,  „Der  philosophische 
Kritizismus",  enthält  im  zweiten  Teil  des  zweiten  Bandes  ein  „Die 
Philosophie  als  Problem"  überschriebenes  Kapitel.  Und  in  der 
Schrift  „Zur  Einführung  in  die  Philosophie  der  Gegenwart"  erklärt 
er  geradezu:  „Das  erste  philosophische  Problem  ist  heute 
die  Philosophie  selbst  als  Problem.  Was  will  und  soll,  —  was 
war  und  ist  sie?" 

Dagegen  steht  Vaihinger,  um  einen  für  viele  zu  nennen,  auf 
Seite  derjenigen,  die  vom  Vorhandensein  eines  Philosophieproblems 
im  Sinne  Dörings,  Riehls  und  Genossen  keine  Notiz  nehmen.  Sie  stellen 
sich  an,  als  ob  unter  Philosophie  alle  Welt  oder  wenigstens  alle  Fach- 
kollegen im  wesentlichen  genau  dasselbe  verständen  wie  etwa  die 
Astronomen  und  mit  ihnen  alle  Welt  unter  Astronomie.  Bei  Vaihinger 
nimmt  das  umsomehr  wunder,  als  er  sein  lebhaftes  Interesse  für  die 
Stellung  der  Themen  zu  den  schriftlichen  philosophischen  Prüfungs- 
arbeiten durch  eine  im  Jahre  1906  erschienene  Schrift  bekundet  hat, 
deren  voller  Titel  lautet:  „Die  Philosophie  in  der  Staats- 
prüfung. Winke  für  Examinatoren  und  Examinanden.  Zugleich 
ein  Beitrag  zur  Frage  der  philosophischen  Propädeutik.  Nebst  340 
Thematen  zu  Prüfungsarbeiten".  Unter  den  von  ihm  gesammelten 
340  Themen,  die  im  Laufe  der  vorausgehenden  20  Jahre  bei  Ober- 
lehrerprüfungen wirklich  gestellt  und  wirklich  bearbeitet  worden  sind, 
befindet  sich  kein  einziges  über  das  Philosophieproblem.  Und  er  vermißt 
auch  kein  derartiges  Thema,  obwohl  er  es  beklagt,  daß  nicht  wenige 
von  den  jungen  Leuten  sich  einen  ganz  falschen  Begriff  von  Philosophie 


6  Hubert   Rock, 

machten  (S.  38),  und  obwohl  er  hinsichthch  der  Kandidaten,  die 
die  Lehrbefähigung  in  der  philosophischen  Propädeutik  nachzuweisen 
haben,  die  Forderung  erhebt,  sie  müßten,  „um  mit  dem  Prüfungs- 
reglement  zu  sprechen,  eine  allgemeine  Übersicht  über  die 
Aufgaben  der  Philosophie"  besitzen  (S.  127).  Ihm  selbst  ist 
in  dieser  Schrift  Philosophie  „Die  allgemeine  Prinzipienwissenschaft" 
(S.  14,  15),  „die  Universalwissenschaft  und  Wissenschaft  des  Univer- 
sums" (S.  30).  An  allen  Stellen  drängten  die  Begriffe  und  Axiome 
der  Einzelwissenschaften  von  selbst  zur  allgemeinen  Prinzipien- 
wissenschaft hin.  Die  Begriffe  des  Raumes,  der  Zeit,  der  Materie, 
der  Bewegung,  der  Kausalität,  des  Lebens,  des  Zweckes,  des  Handelns, 
der  Sitte  und  der  Gesittung,  der  geschichtUchen  Entwicklung,  des 
Wertes,  der  Vernunft,  der  Sprache  usw.  —  alle  diese  Begriffe,  auf 
denen  die  Einzelwissenschaften  teils  basierten  oder  auf  die  sie  hin- 
führten, erforderten  eine  prinzipielle  und  allgemeine  Erörterung  und 
diese  eben  nenne  sich  Philosophie  (S.  14).  Ungefähr  so  sprechen 
andere  Fachphilosophen  auch,  ohne  sich  aber  zugleich  wie  Yaihinger 
mit  Langes  Begriff  von  Philosophie  einverstanden  zu  erklären,  wonach 
deren  negative  Aufgabe  darin  bestehe  zu  zeigen,  „daß  sie  selbst  als 
Wissenschaft  unmögHch  sei",  deren  positive  Aufgabe  darin,  Spekulation 
zu  sein,  mit  dem  Be\\^ißtsein,  ,.nur  Dichtung,  nicht  Wahrheit  zu 
geben"^).  Das  alles  zusammen  wäre  ge^^iß  hinreichend,  um  eine  Aus- 
einandersetzung mit  dem  Philosophieproblem  unausweichhch  er- 
scheinen  zu  lassen.    Vaihinger  ist  ihr  ausge^^ichen. 

Solches  Ausweichen  kennt  Windelband  nicht.  Er  ist  davon 
überzeugt  und  läßt  es  sich  angelegen  sein,  uns  davon  zu  überzeugen, 
daß  das  Philosophieproblem  sich  als  ein  Trugbild  von  Problem  ent- 
puppe, sobald  man  ihm  ernsthch  zu  Leibe  gehe,  wie  er  das  am  aus- 
führlichsten in  dem  seine  ..Präludien"  eröffnenden  Aufsatze  ,,Was  ist 
Philosophie?"  versucht  hat.  neben  dem  noch  besonders  die  einschlägigen 
Äußerungen  in  seiner  „Geschichte  der  alten  Philosophie"  und  in  seinem 
„Lehrbuch  der  Geschichte  der  Philosophie"  in  Betracht  kommen. 

Frage  man  die  Geschichte  und  sehe  man  sich  bei  denjenigen,  die 
man  Philosophen  genannt  habe  und  etwa  noch  nenne,  nach  ihrer 


8)  So  in  seiner  Schrift  „Hartmann,  Dühring  und  Lange"  (Iserlohn  1876), 
S.  18.  Daß  er  sein  Einverständnis  mit  Lange  späterhin  nicht  aufgegeben  hat, 
zeigt  seine  kürzlich  veröffentUchte  , »Philosophie  des  Als  Ob". 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  7 

Auffassung  dessen  um,  was  sie  getrieben  hätten  und  trieben,  so  erhielten 
wir  so  vielgestaltige  und  so  weit  von  einander  abliegende  Antworten, 
daß  es  völlig  aussichtslos  wäre,  diese  buntschillernde  Mannig- 
faltigkeit auf  einen  einfachen  Ausdruck  und  die  ganze  Fülle  dieser 
wechselnden  Erscheinungen  unter  einen  einheitUchen  Begriff  bringen 
zu  wollen.  Oft  genug  sei  freilich  der  Versuch  dazu  gemacht  worden. 
Absehend  von  den  besonderen  Inhaltsbestimmungen,  mit  denen  jeder 
Philosoph  die  Quintessenz  der  von  ihm  gewonnenen  Ansichten  und 
Einsichten  schon  in  die  Aufstellung  seiner  Aufgabe  hineinzulegen 
gewöhnt  sei,  habe  man  zu  einer  rein  formalen  Definition  zu  ge- 
langen gedacht,  die  von  dem  "Wechsel  der  zeithchen  und  der  nationalen 
Anschauungen  ebenso  wie  von  der  Einseitigkeit  persönlicher  Über- 
zeugungen unabhängig  und  deshalb  geeignet  wäre,  alles  unter  sich 
zu  befassen,  was  je  Philosophie  genannt  worden  sei.  Aber  möge  man 
dabei  die  Philosophie  als  Lebensweisheit  oder  als  Wissenschaft 
von  den  Prinzipien  oder  wie  immer  definieren,  stets  werde  die  Definition 
zu  weit  oder  zu  eng  erscheinen.  Angesichts  des  Wechsels,  den  die 
Bedeutung  des  Wortes  Philosophie  im  Laufe  der  Zeiten  durchgemacht 
habe,  sei  es  „in  alle  Wege  unmöglich",  durch  historische  Induktion 
einen  allgemeinen  Begriff  der  Philosophie  zu  finden,  der  alle  Philosophie 
genannten  geschichtüchen  Erscheinungen  umfaßte"). 

So  Windelband,  mit  dem  in  bezug  auf  das  Angeführte  nicht 
wenige  Fachkolleoen  übereinstimmen.  Indes  nur  äußerhch.  Innerlich 
widersprechen  sie  sich  dergestalt  einander,  einander  und  sich  selbst, 
daß  darin  allein  ein  deutliches  Anzeichen  für  die  Falschheit  ihrer 
äußerlich  einmütigen  Behauptungen  liegt,  es  gebe  kein  Philosophie- 
problem,  weil  der  vielgesuchte  allgemeine  Philosophiebegriff  ebenso 
wenig  auffindbar  wie  die  Quadi'atur  des  Ki'eises  oder  ein  Perpetuum 
mobile  sein  soU. 

Auch  nach  AVundt  soll  sich  auf  die  Frage,  was  Philosophie 
sei,  aus  dem  Inhalt  dessen,  was  man  zu  verschiedenen  Zeiten  und 
in  verschiedenen  Systemen  so  genannt  habe,  kaum  eine  allgemein- 
gültige Antwort  finden  lassen.  Seit  den  Anfängen  der  hellenischen 
Wissenschaft  schwanke  der  Begriff  ihres  Gegenstandes  z\^ischen 
völlig  entgegengesetzten  Auffassungen.    Selbst  da,  wo  man  sich  etwa 


')  „Was  ist  Philosophie?",  Präludien  (Freib.  u.  Tüb.   1884),  S.  If.,  10. 
Vgl.  auch  Lehrbuch  der  Gesch.  d.  Philos.  (Tüb.  1912),  S.  3. 


8  Hubert  Rock, 

mit  einer  bloß  formalen  Begriffsbestimmung  begnüge,  pflegten  sieh 
hinter  anscheinend  verwandten  Ausdrücken  um  so  tiefer  greifende 
Unterschiede  zu  verbergen.     So  vielgestaltig  und  widerspruchsreich 
aber  das  Bild  sein  möge,  das  der  Inhalt  der  Philosophie  in  ihrer  ge- 
schichtlichen Entwicklung  darbiete,  so  übereinstimmend  soll  trotzdem 
der  Zweck  erscheinen,  den  ,, allzeit  bald  ausdrücklich,  bald  un- 
ausgesprochen" die  Philosophie  erstrebt  habe.    Der  Zweck  bestehe 
überall  in  der  Zusammenfassung    der    Einzelkenntnisse    zu 
einer    die   Forderungen    des   Verstandes    und    die    Bedürf- 
nisse   des    Gemütes    befriedigenden    Welt-    und    Lebens- 
anschauung.   Freilich  sei  es  die  Philosophie  nicht  allein,  die  diesen 
Zweck  zu  erreichen  strebe,  weshalb  es  nicht  genügen  würde,  ihn  zur 
Begriffsbestimmung   derselben   zu  verwenden.      Zwei   andere   große 
Gebiete  menschlicher  Geistestätigkeit  seien  es,  die  sich  hier  mit  ihr 
,,ganz  oder  teilweise"  in  dem  nämlichen  Streben  vereinigten.  Das 
eine  sei  die  Religion,  die  in  dem  Augenblick,  wo  die  Philosophie 
entstehe,  schon  als  eine  fertige  Weltanschauung  vorhanden  sei.     Das 
andre  setze  sich  aus  den  einzelnen  Erkenntnisgebieten  zusammen, 
die,  in  Gestalt  der  Einzel  Wissenschaften  allmählich  aus  der  Philo- 
sophie hervorgegangen,  im  Laufe  der  Zeit  eine  immer  größere  Selb- 
ständigkeit gewonnen   hätten.      Zwischen   diesen  beiden  Bereichen 
geistigen  Lebens  nehme  daher  die  Philosophie  eine  vielfach  ungewisse, 
bald  ihnen  verbündete,  bald  ihnen  feindselige,  sie  bekämpfende  und 
selbst  von  ihnen  angefochtene  Stellung  ein^j. 

Angenommen,  die  Philosophie  hätte  ^\^rklich  den  von  Wundt 
bezeichneten  Zweck  ..allzeit  bald  ausdrücklich,  bald  unausgesprochen" 
verfolgt,  so  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  diese  Zweckbezeichnung  nicht 
die  allgemeingültige  Lösung  des  Philosophieproblems  bilden  soll.  Daß 
eine  Rehgion  wie  das  Christentum  den  gleichen  Zweck  „ganz"  und  daß 
ihn  die  Einzelwissenschaften  „teilweise"  verfolgen,  steht  einer  solchen 
Lösung  nicht  im  Wege.  Was  bei  der  Philosophie  ein  an  sich  rein  theore- 
tischer Endzweck  wäre,  dient  beim  Christentum  als  Mittel  zu  einem 
rein  praktischen  Endzweck,  zur  Heiligung  im  Literesse  des  zu  er- 
langenden ewigen  Heils.  Und  was  bei  der  Philosophie  Hauptzweck 
wäre,  ist  eben  bei  den  Einzelwisscnschaften  höchstens  Nebenzweck 
und  das  in  sehr  wechselndem  Grade,  abgesehen  davon,  daß  von  einem 


8)  System  der  Philosophie  (Leipzig  1889),  S.  If. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  9 

allmählichen  Hervorgehen  der  Einzelwissenschaften  aus  der  „Philo- 
sophie", wie  gezeigt  werden  soll,  überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann. 

Auch  nach  Deussen  soll  sich  eine  Definition  der  Philosophie, 
die  das  philosophische  Denken  gegen  die  übrige  Gedankenwelt  ab- 
grenzte und  dabei  allen  Erscheinungen,  von  denen  die  Geschichte  der 
Philosophie  zu  reden  habe,  gleichmäßig  gerecht  würde,  nicht  auf- 
stellen lassen.  Trotz  aller  Differenzen  aber,  die  es  unmögUch  machten, 
eine  für  alle  im  Verlaufe  der  Geschichte  aufgetretenen  Systeme  gleich- 
mäßig gültige  Definition  der  Philosophie  aufzustellen,  soll  sich  doch 
„gleichwie  ein  roter  Faden"  durch  die  ganze  Geschichte  der 
Philosophie  eine  gewisse  Übereinstimmung  in  betreff  der  Aufgaben 
und  Ziele  der  Philosophie  erkennen  lassen.  Erstens  nehme  die  Philo- 
sophie immer  wieder  ,,das  Gesamtgebiet  alles  seiend  Vorhandenen" 
als  ihr  Objekt  in  Anspruch  und  zweitens  sehe  sie  die  Gesamtheit  der 
empirischen  Reahtät  als  etwas  an,  das  noch  der  weiteren  Erklärung 
aus  einem  .Prinzip"  bedürfe.  Hienach  lasse  sich,  wenn  auch  nicht 
eine  „historische  Definition",  so  doch  eine  ., Ideal-Definition" 
der  Philosophie  aufstellen,  d.  h.  eine  solche,  die  das  Ziel  bezeichne, 
auf  das  alle  philosophischen  Bemühungen  aller  Zeiten  und  Länder 
gerichtet  gewesen  seien,  wenn  auch  ein  klares  Bewußtsein  über  diese 
eigentliche  Aufgabe  der  Philosophie  erst  im  Verlaufe  ihrer  Geschichte 
selbst  sich  herausgebildet  habe  und  noch  zu  bilden  im  Begriffe  sei.  So 
sei  denn  „alle  Philosophie  von  Hause  aus  und  wesenthch  Meta- 
physik"^). 

Angenommen,  es  verhielte  sich  so,  wie  Deussen  meint,  so  wäre 
ja  eine  solche  Ideal-Definition  der  Philosophie  nichts  andres  als  die 
angeblich  unmögliche  historische  Definition.  Es  fragt  sich  dann  bloß, 
ob  sie  den  historischen  Tatsachen  in  zureichendem  Maße  gerecht  wd. 
Vieles  spricht  ja  dafür,  vieles  aber  dagegen.  Wie  Deussen  selbst  ein- 
räumt, habe  Sokrates  als  „Analytiker"  kein  philosophisches  System 
und  somit  kein  „Prinzip"  aufgestellt.  Er  räumt  auch  ein,  daß  Kant 
kein  Prinzip  der  Welterklärung  aufgestellt  habe,  freilich  mit  der  Ein- 
schränkung, daß  dessen  Zerlegung  des  Erfahrungsinhalts  in  das 
Apriorische  und  Aposteriorische,  auf  das  beiden  zugrunde  liegende, 
wenn  auch  unerkennbare   „Ding   an  sich"  als  Prinzip  hinweisen 


8)  Allgemeine  Geschichte  der  Philosophie-  (Leipzig  1906),  I.  Bd.  1.  Abt. 
S.  1—6. 


IQ  Hubert   Rock, 

soll.  Das  „Ding  an  sich  als  Prinzip"  der  Welterklärung!  Als  ob  Kant 
nicht  ausdrücklich  erklärt  hätte:  „Was  die  Dinge  an  sich  sein  mögen, 
weiß  ich  nicht  und  brauche  es  nicht  zu  wissen,  weil  mir  doch  niemals 
ein  Ding  anders  als  in  der  Erscheinung  vorkommen  kann'"^*^).  Jeden- 
falls wären  Dcussens  Ideal-Definition  gemäß  Sokrates  und  Kant  nicht 
als  echte  und  rechte  Philosophen  anzusehen.  Männer  wie  Protagoras, 
Ariston  von  Chios,  Musonius  Rufus  und  die  ganze  Schar  der  Kyniker, 
Kyrenaiker,  Skeptiker,  Positivisten  natürlich  ebenfalls  nicht.  Bei 
solchen  Ergebnissen  muß  die  Rechnung  falsch  angesetzt  sein. 

Auch  nach  Külpe  sollen  alle  Versuche  einer  allgemeingültigen 
Definition  des  Wesens  der  Philosophie  scheitern,  sobald  man  dem  histo- 
rischen Tatbestande  dieser  Wissenschaft  gerecht  werden  wolle.    Es 
bleibe  daher  nichts  übrig,  als  auf  eine  einheitüche  Definition  überhaupt 
zu  verzichten.   „Was  an  der  Philosophie  wesentlich  war,  ist  und 
voraussichthch  sein  wird",  soll  sich  aber  trotzdem  „in  einer  anderen 
Form,   nämlich   durch   eine   divisive    Bestimmung"   ausdrücken 
lassen.    Danach  wären  drei  „ganz  verschiedene  Aufgaben  als  philoso- 
phische Bestrebungen  aller  Zeiten"  zu  bezeichnen.     Die  erste  Auf- 
gabe bestehe  in  der  Entwicklung  einer  umfassenden  und  in  sich  ge- 
schlossenen Weltanschauung ;  Metaphysik  sei  der  alte  Name  dafür. 
Die  zweite  Aufgabe  bestehe  in  der  Untersuchung  der  Voraussetzungen 
aller  Wissenschaft.     Die  dritte  ihrem  Inhalte    nach    am  meisten 
Schwankungen  ausgesetzte  Aufgabe  bestehe  in  der  Vorbereitung  neuer 
Einzeh\issenschaften  und  einzelwissenschaftlicher  Erkenntnisse.    Nur 
durch  diese  dritte  Aufgabe  werde  der  Wechsel  im  Umfange  der  philo- 
sophischen Disziphnen  verständlich  und  nur  sie  ermögliche  es,  eine 
Kontinuität  in  dem  Entwicklungsgange  dessen,  was  die  Philosophie  in 
den  verschiedenen  Zeiten  gewollt  habe  und  gewesen  sei,  herzustellen. 
Freilich  lasse  sich  kein  inneres,  notwendiges  Kriterium  angeben,  das 
entschiede,  wann  eine  von  Philosophen  vorbereitete  Einzelwissenschaft 
zu  einer  selbständigen  Bedeutung  gediehen  sei;  vielmehr  pflege  dies 
von  dem  rein  äußerUchen  Gesichtspunkte  des  angewachsenen  Stoffes 
oder  Umfanges  abzuhängen,  der  es  nicht  mehr  tunlich  erscheinen 
lasse,  diese  Einzelwissenschaft  als  einen  Teil  der  Philosophie  zu  be- 
treiben^^). 

1°)  Kritik  der  reinen  Vernunft,  Elementarlehre,  II.  Teil,  1.  Abt.,  2.  Buch, 
Anhang. 

1)  Einleitung  in  die  Philosophie  (Leipzig  1895),  S.  258—262. 


ii\ 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  11 

Als  Verlegenheitsauskunft  ist  diese  sogenannte  divisive  Be- 
stimmung eines  dreifachen  Wesens  der  Philosophie  insofern  nicht 
übel,  als  sie  besonders  drastisch  veranschauhcht,  welch  schweres 
Kreuz  das  Philosophieproblem  für  manche  darstellt  und  mit  welchen 
logischen  Finten  man  sich  und  andre  darül)er  hinwegzutäuschen  unter- 
nimmt. Im  übrigen  lohnt  es  sich  nicht,  dabei  kritisch  zu  verweilen. 
Dagegen  lohnt  sich  dies  bei  der  plausibler  klingenden  Verlegenheits- 
auskunft Windelbands. 

Wenn  eine  allgemeine  Geschichte  der  Philosophie  trotz  der  Un- 
auffindbarkeit eines  allgemeinen  Begriffs  der  Philosophie  einen  ver- 
nünftigen Sinn  behalten  soll,  so  setzt  das  nach  Windelband  voraus, 
daß  der  Wechsel,  den  der  Name  Philosophie  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte erfahren  habe,  nicht  bloße  AVillkür  und  Zufälhgkeit  bedeute, 
sondern  selbst  einen  vernünftigen  Sinn  und  einen  eigentümüchen 
Wert  besitze.  Und  so  verhalte  es  sich  in  der  Tat.  Nur  wenn  man  sich 
die  Geschichte  des  Namens  Philosophie  klar  gemacht  habe,  werde 
man  bestimmen  können,  was  in  Zukunft  mit  dem  Anspruch  auf  mehr 
als  individuelle  Gültigkeit  berechtigt  sei,  den  Namen  zu  tragen. 

Wie  wir  den  Griechen  das  Wort  verdankten,  so  auch  die  erste 
Bedeutung  der  rfüoooffiic.  Um  die  Zeit  Piatons,  wie  es  scheine, 
ziu-  technischen  Bezeichnung  geworden,  bedeute  das  Wort  genau  das, 
was  wu-  heute  im  Deutschen  mit  dem  Wort  Wissenschaft  be- 
zeichneten. Es  sei  der  Name,  den  ein  eben  geborenes  Kind  erhalte. 
Die  Neugierde  des  von  der  Not  des  Lebens  befreiten  Kultur- 
geistes, der  in  edler  Muße  zu  forschen  beginne,  um  ohne  jeden  prak- 
tischen Zweck,  ohne  jedes  Hinbücken  auf  religiöse  Erbauung  oder 
sittliche  Veredlung  das  Wissen  nur  um  seiner  selbst  willen 
zu  haben  und  an  ihm  als  einem  absoluten,  vöUig  unabhängigen  Werte 
Genuß  zu  finden,  diesen  reinen  Wissens  trieb  hätten  die  Griechen 
zuerst  entfaltet  und  seien  damit  die  Schöpfer  der  Wissenschaft 
geworden.  So  sei  die  Geschichte  der  griechischen  Philosophie 
die  Geburtsgeschichte  der  Wissenschaft;  das  sei  ihr  tiefster 
Sinn  und  ihre  unvergänghche  Bedeutung.  Von  der  Forschung  des 
Thaies  nach  dem  Urgrund  aller  Dinge  bis  zur  Logik  des  Aristoteles 
handle  es  sich  um  eine  große  typische  Entwicklung,  deren  Thema 
die  Wissenschaft  bilde.  Diese  Wissenschaft  richte  sich  deshalb  auf 
alles,  was  ül)erhaupt  Objekt  des  Wissens  werden  könne  oder  werden 
zu  können  scheine;  sie  umspanne  das  All.  die  ganze  VorsteUungswelt. 


12  Hubert  Rock, 

Und  SO  sei  Philosophie  anfangs  die  eine,  ungeteilte  Wissen- 
schaft. 

Mit  wachsendem  Material  beginne  jedoch  die  Philosophie  sich 
zu  teilen.  Es  schieden  sich  die  einzelnen  „Philosophien"  aus,  von 
denen  jede  die  Lebensarbeit  eines  Forschers  für  sich  in  Anspruch  nehme. 
Der  griechische  Geist  trete  in  das  Zeitalter  der  Spezialwissen- 
schaften.  Der  ursprüngUche  Name  der  Gesamtwissenschaft  bleibe 
zunächst  für  die  später  Metaphysik  genannte  „erste"  Philosophie 
des  Aristoteles  erhalten,  in  dessen  gewaltigem,  systematisierendem 
Geiste  sich  jener  Differenzierungsprozeß  der  Philosophie  vollzogen  habe. 
Zugleich  trete  ein  andrer  Umstand  hinzu,  der  nicht  in  der  rein 
\\issenschaftlichen,  sondern  in  einer  allgemeinen  Kulturbewegung,  im 
Aufgehen  des  Griechentums  in  den  Hellenismus,  des  Hellenismus  in 
das  römische  Eeich  seinen  Grund  gehabt  habe.  Wo  die  Geschicke  der 
äußern  Welt  vernichtend  über  ganze  Völker  und  gewaltige  Keiche 
dahingerollt  seien,  da  habe  nur  noch  im  Innern  der  Persönlichkeit 
Glück  und  Genuß  zu  winken  geschienen.  Und  so  sei  für  alle  Besseren 
die  Frage  nach  der  rechten  Einrichtung  des  persönlichen 
Lebens  die  wichtigste  und  brennendste  geworden.  Vor  der  Leb- 
haftigkeit dieses  Interesses  sei  der  reine  Wissenstrieb  erlahmt.  Nur 
so  weit  noch  sei  die  Wissenschaft  geschätzt  worden,  als  sie  diesem 
Interesse  habe  dienen  können.  Den  Typus  dieser  Bewegung  sähen 
wir  in  der  Stoa.  Die  Unterordnung  des  Wissens  unter  das  Leben 
sei  der  allgemeine  Charakter  dieser  Zeit  und  ihr  heiße  deshalb  die 
Philosophie  eine  Lebenskunst  und  eine  Tugendübung.  Die 
Wissenschaft  sei  kein  Selbstzweck  mehr,  sondern  das  vornehmste  JVIittel 
der  Glücksehgkeit.  Das  neue  Organ  des  menschüchen  Geistes,  das 
die  Griechen  ent\\ickelt  hätten,  trete  fortan  in  langdauernde  Dienst- 
barkeit und  wechsle  mit  den  Jahrhunderten  bloß  den  Herrn. 

Als  Dienerin  des  Glaubens  erscheine  die  Philosophie  in  den 
langen  schweren  Lehrjahrhunderten  der  germanischen  Völker. 
Philosophie  sei  da  der  Versuch  wissenschaftlicher  Entwicklung  und 
Begründung  von  religiösen  Überzeugungen. 

Durch  die  Emanzipation  von  der  Alleinherrschaft  des  mittel- 
alterhc.hen  Geistes  werde  auch  der  Wissenstrieb  wieder  frei.  Die 
Philosophie  finde  in  den  Idealen  Griechenlands  das  reine  Wissen 
um  seiner  selbst  willen  wieder.  Sie  streife  die  ethische  und  reli- 
giöse Zweckbestimmung  ab  und  werde  wieder  die  Gesamtwissenschaft 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  13 

vom  Weltall,  Metaphysik  im  eigensten  Sinne.  Allein  neben  das 
metaphysische  Interesse  trete  von  Anfang  an  ein  andres,  das  albnählich 
das  Übergewicht  gewinne.  Gerade  der  Gegensatz  der  metaphysischen 
Systeme  erzeuge  die  Frage,  ob  überhaupt  Metaphysik  möglich  sei. 
Und  diese  Frage  werde  verneint. 

Indessen,  wo  die  Not  am  höchsten,  sei  die  Hilfe  am  nächsten. 
]\Iit  dem  Nachweise  der  Unmöglichkeit  der  Methapysik  sei  eben  ein 
neuer  TMssenszweig  entstanden,  der  eines  Namens  bedürfe.  Neben 
die  anderen  Wissenschaften  trete  als  besondere,  scharf  bestimmte  Dis- 
ziplin eine  Theorie  der  Wissenschaft.  Auf  diese  Wissenschaftslehre 
übertrage  sich  der  gegenstandlos  gewordene  Name  der  Philosophie. 
In  der  ersten  Phase  also  die  Wissenschaft  selbst  und  ganz, 
sei  die  Philosophie  in  der  zweiten  Phase  das  Resume  aller  ein- 
zelnen Wissenschaften,  in  der  dritten  Phase  die  Lehre  davon,  wozu 
die  Wissenschaft  da  sei,  in  der  vierten  Phase  die  Theorie  der  Wissen- 
schaft selbst. 

Die  wichtigste  Wandlung,  die  die  Philosophie  erfahren  habe, 
knüpfe  sich  aber  an  den  Namen  Kants.   Sie  folge  unmittelbar  auf  die 
vierte  Phase.   Dadurch,  daß  Kant  der  Philosophie  die  Aufgabe  gestellt 
habe,  den  Wert  der  Vorstellungen  unter  dem  ki'itischen  Gesichtspunkt 
der  Wahrheit  zu  untersuchen,  sei  ein  ganz    neuer    Begriff    der 
Philosophie  eröffnet  worden.    Allerdings  habe  bis  jetzt  viel  daran 
gefehlt,  daß  Kants  Prinzip  verstanden  worden  und  zur  Alleinherrschaft 
gelangt  wäre.     Am  meisten  habe  von  seinen  Nachfolgern  Herbart 
daran  festgehalten.    Andi'e  hätten  seine  Resultate  sogleich  wieder  in 
eine  Metaphysik    oder   in  eine  philosophische  Universalwissenschaft 
umgedeutet,   andre    die   Philosophie   auf   Erkenntnistheorie    zu   be- 
schränken gedacht.    Selbst  an  solchen  Stimmen  habe  es  nicht  gefehlt, 
die   die  Philosophie  wieder  zu  einer  bloßen  Untersuchung   dessen 
machen  wollten,  was  für  die  praktischen  Lebenszwecke  des  Menschen 
Bedeutung  habe^^). 

So  Windelband  im  Aufsatze  ,.Was  ist  Philosophie?"  So  auch 
in  der  „Geschichte  der  alten  Philosophie"  und  im  „Lehrbuch  der 
Geschichte  der  Philosophie",  ausgenommen,  daß  das  zweite  der  beiden 
Werke  neben  dem  Hinweis  auf  eine  der  ersten  Phase  vorausgehende 
Urphase  einige  Belegstellen  und  ScheinbelegsteUen  für  die  ganze 
Phaseneinteilung  enthält. 

12)  „Was  ist  Philosophie?"  S.  11—27. 


14  Hubert  Rock, 

Was  die  Urphase  betrifft,  erfahren  wir  übrigens  sonst  nichts,  als  daß 
das  erste  literarische  Auftreten  der  AVorte  qjiXooofftTr  und  (füoooffia 
noch  die  einfache  und  zugleich  unbestimmte  Bedeutung  des  „Strebens 
nach  Weisheit"  erkennen  lassen  soll  (S.  1). 

In  Wahrheit  ist  das  „Streben  nach  Weisheit"  bei  den  Alten  stets 
die  von  Anfang  an  nichts  weniger  als  unbestimmte  Grund-  und  Haupt- 
bedingung jener  Worte  gebheben.  Windelband  hat  bloß  ein  sehr 
schwaches  Gehör  dafür.  Das  „Streben  nach  Weisheit"  muß  sich  schon 
so  unzweideutig  ^^^e  in  der  dritten  Phase  vernehmbar  machen,  um 
bei  ihm  gebührendermaßen  Audienz  zu  finden.  Er  hat  eben  keine 
Sympathie  dafür.  Desto  mehr  Sympathie  hat  er  für  das  Streben  danach, 
„was  im  Deutschen  Wissenschaft  heißt"  und  für  den  es  an- 
gebhch  am  leibhaftigsten  in  sich  personifizierenden  Aristoteles.  Die 
Sympathie  dafür  geht  bei  ihm  so  weit,  daß  er  sich  von  ihr  verführen 
läßt,  die  antike  Philosophie  in  ,,zwei  große  Massen"  einzuteilen  oder 
vielmehr  auseinanderzureißen,  in  die  griechische  und  in  die  helle- 
nistisch-römische, mit  dem  Todesjahr  des  Aristoteles  als  äußern 
Grenzpunkt.  Die  griechische  Philosophie  beginne  mit  der  Verselb- 
ständigung desErkenntnistriebes, bewege  sich  durchgängig  um  eine 
von  Nebenzwecken  freie  Erstrebung  des  Wissens  und  vollende 
sich  in  Aristoteles  teils  durch  die  allgemeine  Theorie  der  Wissenschaft 
(Logik),  teils  durch  den  Entwurf  eines  daraus  entwickelten  Systems 
der  Wissenschaften.  Aristoteles  sei  „der  wissenschafthche  Geist  xar 
lB,oyj'ir\  „die  Verkörperung  der  griechischen  Wissenschaft",  in  seiner 
Philosophie  verdichte  sich  „das  Wesen  des  Griechentums  zu 
seinem  begriffhchen  Ausdruck".  In  der  Folgezeit  erlösche  „die  Energie 
dieses  rein  theoretischen  Interesses"  und  erhalte  sich  nur  teil- 
weise in  der  stiUen  Arbeit  der  sachlichen  Einzelwissenschaften,  wogegen 
für  die  „Philosophie"  die  praktische  Frage  nach  der  Lebens- 
weisheit in  den  Mittelpunkt  trete.  Das  Wissen  werde  nicht  mehr 
um  seiner  selbst  willen,  sondern  nur  als  ein  Mittel  zu  rechten 
Einrichtung  des  Lebens  gesucht.  Der  bestimmende  Grundgesichts- 
punkt  der  Philosophie   werde   derjenige   der   Lebensweisheit^^). 

Allerdings  unterläßt  Windelband  nicht  beizufügen,  es  verstehe 
sich  bei  der  Flüssigkeit  aller  historischen  Einteilungen  von  selbst, 
daß  dieser  Gegensatz  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ  gelte;  weder 


")  Geschichte  der  alten  Philosophie  ~  (München  1894),  S.  5,  142,  157,  11 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  15 

fehle  es  in  der  naclmristotelisclien  Philosophie  vollständig  an  Be- 
strebungen wesentlich  theoretischer  Art  noch  unter  den  rein  griechischen 
Denkern  an  solchen,  die  der  Philosophie  letztUch  praktische  Ziele 
steckten,  wie  z.  B.  die  Soki'atikeri*).  Aber  auch  mit  dieser  Einschrän- 
kung ist  die  Unterscheidung  zwischen  griechischer  und  hellenistisch- 
römischer  Philosophie  bei  unvoreingenommener  Geschichtsforschung 
nicht  aufrecht  zu  halten. 

In  Wirklichkeit  ist  der  bestimmende  Grundgesichtspunkt  des  von 
den  Alten  unter  dem  Namen  Philosophie  mit  mehr  oder  weniger 
klarem  Bewußtsein,  wenngleich  auf  mehr  oder  weniger  getrennten 
Wegen  Erstrebten  sowohl  vor  als  nach  der  Zeit  des  Aristoteles  derjenige 
der  Lebensweisheit  gewesen,  Aristoteles  selbst  nicht  ausgenommen. 
„Lebensweisheit"  und  „Wissenschaft"  sind  von  Anfang  an  zwei  neben- 
einander hergehende,  sich  naturgemäß  vielfach  vermischende,  nie  aber 
ineinander  aufgehende  Geistesströmungen.  Daß  ein  und  derselbe,  wie 
es  nicht  bei  Aristoteles  allein  der  Fall  ist,  die  Vertretung  der  Lebens- 
weisheit mit  der  der  Wissenschaft  in  sich  vereinigt,  macht  die  Lebens- 
weisheit noch  nicht  zur  Wissenschaft  oder  die  Wissenschaft  zur  Lebens- 
weisheit. Daneben  hat  es'von  Anfang  an  solche  gegeben,  die  lediglich 
als  Vertreter  der  Lebensweisheit  oder  ledigüch  als  Vertreter  der 
Wissenschaft  in  Betracht  kommen.  Die  Haltlosigkeit  von  Windel- 
bands Phasenunterscheidung  ergibt  sich  aus  der  Haltlosigkeit  seiner 
Unterscheidung  zwischen  griechischer  und  hellenistisch-römischer  Phi- 
losophie von  selbst. 

Der  Glaube  an  „die  für  das  Altertum  gültige  Gleichung  von 
Philosophie  und  Wissenschaft"!^)^  wenigstens  für  die  bis  zum 
Tode  des  Aristoteles  reichende  Periode,  die  sogenannte  Glanzperiode 
antiker  Philosophie,  ist  überhaupt  sehr  verbreitet  und  bei  denjenigen, 
die  ihn  haben,  meist  derartig  eingenistet,  daß  er  ihr  Denken  gleich 
einer  längst  über  eden  Zweifel  erhabenen  philosophiegeschichtlichen 
Wahrheit  beheiTscht.  Windelband  hat  diesen  Glauben  bloß  in  seiner 
Weise  und  nach  seinem  Bedürfnis  formuhert. 

Wie  Überweg  und  Comp,  es  als  ausgemachte  Tatsache  hin- 
stellen, daß  sich  im  Altertum  der  Lihalt  der  Philosophie  „nach  all- 


")  Ibid.  S.  6;  Tgl.  auch  S.  86ff.,  177. 

")  Worte  Riehls  in  der  Schrift  „Zur  Einführung  in  die  Philosophie  der 
Gegenwart"  (Leipzig  1903),  S.  7. 


16  Hubert   Rock, 

gemeiner  Anschauung"  mit  dem  „des  menschlichen  "Wissens  üljer- 
haupt"  gedeckt  habe^'),  so  Brandis  mit  der  kategorischen  Erklärung: 
„Bei  den  Griechen  umfaßte  die  Philosophie  ursprünglich  alle  Wissen- 
schaft, die  bei  ihnen  nicht  wie  bei  einigen  Völkern  des  Orients  in 
Bedürfnissen  des  physischen  Wohlseins,  sondern  im  Trielje  zu  wissen 
ihre  erste  Veranlassung  fand"^^). 

Bei  Zeller  finden  wir  denselben  Glauben,  jedoch  mehr  auf  der 
Zunge  als  im  Kopf,  was  seine  Aussagen  um  so  wiederspruchsvoller,  aber 
auch  um  so  merkwürdiger  macht.     Einerseits  soll  die  Philosophie 
bei  den  Griechen  nicht  bloß  der  Einheitspunkt  sein,  in  dem  alle 
wissenschaftlichen  Bestrebungen  zusammenhefen,  sondern  ursprüngUch 
das  Ganze,  das  sie  alle  in  sich  begreife.  Andererseits  soll  der  Name 
Philosophie  ursprüngUch  alle  Geistesbildung  und  alles  Streben  nach 
Bildung  bezeichnen.    Eine  engere  Bedeutung  scheine  er  zuerst  in  der 
sophistischen  Periode  erhalten  zu  haben,  wo  er  für  eine  solche  Be- 
schäftigung mit  geistigen  Dingen  gebraucht  werde,  die  nicht  bloß 
nebenher,  als  Sache  der  Unterhaltung,  sondern  selbständig  als  Gegen- 
stand einer  eigenen  ernsthaften  Tätigkeit  betrieben  werde;  der  Um- 
fang  dieses   Begriffs  sei  aber  noch  niclit  auf  die  philosophische 
Wissenschaft  in  der  jetzigen  Bedeutung  des  Wortes  ,,und  überhaupt 
nicht  auf  die  Wissenschaft  beschränkt,   für  die  vielmehr  andre 
Benennungen  gebräuchlicher  sind".    Ein  bestimmterer  Sprach- 
gebrauch finde  sich  erst  bei  Piaton,  der  jedoch  das  sittlicheHan- 
deln  ebensosehr  wie  das  Wissen  zur  Philosophie  rechne.  Aristoteles 
begrenze  das  Gebiet  der  Philosophie  noch  genauer,  indem  er  die  prak- 
tische Tätigkeit  von  ihr  ausschließe.   Doch  schwanke  auch  er  zwischen 
einer  weiteren  und  einer  engeren  Bedeutung;  nach  jener  werde  es  für 
jede  wissenschaftliche  Untersuchung  und  Erkenntnis,  nach  dieser  nur 
für  die  Untersuchungen  über  die  letzten  Gründe,   die  sogenannte 
„erste  Philosophie"  gesetzt.     Kaum  sei  aber  hiemit  der  Anfang  zu 
einer  schärferen  Begriffsbestimmung  gemacht,  so  werde  sie  auch  sofort 
wieder  verlassen,  indem  die  Philosophie  in  den  nacharistotelischen 
Schulen  teils  einseitig  praktisch  als  ÜlDung  der  Weisheit,  Mittel  zur 
Glücksehgkeit,  als  L  e  b  e  n  s  w  e  i  s  h  e  i  t  definiert,  teils  auch  von  den 


1^)  Grundriß  der  Geschichte  der  Philosophie  des  Altertums,  10.  Aufl., 
S.  1. 

^')  Handbuch  der  Geschichte  der  Griechisch-Römischen  Philosophie  (Berlin 
1835),  I.  Teil. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  17 

empirischen  Wissenschaften  zu  wenig  unterschieden  und  wohl  auch 
geradezu  mit  der  Gelehrsamkeit  verwechselt  werde^^). 

Als  ob  das  eine  nicht  das  andi'e  rundweg  ausschlösse!  Entweder 
war  Philosophie  bei  den  Griechen  ursprünglich  das  alle  wissenschaftlichen 
Bestrebungen  in  sich  begreifende  Ganze,  also  Wissenschaft  schlechthin; 
dann  hätte  es  ja  ursprünglich  an  einem  bestimmt  genug  lautenden 
Sprachgebrauch  nicht  gefehlt  und  dieser  wäre  erst  später  verloren 
gegangen,  Oder  es  ist  eben  während  des  ganzen  Altertums  nie  zu 
einem  bestimmten  Sprachgebrauch  gekommen,  nicht  einmal  bei 
Aristoteles. 

Dagegen  erklärt  wieder  Wundt  in  seinem  Essay  „Philosophie 
und  Wissenschaft"  ganz  kategorisch:  „Den   Alten   war   die   Phi- 

sophie  Wissenschaft  überhaupt In  der  Blütezeit  der 

hellenischen  Philosophie  begannen  zwar  schon  einzelne  Teile  nament- 
lich der  mathematischen  und  naturwissenschaftüchen  Forschung  eine 
sorgfältigere  Pflege  zu  finden;  sie  bheben  aber  im  Zusammenhang 
mit  der  großen  Mutterwissenschaft  und  wurden  höchstens  als 
Anhänge  und  Ergänzungen  derselben  betrachtet".  Erst  in  das  Zeit- 
alter der  untergehenden  antiken  Kultur  falle  die  allmähliche  Ent- 
wicklung der  ihre  eigenen  Wege  wandelnden  Einzelwdssenschaften^^). 

Ebenso  kategorisch  heißt  es  bei  Eduard  Schwarz  in  bezug  auf 
die  vorepilvureische  Philosophie:  ,,Epikur  ist  der  erste  griechische 
Philosoph,  der  mit  Bewußtsein  und  Absicht  ein  System  aufgestellt 
hat.  Er  unterscheidet  sich  dadurch  ebenso  von  P lato  und  Aristoteles 
wie  von  den  Joniern.  Für  diese  alle  war  die  Philosophie  Wissen- 
schaft, nicht  eine  neben  oder  über  vielen  anderen,  sondern  die  eine 
und  unteilbare,  die  alle  Erkenntnis  umfassen  wollte". 
Für  Epikur  dagegen  sei  die  Wissenschaft  nicht  Ziel,  sondern  Mittel 
gewesen^"). 

Zum  Unterschied  von  den  Genannten  suchen  sich  Theodor 
Gomperz  und  Deussen,  namentlich  aber  Riehl  mit  dem  Glauben 
an  die  Geschichthchkeit  der  Gleichung  von  Philosophie  und  Wissen- 
schaft dadurch  abzufinden,  daß  sie  die  Lebensweisheit  mit  der  Wissen- 
schaft begriffhch  verquicken,  die  Lebensweisheit  zu  einem  Bestandteil 


^^)  Philosophie  der  Griechen,  I^.  S.  1 — 5. 
1«)  Essays  (Leipzig  1885),  S.  7—9. 

^°)  Charakterbilder  aus  der  antiken  Literatur,  II.  Reihe  2.  Aufl.  (Leipzig 
1911),  S.  32f.,  34. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  1.  2 


18  Hubert   Rock, 

der  Wissenschaft  machen  oder  daß  sie  die  beiden  verkoppeln,  sie 
zu  einem  Doppelbegriff  stempeln. 

Gomperz  sagt:  „Philosophie  war  von  Haus  aus  Universal- 
wissenschaft und  zwar  im  Sinne  des  Altertums  als  eine  das  Leben 
leitende  und  bestimmende  Macht''^^). 

Deussen  sagt:  ,,Das  seit  Sokrates  und  Piaton  allgemein  ge- 
bräuchliche Wort  Philosophie,  ,Liebe  zur  Weisheit',  befaßt  ur- 
sprünglich alle  Wissenschaften;  ja  noch  etwas  mehr:  denn  Weis- 
heit {ooffia)  ist  Wissenschaft  {L-riOT/'/inj)  mit  dem  Nebenbegriffc  eines 
bestimmten  Einflusses  auf  das  allgemeine  Verhalten  des  Men- 
schen in  geistiger  und  sittlicher   Hinsicht"^^^. 

Weiter  lassen  sich  Gomperz  und  Deussen  nicht  darüber  aus.  Um 
so  mitteilsamer  ist  Riehl,  nach  dessen  Auf fassung  die  Philosophie  im 
Altertum  einen  doppelten  Beruf  zu  erfüllen  gehabt  hätte.  Sie 
habe  die  Stelle  der  heutigen  Wissenschaft  vertreten  und  sei  überdies 
eine  Lehre  und  Übung  praktischsr  Lebensweisheit  gewesen. 
Statt  nach  einer  einzigen  Definition  zu  suchen,  die  das  Wesen  der 
Philosophie  erschöpfen  soll,  habe  man  vielmehr  eingedenk  zu  sein, 
daß  mit  ihrem  Namen  zwei  ungleichartige  Begriffe  verbunden  seien. 
Auf  die  Frage,  welche  Wissenschaft  die  Philosophie  sei,  hätte  die 
Antwort  der  Alten  einfach  und  bestimmt  gelautet:  Die  Wissenschaft. 
Die  Philosophie  sei  die  Wissenschaft  der  Griechen,  die  Wissenschaft 
des  griechischen  Zeitalters.  Niemals  aber  habe  es  der  Philosophie 
genügt,  bloße  Wissenschaft  zu  sein.  Die  Wissenschaft  als  solche 
kenne  den  Begriff  des  Wertes  nicht.  Sie  erkenne,  aber  sie  beurteile 
nicht.  Ohne  Werte  wäre  unsere  Lebensfahrt  ohne  Kompaß.  Es  sei 
dem  Menschen  notwendig,  daß  all  seinem  Handeln  und  Streben  ein 
Bild  seines  Handelns,  ein  Ideal  seines  Strebens  vorangehe.  Er  müsse 
Lebensanschauungen  gestalten,  um  sein  Leben  menschlich,  geistig 
führen  zu  können.  Lebensanschauungen  aber  seien  immer  selbst 
schon  in  ge\vissem  Grade  Lebensführungen:  denn  man  könne 
Werte  nicht  als  solche  erkennen,  ohne  sie,  innerlich  wenigstens,  zu  er- 
leben. Daher  sei  die  Philosophie,  die  von  den  Werten  ausgehe, 
nicht  reine  Wissenschaft;  sie  sei  mehr  als  Wissenschaft,  etwas  anderes 
als  Wissenschaft:  die  Kunst  der  Geistesführung.    Und  die  Phi- 


")  Griechische  Denker,  I.  Bd.  S.  420. 

22)  Allgemeine  Geschichte  der  Phüosophie,  I.  Bd.  1.  Abt.  2.  Aufl.  S.  2. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  19 

losophen  der  Lebensanschauung  seien  daher  zugleich  die  Philosophen 
der  Geistesführung  und  Erzieher  der  Menschheit.  Die  Geschichte 
lehre,  daß  dieser  im  höheren  Sinne  praktische  Beruf  „ursprünglich 
und  im  Altertum  auch  vorwiegend"  der  Beruf  des  Philosophen 
gewesen  sei.  Thaies,  den  Begründer  der  Naturphilosophie,  zähle 
die  Legende  zugleich  zu  den  „Sieben  Weisen".  Parmenides  habe 
seiner  Vaterstadt  Elea  Gesetze  gegeben.  Der  pythagoreische 
Bund  habe  sich  nicht  in  erster  Linie  der  Pflege  der  Mathematik  und 
Naturphilosophie  gewidmet,  sondern  habe  eine  ethisch-pontische 
Lebensgemeinschaft  auf  der  Grundlage  der  orphischen  Theologie  ge- 
bildet. Pythagoras  selbst  lebe  im  Gedächtnis  der  Geschichte  vor 
allem  als  Prophet  und  Keformator^^). 

Schade,  daß  Kiehls  ^Mitteilsamkeit  auf  einmal  versiegt,  wenn  es  die 
aufgestellte  Gleichung  von  Philosophie  und  Wissenschaft  geschichtlich 
zu  begründen  gilt.  In  dieser  Hinsicht  erfahren  w  von  ihm  nicht 
mehr  als  von  W^indelband  und  allen  anderen,  die  für  die  Kichtig- 
keit  der  Gleichung  einstehen.  Und  das  wenige,  was  wir  von  ihm 
erfahren,  stimmt  entweder  nicht  mit  sich  oder  nicht  mit  den  Tat- 
sachen überein. 

So,  wenn  er,  die  Selbständigkeit  der  Mathematik  einräumend, 
an  einem  Orte  sagt,  es  habe  im  Altertum,  „von  der  Mathematik 
abgesehen",  keine  Wissenschaft  neben  oder  außer  der  Philosophie 
gegeben  und  auch  die  Mathematik  sei  von  Piaton  nur  als  Propädeutik 
der  Dialektik  oder  der  Philosophie  betrachtet  und  dieser  damit  dienst- 
bar gemacht  worden^^). 

Anderwärts  sagt  er  dagegen,  auch  ohne  die  Mathematik  aus- 
zunehmen: „Daß  es  im  Altertum  außer  der  Philosophie  keine  Wissen- 
schaft gab,  ist  aus  dem  Verfahren  und  aus  dem  Zeugnis  der  alten 
Denker  leicht  zu  erweisen.  Nicht  einmal  die  Mathematik  galt 
als  selbständige  Disziplin;  Piaton  machte  sie  zur  Vorstufe,  ja  zu  einem 
Teil  der  Philosophie. "2^) 

Oder  wenn  er  zum  Beweise  dafür,  daß  Aristoteles  unter  Philo- 
sophie nie  etwas  andres  verstanden  hätte,  als  was  wir  unter  Wissenschaft 
verständen,  darauf  hinweist,  daß  dieser  sich  des  Ausdrucks  Philosophie 


23  \ 


ä)  Der  philosophische  Kritizismus  (Leipzig  1887),  II.  Bd.  2.  Teil  S.  2f. 
—  Zur  Einfühlung  i.  d.  Philos.  d.  Gegenwart,  S.  8f.,  176f. 

24)  Der  philosophische  Kritizismus,  II.  Bd.  2.  Teil  S.  2. 

25)  Zur  Einführimg  i.  d.  Philos.  d.  Gegenwart,  S.  7. 

2* 


20  Hubert   Rock, 

„nicht  selten"  (anderwärts  heißt  es  sogar  ..mit  Vorliebe")  in  der 
Mehrzahl  bediene;  ,. Philosophien",  das  bedeute  für  ihn  soviel  als 
„Wissenschaften"^^). 

Tatsache  ist,  daß  Aristoteles  von  „Philosophien"  im  Sinne  von 
„Wissenschaften"  spricht;  aber  nicht  von  allen  Wissenschaften  ohne 
Unterschied,  sondern  im  Sinne  philosophischer  Wissenschaften  als 
Bestandteile  der  Philosophie  im  allgemeinen.  Überdies  spricht  er  von 
,, Philosophien"  im  Sinne  philosophischer  Wissenschaften  bloß  ein 
einziges  Mal  —  also  nicht  „nicht  selten"  oder  „mit  Vorliebe"  — , 
und  zwar  im  1.  Kapitel  des  VI.  Buches  der  „Metaphysik",  wo  es  heißt, 
es  gebe  „drei  theoretische  Philosophien,  eine  mathematische,  eine 
physische,  eine  theologische".  Wo  der  Ausdruck  ,, Philosophien"  im 
Sinne  philosophischer  Wissenschaften  am  ehesten  wieder  zu  erwarten 
wäre,  wie  im  7.  Kapitel  des  XI.  Buches  der  ,,Methapysik",  da  ver- 
missen w  ihn;  hier  heißt  es,  es  gebe  ,,drei  Arten  von  theoretischen 
Wissenschaften  (6jriör//,Mo32'),  eine  physische,  eine  mathematische, 
eine  theologische".  Es  handelt  sich  also  um  eine  gelegentliche  Ver- 
wendung des  Ausdrucks  ,, Philosophien"  im  Sinne  von  philosophischen 
AVissenschaften,  wie  wir  ihr  auch  bei  Piaton  begegnen,  wenn  dieser 
von  OL  Iv  zaic.  (pilooocpiaig  jioXvv  ygovor  diccTQiipavrsg  und  von 
der  ,, Geometrie  oder  irgend  einer  anderen  Philosophie"  spricht^'). 

Wenn  übrigens  Lelu'e  und  Übung  praktischer  Lebensweisheit 
nach  Riehls  eigenem  Zugeständnis  ..ursprünglich  und  im  Alter- 
tum auch  vorwiegend"  den  Beruf  der  Philosopliie  gebildet  hat, 
warum  etwas  als  förmlichen  zweiten  Beruf  für  sie  in  Anspruch  nehmen, 
weil  es  vielleicht  nachträglich  und  nebenbei  von  emzelnen  be- 
sonders anspruchsvollen  Philosophen  in  Anspruch  genommen  worden 
ist?  Aber  auch  dafür  ist  Riehl  den  Beweis  schuldig  geblieben.  Und 
andre  haben  den  Beweis  dafür  gleichfalls  nicht  erbracht,  ihn  zu  er- 
bringen nicht  einmal  ernstlich  versucht. 

Philosophie,  behaupte  ich,  war  nach  ihrem  wesentlichen  nnd 
einzigen  Bernfe  den  Alten  Lebensweisheit,  Lehre  und  Übung  der 
Lebensweisheit,  war  es  ihnen  ursprünglich  und  ist  es  ihnen  immer 
geblieben,  niemals  aber  Wissenschaft  schlechthin,  auch  einem 
Aristoteles  nicht. 


2^)  Ibid.  S.  7.     Der  Ausdruck  „mit  Vorliebe"  im  Philosoph.  Kritizismus, 
II.  Bd.  2.  Teil  S.  2. 

2")  Theaetet  172  u.  143. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?         21 

Mt  folgendem  will  ich  diese  These  näher  begründen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  im  Rahmen  eines  Aufsatzes  bloß 
die  Hauptpunkte  und  auch  diese  nicht  erschöpfend  berührt  werden 
können.  Fehlendes  aus  Eigenem  zu  ergänzen,  wird  dem  sachkundigen 
Leser  ohnehin  nicht  schwer  fallen. 


IL 

^ilo60(fia  heißt,  etymologisch  genommen,  Liebe  zur  ooffla, 
Streben  nach  ooffia.  Schon  das  allein  sagt,  richtig  verstanden, 
genug.  Aber  die  wenigsten  zeigen  dafür  das  richtige  Verständnis. 
Unter  oocfla  ist  hier  weder  alles  und  jedes  Wissen  und  Können  noch 
die  Wissenschaft  schlechthin,  sondern  eine  bestimmte  einzelne  aoffia, 
die  Lebensweisheit,  gemeint,  /)  oocpia  Iv  reo  ßlco  ^),  eine  so  oder  so 
beschaffene  Lebensführung  {oöog  tov  ßiov,  TQ6:xog  tov  ßiov)^^), 
recta  vivendi  ratio,  scientia  honeste  vivendi,  ars  rectae  vitae  agendae, 
lex  bene  honesteque  vivendi,  regula  vitae^),  /}  mol  vor  ßiov  rtyvtf^), 
oder,  wenngleich  in  den  Augen  des  skeptischen  Philosophen  keine 
förmhche  ri/yi],  so  doch  immerhin  eine  gewisse  äyor/t],  eine  cäQEöiq 
ßiov  .Ttgl  tV«  //  rrol/Mva  yirof^dvr/.^^) 

Um  an  einem  Beispiel  zu  demonstrieren,  mit  welcher  Seelen- 
taubheit manche  geschlagen  sind,  sei  auf  R.  Haym  verwiesen.  Seinen 
x\rtikel  ,, Philosophie"  in  Ersch  und  Grubers  Enzyklopädie  der  Wissen- 
schaften und  Künste  leitet  Haym  mit  den  AYorten  ein:  „Zu  sagen, 
was  Philosophie  sei,  ist  keine  geringe  Mühe".  Aber  weshalb?  Nur 
deshalb,  weil  Haym  keine  Mühe  scheut,  die  Wortbedeutung  von 
Philosophie  zur  Bedeutungslosigkeit  zu  verflüchtigen,  wie  folgende 
Auslassung  ergibt:  „Verfolgen  wir  nun  im  einzelnen  die  gjüooofpia, 
so  brauchte  sie  nur  ein  statarisches,  unlebendiges  Wesen  zu  sem,  um 
uns  mit  der  einfachen  Antwort  heimzuschicken,  die  sie  ja  auf  der 
Stirn  trägt:  sie  sei  eben  Liebe  zur  Weisheit.    Es  fehlt  nun  aber 


-®)  Hippokrates,  Über  das  Wohlverhalten,  cap.  1. 

29)  Piaton,  Staat,  X,  600. 

30)  L.  A.   Seneca,  Fragmente  (III.  Bd.   S.  422  der  Seneca- Ausgabe  von 
Fr.  Haase). 

31)  Sextus  Empiricus,  Pyrrhon.  Hypotyp.  III.  cap.   24ff.   —  Gegen  die 
Ethiker  §  168ff. 

^■^)  Sextus  Empiricus,  Pyrrhon.  Hypotyp.  I.  cap.  14  §  145. 


22  Hubert  Rock, 

viel,  (laß  sie  solch  ein  Wesen  ist;  vielmehr  ein  recht  lebendiges,  sich 
entwickelndes,  ja  in  dieser  Entwicklung  bald  einmal  langsam,  bald 
wieder  schnell  fortschreitendes,  auch  wohl  anhaltendes  und  scheinbar 
zurückgreifendes  ist  sie.  Es  nimmt  sie  deshalb  auch  wohl  nicht  wunder, 
wenn  wk  sie  etwa  fragten,  was  denn  das  für  eine  „Weisheit"  sei,  zu 
der  sie  die  Liebe  und  weiter  dann,  eine  wie  beschaffene  Liebe  sie  sei, 
und  endlich,  ob  sie  denn  auf  diese  Weise  Liebe  zur  Weisheit  sei,  daß 
sie  nach  der  Weisheit  immer  nur  strebe  oder  daß  sie  der  Weisheit 
bereits  recht  vertrauhch  im  Schoß  sitze.  Und  so  zeigt  es  sich,  daß 
jene  Antwort  wohl  einfacher  scheinen  mochte,  als  sie  wklich  war 
und  daß  es  einem  W^orte  so  wenig  wie  einem  Menschen  sogleich  auf 
der  Stü-n  geschrieben  steht,  was  alles  in  ihm  steckt  und  wessen  man 
sich  zu  üim  zu  versehen  hat." 

Wieland  ist  einer  der  wenigen  Modernen,  deren  Apperzeptions- 
zentrum im  vorhegenden  Falle  richtig  funktioniert,  wenn  er^sagt: 
„Die  Menschen  haben  gelebt  und  vielleicht  Jahrtausende  gelebt,  eh' 
einer  von  ihnen  auf  den  Gedanken  kam,  daß  Leben  eine  Kunst 
sein  könnte;  und  nach  aller  Wahrscheinhchkeit  ist  jede  andi'e  Kunst 
schon  längst  erfunden  gewesen,  als  endlich  die  scharfsinnigen  Griechen 
mit  andern  schönen  Wissenschaften  und  Künsten  auch  diese  berühmte 
Kunst  zu  leben,  Philosophie  genannt,  wo  nicht  gänzhch  erfunden, 
doch  zuerst  in  Kunstform  gebracht  und  auf  einen  hohen  Grad  der 
Verfeinerung  getrieben  hal)en"^^). 

Sachhch  eenommen,  ist  zwischen  Lebensweisheit  und  Liebe  zur 
licbensweisheit  kein  Unterschied  außer  insofern,  als  ootfia  das  Ziel, 
q)LXoöo(pia  die  Bewegung  zum  Ziel  bedeutet,  oder  mit  S  e  n e  c a s  Worten : 
„Weisheit  (sapientia)  ist  die  vollkommen  gute  Beschaffenheit  des 
menschlichen  Geistes.  Philosophie  'st  Liebe  zur  Weisheit  und  Streben 
nach  ihi-.  Diese  weist  dahin,  w^ohin  jene  gelangt  ist.  Woher  die  Philo- 
sophie ihren  Kamen  hat,  i?t  ohne  weiteres  klar;  denn  der  Name  selbst 
gibt  es  kund^^)."  (piXoöocfia  ist  nur  ein  Bescheidenheitsausdruck  an 
Stehe  des  zu  anmaßend  klingenden  Ausdrucks  cotpia.  Ebenso  verhält 
es  sieh  mit  den  ^Ausdrücken  (filoaoffoq  und  ooffog. 

Wenn  es  wahr  ist,  daß  erst  der  ausgesprochene  Begriff  der  voll- 
endete Begriff  und  die  Namengebung  ganz  eigentlich  die  Begriffs- 


33)  SämtUche  Werke  (Leipzig  1857),  29.  Bd.  S.  153. 
3«)  Epistol.  89,  4. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  23 

Schöpfung  sei^'^),  so  vermügen  wir  sogar  den  Zeitpunkt  aufs  Jahr  an- 
zugeben, von  dem  sn  der  BegTiff  der  oocfta  im  Sinne  von  Lebens- 
weisheit bei  den  Griechen  allgemeines  Sprach-  und  Gedankengut 
wurde.  Es  ist  das  Jahr,  in  dem  D?masias  Archon  in  Athen  war^^). 
Damals  erhielt  nämlich  Thaies  nach  dem  glaubwürdigen  Zeugnis  des 
Demetrius  Phalereus  als  erster  den  um  dieselbe  Zeit  sechs  andern  her- 
vorragenden Männern  verhehenen  Ehrennamen  eines  aocpog.  Die 
Annahme,  daß  die  Verleihung  des  Ehrennamens  an  Thaies  auf  dessen 
Voraussagung  einer  im  Jahre  585  v.  Chr.  eingetretenen  Sonnen- 
finsternis zurückzuführen  sei=^^),  entbehrt  nicht  der  Wahrschein- 
hchkeit.  Aber  diese  Voraussagung  wäre  dann  bloß  als  nächster  Anlaß 
zu  betrachten,  nicht  als  eigentlicher  Grund.  Den  eigentlichen  Grund 
haben  wii-  offenbar  in  der  von  Thaies  an  den  Tag  gelegten  Lebens- 
weisheit zu  suchen.  Dafür  spricht  vor  allem,  daß  die  übrigen  oor/o/, 
Blas,  Pittakus,  Solon,  Kleobulus,  Myson  und  Chilon,  die  mit  Thaies 
vorzugsweise  als  die  „Sieben  Weisen"  aufgeführt  zu  werden  pflegen, 
lauter  Vertreter  der  Lebensweisheit  sind;  der  als  Weisheitspreis  aus- 
gesetzte Dreifuß  wii'd  geradezu  als  äd^Xov  aQerfjg  bezeichnetes).  Dafür 
spricht  auch  die  ausdrücküche  Angabe,  daß  Thaies  der  ü-acjQia  (pvöixt'i 
sich  ^£ra  za  Ttolitixä,  also  erst  im  vorgeschritteneren  Alter,  gewidmet 
habe^ö),  während  er  im  Jahre  585  noch  nicht  älter  als  iO  Jahre  ge- 
wesen zu  sein  scheint. 

Gleichwie  ooq)6g  bezeichnete  öocf  lor  t] g  ursprünghch  einen 
Mann,  der  sich  in  irgend  einer  oorfUc  oder  Kunstfertigkeit  auszeichnete. 
Besonders  Musikkundige  und  Dichter  hießen  so.  Noch  von  Kratinos 
wurden  Homer  und  Hesiod  lobenderweise  so  genannt.  Aus  dieser 
Bedeutung  entwickelte  sich  die  engere  eines  auf  wissenschafthchem  und 
die  noch  engere  eines  auf  philosophischem,  die  Lebensweisheit  be- 
treffendem Gebiete  sich  Auszeichnenden.  Diogenes  von  Appollonia 
nannte  seine  Vorgänger,  die  jonischen  Physiologen,  Sophisten.  Wenn 
Herodot  einen  Solon  und  Pythagoras,  wenn  Isokrates  und  Androtion 


35)  AI.   Riehl,  Beiträge  zur  Logik  {Vierteljahrsschrift  f.   wissenschaftl. 
Philos.,  16.  Jahrg.  S.  4). 

36)  Diog.  Laert.  I,  22.     (Nach  Zeller,  Philos.  d.  Griechen,  I',  S.   181, 
das  Jahr  586,  nach  Diels,  Vorsokratiker,  das  Jahr  582  v.  Chr.) 

")  Vgl.  Döring,  Gesch.  d.  griech.  Philosophie,  I,  19f. 

38)  Diog.  Laert.  I,  30. 

39)  Diog.  Laert.  I,  22. 


24  Hubert  Rock, 

die  Sieben  AVeisen  insgesamt  als  Sophisten  bezeichneten,  so  ist  dies 
gleichbedeutend  mit  Weisen  im  engsten  Sinne,  mit  Vertretern  der 
Lebensweisheit,  mit  Philosophen,  zu  nehmen.  Zugleich  unterlagen 
beide  Ausdrücke  insofern  einem  Bedeutungswandel,  als  man  sich  ge- 
wöhnte, zwischen  dem  mit  irgend  einer  oocpia  begabten  öo(jpoc  und 
dem  seine  Art  Weisheit  andre  lehrenden  oocpiOTf'ig  zu  unterscheiden. 
Bei  diesem  Sprachgebrauch  verblieb  es  auch  dann,  als  „Sophist"  die 
Nebenbedeutung  eines  Schein-  und  Afterphilosophen  angenommen 
hatte,  und  es  ist  bei  ihm  bis  zum  Ausgang  des  Altertums  verblieben. 
Ein  guter  Beleg  für  den  zwischen  dem  Weisen  als  solchem  und  dem 
Weisheitslehrer  gemachten  Unterschied  ist  der  Euripideische  Vers: 

(iiöw  6 o  (fi  i  C)T  )'i  V  ,  (xjTic  oiy^  avT(~)  öorpog. 

Bei  der  Angabe  des  Isokrates,  Solon  habe  unter  den  Bürgern 
Athens  zuerst  den  Beinamen  ooffiarfjg  erhalten,  ist  dieser  hier  ehrend 
gemeinte  Beiname  im  Sinne  von  Weisheitslehrer,  von  Lebensweisheits- 
lehrer, zu  verstehen.  Das  geht  aus  dem  Zusammenhang,  in  dem  die 
Angabe  erscheint,  und  geht  aus  andern  beachtenswerten,  wenngleich 
bis  jetzt  kaum  beachteten  Angaben  und  Umständen  hervor.  Danach 
dürfen  wir  Solon  geradezu  als  Vorläufer  des  Protagoras,  ja  als  Vater 
jener  Lebensweisheitsrichtung  betrachten,  die  in  Protagoras  ihren 
bewußtesten  und  typischesten  Vertreter  gefunden  hat. 

Isokrates  sagt:  ,,Es  erregt  meinen  Unwillen,  wenn  ich  sehe,  daß 
es  dem  Sykophantentum  besser  als  der  Philosophie  ergeht,  daß 
jenes  der  Ankläger,  diese  die  Verurteilte  ist.  Wer  von  den  Alten  hätte 
erwartet,  daß  es  dazu  kommen  werde,  besonders  bei  euch,  die  ihr 
auf  Weisheit  stolzer  als  andre  seid?  Unter  unseren  Vorfahren  ver- 
hielt es  sich  durchaus  nicht  so;  sie  bewunderten  vielmehr  die  so- 
genannten Sophisten  und  schätzten  deren  Schüler  glücklich,  die 
Sykophanten  aber  hielten  sie  für  Urheber  der  meisten  Übel.  Der  beste 
Beweis  liegt  darin,  daß  sie  Solon,  der  zuerst  unter  den  Bürgern  diesen 
Beinamen  erhielt,  Vorsteher  des  Staates  zu  sein  würdigten,  hinsichtlich 
der  Sykophanten  aber  gaben  sie  strengere  Gesetze  als  hinsichtlich 
andrer  Leute^^)  " 

Nach  dieser  Stelle  zu  schließen,  wäre  Solon  gar  ein  beruf  s  maß  ig  er 
Vorläufer  des  Protagoras,  wenn  nicht  dessen  erster  berufsmäßiger 
Vorläufer  gewesen.   Davon  kann  freilich  keine  Rede  sein.   Förnüichen 


")  Orationes  ed.  Benseler-Blass,  XV  {JJeot   uvridoGHoc),  312,  313. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  25 

Unterricht  hat  er  nie  erteilt,  auch  privaterweise  nie  erteilt.  Sonst 
wäre  gewiß  irgend  eine  Notiz  darüber  bei  Diogenes  Laertius  oder  ander- 
wärts auf  uns  gekommen.  Aber  er  hat  durch  Wort  und  Tat  wie  ein 
„Sophist"  gewirkt  und  als  unberufsmäßiger  Sophist  auf  Zeitgenossen 
und  Nachgeborene  tieferen  Einfluß  als  Protagoras  unter  den  berufs- 
mäßigen Sophisten  ausgeübt.  Ebenso  kann  keine  Rede  davon  sein, 
daß  sich  die  berufsmäßigen  Sophisten  jemals  allgemeiner  Anerkennung 
zu  erfreuen  gehabt  hätten.  Gerade  in  Athen  ist  von  jeher  das  Gegenteil 
der  Fall  gewesen.  Isokrates  hat  das  am  besten  gewußt.  "Was  ihn  zum 
Lobredner  der  Vergangenheit  werden  läßt,  ist  nichts  als  der  Groll  über 
das  Sophisten  wie  ihm  das  Leben  verbitternde  Athen  seiner  eigenen 
Zeit.  Denn  Isokrates  selbst  hat  sich  in  erster  Linie  nicht  als  Lehrer 
der  Redekunst  gefühlt,  sondern  als  Sophist,  als  Philosoph  und  Lehrer 
der  Philosophie  als  Lebensweisheit.  Wenn  es  dem  Sykophantentum, 
wie  er  klagt,  besser  als  der  Philosophie  ergeht,  so  haben  wir  dabei 
nicht  etwa  an  die  Philosophie  schlechthin  zu  denken,  sondern  an  das, 
was  er  unter  Philosophie  versteht,  an  seine  philosophische  Richtung. 
Und  er  versteht  unter  tp  i  /  o  o  o  cf  l  a  im  wesentlichen  dasselbe,  was  bis 
auf  seine  Zeit  seit  Solon  unter  der  „sogenannten  aoffla''  ver- 
standen worden  ist:  eine  besondere  Richtung  der  Lebensweisheit, 
ethisch-politische  Lebensweisheit  zum  praktischen  Gebrauch. 

Wenn  wir  von  Protagoras  im  Platonischen  Gespräch  gleichen 
Namens  hören,  er  sei  der  erste  gewesen,  der  sich  frank  und  frei  für 
einen  Sophisten  im  Sinne  eines  Lehrers  der  „Bildung  und  Tugend" 
oder  der  „Wohlberatenheit  {tvßov?Ja)  in  privaten  und  öffenthchen 
Angelegenheiten,  im  Sinne  eines  Lebensweisheitslehrers  also, 
erklärt  habe^^),  so  herrscht  allgemeine  Übereinstimmung  darüber, 
daß  dies  als  geschichtHche  Tatsache  zu  betrachten  sei*'^).  Warum 
soll  dann  nicht  auch  das  Übrige  wenigstens  in  der  Hauptsache  so  zu 
betrachten  sein,  die  Protagoras  in  den  Mund  gelegte  Angabe  nämlich, 
die  oocpiOTixrj  xiyvr]  sei  schon  alt,  bisher  jedoch  aus  Furcht  vor  dem 
Gehässigen  der  Sache  unter  irgend  einem  Deckmantel  ausgeübt  worden, 
so  von  Homer,  Hesiod,  Simonides  unter  dem  Deckmantel  der 
Poesie,  von  Orpheus  undMusäos  unter  dem  des  Mysterien-  und 
Orakelwesens,  von  Ikkos  und  Herodikos  unter  dem  der  Turnkunst, 

41)  Platon,  Protag.  317,  349,  318. 

42)  Vgl.  Zeller,  Philos.  d.  Griech.,  1%  1049.  Gomperz,  Griech.  Denker, 
I,  335.     Döring,  Gesch.  d.  griech.  Philos.,  I,  308. 


26  Hubert   Rock, 

von  Agathoklcs  und  Pythokleides  unter  dem  der  Tonkunst'*^)? 
Weil  die  Genannten,  wie  Zeller  meint,  noch  keinen  „förmlichen 
Unterricht''  erteilt  hätten  und  daher  keine  „eigentlichen  Sophisten" 
gewesen  seien?'**)  Als  ob  die  schulmäßige  Form  nach  bestimmten 
Preislagen  und  nicht  Inhalt  und  Geist  der  Belehrung  das  Entscheidende 
wäre!  Als  ob  der  als  Musiklehrer  verkappte  Sophist  Dämon,  der 
einen  Perikles  zum  Schüler  gehabt  hat,  nicht  ein  würdiger  Vorgänger 
des  Protagoras  gewesen  wäre!  Als  ob  die  Zeichnung,  die  Plutarch 
von  ihm  entwirft,  nicht  aufs  Haar  zur  Angabe  des  Platonischen  Prota- 
goras stimmte!  Plutarch  sagt:  „Dieser  Dämon,  ein  Sophist  ersten 
Ranges,  der  er  war  {crxQog  Sr  aoffi6T//g),  scheint  sich  hinter  dem 
Namen  der  Musik  versteckt  zu  haben,  um  seine  Stärke  vor  der  Menge 
geheim  zu  halten,  während  er  gleichsam  das  Amt  eines  Einsalbers 
und  Kampfmeisters  bei  dem  angehenden  pohtischen  Athleten  Perikles 
versah.  Doch  bheb  es  nicht  verborgen,  daß  er  die  Leier  als  Deckmantel 
beimtzte,  sondern  er  wurde  als  einer,  der  sich  mit  großen  Plänen 
tnig  und  für  die  Tyrannis  eingenommen  war,  durch  das  Scherben- 
gericht verbannt  und  von  den  Komikern  zur  Zielscheibe  ihres  Witzes 
genommen*^)." 

Ein  Seitenstück  dazu,  dessen  Kenntnis  wir  gleichfalls  Plutarch 
verdanken,  stellt  Mnesiphilos,  der  Lehrer  und  Berater  des  The- 
mistokles,  dar,  der  somit  als  ein  älterer  Zeitgenosse  Dämons  anzusehen 
ist.  Über  ihn  heißt  es  bei  Plutarch,  er  sei  weder  ein  „Rhetor"  noch 
einer  von  den  „Physiker"  genannten  „Philosophen"  gewesen, 
sondern  habe  sich  berufsmäßig  mit  der  in  politischer  Geschick- 
lichkeit und  praktischer  Einsicht  bestehenden  „sogenannten 
Weisheit"  beschäftigt  und  gewissermaßen  die  von  Solon  aus- 
gehende „Richtung"  aufrecht  erhalten,  während  diejenigen,  die 
diese  Weisheit  später  mit  Prozeßkünsten  verbunden  und  in  ihrem 
Unterricht  das  Schwergewicht  von  den  praktischen  Angelegenheiten 
auf  die  Reden  verlegt  hätten,  „Sophisten"  genannt  worden  wären*^). 


")  Piaton,  Protag.  316. 

")  Zeller,  Philos.  d.  Griechen,  I»,  S.  1050,  2  u.  S.  1079. 

*^)  Plut.,  Perikles,  cap.  4. 

")  Plut.,  Themistokles,  cap.  2:  Mu/lov  ovv  uv  Ti,g  TtgoGi/ot,  toTc 
MvijGtcpClov  TU'  OBuiGTOxlia  toö  (PqsuooCov  ^tjXoJT^r  yfViG&ui  Xiyovatv, 
oviB  orJTOoog  orrog  ovts  töiv  (pvCixiZv  xXi]d^iVT(jt}v  (piXoGÖcptov,  ukXü 
T/;v     xaXovfJ srr^r     aofpiav,     ovGuv    Öe     dstvörrjTU     tvoAvtixiIv    xut 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  27 

Wessen  Schüler  Mnesiphilos  selbst  war,  ist  uns  nicht  überliefert. 
Aber  überliefert  ist  uns,  daß  Dämon  des  Lamprokles,  Lamprokles 
des  Agathokles,  Agathokles  des  Musikers  und  Pythagoreers  Pytho- 
kleides  Schüler  war^"),  von  denen  Agathokles  und  Pythokleides 
unter  den  vom  Platonischen  Protagoras  als  Vorgänger  Genannten 
sich  befinden.  Da  hätten  wir  denn  eine  ganze  Abfolge  von  verkappten 
„Sophisten",  eine  Öiadoyt]  von  Vertretern  der  „sogenannten  Goff^kC 
solonisch-protagoreisch-isokratischer  Richtung,  eine  Abfolge,  deren 
ältestes  GHed,  Pythokleides,  dem  Zeitalter  des  Solon  nicht  mehr- 
fernsteht  und  deren  jüngstes  Ghed,  Dämon,  ein  Zeitgenosse  des 
Protagoras  ist,  des  ersten  erklärten  Vertreters  der  „sogenannten 

Was  unter  den  übrigen  vom  Platonischen  Protagoras  als  Vor- 
gänger Genannten  zunächst  Homer  betrifft,  so  wäre  es  allerdings 
lächerlich,  den  historischen  Homer  zu  einem  als  Dichter  verkappten 
Sophisten  zu  machen,  aber  auch  ein  ]\Iiß Verständnis,  es  so  aufzufassen. 
Tatsache  ist,  daß  die  Homerischen  Gedichte  von  den  Alten  schon  früh 
als  Lehrbücher  der  Lebensweisheit  ebenso  hoch  wie  als  Dichtungen 
geschätzt  worden  sind.  Dieser  Homer,  der  Homer  der  Schule  fürs 
Leben,  und  nicht  der  historische,  kommt  hier  allein  in  Frage.  Strabon 
leiht  nicht  bloß  der  eigenen,  sondern  der  im  Altertum  vorherrschenden 
Überzeugung  Ausdruck,  wenn  er  gerade  mit  Rücksicht  auf  Homer 
sagt,  die  Alten  nannten  die  Poesie  „eine  Art  erster  Philosophie" 
{ffi}.ooog:iar  rira  jrQcoTr/v),  die  uns  von  Jugend  auf  ins  Leben  einführe 
und  auf  dem  Wege  der  Unterhaltung  Sitten,  Leidenschaften  und 
Handlungen  lehre  (L  2,  3).  Noch  Horaz  geht  in  seiner  Wertschätzung 
Homers  als  Philosophen  so  weit,  daß  er  ihm  das  Zeugnis  ausstellt, 
über  Schönes  und  Häßhches,  ülDer  Nützhches  und  Nutzloses  „klarer 
und  besser"  als  ein  Chi-ysipp  und  Krantor  zu  reden  (Epist.  I.  2). 
Indü-ekt  ergibt  sich  diese  Wertschätzung  Homers  aus  den  besonders 
von  Xenophanes,  Heraklit,  Piaton  gegen  ihn  gerichteten  Angriffen. 

Ähnlich  wie  mit  Homer  steht  es  mit  Hesiod.  Simonides  whd 
nachgerühmt,    daß   der   anziehende   Dichter   zugleich   „Denker   und 


öoaaTi]Qtov  GvvsGtv,  lTii.Tr]Ssvii.a  TrsTtoir^uirov  xal  SiuGoj^ot'Tog 
Sgttsq  u'Cqegiv  ex  6iadoyJ]Q  utiö  ^oltovog'  >]r  d  i^erd  tuvtu  dixaiuxulg 
fji'^urrsg  liyvaig  xut  lusTayuyörTec  dni  tiüv  TTod'ieujv  T)]v  äaxijau'  im  Tovg 
Xöyovg,  00(ßiGTUi  nooüriyoosvd'r^auv. 

'")  Scholia  in  AIcibiad.  prim.  Piatonis. 


28  Hubert  Rock, 

Weiser"  (doctus  sapiensque)  gewesen  sei*^).  Orpheus  und  Musäos 
sind  von  griechischen  Philosophiehistorikern  zu  den  ältesten  Philo- 
sophen gezählt  worden*^).  Bei  Ikkos  und  Herodikos  steht  wenigstens 
der  Annahme  nichts  im  Wege,  daß  sie  als  „Sophisten"  Genossen  eines 
Dämon  und  Mnesiphilos  gewesen  sein  werden. 

Umsomchr  fällt  es  auf,  daß  der  Platonische  Protagoras  über  die 
Sieben  Weisen  mit  Schweigen  hinweggeht.  Nicht  einmal  Solon  wird 
von  ihm  erwähnt.  Der  Grund  dafür  liegt  darin,  daß  Piaton  die  Sieben 
als  seine  eigenen  Vorgänger  in  Anspruch  nimmt  und  daher  nicht  als 
Sophisten  von  dem  ihm  unsympathischen  protagoreischen  Schlage, 
sondern  als  Sophisten,  wie  sie  sein  sollten,  und  somit  als  Vertreter 
echter  Philosophie  betrachtet  wissen  will.  Dies  geschieht  in  einer  die 
Rede  des  Protagoras  äußerlich  parodierenden  Rede  des  Soki-ates, 
worin  die  ,,Sophisten"  der  Kreter  und  Lakedämonier  ihrer  Spruch- 
weisheit wegen  ausdi-ücklich  als  die  ältesten  Vertreter  der  ,,Philo- 
Sophie"  gerühmt  werden.  Ebendeshalb  hätten  von  den  Jetztlebenden 
und  von  den  Alten  manche  eingesehen,  daß  das  Lakonisieren  weit 
mehr  im  „Pilosophieren"  als  in  der  Liebe  zur  Gymnastik  be- 
stehe {(piXoöofpizTr  fj  (fL'AoyviwaötElv),  wohlwissend,  daß  die  Fähig- 
keit, solche  Aussprüche  zu  tun,  nur  einem  durch  und  durch  gebildeten 
Manne  eigen  sei,  Männern  wie  Thaies,  Pittakos,  Bias,  Solon,  Kleobulos, 
Myson,  Chilon,  die  alle  Nacheiferer,  Liebhaber  und  Schüler  der  lake- 
dämonischen Bildung  gewesen  seien,  wie  denn  überhaupt  eine  gewisse 
lakonische  Kürze    die  „Philosophie"  der  Alten    charakterisiere^"). 

Nach  Gomperz  läge  darin  freihch  nichts  weiter  als  eine  „lustige 
Fiktion"^^).  Spricht  aber  dagegen  nicht  schon  der  Umstand,  daß  ein 
Historiker,  Philosoph  und  Piatonkenner  wie  Plutarch  die  von 
„einigen"  gemachte  Bemerkung,  das  Lakonisieren  bestehe  mehr  im 
„Philosophieren"  als  in  der  Liebe  zur  Gymnastik,  durchaus  ernst 
nimmt  und  ihre  Richtigkeit  bestätigt? ^2)  Vollends  dagegen  spricht 
die  ganze  von  Plutarch  entworfene  Zeichnung  Lykurgs,  da  sie  nicht 
nur  mit  dem  Kern  der  Platonischen  Auffassung  übereinstimmt,  son- 
dern auch  ihn  geschichthch  zu  begiiinden  versucht.  Man  wende  nicht 


*^)  Cic.  De  natur.  deor.  I,  22. 
*9)  Diog.  L.,  Prooem.  3  &  5. 
50)  Plat.,  Protag.  342,  343. 
5^)  Griech.  Denker,  II,  257. 
5-)  Plutarch,  Lykurg,  cap.  20. 


^Ya^  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  29 

ein.  daß  Plutarchs  Biographie  Lykurgs  gerade  den  geschichtlichen 
Gehalt  vermissen  lasse.  So  viel  ist  gewiß,  daß  diese  Biographie  keine 
Ausgebui-t  der  Phantasie  Plutarchs  ist,  sondern  als  mit  kritischem 
Auge  geschaffene  Kopie  älterer  Geschichtsbilder  gelten  will  und  gelten 
darf^^).  "Wenn  sein  Lykurg  als  ausgeführtes  Musterbild  der  von  Piaton 
flüchtig  skizzierten  lakedämonischen  Sophisten  erscheint,  so  erhellt 
daraus,  daß  sich  der  Biograph  hinsichthch  dieses  Punktes  derselben 
historischen  Tradition  wie  Jahrhunderte  vor  ihm  Piaton  angeschlossen 
hat.  Derselben  historischen  Tradition  entspricht  es,  wenn  Plutarch 
kein  Bedenken  träo-t,  Lykurg  mit  Piaton,  Diogenes,  Zeno  auf  eine 
Linie  zu  stellen,  und  nur  insofern  einen  Unterschied  zwischen  ihnen 
findet,  als  diese  bloß  Schriften  und  Denksprüche  hinterlassen  hätten, 
jener  aber  durch  die  Tat  einen  unnachahmlichen  Staat  zu  Tage  ge- 
fördert und  den  Leugnern  des  wirklichenVorhandenseins  eines  „Weisen" 
den  ganzen  Staat  als  „philosophierend"  {(füoaoffovaar)  demonstriert 
habe^^j. 

Auch  über  einen  jener  alten  kretischen  „Sophisten",  die  Piaton  im 
Auge  hat,  erhalten  wü'  von  Plutai'ch  nähere  Kunde.  Sein  Name  war 
Thaies.  Als  Zeitgenosse  Lykurgs^^)  ist  er  viel  älter  als  Thaies  von 
Milet.  Nach  Plutarchs  Darstellung  hatte  sich  Lykiurg,  bevor  er  seine 
Staats-  und  Lebensreform  zu  Hause  ins  "Werk  setzte,  in  Kreta  auf- 
gehalten, wo  er  die  politischen  Eim'ichtungen  eifrig  studierte  und  mit 
den  angesehensten  Männern  verkehrte,  darunter  mit  Thaies,  einem 
der  dortigen  ,, Weisen  und  Staatsmänner"  [ooffcöv  xcu  xohTixcöv), 
der  zugleich  Dichter  war.  Ihn  bewog  Lykurg  zu  einer  moralischen 
Kunst-  und  Missionsreise  nach  Sparta,  die  vom  gewünschten  Erfolg 
geki'önt  wurde.  ..Denn  seine  Gesänge  waren  Reden,  die  durch  den 
ruhigen  und  besänftigenden  Charakter  ihrer  Melodien  und  Rhythmen 
zu  Gehorsam  und  Eintracht  ermunterten.  Auf  diese  Weise  w^irde  die 
Sinnesart  der  Zuhörenden  unvermerkt  gemildert  und  dem  Streben 
nach  dem  Guten  geneigt  gemacht,  während  bis  dahin  gegenseitige 
Feindseligkeit  geherrscht  hatte,  so  daß  jener  dem  Lykurg  gewisser- 
maßen die  Bahn  zur  Erziehung  der  Lakedämonier  gebrochen  hat^^)." 

Was  Diodor  an  Chilon  besonders  lobenswert  findet,  indem  er 
ihn  mit  den  Philosophen  seines  eigenen  Zeitalters,  das  des  Cäsar  und 


53)  cap.   1.  55)  Diog    L^  i    38_ 

°*)  cap.  31.  56)  Plutarch,  Lykurg,  cap.  4. 


30  Hubert   Rock, 

Augustus,  vergleicht,  ist  Solon  nicht  weniger  eigen,  über  den  wir  ja 
unter  den  Sieben  Weisen  geschichtlich  am  besten  informiert  sind. 
Diodor  sagt:  „Bei  Chilon  stimmt,  was  sonst  selten  angetroffen  wird, 
Leben  und  Lehre  iiberein.  Während  man  bei  der  Mehrzahl  der  heutigen 
Philosophen  zwar  die  schönste  Sprache,  aber  die  schlechteste  Hand- 
lungsweise findet,  kurz  einen  Widerspruch  zwischen  dem  Ernst  und 
der  Einsicht  ihrer  Forderungen  und  deren  Betätigung,  hat  Chilon 
dagegen  viel  Denkwürdiges  gedacht  und  verkündet  und  damit  die 
Übung  der  Tugend  bei  allen  Handlungen  zeitlebens  verknüpft^')." 

Aber  hat  denn,  fragt  man  vielleicht,  nicht  schon  Dikäarch 
geurteilt,  daß  die  Sieben  weder  „Weise"  noch  „Philosophen",  wenn- 
gleich ganz  verständige  und  zur  Gesetzgebung  tüchtige  Männer, 
gewesen  seien?  ^^)  Folgt  denn  aber,  frage  ich,  nicht  gerade  daraus, 
daß  die  Sieben  von  den  Alten  gemeinhin  als  Weise  oder  Philosophen 
rubriziert  worden  sind?  Ist  das  nicht  der  Grund,  aus  dem  Diogenes 
Laertius  als  gewissenhafter  Geschichtskompilator  das  die  öffenthche 
Meinung  kassierende  Urteil  Dikäarchs  registriert  hat?  Daß  Philosophen 
einander  das  Recht  auf  Führung  des  Philosophentitels  absprechen, 
ist  ja  nichts  Ungewöhnhches.  Wie  oft  hört  man,  das  Mittelalter  stelle 
in  bezug  auf  eigentliche  Philosophie  eine  einzige  große  Lücke  dar. 
Vom  Standpunkte  einer  bestimmten  Philosophie  oder  philosophischen 
Richtung  mag  eine  solche  Auffassung  völlig  berechtigt  sein.  Der 
Philosophiehistoriker  kann  und  darf  sich  nicht  danach  richten.  Sonst 
käme  er  entweder  gar  nicht  dazu,  die  Feder  anzusetzen,  oder  vermöchte 
uns  höchstens  die  Geschichte  einer  bestimmten  philosophischen 
Richtung  zu  bieten,  während  doch  sein  eigentliches  Thema  der  Kampf 
bilden  sollte,  den  die  gegnerischen  philosophischen  Richtungen  um 
die  Vorherrschaft  im  Leben  führen,  ihre  Siege  und  Niederlagen,  ihre 
Fortschritte  und  Rückschritte  samt  allen  daraus  für  Gesellschaft  und 
Lidividuum  erwachsenden  nützlichen  und  schädlichen  Folgen,  der 
wahre  Kulturkampf.  Nicht  anders  verhält  es  sich  mit  Dikäarchs 
Urteil  über  die  Sieben,  möge  es  sich  von  dessen  philosophischem  Stand- 
punkte als  berechtigt  erweisen  oder  nicht.  Für  den  Philosophiehistoriker 
ist  es  unmaßgeblich  und  nmß  es  unmaßgeblich  sein. 

Das  Geschichtsbild,  das  wü-  uns  von  Solon  zu  machen  haben, 
ist  wahrlich  nicht  das  eines  Mannes,  dem  nichts  weiter  als  gesunder 

^')  IX,  8. 

68)  Diog.  L.,  I,  40. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  31 

Hausverstand  in  privaten  und  öffentlichen  Angelegenheiten  nach- 
zuriihmen  wäre.  Das  ist  das  Bild  eines  großen  Geistes  und  edlen 
Charakters  und  eines  ebenso  einsichtigen  wie  charaktervollen  Staats- 
mannes, zu  dem  sich  nicht  viele  würdige  Parallelen  auftreiben  lassen. 
Wenn  Philosophie  Lebensweisheit  ist,  theoretische  und  praktische 
Lebensweisheit  —  und  das  ist  sie  auch  nach  Dikäarch^^)  — •  dann 
ist  Solon  ein  Weiser  oder  Philosoph  gewesen,  oder  es  verdient  überhaupt 
niemand  so  genannt  zu  werden,  Dikäarch  nicht  ausgenommen. 

Plutarch  steht  in  seiner  Biographie  Solons  nicht  an,  diesen 
als  Weisen  oder  Philosophen  zu  behandeln.  Er  spricht  von  dessen 
öOffia  und  ffuoöoffiu  (cap.  3  u.  27),  nennt  ihn  einen  ooffiag  Igaor/jQ 
(eap.  2)  und  oocfög  (cap.  3.  u.  28),  der  in  Ägypten  mit  Psenophis  von 
HehopoHs  und  Sonchis  von  Sais,  den  gelehrtesten  {loyLcoräroic)  unter 
den  Priestern  „philosophiert"  habe  (ovi'effÜM(j6q//Gf)  (cap.  26),  der 
gleich  den  meisten  oorfol  hauptsächlich  den  „poütischen''  Teil  der 
..ethischen  Philosophie"  gepflegt,  in  der  ..Physik"  aber  beschränkten 
und  altvaterischen  Ansichten  gehuldigt  habe  (cap.  3). 

Solon  selbst  steht  nicht  an,  von  seiner  oo(phj  zu  sprechen.  Denn 
niemand  als  sich  hat  er  zunächst  im  Auge  bei  den  Versen: 

Jener,  vor  allem  geül)t  in  den  Gaben  der  himnüischen  Musen, 
Hat  das  regelnde  Maß  lieblicher  Weisheit  gelernt^''). 
Bei  Herodot  leitet  Krösus  seine  Unterredung  mit  dem  ..Sophisten" 
Solon  folgendermaßen  ein:  „Mein  Freund  von  Athen,  schon  vielfach 
ist  das  Gerücht  zu  uns  geckungen  sowohl  von  deiner  Weisheit  {ao(fir/) 
als  von  deinem  Wandern,  daß  Du  als  Philosophierender  des 
Studiums  wegen  (ffi2.oOfpkov  d-eo)Qif]c  si'vsxsr)  einen  großen  Teil 
der  Erde  bereist  hast^^)."  „Des  Studiums  wegen"  {d-ccoQUjq  eivsxsp 
oder,  wie  es  bei  Plutarch  heißt,  jto).vjieiQiag  tvey.a  zcd  lOrogiag  ^') 
vielgereiste  Männer  waren  auch  die  sogenannten  LogogTaphen.  Mit 
dem  Zusätze  (fü.oo(pkor  zu  B^ecoQUjQ  tiv8y.iv  soll  eben  ausgediiickt 
werden,  daß  Solon  aus  Liebe  zur  öofp'n],  zur  Lebensweisheit,  seine 
Studienreisen  unternommen  hat. 

Isokrates  ist  dadurch  merkwürdig,  daß  er  die  solonische  Richtung 
der  „sogenannten  Weisheit"  als  erklärter  berufsmäßiger  Sophist  noch 


^9)  Vgl.  Zeller,  Philos.  d.  Griechen,  II,  2^  S.  892. 

«0)  „Lehren  für  sich  selbst",  V.  51,  52. 

61)  I,  29  &  30. 

62)  Solon,  cap.  2. 


go  Hubert   Rock, 

im  4.  Jahrhundort,  also  im  Zeitalter  eines  Piaton  und  Aristoteles, 
vertritt,  sie  als  deren  philosophischer  Nebenbuhler  vertritt  und  dafür 
das  Wort  Philosophie  als  Kunstausdruck  gebraucht,  auf  eine  Art  und 
Weise  gebraucht,  die  zwar  nicht  zur  Annahme  berechtigt,  sie  aber 
nahelegt,  daß  das  Wort  zuerst  im  Kreise  von  Vertretern  der  „so- 
genannten  Weisheit"  solonischer  Richtung  und  zur  Bezeichnung  dafür 
als  Kunstausdruck  aufgekommen  ist,   und  die  jedenfalls  schlagend 
beweist,   wie  weit   entfernt  dieser   Kunstausdruck  bei  seinem   Auf- 
kommen davon  gewesen  ist,  genau  dasselbe  wie  im  De^itschen  das 
Wort  Wissenschaft  zu  bedeuten.     Isokrates  beklagt  es  vielmehr  als 
ein  Symptom  der  zu  seiner  Zeit  im  Staate  eingerissenen  Verwirrung, 
daß  sogar  die  Worte  ihrer  natürlichen  Bedeutung  entkleidet  und  von 
den  edelsten  auf  die  elendsten  Beschäftigungen  übertragen  würden. 
Von  denen,  die  das  Notwendigste  versäumten  und  in  die  Phantastereien 
{rsQaToXoymc)  „der  alten  Sophisten"  vernarrt  seien,  sage  man,  daß 
sie  philosophierten  {rf(?.oüo(fur),  von  solchen  dagegen  nicht,  die 
Dinge  lernten  und  betrieben,  die  sich  auf  die  gute  Verwaltung  des 
eigenen  Hauswesens  und  der  öffentlichen  Angelegenheiten  bezögen, 
um  deren  willen  man  doch  sich  anstrengen,  philosophieren  {(fUooo- 
(f7jxeov)  und  alles  tun  müsse^^)     Deshalb    wolle   er  sich   der    von 
einigen  sogenannten    Philosophie  gegenüber  (r/}r  xaXoi\uivrjv 
vjto  xLvcov  (pLXoöOfpiav) mhQXrQÜ  der  wohl  mit  Recht  den  Namen 
tragenden  (t;/?'    dr/Mirnq  av   j'oin^ofjtrrjr)    bestimmter  erklären. 
Da  es  seines  Erachtens  nicht  in  der  Natur  der  Menschen  hege,  eine 
Wissenschaft  {ejnCT/jfctjv)  zu  erwerben,  durch  deren  Besitz  wir  in 
die  Lage  kämen  zu  wissen,  was  wir  in  jedem  vorkommenden  Falle 
zu  tun  und  zu  sagen  hätten,  so  halte  er  die  für  Weise  {oorpovg),  die 
in  ihren  Urteilen  meistens  das  Beste  zu  treffen    vermöchten,    für 
Philosophen  {cfi2oa6(povc)  aber,  die  sich  mit  dem  beschäftigten, 
wodurch  sie  am  schnellsten  eine  solche  Einsicht  erlangen  könnten. 
Eine  Kunst  {rtyrtj),  die  imstande  wäre,  Tugend  und  Gerechtigkeit 
denjenigen  einzupflanzen,  die  von  Natur  eine  geringe  Anlage  hierzu 
besäßen,  hätte  es  weder  früher  noch  jetzt  gegeben.    Dagegen  würden 
sie  tüchtiger  und  besser  werden,  wenn  sie  vor  allem  ihre  Ehre  darin 
suchten,  gut  zu  reden  und  ihre  Zuhörer  zu  überzeugen.    Wer  ernstlich 
darauf  ausgehe,  werde  auch  die  Tugend  nicht  vernachlässigen,  sondern 


«3)  Orat.  XV,  283,  285. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  33 

darauf  halten,  bei  seinen  Mitbürgern  im  besten  Rufe  zu  stehen,  da 
die  Rede  des  Ehrenmannes  schon  an  sich  eine  große  Überzeugungskraft 
besitze*'^).  Die  von  den  Vorfahren  überlieferte  Bildung  {mudsia)  ver- 
achte er  so  wenig,  daß  er  sogar  die  in  seinen  Tagen  eingeführte,  nämlich 
die  Beschäftigung  mit  Geometrie,  Astronomie  und  Disputierübungen, 
als  für  die  Jugend  nicht  unnützlich  gelten  lasse^^).  Philosophie 
(ffiÄoöoffia)  dürfe  man  weder  für  das  Reden  noch  für  das  Handeln 
einen  unmittelbaren  Nutzen  gewährende  Studien  freilich  nicht  nennen, 
wohl  aber  eine  Geistesübung  und  Vorschule  der  Philosophie 
{yvfij'aöiav  rfjg  ipvyj/Q  ocal  jtaQaoxeviji^  cpilooorflag).  Einige  Zeit  möge 
ihnen  die  Jugend  immerhin  widmen.  Doch  dürfe  sie  ihren  Geist  dabei 
nicht  vertrocknen,  noch  zu  den  Lehren  „der  alten  Sophisten"  sich 
verirren  lassen,  von  denen  einige  behaupteten,  die  Zahl  der  Elemente 
sei  unendlich,  Empedokles,  es  gebe  deren  vier,  Jon  drei,  Alkmäon 
zwei,  Parmenides  und  Mehssus  eins,  Gorgias  keins^^).  Um  wahrhaft 
gebildet  zu  heißen,  müsse  man  die  täglich  vorkommenden  Geschäfte 
out  zu  behandeln  verstehen,  müsse  man  ein  Urteil  besitzen,  das  meistens 
das  Rechte  und  Nützliche  treffe,  müsse  man  im  Umgang  mit  den  Men- 
schen den  unter  allen  Umständen  gebotenen  humanen  Ton  zu  wahren 
suchen,  müsse  man  immer  Herr  seiner  Lüste  sein  und  das  Unglück 
mit  männlicher  Würde  tragen,  müsse  man  endlich,  was  das  Größte 
sei,  auch  im  Glück  seiner  besseren  Natur  stets  treu  bleiben*^' ). 

Solche  Denkungsart  und  Sprache  wäre  ganz  unerklärlich  hei 
einem  Manne,  dessen  Zeitalter  den  Kunstausdruck  Philosophie  geprägt 
haben  sollte,  um  damit  die  Wissenschaft  schlechthin  zu  bezeichnen, 
erklärt  sich  aber  von  selbst,  wenn  er  in  formaler  Übereinstimmung 
mit  seinem  Zeitalter  Lehre  und  Übung  praktischer  Lebensweisheit 
darunter  verstanden  hat.  So  erklärt  sich  auch,  wie  Piaton  am  Schlüsse 
des  „Phädrus"  dazu  kommt,  seinem  „Genossen"  und  „Liebling" 
Isokrates  das  Kompliment  zu  machen,  es  wäre  kein  Wunder,  wenn 
dieser  mit  der  Zeit  von  den  „Reden"  infolge  einer  Art  göttlichen 
Dranges  zu  „Höherem"  hingelenkt  würde;  denn  es  sei  „von  Natur 
eine  gewisse  Philosophie  in  der  Denkungsart  des  Mannes"  {(pvösi  /«(> 
tvsöTL  Tig  (piXoöocpia   rfi  tov  drÖQog  ducvoia).  Es  liegt  darin  nicht 


.  «4)  Orat.  XV,  270—280. 

65)  XII.  (Panathen.)  26,  27;  XV.  261—265. 

66)  XV.  266—268. 
6^)  XII.  30—32. 

Archiv  für  Gesoliiclite  der  Philosophie.    XXVIII.  1. 


34  Hubert   Rock, 

allein  Achtung  davor,  was  Isokrates  Philosophie  nennt,  Sondern  zu- 
gleich die  Anerkennung,  daß  es  sich  dabei  in  der  Tat  um  Philosophie 
handelt,  wenngleich  um  eine  Form  derselben,  die  Piaton  unzureichend 
erscheint. 

Schade,    daß    sich  hinsichtlich    der  Frage,   wer   ffüoao(fia  an 
Stelle  von  oorfia  in  Kurs  gebracht  habe,  bloß  das  eine  mit  Sicherheit 
ausmachen  läßt,  daß  es  der  im  späteren  Altertum  dafür  ausgegebene 
Pythagoras  nicht  gewesen  ist.      Wenn  sich  aber  auch  das  über 
Pythagoras  mit  Bezug  darauf  Überlieferte  nicht  bewahrheitet,  ist  es 
doch  "ut  erfunden.     Von  ihm  darf  man  im  Sinne  der  Alten  sagen: 
Jeder  Zoll  ein  Philosoph.   So  Idassisch  hat  sich  das  Wesen  aller  Philo- 
sophie nicht  einmal  in  Sokrates  verkörpert.     Was  Philosophie  als 
Lebensweisheit  heißt,  findet  sich  bei  Pythagoras  zwar  nicht  in  die 
Form  einer  schulgerechten  Definition  gebracht,  dafür  aber  um  so  an- 
schaulicher in  die  Wirklichkeit  übersetzt,  in  eine  Wirklichkeit,  die 
mit  der  der  antiken  Philosophie  auf  weite  Strecken  und  der  Dauer 
nach  ganz  mit  ihr  zusammenfällt.    Ohne  Pythagoras  kein  Piaton  und 
ohne  sie  kein  Neupythagoreismus  und  kein  Neuplatonismus.     Die 
Alten  haben  dies  zu  würdigen  verstanden  und  haben  deshalb  Pythagoras 
und  nicht  Sokrates  oder  einen  andern  Vertreter  der  Lebensweisheit 
zum  Urheber  der  Ausdrücke  Philosophie  und  Philosoph  gemacht. 
Unseren  sogenannten  Fachphilosophen  genügt  freilich  eine  solche 
bis  heute  sich  fortsetzende  Wirksamkeit  nicht,  um  Pythagoras  als 
„Philosophen"    anzuerkennen,    was    von    Windelband    damit    be- 
gründet wird,  daß  Pythagoras  im  Lichte  der  historischen  Kritik  ,,nur 
als  eine  Art  von  Religionsstifter"  erscheine,  „ein  Mann  von  groß- 
artiger ethisch-politischer  Wirkung,  die  unter  den  Anregungen  und 
Vorbedingungen  des  wissenschaftlichen  Lebens  in  Hellas  einen  be- 
deutenden Platz  einnimmt",  daß  aber  weder  Piaton  noch  Aristoteles 
etwas  von  einer  „Philosophie  des  Pythagoras"  wüßten,  sondern  nur 
von  einer  „Philosophie  der  sogenannten  Pythagoreer",  der  sogenannten 
Zahlenlehre^^).  So  oder  ähnlich  äußern  sich  die  meisten.  Eine  löbliche 
Ausnahme  bildet  Schopenhauer,  nach  dessen  Auffassung  Pythagoras 
,, Philosoph  im  ganzen  und  großen  Sinne  dieses  Wortes"  gewesen  ist^^). 


*^)  Geschichte  der  alten  Philosophie,  2.  Aufl.,  S.  21. 
*^)  Schopenhauers  handschriftlicher  Nachlaß,   herausg.  v.  Grisebach, 
II,  35. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  35 

Pythagoras  nur  eine  Art  von  Religionsstifter?  Als  ob  nicht  jede 
entwickeltere  Philosophie  eine  Art  Pieligion,  als  ob  nicht  jede  ent- 
wickeltere Religion  eine  Art  Philosophie  wäre,  das  heißt  Lehre  und 
Übung  einer  bestimmten,  mehr  oder  weniger  in  ein  theoretisches  und 
praktisches  System  gebrachten  Art  von  Lebensweisheit! 

„Das  Christentum  —  sagt  einer  seiner  modernen  Apologeten  — 
ist  die  Ordnung  des  menschlichen  Lebens  nach  den  Lehren  Jesu 
Christi'O)."  Ebenso  sind  die  Philosophien  eines  Pythagoras, 
Piaton,  Epikur  nichts  anderes  als  Lebensordnungssysteme  nach 
den  Lehren  der  Genannten.  Zahlenlehre,  Ideenlehre,  Atomistik  sind 
Wissenszweige,  die  nicht  ihrer  selbst  wegen,  sondern  als  Mittel  neben 
andern  Mitteln  zu  Lebensordnungszwecken  gepflegt  werden.  Wenn 
Piaton  nicht  von  einer  „Philosophie  des  Pythagoras"  spricht,  so 
spricht  er  dafür,  was  um  so  deutlicher  ist,  von  einem  IIv&ayoQaiog 
TQOJrog  Tov  ßiov'^).  Denselben  vQOJtog  rov  ßiov  hat  Alkidamas 
im  Auge,  wenn  er  sagt:  Sijßfjöir  clita  oi  jiQootäTca  cfiÄGOoffoi 
lytvovTO  yML  svöati^tovr/otr  i)  jigIlq'^). 

Eine  Art  von  Religionsstifter  also  wäre  Pythagoras.  Sonst  wäre 
er  eben  kein  Philosoph  im  ganzen  und  großen  Sinne  des  Wortes  ge- 
wesen. Aber  „nur"  eine  Art  von  Rehgionsstifter?  Als  ob  er  nicht 
zugleich  „ein  hervorragendes  mathematisches  Talent,  der  Begründer 
der  Akustik  und  ein  bahnbrechender  Förderer  der  Astronomie"  ge- 
wesen wäre'^)!  Diese  Vielseitigkeit  ist  es  ja,  die  Heraklit  als  .To/r- 
imUri  lästert,  als  Viel  wisser  ei,  durch  die  Pythagoras  nicht  ge- 
lernt hätte,   ,, Verstand  zu  haben"'"). 

Noch  schärfer  und  lehrreicher  ist  ein  andres  Verdikt  Heraklits 
über  Pythagoras,  lehrreich  auch  als  ältester  Beleg  dafür,  daß  die 
Griechen  vom  Anbeginn  ihrer  wissenschaftlichen  und  philosophischen 
oder  Lebensweisheitsbestrebungen  zwischen  beiden  unterschieden 
haben.  Es  ist  Fragment  129  bei  Diels.  Da  jedoch  Zweifel  an  seiner 
Echtheit  aufgetaucht  sind,  zusammen  mit  mancherlei  Mißverständ- 


'")  Christ.    H.    Vosen,    Das    Christentum    und    die    Einsprüche  seiner 
Gegner,  5.  Aufl.  {Freiburg  i.  Br.  1905),  S.  1. 
^1)  Staat,  X,  600. 
'-)  Aristot.,  Rhet.  II,  cap.  23. 
'3)  Gomperz,   Griech.   Denker,   I,  81.      Vgl.   auch  Zeller,    Philos.   d. 

Griechen,  1%  476 — 479. 

"*)  Fragm.  40  bei  Diels. 


30  Hubert   Rock, 

nisson,  haben  wir  es  desto  genauer  in  Augenschein  zu  nehmen.    Das 
Fragment  lautet: 

JIv{hcr/(')(>//Q  Mv/jOäQ'/or  i  ötoq  hjr  fjaxi/Oer  dvSf^K'jJtcov  jiaXiOTCt 
jrcüTcov  y-cd  IxXe^dfitvoQ  tuvtuq  xäg  Ovyyfjaffdg  tJTOi7J0aTO  tarror 
oofphjv,  jtoXvfi afhsbjv,  xaxortyi'bjr. 

Ich  übersetze  :  Pythagoras,  des  Mnesarchos  Sohn,  hat  von  allen 
Menschen  am  meisten  AVissenschaft  getrieben  und  diese  Schriften 
auswählend,  hat  er  sich  seine  eigene  Weisheit,  Vielwisserei,  After- 
kunst zurecht  gemacht. 

Nach  Diels  wäre  das  Fragment,  obschon  Sprache  und  Stil  echt 
klängen,  entweder  aus  andern  echten  Stellen  ungeschickt  zusammen- 
gesetzt oder  es  wären  wenigstens  die  Worte  xavtaQ  rag  övyyQaffäo.  oder 
UXt^cqiBvog  Tccvrag  rag  ovyyQcupdg  als  interpoliert  auszuscheiden. 
Denn  erstens  sei  das  Zitat  mit  der  notorischen  Fälschung  eines 
Pythagorasbuches  verquickt.  Zweitens  sei  ravrag,  dem  Sinne  nach 
auf  iöTOQUir  zu  beziehen,  sehr  hart.  Drittens  sei  die  Erwähnung 
von  Schriften  des  Pythagoras,  weshalb  das  Zitat  beigebracht  werde, 
eine  historische  Unmöglichkeit'-^). 

In  Wahrheit  handelt  es  sich  um  nichts  weiter,  als  daß  der  Un- 
genannte, den  Diogenes  Laertius  (VIIL  6)  samt  dem  Zitat  als 
Gewährsmann  für  die  angebhche  Schriftstellerei  des  Pythagoras  bei- 
bringt, aus  dem  Fragment  mehr  herausgelesen  hat,  als  darin  steht. 
Darin  steht  bloß,  daß  Pythagoras  sich  „seine  eigene  Weisheit,  Viel- 
wisserei, Afterkunst"  auf  Grund  fleißigster  Benutzung  von  das  Gebiet 
der  lOTOQui  betreffenden  Schriften,  nicht  aber,  daß  er  sich  selbst 
Sclu'iften  daraus  „zurecht  gemacht"  habe.  Der  Ungenannte  hat  eben 
das  Ijtou'iöaro  falsch  ausgelegt.  Das  ist  alles.  Dafür  ist  doch 
Heraklit  nicht  verantW'Ortlich  zu  machen.  Was  das  auf  Iötoqujv  zu 
beziehende  xavxag  angeht,  so  nimmt  es  sich  nur  dann  so  hart  aus, 
wenn  man  iotoqu/  mit  Diels  im  Sinne  von  „Forschung"  versteht. 
iöTOQb]  bedeutet  hier  aber  nicht  „Forschung",  sondern  das  Er- 
forschte, die  Kunde,  die  Wissenschaft.  In  Heraklits  Augen 
ist  ja  Pythagoras  kein  wissenschaftlicher  Forscher,  sondern  ein  bloßer 
Vielwisser,  ein  Vielwisser  wie  Hesiod,  Xenophanes,  Hekatäus  (Frag- 
ment 40).  Anderseits  geht  es  wieder  zu  weit,  Nvenn  es  bei  Diehls 
heißt,    Heraklit  sehe  mit  Verachtung  auf  die  großen  Entdeckungen 


■5)  H.  Diels,   Herakleitos  von  Ephesos,  2.  Aufl.  (Berlin  1909),  S.  49. 


A\'ar  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin  ?  37 

seiner  Landsleute,  obgleich  er  sie  benutze  und  an  ihrem  physikalischen 
Standpunkte  prinzipiell  festhalte,  weil  ihm,  der  Höheres  wolle,  ,,die 
bisherige  Naturforschung''  als  ,, eitel  Polymathie"  erschiene,  die  nicht 
denken  lehre^^).  Das  ist  eben  nicht  der  Fall.  Nichts  liegt  Heraklit 
ferner,  als  die  gesamte  bisherige  Naturforschung  für  eitle  Polymathie 
zu  halten.  Vielmehr  verhält  es  sich  damit  so,  wie  Gomperz  von 
ihm  sagt:  „Von  Anaximander  war  er  nachhaltig  beeinflußt  worden 
und  er  stattet  ihm  seinen  Dank  ab,  indem  er  ihn  so  wenig  als  Thaies 
und  Anaximenes  unter  die  geschmähten  Meister  des  Vielwissens 
einreiht''"^"). 

Wie  sehr  Heraklit  die  Igt oq l fj  eines  Thaies,  Anaximander, 
Anaximenes  schätzt,  bezeugt  seine  Forderung:  ,,Gar  vieler  Dinge 
kundig  müssen  philosophische  Männer  sein"  (Fragment  35: 
yj}//  /«(>  fr  fid/M  xoÄlüv  i'oroQag  ffiZoo6(povg  avÖQaq  eirai). 

„Philosophische"  Männer  oder,  wie  Diels  gut  wörthch  über- 
setzt, „weisheitsliebende"  Männer!  Während  nach  Wilamowitz 
nur  ev  (.ii'üa  jioXXoiv  'toroQag  authentisch  sein  soll,  cfiXoaofforg 
ärdQccQ  also  nicht,  wäre  nach  Diels,  der  auch  diesen  Ausdruck  für  echt 
nimmt,  Heraklit  im  Gegenteil  derjenige  gewesen,  dem  ,,der  Ge- 
brauch, ja  die  Prägung  von  f/^2oöor/oc"  zuzutrauen  sei''^).  Zweifellos 
wäre  Gocfovc:  ar^Qccg  dem  Sprachgebrauche  Heraklits  und  seiner 
Zeit  gemäßer  als  (piXo(j6g)ovg  avÖQag.  Eine  andre  Alternative  käme 
aber  hier  nicht  in  Frage  und  diese  ändert  am  Sinne  der  Forderung 
nichts.  Ob  ,, weise"  oder  ,, weisheitsliebende  Männer"  zu  lesen  ist, 
bedingt  keinen  sachlichen  Unterschied,  es  wäre  denn,  daß  rpiXooog^og 
bei  Heraklit  nicht  den  etymologisch  gewöhnhchen  Sinn,  sondern  einen 
davon  abweichenden  hätte.  Und  nach  der  Interpretation  von  Diels 
wäre  es  allerdings  so.    Sie  ist  jedoch  falsch. 

Heraklits  Philosophie,  meint  Diels,  sei  nicht  jonische  Natur- 
forschung. Die  Naturwissenschaft  verdanke  ihm  nichts.  Der  Philosoph 
von  Ephesus  suche  „aus  der  menschhchen  Seele  die  Weltseele,  aus 
der  Physik  die  Metaphysik  zu  erschheßen".  Das  sei  ,,der  Kern  seiner 
Philosophie".  In  Fragment  41  künde  er:  „In  einer  einzigen  Aufgabe 
besteht  die  Weisheit,  die  Intelligenz  zu  begreifen,  die  da  das  All  durch- 
waltet.   Die  eine  ewige  Weisheit  (tV  ro  oo(f6r),  die  mit  der  Gottheit 


"^)  Herakleitos  von  Ephesos,  2.  Aufl.,  S.  XI. 

•")  Griechische  Denker,  I,  51. 

'8)  Herakleitos  von  Ephesos,  S.  X,  XVI,  25. 


38  Hubert  Rock, 

zusammenfalle,  gelte  es  zu  enthüllen.   Und  die  das  vermöchten,  seien 
die  Männer,  die  „das  Weise  lieben"  {(fiXooocfoi  ardQsgy^}. 

Warum  schweigt  aber  Diels  dabei  über  das  wichtige  Fragment  112? 
Das  Fragment  lautet:  „Verständigsein  ist  die  größte  Tugend  und  die 
AVeisheit  besteht  darin,  die  Wahrheit  zu  reden  und  auf  die  Katur 
horchend  zu  handeln"  {ooxf {)ortiv^^)  (((jerf)  fieyiorj/,  xccl  aoffhi 
(cXfjthta  /Jytiv  y.al  jroielv  y.ara  ffiinr  IjrcdorraQ).  Warum  schweigt 
er  über  die  ebenso  \vichtige  Angabe  bei  Klemens  von  Alexandrien,  daß 
Heraklit  das  Lebensziel  {tov  ßiov  xiloo)  in  die  svagtonißii  setzt? 

Zur  richtigen  Interpretation  von  ffiXoooffog  bei  Heraklit,  die 
Echtheit  vorausgesetzt,  hat  man  auf  alle  diese  Stellen,  auf  die  von 
Diels  benutzten  und  die  von  ihm  unbenutzt  gelassenen,  gleichermaßen 
Bedacht  zu  nehmen.     Dann  gelangt  man  zu  folgendem  Ergebnis. 

<PU(')0O(f>oc  ist  nicht  gleich  6  (f'ümv  rn  ooffor  im  Sinne  von  ror 
ko-/ov,  sondern  es  ist  gleich  6  fpikcov  T))r  öoqbjv.  ^offi?/  ist  Theorie 
und  Praxis  der  Lebensweisheit.  Nach  ihrer  theoretischen  Seite  besteht 
sie  in  der  Erkenntnis  der  alles  durch  alles  regierenden  Weltvernunft; 
deshalb  müssen  weisheitshebende  Männer  gar  vieler  Dinge  kundig 
sein.  Nach  ihrer  praktischen  Seite  besteht  sie  darin,  die  Wahrheit 
zu  reden  und  auf  die  Natur  horchend  zu  handeln;  deshalb  ist  Ver- 
ständigsein die  größte  Tugend. 

Hinsichthch  der  svaQtijTfjOig  als  Lebensziel  möge  Döring  das 
Wort  haben.  Er  sagt:  „Daß  es  ungeschichthch  ist,  Heraklit  schon 
den  erst  viel  später  auftauchenden  Begriff  des  Lebensziels  beizulegen, 
bedarf  keines  Beweises.  Das  Richtige  in  dieser  Angabe  besteht  darin, 
daß  er mit  großer  Emphase  die  Vernünftigkeit  der  Welt- 
ordnung pries,  sowie  daß  er  in  der  Erkenntnis  dieser  Vernünftigkeit 
eine  hohe  Freudigkeit  und  Zufriedenheit  empfand  und  eine  volle  An- 
passung an  dieselbe  auch  im  praktischen  Verhalten  als  notwendig 
forderte.  Es  ist  eine  Art  religiöser  Grundstimmung  dem  Weltgrunde 
und  der  Welteinrichtung  gegenüber,  aus  der  auch  die  entsprechende 


'*)  Herakleitos  von  Ephesos,  2.  Aufl.,  S.  IX  u.  X. 

*")  TÖ  (pQOVHv,  wie  Diels  statt  cwfpooviXv  schreibt,  ist  keine  Verbesse- 
rung, wenn  es  „Denken"  bedeuten  soll.  Heraklit  meint  hier  dasselbe,  was 
Epikur  (Diog.  L.  X,  132)  mit  den  Worten  ausdrückt:  TotTvüv  6e  Ttüvrtov 
uQyt]  xui  t6  liiiyiGTOi'  dyad'ov  (fQÖrrjaig.  diu  xui  yit,lo60((>iac  rifJUVTegov 
vTTÜo/ei  (pn6vr\at,c,  «§  ^g  ul  Xomul  iruGut  nefpvxaüiv  uoetui  xtX. 

81)  Herakleitos  von  Ephesos,  2.  Aufl.,  S.  14. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  39 

Lebenshaltung  hervorgeht Daß  er  auch  das  Wort  „Wohl- 
gefallen" selbst  schon  gebraucht  hat,  ist  nicht  unwahrscheinlich; 
jedenfalls  aber  Wird  durch  dasselbe  die  ihn  beherrschende  Grund- 
stimmung, das  beherrschende  Glücksgefühl  aus  der  freudigen  Zu- 
stimmung zur  Weltordnung  nicht  als  bloße  resignierte  Unterwerfung 
unter  das  Unabänderhche,  sondern  auf  Grund  der  Erkenntnis  von 
ihrer  Trefflichkeit  und  ihrer  Übereinstimmung  mit  unseren  wahren 
Bedürfnissen  treffend  bezeichnete^)." 

Demgemäß  ist  unter  der  oorfuj  des  Pythagoras,  auf  die  als  Viel- 
wisserei  und  Afterkunst  Fragment  129  Bezug  nimmt,  die  von  jenem 
vertretene  Lebensweisheit  gemeint.  2::oqhi  bedeutet  hier  dasselbe, 
was  später  fftlocjoffia  genannt  wurde:  Lehre  und  Übung  der  Lebens- 
weisheit. Zugleich  bedeutet  es  hier  ein  bestimmtes  Lebensweisheits- 
system, das  des  Pythagoras,  im  Gegensatz  zu  Fragment  112,  wo  es 
Herakhts  eigenes  Lebensweisheitssystem  bedeutet.  Wer  dafür  kein 
Ohr  hat,  versteht  das  ganze  Fragment  nicht,  wie  man  an  Zeller 
sieht,  der  da  meint,  aus  Heraklits  Worten  lasse  sich  nicht  entscheiden, 
ob  die  geschmähte  Weisheit  des  Pythagoras  „in  wissenschaftlicher 
Erkenntnis  oder  in  theologischen  Lehren  oder  in  praktischen  Be- 
strebungen" bestehen  solF^^^  in  Wahrheit  ist  das  alles  miteinander 
gemeint,  insofern  sich  eben  die  öocfhi  des  Pythagoras  daraus  zusammen- 
setzt. 

Um  auf  die  Interpretation  von  doxtiv  lOTortit/r  in  Fragment  129 
zurückzukommen,  so  handelt  es  sich  um  eine  Wendung,  die,  an  sich 
genommen,  allerdings  nichts  weniger  als  eindeutig  ist.  Daher  die 
verschieden  lautenden  Übersetzungen  und  Erklärungen,  denen  man 
zu  begegnen  pflegt.  So  übersetzt  Ambrosius  Camaldulensis: 
„se  historia  rerum  exercuit".  Aldobrandinus:  „in  historia 
laboravit".  Meibom  ins  folgt  der  Übersetzung  des  Ambrosius. 
Menagius  bemerkt:  „ut  recte  Casaubonus  omnium  hominimi 
maxime  fuit  polyhistor".  Borheck:  „Pythagoras  ...  hat  sich  .  .  . 
auf  die  Geschichte  gelegt".  Hübner  und  Cobet:  „polystistor 
fuit".  Zell  er  bemerkt:  „Unter  der  Iotoqui  verstehe  ich  die  Nach- 
fraoe   bei   andern,  im  Unterschied  zu  dem  Selbstgefundenen' -s*). 


82)  Geschichte  der  griech.  Philosophie,  I,  95f. 

83)  Philos.  d.  Griechen,  V,  476. 
8*)  Ibid.  S.  309. 


40  Hubert  Rock, 

Gompcrz:  „BM  Forschung  und  Erkundung  getrieben"^-"'). 
Döring:  „Pythagoras  habe  .  .  .  sich  des  Erkundens  befhssen"^^). 
Diels:  „Pythagoras  .  .  .  hat  .  .  .  sich  der  Forschung  befhssen"^'). 
Burnet:  „Pythagoras  had  pursued  scientific  investigation^^^). 
Nestle:  „Pythagoras  .  .  .  ging  ...  auf  Kenntnisse  aus"^"). 

An  sich  genommen,  kann  ja  doxfir  lOTociifjv  alle  diese  Bedeutungen 
haben  und  sogar  noch  um  eine  mehr,  nänüich  die  des  Erforschten, 
der  Kunde,  der  "Wissenschaft.  Gerade  die  zuletzt  erwähnte  Be- 
deutung aber  hat  man  meines  AVissens  zur  Interpretation  nie  heran- 
gezogen, obschon  sie  sich  hierzu  auch  insofern  am  geeignetsten  er- 
weist, als  der  Text  nicht  beschnitten  zu  werden  braucht.  Da  ich 
Fragment  129  schon  demgemäß  übersetzt  und  interpretiert  habe, 
schulde  ich  nur  noch  die  tiefere  Begründung  dafür.  Diese  beruht  auf 
der  selten  beachteten  und  bis  jetzt  nie  recht  gewürdigten  Tatsache,  daß 
der  landläufige  Kunstausdruck,  den  die  Griechen  zur  Bezeichnung 
dessen,  was  wir  unter  Wissenschaft,  zumal  unter  Wissenschaft 
im  engsten  und  strengsten  Sinne  verstehen,  vom  sechsten  bis 
ins  vierte  Jahrhundert  hinein  verwendet  haben,  um  ihn  nach  und 
nach  mit  IjtiOT/jfrr/  zu  vertauschen,  i  a  r  o  (>  /  a  gelautet  hat,  loTOQia 
und  nicht  ocxfia  oder  cfiÄooorfAa. 

AusdrückUch  l)ezeugt  ist  dieser  Sprachgebrauch  von  loTOQia 
zuerst  für  Pythagoras  in  der  oft  zitierten,  aber  ebenso  oft  miß- 
verstandenen Notiz  des  Jamblichus  (Vita  Pyth.  89):  lyMitiTo  dt 
//  yscoiieTQLa  jtqoc  Ilrf^cr/ÖQOv  i  ö  r  o  (>  / «.  Wie  nämlich  Jamblichus 
zu  berichten  weiß,  wären  die  Pythagoreer  zur  Veröffentlichung  der 
Geometrie  dadurch  bewogen  worden,  daß  einer  der  Ihrigen,  der 
sein  Vermögen  eingebüßt  hatte,  die  Erlaubnis  erhielt,  sich  durch 
Unterricht  in  der  Geometrie  fortzubringen.  Im  Anschluß  daran  folgt 
die  angeführte  Notiz. 

Jannerys^°)  falsche  Interpretation  der  ganzen  Stelle  ist  schon 
von  andern,  darunter  von  Gomperz,  abgelehnt  worden.  Was  Gomperz 


*^)  Griechische  Denker,  I,  81. 

s^)  Gesch.  d.  griech.  Philos.  I,  55. 

8")  Herakleitos  v.  Ephes.,  2.  Aufl.,  S.  49. 

88)  Early  Greek  Philosophy  (London  1908),  S.  107. 

8»)  Die  Vorsokratiker  (Jena  1908),  S.  115. 

9«)  Sur  le  Secret  dans  l'Ecole  de  Pythagore  ( Arch.  f.  Gesch.  d.  Philos.,  I,  28ff.) 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  41 

selbst^i)  ^]3ej.  (jej^  Sprachgebrauch  von  iöTOQia  vorhriiigt,  ist  indes 
gleichfalls  nicht  stichhaltig.  Erstens  ist  es  nicht  richtig,  daß  bei  Heraklit 
die  lOTOfih/  so  ziemlich  mit  unfruchtbarem  Vielwissen  indentifiziert 
werde ;  darüber  sprach  ich  mich  schon  oben  aus.  Zweitens  ist  es  nicht 
richtig,  daß  toroQuc  in  jener  Zeit  so  viel  wie  „Wissenschaft  und 
Erudition  überhaupt  im  weitesten  Sinne"  bedeute.  Vielmehr  ist 
der  gebräuchhche  Ausch'uck  dafür  ooffia.  Alle  hnogia  ist  <jorpia.  aber 
nicht  alle  ooffJa  ist  icroQla.  Belegstellen  folgen.  Drittens  ist  es  nicht 
richtig,  daß  die  Geometrie  in  pythagoreischen  Kreisen  loroQia  genannt 
worden  sei,  weil  sie  als  „die  Wissenschaft  par  excellence" 
gegolten  habe.  Von  einer  solchen  Rangstellung  unter  den  in  pythago- 
reischen Kreisen  kultivierten  Wissenschaften  könnte  wohl  in  bezug 
auf  die  Arithmetik,  doch  nicht  in  bezug  auf  die  Geometrie  die  Rede 
sein.  Sonst  hieße  es  nicht  bei  Archytas:  „Meines  Erachtens  zeichnet 
sich  die  Arithmetik  hinsichtlich  der  andern  Weisheit  (.-roTi  räv 
äXXav  öorfiav)  vor  den  andern  Künsten,  ja  sogar  vor  der  Geometrie 
dadurch  aus,  daß  sie  deuthcher  behandelt,  was  sie  behandeln  will. 
Denn  die  Geometrie  beweist,  wo  die  andern  Künste  im  Stich  lassen, 
und  wo  die  Geometrie  wiederum  versagt,  bringt  die  Arithmetik  sowohl 
Beweise  zu  stände  wie  auch  die  Darlegung  der  Formen,  wenn  es  sich 
um  irgend  eine  Behandlung  der  Formen  handelt^^)." 

Das  Fragment  ist  außerdem  dadurch  bemerkenswert,  wie  Archytas 
von  der  oor/ia  spricht.  Arithmetik  und  Geometrie  nebst  andern 
„Künsten",  bei  denen  wir  in  erster  Linie  an  Harmonik,  Mechanik, 
Astronomie  zu  denken  haben,  werden  von  ihm  zur  „andern"  oocfia 
gerechnet.  Das  schließt  in  sich,  daß  es  eine  von  der  „andern"  zu 
unterscheidende  ooffia  gibt,  so  eng  beide  in  gewisser  Hinsicht  zu- 
sammengehören mögen.  Worin  soll  nun  bei  einem  Pythagoreer  und 
einem  solchen  Musterpythagoreer,  wie  Archytas  einer  war^^),  diese 
oofpla  bestehen  als  in  Lehre  und  Übung  Pythagoreischer  Lebens- 
weisheit, des  nv9-cr/6Q£ioc  tqojtoc  tov  ßiov'^  Damit  ist  zugleich  das 
Verhältnis  angedeutet,  in  dem  die  „andre"  ooffia  zur  ooffia  als  Lebens- 
weisheit steht.  Ihrer  selbst  wegen  betrieben,  ist  die  ,, andre"  ijo(pia 
eine  selbständige  oorfia,  im  Dienste  Pythagoreischer  Lebensweisheit 


81)  Die  Apologie  der  Heilkunst   (Sitzungsberichte  d.    kaiserl.   Akad.    d. 
Wissenschaften  in  Wien,  philosoph.-histor.  Klasse,  Wien  1890,  120.  Bd.  S.  96). 
^^)  Fragment  4  bei  Diels,    Vorsokratiker. 

Vgl.  S trabe,  VI,  S.  280.  —  Cic.  Cat.  m.  12.  —  Valer.  Max.  IV,  1. 


93  > 


42  Hubert   Rock, 

betrieben,  wird  sie  zu  einem  Bestandteil  des  Pythagoreischen  Lebens- 
weisheitssystems. 

Dasselbe  Verhältnis  findet  sich  in  der  Notiz  des  Jamblichus 
angedeutet,  nm-  mit  dem  Unterschied,  daß  darin  die  von  Archytas 
erwähnte  „andre"  aofflcc  den  Namen  ujtoqUc  trägt.  Was  will  denn 
die  Notiz  überhaupt  besagen?  Daß  die  Geometrie  von  Pythagoras 
ioTOQia  ,, genannt"  worden  sei?  Was  täte  das  zur  Sache ?  Nichts  und 
wieder  nichts.  Kann  ly.altiro  nicht  auch  bedeuten,  die  Geometrie 
sei  von  Pythagoras  zur  toroQuc  gerechnet  worden?  So  ver- 
standen, wird  die  Notiz  erst  zu  einem  in  den  Zusammenhang  passen- 
den und  um  ergänzenden  Satz.  AVenn  der  verarmte  Pythagoreer 
sich  durch  Unterricht  in  der  Geometrie  fortbringen  durfte,  so  war 
ihm  die  Erlaubnis  dazu  mit  Rücksicht  darauf  erteilt  worden,  daß 
Pythagoras  die  Geometrie  nicht  zu  der  als  esoterisch  zu  wahrenden 
(jO(fia  im  engsten  Sinne,  zur  Lebensweisheit,  sondern  zur  loTOQia, 
zur  Wissenschaft  gerechnet  hatte.  Das  ist  es  augenscheinlich, 
was  Jamblichus  mit  der  Notiz  zum  Ausdruck  bringen  will.  Die 
Geometrie  als  solche  war  ja  auch  niemals  eine  Monopolwissenschaft 
der  Pythagoreer,  selbst  unter  Pythagoras  nicht,  zu  dessen  Blütezeit 
schon  ungefähr  ein  halbes  Jahrhundert  seit  dem  Aufkonmien  dieser 
Wissenschaft  bei  den  Hellenen  durch  das  Verdienst  des  Thaies  ver- 
flossen war. 

Ein  jeden  Kommentar  entbehrüch  machendes  Beispiel  dafür,  daß 
oo(/ia  die  Wissenschaft  im  weitesten  Sinne,  lOTOQia  die  Wissenschaft 
im  engsten  und  strengsten  Sinne  bezeichnete,  hegt  in  der  Stelle  des 
Platonischen  „Phädon"  vor,  wo  Sokrates  auf  das  Interesse  zu 
sprechen  kommt,  das  er  in  seiner  Jugend  an  „derjenigen  Weisheit" 
genommen  hatte,  „die  sie  Naturwissenschaft  nennen"  {ravrtjc  t/jl: 
ooffjiuQ,  yv  dij  y.cüovoi  JteQi  (fvöscoq  iörogiav ,  p.  96).  Hier 
stellt  oocpia  den  weiteren,  toroQia  den  engeren  Begirff  von  Wissen- 
schaft dar. 

Ein  Beispiel  dafür,  wo  umgekehrt  loroQta  im  Sinne  der  Wissen- 
schaft den  weiteren,  aof/ia  im  Sinne  der  Lebensweisheit  den  engeren 
Begriff  darstellt,  haben  wir  in  einem  an  Hippokrates  gerichteten 
Briefe  Pseudo-Demokrits  vor  uns.  Darin  heißt  es:  „Alle  Menschen, 
mein  Hippoki-ates,  müssen  sich  auf  die  Heilkunst  verstehen,  da  es 
schön  und  zugleich  zuträghch  fürs  Leben  ist,  besonders  diejenigen, 
die  auf  wissenschaftliche  und  literarische  Bildung  Anspruch  erheben. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  43 

Ich  halte  nämhch  die  Weisheitskunde  für  die  Schwester  und  Ge- 
nossin der  Heilkunde.  ,Denn  die  Weisheit  reinigt  die  Seele  von  den 
Leidenschaften,  die  Heilkunde  beseitigt  die  Krankheiten  des  Körpers.' 
{i  OTOQi  // r  öo(f  1)1  g  yuQ  doxto)  hjTQixf/g  ddeXr/f/r  xai  ^vroixov. 
,oorph/  fiev  yccQ  ^vy/jr  araQvtrai  jiaD-tcor,  IrjtQty.tj  6s  vovOovq 
öciimrcrr  d(f cuqütcu'' .^'^).  öoffirj  iitv  /«(>  xrl.  ist  freies  Zitat 
nach  Demokrit  (Fragment  31  bei  Diels).  Da  der  Verfasser  des  Briefes 
ooffir/v  oo(phjg  nicht  schreiben  wollte  und  konnte,  schrieb  er  eben 
ioTOQu/v  (jO(fbjg. 

Wo  dagegen  oofpia  im  weitesten  Sinne  von  Wissenschaft  neben 
oor/t«  im  Sinne  von  Lebensweisheit  gebraucht  whd ,  wie  dies  in  der 
hippoki'atischen  Schrift  IltQi  tvayjif^toavrrjg  geschieht,  da  wird  oorpia 
im  Sinne  von  Lebensweisheit  gleich  eingangs  durch  die  Beifügung 
Irr  rö  /:?  /  ro  erläutert.  Die  Schrift  beginnt:  „Es  ist  keine  unverständige 
Behauptung,  daß  die  Weisheit  (r/yr  oo(phji')  zu  vielem  nützlich  ist, 
diejenige  nänüich,  die  sich  aufs  Leben  bezieht  {ravTr/i'  de  t/]v  h  r<ö 
^jlci).  Denn  die  meisten  (seil,  oo(fiai)  scheinen  aus  Neugier  entstanden 
zu  sein;  ich  rede  von  denjenigen,  die  sich  mit  zu  nichts  Brauchbarem 
befassen".  In  dieser  Schrift  kommt  auch  der  oft  zitierte  Satz  vor: 
'h/TQog  ya(t  cfi/.öorxpog  iood-tog.  Der  mit  einem  Gott  zu  vergleichende 
„philosophische"  Arzt  ist  aber  nicht  der  herkömnüichen  falschen 
Interpretation  gemäß  der  ,, naturphilosophisch"  gebildete  Arzt,  sondern 
der  die  oo(pb/  tr  tcö  ßio)  mit  seiner  Kunst    vereinigende  Arzt^^). 

Zur  Bestätigung  dafür,  daß  lOvoQia  im  früheren  Altertum 
„AVissenschaft  und  Erudition  überhaupt  im  weitesten  Sinne" 
bedeutet  hätte,  werden  wir  von  Goraperz  auf  die  Verse  des  Euripides 
verwiesen,  die  mit  den  Worten  anheben:  „"OXßiog  oorig  xT/g  IcxoQiag 
toye  fiäd^tiGir"'.  Die  als  Fragment  910  gezählten  Verse  lauten  in  wört- 
hcher  Übersetzung:  „Glückselig,  wer  sich  Kenntnis  der  loTOQia  erwarb, 
weder  auf  der  Mitbürger  Leid  noch  auf  ungerechte  Handlungen 
sinnend,  sondern  die  nicht  alternde  Ordnung  der  Natur  betrachtet, 
wozu  sie  besteht  und  auf  welcherlei  Art  und  Weise  ^^).  Bei  solchen  setzt 
sich  niemals  ein  Gedanke  an  Übeltaten  fest." 


^*)  Diels,  Vorsokratiker,  ,, Demokrit",  cap.  6. 

^")  Ausführlicheres  darüber  in  meiner  Abhandlung:  Das  hippokratische 
Wort  von  der  Gottgleichheit  des  „philosophischen"  Arztes  (Arch.  f.  Gesch. 
d.  Medizin,  Bd.  VII,  Heft  4,  S.  253—272). 

'*®)  Ich  lese  mit  Nestle  (Euripides,  S.  393)  nrjB  GvviGrr^  und  mit 
Überweg-Prächter    (Gesch.    d.    Philos.    d.    Altertums,    10.  Aufl.,    S.  75) 


44  Hubert  Rock, 

Das  heißt  man  dodi  wahrlich  nicht  der  Polyhistorie  das  Wort 
reden, sondern  bloß  jener  oocfia,  yr  ö/)  xaXorOi  .-reQi  (fvöscog  loTo^iav, 
mit  Piaton  zu  sprechen,  während  sie  bei  Euripides  einfach  lorooia 
heißt.  Damit  klärt  sich  aber  zugleich  die  Bedeutung  dieses  Ausdrucks 
bei  Heraklit  wie  bei  Jamblichus  zu  völliger  Durchsichtigkeit.  Der 
Ausdruck  hat  eben  nicht  um*  zur  Bezeichnung  der  Wissenschaft  im 
engsten  und  strengsten  Sinne,  abstrakt  genommen,  gedient,  sondern 
auch  zur  Bezeichnung  der  dabei  in  erster  Linie  in  Betracht  kommenden 
konkreten  Wissenschaften,  der  Naturwissenschaften  und  der 
mathematischen  Wissenschaften.  Bei  Euripides  und  Jamblichus 
dient  er  ganz  augenscheinlich  dazu,  bei  Heraklit  dürfen  wir  es  er- 
schließen. 

Besonders  lehiTeich  ist  die  Stelle  in  der  hippoki'atischen  Schrift 
IliQL  dQ-/airjQ  b/TQiyJjc,  wo  der  Verfasser  sich  gegen  die  Behauptung 
einiger  Ärzte  und  „Sophisten''  kehrt,  man  könne  die  Heilkunde  nicht 
verstehen,  ohne  zuerst  aus  der  „Philosophie"  von  der  Art  des 
Empedokles  oder  andrer,  die  über  die  Katur  geschrieben  hätten, 
gelernt  zu  haben,  was  der  Mensch  sei,  ruf  welche  Weise  er  entstanden 
und  woraus  er  ursprünglich  zusammengefügt  worden  sei.  Das  sei 
ein  Irrtum.  Ein  sicheres  Wissen  über  die  Natur  (des  Menschen)  sei 
nur  durch  die  gehörige  Beherrschung  der  Heilkunde  selbst  zu  ge- 
winnen. Bis  dahin  fehle  indes  noch  viel,  bis  zu  jener  Wissenschaft 
(ioTOQia)  nämlich,  genau  zu  wissen,  was  der  Mensch  sei,  durch 
welche  Ursachen  er  entstehe  und  so  weiter^'). 

Die  Stelle  und  überhaupt  die  ganze  Schrift  ist  deshalb  besonders 
lehrreich,  weil  sie  die  Haltlosigkeit  der  Gleichung  zwischen  Philosophie 
und  Wissenschaft  schlechthin,  soweit  sich  diese  auf  die  Heilkunde  als 
solche  und  als  Naturwissenschaft  miterstrecken  soll,  &d  oculos  de- 
monstriert. Die  Einlassung  der  Heilkunde  mit  der  ..Philosophie"', 
nicht  mit  der  Philosophie  als  Lebensweisheit,  sondern  ?<.ls  ..Natur- 
philosophie", ist  in  des  Verfassers  Augen  ein  Unfug,  ein  neuer,  vor 
noch  nicht  langer  Zeit  eingerissener  Unfug,  demgegenüber  er  für  die 
„alte"  Medizin  als  die  auf  dem  richtigen  wissenschaftlichen  AVege 
befindliche  mit  Feuereifer  in  die  Schranken  tritt. 

Cornelius  Celsus  weiß  freiUch  etwas  anderes  zu  berichten. 
Aber  mit  welcher  Kritiklosigkeit!    Um  so  mehr  muß  man  staunen, 


*")  Nach  dem  Text  der  Ausgabe  von  Küh lewein  (Leipzig  1894),  cap.  20. 


War  Philoosphie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  45 

daß  ihm  die  Modernen  ebenso  kritiklos  nachzusclireiben  pflegen. 
Er  sagt:  ,, Anfangs  wurde  die  Heilkunde  für  einen  Teil  der  Weisheit 
(sapientiae  pars)  gehalten,  so  daß  beides,  die  Heilung  der  Krank- 
heiten und  die  Naturbetrachtung,  von  denselben  Urhebern  herstammte, 
von  denjenigen  die  erste  vorzugsweise  Erforschenden  nämlich,  die 
ihre  Körperki'äfte  durch  untätiges  Nachdenken  und  durch  Nacht- 
wachen geschwächt  hatten.  Daher  sind  nach  der  Überlieferung  viele 
Lehrer  der  Weisheit  (sapientiae)  darin  erfahren  gewesen,  worunter 
Pythagoras,  Empedokles  und  Demokrit  die  berühmtesten 
sind.  Der  von  einigen  für  einen  Schüler  Demokiits  angesehene  Hippo- 
krates  von  Kos  aber,  unstreitig  der  erste  unter  allen  denkwürdigen 
Männern,  hat  diese  Wissenschaft  vom  Studium  der  Weisheit  getrennt 
(ab  studio  sapientiae  disciplinam  hanc  separavit),  ein 
durch  Kunstleistung  und  Darstellungsgabe  gleich  hervorragender 
Mann^sj. 

Gerade  die  Schrift  über  die  alte  Heilkunde  legt  davon  Zeugnis 
ab,  daß  man  zur  Zeit  des  Hippofa-ates  nicht  im  entferntesten  daran 
gedacht  hat,  die  Heilkunde  für  einen  „Teil'"  der  „AVeisheit"  zu  halten. 
Wie  sich  die  Heilkunde  nach  der  ausdrücklichen  Erklärung  des  Ver- 
fassers bis  dahin  selbständig  entwickelt  hatte,  so  wird  sie  nach  seiner 
Überzeugung  nur  dann  Fortschritte  machen,  w^enn  sie,  auf  dem  ein- 
geschlagenen Wege  verharrend,  der  ,, Philosophie''  weiterhin  den 
Rücken  zukehrt^*').  Insofern  ist  es  also  ganz  unhistorisch,  daß  Hippo- 
krates  die  Heilkunde  vom  Studium  der  ,, Weisheit"  getrennt  haben 
soll.  Die  Schrift  IIsqI  £toy?](ioovvr/g,  auf  die  ich  schon  einmal  bezug 
genommen  habe,  läßt  uns  im  Gegenteil  gar  keine  andere  Wahl  als 
die  Annahme,  daß  die  dort  verkündete  Forderung  des  usTc'r/tii' 
T/]i'  ooffhjv  eg  t/)v  bjTQixi])'  y.cci  t/]v  ujTQixijr  tg  TtjV  oorfbjv  auf 
Hippoki'ates  selbst  zurückzuführen  ist,  mag  die  Schrift  ihn  zum  Ver- 
fasser haben  oder  nicht.  Denn  es  ist  nicht  jedermanns  Sache,  eine 
so  sinnige  Forderung  zu  erheben.  Der  Standpunkt,  den  der  Verfasser 
zur  „Philosophie"  (ooffi)/)  einnimmt,  Hegt  in  der  Mitte  zwischen  den 
vom  Verfasser  über  die  alte  Heilkunde  und  von  dessen  Gegnern  unter 
Ärzten  und  ,, Sophisten"  eingenommenen  Standpunkten.  Soweit 
die  Philosophie  Lebensweisheit  ist.  brauchbare  Lebensweisheit,  soll 


**)  De  medicina,  reo.  Daremberg  (Leipzig  1891),  Prooemium,  S.  2. 
99)  Vgl.  cap.  1,  2,  15,  20. 


46  H  u  b  c  r  t  R  ö  c  k  , 

sie  in   die  Heilkunde    eingeführt  werden;    ujtqoc   yaQ    r///o(jor/o-' 

Um  aber  bräuchbare  Lebensweisheit  zu  sein,  Ijedarf  die  Philoso- 
phie ihrerseits  zu  ihrem  theoretischen  Unterbau  der  Einführung- 
der  von  der  „alten"  Heilkunde  befolgten  streng  wissenschaftlichen 
Forschungsmethode^^*^). 

Gegen  die  Philosophie  als  Lebensweisheit  hat  üljrigens  der  Ver- 
fasser der  Schrift  über  die  alte  Heilkunde  nichts  einzuwenden.  Sein 
Ausfall  gegen  die  „Philosophie"  ist  einzig  und  allein  gegen  die  von 
der  ]\"atur  des  Menschen  handelnde  von  der  Art  des  Empedokles 
und  anderer  „Sophisten"  samt  deren  ärztlicher  Gefolgschaft  gerichtet, 
gegen  sogenannte  iS^aturphilosophie  also  zum  Unterschied  von 
Naturwissenschaft.  So  ist  auch  seine  Entgegensetzung  zwischen 
<f)üoooffh/  und  iotoqI?/  zu  verstehen,  der  entsprechend  er  die 
Ausgestaltung  einer  wirklichen  AVissenschaft  von  der  menschlichen 
jS'atur  erst  nach  vielen  Bemühungen  in  nicht  absehbarer  Zukunft  erhofft. 

Daß  lOTOQiri  hier  ..in  geringschätzigem  Sinne"  gebraucht  werde, 
wie  Gomperz,  das  Wort  mit  „Gelahrtheit"  übersetzend,  annimmt, 
ist  deshalb  ein  Mißverständnis.  Andererseits  geht  es  nicht  weit  genug, 
wenn  Gomperz  sagt,  „Hie  Fiktion,  hie  Realität"  laute  der  Schlacht- 
ruf in  dem  vom  Verfasser  der  Schrift  über  die  alte  Heilkunde  auf  der 
ganzen  Linie  eröffneten  Kampfe  „gegen  die  Auswüchse  und  gegen 
die  Mängel  der  Naturphilosophie"^^^). 

Sogenannter  Natm-philosophie  als  solcher,  nicht  bloß  deren 
Auswüchsen  und  Mängeln  wird  hier  der  Iviieg  erklärt. 

Sogenannter  Naturphilosophie!  Von  Naturphilosophie  wird 
ja  in  so  schwankendem  Sinne  gesprochen,  daß  man  sich  in  jedem 
einzebien  Falle  nicht  klar  genug  zum  Bewußtsein  bringen  kann,  um 
was  es  sich  eigentlich  handeln  soll. 

Ist  es  nicht  allmähhch  fast  zu  einem  Axiom  geworden,  daß  die 
Philosophie  mit  Thaies  begonnen  habe,  doch  wohlgemerkt  nicht  etwa 
mit  Thaies  als  dem  Weisesten  der  Sieben  Weisen,  sondern  mit  dem 
„Naturphilosophen"  Thaies,  und  daß  sie  bis  zum  Auftreten  desSokrates 
„Naturphilosophie"   gebheben   sei?      Über  die  Gründe   dieser  Auf- 


^o")  Vgl.  meine  Abhandlung:  Das  hippokratische  Wort  von  der  Gott- 
gleichheit  des  „philosophischen"  Arztes. 

101)  Die  Apologie  der  Heilkunst  (Wien  1890),  S.  96.  —  Griechische  Denker, 
1,  242,  238. 


War  Pliilosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  47 

fassung  sind  aber  die  Philosophiehistoriker  nicht  einmal  mit  sich  seilest 
im  reinen,  geschweige  denn  untereina.nder. 

So  gibt  Zeller  an,  nnter  den  Alten  sei  Aristoteles  der  erste,  der 
Thaies  für  den  „Anfangspunkt  der  Philosophie"  erklärt  habe.  Ander- 
wärts gibt  er  dagegen  an,  es  sei  ,, zunächst  allerdings  nicht  die 
griechische  Philosophie  überhaupt,  sondern  nur  die  älteste  Physik", 
deren  d{r/rf/6g  Thaies  von  Aristoteles  genannt  werde^'^^). 

Zeller  widerspricht  sich  also  selbst,  wenn  er  jene  Stelle  der 
Aristotelischen  Metaphysik,  wo  Thaies  als  o  xT^c  Toucvvfjg  aQ/r/yog 
rfüoijoffiac  figuriert^o^),  bald  so  auslegt,  daß  Thaies  für  den  Ur- 
heber der  Philosophie  überhaupt,  bald  so,  daß  er  „nur"  für  den 
Urheber  der  ältesten  Physik  erklärt  werde. 

In  Wirklichkeit  hat  bei  Aristoteles  weder  das  eine,  noch  das 
andere  statt.  Das  eine  nicht,  weil  ja  Thaies  ausdrücklich  für  den 
Urheber  einer  besonderen  ,, Philosophie"  (rz/s  roiavzfjq  fpilooogjlag) 
erklärt  wird.  Welcher  besonderen  ,, Philosophie"  nun?  Der  ältesten 
Physik?    Mit  nichten! 

In  welchem  Zusammenhang  kommt  denn  Aristoteles  überhaupt 
dazu,  Thaies  zum  (coyjjyog  rz/g  Toiavrtjg  ffiloCjorpiag  zu  erklären? 
Auf  der  Suche  nach  den  Anfängen  der  ,, Physik"?  Nein,  sondern 
auf  der  Suche  nach  der  ihm  vorschwebenden  Ijcioti'hu]  tcöv  :;rQ0JTC)r 
dfiy/ör  '/ML  Tojv  airu'jr-^'^),  indem  er  zunächst  eine  kritische 
Musterung  über  seine  wirkhchen  oder  angel3lichen  Vorgänger  abhält. 
Von  diesen  hätten  die  ersten  der  Mehrzahl  nach  die  materiellen  Ur- 
sachen für  die  alleinigen  Prinzipien  aller  Dinge  angesehen;  Thaies, 
o  Tfjg  Toiavxr/g  aQ'/jjyog  (ftÄoöorpiag,  das  Wasser^"^).  Unter  der 
Toiavrr/  <piko6og:ia,  deren  Urheber  Thaies  wegen  der  Lehre,  daß 
alles  aus  dem  Wasser  entstanden  sei,  gewesen  sein  soll,  ist  demnach 
eine  Vorstufe  zu  der  von  Aristoteles  oocfia  schlechthin  und  Erste 
Philosophie,  auch  theologische  Philosophie  und  theologische  Wissen- 
schaft genannten  Metaphysik  zu  verstehen,  nicht  aber  die  älteste 
Physik. 

Freilich  ist  dies  um  so  seltsamer,  als  Aristoteles  lehrt,  wenn  es 
keine  andere  Substanz  außer  den  von  Natur  bestehenden  gäbe,  so 


1Ö2)  Philosophie  der  Griechen,  1%  74.  —  1%  185,  186. 
i"3)  I,  3,  983b,  20. 
'"')  I,  2,  982b,  9. 
10^)  I,  .3. 


48  ii  u  b  e  r  t   Rock, 

wäre  die  Physik  die  Erste  Wissenschaft;  gebe  es  aber  noch  eine  andere, 
eine  unbewegte  Substanz,  so  müsse  auch  die  Wissenschaft  von  ihr 
eine  andere  sein  und  das  sei  die  Erste  Philosophie^"^).  Mit  solcher 
,, Philosophie"  hat  doch  die  Lehre,  daß  alles  aus  dem  Wasser  entstanden 
sei,  niclit  das  mindeste  zu  schaffen. 

Das  Allerseltsamste  ist,  daß  es  vor  Döring  niemand  eingefallen 
zu  sein  scheint,  daran  ernstlich  Anstoß  zu  nehmen.  So  mächtig  wirkt 
die  Autorität  des  Stagiriten  noch  immer  nach.  Döring  findet  Aristoteles 
,,an  dieser  Stelle  von  der  Tendenz  beherrscht,  die  geschichtliche  Ent- 
wicklung in  etwas  gewaltsamer  Weise  einer  Konstruktion  zu  unter- 
ziehen"^*'').  Und  so  verhält  es  sich  in  der  Tat.  Gewaltsame  Begriffs- 
konstruktion geht  hier  mit  gew'altsamer  Geschichtskonstruktion 
Hand  in  Hand. 

Ob  das  einem  Zell  er  entgangen  ist?  Ganz  entgangen  gewiß  nicht. 
\venngleich  er  keinerlei  Einwendung  zu  erheben  hat.  Sonst  wäre  er 
wohl  kaum  darauf  verfallen,  das  Falsche  stillschweigend  durch  etwas 
an  sich  Richtiges  zu  ersetzen,  indem  er  eben  Aristoteles  mit  Thaies 
die  älteste  Physik  eröffnen  läßt.  Das  entspricht  nicht  bloß  den 
geschichtlichen  Tatsachen,  sondern  entspricht  auch  der  bei  den  Alten 
vorherrschenden  und  von  einer  auf  dem  Gebiete  der  Wissenschafts- 
geschichte so  maßgebenden  Autorität  wie  Theophrast  geteilten 
Auffassung. 

In  Theophrasts  4>voiy.al  dö^ai  lesen  wir:    &air/Q  dl  jtqcöto^ 
jiu{K'.6tÖ0Tai    T i] }'    JTfQl    ffi'öscog     ioTO{>ifcr    rote:     EÄlfjöi)- 

Da  hätten  wir  wieder  den  Ausdruck  >)  .~t  tQ  l  fp  v  otcog  iöt  o  (>  / a 
in  dem  mit  den  jüngeren  Ausdrücken  (pvoioloyia  und  (pvoixf/ 
gleichbedeutenden  von  Naturwissenschaft.  Zeller  bezeichnet 
denn  auch  Theophrasts  Werk  ganz  richtig  als  „Geschichte  der 
Physik"!"^),  nicht  wie  BäumkeriiOj  und  Döring^^^)  als  „Geschichte 
der  Naturphilosophie".  Wenn  Naturphilosophie  dasselbe  wie 
Naturwissenschaft  bedeuten  soll,  so  liegt  kein  Grund  vor,  den  ersten 


106)  VI,  1,  1026a,  27;  XI,  7,  1064b,  10. 
"^)  Gesch.  d.  griech.  Philos.  I,  2ö. 

108)  Diels,  Doxographi  graeci,  S.  475. 

109)  Philos.  d.  Griech.,  lll\  812. 

110)  Das  Problem  der  Materie  (Münster  1890),  S.  8. 

111)  Gesch.  d.  griech.  Philos.,  I,  10. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  49 

Ausdruck  dem  zweiten  vorzuziehen.  Wenn  Naturphilosophie  aber 
nicht  dasselbe  wie  Naturwissenschaft  bedeuten  soll,  so  fragt  es  sich, 
was  der  Unterschied  zwischen  beiden  sei  und  weshalb  jener  Ausdruck 
vor  diesem  den  Vorzug  verdiene.  Darum  kümmern  sich  jedoch 
Bäumker  und  Döring  nicht.  Noch  willkürlicher  und  kreführender 
ist  es,  wenn  Gomperz"^)  und  Überweg-Prächter^^)  ^q  <PvOiyMl 
doscu  als  „Philosophiegeschichte",  als  „erste  Geschichte  der  Philo- 
sophie" bezeichnen. 

Dessenungeachtet  bereitet  es  Zeller  selbst  kein  Bedenken, 
Thaies  als  „Stifter  der  jonischen  Naturphilosophie"  hinzustellen 
sowie  die  gesamte  vorsoki-atische  Philosophie  „ihrem  Inhalt  und 
Zweck  nach"  abwechselnd  als  Physik  und  als  Naturphilosophie 
zu  charakterisieren^^*),  als  ob  z^vischen  Physik  und  Naturphilosophie 
kein  Unterschied  wäre  oder  doch  im  Sinne  der  Alten  keiner  zu  machen 
wäre.    Das  ist  falsch. 

,, Physik"  bedeutet  bei  den  Alten  zweierlei:  „Naturwissenschaft" 
und  „Naturphilosophie".  Wie  cpvaioloyia  ist  cpvoixr/  ein  später  auf- 
gekommener Ausdruck  für  den  älteren  :t:6qI  (fvotojQ  iGxoQia  im 
Sinne  von  Naturwissenschaft  als  einer  besonderen  oofpia,  ohne  ein 
Verhältnis  zur  ooffia  Ir  tcö  ßico  mitauszudrücken.  Wo  dies  aus- 
geckückt  werden  soll  und  zwar  so,  daß  „Physik"  als  Teil  der  (paoöoffia 
erscheint,  da  handelt  es  sich  um  ., Naturphilosophie"  {(filooofpia 
fpvoiyji)  im  eigentlichen  Sinne  der  Alten,  dem  es  insofern  an  lüar- 
heit  nicht  gebricht.  In  diesem  Sinne  gehört  die  „Naturphilosophie" 
zum  theoretischen  Unterbau  der  Philosophie  als  Lebensweisheit.  Sie 
gehört  jedoch  nicht  notwendig  dazu.  Sie  kann  fehlen  oder  wenigstens 
eine  so  untergeordnete  Rolle  spielen,  daß  sie  aufhört,  einen  eigenen 
Teil  der  Philosophie  zu  bilden.  Das  hängt  eben  ganz  davon  ab,  worin 
die  Philosophie  als  praktische  Ausübung  einer  bestimmten  Lebens- 
weisheitslehre bestehen  soll.  Ariston  von  Chios  steht  mit  seiner 
Ausschließung  der  Physik  von  der  Philosophie  nicht  allein.  Wenn 
es  von  Ar is tipp  heißt,  daß  er,  das  höchste  Gut  in  die  Lust,  das 
scMmmste  Übel  in  den  Schmerz  setzend,  „die  übrige  Physiologie" 
{rtiv  uXlrjV  (pvoio^.oyiav)  ausgeschlossen  und  erklärt  habe,  das 
einzig  Nützhche  sei  die  Untersuchung,  „was  dir  Böses  und  Gutes  in 

112)  Griech.  Denker  III,  362  f. 

113)  Gesch.  d.  Philos.  d.  Altertums,  10.  Aufl.,  S.  14. 
11*)  Philos.  d.  Griechen,  I^,  180,  159  f.,  164. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII,  1.  •  4 


50  Hubert  Rock, 

deinem  Hause  gescheh"n  sei^^^),  so  ist  er  darin  nur  seinem  Meister 
Sokrates  gefolgt. 

Vor  Xenokrates  und  Aristoteles  hat  es  die  seither  be- 
liebte Dreiteilung  der  Philosophie  in  Logik,  Physik  und  Ethik  über- 
haupt nicht  gegeben,  wenn  sie  auch  „dvmfn.i"'  bei  Piaton  an- 
zutreffen ist^^^).  Den  Namen  Physik  gebraucht  Piaton  noch  nicht  i^^). 
Dem  übrigens  seltenen  Namen  (pLXoooqia  (fvaix/j  begegnen  wir 
zum  ersten  Mal  bei  Aristoteles^^^).  Sonst  sprechen  die  Alten  vor- 
zugsweise vom  „physikalischen  Teil"  der  Philosophie.  Der  Sache  nach 
ist  aber  die  so  verstandene  Naturphilosophie  schon  bei  Pythagoras, 
Xenophanes,  Parmenides,  Heraklit,  Empedokles,  De- 
mo kr  it  vorhanden.  Die  ,, Physik"  ist  bei  ihnen  nicht  wie  bei  Thaies, 
Anaximander,  Anaximenes,  Anaxagoras,  Leukipp  um  ihrer  selbst 
wegen  gepflegte  jrtQi  ffvOsoq  loroQia,  sondern  dient  ihnen  als 
Weltanschauungslehre  zur  theoretischen  Begründung  und  Eecht- 
fertigung  ihrer  Lebensweisheitsbestrebungen. 

Warum  drückt  sich  der  Verfasser  der  Schrift  über  die 
alte  Heilkunde  in  betreff  der  „naturphilosophischen"  Ärzte  und 
Sophisten  so  ungelenk  aus?  Er  sagt  nämhch  (cap.  20):  rsivti  dl 
avxolq  6  Xoyog  eg  cpi2o6o(ph/r,  xaihccjreQ  'EffjreöoyJJ/c  y  (IXloi  ot 
jtsqI  fpvcscoq  ysyQccfpaoir.  Das  ist  doch  kein  grammatisch  ein- 
wandfreier Satz.  Warum  spricht  er  nicht  einfach  von  der  cpiZoaocph/ 
(pvoiycTj  des  Empedokles  und  anderer?  Einfach  deshalb,  weil  man  von 
<p(?.ooog)i7]  (pvaixtj  damals  noch  nicht  gesprochen  hat.  So  spricht  er 
denn  von  Vertretern  der  (pilooocpb],  „die  über  die  Natur  geschrieben 
haben",  worin  bei  ihm,  wie  schon  hervorgehoben  -wurde,  nicht  bloß 
eine  Unterscheidung  zwischen  <pilooog)(r/  {cpvöixrj)  und  {jtsQi  (pvoao^c) 
loroQifj,  sondern  zugleich  eine  Imtische  Entgegensetzung  der 
beiden  liegt.  „Naturphilosophie"  ist  von  seinem  naturwissenschaft- 
hchen  Standpunkte  nichts  anderes  als  Afterwissenschaft  von  der  Natur. 

Theophrast  macht  diesen  Unterschied  nicht  und  von  seinem 
Standpunkte  als  Historiker  der  „Physik"  mit  Recht.  Physikalische 
Lehrmeinungen  bleiben  ihm   physikahsche   Lehrmeinungen,   gleich- 


^^^)  Diels,  Doxographi  graeci,  S.  581. 
11«)  Sext.  Empir.  adv.  niath.  VII,  16. 
11^)  Vgl.  Zeller,  Philos.  d.  Griech.,  11*,  585. 

iiä)  Metaphys.,  VII,  11,  1037a,  14:    rrjg    (pvGixijg   xal    devTiouc    cpilo- 
Gocftug. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  51 

viel,  ob  sie  ihm  wahr  oder  falsch  erscheinen  und  ob  sie  von  Natur- 
forschern oder  von  Naturphilosophen  herrühren  mögen.  Der  Historiker 
ist  dazu  um  so  mehr  gezwungen,  als  die  Naturwissenschaft  nicht 
immer  richtige  Wege  und  die  Naturphilosophie  nicht  immer  falsche 
zu  wandeln  braucht,  abgesehen  davon,  daß  man  Naturforscher  und 
Naturphilosoph  zugleich  sein  kann,  wofür  Theophrast  selbst  ein 
Beispiel  ist.  Auch  Aristoteles  ist  ein  Beispiel  dafür.  Nur  hinkt 
bei  diesem  der  Naturforscher  dem  Naturphilosophen  nach,  während 
es  sich  bei  seinem  Schüler,  Freunde,  Mitarbeiter  und  Nachfolger  im 
Scholarchat  umgekehrt  verhält.  Beide  aber  sind  gleichermaßen  Bei- 
spiele dafür,  daß  auch  in  der  Epoche,  wo  sich  nach  Windelband 
in  der  Philosophie  das  Wesen  des  Griechentums  zu  seinem  begriff- 
hchen  Ausdruck  verdichtet  haben  soll,  der  bestimmende  Grund- 
gesichtspunkt geradeso  wie  beim  Hellenismus  derjenige  der  Lebens- 
weisheit gewesen  ist, 

Theophrast  betreffend  ist  uns  darüber  folgender  wahrscheinlich 
aus  seiner  Schrift  UtQ}  evöaifioviag  stammender  Ausspruch 
auf  lateinisch  überliefert:  Omnis  auctoritas  philosophiae  consistit 
inbeata  vita  comparanda;  beate  enim  vivendi  cupiditate  incensi 
omnes  sumus^^^).  Dasselbe  könnte  Epikur  gesagt  haben  und  er  hat 
es  mit  anderen  Worten  gesagt. 

Wenngleich  uns  Aristoteles  betreffend  kein  einzelner  Ausspruch 
von  solcher  Bestimmtheit  überüefert  ist,  so  könnte  er  ihn  doch  eben- 
sogut getan  haben.  Seine  ethisch-politischen  Schriften  nehmen  sich 
aus  wie  ein  Kommentar  dazu.  Mathematik,  Physik  und  Erste  Philo- 
sophie, die  drei  „theoretischen  Philosophien",  werden  zwar  für  be- 
gehrenswerter {cuQtrcoreQcu)  und  die  Erste  Philosophie  für  die  be- 
gehrenswerteste ^2"),  die  Politik  aber  in  dem  die  Ethik  mitumfassenden 
Sinne,  /}  jteQl  za  dvd-Qojjnra  rpuoöofpia,  wird  für  die  wichtigste 
und  vorzugsweise  führende  Wissenschaft  {xvqicotcct/j  xal  iidhora 
agyitrATorix/j)  erklärt,  von  deren  Entscheidung  es  sogar  abhängen 
soll,  welche  Wissenschaften  in  den  Staaten  notwendig  seien,  welche 
jeder  einzelne  zu  lernen  habe  und  bis  zu  welchem  Grade^^^).  Und 
das  im  Interesse  der  Glücksehgkeit  {tvöaLfiovia),  die  das  Endziel 
aller  menschUchen  Tätigkeit  bilde,  aber  nur  im  Staate  als  „der  Ge- 


119)  Cic.  De  fin.  V,  cap.  29. 

120)  Metaphys.  VI,  cap.  1. 

121)  Eth.  Nicomach.  I,  cap.  1. 

4* 


52  Hubert  Rock, 

meinschaft  von  Geschlechtern  und  Ortschaften  zu  einem  vollkommenen 
und  sich  selbst  genügenden  und  das  heißt  zu  einem  glückseligen  und 
sittlich  guten  Leben"  zu  verwirklichen^^^)  ^^i  j)[q  Politik  kenne 
daher  keine  größere  Sorge,  als  die  Bürger  „so  und  so  beschaffen,  sie 
tüchtig  und  zur  Betätigung  des  Edlen  fähig  zu  machen" ^2^).  Sie 
gipfelt  denn  auch  in  der  Aufstellung  eines  Musterstaats. 

Und  das  soll  der  Philosoph  sein,  von  dem  Zeller  angibt,  daß 
er  das  Gebiet  der  Philosophie  noch  genauer  als  Piaton  begrenze, 
indem  er  die  praktische  Tätigkeit  von  ihr  ausschließe^^i-)? 
Welche  Verblendung!  Piaton  betreffend  bemerkt  dagegen  Zeller 
ganz  richtig:  „Während  w  unter  Philosophie  nur  eine  bestimmte 
Weise  des  Denkens  zu  verstehen  pflegen,  so  ist  sie  dem  Plato  ebenso 
wesentlich  eine  Sache  des  Lebens,  ja  dieses  praktische  Ele- 
ment ist  bei  ihm  das  erste,  die  allgemeine  Grundlage,  ohne  die  er 
sich  das  theoretische  gar  nicht  zu  denken  weiß^^^)."  Nun,  genau  das 
Nämliche  findet  bei  Aristoteles  statt,  soweit  er  Philosoph  zu 
heißen  verdient.  Wo  dies  nicht  stattfindet,  dort  scheidet  sich  eben 
der  (filoöofpoQ  vom  Naturforscher,  vom  Logiker,  vom  Rhetoriker, 
vom  Historiker,  vom  Kunstgelehrten,    kurz  vom  ^l16)myoq,   vom 

öyolaöTixöq. 

Einzelne  Philosophen  hat  es  freilich  im  Altertum  gegeben,  die 
auf  den  Einfall  gerieten,  die  Philosophie  als  die  große  Mutterwissen- 
schaft und,  nicht  zufrieden  damit,  als  Universallehrmeisterin  zu 
feiern.  So  besonders  Posidonius.  Nach  Posidonius  wäre  nicht 
allein  die  Geometrie  als  wh-ldicher  Teil  (pars)  der  Philosophie  an- 
zusehen, sondern  alle  sogenannten  freien  Künste  (artes  liberales) 
sollten  eine  Rolle  innerhalb  der  Philosophie  für  sich  beanspruchen 
dürfen^^e^^  Aber  auch  die  gewöhnhchen  und  niedrigen  Künste  der 
Handwerker  (artes  volgares  et  sordidae  opificum)  sollten  von  der 
Philosophie  erfunden  sein^^-^^  go  daß  Seneca,  der  diese  ungeschichtKche 
Auffassung  der  Philosophie  scharf  und  treffend  kritisiert,  spöttisch 
bemerkt,  es  hätte  nicht  viel  gefehlt,  daß  Posidonius  auch  das  Schuster- 
handwerk als  Erfindung  der  Philosophen  ausgegeben  hätte^"^^).  Die 
Entgleisung  erklärt  sich   daraus,   daß  Posidonius  ebensosehr  Poly- 


122)  Polit.  III,  cap.  9.  126)  Senec.  Epist.  mor.  88,  24. 

1")  Eth.  Nicomach.  I,  cap.  10.  ^^')  Ibid.  88,  21;  90,  7. 

124)  Philos.  d.  Griechen,  I^,  2.  i^s)  jbid.  90,  23. 
1")  Philos.  d.  Griechen,  IIS  609. 


War  Philosophie  den  Alten  jemals  Wissenschaft  schlechthin?  53 

histor  als  eigentlicher  Philosoph  und  zugleich  ein  in  „Hyppi'beln" 
schwelgender  Schönredner  gewesen  ist^^^),  worauf  Seneca  anspielt, 
wenn  er  sagt,  es  sei  unglaublich,  wie  leicht  der  „Zauber  der  Rede" 
(dulcedo  orationis)  selbst  große  Männer  von  der  Wahrheit  abführt  '^^). 
„Die  Hauptaufgabe  der  Philosophie"  lag  aber  auch  für  ihn,  wie  Zeller 
bezeugt,  ,, ausgesprochenermaßen  in  der  Ethik,  sie  ist  die  Seele  des 
ganzen  Systems"^^'). 

Zum  Schluß  möchte  ich  bloß  noch  kurz  darauf  hinweisen,  welche 
Stellung  Kant  zum  Philosophieproblem  eingenommen  hat. 

„In  der  Bedeutung,  wie  die  Alten  das  Wort  verstanden,"  heißt 
es  in  der  ,,Iü'itik  der  praktischen  Vernunft",  war  Philosophie 
„eine  Anweisung  zu  dem  Begriffe,  worin  das  höchste  Gut  zu  setzen 
und  zum  Verhalten,  durch  welches  es  zu  erwerben  sei."  Weiter  heißt 
es:  ,,Es  wäre  gut,  wenn  wir  dieses  Wort  bei  seiner  alten 
Bedeutung  ließen,  als  eine  Lehre  vom  höchsten  Gut,  sofern 
die  Vernunft  bestrebt  ist,  es  darin  zur  Wissenschaft  zu  bringen." 
Anderwärts  heißt  es  noch  entsprechender  im  Sinne  der  Alten:  „Der 
Name  der  Philosophie  ....  seine  erste  Bedeutung:  einer 
wissenschaftlichen  Lebensweisheit".  —  „Sie  ist  das,  was 
schon  ihr  Name  anzeigt:  „Weisheitsforschung".  —  „Der  prak- 
tische Philosoph,  der  Lehre  der  Weisheit  durch  Lehre  und  Bei- 
spiel, ist   der   eigentliche  Philosoph"^^'). 

Wieder  ist  os  Haym,  der  dies  „minder  natürhc.h  und  mehr 
hereingetrafien"^^^)  findet,  derselbe  Haym,  der  schon  im  Jahre  1857 
den  „Zurück  auf  Kant"  !-Rufern  mit  den  Worten  präludierte:  „Schon 
recht,  wenn  man  nicht  müde  wird,  auf  den  ehrlichen  Weg  Kants 
zurückzuweisen"^ ^^).  Wo  aber  sind  die  „Zurück-auf-Kantl"- Rufer, 
die  sich  den  Rat  des  Meisters,  das  Wort  Philosophie  bei  seiner 
alten  und  ersten  Bedeutung  einer  wissenschaftlichen  Lebens- 
weisheit zu  lassen,  zu  Herzen  genommen  hätten? 


129)  Strab.  III,  2,  9. 

"0)  Senec.  Epist.  mor.  90,  20. 

131)  Philos.  d.  Griechen,  IV^,  577. 

132)  Kants  Werke,  herausg.    von   Rosenkranz:    I,    621,    655;    III,    185. 

133)  Ersch  und  Grubers  Allgem.  Encyklop.,  III.  Sekt.  24.  Teil,  S.  10. 
i'4)  Hegel  und  seine  Zeit  (Berlin  1857),  S.  468. 


II. 

Zur  Philosophie  Salomon  Maimons. 

Von 
Dr.  B.  Katz  in  München. 

In  den  letzten  Jahren  hat  nns  der  deutsche  Büchermarkt  zwei 
sehr  ^Yertvolle  Neudinicke  längst  vergriffener  Bücher  von  Salomon 
Maimon  gebracht.  Der  eine  dieser  Neudrucke,  der  sich  mehr  an 
den  Kultlirhistoriker  wendet,  ist  Maimons  Autobiographie  (heraus- 
gegeben von  Jakob  Fromer,  1911,  München).  Der  zweite,  rein  philo- 
sophischen Inhaltes  ist  Maimons  „Versuch  einer  neuen  Logik"  (heraus- 
gegeben von  der  Kantgesellschaft,  Berlin  1912).  Im  Jahre  1912  ist 
auch  das  umfangreiche  Buch  von  Friedrich  Kuntze,  „Die  Philosophie 
Salomon  Maimons",  erschienen,  das  in  gewisser  Beziehung  als  eine 
Ergänzung  zu  den  eben  erwähnten  Neudrucken  betrachtet  werden 
dürfte,  da  nach  dem  Lesen  dieser  Werke  ein  Bedürfnis  nach  einer  all- 
seitigen und  gründlichen  Kenntnis  dieser  eigentümlichen  Philosophie 
wachgerufen  wird.  Dieses  Buch  von  Kuntze,  dem  ohne  Zweifel  ein 
gründliches  Quellenstudium  zugrunde  liegt,  läßt  indes  in  mancher 
Beziehung  einiges  zu  wünschen  übrig,  worauf  ich  hier  hinweisen 
möchte. 

Zuerst  wäre  hinsichtlich  des  Planes  zu  bemerken,  daß  dieser  nicht 
ganz  glücklich  gewählt  sei.  Kuntze  war  nämlich  bemüht,  alles  aus 
der  Philosophie  Maimons  in  seinem  Buch  aufzunehmen,  aber  diese 
allzusehr  ins  Einzelne  gehende  Darstellung  erschwert  manchmal  dem 
Leser  das  Erfassen  des  Hauptsächhchen,  des  Eigentümlichen  in  der 
Mainionischen  Philosophie.  Wenn  auch  Maimon  seine  Gedanken 
„über  eben  dieselben  Gegenstände  bei  verschiedenen  Gelegenheiten 
und  in  verschiedenen  Verbindungen  auf  ganz  verschiedene  Arten" 
(Vorrede  zum  „Versuch  einer  neuen  Loigk",  BerUn  1912,  S.  XXVI) 
erörtert  und  ent\\ickelt,  so  ist  m.E.  eine  Darstellung  dieser  verschiedenen 


Zur  Philosophie  Salomon  Maimons.  55 

Erörterimgen,  falls  sie  der  Sache  nach  nichts  neues  hinzufügen,  gegen- 
standslos. Die  vielen  Darstellungen  eines  und  desselben  Gebietes 
(der  transzendentalen  Ästhetik  etwa)  oder  desselben  Problems  (z.  B. 
des  Ichproblems)  machen  deshalb  einen  Eindruck  der  Zerrissenheit, 
des  künsthch  Zusammengenommenen,  weil  sie  nicht  aus  einem  Prinzip, 
sondern  ganz  isohert,  wie  sie  in  den  verschiedenen  Werken  Maimons 
vorliegen,  behandelt  werden.  So  haben  wir  einerseits  eine  Darstellung 
der  transzendentalen  Ästhetik  nach  dem  ,, Versuch  über  die  Trans- 
zendentalphilosophie", anderseits  aber  auch  eine  DarsteUuug  desselben 
Gebietes,  nach  dem  „Versuch  einer  neuen  Logik"  und  den  ,,Ivritische 
Untersuchungen".  Dasselbe  Verfahren  begegnet  uns  bei  der  Behand- 
lung der  transzendentalen  Analytik  und  Dialektik.  Bedenkt  man, 
daß  Kuntze  die  unzählig  vielen  Probleme,  die  in  diese  Gebiete  hinein- 
gehören,  nach  eben  diesem  Prinzip,  oder  besser  gesagt,  nach  gar 
keinem  Prinzip,  behandelt,  so  wd  einem  jeden  die  Unzulänglichkeit 
dieses  Planes  einleuchten.  War  nun  Kuntze  wenig  bemüht,  Maimons 
Philosophie  als  ein  Ganzes  darzustellen,  so  vermissen  wir  auch  bei 
ihm  hinsichtlich  vieler  einzelner  Probleme  Klarheit  und  Bestimmtheit. 
Wir  finden  z.  B.  in  seinem  Buche  nngends  eine  Erklärung,  warum 
Maimon  in  seinem  Erstüngs werke,  dem  ,, Versuch  über  die  Trph." 
den  synthetischen  Charakter  der  mathematischen  Sätze  nicht  zu- 
gibt, in  seinen  späteren  Werken  dagegen  den  Kantischen  Standpunkt 
vertritt.  „Daß  die  Mathem.atik  synthetische  Sätze  hat,"  heißt  es 
in  den  ,, Streif ereien  im  Gebiete  der  Philosophie",  über  die  Progressen 
der  Philosophie  (S.  50),  ,,ist  außer  allem  Zweifel,  und  mich  wundert, 
wie  man  noch  darüber  streiten  kann  ? . . .  Wodurch  ist  aber  die  kii- 
tische  Philosophie  imstande  zu  beweisen,  daß  wir  synthetische  Er- 
fahrungssätze haben?"  In  eben  denselben  „Streifereien"  („Philo- 
sophischer Briefwechsel")  gibt  Maimon  sogar  ein  Imterium  an,  nach 
dem  man  eine  objektive  Notwendigkeit  von  einer  subjektiven  unter- 
scheiden könnte:  ,,Die  Objekte  dir  Wahrnehmung  setzen  eine  Be- 
dingung im  Subjekt  voraus,  wenn  ilire  Verhältnisse  als  notwendig 
erkannt  werden  können.  Die  Objekte  der  Mathematik  hingegen 
setzen  keine  solche  Bedingung  im  Subjekte  voraus.  Ich  denke 
die  gerade  Linie  notwendig  als  die  kiü'zeste;  ich  mag  sie  zum  ersten- 
mal vorstellen  oder  ihre  Vorstellung  schon  oft  wiederholt  haben.  Das 
Urteil  hingegen:  Feuer  schnülzt  das  Wachs,  ist  notwendig  bei  mii- 
erst  nach  einer  vom  Zufall  oder  von  meinem  WiUen  a])hängenden 


56  B.   Katz, 

öfteren  AVicderholung  dieser  Walirneliniuni,'  entstanden,  es  ist  also 
hier  bloß  eine  subjektive  Nötigung,  alier  keine  ol3Jektive  Notwendig- 
keit" (S.  193).  Man  vergleiche  diese  angeführte  Stelle  mit  den  S.  172 
bis  175  im  „Vers.  üb.  d.  Trph.",  wo  Maimon  den  synthetischen  Cha- 
ralrter  der  mathematischen  Sätze  eindeutig  bezweifelt.  Im  Gegensatz 
zu  dem  eben  Angeführten  äußert  sich  Maimon,  daß  das  Urteil:  ,,Eine 
gerade  Linie  ist  die  kürzeste  zwischen  zwei  Punlrten"  daher  rühren 
kann,  „weil  ich  es  immer  so  wahrgenommen  habe,  daher  ist  es  bei 
mir  subjelrtiv  zur  Notwendigkeit  geworden"  (S.  173).  Maimon  gibt 
auch  den  Begriff  der  objektiven  Notwendigkeit  nicht  zu,  weil  der 
Ausdruck  ,, objektive  Notwendigkeit"  gar  keine  Bedeutung  hat,  ,, in- 
dem Notwendigkeit  immer  einen  subjektiven  Zwang  etwas  als  wahr 
anzunehmen  bedeutet"  (S.  175),  Wo  mag  der  Grund  für  diese  zwei 
entgegengesetzte  Behauptungen  liegen?  Wir  finden  auch  bei  Kuntze 
gar  keine  Antwort,  nach  welcher  Seite  Maimon  bemüht  war,  die  Kan- 
tische Philosophie  fortzubilden.  Liegt  doch  einerseits  bei  Maimon 
ein  Bestreben  vor,  ,,Leibnizen  mit  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  aus- 
zusöhnen" (über  die  Progressen  der  Philosophie,  S.  29),  anderseits 
aber  ein  Versuch  zu  zeigen,  daß  „der  Unterschied  zwischen  dem  Hume- 
schen Skeptizismus  und  dem  Kantischen  nicht  so  groß  ist,  wie  man 
uns  überreden  will  (Philosophisches  Wörterbuch,  S.  221). 

Auch  in  der  Darstellung  des  Satzes  der  Bestimmbarkeit  fehlen 
m.  E.  l)ei  Kuntze  Erläuterungen,  die  für  das  Verständnis  unentbehrlich 
sind.  Der  Ausgangspunkt  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  ist  be- 
kanntlich die  Frage  nach  der  MögMchkeit  synthetischer  Urteile  a  priori. 
AVeder  die  mathematischen,  noch  die  naturwissenschafthchen  Urteile 
können  nach  Kant  ihre  Begründung  in  dem  Satze  des  Widerspiuches 
finden,  weil  man  diesem  zufolge  die  gerade  Linie  z.  B.  mit  eben- 
demselben Recht  nicht  als  die  kürzeste  denken  könnte  („gerade" 
und  „nicht  die  kürzeste"  widersprechen  einander  nicht).  Kant  sah 
sich  deshalb  gezwungen,  ganz  andere  Prinzipien  für  die  Begründung 
der  mathematischen  und  naturwissenschaftlichen  Erkenntnisse  an- 
zunehmen. Nun  sind  aber  nach  Maimon  die  von  Kant  aufgestellten 
Prinzipien  für  die  Begründung  der  realen  Wissenschaften  nicht  hin- 
reichend. MögMchkeit  der  Darstellung  sei  nämUch  deshalb  kein  Prinzip 
a  priori,  weil  man  vor  der  wirklichen  Konstruktion  eines  ein- 
zelnen Objektes  nie  a  priori  behaupten  kann,  ob  es  darstellbar  sei 
oder  nicht.   Wir  denken  dieses  bestimmte  Objelvt  auf  diese  bestimmte 


Zur  Philosophie  Salomon  Maimons  57 

Art  (ein  Dreieck  etwa  als  Raum  in  cli-ei  Linien  eingeschlossen),  nicht 
weil  wir  es  einun  allgemeinen  Gesetze  gemäß  so  und  nicht  anders 
denken  müssen,  sondern  weil  es  in  der  Konstruktion  nicht  anders  dar- 
gestellt wird.   Die  Ivi'itik  der  reinen  Vernunft  gibt  somit  kein  Merkmal 
an,  woran  man  a  priori  erkennen  könnte,  ob  ein  gegebenes  Objekt 
darstellbar  sei  oder  nicht.  Maimon  greift  aber  auch  das  zweite  Prinzip 
(Möglichkeit  der  Erfahrung)  der  Kantischen  Erkenntnistheorie  an, 
weil  sie  Erfahi'ung  (im  Kantischen  Sinne)  als  ein  unbewiesenes  Fak- 
tum voraussetzt,  „ein  Skeptiker  aber,  der  Erfahrung  selbst  in  Zweifel 
zieht,  wird  auch  die  Reahtät  dieser  Prinzipien  bezweifeln"  (Streifereien 
im   Gebiete   der  Philosophie,   Philosophischer   Briefwechsel,   S.  191). 
Maimon  wiU  nun  einen  Grundsatz  ausfindig  machen,  der  dieselbe 
Bedeutung  für   die  realen  Wissenschaften  haben  soll,   welche   der 
Satz  des  Widerspruches  für  die  Logik  hat,  d.  h.  so  wie  wh-  von  dem 
letzteren  a  priori  aussagen  können,  daß  er  die  Bedingung  aller  Objekte 
überhaupt  ist,  so  soll  dieser  Satz  die  Beding img  a  priori  eines  jeden 
realen  Objekts   überhaupt  sein.      Maimon  nennt  diesen  Grundsatz 
„Satz  der  Bestimmbarkeit".   Nach  diesem  machen  zwei  Vorstellungen 
dann  und  um-  dann  eine  reelle  Einheit  aus,  wenn  sie  in  einem  ein- 
seitigen Verhältnis   zueinander   stehen,   d.  h.   dann,   wenn   die   eine 
dieser  Vorstellungen  auch  an  sich  ohne  die  andere  vorgestellt  werden, 
die   andere   dagegen  nur   in  Verbindung   mit  der  zweiten  gedacht 
werden  kann.     Ein  „rechter  Winkel",  ein  „rechfcwinldiges  Dreieck" 
sind  deshalb  reelle  und  nicht  logische  Objekte,  weil  ihre  Glieder  diesem 
Gresetze  gemäß  verknüpft  sind  (Winkel  kann  auch  ohne  seine  Be- 
stimmung ,, rechter"  gedacht  werden,  nicht  aber  umgekehrt,  dasselbe 
ist  auch  bei  dem  rechtwinkligen  Dreieck).    Der  Satz  der  Bestimmbar- 
keit und  nicht  die  Anschauung  ist  somit  nach  Maimon  der  Grund  der 
Objektivität.   Dieser  Satz  der  Bestimmbarkeit,  der  schon  in  dem  Erst- 
lingswerke  aufgestellt   worden  ist,   wird  als  Verstandesprinzip   auf- 
gefaßt und  die  mathematischen  Objekte  werden  als  denkuotwenclig 
betrachtet,  weil  ihnen  dieses  Verstandesprinzip  zugrunde  liegt.    .,Ein 
Dreieck  z.  B.  ist  eine  vom  Verstände  (nach  dem  Gesetze  der  Bestimm- 
barkeit und  der  Bestimmung)  hervorgebrachte  Einheit"  (Vers.  üb. 
d.  Trph."  S.  21).    Nun  begegnet  uns  aber  schon  im  „Philosophischen 
Wörterbuch"  eine  ganz  andere  Auffassung.     Hier  vertritt  die  Ein- 
bildungski'aft  die  Funktion  des  Verstandes  und  die  mathematischen 
Objekte    werden    als    ,, notwendige  Erdichtungen"    (Philosophisches 


58  B.  Katz, 

Wörterbuch  S.  37)  betrachtet.  Auch  die  Kategorien  werden  hier  als 
..transzendentale  Erdichtungen  der  Einbildungslvraft"  (Philosophisches 
Wörterbuch  S.  20)  aufgefaßt.  Kuntze  referiert  freihch  von  diesen 
verschiedenen  Zuständen,  die  der  Satz  der  Bestimmbarkeit  angenommen 
hat  (S.  52 — 68);  wir  finden  aber  nhgends  darüber  Aufschluß,  aus 
welchen  Gründen  Maimon  sich  gezwungen  sah,  diese  Änderungen 
vorzunehmen.  Die  sein*  wichtige  Frage  von  dem  Verhältnis  der  Ein- 
bildungskraft zum  Verstände,  wh*d  von  Kuntze  fast  gar  nicht  berührt, 
denn  die  Bemerkung,  ,,daß  auch  Kant  über  das  Wesen  der  Einbildungs- 
kraft sich  nicht  mit  vollkommener  Eindeutigkeit  ausgesprochen  hat" 
(S.  360),  wird  doch  kaum  als  eine  Erklärung  gelten  können. 

Zum  Schlüsse  möchte  ich  noch  bemerken,  daß  es  völlig  unverständ- 
hch  ist,  warum  Kuntze  flu*  die  Darstellung  eines  so  tief-  und  scharf- 
sinnigen Philosophen,  wie  Maimon  war,  eine  Methode  wählte,  die 
ganz  ungeeignet  ist,  dem  Leser  das  Verständnis  dieser  Philosophie 
näherzm'ücken.  In  diesem  umfangreichen  Buche  gehört  ein  sehr 
kleiner  Teil  dem  Verfasser  selbst  an,  der  größte  Teil  dagegen  whd 
meist  (also  auch  dort,  wo  Kuntze  darstellt  und  nicht  zitiert)  wörtUch 
aus  Maimons  Werken  ohne  jede  Erklärung  wiedergegeben.  Ich  könnte 
unzählig  viele  Beispiele  als  Beleg  flu-  diese  Behauptung  heranziehen, 
weil  ja  das  ganze  Buch  nach  eben  diesem  Plan  angelegt  ist,  aber  das 
NRirde  zu  weit  führen,  ich  begnüge  mich  also  nur  mit  einem  einzigen. 
Am  Anfange  des  Bucehs  macht  uns  Kuntze  mit  Maimons  erkenntnis- 
theoretischem Standpunkte,  mit  jenem  Maimonischen  Ideahsmus 
bekannt,  als  dessen  Kennzeichen  Kuntze  eine  „besondere  Auffassung 
von  der  Bewußtseinsimmanenz  der  Gegenstände  des  Erkennens  und 
durch  eine  besondere  Skepsis  gegenüber  der  Realität  der  empirischen 
Erkenntnis"  (S.  40)  bezeichnet.  Als  eine  Erörterung  dieses  eben  er- 
wähnten Immanenzproblems  führt  Kuntze  eine  Stelle  aus  dem  Ver- 
suche über  die  Transzendentalphilosophie  an,  wo  es  heißt,  daß  Maimon 
„mit  dem  IdeaUsten  die  subjektive  Immanenz  von  Materie  und  Form 
behauptet  und  zugleich  mit  dem  Reahsten,  daß  Materie  und  Form  der 
Anschauung  einen  objektiven  Grund  haben  müsse.  Wähi*end  aber 
der  Reahst  diesen  objektiven  Grund,  d.  i.  diese  Objekte  als  an  sich  be- 
stimmt annimmt,  sieht  Maimon  in  ihnen  bloß  Ideen,  die  nur  durch  die 
AVahrnehmung  und  in  dieser  bestimmt  werden,  wie  die  Differentiale 
durch  ihre  Integrale"  (S.  41).  Diese  Stelle,  die  Kuntze  ohne  jede  Er- 
klärung wörthch  aus  dem  Vers.  üb.  d.  Trph.  überträgt,  genügt  m.  E, 


Zur  Philosophie  Salomon  Maimons.  59 

bei  ^Yeitenl  nicht,  dem  Leser  irgendwelche  bestimmte  Vorstellung  von 
Maimons  Auffassung  der  Materie  zu  geben,  weil  der  Leser  doch  nicht 
weiß,  was  Maimon  unter  ..Ideen"  versteht.  Aber  auch  anf  Seite  73, 
wo  Kuntze  den  Begriff  der  Materie  in  einem  anderen  Zusammenhange 
behandelt,  fehlt  eine  klare  Auseinandersetzung  dieses  Begriffes. 
„Maimon",  heißt  es  hier  ^Yiederura,  „sieht  in  den  Dingen  nur  Ideen 
oder  an  sich  voUkommen  unbestimmte  Objekte,  die  nur  durch  die 
Wahrnehmung  und  in  der  Wahrnehmung  bestimmt  sind,  wie  die 
Differentiale  durch  die  Integrale."  Da  nun  Kuntze  die  systematische 
Bedeutung  der  Ideen  für  die  Philosophie  Maimons  nicht  klar  genug 
dargestellt  hat,  so  möchte  ich  hier  in  aller  Kürze  dies  nachholen. 
Maimon  erklärt  in  seinem  letzten  Werke  ,,Ivricisehe  Untersuchungen", 
daß  er  unter  Ideen  Vorstellungen  verstellt,  ,,die  nicht  in  einem  Ob- 
jekte völlig  darstellbar  sind,  zu  deren  völligen  Darstellung  aber  man 
sich  immer  nähern  kann,  bis  ins  Unendliche"  (S.  155).  Dieser  Er- 
klärung zufolge  sind  die  unendlich  kleinen  Größen,  die  ^rationalen 
Zahlen  Ideen.  Es  gibt  nämlich  keine  Zahl,  weder  unter  den  ganzen, 
noch  unter  den  gebrochenen,  deren  Produkt  gleich  zwei  wäre,  und 
doch  können  wir  uns  einer  solchen  Zahl  bis  ins  Unendliche  nähern; 
|/2  ist  somit  eine  Idee.  Für  Maimon  ist  auch  die  Materie,  die  ein  un- 
vollständiges Bewußtsein  bedeutet,  eine  Idee,  denn,  ..diese  Unvoll- 
ständigkeit  des  Bewußtseins  kann  von  einem  bestimmten  Bewußtsein 
bis  zum  völligen  Mchts  dm'ch  eine  abnehmende  Keihe  von  Graden 
gedacht  werden,  folglich  ist  das  bloß  Gegebene  (dasjenige,  was  ohne 
alles  Bewußtsein  der  Vorstellungskraft  gegenwärtig  ist)  eine  bloße 
Idee  von  der  Grenze  dieser  Keihe,  zu  der  {me  etwa  zu  einer  irratio- 
nalen Zahl)  man  sich  immer  nähern,  die  man  aber  nie  erreichen  kann". 
(Vers.  üb.  d.  Trph.  S.  409—20). 

Maimon  nennt  deshalb  die  Materie  „Differential"  oder  ,.ein  un- 
endlich kleines",  weil  auch  diese  in  der  Mathematik  als  Grenzverhält- 
nisse eines  unendlichen  Prozesses  betrachtet  werden  müssen.  So 
wie  wir  aber  in  der  höheren  Mathematik  zur  Lösung  konki-eter  Auf- 
gaben gezwungen  sind,  unendHch  kleine  Größen  einzuführen,  ob- 
gleich diese  als  selbständige  Größen  nicht  existieren,  so  können  wir 
auch  die  Materie  als  etwas  ansehen,  dem  zwar  keine  selbständige 
Existenz  zukommt,  die  aber  doch  den  Grund  der  Existenz  bildet. 
Maimon  glaubte  durch  seine  Vorstellung  der  Materie  die  Frage: 
quid  juris  (die  Anwendung  reiner  Verstandesformen  auf  x\nschauungen) 


60  B.  Katz. 

lösen  zu  können  und  er  bezeichnet  deshalb,  mit  Recht,  das  meta- 
physisch unendhch  Kleine  als  real,  weil  doch  auch  für  den  Mathe- 
matiker nur  derjenige  Begriff  für  real  gilt,  der  zur  Begründung  oder 
zur  Erfindung  neuer  Wahrheiten  verhilft.  Man  muß  nach  Maimnn 
eine  jede  Vorstellung,  z.  B.  die  Vorstellung  „rot",  um  sie  begreifen 
zu  können,  aus  unendlich  vielen  an  sich  unselbständigen  Bewußt- 
scinselementen  zusammengesetzt  denken,  genau  so,  wie  man  jede 
uns  in  der  Anschauung  gegebene  Linie  aus  unzähUg  \ielen  Punkten 
bestehend  denken  muß.  Es  gibt  somit  unzähhg  viele  unselbständige 
Vorstellungen  im  Denken  überhaupt,  die  an  sich,  ehe  sie  durch  die 
Verstandesformen  verknüpft  worden  sind,  noch  gar  kein  Bewußtsein 
ergeben.  Erst  dadurch,  daß  der  Verstand  diese  Elemente  durch  seine 
Verstandesformen  verknüpft,  werden  sie  zu  reellen  Objekten  und 
können  uns  vermittelst  der  Anschauungsformen  der  Einbildungs- 
kraft (Raum  und  Zeit)  bewaißt  werden;  der  Verstand  ist  somit  nach 
Maimon  der  Schöpfer  der  Welt.  Aus  den  Wirkungen  aber  der  Ein- 
bildungslvraft  (Maimon  nennt  dieselbe  eine  ,,Nachäfferin  des  Ver- 
standes"), die  die  sinnlichen  Gegenstände  in  Zeit  und  Raum  ordnet, 
müssen  w  1  r  auf  die  Wirkungen  des  Verstandes  schUeßen.  Wir  müssen 
demgemäß  voraussetzen,  daß  die  Aufeinanderfolge  sinnlicher  Ob- 
jekte nach  einer  Regel  in  der  Zeitfolge  in  dem  logischen  Verhältnis, 
w^orin  die  Differentiale  miteinander  stehen,  begründet  ist.  Wenn 
es  nun  wahr  ist,  daß  wir  Erfahrungsurteile  (im  Kantischen  Sinne) 
haben,  so  ist  nach  Maimons  Theorie  die  Frage:  quid  juris  dadurch 
zu  erklären,  daß  die  reinen  Verstandesbegriffe  auf  die  Elemente  der 
Erscheinungen  apphziert  w^erden.  Diese  Elemente,  die  einen  Grenz- 
begriff zwischen  dem  reinen  Denken  und  der  Anschauung  bilden, 
wodurch  beide  rechtmäßig  verbunden  werden,  sind  nach  Maimon 
real.  Sie  sind,  so  wie  die  Differentiale  dy,  dx  in  Ansehung  der  An- 
schauung gleich  o;  „ihre  Verhältnisse  aber  sind  nicht  gleich  o,  son- 
dern können  in  den  aus  ihnen  entspringenden  Anschauungen  be- 
stimmt angegeben  w^erden"  (Vers.  üb.  d.  Trph.  S.  33).  Man  wird, 
so  glaube  ich,  jetzt  verstehen  können,  w^arum  Maimon  die  Materie 
als  Differential  ansieht,  weil  auch  sie  nur  im  Zusammenhange,  nicht 
aber  als  selbständige  Größe  betrachtet  w^erden  darf. 

Aus  diesen  Bemerkungen  wird  man  ersehen  können,  daß  Kuntzes 
Buch  das  Wesenthche  vermissen  läßt:  eine  einheitliche  und  syste- 
matische Darstellung  der  Maimonischen  Philosophie. 


III. 

Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke. 

Von 
Dr.  Hermann  Büchel. 

Lockes  Einfluß  auf  die  Philosophie  der  neueren  Zeit,  besonders 
bis  zu  Kant  und  die  Beherrschung  der  enghsehen  Gedankenwelt 
bis  auf  unsere  Tage  dm-  h  ihn  ist  unschwer  festzustellen.  Weniger 
leicht  ist  der  Einfluß  Lockes  auf  das  Erziehungswesen  der  Völker  zu 
umschreiben.  Er  gehört  närahch  zu  den  pädagogischen  Denkern,  denen 
unmittelbarer  praktischer  Erfol»'  in  größerem  Umfange  zunächst  ver- 
sagt bheb.  An  den  gelehrten  Schulen  Englands  haben  sich  seine  päda- 
gogischen Gedanken,  z.  B.  die  über  eine  mildere  Schulzucht,  erst 
im  19.  Jahrhundert  dm'chgesetzt  und  dieser  Erfolg  hing  auch  von 
Geistern  zweiten  Grades  ab,  bei  denen  die  Gedankengänge  und  -einflüsse 
nicht  immer  deutüch  erkennbar  sind.  Das  letztere  ist  auch  sonst  in  der 
Geschichte  der  Pädagogik  nicht  selten,  wo  außer  den  rein  pädago- 
gischen noch  religiöse,  soziologische  und  pohtische  Einflüsse  sich  be- 
sonders stark  geltend  machen,  so  daß  die  Teilkräfte  in  ihrer  endhchen 
Resultante  oft  nur  sozusagen  gefühlsmäßig  auseinander  zu  halten 
sind. 

Das  gilt  besonders  auch  für  den  großen  Nachfahren  Lockes,  den 
Gefühlsmenschen,  den  Repubhkaner,  den  Genfer  Puritaner  J.  J. 
Rousseau.  Durch  diesen  weltfremden  Schwärmer  sind  Lockes  Gedanken 
hindurchgegangen,  um  auf  die  Welt  zu  wirken,  in  anderer  Form,  anders 
geschhffen,  mit  anderem  Glänze,  gepaart  mit  neuen  Ideen  und,  der 
Kampfeswkung  wegen,  in  verzerrte  Form  gebracht.  Rousseau  hat 
nicht  zum  wenigsten  außer  durch  seine  Werke  und  deren  Stil  und 
Formen,  auch  durch  sein  Leben  gewkt,  das  zwar  ki'anldiaft  war, 
aber  doch  von  großen  Gedanken  getragen  wurde.  Das  ist  bei 
einem    Pädagogen    immer    von  nicht   zu   unterschätzendem   Werte. 


62  Hermann  Büchel, 

Wie  sehr  versdiieden  von  den  Einsiedler  von  Montmorency,  von 
seiner  Art  und  Weise,  die  Welt  denkend  und  fühlend  zu  erfassen,  ist 
das  Leben  Lockes.  Es  wirde  ausgefüllt  von  der  Suche  nach  der  Wahr- 
heit. Er  kannte  die  Welt  von  mancherlei  Seiten,  war  Arzt,  praktischer 
Naturwissenschaftler  und  Philosoph,  daneben  aber  auch  matter  of 
fact  Briton.  Er  entwickelte  die  von  Descartes  begründete  empirische 
Psychologie  weiter  und  war  insofern  das  Haupt  einer  Schule,  um  dessen 
Fahnen  sich  sammelten:  in  Franla-eich  Coiulillac,  in  Deutschland 
Herbart,  in  England  Hume,  die  Schotten,  und  dann  eben  die  Vertreter 
der  neueren  Psychologie.  Daneben  ist  Locke  als  der  Begründer 
einer  Erkenntnislehre  als  selbständigen  Faches  anzusehen. 

Locke  stand  aber  auch  mitten  im  politischen  Leben;  er  wirkte 
sozial  und  ist  im  gewissen  Sinne  der  Vater  des  neuzeitlichen  Ver- 
fassungslebens. Er  hat  u.  a.  in  dem  Streit  um  die  Neugestaltung 
Englands  nach  der  Vertreibung  der  Stuarts  den  Grundsatz  der  Trennung 
von  gesetzgebender  und  ausübender  Gewalt  mit  Bestimmtheit  ent- 
wickelt. Er  kämpfte  und  entbehrte  auch  für  seine  Ansichten  und  lebte 
lange  Zeit  freiwillig  oder  verfolgt  in  der  Verbannung.  Als  Beamter. 
Hauslehrer,  Pohtiker  und  Schriftsteller  stand  er  im  Leben ;  als  letzterer 
war  er  auch  mittelbar  einer  der  Mitbegründer  der  englischen  Volks- 
wirtschaftslehre. 

Das  sind  eine  Anzahl  von  Seiten  und  Zügen,  die  das  Bild  eines 
Philosophen  ergeben,  wie  er  auf  dem  Festland,  in  Deutschland  jeden- 
falls, selten  oder  gar  nicht  vorhanden  ist,  in  England  aber  noch  heute 
vorkommt:  der  gentleman,  der  sich  im  täglichen  Leben  nach  allen 
Seiten  betätigt  und  aus  diesem  Leben  seine  Philosophie  praktisch 
schöpft.    Das  ist  wichtig,  auch  für  die  Beurteilung  seiner  Pädagogik. 

Locke  ist  der  Begründer  des  enghschen  Sensuahsmus.  Nicht  ge- 
wisse allgemeine  Sätze  sind  nach  ihm  im  Bewußtsein  vorhanden, 
die  sich  dann  etwa  durch  die  Erfahrung  mit  Lihalt  füllen,  sondern 
die  sinnliche  Erfahrung  ist  der  Ursprung  unserer  Erkenntnis.  Die 
Sinne  geben  uns  zuerst  einfache  Ideen  ^),  d.  h.  bei  ihm  Vor- 
stellungen etwa  im  Sinne  Herbarts.  Nach  Locke  kann  der 
menschhsche    Geist    „allein    durch    die    Ausübung    der    ihm    ange- 


^)  Daneben  gibt  es  aber  auch  moralische  und  abstrakte  „Ideen",  und 
es  ist  wicht' g,  daß  diese  nicht  vernachlässigt  werden.  Conduct  of  the 
Unterstanding  §  9. 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  63 

borenen  Fähigkeiten  gewisse  allgemeine  Wahrheiten  oder  Ideen  (aus 
den  einfachen)  unfehlbar  erreichen".  Einfache  Wahrheiten  sind  die 
Töne,  Farben,  das  Widerstandsgefühl  des  Tastsinns,  Vorstellungen 
der  Ausdehnung  und  Bewegung.  Aus  der  Summe  häufiger  derartiger 
einfacher  Ideen  entsteht  die  allgemeine  Vorstellung,  mit  anderen 
Worten:  zur  Empfindung,  der  Sensation,  gestellt  sich  die  Reflexion  ^), 
und  diese  beiden  allein  gewähren  die  Erkenntnis,  die  also  von  der 
Erfahrung  auf  die  Seele,  ursprünghch  nichts  als  a  white  paper,  ge- 
schrieben ist. 

Der  menschhche  Geist  nimmt  also  die  Sinneseindrücke  ledighch 
auf  und  fügt  sie  zu  allgemeinen  Vorstellungen  zusammen,  die  er  dann 
durch  Worte  festlegt.  Die  Worte  werden  durch  Gedanken  verbunden. 
Damit  hört  aber  schon  die  Sicherheit  der  menschhchen  Erfahrung 
auf,   der  Irrtum  beginnt. 

Es  kann  hier  nicht  auf  die  mant^hmal  noch  etwas  unklare  Lockesche 
Erkenntnislehre  eingegangen  werden.  Wichtig  ist  für  das  Folgende  so- 
wohl als  auch  füi-  die  Stellung  Lockes  zum  pedantischen  Humanismus 
die  Betonung  der  Idee  und  der  sinnhchen  Walirnehmung  vor  den 
Worten.  Die  spätere  Pädagogik  der  Humanisten,  der  Ciceronianis- 
mus,  legte  allen  Wert  auf  Worte  und  grammatische  Formen.  Der 
ReaHsmus,  der  sich  frühzeitig,  z.  B.  bei  Rabelais,  geltend  machte, 
drang  auf  Sachen,  auf  den  Inhalt  der  Formen.  Bei  Locke  wird  dieser 
Reahsmus  auch  natm"^\issenschafthch. 

Locke  selbst  war  als  Kind  seiner  Zeit,  als  fleißiger  Westminster- 
schüler  und  Student  von  Oxford  dm'chaus  humanistisch  gebildet. 
Er  war  auch  selbst  Lektor  und  Repetitor  des  Griechischen,  bevor  er  ins 
politische  Leben  übertrat.  In  den  Famihen  seiner  Freunde  und  Be- 
kannten beobachtete  er  in  dieser  Zeit  das  Leben  der  Ivinder  und 
machte  sich  darüber  die  Gedanken,  die  er  in  Briefen  an  seinen  Freund 
Clarke  1684  und  1685  aussprach  und  die  1693  in  Buchform,  ziemhch 
ungeordnet,  als  Sonie  thoughts  concerning  Education  erschienen.  Sie 
wiirden  schon  1695  von  Corte  ins  Französische  und  von  anderen  in 
verschiedene  Sprachen  übersetzt.  Rousseau,  Helvetius,  Leibnitz  be- 
faßten sich  mit  ihnen. 

Locke  vereinigt   verschiedene  erzieherische  Richtungen  in  sich. 


-)  die  am  besten  streng  folgerichtig    ohne  Sprung  wie  in    der  Mathe- 


matik vor  sich  geht. 


64  Hermann  Büchel, 

In  der  Hauptsache  ist  er  aber  der  bedeutendste  Vertreter  derjenigen, 
die  von  den  Engländern  the  disciplinary  genannt  wird,  der  es  nämlich 
eher  um  die  Art  des  Lernens  als  einer  geistigen  und  sittlichen  Zucht, 
als  um  das  Gelernte  und  dessen  Form  zu  tun  ist.  Er  unterscheidet 
sich  darin  etwas  von  Rabelais,  von  dem  er  sonst  beeinflußt  ist.  Dieser 
stellt  entgegen  dem  Formalismus  des  ]\Iittelalters  ein  allerdings  weit 
über  einzelmenschhches  Maß  hinausgehendes  Bildungsziel  auf,  in 
dem  auch  eine  unheimliche  Menge  von  Lernstoff  vorkommt.  Es  ist 
das  Bildungsideal  für  die  Menschheit,  Gargantua  eine  Verkörperung 
dieser. 

Locke  umschreibt  das  Ziel  der  Erziehung  folgendermaßen: 

,,Das  große  Werk  des  Erziehers  ist  to  fashion  the  carriage  and 
to  form  the  mind ;  in  seinem  Zögüng  gute  Gebräuche  (habits j  und  die 
Grundsätze  der  Tugend  und  Weisheit  festzulegen.  To  work  him  into 
a  love  and  Imitation  of  what  is  exellent  and  praiseworthy,  und  ihm 
in  der  Verfolgung  davon  (dieser  Ziele)  Ivraft,  Tätigkeitsdrang  und 
Ausdauer  zu  verleihen.  Die  Studien,  welche  er  ihn  machen  läßt,  sind 
nm*  Übungen  seiner  Fähigkeiten  und  Ausnutzung  seiner  Zeit,  um 
ihn  von  Schlendi'ian  und  Müßiggang  abzuhalten,  ihm  Anwendung  zu 
lehren  und  ihn  an  Mühen  zu  gewöhnen,  ihm  ein  wenig  Verständnis 
für  dasjenige  zu  verschaffen,  was  seine  eigene  Tätigkeit  vervollstän- 
digen muß." 

Das  ist  die  allgemeine  Erziehungs Vorschrift,  die  übrigens  für 
Söhne  höherer  Stände  gedacht  ist.  Die  wichtigsten  Grundsätze  Lockes 
sind:  1.  in  der  körperlichen  Erziehung  die  Abhärtung,  2.  in  der  geistigen 
Erziehung  der  praktische  Nutzen,  3.  in  der  morahschen  Erziehung 
der  Grundsatz  der  Ehre  als  Regel  für  die  Leitung  freier  Menschen. 
Unter  praktischem,  Nutzen  ist  nicht  nur  der  fürs  Leben  gemeint,  sondern 
auch  der  sitthche  und  der  für  die  Ausbildung  der  Fähigkeiten  des 
Schülers;  dieser  soll  weniger  die  Dinge  gelernt  bekommen,  als  viel- 
mehr lernen,  selbst  zu  denken  und  zu  arbeiten. 

Die  Ziele  der  Lockeschen  Erziehung  sind  Körperkraft,  Tugend 
und  Kenntnisse  oder  an  einer  anderen  Stelle:  die  Gesundheit  voraus- 
gesetzt, Tugend,  Weisheit,  Benehmen  (breeding)  und  Kenntnisse, 
in  dieser  Reihenfolge  nach  ihrer  Wichtigkeit  geordnet.  Die  Gesund- 
heit ist  das  Wichtigste. 

Die  „Gedanken  über  Erziehung"  beginnen  schon  mit  einem 
packend  ausgearbeiteten  Satz:     ,,Ein   gesunder  Geist   in  einem   ge- 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  6o 

sunden  Körper  ist  eine  kurze  aber  ausreichende  Beschreibung  eines 
GHickszustandes  in  dieser  Welt." 

Auf  die  Erreichung  seines  Bildungszieles  muß  bei  Locke  die  ganze 
Erziehungsarbeit  gerichtet    sein.     Welcher  Art    diese  Erziehung  ist, 

geht  aus  folgendem  hervor:    „ wie  die  Stärke  des  Körpers  haupt- 

sächhch  darin  liegt,  Mühen  zu  ertragen,  so  auch  diejenige  des  Geistes, 
und  der  große  Grundsatz  aller  Tugend  und  alles  Wertes  hegt  darin: 
daß  der  Mann  imstande  ist,  sich  selbst  seine  eigenen  Wünsche  zu 
versagen,  seinen  eigenen  Neigungen  zu  widersprechen  und  nur  dem 
zu  folgen,  was  die  Vernunft  als  Bestes  rät." 

Die  Lockesche  Erziehung  ist  hart,  stoisch,  auf  Ausbildung  aller 
Fähigkeiten  und  einer  in  ihrer  Art  aristoki-atischen  Lebensanschauung 
gerichtet,  die  nämhch  ihr  Ziel  in  allgemeiner  Vollkommenheit  und 
Bildung  und  in  der  gemeinnützigen  Tätigkeit,  wie  sie  vom  gentleman 
verlangt  wird,  sieht.  Locke  fragt  überall,  ob  etwas  nützhch,  d.  h. 
nützhch  im  Sinne  dieses  Lebensbildes  ist.  Dabei  gerät  er  natürlich 
in  Widerspruch  mit  der  herkömmhchen  Pädagogik,  wie  sie  sich  aus  dem 
sehr  früh  pedantisch  und  formahstisch  gewordenen  Humanismus 
entwickelt  hatte.  Abgesehen  davon,  daß  Locke  die  Bildungsaufgabe 
nicht  mehr  in  der  Aneignung  der  sprachlich-grammatischen  Form 
erbückte,  war  er  auch  gegen  die  oft  barbarische  Schulzucht  und  für 
eine  auf  freundüche  Unterstützung  begründete  Erziehungsweise. 
Seine  Gedanken  und  Worte  zu  diesem  letzteren  Punkte  erinnern 
übrigens  häufig  an  ähnhche  in  Fenelons  Education  des  filles,  die  1680 
o-eschrieben  wurde.  Locke  war  von  1676—1679  in  Frankreich  und 
stand  auch  nachher  noch  mit  diesem  Lande  in  Verbindung,  so  daß 
eine  Beeinflussung  möglich  erscheint,  was  hier  aber  nicht  weiter  un- 
tersucht werden  soll.  Inhalthch  war  nämlich  die  Lockesche  Erziehung 
weniger  mit  derjenigen  Fenelons  als  vielmehr-,  wenn  ein  zeitgenössisches 
französisches  Beispiel  herangezogen  werden  soll,  mit  der  der  Kleinen 
Schulen  von  Port-Royal  zu  vergleichen,  die  allerings  schon  1660 
aufgehoben  worden  sind.  Es  haben  aber  weniger  diese  lileinen  Schulen 
als  die  Schriften  der  Männer  von  Port-Royal  im  allgemeinen  auf  die 
Welt  gewirkt  und  Locke  hat  diese  sicher  gekannt.  3)  Auch  die  Männer 


3)  La  Logique  der  Port-Royalisten ;  Nicole,  L'Inducation  d'un  Prince; 
Lancelot,  Methodes;  Amauld,  Grammaire;  Reglement  d'etudes  dans  les 
;ettres  humaines;  dann  Custel,  Varet,  Jacqueline  Pascal. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVIII.  1.  5 


66  Hermann  Büchel, 

von  Port-Royal  vertraten  den  Realismus  gegenüber  den  Jesuiten. 
Nicole  sagt:  „Les  Lumieres  des  enfants  etant  toujours  tres  depen- 
dantes  der  sens,  il  faut,  autant  qu'il  est  possible,  attacher  aux  sens 
les  Instructions  qu'on  veut  leur  donner,  et  les  faire  entrer  non  seule- 
ment  par  Touie  mais  par  la  vue."  Also  schon  sensualistisch-realistisch. 
Den  Jesuiten  gegenüber  wurde  auch  in  den  Schulen  von  Port-Royal 
der  größte  Nachdruck  auf  eigenes  Denken  und  Urteilen  der  Schüler 
gelegt  und  dessen  Pflege  und  Bildung  betrieben,  fast  manchmal  mit 
denselben  Worten  wie  bei  Locke.  Auch  von  dem,  Orden  des  Oratoire 
dürfte  Locke  mancherlei  erworben  haben.  Namenthch  die  Ansichten 
der  Port-Royalisten  und  der  Streit  um  sie  erfüllte,  als  Locke  in 
Montpellier  und  Paris  war,  ganz  Frankreich,  ja  die  gebildete  Welt. 

Von  seinem  erzieherischen  Standpunkte  und  von  seiner  oben 
im  Umriß  gezeichneten  sensuahstischen  Erkenntnislehre  aus,  nahm 
Locke  auch  das  Handwerk  als  ein  Bildungsmittel  in  Anspruch.  Wegen 
des  letzteren  Grundes  steht  Locke  über  Rousseau.  Dieser  läßt  Emile 
ebenfalls  ein  Handwerk  erlernen,  aber  aus  einem  praktischen  und 
aus  einem  politisch-morahschen,  nicht  aus  einem  psychologisch- 
erzieherischen Grund.  Rousseau  spricht  nämhch  im  Emile  (1762) 
und  auch  in  den  Considerations  sur  le  gouvernement  de  Pologne  etc. 
(1772)  folgende  prophetische  Meinung  aus:  „Ich  sehe  alle  Staaten 
Europas  ihrem  Untergange  entgegengehen."  Wegen  dieser  Um- 
wälzungen, die  auch  soziale  sein  werden,  soU  Emile  ein  Handwerk 
können,  als  eine  Waffe  im  Kampf  ums  Dasein,  wenn  er  nämhch. 
was  selir  möghch  ist,  sein  Vermögen  verhert. 

Ferner  ist  Rousseau  der  sittenstrenge  Repubhkaner,  der  citoyen. 
der  selbst  auf  Pensionen  und  Vorteile  verzichtet  und  sich  durch  Hand- 
arbeit, durch  Notenschreiben  ernährt.  Jeder,  der  nicht  arbeitet,  ist 
nach  ihm  ein  Dieb,  ein  fripon.  Er  nimmt  die  bekannte  Proud'honsche 
Erklärung  des  Eigentums  dem  Gedanken  nach  schon  voraus.  Eine 
Walii'heit  gibt  es  eben  auch  im  Hohlspiegel  einer  ki'anken  Seele.  Das 
sphärische  Bild  muß  in  die  Ebene  des  gewöhnhchen  Menschenver- 
standes umgerechnet  werden.     Der    große  Vorkämpfer  einer  neuen 


Siehe  Dr.  H.  Büchel,  Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  J.  J. 
Rousseau,  ,, Arbeitsschule"  1914; 

Derselbe:  Die  Erziehung  zum  Arbeitsstaat  bei  J.  J.  Ronsseau,  „Preuß. 
Volksschullehrerinnen-Zeitnng,  1914. 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  67 

Zeit  erhebt  das  adelige  Recht  der  Arbeit  auf  den  Altar  des  freien 
Bürgertums.  Bis  dahin  hatte  in  der  Welt  in  verschiedenen  Formen 
ein  Bildungsideal  geherrscht^),  das  Träger  voraussetzte,  die  nicht  mit 
der  Hand  zu  arbeiten  brauchten ;  auch  das  humanistische  war  in  dieser 
Beziehung  nichts  anderes  als  das  griechische,  das  heißt  also  dasjenige 
eines  Volkes  von  Sklavenhaltern.  Rousseau,  der  Dichter  und  Prophet, 
zündete  dem  neuen  Zeitalter  der  Arbeit  zuerst  die  Fackeln  an. 

Dagegen  hat  Rousseau  das  Hauptwerk  kaum  von  der  Seite  der 
Erkenntnislehre  aus  angesehen,  die  bei  ihm  überhaupt  schlecht  ausge- 
bildet war  und  leicht  in  das  Gebiet  des  Gefühlsmäßigen  zerfloß  oder 
zm'ücktrat  vor  dem  Bestreben,  aus  dialektischen  Gründen  einseitig 
zugespitzte  Forderungen  wie  Kanonenkugebi  ins  Kampfge\^immel 
zu  schmettern.  An  ganz  anderer  Stelle  des  Emile  wird  auch  der 
induktiv-intuitive  Erkenntnis  wert  der  Handarbeit  anerkannt,  aber 
nirgends  mit  Beziehung  auf  das  Handwerk. 

Anders  bei  Locke.  Bei  ihm  ergibt  sich  die  Handarbeit  als  Er- 
ziehungsmittel nicht  nur  aus  praktisch-sitthchen,  sondern  auch  aus 
sensualistischen  Gründen.  Man  muß  dies  allerdings  aus  gelegenthchen 
Worten  und  Bemerkungen  erkennen.  Wie  es  Locke  auch  sonst  an 
systematischer  Bestimmtheit  zuweilen  fehlt,  so  gilt  dies  ganz  be- 
sonders für  seine  „Gedanken  über  Erziehung".  Di^se  verzichten 
ihi-er  ganzen  Entstehung  nach  ül3erhaupt  auf  Systematik,  aber 
auch  darauf,  etwa  pädagogische  Forderungen  auf  deuthch  aus- 
geprägte   erkenntnistheoretische  Sätze  ausdrücklich  zurückzuführen. 

In  dem  Buche  verlangt  Locke  u.  a.,  daß  der  Schüler  auch  Tanzen, 
Fechten,  Musik  lernt,  um  als  Angehöriger  der  oberen  Stände  sich  ange- 
messen bewegen  zu  können.  Im  Anschluß  daran  wd  in  §  201  che 
Forderung  aufgestellt,  daß  derselbe  ZögUng  möghchst  mehi'ere  Hand- 
werke lerne ;  eines  soU  er  aber  besonders  können.  Locke  sagt,  der  Be- 
schäftigungstrieb der  Kinder  müsse  auf  etwas  Nützhches  hingelenkt 
werden.  Das  ergäbe  zwei  Vorteile:  1.  die  erlangte  Geschickhch- 
keit  oder  Gewandtheit  (Skill)  nicht  allein  in  Sprachen  und  Wissen- 
schaften, sondern  auch  in  Malen,  Drechseln,  in  Gärtnerei,  tempering 
(Modelüeren?)  und  Eisenarbeiten  und  in  allen  anderen  Künsten  ist 
an  und  für  sich  „wert,  daß  man  sie  hat";  2.  kann  die  Übung  der  Ge- 
sundheit nützüch  sein. 


*)  Es  hat  seine  große  Bedeutung  heute  noch  nicht  verloren. 


n 


68  Hermann  Büc hei, 

Beachtenswert  ist  für  das  Folgende,  wie  er  hier  (zu  1),  Skill  so- 
wohl auf  Sprachen  und  AVissenschaften  als  auch  auf  Handwerke  zu- 
gleich anwendet. 

Die  Kinder  müssen  sonst  in  der  Schule  Kenntnisse  durch  Be- 
schäftigungen erwerben,  die  durchaus  nicht  immer  der  Gesundheit  zu- 
träghch  sind,  wie  z.  B.  Schreiben  und  Lesen.  ,, Andere  manual  arts" 
wii'ken  dem  entgegen  und  verschaffen  dexterity  und  skill.  So  mag 
Gesundheit  und  geistige  Hebung  vereinigt  werden,  wonnt  noch  die 
Annehmhchkeit  verbunden  ist,  daß  das  Lernen  spielend  durch  ,. Er- 
holung" geschieht. 

Locke  untersucht  nun  mehrere  „Handwerke".  Vom  Malen  hält 
er  nichts,  weil  „schlechte  Malerei  eins  der  schlechtesten  Dinge  der 
Welt  ist"  und  eine  gewisse  Geschickhchkeit  zu  erlangen  zu  viel  Zeit 
erfordert.  Dann  ist  eben  doch  eines  gentlemans  ernstere  Beschäftigung 
das  Studium.  Erholung  davon  sollte  in  einer  Körper  Übung  erfolgen, 
die  den  Greist  entbindet,  was  beim  Malen  nicht  der  Fall  ist.  Man  sieht 
an  diesem  Beispiel,  in  dem  er  eine  in  der  Hauptsache  geistige  Ai'beit 
wegen  der  eigenthch  nm'  zufälhg  mit  ihr  verbundenen  körperlichen 
ganz  als  letztere  anspricht,  daß  Locke  sich,  wie  auch  in  anderen  Fällen, 
hier  keinen  klaren  Begriff  gebildet  hat.  Seine  Einschätzung  der  Malerei 
entsprach  zwar  einer  ge^\^ssen  Übung  des  ]\Iittelalters,  war  aber  zu 
Lockes  Zeiten  schon  in  der  ganzen  Kultmnvelt  verlassen. 

Soviel  ist  allerdings  richtig,  daß  mit  jedem  Handwerk  geistige 
Arbeit  verbunden  ist,  aber  nur  selten  in  dem  Maße  wie  bei  der  Malerei, 
wenn  eben  nicht  das  Handwerk  zur  Kunst  wd.  Locke  empfiehlt 
Gärtnerei  oder  Landwirtschaft  im  Allgemeinen  usw.  (husbanchy)  — 
wie  später  Rousseau — ,  dann  Holzarbeit,  z.  B.Zimmerei,  Schreinerei, 
Drechslerei,  die  am  meisten  geistige  Erholung  gewähren.  x\n  anderer 
Stelle  empfiehlt  er  noch  als  Gewerbe,  die  zu  lernen  sind.  Gravieren, 
Ai'beiten  in  Eisen,  Messing  und  Silber,  das  Schneiden,  Schleifen  und 
Einsetzen  kostbarer  Steine,  das  Schleifen  optischer  Gläser.  Man  sieht 
wieder  eine  systemlose  Aufzählung. 

In  den  sehr*  ungeordneten  und  unzusammenhängenden  Ab- 
schnitten wird  an  einer  Stelle  nur  der  Gedanke  der  geistigen  Erholung 
betont,  um  diese  pädagogische  Forderung  zu  unterstützen.  Es  folgt 
aber  gleich  ein  Abschnitt,  in  dem  darauf  hinge^^^esen  wü*d,  daß  die 
großen  Männer  des  Altertums  Handarbeit  mit  ihrer  AVürde  als  Staats- 
männer und  Heerführer  vereinigen  konnten.  Daß  Locke  nicht  nur  eine 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  69 

Erholung  durch  Handarbeit  lediglich  im  landläufigen  Sinne  des  ge- 
schäftigen Müßiggangs,  sondern  daß  er  Erholung  im  Sinne  seiner 
Erziehungslehre  verstand  und  geistige  und  sitthche  Zwecke  damit 
verfolgte,  das  geht  aus  seinem  Hinweis  auf  Gideon,  Cincinnatus,  Cato 
dem  Älteren  hervor,  die  große  Heerführer  und  Staatsmänner,  daneben 
aber  auch  tüchtige  Pflüger  und  Bauern  waren.  „Ihr  Geschick  mit 
dem  Flegel  und  dem  Pflug  (dexterous  handling)  verhinderte  ihr  Ge- 
schick (skill)  in  "Waffen  nicht,  noch  machte  es  sie  weniger  tüchtig 
in  den  Künsten  des  Kiieges  und  der  Regierung ;  sie  waren  große  Heer- 
führer und  Staatsmänner,  wie  auch  Haushalter  (husbandmen)." 
„C3n-us  hielt  Gärtnerei  so  wenig  unter  der  Würde  und  Größe  eines 
Thi'ones,  als  er  Xenophon  ein  großes  Feld  mit  Obstbäumen  zeigte,  die 
alle  von' ihm  gepflanzt  waren." 

Daß  Erholung  bei  diesem  Handwerksbetrieb  nicht  einfach  ein 
spielendes  Zeit  verbringen,  sondern  ein  Aus-  und  Umspannen  des 
Geistes  ist,  geht  noch  aus  mancherlei  anderen  Bemerkungen  Lockes 
hervor.  „Recreation  soll  nichts  Müßiges  sein,  sondern  den  ermüdeten 
Teil  durch  Wechsel  der  Beschäftigung  erleichtern."  ÜlDung  und  Ge- 
schick in  einem  Handwerk  bringen  den  Menschen  auch  bald  dazu, 
daß  er  ein  Entzücken  darin  findet,  so  daß  eine  eigenthche  Erholung, 
nicht  bloß  eine  Ermüdung  von  dem  Handwerk  zu  erwarten  ist.  Inso- 
fern steht  es  auch  jedenfalls  weit  über  dem  bloßen  Spiel,  mit  dem 
„Personen  und  Damen  von  Stand  so  \äel  Zeit  vergeuden".  Nach- 
dem diese  Art  Spiel  vorüber  ist,  bleibt  nämlich  nichts  übrig;  anders 
beün  Handwerk,  das  in  der  Erziehung  erfrischen  und  doch  etwas 
erzeugen  soU,  was  hinterher  von  Xutzen  sein  wh'd  —  Xutzen  im 
Sinne  des  Lockeschen  Bildungsideals  und  des  Zweckes  und  Geistes 
des  ganzen  Buches. 

NachdrücUich  stellte  Locke  das  Handwerk  der  Zeitvergeudung 
dm'ch  gewöhnhche  Spiele  gegenüber,  die  er  verurteilt  und  bekämpft. 
Nm*  Eitelkeit  und  Größenwahn  haben  diese  letzteren  hervorgebracht 
und  den  Glauben  erzeugt,  ,,daß  das  Lernen  oder  die  Betätigung  bei 
einer  nützhchen  Sache  nicht  die  Erholung  eines  gentlemans  sein 
könnte.  Daher  kommen  Karten,  Würfel  und  Trinken,  Künste,  an 
denen  ein  vernünftiger  Mann  tili  corrupted  by  custom  nur  wenig 
Vergnügen  finden  kaim."  Man  sieht,  ein  Stück  hausbackener 
commonsense ! 

Daneben  muß  man  aber  beachten,  welche  Vorteile  Locke  von 


70  Hermann  Büchel, 

dem  Handwerk  erwartet  und  wie  er  sich  darüber  ausdi-üekt.  Er  wendet 
näniKch  für  Gewandtheit  und  Geschick,  wie  in  dem  obigen  Beispiel 
von  Gideon  usw.  dexterity  and  skill  wiederholt  nebeneinander  an. 
Beide  Worte  bedeuten  z.  B.  bei  Shakespeare  nicht  nur  die  körper- 
liche, sondern  auch  die  geistige  Gewandtheit.  Es  kommen  also  unter 
diesen  Bezeichnungen  in  Betracht  einmal  die  unmittelbar  auf  hand- 
werksmäßiger Übung  beruhende  Stärkung  und  Ausbildung  der  Muskeln 
und  das  unbewußte  ebenfalls  übungs-  und  handwerksmäßige  Zu- 
sammenwirken gewisser  Muskel-  und  Nervengruppen.  Durch  die 
von  Locke  verlangte  Erlernung  mehrerer  Handwerke  wird  eben  auch 
eine  Übung  solcher  Muskelgruppen  in  verschiedener  Zusammensetzung 
und  eine  allgemeinere  Geschicldichkeit  erreicht. 

Daneben  bedeuten  aber  beide  Worte  auch  eine  Fähigkeit  und  Ge- 
wandtheit auf  geistigem  Gebiete.  Dexterous  kommt  bei  Locke  in 
diesem  Sinn  vor  wie  auch  bei  Shakespeare  z.  B.  in  den  Lustigen  Weibern 
von  Windsor  im  vierten  Akt  (Dexterity  of  wit)  und  skill  in  arms  in 
der  oben  angefülu'ten  Stelle  von  Locke  soll  offenbar  nicht  die  Fecht- 
kimst  bedeuten,  sondern  die  Kunst  des  großen  Heerfülu'ers,  ähnlich 
wie  an  anderer  Stelle  ebenfalls  bei  Locke  Skill  in  politics.  Es  handelt 
sich  eben  darum  daß  bei  der  praktischen  Ausübung  eines  Gewerbes 
nicht  nur  die  oben  erwähnte  körperhche  Geschicklichkeit,  sondern 
auch  eine  Ausbildung  des  Geistes  besonders  durch  unmittelbares 
Erschauen  von  allgemeinen  Beziehungen  z\\ischen  den  Dingen  er- 
folgt. Bekannthch  erwartete  Goethe  diesen  letzteren  Erfolg  ebenfalls 
von  der  Handarbeit,  und  die  neuere  Heilpädagogik  sucht  sogar 
Fehler  des  geistigen  Lebens,  der  Sprache  usw.  auch  durch  körper- 
liche Arbeit  zu  bekämpfen. 

Zweifellos  ist  sich  Locke  über  diese  erkenntnistheoretische  Seite 
der  Sache  nicht  ganz  klar  geworden.  Daß  sie  ihm  aber  vorgeschwebt 
hat  und  daß  er  sie  ausdrücken  wollte,  scheint  mir  unter  anderem  aus 
der  wederholten  Anwendung  der  beiden  erwähnten  Worte  nebenein- 
ander hervorzugehen. 

Übrigens  sagt  Locke  an  anderer  Stelle,  daß  der  junge  Mann  sich 
nicht  etwa  nur  in  dem  Gewerbe  erholen,  sondern  daß  er  an  dem  in 
seinem  Stande  übhchen  Spielen  teilnehmen  soll.  Offenbar  meint  er 
diesmal  edlere.  Der  Zögling  habe  aber  Zeit  genug,  um  beinahe  jedes 
Gewerbe  hinzuzulernen.  Eine  Stunde  des  Tages  in  einem  nützlichen 
Gewerbe  verbracht,  tue  vieles,   um  den  gewöhnhchen  lasterhaften. 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke 


o^ 


unnützen  und  gefähi'liclien  Zeitvertreib  auszumerzen  —  daraufkommt 
Locke  immer  wieder  zmück  —  und  dexterity  und  skill  in 
hunderten  von  nützlichen  Dingen  zu  verschaffen.  Es  wird  sich  jeden- 
falls ein  Handwerk  finden,  das  dem  Geschmack  des  Schülers  ent- 
spricht. Wenn  aber  die  Eltern  sich  daran  stoßen  sollten,  daß  ihr  Sohn 
ein  solches  lernt,  so  gibt  es  die  kaufmännischen  Fächer,  die  doch  für 
jeden  unbedingt  notwendig  sind.  Jeder  gentleman  sollte  schon  der 
Verwaltung  seines  Vermögens  wegen  kaufmännische  Buchführung 
gut  lernen.  Diese  ist  aber  auch,  und  das  erkennt  Locke  sehr  richtig, 
,,mehr  eine  Sache  des  Verstandes  als  Arithmetik".  Er  stellt  also 
Buchführung  über  diese.  Dazu,  und  um  zu  erkemien,  daß  er 
sich  bei  der  praktischen  Arbeit  auch  großen  geistigen  jS^utzen 
verspricht,  muß  man  vergleichen,  was  er  an  anderer,  übrigens 
besonders  angeordneter  Stelle  über  Arithmetik  sagt  (a,  a.  0. 
§  180).  Danach  ist  sie  „die  leichteste  und  folghch  erste  Art  des  ver- 
nünftigen Denkens",  zu  welchem  der  Geist  gewöhnhch  gelangt.  Der 
Mensch  kann  davon  nicht  genug  können  und  nicht  früh  genug  damit 
anfangen.  Übrigens  nimmt  Locke  anscheinend  nm*  eine  Erkenntnis 
a  priori  in  der  Mathematik  an.  Über  deren  Bildungswert  schreibt  er 
in  dem  Conduct  of  the  understanding  §§  6  und  7:  Sie  „sollte  gelehrt 
werden  allen  denen,  welche  Zeit  und  Gelegenheit  haben,  nicht  gerade 
um  Mathematiker  zu  werden,  sondern  um  aus  ihnen  vernünftige 
Wesen  zu  machen".  Zu  dem  letzteren  gibt  uns  die  Natm-  ,,mu'  che 
Saat".  Wh*  sind  geboren,  um,  wenn  es  uns  gefällt,  vernünftige  Wesen 
zu  werden,  aber  nm  Übung  und  Gebrauch  macht  uns  dazu,  und  wir 
sind  es  in  der  Tat  nm-  insofern,  als  Tätigkeit  und  x\nwendung  uns 
getragen  haben.  „Ich  habe  ]\Iatheniatik  als  einen  Weg  angeführt, 
um  in  dem  Geist  die  Gewohnheit  festzulegen,  vernünftig,  folgerichtig 
und  geordnet  zu  denken." 

Auf  die  Wichtigkeit  der  kaufmännischen  Fächer  für  die  geistige 
Bildung  geht  Locke  nicht  weiter  ein.  Er  erwähnt  nicht,  daß  die  Buch- 
fühi'ung  ebenso  folgerichtige  Schlußfolgerungen  erfordert,  wie  die 
Mathematik,  und  daß  sie  dazu  z\^1ngt,  die  Fälle  des  täghchen  Lebens 
aus  ihrem  Zusammenhang  loszulösen  und  in  ihren  wichtigsten  Be- 
ziehungen mathematisch,  d.  h.  nach  Größenwerten  zu  behandeln. 
Ebenfalls  erwähnt  er  den  kaufmännischen  Briefstil  nicht,  der  doch  die 
beste  Schule  sein  kann  fiu-  einfache  Sprache  und  klaren  und  bestimmten 
Ausdruck.    Locke  verlangt  nm-,  daß  der  Zögüng  die  kaufmännische 


72  Hermann  Büchel, 

Buclifülirung  dazu  verwende,  um  über  seine  Einnahmen  und  Aus- 
gaben einen  Überblick  zu  gewinnen.  Dabei  soll  der  Vater  dieses  Mittel 
aber  nicht  benutzen,  um  kleinlich  über  Heller  und  Pfennig  Auskunft 
zu  verlangen.  Dem  Sohn  soll  Selbständigkeit  eingeräumt,  aber  er  soll 
auch  an  Ordnung  in  seinen  Angelegenheiten  gewöhnt  werden.  Das 
gehört  zu  einer  guten  Erziehung,  ziu^  AVeisheit  und  dem  breeding. 

Bei  der  Mannigfaltigkeit  der  Handwerke,  che  Locke  wiederholt 
üi*  seine  Zöghnge  vorschlägt,  könnte  man  an  Zersphtterung  denken; 
aber  er  sieht  das  anders  an.  Das  Geschäft  des  Erziehers  ist  nicht  das, 
die  Schüler  ,, vollkommen  in  jeder  Wissenschaft  zu  machen,  sondern 
die  Geister  zu  öffnen  und  sie  zu  befähigen,  sich  selbst  ihnen  zu  widmen". 
Sie  sollen  ,,in  alle  Arten  von  Kenntnissen  hineinsehen  und  ihi*  Ver- 
ständnis an  einem  so  weiten  Vorrat  von  Kenntnissen  üben.  Aber 
ich  schlage  es  nicht  als  eine  Mannigfaltigkeit  und  einen  Vorrat  von 
Kenntnissen  vor,  sondern  als  eine  Mannigfaltigkeit  des  Denkens,  als 
einen  Zuwachs  der  Ki'aft  und  Tätigkeit  des  Geistes,  nicht  als  eine 
Erweiterung  seiner  Besitztümer." 

Hier  steht  offenbar  Locke  ganz  auf  dem  Boden  Rabelais'.  Dieser 
will,  daß  der  Unterricht  möghchst  recreation  et  amusement.  Locke 
daß  er  recreation  sei.  Bei  Rabelais  und  bei  Locke  ist  aber  recreation 
im  Unterricht  genau  dasselbe,  ledighch  eine  Abwechslung  in  der  Be- 
schäftigung, zm*  teilweisen  Entspannung,  und  zm*  Inanspruchnahme 
anderer  Seiten  und  Ki-äfte  des  Schülers.')  Bei  Rabelais  und  bei  Locke 
ist  der  Schüler  ununterbrochen  beschäftigt ;  sein  Geist  immer  in  Be- 
wegung. Auch  Gargantua  lernt  alles  möglichst,  indem  er  es  selbst 
in  die  Hand  nimmt,  besieht,  untersucht  oder  herstellt,  auf  Spazier- 
gängen usw.  Er  besucht  die  Läden  der  Goldschnüede,  Gießereien, 
chemische  Kabinette,  Werkstätten  aller  Art.  Gargantua  soll  arbeiten 
lernen;  wenn  es  regnet,  sägt  und  hackt  er  Holz,  drischt  er  usw.  Es 
sind  dies  also  Ai'beiten,  die  offenbar  nm*  wegen  ihrer  Gütererzeugung 
sozialsitthchen  Wert  haben.  Daß  aber  Rabelais  auch  den  größten  Nach- 
di'uck  auf  sinnliche  Erfahrung  legt,  im  Gegensatz  zu  dem  abstrakt  forma- 
hstischen  Lernbetrieb  der  Scholastiker  und  dem  pedantisch  gram- 
matischen der  späteren  Humanisten,  das  geht  aus  seiner  Forderung 
hervor,  daß  Gargantua  auch  eingehend  Anatomie  treiben  und  eine 
tiefe  Kenntnis  der  „andern  Welt  erlangen  soll,  welche  der  Mensch 


^)  Auch  das  Oratoire  und  Port- Royal  vertraten  ähnliche  Forderungen. 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  73 

ist",  ein  Gedanke  von  ungehewer  Kühnheit  in  jenen  Zeiten.  Die 
Renaissance  hatte  gerade  erst  die  Natur  entdeckt ;  ihr  wird  schon  der 
Mensch  als  „eine  andere  Welt"  gegenübergestellt  und  damit  aus  der 
bescheidenen  Stellung  herausgehoben,  in  welche  er  diu'ch  die  Ver- 
neinung des  Christentums  geraten  war.  Der  Morgen  graut  eines  neuen 
Zeitalters  der  Natur-  imd  Menschenwissenschaft  und  dahin  schwinden 
tlie  Dogmen  und  Formen  der  Scholastik.  Man  muß  beobachten,  daß 
solche  kühne  Geistesblitze  ins  Reich  des  Menschen  und  der  Natur 
sehr  leicht  das  vom  Fanatismus  immer  sehr  trocken  gehaltene  Holz 
der  Scheiterhaufen  entzünden  konnte.  Oder  aber  ein  so  kühner  Geist 
konnte  wie  Roger  Bacon  während  stiller  Jalu'zehnte  im  Moder  feuchter 
Kerker  dahindämmern. 

Rabelais  hat  nicht  erheblich  unmittelbar  auf  seine  Zeitgenossen 
gewirkt.  Er  gehört  zu  denen,  deren  Wirken  erst  lange  nach  ihrem 
Leben  anhebt.  Aber  er  steht  doch  an  den  Mai'ksteinen  einer  neuen 
Zeit.  Eine  neue  Art  der  Welterkenntnis  kündet  sich  an.  Zimächst 
folgt  jedoch  der  enge  Pedantismus  der  späteren  Humanisten,  in  Frank- 
reich die  oberflächliche,  schöngeistig  formahstische  Erziehung  der 
Jesuiten,  die  nur  notdürftig  Ai'istoteles  und  Thomas  mit  etwas  huma- 
nistischem Geist  verhüllt.  Es  fehlt  dieser  Erziehung  noch  jede  psycho- 
logische und  erkenntnistheoretische  Grundlage.  Da  begründet  Des- 
cartes  eine  neue  Philosophie.  Ihn  nehmen  später  Ideahsmus  und 
Materialismus  *^)  gleichermaßen  als  Vater  in  Anspruch,  Seine 
Erkenntnislehre  wnd  jedenfalls  weitergebildet  von  Locke,  dem 
sie  auch  als  Grimdlage  zu  seiner  Erziehungslehre  dient.  Das  kommt 
aber,  wie  wir  schon  betont  haben,  besonders  in  seinem  aphoristisch 
gehaltenen  erzieherischen  Hauptwerk  nicht  mit  systematischer  Be- 
stimmtheit zum  Ausdruck.  Es  fehlt  seiner  Erziehungslehre  der  folge- 
richtige Aufbau,  die  Ordnung  des  Stoffs  und  die  „mathematisch" 
fortschreitende  Entwicklung  der  Gedanken  und  Schlußfolgerungen 
vollständig,  die  er  selbst  an  anderer  Stelle,  z.  B.  im  Anfang  des  Con- 
duct  of  the  understanding  als  Hauptsache  bei  jeder  Suche  nach  der 
Wahrheit  hinstellt. 

Insbesondere,  was  uns  hier  angeht,  hat  Locke  den  sittlich  und 
geistig  bildenden  Wert  der  Handarbeit  erkannt.  Aber  er  streift  nur 
die  sitthche  Wirkung  auf  den  Einzelnen,  und  zwar  im  Sinne  eines 


^)  z.  B.  La  Mettric. 


74  Hermann  Büchel, 

Moralpredigers.  Er  beachtet  nicht  oder  hebt  wenigstens  nicht  her- 
vor die  Ein^^irkung  der  i\j'beit  auf  die  Willensbiklung,  auf  das  sitt- 
lich-ästhetische Urteil,  wenigstens  soweit  das  Verhältnis  zur  mensch- 
lichen Gesellschaft  in  Betracht  kommt.  Die  soziale  Seite  der  Frao;e 
bleibt  anders  wie  bei  Kousseau  vollständig  unbeachtet. 

Ebenso  hat  Locke  die  Bedeutung  des  Handwerks  für  die  geistige 
Erziehung  wenigstens  unklar  erkannt.  Eine  eingehende  erkenntnis- 
theoretische Wertung  fehlt  aber  ebenfalls  gänzlich.  Locke  kannte 
auch  offenbar  selbst  die  Handwerke,  die  er  empfiehlt,  zum  Teil  nur 
ungenau  oder  gar  nicht  und  eine  systematische  Würdigung  der  Hand- 
werke überhaupt  fehlt  natürlich  ebenfalls.  In  seinen  übrigen  Büchern, 
insbesondere  im  Conduct  of  understanding,  ist  das  Handwerk  als 
Bildungsmittel  nicht  erwähnt,  aber  die  ersten  Paragraphen  der  letzteren 
Schrift  geben  ein  Bild  darüber,  welche  Forderungen  der  Philosoph 
bezüghch  der  allgemeinen  Bildung  stellt,  die  nämlich  ganz  allge- 
mein und  aus  den  Tiefen  des  täghchen  Lebens  geschöpft  sein  soll. 

Lockes  Gedanken  über  Erziehung  sind  für  ihre  Zeit  nicht  neu, 
auch  die  über  das  Handwerk  nicht.  Die  letzteren  treten  lange  vorher 
auf  z.  B.  bei  den  Juden,  und  es  ist  sehr  möghch,  daß  Rabelais  auch 
aus  dieser  Quelle,  besonders  bei  Talmudisten  oder  gelehrten  Juden 
Anregung  geschöpft  hat.  Wir  sehen  dann  dieselbe  Forderung  der 
pralvtischen  Betätigung  durch  Handarbeit,  außer  bei  Rabelais  auch 
in  den  Schulen  des  Oratoire,  z.  B.  bei  Laniy.  Bei  Locke  ist  seine 
ganze  Erziehungslehre  und  die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel 
imr  ein  wesenthcher  und  sinngemäßer  Bestandteil  seiner  sensua- 
hstischen  Philosophie,  herausgewachsen  aus  der  ganzen  PersönHchkeit. 

Daß  Lockes  Buch  so  wenig  unmittelbaren  praktischen  Erfolg 
gehabt  hat,  dürfte  den  oben  beschriebenen  Mängeln  zuzuschreiben 
sein,  die  auch  nicht  durch  dichterischen  Schwung  ausgeghchen  wurden, 
wie  etwa  bei  Rousseau.  Es  ist  aber  nicht  zu  bezweifeln,  daß  Locke, 
wenn  auch  nicht  sofort,  auf  dem  Gebiete  der  Erziehung  nachgewirkt 
hat,  nur  ist  das  Maß  schwer  festzulegen,  weil,  wie  schon  erwähnt, 
eben  auf  diesem  Gebiete  die  verschiedensten  Einflüsse  in  Betracht 
kommen.  Schon  seit  den  Anfängen  des  Humanismus  machte  sich 
eine  Richtung  zum  Realismus  geltend  —  gegenüber  dem  pedantisch- 
humanistischen Betonen  der  Formen  —  der  sich  immer  mehr  nach 
der  soziologischen  und  naturwissenschafthchen  Seite  aus\\'uchs.  was 
ganz  von  selbst  von  diesen  zwei  Seiten  aus  zu  einer  anderen  Ein- 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  75 

Schätzung  der  Handarbeit  fühi'en  mußte.  Und  dann  war  auf 
religiösem  Gebiet  sowohl  mit  der  calvinistisch-demokratischen  als 
auch  der  jansenistischen  Richtung  natmnotwendig  ein  Zug  zur 
strengen  von  den  Formen  absehenden  sachHchen  Wahrheit ')  und  zur 
demokratischen  Gerechtigkeit  verbunden,  welche  letztere  von  dem 
Standpunkte  der  für  alle  gleichen  Würde  des  Christenmenschen  aus 
die  herkömmhche  Geringschätzung  der  Arbeit  und  ihre  Vernach- 
lässigung bei  der  Erziehung  als  ungerecht  und  unwahr  empfinden 
mußte. 

Solche  Einflüsse  sind  außer  den  Lockeschen  jedenfalls  bei  Rousseau 
besonders  stark  gewesen.  Dessen  pädagogisches  Hauptwerk  hat  sicher- 
hch  vom  Standpunkte  jeder  Erziehungs-  und  Seelenlehre  aus  die 
größten  Fehler,  die  übrigens  zum  Teil  auf  dialektische  Absicht  zurück- 
zuführen sind.  Größer  als  die  Fehler  sind  aber  die  Vorzüge,  vor  allem 
der,  daß  es  in  vollendeter  Form  aus  einem  heißen  und  übervollen 
Herzen  heraus  geschiieben  ist.  Das  verschaffte  ihm,  anders  wie  dem 
Buche  Lockes,  den  gewaltigen  Erfolg,  der,  weil  er  sich  auch  auf  die 
Gesetzgebung  erstreckt,  noch  heute  anhält  und  auch  die  Wertschätzung 
der  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  in  sich  begreift.  In  Franki-eich 
begründete  Bernard  de  St.  Pierre  seine  Ecoles  de  la  Patrie  im  Geiste 
Rousseaus,  den  die  Jakobiner  noch  übertreiben.  Josephe  Chenier  ver- 
langt in  der  gesetzgebenden  Ansammlung,  daß  Rousseaus  Grund- 
sätze in  der  öff entheben  Erziehung  ai  gewendet  werden.  Starke, 
durch  ein  schwieriges  Handwerk  geübte  Menschen  zu  erziehen  ver- 
langt Bouquier  und  Le  Peletier  St.  Fargeau  will  Spartaner  heranziehen: 
„sie  schlafen  hart,  leben  einfach,  die  Arbeit  ilirer  Hände  ist  ihre 
Hauptbeschäftigung. " 

Übrigens  waren  die  meisten  dieser  Männer,  besonders  auch 
Lakanal,  der  Verfasser  des  Schulgesetzes  vom  29.  Brumaire  HI,  philo- 
sophisch von  Condillac  beeinfhißt,  dem  Schüler  Lockes. 

Aus  diesem  Kochen  der  revolutionären  Nationalseele  hat  sich 
die  allgemeine  französische  Volksschule  entwickelt,  die  seit  der  Zeit 
der  Revolution  die  Handarbeit  in  Holz,  Eisen  und  anderem,  in  Feld- 


■)  Daß  der  religiöse  Zug  zur  Wahrheit  auch  einen  Realismus  auf 
geistigem  und  künstlerischem  Gebiet  bedingt,  läßt  sich  aus  der  Geschichte 
des  Oratoire  und  von  Port-Royal  erkennen.  Über  die  Kunst  der  letzteren 
s.  Academiciens  d'autrefois  (L'art  de  l'ancien  France)  p.  Fontaine,  Paris, 
Laurens  1914. 


76  Hermann  Büchel, 

und  Gartenbau  und,  ;ie  nach  der  geographischen  Lage,  auch  manchmal 
Schiffahrt  auf  ihrem  Lohrjjlan  hat;  das  gilt  besonders  für  die  Ecoles 
normales  superieures  und  die  ihnen  entsprechenden  Ecoles  professio- 
nelles. 

In  England  ist  etwas  ähnhches  erst  in  der  neuen,  dm-ch  Gesetz 
von  1888  allgemeiner  ausgestalteten  Volksschule  wenigstens  grund- 
sätzhch  durchgedrungen. 

Im  größten  Umfange  wird  die  Handarbeit  als  Erziehungs-  und 
Bildungsmittel  in  allen  Schulen  der  Vereinigten  Staaten  verwendet. 
Hier  whkt  al^er  in  der  Hauptsache  deutscher  Geist.  Es  sind  die  An- 
sichten der  Philantropisten,  Pestalozzis,  Goethes,  Diesterwegs,  Fichtes, 
die  z.  B.  Horace  Mann,  den  Schulorganisator  von  Massachussets,  in 
den  vierziger  Jahren  des  19.  Jahrhunderts  dort  eingeführt  hat. 

Im  Vaterlande  dieser  Gedanken  hat  sich  dagegen  der,  wenigstens 
amthche,  Schulmeister,  meist  auch  der  nichtamtliche,  der  Handarbeit 
gegenüber  ziemüch  abweisend  verhalten,  was  allerdings  in  einem 
gewissen  Widerspruch  steht  zu  der  großartigen  Entwicklung,  die 
gerade  das  theoretisch-technische  Schulwesen  in  Deutschland  er- 
fahren hat. 

Wenn  dieses  letztere  auch  zweifellos  große  Vorzüge  hat,  so  darf 
man  sich  durch  diese  doch  über  erhebhche  Fehler  nicht  hinweg- 
täuschen lassen.  Zu  diesen  gehört,  daß  anders  wie  in  vielen  Ländern, 
die  praktische  Arbeit  in  den  deutschen  technischen  Schulen,  außer 
in  den  Kunsthandwerkerschulen  nm*  geringe  Pflege  findet.  Eine  Folge 
dieses  Mangels  dürfte  mit  ein  ,, Fabrikassessorismus"  sein,  der,  nüt 
einer  gewissen  verletzenden  Geringschätzung  der  bloßen  Handarbeit, 
nicht  wenig  zur  Verschärfung  der  sozialen  Gegensätze  beiträgt.  Eine 
weitere  Folge  desselben  Mangels  erbMcken  wir  darin,  daß  zwar  der 
technische  und  maschinelle  Arbeitsvorgang  allgemein  hochentwickelt 
ist,  daß  aber  die  seehschen  Bedingungen,  unter  denen  der  Arbeiter 
schafft,  praktisch  und  theoretisch  vollständig  vernachlässigt  worden 
sind.  Gerade  daß  in  Amerika  eine  Psychologie  der  Arbeit  aufkommen 
und  bei  den  Unternehmern  den  größten  Anldang  finden  konnte,  dürfte 
nicht  zum  wenigsten  eine  Folge  davon  sein,  daß  dort  die  Handarbeit 
als  Bildungsmittel  in  den  niederen  und  höheren  Schulen  anerkannt 
ist,  und  damit  eine  ganz  andere  W^ertung  erfälu't,  was  eben  nur  dem 
Realismus  entspricht,  der  sich  auf  dem  Gebiete  des  Erziehungswesens 
in  den  letzten  Jahrhunderten  mehr  und  mehr  durchgesetzt  hat.  Dieser 


Die  Handarbeit  als  Erziehungsmittel  bei  John  Locke.  77 

Realismus  setzt  der  scliolastischeii  und  der  pedantisch-liumanistischen 
Wertschätzung  der  Formen  immer  mehr  die  Wichtigkeit  der  Sachen 
gegenüber. 

Daneben  her  gehen  die  psychologische  und  die  soziologische 
Richtung  des  Erziehungswesens.  Die  erstere  verlangt  im  Sinne  Lockes 
eine  erzieherische  Ausnutzung  des  Betätigungschanges  des  Endes, 
seines  Triebes  zum  Spiele  mit  den  Händen,  seiner  Sucht  zu  wissen, 
was  hinter  oder  in  einer  Sache  steckt,  die  allerdings  mehr  analytischer 
iSatur  und  nicht  so  sehr  synthetisch  ist  wie  die  Arbeit.  Synthetisch 
ist  aber  auch  der  Betätigungsdrang  des  Kindes,  soweit  er  aufbauen 
will. 

Die  soziologische  Richtung  des  Erziehungswesens  hat  naturgemäß 
das  Kind  als  ein  Ghed  eines  Gesellschaftsverbandes  zum  Gegenstand 
und  sucht  die  Gesellschaft  zu  stärken,  indem  es  dem  Schüler  die 
sozialen  Pfhchten  einschärft  und  ihn  zu  deren  Erfüllung  geschickt 
macht.  Die  Gesellschaft  ist  aber  —  in  der  Hauptsache,  wie  die  So- 
ziaüsten  behaupten  —  jedenfalls  zum  großen  Teil  ein  wirtschafthcher 
Verband,  mit  der  Aufgabe  der  Güterzeugung  und  —  der  sehr  schlecht 
gelösten  —  Güterverteilung. 

Dabei  liegt  im  Zuge  der  gesamten  neueren  Entwicklung  eine 
starke  Ausbildung  der  Verbandsgewalt  über  den  einzelnen,  mit  der 
Gefahr,  daß  der  letztere  zu  sehr  eingeschränkt  wird.  Diese  Gefahr 
macht  sich  jedenfalls  in  dem  staathchen  Leben  so  ziemlich  aller  Völker 
geltend.  Zu  den  Bestrebungen,  die  ihr  entgegenwirken,  gehört  auch 
die  Kritik  des  Soziahsmus,  die  in  den  Kreisen  nicht  nur  der  Arbeiter, 
sondern  der  Gebildeten  und  der  Wissenschaft  eine  gegen  früher  ganz 
andere,  höhere  Einschätzung  der  Arbeit  herbeigeführt  hat,  welche 
auch  auf  das  öffenthche  Erziehungswesen  zurückwhken  muß.  Die 
Arbeit,  als  eine  der  wichtigsten  sozialen  Pflichten  des  Gesellschafts- 
ghedes,  muß  im  öffentlichen  Leben,  in  der  Kultur  der  Zukunft  eine 
noch  größere  Beachtung  als  bisher  erfahren. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam. 

Von 
Prof.  Dr.  Horten  in  Bonn. 

Gauthier,  Leon,  La  Theorie  d'ibn  Rochd  (Averroes)  sur  les  rapports  de 
la  religion  et  de  la  philosophie.  Paris,  Leroux  1909.  (Publications  de 
l'ecole  des  lettres  d' Alger.  Tome  XLI.)  195  S. 
Während  Averroes  für  die  Entwicklung  der  Philosophie  innerhalb  des 
Islam  fast  ohne  Bedeutung  geblieben  ist,  hat  er  auf  die  christliche  Philo- 
sophie einen  tief  eingreifenden  Einfluß  ausgeübt.  In  dieser  Hinsicht  verdiente 
seine  Gedankenwelt  eine  größere  Beachtung,  als  ihr  bisher  zuteil  geworden  ist. 
Diesem  Mangel  will  Gauthier  abhelfen,  indem  er  einen  zentralen  Punkt  des 
averroistischen  Denkens  aufkläit,  das  Verhältnis  des  Averroes  zur  Religion, 
das  besonders  in  der  Lehre  von  der  doppelten  Wahrheit  geschichtliche  Be- 
deutmig  erlangt  hat.  Averroes  war  durchaus  nicht  religiös  indifferent,  was 
Renan  zu  beweisen  versuchte,  sondern  tief  religiös.  Diese  letzte  Thesis  unter- 
stützt G.  in  verdienstvoller  Weise  durch  viele  Belege  aus  Texten  des  Averroes, 
die  in  den  letzten  Jalu'en  im  Oriente  erschienen  sind.  Averroes  unterscheidet 
scharf  Theologie  und  Religion.  W^enn  er  der  ersteren  -widerspricht,  sucht  er 
einen  Zusammenstoß  der  letzteren  mit  der  Philosophie  zu  vermeiden.  Er 
würde  dies  für  einen  unberechtigten  Übergriff  der  Philosophie  halten.  Eben- 
sowenig ordnet  er  die  Vernunft  dem  Glauben  unter,  was  Mehren  und  Miguel 
Asin  gegen  Renan  behauptet  haben.  Beide  Extreme  sind  zu  vermeiden. 
Averroes  leugnet,  so  führt  G.  aus,  die  Mysterien  und  Wunder,  wenn  er  zu 
Philosophen  redet,  er  nimmt  sie  symboUsch  an,  wenn  er  zu  Ungebildeten 
spricht.  Den  Theologen,  die  zwischen  der  ungebildeten  Masse  und  den  Philo- 
sophen auf  halbem  Wege  stehen  bleiben,  sollen  die  Philosophen  nur  die  halbe 
Wahrheit  mitteilen,  nicht  den  tieferen  Sinn  der  religiösen  Formeln, 

Betrachten  wir  jedoch  die  averroistischen  Lehren  im  ganzen  seiner  Welt- 
anschauung, so  ergibt  sich  eine  viel  weniger  rationalistische  Auffassung,  als 
sie  G.  dem  Averroes  beizulegen  versucht.^)  Jedes  Ei  kennen  ist  eine  Emanation 


^)  Die  eingehendere  Widerlegung  Gauthiers  findet  sich  in  M.  Horten: 
Texte  zu  dem  Streite  zwischsn  Glauben  und  Wissen  im  Islam;  Bomi  1913, 
S.  20  u.  oft. 

Einige  Druckfehler  sind  in  dem  Jahresberichte  Bd.  XII  zu  korrigieren. 
S.  270,  8  unt.:  Hogazade  statt  Hagzade.  —  373,  9  unt.:  1565  statt  1566. 
—  375:  Der  Schaichzäde,  der  einen  Superkommentar  zum  Korankommentar 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  79 

aus  dem  aktiven  Intellekte  auf  den  Menschen.    Die  prophetische  Erkenntnis 
ist  eine  besonders  vollkommene  Form  derselben,  in  der  Gott  dem  Menschen 
Wahrheiten  mitteilt,  die  für  seine  natürUche  Vernunft  absolut  unerreichbar 
sind,  d.  h.  aus  rein  natürlichen  Kräften  (S.  151).    Durch  besonderen  Einfluß 
Gottes  kann  jedoch  die  natürliche  Vernunft  zu  übernatürlichen  Erkenntnissen 
erhoben  werden.    Da  nun  der  Prophet  der  ungebildeten  Menge  che  Dogmen  in 
sinnlichen  Formen  darstellen  muß,  kami  für  das  Gebiet  aller  natürlich  erreich- 
baren Wahrheiten  die  Philosophie  zu  einer  tieferen  Erkenntnis  dieser  Dogmen 
gelangen.    Dies  ist  jedoch  keine  rationalistische  Korrektur  der  Offenbarung, 
sondern  der  eigentliche  Sinn,  den  der  Prophet  selbst  hat  ausdrücken  woUen. 
Der  Philosoph  schält  nur  che  äußere,  sinnliche  Form  der  Darstellung  ab,  um 
zu  dem  wahren  Sinne  der  Offenbarung  zu  gelangen.     Dabei  (S.  109)  muß  er 
aber  vor  allem  festhalten,  daß  viele  Aussprüche  in  der  Offenbarung  enthalten 
sind,  die  eine  philosophische  Auslegung  nicht  gestatten.    Dies  gilt  besonders 
von  den  durch  den  consensus  der  Gemeinde  anerkaimten  .Sätzen.  In  jedem  Falle 
darf  der  Philosoph  nie  dasjenige  leugnen,   was  er  interpretieren  soll.      Die 
Existenz  der  religiösen  Grundwahrheiten  gilt  auch  für  ihn  als  selbstver  stand - 
Hche  Voraussetzung.    Trotzdem  kaim  man  den  Averroes  nicht  als  einen  Fide- 
lsten bezeichnen.    Sein  Verdienst  ist  es,  die  philosophische  Interpretation  der 
Dogmen  in  weitem  Sinne  geübt  zu  haben.     Wenn  er  sich  ebensowenig  wie 
A-^-icenna  und  Farabi  von  der  Illusion  einer  Offenbarung  hat  freimachen  köimen, 
so  hegt  dies  darin,  daß  che  Offenbarung  einen  wesentlichen  Bestandteil  seines 
Weltbildes  ausmacht.     Die  himmlische  Welt  besitzt  in  einem  höheren  Sinne 
das  Sein  und  che  VoUkommenheit  als  die  sublunarische.   Auf  die  sublunarische 
strömen  von  der  himmlischen  che  W^esensformen  und  Erkemitnisformen  her- 
nieder.    Durch  eine  möghchst  intensive  Vereinigung  mit  dem  aktiven  In- 
tellekte und  eine  proportionierte  Abstreifung  des  Materiellen  (neuplatonische 
und   buddhistische   Vorstellungen)    erlangt   der  Mensch   seine   höchste   Voll- 
kommenheit.  In  einem  solchen  mystischen  Weltbilde  ist  für  einen  eigentlichen, 
gesunden  Rationalismus  kein  Raum.^) 


des  Baidewi  (Br.  I  275  No.  12)  schrieb,  ist  wohl  von  diesem  Autor  zu 
unterscheiden.  —  281,  9  unt.:  miu-aggib  statt  murgih.  Die  beiden  Mög- 
lichkeiten, zwischen  denen  das  Ding  schwankt,  sind  Sein  und  Nichtsein. 
Mit  taragguh  bezeichnet  man  vielfach  das  xu'sachlose  Hervortreten  emes 
Dinges  aus  dem  Nichts,  eine  unmöghche  VorsteUung.  —  285,  19:  Der  Körper 
ist  eine  in  sich  bestehende  Substanz,  die  das  Substrat  für  Kontraria  bilden 
kann.  —  397,  3:  arsch  und  arschija.  —  427,  9:  Die  Arbeit  von  Arminjan 
ist   seitdem  in  Buchform  erschienen.  —  388,    16:  d'auteurs  statt  d'autres. 

Herrn  Professor  Goldziher  bin  ich  für  manche  freundhche  Ratschläge 
zum  besten  Dank  verpflichtet.  Daß  die  Besprechung  einiger  Werke  etwas 
verspätet  kommt,  hat  darin  seinen  Grund,  daß  das  Archiv  für  die  Veröffent- 
hchung  dieses  Jalu-esberichts,  dessen  Ms.  bereits  1911  fertig  war,  erst  jetzt 
Raum  gewinnen  konnte. 

1)  Vgl.  G.  M.  Manser,  Das  Verhältnis  des  Glaubens  und  Wissens  bei 
Averroes,  Jahrbuch  für  Philosophie  und  spekulative  Theologie  1910  XXIV  4. 


80  Horten, 

Gauthier,  Leon,  Ibn  Thofail,  sa  vie,  ses  oeuvrcs.  Paris  1909.  S.  123.  gr.  8°. 

Das  Problem  der  Versöhniuig  zwischen  Glauben  und  Wissen  ist  im  Islam 
nie  erloschen,  seitdem  die  Kenntnis  fremder  Wissenschaft,  sei  es  nun  die  von 
Griechenland,  Persien  oder  Indien,  mit  der  Religion  des  Propheten  in  Beziehung 
trat.  Der  Kampf  der  liberalen  und  orthodoxen  Theologen  bewegt  sich  seit 
800  um  diese  Frage.  Zur  Zeit  des  ibn  Tufail  1185  war  dieses  Problem  durch  den 
Kampf  ({azalis  gegen  die  griechischen  Lehren  bestimmt.  Eine  Lösung  ,die 
nach  beiden  Seiten  befriedigend  sein  sollte,  wollte  i.  T.  in  seinem  Romane: 
Haij  bn  lakzan  geben.  Diese  Schrift  fällt  in  die  populär-philosophische  Lite- 
ratiu*.  Sie  wendet  sich  an  weitere  Kreise  und  erhebt  nicht  den  Anspruch  auf 
dieselbe  Tiefe  und  Gründlichkeit  der  Spekulation  wie  die  bekamiten  Werke 
Avicemias  und  Farabis.  In  derselben  zeigt  der  Verf.,  daß  sich  Gazäli  und 
Avicenna  d.  h.  der  orthodoxe  Islam  und  die  griechische  Philosophie,  also  das 
Heidentum,  vereinigen  lassen.  Der  Prophet  steht  in  intimer  Verbindung  mit 
dem  aktiven  Intellekte  der  Mondsphäre  und  empfängt  von  demselben  gött- 
liche Inspirationen  und  tiefe  Lehren,  die  er  dem  ungebildeten  Volke  in  sinn- 
lichen Symbolen  darstellen  muß,  entsprechend  der  Psychologie  eines  nur  in 
materiellen  Vorstellungsbildern  sich  bewegenden  Denkens.  Der  Philosoph, 
der  in  abstrakten  Begriffen  die  reinen  Wahrheiten  erkennt,  sieht  in  den  Sym- 
bolen des  Propheten  die  wahren  Gedanken,  die  Gott  den  Menschen  offenbaren 
wollte.  Dem  ungebildeten  Volke  darf  man  dieselben  allerdings  nicht  mit- 
teilen, weil  dies  nur  Mißverständnisse  hervorrufen  könnte.  Ebensowenig  darf 
der  Philosoph  geoffenbarte  Wahrheiten  leugnen,  weil  in  ihnen  tiefe  Gedanken 
verborgen  sind. 

Gauthier  gibt  eine  eingehende  Scliilderung  des  Lebens  und  der  Tätig- 
keit von  i.  T.  und  der  Bibliographie  seines  Romans,  dessen  Ausgabe  und  Über- 
setzung wir  demselben  Verf.  verdanken  (Alger  1900).  In  manchen  Punkten 
gelangt  er  zu  schätzenswerten  neuen  Resultaten^). 

Macdonald,  Duncan  B.,  The  Religious  Attitüde  and  Life  in  Islam; 
Chicago  1909.  S.  317.  kl.  8°. 
In  der  religiösen  Kultur  des  Islam  sind  zwei  große  Gebiete  zu  unter- 
scheiden: Religion  und  Theologie.  Es  ist  das  praktische  religiöse  Leben,  das 
der  Verf.  in  diesem  Bande  unter  Beibringung  sehr  interessanter  Daten  schildert, 
und  das  die  Szenerie  für  die  philosophisch-theologiscen  Bewegungen  abgibt'^). 
Dabei  werden  jedoch  auch  Fragen  behandelt,  die  direkt  in  die  Geschichte 
der  Philosophie  gehören.  Ibn  Haldün  1406  kommt  eingehend  zm'  Sprache 
(seine  Lehre  von  der  Inspiration,  dem  Wunder,  der  Seele,  dem  Weltbild  als 


^)  Andere  Besprechungen:  v.  Horten,  Orientalistische  Literaturzeitung 
1910  Nr.  10  Sp.  441;  von  demselben.  Theologische  Literatm'zeitung  1910 
Nr.  19  Sp.  594;  Goldziher,  Deutsche  Literaturzeitung  1910  Nr.  42  Sp.  2641. 

-)  Die  theologischen  Richtungen  schilderte  der  Verfasser  in  seinem  1903 
in  New  York  erschienenen  Buche:  Developement  of  muslim  Theology,  Juris- 
prudence  and  Constitutional  Theory.  Eine  Bespi'echung  des  obigen  Werkes 
ist  von  J.  O.  Boyd  in  Princeton  Theological  Review  1910  VIII  2  erschienen. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  81 

ganzem,  der  Astrologie,  dem  Traume,  dem  Lebensgeiste,  der  Besessenheit, 
den  Gespenstern,  dem  Aszetismus,  der  Metaphysik,  der  Mystik),  ebenso 
Gazäli  (sein  Suchen  nach  letzten  Wahrheiten,  Bekämpfung  des  Skeptizismus), 
Beruni,  ihn  Hailikän,  Aschari,  Averroes,  ihn  al  Arabi,  Scharani  und  besonders 
die  mystische  Richtung  (Theorien  der  Sufis  und  Lebensführung  von  Heiligen, 
die  übernatürlichen  Quellen  des  menschlichen  Erkennens,  die  mystische  Ver- 
einigung mit  Gott,  Pantheismus).  Vor  allem  treten  in  den  gewöhnlichen  und 
außergewöhnlichen  Erscheinungen  (Extase,  hypnotische  und  suggestive  Er- 
lebnisse) indische  Einflüsse  mit  voller  Deutlichkeit  hervor. 

Das  Werk  ist  berufen,  durch  seine  klaren  Ausführungen  und  seine  große 
Fülle  an  Material  in  weiteren  Kreisen  Interesse  für  die  islamische  Kultur  zu 
erwecken. 

Horten,  Dr.  Max,  Die  philosophischen  Probleme  der  spekulativen  Theo- 
logie im  Islam.     (VIII,  284  S.) 

Die  spekulativ-theologischen  Bestrebungen  im  Islam  stellen  die  Formen 
dar,  in  denen  der  Islam  sich  eine  höhere  Geisteskultur  zu  assimilieren  bemühte. 
Für  die  höhere  Geisteskultur  des  Islam  sind  dieselben  von  nicht  zu  unter- 
schätzender Bedeutung.  Sie  zeigen  uns  die  gewaltigen  Kämpfe,  die  hervor- 
ragende Geister  der  arabisch  sprechenden  Kulturwelt  durchzukämpfen  hatten, 
um  die  ihnen  dm'ch  den  Koran  gegebene  Weltanschauung  entsprechend  dem 
geistigen  Niveau  ihrer  Zeit  weiter  zu  entwickeln  und  zu  veredeln.  Diese 
Kämpfe  sind  im  einzelnen  bisher  noch  völlig  unbekannt  geblieben.  Die  Auf- 
gabe der  Kulturgeschichte  des  Islam  und  der  Geschichte  seiner  Philosophie 
besteht  also  darin,  zunächst  die  Gedankenwelt  im  allgemeinen  -I.  h.  die  Fülle 
der  Probleme  und  ihre  Lösungsversuche  zu  schildern  und  dann  die  Systeme 
im  einzelnen  zur  Darstellung  zu  bringen.  Die  erste  Aufgabe  löst  das  vorUegende 
Werk,  indem  es  die  einschlägigen  Ausführungen  des  Murtada  1437,  des  be- 
deutendsten Historikers  der  islamischen  Theologie,  in  systematischer  Zusammen- 
stellung übersetzt  und  in  schwierigen  Punkten  erläutert.  Der  Wert  des  Buches 
besteht  also  darin,  daß  es  wichtige,  erstklassige  Quellen  zum  ersten- 
mal allgemein  zugänglich  macht,  an  die  sich  eine  spätere  Gesamt- 
darstellung anzuschUeßen  hat.  Als  Resultat  dieser  Pionierarbeit  sei  vor  allem 
hervorgehoben,  daß  neben  den  griechischen  vor  allem  indische  Gedanken 
(Lehre  von  der  Realität  des  Nichtseienden,  von  der  Momentaneität  des  Seins, 
von  dem  Inhärenzverhältnis  usw.)  einen  bedeutenden  Einschlag  der  theo- 
logischen Gedankenwelt  von  700 — 1200  besonders  in  Basra,  aber  auch  in 
Bagdad,  das  im  allgemeinen  mehr  griechisch  denkt,  bilden. 

Ebenso  wie  den  Verfasser  wird  manchen  Leser  die  große  Reichhaltigkeit 
der  Probleme  überraschen.  Die  spekulativen  Theologen  des  Islam  —  ihre 
hberale  Richtung  kommt  hauptsächHch  zu  Wort  —  strebten  nicht  etwa  nur 
danach,  theologische  Begriffe  klarzustellen.  Ihre  Absicht  ist,  ein  vollständiges 
philosophisches  System  zu  geben.  Alle  Fragen  des  zeitgenössischen  Wissens 
müssen  wenigstens  gestreift  werden.  Ihre  Weltanschauung  kann  daher  auch 
aus  diesem  Grunde  den  Anspruch  erheben,  in  die  Geschichte  der  Philosophie 
eingereiht  zu  werden.  Die  Lehre  über  die  Körper  wird  eingehend  erörtert 
Archiv  für  Gesohiclite  der  PhilosopMe.   XXVIII.  1.  6 


82  Horten, 

(die  Atome,  die  zusammengesetzten  Körper,  ihre  Eigenschaften,  die  Natur- 
kräfte, der  Kreislauf  des  Kosmos),  daneben  auch  die  von  dem  Lebensprinzipe 
und  der  sinnlichen  Eikenntnis  (Sehen,  Hören  usw.).  Der  Blick  des  musli- 
mischen Theologen  ist  also  der  realen  Welt  durchaus  nicht  abgewandt,  sich 
in  metaphysische  Konstruktionen  einspinnend.  Die  metaphysischen  Probleme 
bilden  jedoch  den  wichtigsten  und  ausgedehntesten  Teil  des  Systems. 

Die  Aufgaben  der  Geschichte  der  Philosophie  im  Islam  bestehen  zimächst 
in  der  Ausgrabvmg  und  Klarstellung  der  wichtigsten  Tatsachen,  sodarm  in 
deren  gesetzmäßiger  Verknüpfung.  Die  Jahrhunderte  nach  1100  werden  sich 
aber  kaum  so  reich  an  Überraschungen  erweisen,  wie  die  Frühzeit  der  isla- 
mischen Philosophie,  die  dm'ch  die  spekulativen  Theologen  von  700 — 1100 
vertreten  ist  und  deren  Gedanken  das  vorliegende  Buch  schildert.  In  der  späteren 
Zeit  ist  das  indische  Element,  soweit  sich  dies  nach  den  Stationen  des  Igi  be- 
m'teilen  läßt,  diurch  das  aristotelisch -neuplatonische  verdrängt  worden. 
Bunter  und  wechselvoller  waren  die  Gedankenbildungen  der  älteren  Zeit, 
die  den  kindhchen  Zug  einer  anfangenden  Bewegung,  die  ohne  Erfahrung 
das  Neue  hastig  annimmt,  deutlicher  an  sich  trägt^). 

Horten,  Dr.  Max,  Die  philosophischen  Ansichten  von  Räzi  1210  t  und 
Tusi  1273  t-     Aus  den  Originalquellen  übersetzt  und  erläutert. 

Die  philosophischen  Bewegungen  im  Islam  nach  Gazäli  1111  f  sind  noch 
völUg  imbekannt.  Ja,  es  hat  sogar  die  Vorstellung  geherrscht,  seit  dem 
XII.  Jahrhundert  sei  das  philosophische  Geistesleben  aus  dem  Islam  ganz 
geschwunden.  Für  die  Kenntnis  der  arabischen  Kultur,  Geschichte,  Religion, 
Weltanschauung  und  Sprache  dieser  Periode  ist  es  daher  erforderlich,  daß 
ihre  wissenschaftliche,  besonders  philosophische  Literatvu*  bekannt  werde. 
Zu  ihr  gehören  nicht  in  letzter  Linie  die  spekulativ-theologischen  Arbeiten. 
Razi  1210  t>  genamit  der  König  der  Disputatoren,  bekannt  als  Kommentator 
Avicemias,  ist  unbestritten  der  füluende  Geist  jener  Epoche.  Er  wurde  1149 
zu  Rai  als  Sohn  eines  Predigers  geboren,  erhielt  seine  Ausbildung  dort,  in 
Tebriz  und  Maraga,  machte  Reisen  durch  Hwarizm  und  Transoxanien,  um 
als  Lehrer  und  Prediger  in  seine  Vaterstadt  zurückzukehren  und  sich  später 
in  Herät  niederzulassen.  Die  Anzahl  seiner  Schriften  ist  eine  gewaltige.  In 
ihnen  bekundet  er  seine  eingehende  Keimtnis  des  gesamten  Wissens  seiner 
Zeit.  Besonders  an  der  griechischen,  aber  auch  an  der  indischen  Philosophie 
(Realität  des  Nichtseienden  —  System  der  Vaischesika)  versucht  er  die  Schärfe 
seiner  Kritik,  die  dvuch  eine  extrem -realistische  Erkemitnistheorie  bestimmt 
ist.  Auf  diesen  wunden  Punkt  weist  mit  Scharfsimi  der  große  Kiitiker  Räzis, 
Tusi  1273  t>  ein  Zeitgenosse  von  Thomas  von  Aquin,  hin.  Daher  ist  dessen 
System  eine  erwünschte  Ergänzung  der  Gedankenwelt  Razis. 

Tusi  wurde  1210  in  Tus  geboren.  Er  bildete  sich  zu  einem  allseitigen 
Gelehrten  aus,  betätigte  sich  aber  besonders  als  Astronom  und  Erbauer 
und  Verwalter  einer  Sternwarte  in  Maraga.  Die  Trigonometrie  hat  er  als  erster 


1)  Ibn  Kils   (S.  131)   ist  Empedokles,   briefliche  Äfitteilung  Prof.   Gold- 
zihers,  für  die  ich  ihm  bestens  danke. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  83 

als  eine  besondere  Wissenschaft  bearbeitet.  Den  Mongolenchan  Hulägu  1264  i' 
begleitete  er  auf  dessen  Kriegszügen,  was  ihm  die  Gelegenheit  bot,  sich  aus 
den  erbeuteten  Bücherschätzen  eine  große  Bibliothek  zu  sammeln. 

Die  vorliegende  Schrift  besteht  aus  direkten  Übersetzungen  arabischer 
Originale,  die  ein  Bild  von  der  Ausdehnung  und  Tiefe  der  Philosophie  von 
Razi  und  Tusi,  der  Fülle  ihrer  Probleme  und  Schärfe  von  deren  Behandlung 
geben  sollen.  Dem  Werke  ist  ein  Anhang  hinzugefügt,  der  die  griechischen 
Pliilosophen  in  der  Gedankenwelt  von  Razi  und  Tusi  nach  den  Originalquellen 
schildert. 

Eingehend  werden  besonders  behandelt  die  Proprietäten  des  Kontingenten, 
das  Xichtseiende,  die  Seinsweisen,  Einheit  und  Vielheit,  Wesenheit  und  Ak- 
zidens, die  Zeit,  das  Kausalproblem  (Versuch  einer  Begründung  des  Kausal- 
gesetzes), der  Denkvorgang,  Wollen  und  Handeln,  Wille  und  Widerwille,  die 
Gefühle,  die  konstituierenden  Bestandteile  der  Körper  und  ihre  Bestimmungen. 
Interessant  ist  vor  allem  die  Lehre  von  den  angeborenen  Ideen,  die  Tusi  sich 
wohl  als  unbewußt  im  Geiste  ruhende  Dispositionen  denkt.  Im  Vergleiche 
zu  der  liberal-theologischen  Bewegung  bis  1050  bedeutet  die  spekulative 
Theologie  der  späteren  Zeit  ein  Vordringen  der  griechischen  Gedankenwelt 
und  eine  gründlichere  Schulung  im  philosophischen  Denken,  die  besonders 
durch  die  aristotelische  Logik  herbeigfeührt  wurde.  Wie  bedeutend  Razi 
war,  geht  auch  daraus  hervor,  daß  Igi  1355  seine  Ansichten  zitiert  und  kriti- 
siert, sich  in  vielen  Punkten  (z.  B.  der  Lehre  von  den  Sinnestäuschungen) 
enge  an  ihn  anschließt '^).  Einer  gleichen  Schätzinig  Razis  begegnen  -nir  bei 
den  Kommentatoren  Igis:  Gm-gäm  1113  f,  Fanäri  1481  f  und  Sijalküti  1656  f- 

Horten,  Dr.  Max,  Die  Philosophie  des  abu  Raschid  (um  1068).  Aus  dem 
Arabischen  übersetzt  und  erläutert.  Bonn  1910. 
Abu  Raschid  bedeutet  den  Abschluß  der  liberal-theologischen  Bewegung 
im  Islam.  Er  ist  der  große  Schüler  des  Abdalgabbär  1024  f,  des  bekannten 
Historikers  jener  kultm-historisch  so  bedeutsamen  Richtmig.  Seit  den  Tagen 
des  Lehrers  Hasan  von  Basra  728  f  hatten  diejenigen  theologisch-philosophischen 
Diskussionen  eine  lange,  vielgestaltige  Entwicklung  ziu-ückgelegt,  die  eine 
freisinnigere  Auffassung  der  islamischen  Dogmen  erstrebten  und  dem  je- 
weiligen Stande  des  Wissens  gerecht  zu  werden  bemüht  waren.  Die  Schule 
von  Basra  zeigt  in  diesem  Kampfe  eine  in  manchen  Punkten  grellere  indische 
Färbung  als  die  von  Bagdad,  die  mehr  griechisch  denkt.  Abu  Raschid 
vertritt  am  Ende  eines  länger  als  300  Jahre  dauernden  Ringens  die  Traditionen 
der  Schule  von  Basra  gegen  die  Angriffe  der  Bagdadenser.  In  seiner  Gedanken- 
welt beobachten  wir  also  die  Eigenart  der  Schule  von  Basra  und  das  Zu- 
sammenstrahlen indischer  und  griechischer  Kultureinflüsse  zu  einem  eigen- 
artigen Gesamtbilde.  Wegen  dieser  Bedeutung  der  Schrift  des  abu  Raschid, 
die  den  Titel  trägt :  „Die  Probleme  betreffs  der  Meinungsverschiedenheiten  der 
Schulen  von  Basra  mid  Bagdad",  wurde  sie  bereits  in  den  Kreis  des  Interesses 


^)  Forkm'nus    ist    PorphjTius    (Verschreibung),    eine    dankenswerte    Be- 
richtigung, die  mir  Herr  Lokotsch  zukommen  ließ. 

6* 


84  Horten, 

der  Orientalisten  hineingezogen.  Arthur  Birani  gab  den  ersten  Teil  derselben 
(Leiden  1902)  heraus.  Es  ist  ihm  jedoch  nicht  gelungen,  die  schwierigeren 
Stellen  derselben  zu  übersetzen.  Die  vorliegende  Arbeit  gibt  eine  zum  Teil 
wörtliche,  zum  Teil  abkürzende  Übersetzung  der  von  Biram  nicht  berück- 
sichtigten Teile  und  zugleich  eine  Ergänzung  und  Korrektur  seiner  Über- 
setzungsversuche. Auf  diese  Weise  wird  also  nunmehr  die  ganze  Schrift 
des  abu  Raschid,  die  einzige,  die  uns  von  ihm  erhalten  ist  und  zugleich  die 
wichtigste  direkte  Quelle  über  die  spekulativ-theologischen  Bewegungen 
im  Islam,  den  Nichtorientalisten  in  einer  Übersetzung  des  Berliner  Unikums 
(Glas.  12),  das  leider  fragmentarisch  ist,  dargeboten.  Der  erste  Teil,  der  eine 
systematische  Zusammenstellung  der  Lehren  des  abu  Raschid  enthält,  dient 
als  einleitende  Orientierung. 

Beachtenswert  ist  abu  Raschid  ferner  als  Zeitgenosse  Avicennas  1037  f- 
Als  die  liberal-theologische  Bewegung  ihre  letzte  Blüte  trieb  und  die  letzte 
Kraftanstrengung  machte,  war  ihr  bereits  durch  Avicenna,  der  in  der  rein 
griechischen  Strömung  sich  bewegend  eine  tiefere  Wissenschaft  vertrat,  das 
Grab  gegraben.  Es  war  der  griechischen  Gedankenw"elt  ein  Leichtes,  das 
Kartenhaus  der  naiv-eklektischen  liberalen  Theologie  des  Islam  zimi  Zusammen- 
sturz zu  bringen.  Auch  in  dieser  Beziehung  ,  d.  h.  in  dem  Kampfe  gegen 
das  Eindringen  der  als  heidnisch  empfundenen  griechischen  Philosophie  be- 
zeichnet abu  Raschid  einen  Grenzstein.  Nach  ihm  hält  Avicemia  ungestört 
seinen  Einzug  in  die  islamische  Philosophie,  das  Entwicklungsgesetz  be- 
stätigend, daß  eine  höhere  Stufe  der  Erkeimtnis  auf  die  Dauer  nicht  von  einer 
niederen  in  ihrem  Siegeszuge  aufgehalt  werden  kann^). 

Farabi,    Eine  Sammlung   von  Schriften,  herausgeg.  von  Haiabi  (Badraddin, 

Muhammad)    mit    Unterstützung    von  Gamali   (Ahmad)    und  Hänigi. 

Kairo  1907.     S.  175. 

Das  Interesse  des  Islam  ist  nicht  nur  der  modernen  Kultur,  sondern  auch 

seiner  eigenen  Vergangenheit  zugewandt.    Dieses  Streben  hat  es  bewirkt,  daß 

der  Orient  uns  in  den  letzten  Jalu-en  mehrere  schätzenswerte  Veröffentlichungen 

seiner  Klassiker  beschert  hat.    Dabei  ist  es  jedoch  zu  bedauern,  daß  der  Islam 

aus   seiner  mittelalterlichen  Literatur  vielfach  eine  für  die  Jetztzeit  noch 

gültige  Weisheit  zu  schöpfen  sucht.     Dieses  liegt  in  dem  Kommentare  vor, 

den  Hälabi  zu  den  Ringsteinen  Earabis  schrieb  und  der  in  der  vorliegenden 

Sammlung  veröffentlicht  wurde.    Haiabi  lebt  zm-zeit  in  Aleppo  (geb.   angebl. 

1875),  studierte  in  der  Universität  Alazhar  zu  Kairo  und  schrieb  eine  Kritik 


^)  Den  folgenden  Jahrhunderten  ist  abu  Raschid  fast  unbekannt.  Räzi 
(Muhassal)  zitiert  ihn  nicht.  Igi  und  seinen  Kommentatoren  CJurgäni  1413  "j" 
Fanari  1481  t  und  Sijalkuti  1666  f  sind  nur  die  bekannteren  liberalen  Theologen 
zwischen  900 — 950  hauptsächlich  geläufig.  Murtada  1437  t  zitiert  ihn  jedoch 
noch  elfmal  (vgl.  meine  Schrift:  Die  philosophischen  Probleme).  Die  sich 
in  den  späteren  Jahrhunderten  als  liberale  Theologen  bozeichnende  Richtung 
ist  von  der  älteren  gleichnamigen  zu  unterscheiden.  Sie  weist  bereits 
stärkere  griechische  Einflüsse  auf. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  85 

der  dort  herrschenden  Methode,  die  großes  Aufsehen  erregte.  In  dem  Kom- 
mentare zu  den  Ringsteinen  (S.  115 — 175)  bewegt  er  sich  in  durchaus  mittel- 
alterlichen Vorstellungen,  die  von  jeder  tiefer  gehenden  Kritik  frei  sind.^)  In 
die  Gedanken  Faräbis  950 1  ist  er  vollkommen  eingedrungen  und  beweist 
dadurch,  daß  auch  heute  noch  das  Verständnis  der  Philosophie  des  zehnten 
Jahihunderts  und  mit  ihr  der  griechischen  Denkweise  nicht  erloschen  ist. 
Vielfach  geht  er  in  seinen  Erläuterungen  auf  Avicenna  zurück-). 

Dem  Sammelbande  gehen  drei  Vorworte  voraus.  Das  erste  handelt  über 
Farabi  und  stellt  Daten  aus  historischen  Quellen  der  Araber  zusammen,  die 
zweite  über  Plato,  die  dritte  über  Aristoteles,  die  sich  beide  auf  europäische 
Vorarbeiten  stützen.  An  diese  reihen  sich  die  von  Dieterici  bereits  veröffent- 
lichten Schriften  Farabis  an:  1.  Die  Vereinigung  zwischen  Aristoteles  und 
Plato;  2.  der  Zweck,  den  Aristoteles  in  seiner  Metaphj'sik  verfolgt;  3.  die  Be- 
deutungen des  Wortes  Verstand;  4.  die  Vorbereitung  zum  Studium  der  Philo- 
sophie; 5.  die  Hauptprobleme;  6.  die  Kritik  der  Astrologie;  7.  Philosophische 
Fragen  und  Antworten  (bis  S.  113).  Der  Text  ist  durchgängig  korrekt  und 
deutlich.  Neues  bringt  diese  Veröffentlichung  also,  abgesehen  von  dem  be- 
achtenswerten Kommentare  des  Haläbi,  nicht.  Sie  ist  ein  Zeugnis  für  die  Eigen- 
art der  modernen,  philosophischen  Interessen  im  Islam. 


Schiräzi^)  1310  t.  Kommentar  zu  Suhrawardi  1191 1>  „Die  Philosophie  der 
Erleuchtung",  Lithographie.  Teheran  1313 — ^15=18.  565  S.  4°. 
Suhrawardi,  der  ,, Leitstern  der  Mystiker",  hat  durch  seine  Lebenswerke 
,,Die  Philosophie  der  Erleuchtung"  und  ,,Die  Tempel  des  Lichtes"  eine  eigen- 
artige Auffassung  der  Philosophie  entworfen  und  eine  große  Schule  -.on  Mystikern 
begründet,  die  bis  in  die  spätere  Zeit  bedeutende  Philosophen  zu  ihren  An- 


^)  Die  Ausführungen  sind  wörtlich  identisch  mit  dem  Kommentare  des 
Farani  zu  Farabi  (vgl.   Horten:  Ringsteine  Farabis). 

-)  Haiabi  (abu  Firäs)  ist  ferner  durch  einen  Kommentar  zu  den  Muallakät 
(Perlenschnüre,  altarabischen  Gedichten)  bekannt,  der  den  stolzen  Titel  trägt: 
„Das  Höchste,  was  Araber  erreichen  können  (finis  ultimus)  in  Kommentaren 
über  die  Muallakät"  (nihdjat  alarab  min  scharh  muallakät  alarab).  Kairo 
1906.     8°.     231  S. 

Faräbis  philosophische  Abhandlungen,  die  Fr.  Dieterici  1890  in  Leiden 
di-ucken  ließ,  erschienen  1907  in  Kairo  (103  S.  kl.  8°)  ohne  Angabe  dieser 
Quelle  unter  dem  irreleitenden  Titel:  Die  Versöhnung  zwischen  Plato  und 
Aristoteles,  eine  Abhandlung  Faräbis.  Diese  bildet  jedoch  nur  die  erste  der 
bekannten  acht  Schriften  des  ,, zweiten  Lehrmeisters".  Beigefügt  ist  der 
auch  von  Dieterici  veröffentlichte  Auszug  aiis  Kifti  über  Farabi. 

^)  Mahmud  bn  Mesüd  bn  müslih  Kutbeddin  elfaukäni  (der  obere  Polar- 
stern der  Religion",  im  Gegensatze  zu  dem  ,, unteren  Polarstern  der  Religion", 
Räzi  1364  t  Br.  I  466  Nr.  26,  1;  437;  II  211f.  u.  Carra  de  Vanx  Journal 
asiatique  1902;  jan\-ier:  La  philosophie  illuminative)  befaßte  sich  mit  Medizin 
(Kommentar  zu  Avicenna,  Die  allgemeinen  Gnindsätze  des  Kanon  der  Heil- 
kunde), Koranexegese,  Philosophie,  Mystik  und  besonders  Astronomie. 


86  Horten, 

hängern  zählt,  wie  es  die  zahlreichen  Kommentare  und  die  vielfachen  Zitate 
in  der  späteren  philosophischen  Literatur  (z.  B.  bei  Farüki  1745  f)  erweisen. 
Daß  diese  Mystik  eine  Weiterbildung  der  Philosophie  bedeutet,  zeigt  Suhra- 
wärdi  in  der  Einleitung,  indem  er  den  Leser  für  weitere  Untersuchungen  ver- 
weist auf  1.  Avicenna,  „Die  Genesung  der  Seele"  und  2.  ,,Die  Erlösung  vom 
Irrtum"  (ennagat),  3.  ,,Die  Unterhaltungen  (elmutarahät)^),  4.  ,,Die  Er- 
klärungen" (ettalwihat  Br.  I  437  Nr.  2)  von  Suhrawärdi  selbst.  Seine  Mystik 
teilt  er  in  zwei  Teile:  I.  ,,Die  Regeln  des  Verstandes"  (dawäbit  elfikr,  Logik). 
Durch  dieselben  ,, soll  der  richtige  Gedanke  vom  falschen  unterschieden  werden" 
in:  1.  der  Definition,  2.  dem  Beweise  und  seinen  Prinzipien  und  3.  der  Wider- 
legmig  der  Sophismen.  In  diesem  Sinne  wird  behandelt:  1.  die  Bedeutungen 
der  Worte,  2.  Begriffsbildung  und  Aussage,  3.  die  Wesenheiten  der  Dinge, 
4.  der  Unterschied  zwischen  wesenhaften  und  äußeren  Akzidenzien,  5.  das 
Universelle  existiert  nicht  in  der  Außenwelt,  ist  nm-  ein  ens  rationis,  6.  die 
Gesetze  der  richtigen  Definition,  7.  die  Arten  des  Urteils  und  ihre  Konversion, 

8.  der  Syllogismus,  9.  das  Analogon,  10.  die  Materie  der  demonstrativen 
Syllogismen,  11.  Kritik  einiger  Grundsätze  der  Peripatetiker  (Verhältnis 
von  Wesenheit  und  Dasein,  ob  real  oder  nur  logisch  verschieden;  Definition 
des  Körpers  entweder  als  Ausdehnung,  die  aufnahmefähig  ist  für  die  drei 
Dimensionen,  oder  als  Substanz,  die  entsteht  aus  der  Zusammensetzung  von 
Form  und  Materie,  das  sich  Verdichten  und  Verflüchtigen  der  Körper;  die 
Unsterblichkeit  der  Seele,  die  platonischen  Ideen;  das  Einfache  kann  Ausgangs- 
punkt für  das  Zusammengesetzte  sein  usw.).  Den  Schluß  bilden  Ausführungen 
über  die  Objekte  der  Sirmeswahrnehmung,  bes.  die  Natur  der  Strahlen,  die 
„nicht  etwas  Körperliches  sein  kömien",  und  das  Eine  und  Viele.  Der  II.  Teil 
ist  betitelt:  die  göttlichen  Lichter  und  bespricht:  1.  die  Definition  der  ersten 
Evidenz,  2.  das  Licht  und  die  Finsternis,  die  identifiziert  werden  mit  Geist 
und  Materie,  3.  die  Verschiedenheit  der  Dinge,  die  gemessen  wird  nach  der 
größeren  oder  geringeren  VoUkommenheit,  nicht  nach  den  Arten,  wie  es 
philosophische  Lehre  ist,  4.  Gottesbeweise  (Gott  ist  das  erste  Licht,  dessen 
Ausstrahlungen  die  Geister  und  Körper  sind),  5.  Einheit  Gottes,  6.  die  Ordnung 
des  Seins:  Aus  Gott  geht  zunächst  nur  ,,eine"  Wirkung  hervor,  da  Er  seinem 
Wesen  nach  „einer"  ist.  Die  Vielheit  der  Geschöpfe  erklärt  sich  durch 
die  Vermittelungen  und  aufnehmenden,  passiven  Momente  der  Emanation), 
7.  die  niederen  Geschöpfe,  d.  h.  die  mit  Finsternis  gemischten  Parüzipationen 
des  reinen  Lichtes,  streben  im  Kreislaufe  des  Kosmos,  zum  höheren  Lichte 
zm'ückzugelangen,  8.  Ausgangspunkt  der  ,, Erleuchtung"  ist  das  Wissen  Gottes, 

9.  das  Unvollkommene  setzt  die  Existenz  des  Vollkommenen  voraus.  10.  der 
Geist,  d.  h.  das  Licht,  hat  eine  unbegrenzte  Schaffenskraft,  11.  die  Welt  ist 
ewig,  daß  das  Ausströmen  des  Lichte?  anfangslos  und  (in  seinem  Verlaufe) 
zeitlos  ist.  Ewig  ist  dann  auch  die  Zeit.  Aus  der  Gleichsetzung  von  Licht, 
reinem  Sein  und  Geist  konstruiert  sich  Suh.  sein  phantastisches  Weltbild, 


1)  Dieses  sonst  unbekannte  Werk  ist  nach  Ausweis  von  Schirazi,  ,,Die 
^^er  Reisen",  fol.  107  b.  11  eine  Sclmft  des  Schaich  alischrak,  des  Meisters 
der  Philosophie  der  Erleuchtung,  Suliraw^ärdis. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  87 

das  er  bis  zum  Pantheismus  durchführt.  Alle  Wissenschaften  nimmt  er  in 
seine  Mystik  auf  (nach  dem  Vorbild  der  PMlosophen;  Pliilosophie  ist  Enzyklo- 
pädie aller  Wissenschaften)  .und  bildet  sie  in  seinem  Sinne  um,  vielfach  unter 
heftigem  Widerspruch  gegen  die  „Peripatetiker",  jedoch  so,  daß  die  Elemente 
und  Argumentationsweisen  seiner  Philosophie  durchaus  aristotehsch  (und 
platonisch)  sind.  Den  Schluß  bildet  eine  mystische  Ethik^)  und  die  Lehre 
über  das  Leben  nach  dem  Tode  in  der  Welt  des  reinen  Lichtes.  Zur  Herstellung 
des  Grundtextes  hat  Schiräzi  sich  melu-erer  Handschriften  bedient  und  führt 
aus  ihnen  die  Varianten  an.  Er  folgt  in  allem  dem  Gnmdtexte  und  führt  die 
einzelnen  Probleme  mit  einer  ausgedehnten  Kenntnis  der  philosophischen 
Literatiu-  weiter  aus.  Es  werden  zitiert:  1.  Agathodemon  (Agäthädimün), 
Hermes  Trismegistos  Agathokles  Empedokles  (Anbaduklas  sie !),  Pj^thagoras, 
Sokrates,  Plato,  Aristoteles;  2.  \-iele  „gelehrte  Perser",  imter  denen  Religions- 
stifter und  Könige  figurieren;  3.  Farabi,  Avicenna  (seine  Schriften  werden 
einzeln  genannt  und  häufig  zitiert);  4.  Asklepios;  5.  in  den  späteren  Rand- 
glossen Dauwäni  1501  f»  Gurgäni  1413  t,  Räzi  1210  j,  Ibn  al  Arabi  usw. 
Die  ZugängUchmachung  dieser  Schrift  in  ihren  wichtigsten  Thesen  findet 
sich  in:  Horten,  Die  Philosophie  der  Erleuchtung  nach  Suhrawards; 
Halle  1912. 


Xablusi    1730,    Kommentar  zu  ibn  el-Arabi    1240t.  j>Die  Edelsteine  der 
Weisheitssprüche".     Am  Rande:    Gämi  1492  t,  Kommentar  zu  dem- 
selben Werke.     Kairo  1304  =  1887.     2  Teile.     200  +  347  S.     4". 
Es  sind  drei  bedeutende  Mystiker,  deren  Lelu-en  in  diesem  Bande  ver- 
einigt sind  (Br.  I  441;  II  207  und  437).    Von  Xäblusi  sind  85,  von  Arabi  150 
Werke  bekamit.     Der  Inlialt  obiger  Schriften  enthält  das  ganze  System  der 
Mystiker,    jedoch    nicht    systematisch    geordnet,    sondern    gelegentlich    ein- 
gestreut, wie  es    der  Gang  der  Darstellung  erfordert.     Da  die  Ansichten  der 
Kommentatoren  von  Konawi  1274  (fukük  elfusiis,  Enträtselung  der  Weisheits- 
sprüche) bis  ins  18.  Jahrh.  hier  zusammengestellt  sind,    ist  das  Material  für 
eine  Geschichte  der  Schule  Arabis  hier  geboten. 


^)  Die  mystischen  Stufen  sind:  Sinneserkenntnis,  animalische  Erkenntnis 
(innere  Sinne),  Geist,  Gott.  Eine  Notiz  d.  15  besagt:  Suhrawardi  begann  „die 
Blicke  in  die  Wesenheiten"  (Br.  Xr.  4)  und  ,,die  Erklärungen"  (Br.  Xr.  2)  vor 
der  „Philosophie  der  Erleuchtmig".  Vor  der  Vollendung  jener  beiden  Schriften 
begann  er  aber  diese  letzte.  Dann  wurde  er  am  Abschlüsse  der  letzten 
gehindert  imd  vollendete  in  der  Zwischenzeit  die  beiden  ersten  Schriften,  dann 
erst  die  letzte. 

-)  MoUa  Abderrahmän  el-Gami.  Als  Jahr  des  Druckes  ist  am  Schlüsse 
1323  =  1905  angegeben.  Der  Kommentar  von  Sufijewi  1553  t  (Bali  Halife 
Efendi  as-Sufijewi,  Br.  I  442  Xr.  12  h)  erschien  in  Konstantinopel  1303  =  1886. 
Eine  Analyse  des  Werkes  von  Arabi  findte  sich  in  C.  de  Vaux,  Gazäli  (Paris 
1902)  S.  259  ff. 


88  Horten, 

Priedläudcr,  Israel,  Vh.  D.:  The  Heterodoxics  of  the  8hiites  accoiding 
to  ibn  Hazm.  Introduction,  translation  and  commentary.  New  Haven 
1909.  80  und  182  S. 
Diese  philologische  Detailuntersuchung  und  Matcrialsammlung  für  die 
Geschichte  der  Schiiten  hat  insofern  für  die  Geschichte  der  Philosophie  In- 
teresse, als  die  liberalen  Theologen  des  Islam,  deren  Systeme  als  philosophische 
bezeichnet  werden  müssen,  zum  großen  Teile  Schiiten  waren,  und  ferner  die 
schiitischen  Lehren  vielfach  Gedankenbildungen  aufweisen,  die  ein  Streiflicht 
auf  philosophische  Systeme  werfen.  Hier  sind  zu  nennen:  1.  die  zoroastrische 
Lehre  vom  Lichte,  die  unter  der  Form,  daß  in  Adam,  Muhammed,  Ali  und 
den  Imamen  eine  besondere  Lichtsubstanz  sich  fortpflanze,  in  den  Islam 
übergegangen  ist;  2.  die  buddhistische  Lehre  von  der  Seelenwanderung  und 
der  Kette  von  Existenzen,  die  der  Iman  (Buddha)  zu  durchwandern  habe; 
3.  die  Lehre  von  der  Inkarnation  der  Gottheit  in  den  Imamen,  in  der  sich  in- 
dische (Brahma-Philosophie),  altorientalische  (Göttlichkeit  der  Könige)  und 
christliche  Gedanken  verbinden. 

Prof.  J.  Goldziher  untersucht  in  der  Zeitschr.  f.  Assyriologie  Bd.  XXII 
S.  317 — 344  die  neuplatonischen  und  gnostischen  Elemente  in  den  mündlichen 
Traditionen  (Hadit),  die  auf  den  Propheten  zurückgeführt  werden.  Ihre  Ge- 
danken spiegeln  die  Zeit  kurz  nach  800  wieder,  als  eine  stark  neuplatonische 
(z.  B.  Muammar  ca.  850)  und  speziell  plotinische  Richtung  (Theologie  des 
Aristoteles  von  Naima  ca.  835)  herrschte.  Die  hier  inFrage  kommenden ,, Sprüche 
der  Propheten"  betreffen  den  Weltintellekt,  die  erste  Emanation  Gottes 
und  das  Wirken  Gottes  auf  die  Welt,  das  nur  durch  Vermittelung  dieses  Nus, 
nicht  unvermittelt  stattfindet^).  Einen  anonjmien  Traktat  zur  Attributen- 
lehre veröffentlicht  derselbe  in  der  Festschrift  zum  70.  Geburtstage  A.  Harkavys 
(Budapest  1909)  und  zeigt  dadurch  wiederum,  wie  die  mutazilitische  Denk- 
weise auf  jüdische  Kreise  (viell.  in  MesojJotamien  gegen  1050)  eingewirkt  hat. 

In  die  philosophische  Bewegung  greifen  auch  die  verschiedenen  islamischen 
Orden  ein.  Im  Derwischtume  verkörpern  sich  bestimmte  Lehren  über  Welt 
und  Menschenleben,  die  ein  besonderes  Interesse  beanspruchen  dürfen,  so 
leben  z.  B.  in  dem  Orden  der  Bektaschijje,  wie  Professor  Georg  Jacob  (Abhandl. 


^)  Den  S.  319  angeführten  Spruch  nahmen  Ibn  Hai't  ca.  860  und  Hadati 
(Fadl)  ca.  860,  zwei  Schüler  des  Nazzani  ca.  845  nach  Schahrastani  44,  4  als 
wahre  Tradition  des  Propheten  an.  Der  erste  Verstand  wird  hier  identifiziert  mit 
dem  aktiven  Intellekte,  „von  dem  die  Wesensformen  auf  die  Weltdinge  ema- 
nieren." Das  erste,  was  Gott  erschaffen  hat,  ist  der  Intellekt.  Gott  sprach, 
wende  mir  deine  Vorderseite  zu !  —  (akbil)  —  er  tat  es  — ,  wende  mir  deine 
Rückseite  zu  (adbir)  —  er  tat  es  (Nachdem  Gott  ihn  so  von  allen  Seiten  be- 
trachtet hatte)  rief  er  aus:  Wahrlich,  bei  meiner  Macht  und  Majestät!  kein 
schöneres  Geschöpf  habe  ich  geschaffen  als  dich.  Durch  dich  werde  ich  geehrt 
und  verachtet  usw.  Der  Nus  ist  also  der  Gott,  den  die  Konfessionen  als  Allah 
verehren.     Der  höchst     Gott  ist  für  die  Geschöpfe  unnahbar. 


Jahresbericht  über  die  Philosopliie  im  Islam.  89 

d.  K.  Bayer.  Akademie  der  Wiss.  I.  Kl.  XXIV  Bd.  III.  Abt.  1909)  nachweist, 
cliristliche,  indische,  gnostische  und  vorchristliche  Lehren  fort.  Die  in  ihren 
Wurzeln  altorientalische  Jdee  des  Makrokosmos,  dem  der  Mikrokosmos  ent- 
spricht (das  Erdenbild  und  in  ihm  der  Mensch  ist  dem  Himmelsbilde  parallel) 
wird  mit  kabbalistischem  Apparate  im  hurufischen  Systeme  (Lehre  von  der 
mystischen  Bedeutung  der  Buchstaben)  ausgeführt.  Stark  ist  auch  die  Idee 
des  sich  Versenkens  in  die  Gottheit  ausgesprochen.  Mit  der  Flucht  aus  der 
Welt  der  Similichkeit  (S.  18,4)  schwindet  das  Ich  (Benlik,  Ichheit),  die  eigene 
Individualität  und  die  Vielheit  der  mateiiellen  Einzeldinge.  Dei  Mensch  steht 
dann  also  nicht  mehr  als  selbständige  Einheit  der  Vielheit  der  Weltdinge 
gegenüber,  sondern  alles  löst  sich  in  eine  Einheit  auf,  indem  che  differen- 
zierenden und  individualisierenden  Momente  fallen,  und  nm-  das  Universelle, 
letzthin  das  absolute  Sein,  die  Gottheit,  als  letzte  Einheit  bestehen 
bleibt.  Neuplatonische  und  indische  Ideen  sind  hier  vereinigt.  Die  für  die 
Geschichte  der  Philosophie  sehr  wichtige  Veröffentlichung  eines  größeren 
Quellenmaterials,  in  dem  die  Welt-  und  Lebensanschauung  der  islamischen 
Mönche  im  einzelnen  zur  Darstellung  kommt,  wird  von  Professor  Jacob, 
Dr.  Tschudi  und  Huart  vorbereitet  und,  wie  ich  nach  privaten  Mitteilungen 
sagen  kann,  manche  Überraschungen  bieten.  Ohne  eine  genaue  Darlegung  dieser 
philosophischen  Ideen  wird  das  Derwischtum  unverständlich  bleiben;  denn 
es  entnimmt  aus  jenen  Ideen  die  Motive  für  seine  Observanzen  und  Handlungs- 
weisen. 

Beziehungen  zur  Philosophie  im  Islam  finden  sich  in  dem  von  Zobel, 
Dr.  Moritz,  veröffentlichten  Teile  eines  anonymen  Kommentais  zu  Maimonides 
(Breslau  1910).  Er  gehört  der  späteren  Zeit  an  (Firuzabädi:  Lexikon  wird 
zitiert,  also  frühestens  XV.  Jalirhundert)  und  stammt  aus  Südarabien.  Dem 
jüdischen  Verfasser  sind  die  Lehren  der  Aschariten  und  ihrer  Gegner  über  die 
Eigenschaften  Gottes  bekannt.  Im  einzelnen  erwähnt  er  che  Modustheorie 
des  Abu  Häschim  (S.  58).  Die  Theorien  der  liberalen  Theologen  des  Islam 
haben  also  eine  solche  Wirkung  ausgeübt,  daß  ihr  Wiederhall  noch  im  XV.  Jahr- 
hundert in  Südarabien  und  zwar  außerhalb  des  Islams,  in  jüdischen  Kreisen, 
vernehmbar  ist.  Für  die  Bedeutung  und  Tragweite,  die  man  der  höheren 
Geisteskultur  des  Islam  beizulegen  hat,  ist  diese  Tatsache  sehr  lehrreich. 
Es  sind  keine  toten  Theorien,  die  che  Theologen  und  Philosophen  der  Re- 
ligion der  Propheten  ausgesonnen  haben.  Ihre  Gedanken  haben  Lebenskr-aft 
entfaltet  und  sind  Jahrhunderte  hindurch  in  die  geistige  Welt  vieler  Tausende 
und  zwar  der  geistig  am  höchst  Stehenden  mit  belebender  Kraft  eingedrungen. 
Der  große  Vermittler  dieser  Lehren  ist  Maimonides,  dessen  große  Bedeutung 
für  die  Kulturgeschichte  dru-ch  eine  Veröffenthchung  der  ungezählten,  sich 
an  ihn  anschließenden  Kommentare  in  noch  klareres  Licht  treten  würde. 
Unter  den  phUosophischen  Gedanken  dieser  sehr  anerkennenswerten  Arbeiten, 
(vgl.  meine  Besprechung  in  der  Deutschen  Literaturzeitung  1910  Nr.  37) 
seien  erwähnt:  1.  Das  erste  der  Akzidenzien  ist  die  Qualität  (nicht  die  Quan- 
tität; S.  59).  2.  Alles,  was  Gott  in  gleiche  Linie  mit  den  Geschöpfen  stellt, 
ist  von  ihm  ferire  zu  halten  —  eines  der  Hauptprobleme  der  islamischen  Theo- 


90  Horten, 

logie,  das  der  Kommentator  mit  denselben  Termini  behandelt,  die  den  isla- 
mischen Theologen  geläufig  sind.  3.  Wenn  wir  sagen,  Gott  ist  Einer,  so  be- 
zeichnen wir  mit  Einheit  die  untologische  d.  h.  seine  Substanz  selbst  (S.  70). 
4.  Der  Himmel  ist  ein  lebender  Körpei  (S.  71). 

Graf,  Dr.  Georg:  Die  Philosophie  und  Gotteslelire  des  Jahja  ibn'  x4.di  und 
späterer  Autoren;  Münster  1910  in:  Texte  und  Untersuchungen.  Bei- 
träge zur  Geschichte  der  Philosojihie  des  Mittelalters. 
In  eine  von  den  islamischen  Philosophen  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
abhängige  Gedankenwelt  führt  uns  die  Philosophie  des  Jahja  bn' Adi  974  f, 
eines  Schülers  von  Faräbi  (Brockelm.  I  207  Nr.  10).  Seine  Absicht  war  es, 
das  Christentum  gegen  Angriffe  muslimischer  Philosophen,  unter  denen  auch 
Kindi  auftritt,  zu  verteidigen.  Zu  betonen  ist  dabei  die  Selbstverständlich- 
keit der  Voraussetzung,  daß  er  sich  in  derselben  Gedankenwelt  wie 
seine  Gegner  aus  dem  Islam  bewege.  Für  die  gebildeten  Kreise  seiner  Zeit 
kam  eben  keine  andere  Philosophie  als  der  in  neuplatonischem  Sinne  ver- 
standene Aristotelismus  in  Frage.  Indische  und  persische  Ideen,  die  die  isla- 
mische Theologie  um  850  und  900  beunruhigt  hatten,  waren  überwunden  oder 
doch  mit  der  heri sehenden  hellenistischen  Denkweise  ausgeglichen  worden. 
Es  ist  demnach  eine  gemeinsame  Weltanschauung,  die  Muslime  und  Christen 
verbindet,  und  nwc  in  sekundären  Punkten  stellen  sich  Differenzen  heraus. 
Jahja  ist  ferner  ein  Beweis  dafür,  daß  die  spekulativen  Theolcgen  auch  in 
die  Reihen  der  Philosophen  einzugliedexn  sind  ^).  Sind  es  doch  gerade  theo- 
logische Fragen,  die  zur  Präzisierung  einiger  metaphysischer  Begriffe  führen 
z.  B.  der  Einheit  (S.  20)  und  Vielheit,  Substanz,  Person,  Vereinigung  (S.  39). 


^)  Vgl.  meine  Besprechung  in  der  theologischen  Literaturzeitung  1911 
Sp.  237  f.  und  die  von  Goldziher  in:  Deutsch.  Literaturzeitg.  1911  Xo.  25 
Warräk  (S.  5)  könnte  der  liberale  Theologe  Warräk  gegen  900  sein,  den  Schah- 
rastäni  allerdings  abu  Isa,  nicht  ibn  Isa  (S.  141)  nennt.  Als  das  metaphysische 
Wesen  Gottes  bezeichnet  er  sowohl  die  Aseitas  (fälschlich  als  Selbstursächlich- 
keit  gedeutet  nach  der  Terminologie  von  Prof.  Schell),  als  auch  die  absolute 
Intelligenz.  Jahja  beruft  sich  (S.  30,  10)  in  derselben  Weise  auf  den  consensus 
ecclesiae  (von  Graf  als  sensus  communis  bezeichnet),  wie  die  Muslime  auf  den 
Igma,  d.  h.  die  übereinstimmende  Lehre  ihrer  Gemeinde.  Die  Lehre,  daß  ein 
anfangsloses  Verursachtsein  möglich  sei  (S.  35),  führt  uns  in  eines  der  Haupt- 
probleme der  islamischen  Philosophie,  das  der  Ewigkeit  der  Welt.  Naschi 
(S.  64)  ist  ein  bekannter  Theologe  des  Islam  (gegen  915)  und  ibn  al-Hatib  der 
berühmte  Razi  (1210  f),  der  die  Philosophie  eines  Avicenna  mit  dem  Islam 
aussöhnte,  und  von  der  Folgezeit  bis  auf  Sijalküti  (1656  t),  dem  Glossator 
des  Igi  (1355  f)  als  der  Theologe  im  eminenten  Sinne  bezeichnet  wird.  S.  76 
sind  die  Titel  1.  Quellen  der  Fragen  und  2.  Quellen  der  Logik  mit  1.  Haupt- 
probleme und  2.  Hauptpunkte  (resp.  Hauptprobleme)  der  Logik  und  S.  55 
'ain  mit  Individuum  wiederzugeben.  S.  9  würde  ich  statt:  Substanz  ist  das, 
was  nicht  in  einem  Gegenstande  ist,  übersetzen:  Sub.  i.  d.,  was  keinem  Sub- 
strate inhaeriert. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam,  91 

Indem  er  dieTrinität  nahezu  mit  den  drei  Attributen:  Wissen,  Macht  und  Güte 
Gottes   identifiziert,    kommt   er   den  Muslimen   auf   halbem   Wege   entgegen. 
Diese  Dreiheit  ist  jedoch  nicht  fertig  (S.  46)  aus  der  Dogmatik  des  Islam 
entnommen,  in  der  Wissen,  Macht  und  Leben  die  wichtigsten  Attribute  sind, 
sondern  trägt  in  dem  Begriffe  der  Güte  ein  christliches  Gepräge.    Bezeichnet 
er  die  Personen  als  maäni,  so  will  er  sie  damit  durchaus  nicht  in  nominalistischem 
Sinne    als    „Bedeutungen"    subjektive    Auffassungsweisen    bezeichnen;    denn 
mana  bedeutet  (vgl.  meinen  Aufsatz  ZDMG.  Bd.  64;  1910  S.  391—96)  un- 
körperliche    Realität    in    der   Außenwelt.     Jahja  bezeichnet  also   die 
Personen  der  Trinität  als  drei  verschiedene  Realitäten  in  der  göttlichen 
Substanz.     Von  dem  Vorwm-fe  des  NominaHsmus  (S.  46  unt.  —  vgl.  S.  48, 
wo   viermal   statt   „Bedeutung"   der  Ausdiuck:    unköiperhches   Akzidens  zu 
setzen  ist,  wodurch  die  Sätze  verständlich  weiden  —  und  S.  69  unt.)  ist  Jahja 
demnach  sicheüich  freizusprechen.     Weim  die  christliche  Geisteskultur  unter 
dem  Einfluß  von  Jahja  in  der  folgenden  Zeit  (ihn  Zura  1008  f,  abul  Farag 
1043,  die  drei  Brüder  'Assal  gegen  1250  und  Petrus,  der  Mönch)  einer  mehr 
philosophischen  Richtung  huldigen,  so  bewegen  sie  sich  darin  auf  einer  parallelen 
Linie  wie  die  Geisteskultm-  des  Islam,  die  gerade  in  dieser  Zeit  eine  Blüte- 
periode durcheilt.     Beide  sind  Weiterbildungen  des  Hellenismus,   die  sich 
unter  eigenartigen  Einflüssen  selbständig  weiterentwickeln,  dabei  aber  immer 
in    Fühlung  bleiben.     Aus  diesem  Grunde  ist  es  zur  Erforschung  der  Kultur 
des  mittelalterlichen  Orients  um  so  wünschenswerter,  daß  auch  die  christliche 
Literatur  des  Orients  zugänglich  gemacht  werde.      Auf  diesem  Gebiete  ist 
Dr.  Graf  ein  Meister  und  die  Wissenschaft  würde  ihm  zu  großem  Danke  ver- 
pflichtet  sein,   wenn  er   die  in  dem   Vorworte   angekündigten  Publikationen 
bald  ausführen  würde. 

Graf,  Dr.  Georg,  Die  arabischen  Schriften  des  Theodor  abu  Quria,  Bischofs 
von  Harrän  (ca.  740— 820).  Paderborn  1910.  6,  336  S.  In:  Forschungen 
zm- christlichen  Literatur-  und  Dogmengeschichte;  bespr.  von  Dr.  Horten. 
Es  ist  sehr  zu  begrüßen,  daß  die  christliche  Literatur  des  arabischen  Sprach- 
gebietes der  Wissenschaft  zugänglich  gemacht  wird.  Mit  dem  islamischen 
Kulturkreise  standen  ihre  Vertreter  in  Beziehung.  Ibn  'Assal  kennt  (ca.  1250) 
z.  B.  die  Schriften  des  Räzi  (1210  t),  den  er  „zu  den  geistvollsten  der  späteren 
Gelehrten"!)  rechnet.  Es  ist  eine  äußerst  reizvolle,  kulturvergleichende  Studie, 
die  gemeinsamen  Züge  beider  Konfessionen,  ihre  Annäherungs-  und  Abwehr- 
versuche, zu  erforschen.  Theodor,  der  Vater  des  Kurra  lebte  zur  Zeit,  als 
die  spekulative  Theologie  im  Islam  sich  mächtig  entfaltete  und  zwar  zum 
Teil  unter  christlichem  Einflüsse.  Es  ist  daher  von  Interesse,  solche  Theorien, 
die  sich  in  beiden  theologischen  Bewegungen  gemeinsam  vorfinden,  zu  unter- 
streichen. 1.  Die  Spekulation  über  das  Wesen  des  Glaubensaktes  steht  im 
Vordergrunde.  2.  Die  Lehre  von  den  drei  Zuständen  der  Menschen  hat  auf- 
fällige Berührungspunkte  mit  der  Lehre  von  den  drei   Zuständen  bei  den 


1)  Graf:  Die  Philosophie  und  Gotteslehre  des  Jahja  ibn  'Adi  und  späterer 
Autoren.     Münster  1910.     S.  64. 


92  Horten, 

liberalen  Theologen  (Wasil  usw.,  Lehre  vom  „Mittelzustande").  Ein  direkter 
Einfluß  Wasils  748  f  ist  wohl  nicht  anzunehmen.  Wenn  keine  von  einander 
unabhängigen  Parallelbildungen  vorliegen,  werden  wohl  beide  auf  die  gleiche 
Quelle  (Johannes  Damascenus?)  zm-ückgehen.  3.  Der  Oottesbeweis  aus  den  in 
der  Welt  sich  findenden  ,, Spuren"  (d.  h.  Wirkungen,  nicht  Wirkursachen, 
S.  29)  des  göttlichen  Wirkens.  4.  Die  Idee,  daß  die  Erde  im  Niedersinken  be- 
gi'iffen  sei,  ist  den  Arabern  nicht  unbekamit.  5.  Die  Diskussionen  über  die 
Eigenschaften  Gottes  nehmen  in  der  islamischen  Theologie  von  750  an  eine 
hei  voiTagende  Stelle  ein,  ebenso  wie  in  der  christlichen.  Die  Eigenschaften 
des  Lebens,  Hörens,  Sehens  haben  nahezu  muslimische  Züge.  6.  Die  Willens- 
freiheit und  Prädestination,  der  Zankapfel  zwischen  orthodoxen  und  liberalen 
Theologen  im  Islam.  7.  Die  Dreiteilung  des  Menschen  in  Geist,  Seele,  Leib. 
Der  Koran  und  die  muslimischen  Einwände  gegen  die  Trinität  sind  abu  Kurra 
bekannt.  Seine  Darstellung  und  Argumentationsweise  sind  die  gleichen 
wie  die  der  Muslime,  was  auch  von  der  Ausdrucksweise  gilt.  Die  S.  21 — 22 
aufgezählten  ,, Vulgarismen"  finden  sich  in  den  klassischen  Werken  arabischer 
Philosophen,  sind  also  nicht  als  unklassisch  zu  bezeichnen.  Läßt  man  alle 
diese  Momente  in  ihrer  Gesamtheit  auf  sich  wirken,  so  erhält  man  den  Ein- 
druck, daß  manche  Systeme  islamischer  Theologen  (bes.  zwischen  750  und 
900)  ein  durchaus  christliches  Gepräge  haben,  und  daß  sie  in  ihrei  ganzen  Me- 
thode eine  direkte  Entlehnung  aus  dem  Christentum  sind.  Alles  was  für  den 
Islam  assimilierbar  war,  hat  man  aus  der  Schwesterreligion,  dem  Christentum 
entnommen.  Selbständigere  Züge  nimmt  die  spekulative  Theologie  des  Islam 
in  ihrer  Gesamtheit  dem  Clmstentume  gegenüber  erst  seit  900  an.  Es  macht 
fast  den  Eindruck,  als  ob  man  sich  dem  Christentum  zuwandte,  um  sich  vor 
den  unreligiös  scheinenden  aristotelischen  Lehren  zu  flüchten.  Erst  spätei 
sah  man  dem  Stagiriten  furchtloser  ins  Auge  (seit  1000),  bis  man  nach 
(und  trotz)   Gazäli  (1111  f)  seine  Lehren  immer  vollständiger  aufnahm. 

Ignaz  Goldziher,  Prof.  für  orientalische  Sprachen  an  der  Universität 
Budapest,  Die  islamische  und  die  jüdische  Philosophie.  (Die  Kultur 
der  Gegenwart,  herausg.  v.  P.  Hinneberg,  Teil  I,  Abteilung  V.) 
Da  „Die  Kultm  der  Gegenwart"  zur  Darstellung  aller  Spezialgebiete 
die  ersten  Autoritäten  jeden  Faches  zu  ihren  Mitarbeitern  zählt,  so  verstand 
es  sich  von  selbst,  daß  Ig.  Goldziher  die  Bearbeitung  der  islamischen  und 
jüdischen  Philosophie  zu  übernehmen  hatte.  Leider  wurde  ihm  nur  dei  Raum 
von  ungefähr  30  Seiten  zugebilligt,  der  ihm  nicht  gestattet,  die  ganze  Fülle 
seiner  in  mehrere  Jahrzehnte  langer  Spezialistenarbeit  erworbenen  Kenntnisse 
zu  entfalten.  Ferner  ist  der  Gesichtswinkel,  unter  dem  diese  Cieistesbewegung 
hier  betrachtet  wird,  nicht  das  Interesse  an  der  Geschichte  der  Gedanken- 
bildungen als  solcher,  sondern  ,,die  Wirkung,  die  sie  auf  die  abendländische 
Scholastik  ausgeübt  haben"  (S.  4,  5.)  Aus  diesem  Grunde  wohl  ist  die  nach- 
gazalische  Philosophie  sehr  in  den  Hintergrund  getreten.  G.  schildert  I.  Kalam 
und  Philosophie,  II.  Neuplatonische  Bearbeitung  der  Philosophie  des  Aristo- 
teles, III.  Neuplatonische  Philosophie,  die  auch  die  pythagoraeische  Zahlen- 
sinn bolik   in   ihr   System   aufnimmt   und   auf   staatliche   Theorien   (Batinija) 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islain.  93 

und  Mystizismus  (Sufismus)  ihren  Einfluß  ausübte,  IV.  AristoteUker  im  Islam 
—  okkultistische  Theorien,  V.  die  späteien  Schicksale  der  Philosophie  im 
Islam.  Daran  reiht  sich  auf  sechs  Seiten  die  jüdische  Philosophie.  Zum  Ver- 
ständnisse tragen  die  Hinweise  auf  die  zeitgenössischen  politischen  und  reli- 
giösen Verhältnisse  sehr  bei,  von  denen  der  Verfasser  die  letzteren,  in  Teil  I 
Abt.  III  desselben  Werkes  meisterhaft  dargestellt  hat."^) 

Goldziher,  Prof.  Ignaz,  Vorlesungen  über  den  Islam.  Heidelberg  1910. 
In:  Religionswissenschaftliche  Bibliothek.  Bd.  I. 
Für  die  Geschichte  der  Philosophie  im  Islam  ist  dieses  neue  Meisterwerk 
Goldzihers  in  vielfacher  Hinsicht  von  Interesse.  Es  schildert  zunächst  die 
ReUgion,  d.  h.  die  Welt-  und  Lebensanschauung,  von  der  die  Philosophen 
der  muslimischen  Kulturwelt  ausgingen,  sodann  die  sitthchen  Prinzipien  die 
für  die  Bildung  des  Rechtes  und  der  Ethik  leitende  waren,  ferner  die  dog- 
matischen Spekulationen,  die  unmittelbar  in  die  Philosophie  eingreifen, 
was  auch  von  der  daran  anschheßend  behandelten  Mystik  gilt.  Folgende 
wichtigeren  Momente  seien  aus  dem  reichen  Schatze  des  hier  Gebotenen  hervor- 
gehoben. Es  sind  politische  Veranlassungen  gewesen,  die  die  älteste  Speku- 
lation in  religiösen  Dingen  hervorgerufen  haben.  Die  Laxisten  wollten  durch 
ihre  weitere  Fassung  des  Begriffes  Muslim  das  Haus  der  Omaijaden,  das  sich 
nicht  peinlich  an  alle  Gesetzesvorschriften  hielt,  als  gut-muslimisch  und  recht- 
gläubig hinstellen.  Die  Spekulationen  über  die  Frage,  ob  der  Glaube  ein  Mehr 
oder  Minder  zulasse  (S.  89)  bew^egen  sich  freilich  auch  in  jenen  Kreisen, 
könnten  aber  sehr  wohl  auf  christlichen  Einfluß  (vielleicht  Johannes  von 
Damaskus;  Lehre  über  das  Zu-  und  Abnehmen  der  Tugenden)  und  durch  diese 
Vermittelung  auf  Aiüstoteles  (Lehre  von  den  Intensitätsgraden  der  Quali- 
täten; vgl.  die  parallele  Lehre  bei  Thomas  von  Aquin  I— II  52  De  augmento 
habituum,  ib.  53.  De  corruptione  et  diminutione  habituum  und  ib.  66  art.  1 
utrum  virtus  possit  esse  maior  vel  minor)  zurückgehen'-).    Dies  ist  um  so  eher 


1)  Mittlerweile  erschien  die  zweite  Auflage  dieser  Studie,  die  einige 
Erweiterungen  enthält  (vgl.  OrientahstischeLiteraturztg.  1913 Nr.  11  Sp.506f.). 

2)  Kadar  (S.  95,  8  unt.)  bezeichnet  die  Macht,  die  jemand  besitzt,  un- 
abhängig von  einem  anderen  zu  handeln.  Für  Gott  ist  dieses  die  unein- 
geschränkte Macht,  das  Schicksal  zu  bestimmen,  für  den  Menschen  die  Fähig- 
keit, frei  zu  handeln,  ohne  daß  Gott  die  Macht  besäße,  diese  Freiheit  einzu- 
schränken. Kadar  bezeichnet  daher  geradezu:  Willensfreiheit,  und  Kadarija 
die  Vertreter  dieser  Lehre.  Daß  Aschari  eine  Vermittlungstheologie  darstellt, 
könnte  dennoch  in  dem  Worte  bila  kaif  (S.  122)  liegen.  Diese  bedeuten,  daß 
Gott  durch  anthropomoiphe  Prädikate  keine  realen  Eigenschaften  annehme 
(bila  kaif  ist  gleich  dem  häufigen  Ausdrucke  bila  takaijuf  d.  h.  sich  beeigen- 
schaften  mit  etwas).  Darin  liegt  eine  Konzession  an  die  liberale  Richtung  in 
der  Lehie  von  der  absoluten  Einheit  Gottes.  Die  Konzession  an  die  andere 
Überale  Lehre  von  der  Gerechtigkeit  Gottes  liegt  in  dem  Streben,  die  Willens- 
freiheit durch  die  spitzfindige  Lehie  von  der  Aneignung  zu  retten.     In  der 


94  Horten, 

anzunehmen,  als  die  liberaltheologische  Spekulation  sich  durchgängig  im 
Banne  christlicher  Ideen  bewegt  (S.  96 — 116:  Fürsprache  des  Propheten 
der  Fürsprache  Christi  am  jüngsten  Tage  abgelauscht,  Willensfreiheit,  Ver- 
innerlichung  der  Religion,  Verantwortlichkeitsgefühl,  Berechtigung  der  Ver- 
nunft in  der  Religion;  natürliche  Ethik  und  Religion  ist  möglich;  Gerech- 
tigkeit Gottes;  Gott  muß  das  Gute,  sogar  das  Beste  tun;  er  entscheidet  nicht 
willkürlich,  visio  beatifica,  Logoslehre,  Veigeistigung  des  Gottesbegriffes). 
Ein  großes  Verdiesnt  G.s  besteht  darin,  die  politischen  Bedingungen,  unter 
denen  die  liberale  Richtung  auftritt,  deutlich  gemacht  zu  haben.  Mutazilit, 
ilu-  arabischer  Xame  bedeutet  Asket.  Zur  Zeit  der  Omaijaden  war  ihnen  das 
Weltliche  Treiben  der  Herrschenden  zuwider.  Sie  sonderten  sich  daher  als 
Asketen  ab  (mutazil  =  der  sich  Absondernde)  und  traten  dadurch  zugleich 
als  politische  Oppositionspartei,  wie  die  Vertreter  der  Willensfreiheit  gegen  die 
Omaijaden  auf,  während  die  Herrschenden  die  Lehi'e  von  der  Prädestination 
hochhielten,  um  ihren  Thron  als  auf  Gottes  Willen  beruhend  hinzustellen. 
Die  Entwicklung  der  dogmatischen  und  mystischen  Spekulation  wird  an 
ihren  tragenden  Ideen  geschildert.  An  diesen  hat  man  Leitfäden,  um  sich 
in  der  großen  Fülle  von  Tatsachen  zurecht  zu  finden.  Aschari  und  Maturidi 
werden  besonders  dargestellt,  dabei  aber  nur  das  leicht  Verständliche  hervor- 
gehoben und  z.  B.  die  Lehre  Ascharis  von  der  Freiheit  des  Willens,  ,,die  An- 
eignung" übergangen.  Bei  den  philosophierenden  Theologen  selbst  ist  ihre 
Kompliziertheit  sprichwörtlich  geworden.  Sie  bietet  aber  ein  deutliches 
Beispiel  dafür,  daß  das  System  Ascharis  einen  Vermittlungsversuch  zwischen 
der  orthodoxen  und  der  liberalen  Richtung  darstellen  soU.  Wie  sehr  die  Ge- 
schichte einer  Kultiu-  von  den  Stimmungen  der  Volksseele,  ob  Weltverneinung 
oder  Weltbejahung,  abhängig  ist,  zeigt  die  Entstehung  des  Asketismus,  der 
in  seiner  Spekulation  ein  dxirchaus  eklektisches  Gebilde  darstellt:  christ- 
liche, griechische  und  indische  Ideen.  Eine  Bestätigung  dieser  Thesen  ist 
auch  die  Philosophie  des  Faräni  (um  1485;  vgl.  Horten,  Das  Buch  der  Ring- 
steine Farabis,  über  das  Nirwana  S.  54;  60f. ;  97;  165;  188;  418f.).  Wie  der 
Mystizismus  die  Idee  der  Toleranz  in  den  Jslam  hineingetragen  oder  sie 
dort  verstärkt  hat,  wird  besonders  an  einer  Gestalt  wie  Gazäli,  dem  großen 
Theologen,  deutlich  geschildert.  Die  Bedeutung  der  neuplatonischen  Philo- 
sophie tritt  nicht  nur  in  der  Spekulation  zutage.  Sie  erscheint  auch  in  der 
religiösen  Sektenbildung  (S.  248f.)  und  der  M^'stik.  Die  Getreuen  von  Basra 
haben  die  Vermittelung  gebildet.  Zur  Aufklärung  über  das  Wesen  und  die 
Gedankenwelt  des  Islam  ist  das  vorliegende  Werk  Goldzihers  vorzüglich  ge- 
eignet, bis  in  die  weitesten  Kreise  zu  wirken,  und  die  vergleichende  Religions- 
wissenschaft und  Kulturgeschichte  sind  dem  Verfasser  zum  größten  Danke 


Grundtendenz  zwischen  den  streitenden  Parteien  zu  vermitteln,  trat  die  Schule 
Ascharis  nicht  in  allzu  schroffen  Gegensatz  zu  ihrem  Lehrer,  mag  dieser  auch 
zu  einzelnen  Zeiten  seines  stürmischen  Lebens  eine  etwas  zu  stark  orthodoxe 
Entwicklung  dvirchgemacht  haben.  —  Die  Beziehungen  der  liberaltheologischen 
Richtung  zu  den  Schiiten  und  Charigiten  läßt  sich  auf  ihre  gemeinsame  Oppo- 
sition gegen  die  Omaijaden  zurückführen. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  95 

verpflichtet,  daß  er  seine  umfassende  Belesenheit  und  seinen  Scharfsimi  in 
den  Dienst  einer  so  schönen  Sache  gestellt  hat. 

Die  Kultur  des  Islam  ist  kein  Geschenk  der  Araber,  sondern  eine  eigen- 
artige Weiterbildung  des  Hellenismus^),  auf  Grund  persischer  und  indischer 
Ideen,  die  sich  mit  den  griechischen  vei  binden.  Besonders  sind  es  die  Schulen 
von  Basra  und  Bagdad,  daneben  naturgemäß  auch  Samarkand,  in  denen  in- 
dische Ideen  wirken  (vgl.  Horten:  Indische  Gedanken  in  der  islamischen 
Philosophie,  in  Vierteljahrsschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  und  Soziol- 
logie,  herausg.  von  P.  Barth;  Bd.  34  S.  310—22).  Daß  es  nicht  die  Araber, 
sondern  die  Perser  sind,  denen  das  Hauptverdienst  an  der  islamischen  Kultur 
zufällt,  zeigt  Prof.  Eilh.  Wiedemann:  Zu  ibn  al  Haitams  Optik  (Archiv  f. 
d.  Gesch.  d.  Xatur'vvissenschaften,  Bd.  III  S.  10):  ,,Ich  möchte  die  Leistungen 
von  Färisi  (um  1310,  ein  Zeitgenosse  des  Schirazi  1310,  Brockelmann  II  211f. 
der  durch  seine  Kommentare  zu  Avicenna  und  Suhrawardi  bekannt  ist)  zu 
den  allerbedeutendsten  auf  physikalischem  Gebiet  aus  dem  Altertum  und 
Mittelalter  rechnen.  Interessant  ist,  zu  sehen,  daß  er  wiederum  ein  Perser, 
nicht  ein  Araber  ist,  der  die  Wissenschaft  in  so  hohem  Maße  bereichert  hat." 
„Besonders  mache  ich  auf  die  sorgfältige  experimentelle  Prüfung  aller 
einzelnen  Sätze  aufmerksam.  Die  Methodik  stimmt  vollständig  mit 
der  unserigen  überein."  In  der  Frage,  ob  die  Araber  eine  Induktion  in 
unseiem  empirischen  Sinne  gekannt  haben,  sind  diese  und  ähnliche  Daten  vor 
allem  zu  betonen.  Eine  Theorie  der  Induktion  entwirft  Tusi  (Horten:  Die 
philosophischen  Ansichten  von  Räzi  und  Tusi;  Bonn  1910,  S.  168).  Ebenso 
denken  Avicenna  als  Mediziner,  vmd  im  allgemeinen  alle  islamischen  Philo- 
sophen, die  über  naturwissenschaftliche  Probleme  handeln.  Rein  aprioristische 
Denkweisen  finden  sich  hauptsächlich  bei  den  Mystikern  in  ihren  Lehren 
über  Gott. 

Schirazi,  Die  vier  Reisen.^)  Lithogr.  Teheran  1282=  1865.  Paginierung 
nur  bis  S.  100.  ca.  930  S.  gr.-Folio. 
Die  Datierung  und  Identifizierung  von  Schirazi  (Abu  Nasr,  Muhammed 
bn  Ibrahim  Sadreddin)  ist  noch  in  große  Dunkelheiten  gehüllt.  Folgende 
Daten  und  Werke  sind  von  ihm  bekannt:  1.  Glossen  zu  Isfahäni  1348  f» 
„Der  alte  Kommentar"  zu  Tusi  1273  f,  ,, Philosophische  Darlegung  der 
Glaubenslelu'en"  (Br.  I  509  II  2b).  Diese  Glossen  Schiräzis^)  werden  von 
Lähigi  in  einem  Atem  zitiert  mit  den  „vier  Reisen",  so  daß  man  mit  Sicher- 
heit annehmen  kann,  der  Verfasser  beider  Werke  sei  auch  aus  diesem  Grunde, 
abgesehen  von  der  auffälligen  Übereinstimmung  in  den  Xamen,  der  gleiche. 
2.  Widerlegung  der  Glossen  Dauwänis  1501  t  zu  Küschgi  1474,  ,,Der  neue 
Kommentar"    zu    Tusi,    „Philosophische    Darlegung    der    Glaubenslehren" 


^)  C.  H.  Becker,  Der  Islam  als  Problem  in:  Der  Islam  Bd.  I  15,  6. 
-)  el  asfär  el  arbaa  filhikma  (,, handelnd  über  die  Philosophie")  Br.  II  413,  2. 
2)  Mir  Sadreddin  Muhammed  esch-Schiräzi.      Als  Todesjahr  wird  1529 
angegeben. 


96  Horten, 

(Br.  I  509  II  2  c  «).  Der  Verfasser  nennt  sich  Sadreddin  esch  Schirazi  1523  f ! ! 
und  sein  Sohn:  Giäteddin  esch  Schirazi  1542  f.  3.  „Die  Erkenntnisse  der 
göttlichen  Majestät"  von  Schirazi  f  1446  (Sadreddin  Muhammed,  Br.  II 
207  Nr.  6).  4.  Superglossen  zu  den  Glossen  des  Gurgäni  1413  t  zu  dem  Kom- 
mentare des  Räzi  1364  f  über  das  logische  \^'erk  des  Kätibi  1276  t.  Des  Ver- 
fassers Namen  stimmen  überein  mit  denen  des  genannten  Schirazi:  Muhammed 
bn  Ibrahim  Sadieddin  es  Siräzi  1497  (Br.  I  466  Nr.  26  I  ^).  5.  Das  Gleiche 
gilt  von  dem  Verfasser  der  Glossen  zu  einem  Kommentare  (wahrscheinlich 
dem  des  Razi  1364  f)  zu  der  Logik  des  Urmavi  1283  t,  ,,Dip  Aufgangsorte  der 
Lichter".  Er  nennt  sich  abu  Nasr  Muhammed  bn  Ibrahim  es  Schirazi  1497  t- 
6.  Eine  eigentümliche  Übereinstimmung  herrscht  in  den  Namen  und  dem 
Datum  dieses  Verfassers  und  des  Schirazi  (Mir  Sadi-eddin  Muhammed  el 
Husaini  es  Schirazi),  der  1497  von  Turkmenen  ermordet  sein  soll  (Br.  II  204 
Nr.  3).  Er  verfaßte  zwei  Werke,  deren  Inhalt  ebenfalls  das  Arbeitsgebiet  der 
genarmten  Verfasser  ausmachen:  a)  ,, Gottesbeweise  und  göttliche  Eigen- 
schaften"; b)  „Begriffsbildung  und  Urteil"  (Br.  II  204  Nr.  3).  7.  Die  Ver- 
wirrung wird  noch  gesteigert  durch  die  Angabe  der  berliner  Hdschi.  Ahlwardt 
Nr.  5072,  nach  der  ein  Muhammed  bn  Ibrahim  es  Schirazi  1838  gestorben  sein 
soll.  Er  verfaßte  einen  Kommentar  zu  Abhari  1264  f,  „Die  Führung  zm-  Weis- 
heit" (vgl.  Archiv  XXII  397  und  398  f.).  Die  ,,vier  Reisen"  werden  zitiert 
als  sein  Werk  (fi  asfarihi).  Der  Verfasser  jenes  Kommentars  muß  also  unser 
Schirazi  sein.  Dies  bestätigt  er  auch  selbst  in  seinem  Werke:  ,,Die  vier  Reisen" 
f.  218  1.  22  et  passim,  wo  er  seinen  Kommentar  zu  Abhari  selbst  zitiert. 
8.  „Die  Erkenntnisse"  (kitab  almaschair),  erwähnt  auf  der  letzten  Seite  des 
Nr.  7  genannten  Kommentars  (Teheran  Lithogr.  1313  =  1895).  9.  Glossen 
zur  Metaphj'sik  Avicennas,  vorliegend  in  der  arab.  Handschr.  Berlin  Minutoli 
229,  Jahr  1672 !  Nr.  5045  d.  Katalogs,  übersetzt  in  Horten,  Die  Metaphysik 
Avicennas,  Leipzig  1907/09,  S.  686ff .  Er  trägt  hier  den  Namen  Sadr  (Sadreddin), 
wie  auch  vielfach  in  dem  Nr.  7  genamiten  Werke^).  10.  Anmerkungen  (talikät, 
vgl.  die  gleichnamigen  Werke  Farabis  Br.  I  212  D  6,  und  Aviennas,  Br.  I 
455  Nr.  21)  zu  Schirazi  1310:  „Kommentar  zu  Suhrawardi"  (1191  f),  „Die 
Philosophie  der  Erleuchtung"  (Br.  I  437).  Sie  wurden  in  Teheran  1313 — 15 
mit  dem  genamiten  Buche  Suhrawärdis  lithographisch  veröffentlicht.  11.  Ein 
schiitischer  Korankommentar  wurde  1322  (fol.  616)  zu  Teheran  lithographiert. 
Sein  Verfasser  nennt  sich  Sadraddin  Muhammed  Ibrahim  al-Scliirazi,  also 
offenbar  unser  Autor.  12.  Ein  Kommentar  zur  Metaphysik  Avicennas  er- 
schien 1303  d.  H.  in  Teheran  zugleich  mit  dieser  in  Lithographie.  Sein  Ver- 
fasser nennt  sich  Schirazi.  Sein  Stil  stimmt  mit  dem  Verfasser  der  ,,vier  Reisen" 
überein  (verschieden  von  Nr.  9).  13.  Ein  Kommentar  viell.  zu  Abhari  (s.  unten 
in  der  Besprechung  von  Nr.  8,  ,,Die  Erkenntnisse".  14.  Der  Thron  Gottes 
(errisola  alarschija)  von  Sadr  almutaallihin  (dem  Vorkämpfer  der  Theologen) 
Muhammed  al-Schiräzi  genannt  Sadraddin  (s.  unt.).  15.  Kommentar  zu 
Suhrawardi:  Die  Philosophie  der  Erleuchtung",  von  Schirazi  selbst  zitiert 
(s.  unten),  vielleicht  identisch  mit  Nr.  10. 


1)  Vgl.  Archiv  XXII  392,  20;  397  ff. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  97 

Die  meisten  dieser  Werke  möchte  ich  trotz  der  so  sehr  divergierenden  Da- 
tierung einer  und  derselben  Person  zuweisen.  Schirazi  (vielleicht  1640  t)  ist  einer 
der  hervorragendsten  Denker  des  Islam.  Et  steht  in  der  Strömung  der  späteren, 
mit  Gazäli  anhebenden  Bewegung,  die  mit  rein  philosophischen  Erkennt- 
nissen mystische  Gedanken  verbinden  will,  Verstand  und  Gefühl  vereinend. 
Wenn  seine  Werke  auch  außerordentlich  umfangreich  sind,  so  enthalten  sie 
doch  kaum  überflüssige  Worte.  Es  weht  in  ihnen  ein  ganz  ariderer  Geist  als 
in  den  wortreichen,  aber  gedankhch  armen  Schriften  eines  ibn  Hazm  und 
ibn  Taimija.  Schirazi  ist  durch  und  durch  Philosoph.  Seine  Gedanken  sind 
scharfsinnig,  und  er  ist  bemüht,  sie  auf  den  kürzesten  Ausdruck  zu  bringen. 
Vielfach  deutet  er  ganze  Argumentationen  nur  kurz  an.  Jedes  Wort  will 
erwogen  sein.  Die  große  Ausdehnung  seiner  Schriften  beruht  nur  auf  der  Fülle 
des  gebotenen  Materials. 

Das  bedeutendste  Werk  Schirazis  sind  unstreitig  die  vier  Reisen,  eine  sehr 
umfangreiche  philosophische  und  mystische  Enzyklopädie  „Der  Mystiker, 
so  heißt  es  gegen  Ende  der  Einleitung,  macht  vier  Reisen,  die  erste  von  den 
Geschöpfen  zu  Gott,  die  zweite  mit  Gott  (bilhakk)  in  Gott;  die  dritte  steht 
der  ersten  gegenüber;  denn  sie  geht  von  Gott  zu  den  Geschöpfen  mit  Gott, 
die  vierte  der  zweiten,  insofern  sie  sich  imierhalb  der  Geschöpfe  mit  Gott 
bewegt."  In  diesem  W^erke  legt  er  das  Endresultat  seines  langen  Kampfes 
um  die  Weltanschauung  nieder.  „Seit  meiner  frühesten  Jugend  habe  ich  meine 
ganze  Kraft  der  Philosophie  gewidmet.  Was  ich  in  den  Schriften  der  Griechen 
(el  lunanijün)  und  der  besten  Lehrer  i)  fand,  habe  ich  in  erklärender  Form 
dargestellt.  Bereits  schickte  ich  mich  an,  ein  umfassendes  Werk  zu  schreiben, 
das  alles  enthalten  sollte,  was  ich  an  Lehren  der  Peripatetiker  und  Mystikei 
gefunden  hatte,  vermehrt  mit  Erläuterungen, .  wie  sie  in  den  Büchern  der  Ge- 
lehrten noch  nicht  gegeben  worden  waren'-)".  Da  wiu-de  ihm  das  Glück  un- 
günstig. Zweimal  mußte  er  die  Stelle  eines  Hauslehrers  annehmen.  Im  Laufe 
der  Zeit  war  seine  Richtung  eine  mehr  mystische  geworden:  „die  Flammen  der 
göttlichen  Majestät  ergossen  sich  über  mich  und  ich  erschaute  Geheimnisse, 
die  ich  vordem  in  den  Beweisen  (der  Peripatetiker)  nicht  erblickt  hatte.  Jedoch 
betrachtete  ich  nunmehr  alles,  was  ich  früher  im  demonstrativen  Beweise 
erlernt  hatte,  deutlicher  unter  Hinzufügung  neuer  (mystischer)  Erkenntnisse". 
Alles  dieses  faßte  er  in  dem  genannten  Werke  zusammen.  Eingeteilt  ist  das- 
selbe in  Reisen,  Wege,  Tagesmärsche,  Pfade,  Kapitel.  Doch  laufen  daneben 
auch  die  Einteilungen,  die  Avicenna  verwendet:  Teil,  Abhandlung,  Kapitel. 
Die  erste  Reise  handelt  über  ,,das  Sein,  seine  primäie  Einteilung  und  wesentlichen 
Akzidenzien",  und  einleitend  über  die  Definition  dei  theoretischen  und  prak- 
tischen Philosophie  (nach  Avicenna,  Einleitung  zur  Logik),  ihre  primären  Teile, 
ihren  Zweck  und  ihre  Würde:  Das  Sein  ist  eigentliches  Objekt  der  Meta- 
physik als  universeller  Wissenschaft  gegenüber  den  Einzelwissenschaften, 
deren  System  nach  aristotelischen  Ideen  entwickelt  wird.  Das    Sein  ist  ein 


^)  Farabi  wird  der  zweite  und  Avicenna  der  dritte  „Lehrer'    genant. 
-)  Diese  bezweckten  eine  Übereinstimmung  zwischen  den  Peripatetikern 
(Naturphilosophen)  und  den  Mystikern  anzubahnen. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  1.  n 


98  Horten, 

universeller  Begriff,  der  äquivoce,  nicht  univoce  jirädiziert  wird.  Der  in  sich 
evidente  Begriff  des  Seins  ist  ein  rein  logischer  Inhalt,  ohne  Korrelat  in  der 
individuellen  Außenwelt;  jedoch  ist  das  Wesen  jedes  Dinges  seine  individua- 
lisierte Existenz.  Das  Sein  ist  kein  generischer  noch  ein  spezifischer  Begriff, 
noch  auch  schlechthin  in  jedem  Sinne  universell;  es  ist  ursachlos  und  geht 
in  der  realen  Ordnung  der  Wesenheit  voraus,  während  es  in  der  logischen 
Ordnung  auf  die  Wesenheit  folgt.  Die  Modi  und  Proprietäten  des  Seins  werden 
als  Fundamente  der  Qualitäten  aufgefaßt.  Der  notwendig  Seiende  existiert 
durch  sich  imd  seine  Individualität,  ist  identisch  mit  seiner  Wesenheit  (Spezies). 
Die  Arten  des  Möglichen  werden  (S.  34f.)  erwogen.  Die  Wesenheit  ist  in  sich 
dm'chaus  indifferent  für  das  Sein  oder  Nichtsein,  eine  Lehre  Avicennas.  Die 
Kontingenz  ist  der  Grund,  weshalb  die  Wesenheiten  einer  Ursache  bedürfen, 
um  ins  Dasein  zu  treten.  Die  vielfach  vertretene  Lehre  eines  ursachlosen 
C4eschehens  (S.  50),  die  wohl  eine  Form  der  Lehre  der  Sautrantika  von  der 
Momentaneität  des  Daseins,  darstellt,  wird  abgewiesen.  Gegen  die  Vaischesika 
richtet  sich  (S.  52)  die  Thesis:  Die  kontingenten  Dinge  besitzen  vor  ihrer 
Existenz  nur  logische  Verhältnisse.  Das  Dasein  tritt  zur  Wesenheit  der  Kon- 
tingenten von  außen  hinzu  (S.  60).  In  der  Außenwelt  sind  beide  als  reales 
Indi\aduum  identisch.  Das  logische  Sein,  seine  Existenz  (gegen  die  ältere 
Richtung  der  Theologen),  seine. Eigenschaften,  die  Prädikationsweisen  werden 
sodann  eingehend  untersucht,  und  dadurch  die  Logik  in  die  Metaphysik  hinein- 
gezogen. Die  Realität  einer  mathematischen  Welt  wird  wie  die  des  Nicht- 
seins (S.  80)  abgewiesen.  Das  Sein  (Gott)  ist  ein  reines  (hit  (Plato).  Alle  nicht 
unmöglichen  Dinge  sind  für  den  Menschen  erkennbar.  Ob  das  Sein  Intensitäts- 
unterschiede besitzen  könne  wird  eingehend  (fol.  103b)  erwogen.  Die  Unter- 
suchungen über  die  Wesenheit  folgen  auf  die  über  das  Sein.  Sie  beginnen  mit 
denselben  Worten,  mit  denen  Farabi  seine  Ringsteine  einleitet.  Die  philo- 
sophische Tradition  ist  eine  eng  geschlossene  und  die  Philosophen  der  späteren 
Zeit  kennen  sehr  genau  die  Geschichte  der  Philosophie  und  ihre  verschiedenen 
Richtungen.  Sie  verfügen  über  eine  für  ihre  Zeit  staunenswerte  Belesenlieit. 
Die  Einteilung  Schiräzis  (Sein,  Wesenheit,  Akzidenzien)  ist  mit  der  Igis  (1355  t. 
Die  mystischen  Stationen)  kongiaient  und  ihr  auch  wohl  entnommen. 

Sodann  werden  besprochen  das  Universelle  und  Partikuläre,  die  Ai'ten 
der  Individuation,  Genus  und  Materie,  die  Differenz,  begriffliche  Teile  in 
einfachen  Gegenständen,  die  Konstituierung  des  Genus  durch  die  Differenz, 
des  Universellen  durch  das  Partikuläre,  Form  und  Materie,  Ableitung  der 
spezifischen  Differenz  aus  der  Form  und  des  Genus  aus  der  Materie,  Einheit 
und  Vielheit,  Identität  und  Anderssein,  die  Arten  der  Opposition,  Einheit 
und  Wesenheit,  Einheit  und  Dasein,  Vereinigungsarten  zweier  Dinge,  Leugnung 
einer  Opposition  zwischen  den  Kategorien,  Definition  der  Ursache,  Not- 
wendigkeit der  Existenz  der  Ursache,  bei  der  Existenz  der  Wirkung,  Un- 
möglichkeit einer  Kreisbewegung  und  einer  unendlichen  Kette  in  den  Ursachen 
und  Wirkungen,  Endlichkeit  aller  Ursachen;  kann  das  Einfache  zugleich 
handelnd  und  leidend  sein?  Die  Begriffe  als  Prinzipien  für  das  zeitliche  Ent- 
stehen von  Dingen;  muß  die  Ursache  mehr  Wirklichkeit  enthalten  als  ihre 
Wirkung  ?   Ist  die  adäquate  Ursache  gleichzeitig  mit  dem  Dinge  ?   —  Gemein- 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  99 

same  Bestimmungen  der  vier  Ursachen  —  kann  ein  einfaches  Ding  eine   zu- 
sammengesetzte Ursache  haben?  —  Das  Kontingente  wird  dadurch  die  Existenz 
seiner  Ursache  zu  einem  (ab  alio)  Notwendigen.  —  Das  Einfache  kann  nicht 
Ursache  von  zwei  verschiedenen  Dingen  sein.  —  Ein  und  dieselbe  Wirkung 
kann  nicht    auf    viele  Ursachen  zurückgehen  —  die  Gesetzmäßigkeiten  der 
Wirkm-sache  —  die  Bewegung  als  Medium  des  Wirkens  —  die  Wirkung  gehört 
zu  den  notwendigen  Zubehören  der  Ursache  —  das  „Verlangen"  der  Hyle 
nach  der  Form,  formale  Ursache  und  Xaturkraft,  Zweck,  Zwecklosigkeit  und 
Unzweckmäßigkeit,    die    Ziele    freigewollter    Handlungen,    Güte   und    Selbst- 
losigkeit. —  Die  Dinge  der  Welt  streben  nach  wahren  Zielen  —  Ursache  und 
Relation,   Substanz  und  Akzidens,   die  numerische  Vielheit  in  den  realen 
Wesenheiten,  das  Einströmen  des  Daseins  in  die  Individua,  die  erste  Emana- 
tion aus  Gott  ist  das  Universelle  {147f.),  —  die  möglichen  Dinge  sind  keine 
Individua  —  das  wahre  Sein  ist  frei  vom  Bösen.  —  Die  kontingenten  Dinge 
sind  Spiegel  für  die  erste  Wahrheit.  —  Der  Notwendige  ist  absolut  einzig.  — • 
Die  Möglichkeit  ist  etwas  Privatives  .  —  Körperliche  Kräfte  wirken  nur  in 
einer  gemssen  Lage  . —  Das  Sein  ist  in  sich  betrachtet  indifferent,  Ursache 
oder  Wirkung  zu  sein.  —  Das  Entstehen  jedes  Zeitlichen  setzt  eine  nicht  ab- 
brechende im  Kreise  verlaufende  Bewegung  (in  der  Kette  der  Ursachen,  die 
selbst  wiederum  Wirkungen  sind)  voraus;  die  Arten  der  Potenz,  die  Macht, 
frei  zu  handeln,  geht  der  Handlung  voraus.  — ■  Wirken  und  Nichtsein  in  ihrer 
zeitlichen   Ordnung.   —   Freiheit   ist   etwas   Psychisches,   nicht   identisch   mit 
physischen  Kräften.  —  Bewegung  und  Ruhe,  der  erste  Beweger  (ein  spezifisch 
aristotelischer  Begriff),  die  Arten  der  bewegenden  Kraft,  das  nächste  Prinzip 
der    menschlichen    Handlungen.    —   Jedem    zeitlich    Entstehenden    geht    die 
Potenz  zum  Sein  und  als  deren  Träger  eine  Materie  voraus    —  das   Substrat 
der   Bewegung,   —   In   jedem   sich   Bewegenden  wohnt   eine   Physis   (Natur- 
kraft) ;  —  die  Beziehung  des  sich  Verändernden  zum  dauernden,  der  Bewegung 
zu  den  Kategorien,  d.h.  den  fünf:  Substanz,  Qualität,  Quantität,  Lage,  Raum. 
Die  Naturkraft  ist  etwas  Unbeständiges.      Die  räumUche   Bewegung  ist   die 
vorzüglichste.    Der  Zeit  und  Bewegung  geht  nur  Gott  voraus.    Die  Zeit  kann 
keinen  Endpunkt  haben.    Die  zeitlichen  Dinge  und  das  Jetzt.    Eine  besondere 
Abhandlung  befaßt  sich  darauf  mit  den  Gesetzmäßigkeiten  der  Bewegung, 
der  Ewigkeit  und  dem  zeitUchen  Entstehen  (Wesen  desselben,  das  Entstehen 
per  se,  Gleichzeitigkeit),  dem  Geiste  und  geistig  Erfaßbaren  (als  Akzidenzien 
des  Seienden  als  solchen  —  dadurch  gehört  dieses  in  die  Metaphj'sik  —  De- 
finition des  Wissens  usw.).    Wenn  ein  Ding  Geist,  Denkendes  und  Gedachtes 
ist,  ergibt  sich  keine  Vielheit  in  seinem  (z.  B.  Gottes)  Wesen.     Die  geistigen 
Dinge  können  keinem  Körper  inhärieren  oder  sich  mit  ihm  verbinden.     Das 
zweite  Buch  befaßt  sich  mit  den  Naturwissenschaften.     Es  behandelt  unter 
diesem  Titel  rein  metaphysische   Fragen:     Die   Lehre   über  die   Kategorien. 
1.    Die    Quantität      (Definition,   Arten   und    Gesetzmäßigkeiten;    EndUchkeit 
und  Unendlichkeit;  unkörperhche  Dimensionen,  der  Raum,  das  Leere).    2.  Die 
Qualität:    a)  die  sinnUchen  Qualitäten,  nach  den  fünf  Sinnen,  Hitze,  Kälte, 
Feuchtigkeit,  Trockenheit,  Dünnheit,  Dichtigkeit,  leicht  und  schwer,  Farben, 
Licht,    Helligkeit,    Schall,    Geschmack,    Geruch;    b)    potentia    et   impotentia; 

7* 


100  Horten, 

c)  dispositio  et  habitus,  die  seelischen  Eigenschaften,  die  Macht,  frei  zu  handeln, 
der  Wille,  Charakter,  Schmerz  und  Lust,  Gesundheit  und  Krankheit,  Freude 
und  Leid;  d)  die  mit  Quantitäten  verbundenMi  Qualitäten,  das  Geradlinige 
und  Kreisförmige,  die  mathematische  Figur  als  Qualität  oder  Lage  zu  ver- 
stehen, der  Winkel,  die  Qualitäten  der  Zahlen.  3.  Die  übrigen  Kategorien: 
a)  die  Relation  (Wesenheit,  Existenz,  Proprietäten  der  beiden  Termini, 
die  Beziehung,  die  das  Wesen  der  Relation  ausmacht,  ihre  Arten);  b)  das  Wo; 
c)  die  Lage;  d)  agere  et  pati.  4.  Die  Substanzen,  ihre  Gesetzmäßigkeiten  und 
Arten.  ,,Sie  gehören  zu  den  Gesetzmäßigkeiten  des  Seienden  als  solchen. 
Daher  gehört  ihre  Erwähnung  in  die  universelle  Wissenschaft,  die  die  Akzidenzien 
des  Seienden  untersucht,  ohne  auf  die  individuellen  Eigentümlichkeiten  der 
Dinge  zu  achten,"  die  den  Einzelwissenschaften  zufallen.  Sie  behandelt: 
Substanz  und  Akzidens  als  Korrelativa,  ihre  Prädikationsweise  (ob  eigentliche 
oder  metaphorische)  primäre  und  sekundäre  Substanzen  —  ein  und  dasselbe 
Wirkliche  kann  nicht  Substanz  und  Akzidens  sein  —  die  Substanzialität  der 
physischen  Körper,  ihr  Wesen,  ihre  Kontinuität,  quantitativen  Teile,  die 
Atomistik,  Widerlegung  derselben;  ■ —  der  Körper  ist  ins  Unendliche  teilbar  — 
die  Hyle  (ihr  logisches  und  reales  Wesen,  die  Lehren  des  Ai-istoteles  und 
Avicenna),  ihre  wesenhafte  Verbindung  mit  der  Form.  Ein  universelles  Ding 
(S.  287)  kann  nicht  die  Ursache  für  ein  individuelles  sein.  Es  existieren  in- 
dividuelle Xaturkräfte  in  den  Körpern.  Ihre  spezifischen  Wesensformen 
besitzen  die  Natur  der  Substanz.  Die  Welt  ist  zeitlich  entstanden.  Die  Xatur 
bewirkt  nur  das  Gute  und  Zweckmäßige.  Die  Physis  ist  aus  Materie  und  Form 
zusammengesetzt.  Die  Formen  der  Elemente  bleiben  in  den  Komposita  nicht 
(aktuell)  erhalten. 

Die   dritte   „Reise"   umfaßt   die   spekulative  Theologie.      Sie   behandelt 

1.  das  erste  Prinzip  imd  seine  Eigenschaften,  Gottesbeweis,  Existenz  identisch 
mit  der  Wesenheit  in  Gott,  Einheit  und  Einzigkeit  Gottes;  er  besitzt  weder 
Genus   noch   Differenz,   Identität   seiner   Eigenschaften   und   seines   Wesens; 

2.  Wissen  (in  einer  eigenen  Abhandlung),  Vorsehung,  Ratschluß;  3.  Macht, 
frei  zu  handeln  (in  einer  ausgedehnten  Abhandlung),  WiUe  und  Widerwille; 
Unschlüssigkeit;  4.  Leben,  das  sich  im  Erkennen  und  Handeln  betätigt; 
5.  Hören  und  Sehen;  6.  Reden  (in  umfangreicher  Abhandlung);  7.  das  Problem 
des  Bösen  in  der  Welt,  die  Emanation;  8.  das  absolute  Wirken  (das  sich 
an  keine  Materie  bindet) ;  9.  die  Existenz  unkörperlicher  Wesensformen  (Ideen) ; 
10.  die  Anfangslosigkeit  und  Endlosigkeit  des  ersten  Prinzips,  seiner  Macht, 
Emanation  und  seines  Wirkens,  das  zeitliche  Entstehen  der  Körper,  Über- 
einstimmung zwischen  Wissen  und  Glauben. 

Die  vierte  „Reise"  enthält  eine  mystische  Psychologie  in  folgenden  Ab- 
handlungen: die  allgemeinen  Gesetzmäßigkeiten  der  Seele,  ihre  Definition, 
die  animalische  Seele,  ihre  Substanzialität,  Unkörperlichkeit,  die  Seelenki'äfte, 
die  Fähigkeiten  der  vegetativen  Seele,  ihre  Unterordnung  unter  die  höheren 
Kräfte,  die  Kraft  der  Ernährung,  der  Verdauung,  des  Wachstums,  ihr  Versagen 
im  Tode,  die  Vorstellungskraft,  die  animalischen  Fähigkeiten  und  ihre  syste- 
matische Ordnung,  die  Einheit  der  Seele,  das  äußere  (sinnliche)  Erkennen, 
besonders   das   Sehen   (Optik),   die   inneren   Sinne(    Gemeinsinn,   vorstellende 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  101 

Phantasie,  kombinierende  Phantasie,  ästimativa  (Instinkt),  Gedächtnis; 
das  erkennende  Prinzip  in  allen  Sinnesfunktionen  ist  die  Seele;  Widerlegung 
der  Thesis:  Die  Seele  erkennt  (weil  geistig)  nicht  die  materiellen  Individua, 
die  vollständige  Unkörperlichkeit  der  menschlichen  Seele  und  die  Art,  wie 
sie  zeitlich  entsteht  (fol.  446);  die  Verhältnisse  der  Seele  in  Beziehung  zu  der 
physischen  Welt  (454),  ihre  Unsterblichkeit ;  die  Ursache  der  Seele  ist  eine  geistige 
Substanz;  Widerlegung  der  Lehre  von  der  Wanderung  der  Seelen  und  Geister. 
Jedes  menschliche  Individuum  besitzt  eine  einzige  Substanz,  die  Seele.  Die 
körperlichen  Kräfte  sind  ein  Abglanz  der  seelischen.  Einige  Arten  des  habitus 
der  Seele,  ihre  Funktionen,  die  Rangordnung  der  Menschen  werden  zuletzt 
besprochen,  dann  das  Jenseits,  das  Glück,  das  Einwirken  und  Aktuellwerden 
des  aktiven  Intellektes  auf  unsere  Seelen;  die  Offenbarungslehren  über  das 
andere  Leben. 

Neben  den  Peripatetikern  werden  auch  die  Stoiker  zitiert  z.  B.  als  \'er- 
treter  der  Lehre,  daß  die  allgemeinsten  Begriffe  nur  in  der  Betrachtung  des 
Verstandes,  nicht  in  der  Außenwelt  existieren.  Suhrawardi  1191  f  wird  in  den 
„mystischen  Erläuterungen",  die  manchen  Kapiteln  folgen,  angeführt.  Reiche 
Glossen,  meistens  von  einem  Sabzewäri  verfaßt,  begleiten  den  Text.  Besprochen 
werden  Empedokles,  Plato  (Kritik  seiner  Ideenlehre  durch  Argumente 
Avicennas),  Tüsi  (Kritik  des  Kompendium  von  Räzi;  muhassal),  Demokrit  (in 
der  Lehre  vom  Zufall);  Räzi  (mystische  Untersuchungen).  Der  maßgebende 
Meister  für  Schiräzi  ist  Avicenna,  dessen  Hauptwerke  er  einzeln  zitiert,  um  deren 
Thesen  zu  verteidigen.  Sogar  seine  Kommentare  zu  Koranversen  werden  ge- 
nannt. Es  bestätigt  sich  dadm-ch  (wie  auch  durch  Igi:  Die  mystischen  Sta- 
tionen und  deren  Kommentare  und  Glossen),  daß  kein  anderer  als  Avicenna 
der  Geist  ist,  der  die  philosophische  Entwicklung  im  Islam  durchaus  beherrscht. 
Eine  vollständige  Ausgabe  seines  Hauptwerkes:  Die  Genesung  der  Seele  ist 
daher  trotz  seines  Umfanges  keine  überflüssige  Arbeit.  Dieses  wird  durch 
die  Geschichte  der  Naturwissenschaften  bestätigt,  in  der  Prof.  Eilhard  Wiede- 
mann  zeigt,  daß  auch  sie  in  wichtigen  Punkten  auf  Avicenna  fußt  (vgl.  Archiv 
f.  d.  Gesch.  der  Naturwissenschaften  III  S.  8,  21).  Die  zweite  Autorität  für 
Schiräzi  neben  Avicenna  ist  Suhrawardi.  Aus  der  Verbindung  seiner  Lehren 
mit  denen  Avicennas  erwächst  die  Richtung  der  Mystik,  die  in  Persien  maß- 
gebend war.  Sehr  häufig  zitiert  wird  ferner  Räzi  (1210  f).  Gurgäni  und  Arabi 
(„Die  mekkanischen  Eroberungen").  Das  Werk  Schiräzis  habe  ich  in  einer 
besonderen  Schrift  eingehender  gewürdigt:  (Das  philosophische  System  von 
.Schiräzi;  Straßburg   1913). 

(Fortsetzung  folgt.) 


Rezensionen. 

Adolf  Busse,  Sokrates.  („Die  großen  Erzieher",  herausgegeben  von  Dr. 
Rudolf  Lehmann,  YII.  Band.)  Berlin,  Reuther  &  Reichard,  1914. 
248  Seiten. 

Adolf  Busse  hat  sich  in  dankenswerter  Weise  der  schweren  Aufgabe  unter- 
zogen, die  Persönlichkeit  und  die  Philosophie  des  großen  Erziehers  Sokrates 
darzustellen,  und,  man  muß  sagen,  dank  seiner  großen  Sachkenntnis  und  seinem 
feinen  psychologischen  Takt  ist  es  ihm  gelungen,  durch  die  zahlreichen  Klippen 
der  Sokratesforschung  hindurchzusteuern  und  ein  im  ganzen  von  Einseitig- 
keiten freies  Bild  zu  zeichnen.  Denn  da  bei  Sokrates  Leben  und  Lehre  so  eng 
wie  wohl  bei  keinem  anderen  Philosophen  miteinander  verwachsen  sind,  so 
schwankt  auch  mit  der  verschiedenen  Wüi'digung  seiner  Persönhchkeit  die 
Beurteilung  seiner  Philosophie  hin  und  her,  angefangen  von  seinen  Jüngern 
bis  herab  zu  den  neuesten  Historikern. 

Bei  der  Beurteihmg  der  Quellen  ist  der  Verfasser  den  Zeugnissen  Piatos 
gegenüber  zu  wenig  kritisch,  während  er  Aristoteles  als  Quelle  für  die  philo- 
sophischen Lehren  des  Sokrates  unterschätzt.  Die  von  Busses  Beiu-teilung 
der  Quellen  abweichende  Ansicht  des  Rezensenten  ist  in  einem  Aufsatz  in 
Bd.  27  H.  3  unserer  Zeitschrift  dargelegt,  auf  den  hiermit  verwiesen  sei. 
Mit  Recht  spricht  Busse  Xenophon  jeden  selbständigen  Quellenwert  ab  und 
läßt  ihn  nur  noch  hier  und  da  als  Ergänzung  der  Platonischen  Darstellung 
gelten. 

Sehr  gelungen  ist  in  Busses  Monographie  die  Darstellung  der  geistigen 
Strömungen,  von  denen  Sokrates  getragen  wurde,  namentlich  auch  der  So- 
phistik,  als  deren  Sohn  und  Überwinder  er  erscheint.  Sehr  richtig  trennt  Busse 
von  der  Sophistik  den  sitthchen  Subjektivismus,  der  in  seinem  Ursprung  älter 
ist  als  diese  und  eine  Folgeerscheinung  der  schrankenlosen  Demokratie  dar- 
stellt. Die  Sophisten  haben  sogar  den  Versuch  gemacht,  durch  den  Vortrag 
moralischer  Erörterungen  das  sittliche  Bewußtsein  wieder  zu  kräftigen,  aber 
ihre  Lehre,  daß  es  keine  allgemeingültige  Wahrheit  gebe,  mußte  die  sittlichen 
Normen  und  den  Autoritätsglauben  erschüttern. 

Eingehend  behandelt  Busse  die  Frage,  wie  die  häßliche  und  phantastische 
Älischgestalt  dgs  Aristophanischen  Sokrates  zustande  kommen  konnte,  die 
zwar  die  äußere  Physiognomie  des  wirklichen  Sokrates  zeigt,  aber  von  seiner 
geistigen  Eigenart  nichts  enthält.  Aristophanes  wollte  in  Sokrates  den  Typus 
eines  Aufklärers  zeichnen;  denn  er  haßte  die  Aufklärung  in  jeder  Form  und 
trug  kein  Bedenken,  bei   der  Übereinstimmung  der  Grundanschauung  ihm 


Rezensionen.  103 

einige  fremde  Züge  zu  leihen,  um  dadurch  das  ganze  hohle  Treiben  der  So- 
phistik  an  den  Pranger  zu  stellen.  Auf  das  Konto  des  Protagoras  kommen  die 
Advokatenkniffe  und  die  grammatischen  Spielereien,  gegen  Diogenes  richtet 
sich  alles,  was  zur  Verspottung  der  Xaturforschung  und  Freigeisterei  zusammen- 
getragen wird.  Wenn  Aristophanes  Sokrates  mit  den  Sophisten  auf  eine  Linie 
stellte,  so  ist  das  nicht  verwunderlich,  da  noch  24  Jahre  später  Anytos  nicht 
imstande  war,  Sokrates  von  den  Sophisten  zu  trennen.  Wenn  Sokrates  bei 
Aristophanes  aber  auch  zum  Anhänger  der  von  Diogenes  von  Apollonia  ver- 
tretenen neuen  Welterklärungstheorie  gemacht  wird,  so  muß  in  der  Gottes- 
und  Weltanschauung  beider  eine  grundsätzUche  Übereinstimmung  geherrscht 
haben.  In  der  Tat  glaubten  sie,  wie  auch  Euripides,  aus  der  zweckmäßigen 
Welteinrichtung  auf  einen  denkenden  Urheber  schUeßen  zu  müssen.  So  konnte 
der  Komiker  auf  den  Gedanken  kommen,  in  den  ,, Wolken"  seinem  Sokrates 
den  Geist  des  Diogenes  einzuhauchen  und  in  den  „Fröschen"  Sokrates  zum 
Einbläser  des  Euripides  zu  machen. 

Gewissenhaft  und  ruhig  abwägend  behandelt  der  Verfasser  die  gerichtliche 
Anklage  des  Sokrates.  Er  zeichnet  in  dem  Ankläger  Anytos  einen  braven 
Patrioten,  der  aus  Sorge  um  das  Wohl  seines  Volkes  den  Mann  vernichtet, 
der  allein  das  Mittel  kannte,  das  der  Not  des  Volkes  abzuhelfen  geeignet  war. 
So  ist  das  Gute  und  das  Böse  in  der  Tat  des  Anytos  unlösbar  miteinander  ver- 
flochten, und  während  wir  seine  Tat  verdammen,  müssen  wir  zugleich  seine 
Absicht  loben. 

Leider  hat  sich  Busse  von  Natorp  verleiten  lassen,  Sokrates  den  Grundsatz 
zuzuschreiben,  daß  die  Tugend  nicht  lehrbar  sei. 

Reval.  P    Bokownew. 

Dr.  Jos.  Pavlu,  Die  pseudoplatonischen  Gespräche  über  Gerechtigkeit 
und  Tugend.  Sonderabdruck  aus  dem  Jahresbericht  des  k.  k.  Staats- 
gymnasiums im  III.  Bezirk.  Wien  1913.  35  Seiten. 
Erst  verhältnismäßig  späte  mittelalterliche  Handschriften  bringen  beide 
Werkchen  jisol  doerrc  und  ttsoi  dixuiov  mit  Plato  in  Beziehung.  Das 
Gespräch  tt^qI  (hxuiov  ist  eine  Schulübung,  in  der  die  Frage  nach  dem  Wesen 
der  Gerechtigkeit  in  höchst  unbeholfener  und  unselbständiger  Weise  durch- 
geführt ist.  Als  Vorlagen  hat  der  Verfasser  von  nsol  öixuCov  den  pseudo- 
platonischen „Minos"  und  das  I.  Buch  von  Piatos  „Staat"  benutzt,  jedoch 
ohne  Verständnis  für  die  großartige  Behandlung  des  Problems  bei  Plato. 
Wie  eng  er  sich  an  seine  Vorlagen  angeschlossen  hat,  tut  Pavlu  durch  eine 
Reihe  von  Vergleichen  dar.  Das  Gespräch  Tteql  uQsrrjg  erweist  sich  als  skrupel- 
loses Plagiat.  Der  „Menon"  wird  wörtlich  kopiert  und  an  zwei  Stellen  wird 
aus  dem  „Alkibiades  I"  und  der  Apologie  fast  wörtlich  abgeschrieben.  Die 
Führung  beider  Gespräche  ist  sehr  schablonenhaft  und  ganz  unplatonisch: 
des  Sokrates  vielgerühmte  Hebammenkunst  versagt,  und  der  unfähige  Mit- 
unterredner erweist  sich  als  aller  Belehrung  unzugängUch.  An  Plato  als  Ver- 
fasser ist  nicht  zu  denken.  Auch  die  Annahme  des  Schusters  Simon  als  Ver- 
fassers ist  gänzhch  ausgeschlossen,  da  dieser  zu  Lebzeiten  des  Sokrates  schon 
ein  erwachsener  Mann  und  gewiß  schon  tot  war,  als  die  pseudoplatonischeo 


104  Rezensionen. 

Dialoge  „Minos"  und  „Alkibiades  I"  entstanden.  Daß  beide  Gespräche  auf 
einen  Verfasser  zurückgehen,  wie  Pavlu  will,  braucht  aus  der  ähnlichen  Stümper- 
haftigkeit  beider  nicht  notwendig  geschlossen  zu  werden.  Jedes  von  ihnen 
kann  einen  anderen  unfähigen  Kopf  zum  Verfasser  gehabt  haben.  Übrigens 
ist  diese  Frage  gar  nicht  von  Wichtigkeit. 

Reval.  P.  Bokownew. 

Olympiodori  philosophi  in  Piatonis  Phaedonem  commentaria 
edidit  VViUiam  Norvin.     Teubner  1913. 

Diese  neue  Bereicherung  der  Teubnerschen  BibUothek  sei  hier  freudig 
begrüßt.  Der  Kommentar  Olympiodors  und  unbekannter  Verfasser  zu  Piatos 
Phaedon  war  schon  1847  von  Christoph  Eberh.  Finckh  herausgegeben  worden, 
doch  hatte  dieser  Ausgabe  eine  minderwertige  Handschrift  zugrunde  gelegen. 
Nichtsdestoweniger  war  es  dem  Herausgeber  gelungen,  viele  Fehler  der  Hand- 
schrift zurechtzustellen.  Der  vorliegenden  Ausgabe  ist  der  codex  Marcianus 
196  zugrunde  gelegt,  der  von  J.  L.  Heiberg  und  dem  Herausgeber  untersucht 
worden  ist.  Eine  Beschreibung  und  Geschichte  dieser  Handschrift  gibt  der 
Herausgeber  in  der  Einleitung.  Es  erweist  sich,  daß  auf  den  codex  Marcianus 
alle  übrigen  Handschriften  dieses  Kommentars  zurückgehen.  Die  Konjekturen 
Finckhs  und  anderer  haben  Beachtung  gefunden.  Der  Text  ist  sehr  übersicht- 
lich angeordnet.  Die  im  Text  erwähnten  Stellen  aus  Plato  und  anderen  Schrift- 
stellern  sind   am    Fuße   zwischen   Text   und    kritischem    Apparat   angeführt. 

Reval.  P.  Bokownew. 

Piatons  Dialog  Gorgias.  Übersetzt  und  erläutert  von  Dr.  Otto  Apelt.  Der 
Philosophischen   Bibliothek   Band    148.      Felix   Meiner,   Leipzig    1914. 

Seit  1911  bereichert  Dr.  Otto  Apelt  die  Philosophische  Bibhothek  jährlich 
durch  die  Übersetzung  eines  Platonischen  Dialogs.  Theätet,  Philebos  und  Phai- 
don  folgten  auf  einander  und  wurden  als  vortreffliche  Übersetzungen  anerkannt. 
An  sie  reiht  sich  jetzt  seine  Übersetzung  des  Gorgias,  und  wie  zu  erwarten, 
steht  sie  den  Übersetzungen  dieser  Dialoge  an  Genauigkeit,  Klarheit  und 
Verständlichkeit  nicht  nach.  Wie  schwer  die  Aufgabe  einer  Platoübersetzung 
ist,  beweisen  die  zahlreichen  Übersetzungen,  bei  deren  Lektüre  man  nicht 
den  echten  unverfälschten  Plato  vor  sich  zu  haben  fühlt.  In  der  vorhegenden 
Übersetzung  des  Gorgias,  die  alle  früheren  in  den  Schatten  stellt,  ist  diese 
Aufgabe  glänzend  gelöst,  und  die  farbenprächtige  dramatische  Lebendigkeit 
des  Gorgias  verfehlt  nicht  ihre  Wirkung  auf  den  Leser.  In  der  Tat  ist  diese 
Gorgiasübersetzung  ein  Schatz,  und  es  wäre  ein  großer  Gewinn,  den  ganzen 
Plato  in  solchen  deutschen  Übersetzungen  zu  besitzen  —  ein  Ziel,  an  dessen 
Verwirkhchung  die  Philosophische  Bibhothek  in  letzter  Zeit  mit  erfreuUchem 
Eifer  arbeitet. 

Die  Einleitung  gibt  eine  wertvolle  Würdigung  des  Dialogs  und  eine  Charak- 
teristik der  auftretenden  Personen  und  erleichtert  die  Lektüre  durch  Angabe 
des  Inhalts  und  der  Ghederung  des  Gespräches.  Die  Anmerkungen  sind  knapp 
und  inhaltreich. 

Reval.  P.  Bokownew. 


Rezensionen.  Iü5 

A.  /.  Aoyod^iTriQ,  ri  ^9-ixr>  (pvkoß  ocpCa  xov  nXdrLovoq  tt- 
G/ißei  TTQog  Tovz  TTQodoöfJOvg  xat  zr^v  Itti  tu  fjfTeirenu  rj^ixu  (fi'/.o- 
GO(pijuuTu  tTVidouGiv  avTijg.  ^Ev  Ad^tjvuic  ivnoig  U.  J.  ^axEKKuotov 
1913.     372  Seiten. 

Ein  Buch  über  Plato  in  Piatos  Sprache !  Die  schöne,  flüssige  Darstellung 
liest  sich  leicht  und  angenehm,  und  hat  den  Vorzug  vor  den  Darstellungen  der 
Platonischen  Philosophie  in  anderen  Sprachen,  daß  Piatos  eigene  Worte 
in  ihr  nicht  als  Fremdkörper  hervortreten,  sondern  sich  mit  ihr  zu  einem  Ganzen 
verschmelzen.     Das  Buch  hält  voUauf,  was  der  Titel  verspricht. 

An  den  Anfang  des  Buches  ist  ein  kurzer  Abriß  der  ethischen  Lehren  der 
Vorgänger  Piatos  gestellt.  Obgleich  die  Vorsokratiker  vorzugsweise  Natur- 
philosophen waren,  verdienen  ihre  ethischen  Lehren  doch  Beachtung,  insofern 
als  sie  die  Ausgangspunkte  späterer  ethischer  Systeme  bilden.  Nicht  nur  in  ihren 
Naturtheorien,  sondern  auch  in  ihren  ethischen  Lehren  stellen  die  griechischen 
Philosophen  eine  ununterbrochene  Reihe  dar,  in  der  die  Späteren  sich  auf  die 
Früheren  gründen  und  deren  Lehren  vervollständigen  und  fortsetzen.  Die 
Ethik  der  Pytagoräer  steht  in  engem  Zusammenhang  mit  ihrer  Seelen-  und 
Seelenwanderungslehre.  Sie  fordern  hauptsächUch  ein  Leben  in  Reinheit, 
Streben  zum  Guten  und  Abwendung  vom  Schlechten,  damit  die  Seele  Gott 
ähnlich  werde.  Diese  Ethik  entwickelte  sich  unabhängig  von  der  Metaphysik 
der  Pytagoräer,  allein  beiden  gemeinsam  ist  der  Gedanke  der  Ordnung.  Der 
Verfasser  wendet  sich  gegen  die  Auffassung,  die  Philosophie  des  Heraklit 
charakterisiere  der  Pessimismus.  Die  Welt  ist  die  Verkörperung  der  schönsten 
Harmonie.  Der  Mensch  hat  die  Mögüchkeit,  sich  über  die  vernunftlose  Natur 
zu  einem  glückseligen  Leben  zu  erheben.  Die  Seele  des  Menschen  ist  nämlich 
ein  Teil  des  göttUchen  Feuers,  und  wenn  der  Mensch  sie  rein  erhält,  tritt  sie 
nach  seinem  Tode  in  ein  reineres  Leben  ein.  Daraus  ergibt  sich  für  Heraklit 
die  strenge  Forderung  eines  sittenreinen  Lebens,  die  fälschlich  als  Pessimismus 
ausgelegt  \\ird.  Im  allgemeinen  betrachtet,  haben  die  Vorsokratiker  wertvolle 
Lebensregeln  und  Sittenlehren  aufgestellt,  sie  aber  nicht  in  engen  Zusammen- 
hang mit  ihren  philosophischen  Prinzipien  gebracht.  Weiter  werden  die 
Sophisten  einzeln  diu-chgenommen,  und  das  Verhältnis  des  Sokrates  zu 
ihnen  festgestellt.  Sokrates  erscheint  nicht  nur  in  seiner  Begriffsforschung  als 
ein  Vorläufer  Piatos,  sondern  schafft  auch  eine  höhere  Auffassung  vom  Wesen 
des  Staates,  die  die  Platonische  Staatstheorie  vorbereitet. 

In  ein  paar  Strichen  wird  die  Platonische  Ideenlehre  gezeichnet,  die 
von  dem  von  Sokrates  geschaffenen  Begriff  ausgehend  sich  dem  Sein  des  Par- 
menides  nähert.  Hieran  schließt  sich  die  Lehre  von  der  Tugend.  Wie  überall 
Zweckmäßigkeit  und  Schönheit  auf  Ordnung  und  Harmonie  beruht,  so  machen 
auch  die  richtigen  Verhältnisse  der  Seelenteile  zueinander  die  Tüchtigkeit  und 
Schönheit  der  Seele  aus.  Es  gibt  zwei  Arten  von  Tüchtigkeit  der  Seele  oder 
Tugend:  die  Tugend  des  tägUchen  Lebens,  die  durch  Gewöhnung  und  Übung 
erworben  wird,  und  sich  auf  die  richtige  Meinung  gründet,  und  die  philoso- 
phische Tugend,  die  auf  Wissen  beruht.  Der  Wertunterschied  zwischen  beiden 
Arten  von  Tugend  entspricht  dem  Wertunterschied  von  Meinung  und  Wissen. 
Auch  auf  Grund  einer  richtigen  Meinung  können  die  Menschen  die  Wahrheit 


106  Rezensionen. 

sagen  und  das  Rechte  tun,  wie  die  Wahrsage!"  vuad  Dichter,  jedoch  nur  un- 
bewußt. Die  bewußte  Tugend  allein  ist  wahre  Tugend.  Sie  richtet  sich  direkt 
auf  das  (Tute,  während  die  unechte,  auf  Gewöhnung  beruhende  Tugend  das 
Gute  um  eines  anderen  willen,  der  Lust  oder  des  Vorteils,  anstrebt.  Das  (xute 
erkennen  wir  durch  die  Vernunft,  die  somit  die  Bedingung  der  Tugend  ist. 
Die  guten  Handlungen  des  Menschen  beruhen  auf  Wissen,  die  schlechten  auf 
Unwissenheit.  Die  Tugend  hat  vier  Grundformen,  deren  Wesen  sich  aus  den 
Ch-undanschauimgen  der  Platonischen  Psychologie  ergibt.  Plato  unterscheidet 
in  der  menschlichen  8eele  einen  rationalen  ,Seelenteil  —  die  Vernunft,  deren 
Tugend  die  Weisheit  ist,  und  zwei  irrationale  Seelenteile,  deren  einer  der 
begehrende,  der  andere  der  Mut  ist,  durch  dessen  Vermittlung,  wenn  er  nicht 
durch  schlechte  Erziehung  verdorben  ist,  die  Vernunft  das  Begehren  im 
Zaum  hält  und  lenkt.  Die  Tugenden  des  Mutes  und  des  Begehrens  sind  die 
Tapferkeit  oder  Tatkräftigkeit  und  die  Sophrosyne  oder  Besonnenheit. 
Diesen  Tugenden  schließt  sich  als  vierte  die  Gerechtigkeit  an,  die  nicht 
einem  speziellen  Seelenteil  zukommt,  sondern  darin  besteht,  daß  alle  drei 
Seelenteile  das  tun,  was  ihnen  zukommt,  und  sich  mit  einander  in  Einklang 
befinden.  So  gelingt  es  dem  Verfasser,  die  fluktuierenden  ethischen  Lehren 
Piatos  in  ein  System  zu  bringen,  nicht  ohne  aber  manchen  wertvollen  Gedanken, 
der  im  Laufe  der  philosophischen  Entwicklung  Piatos  auftaucht  und  -«ieder 
verschwindet,  dem  System  zuliebe  aufzuopfern.  Er  erwähnt  z.  B.  die  Fröm- 
migkeit nicht,  die  in  Piatos  früherer  Konzeption  der  Ethik  als  fünfte  Tugend 
genannt  wurde  und  im  Staat  nicht  mehr  als  Kardimitugend  gilt,  sondern  als 
Unterart  der  Gerechtigkeit,  nämlich  als  Gerechtigkeit  den  Göttern  gegenüber, 
aufgefaßt  wird.  Aus  der  Lehre  von  der  UnsterbMchkeit  der  Seele,  die  bei 
Plato  einer  langen  Entwicklung  unterworfen  ist,  hat  der  Verfasser  ganz  will- 
kürlich nur  einen  Ausschnitt,  und  zwar  das  Resultat  dieser  Entwicklung, 
daß  von  den  drei  Seelenteilen  allein  die  Vernunft  göttUch  und  ewig  ist,  in 
sein  System  der  Platonischen  Ethik  aufgenommen. 

Ein  Kapitel  ist  der  Platonischen  Staatstheorie  gewidmet,  wie  sie  sich 
im  ,, Staat"  darstellt.  Xur  im  Staat  ist  Erziehung  möglich.  Ohne  ihn 
wäre  Tugend  ein  Ding  des  Zufalls.  Die  Tugend  der  Bürger  ist  das  endliche 
Ziel  des  Staates.  In  einem  wohleingerichteten  Staate  üben  alle  Bürger  die 
Tugend  und  fUehen  das  Böse.  Die  Grundvoraussetzung  für  einen  vollkommenen 
Staat  ist  die  absolute  Herrschaft  der  Philosophie  und  der  Philosophen.  Nicht 
das  Wohl  eines  speziellen  Standes,  sondern  das  höchste  mögliche  Wohl  des 
ganzen  Staates  muß  nach  Plato  angestrebt  werden.  Es  wird  erreicht,  wenn 
jeder  Stand  und  jeder  einzelne  Bürger  der  Beschäftigung  nachgeht,  zu  der 
er  von  Natur  und  durch  Erziehung  befähigt  ist.  Nur  dann  bewahrt  der  Staat 
seine  Einheit.  Ein  großer  Abschnitt  des  Kapitels  behandelt  sehr  ausführlich 
die  Erziehung,  wobei  der  Verfasser  stark  betont,  für  wie  wichtig  Plato  es 
erachtet,  daß  der  Zögüng  zu  einer  monotheistischen  Gottesanschauung  er- 
zogen werde.  Diesem  Ziel  müssen  auch  Homer  und  Hesiod  wegen  ihres  Poly- 
theismus geopfert  werden. 

In  zwei  ferneren  Kapiteln  Averden  das  gegenseitige  Verhältnis  von  Lust 
und  Einsicht  und  von  Glücksehgkeit  und  dem  höchsten  Gut  dargelegt.     Die 


Rezensionen.  107 

Einsicht  allein  ist  nicht  imstande,  das  Leben  zu  einem  vollkommenen  zu 
machen,  dazu  ist  noch  die  reine  Lust  erforderlicii.  Reine  Lust  ist  diejenige, 
die  unserer  Xatur  angepaßt  ist  und  sich  mit  allen  Tugenden  der  Seele  verträgt. 
Das  beste  Leben  ist  das,  in  dem  Lust  und  Einsicht  richtig  gemischt  sind. 
Die  Lust  ist  etwas  Relatives  und  als  solches  nach  Piatos  Anschauung  von  unter- 
geordneter Bedeutung.  Nicht  jede  Einsicht  kann  gleichen  Wert  beanspruchen, 
den  höchsten  Wert  hat  die  methodische  Erkenntnis  des  Wahren  und  Un- 
veränderlichen, die  allein  das  Maß  für  die  richtige  :Mischung  von  Einsicht  und 
Lust  liefern  kann.  Dieses  UnveränderUche  und  Wahre  ist  das  höchste 
Gut.  Als  das  höchste  Gut  wird  von  den  Menschen  am  häufigsten  die  Glück- 
sehgkeit  angesehen,  und  das,  was  zu  ihr  führt,  bezeichnen  sie  als  gut.  Diese 
Meinung  ist  falsch,  und  daher  werden  Reichtum,  Macht  und  Gewalttätigkeit 
fälschUch  „gut"  genaimt.  Gewalttätigkeit,  Ungerechtigkeit  und  alle  Schlechtig- 
keit sind  Krankheiten  der  Seele,  und  die  mit  ihnen  behafteten  sind  unglückhch, 
weniger  unglückhch,  wenn  sie  Strafe  erleiden  und  besser  werden.  Um  glück- 
selig zu  werden,  muß  der  Mensch  die  seehsche  Vollkommenheit  und  Gottähnhch- 
keit  anstreben.     Deren  Grundvoraussetzung  aber  ist  das  absolut  Gute. 

In  diesen  beiden  Kapiteln  ist  es  ganz  besonders  störend,  daß  der  Verfasser 
dem  in  stetiger  Wandlung  begriffenen  Gedankenleben  Piatos  zum  Trotz  ein 
einheithches  System  der  Platonischen  Ethik  aufstellen  will.      Er  trägt  das 
Material  dazu   aus  den  verschiedensten  Perioden  des  Platonischen  Denkens 
zusammen,  aus  „Gorgias"  und  ,,Philebos",  aus  „Phaidon"  und  „Staat",  und 
so   werden   die   transzendenten   und   immanenten  Tendenzen  innerhalb   der 
Platonischen  Ethik  nicht  in  das  rechte  Licht  gerückt.     Eine  gesonderte  Be- 
trachtung widmet  der  Verfasser  nur  der  letzten  Stufe  in  der  Entwicklung  der 
Platonischen  Ethik,  die  in  den  „Gesetzen"  zutage  tritt.  Das  Schlußkapitel 
behandelt  die  Nachwirkungen  der  Platonischen  Ethik.    Ihre  Wirkung 
geht  weit  über  die  Akademie,  Aristoteles,  die  Stoiker  und  den  Neupythagoräis- 
mus  hinaus.    Auch  Epikurs  Ethik  zeigt  Verwandtschaft  mit  Platonischen  Ge- 
danken.    Der  energischste  Vertreter  der  Platonischen  Ethik  im  ersten  nach- 
christhchen  Jahrhundert  war  Plutarch.     Das  Ziel  des  Lebens  ist  nach  ihm 
eine  Erhebung  zur  Gottheit.    In  seiner  Auffassung  von  der  Gottheit  schheßt 
er  sich  an  Plato  an.    Gott  ist  das  unveränderüche,  wahrhaft  Seiende,  das  ab- 
solut Gute,  die  reine  Vernunft.    Dabei  läßt  Plutarch  die  Volksrehgion  gelten, 
indem  er  die  Götter  des  Volkes  als  verschiedene  Namen  einer  Gottheit  deutet. 
Philo  vollzieht   die   S\nithese   zwischen  der  Platonischen   Philosophie  in  der 
Gestalt,  die  sie  in  Alexanckien  zu  seiner  Zeit  angenommen  hatte,  und  der 
jüdischen  Theologie.     Plotin  geht  von  Philo  aus  und  bildet  die  Platonische 
Lehre,  ihre  mystischen  Tendenzen  hervorhebend,  fort.     Von  Plato  weicht  er 
darin  ab,  daß  er  das  Ziel  des  Lebens  nicht  in  einer  durch  die  Tugend  vermittelten 
größtmögUchen  Annäherung  an  Gott,  sondern  in  einer  Vereinigung  mit  Gott 
in  der  Ekstase  sieht.    Elemente  des  Platonischen  Denkens  gehen  in  die  christ- 
hche  Ethik  über  und  werden  in  ihr  Jahrhunderte  lang  verarbeitet.     Endhch 
nimmt  Leibniz  den  Pytagoräisch-Platonischen  Gedanken  von  der  Aimäherung 
an  Gott  als  dem  Ziel  menschhchen  Strebens  nach  Vollkommenheit  auf. 
ßgya,l.  P.  Bokownew. 


108  Rezensionen. 

Max  Schlesinger,  Geschichte  des  Symbols.  Ein  Versuch.  Berlin,  Verlag 
von  Leonhard  Simion  Nf.  1912.  474  S. 
Dieses  Buch  ist  in  doppelter  Hinsicht  bewundernswert:  wegen  seiner 
unglaublich  reichhaltigen  Materialsammlung,  die  aus  allen  möghchen  (iebieten 
hervorgeholt  worden  ist  und  wegen  der  großartigen  philosophischen  Beleuch- 
tung, in  welche  dieses  Material  gestellt  ist.  Doch  ist  es  ungemein  schwer,  die 
Leistung  dieses  Werkes,  welches  als  ,,ein  Versuch"  bezeichnet  ist,  präzise  zu 
bestimmen.  Dem  Verfasser  ist  offenbar  die  Aufgabe,  die  er  sich  gestellt  hat, 
ins  Ungemessene  gewachsen,  denn  die  Stoff  anhäuf  ung  hat  ihn  überflutet. 
Die  Aufgabe  ist  schlechterdings  riesig  und  mannigfaltig,  da  sie  einem  Ozean 
von  allerlei  Tatsachen  gegenübersteht.  In  der  Vorrede  lesen  wir:  ,,Wenn 
nämlich  in  der  Tat  diese  Untersuchungen  ihren  Zweck  völlig  erfüllten,  so 
würden  sie  die  Erkenntnis  des  Geisteslebens  ganz  erheblich  vermehren,  indem 
die  letzten  Endes  nichts  Geringeres  erreichten  als  die  Scheidung  alles  Erlebens 
in  Trug  und  Wirklichkeit,  in  Sein  und  Schein"  (S.  1).  Es  gilt  demnach  ,,das 
SjTnbolische  zu  kennzeichnen",  ,,das  Trügerische  der  Einbildungswerte  zu  er- 
kennen" (1).  Mitten  im  Buch  schwingt  sich  der  Verfasser  zur  Idee  einer  be- 
sonderen (bereits  im  Mittelalter  geforderten)  Sj-mbolwissenschaft  auf  und  sagt: 
,,Sie  erklärt  nicht  nur  viele  Geschehnisse  der  Welt-  und  Kulturgeschichte 
(beide  im  weitesten  Umfang  gedacht),  sie  gibt  auch  die  Antwort  auf  Fragen, 
welche  die  Menschheit  immer  noch  und  manche  erst  von  neuem  bewegen; 
sie  ist  in  ihren  letzten  Zielen  berufen,  eine  Weltanschauung  herbeizuführen, 
in  der  aktenmäßig  Sein  und  Schein  auseinander  gehalten  werden  ..."  (102). 
An  einem  anderen  Orte  wird  endlich  diese  Aufgabe  zu  einer  philosophischen 
verklärt:  ,,Die  Philosophie  hat  über  das  Symbol  auszusagen,  sie  sucht  seinen 
Ursprung  zu  ermitteln,  sein  Vorkommen  zu  begründen,  seine  Notwendigkeit  zu 
erweisen,  den  Begriff  zu  umschreiben,  sein  Wesen  zu  erklären  .  .  .  Ästhetiker 
imd  Rechtsgelehrte,  M5^thologen  und  Geschichtsschreiber,  Theologen  und 
Sprachforscher,  Kunstgelehrte  und  Psychiater  kehren  andei'e  Wesensseiten 
des  Symbols  hervor  —  nur  der  Philosoph  ist  gehalten,  den  Begriff  so  zu  fassen, 
daß  alle  seine  Erscheinungsformen  dadurch  gedeckt  werden"  (55).  Schon  hier- 
aus ersehen  wir,  daß  das  über  den  Trug  Gesagte  nicht  tragisch  zu  nehmen  ist; 
sagt  doch  der  Verfasser  selbst:  ,,Es  wäre  ein  unersetzlicher  Verlust  für  die 
Menschheit,  ihre  Symbole  zu  verlieren"  (2),  und  er  zeigt  —  dies  ist  auch  seine 
Aufgabe  —  „daß  sich  das  Symbolwort  und  der  Symbolbegriff  durch  viele 
Zeiten  und  Völker  bis  in  die  Gegenwart  erhalten  hat"  (37),  wir  können  aber 
seiner  Übereinstimmung  gewärtig  noch  hinzufügen:  auch  die  bewußte  und 
gewollte  Symbolbildung.  Neben  dieser  systematischen  Problemstellung  finden 
wir  noch  eine  geschichtliche.  In  der  Vorrede  erklärt  der  Verfasser,  daß  „der 
vorhegende  Stoff  nicht  um  seiner  selbst  willen  aufgespeichert  wurde,  sondern 
lediglich  um  Werden,  Sein  und  Ablauf  der  Symbolik  in  der  jeweiligen  Beleuch- 
tung zu  zeigen,  um  das  Wesen  des  Symbols  zu  begreifen"  (3).  Mitten  im  Buch 
finde  wir  folgende  große  geschichtliche  Konstruktion  vor:  ,,In  drei  große 
Abschrütte  meinen  wir  die  Geschichte  des  Symbols  teilen  zu  dürfen;  der  erste 
umfaßt  den  unermcßbaren  Zeitraum,  in  dem  es  neben  der  Sprache  eines  der 
wesentlichsten  Ausdrucksmittel  war; — ^  der  zweite  die  geschichtlich  bekannte 


Rezensionen.  109 

Zeit,  in  der  es  dui'ch  Einfühlen  und  Denkarbeit  Lebensform  und  Lebens- 
inhalt bildete;  —  der  dritte  und  jüngste  umfaßt  die  Gegenwart,  in  der  es  zwei 
ganz  verschiedene  Aufgaben  erfüllt,  einerseits  nämlich  der  Kürze,  der  Be- 
(luemhchkeit,  der  internationalen  Verständlichkeit  dient,  dann  aber  als  Hinauf- 
rückung  alles  Erlebens  zu  idealer  Vollendung  strebt"  (185).  Diese  Ansicht  ist 
als  eine  Hypothese  wohl  annehmbar.  Mit  ihr  ist  noch  eine  andere  Ansicht 
über  das  geschichthche  Anschwellen  und  Nachlassen  der  8ymbolbildung  ver- 
bunden, die  sich  in  den  anschheßenden  Worten  kundgibt:  „Wie  der  Ablauf 
des  Menschenlebens  nicht  die  einzehien  Altersstufen  jäh  scheidet,  -wie  im 
hohen  Alter  sich  bisweilen  Jugendgefühle  regen,  in  der  Jugend  unerwartet 
frühe  Reife  hervorbricht,  so  findet  sich  im  Leben  des  Symbols  manches 
Hinüberschwanken  von  der  einen  Stufe  auf  die  andere:  ein  Zurückgreifen 
fortgeschrittener  Zeiten  in  die  Kindheiit  des  Symbols,  ein  Ahnen  späterer 
Aufgaben  in  seiner  frühen  Jugend"  (185).  Es  tut  dem  keinen  Eintrag,  wenn 
der  Verfasser  einmal  urteilt:  „Die  symbolische  Bedeutung  pflegte  man  erst 
dann  zu  erkennen,  wenn  die  Erscheinung  am  Erlöschen  war"  (2)  und  ein 
andermal  hingegen  von  der  Zeit  der  anschwellenden  „symbolischen"  Betätigung 
sagt:  „Aber  diese  Zeit  gebiert  regelmäßig  das  Streben,  sich  auf  sich  selbst  zu 
besinnen,  das  Wesen  des  Symbols  zu  erforschen,  seinen  Formen  nachzuspüren, 
seine  Erscheinung  zu  studieren"  (102).  Und  noch  eine  andere  Problem- 
stellung kann  in  dem  Buche  gefunden  werden.  Der  Verfasser  unternimmt, 
„erstens  die  natürlichen  Bedingungen  aufzuweisen,  durch  die  das  Symbolbilden 
im  menschlichen  Körper  ermögUcht  wird,  ferner  das  Symboüsieren  als  sinn- 
bildhchen  Vorgang  in  die  Betätigung  des  Seelenlebens  einzureihen,  endUch 
Krankheits-  und  Traumerscheinungen  von  spnboüscher  Eigenart  namhaft  zu 
machen"  (38).  Dieses  Problem  unterscheidet  sich  von  den  anderen  dadurch 
in  dem  Buche,  daß  es  in  einem  besonderen  Kapitel  eine  Behandlung  erhält, 
während  jene  auf  das  Ganze  sich  beziehen,  ohne  daß  von  ihnen  außer  den 
oben  angeführten  Stellen  mehr  die  Rede  ist. 

Wir  kommen  nuimiehr  zur  Behandlung  des  Stoffes,  welcher  das  Werk 
füllt.  Der  Verfasser  sagt  in  der  Vorrede:  „Wir  haben  der  philosophischen 
Behandlung  unserer  Aufgabe  die  geschichthche  Darstellmig  vorgezogen  .  .  . 
Von  einer  methodischen  oder  enzyklopädischen  Verarbeitung  der  Sach- 
symbohk  haben  wir  abgesehen,  da  erstens  eine  nicht  geringe  Zahl  älterer  und 
neuerer  Sammlungen,  ja  derartige  Arbeiten  aus  allerletzter  Zeit  vorliegen, 
da  ferner  kaum  etwas  in  der  weiten  Welt  vorhanden  ist,  das  nicht  ziun  Symbol 
gedient  hat,  oder  doch  hätte  dienen  können"  (2).  Doch  müssen  wir  sagen,  daß  die 
Behandlung  sowohl  methodisch,  als  auch  enzyklopädisch,  wie  geschichthch  zu- 
gleich ist.  Methodisch  ist  sie  eben,  w^eil  sie  geschichthch  ist  und  enzyklopädisch 
muß  man  sie  nennen,  weil  sie  kein  Gebiet  des  Symbols  außer  acht  läßt.  Xur 
müssen  wir  die  Behandlung  unsystematisch  nennen.  Das  Werk  hat  drei  Teile: 
Der  erste  „Einführung  in  die  Symbolik"  enthält  zwei  Kaiiitel:  „Die  Wort- 
geschichte des  Symbols"  und  „NaturgeschichtHche  Grundlagen  des  s3tii- 
boüschen  Vorkommens"  (enthaltend  Physiologisches  und  Psychologisches), 
der  zweite  Teil  enthält  zwei  Kapitel:  „Philosophie  und  Symbolwissenschaft" 
und  „Ästhetik'",  endüch  der  dritte  Teil  heißt  „Die  SjTiibolerscheinung"  und  ent- 


wo  Rezensionen. 

hält  sieben  Kapitel:  „Symbolische  Stufen  und  Symboldeutung  im  Altertum'' 
„Rechtssymbolik",  „Die  ReHgion  —  ein  Sj-mbolgebilde",  „Das  SjTiibol  in 
Plastik  und  Malerei  usw.",  ,, Symbolik  in  der  Baukunst",  ,,Aus  der  Sprach- 
sjTiibolik",  ,,S\Tnbolik  im  Menschenleben".  Schon  an  diesen  Überschriften 
ist  zu  sehen,  wie  ungenügend  die  Gruppierung  ist.  Durch  einfache  Umstellung 
des  Stoffes,  die  sich  aufdrängt,  würden  wir  folgende  Teile  erhalten:  1.  Wort- 
geschichte des  SjTubols,  2.  Tatsachen  der  S\^nbolik  im  Recht,  in  der  Sitte, 
in  der  Religion,  in  der  Kunst,  in  der  Sprache,  in  der  Wissenschaft  und  Philo- 
sophie, 3.  Theorien  des  Symbols  (physiologische,  psychologische,  ästhetische, 
erkemitnistheoretische  usw.).  Ein  tieferer  Grund,  warum  der  Verfasser  nicht 
so  eingeteilt  hat,  liegt  darin,  daß  er  die  bewußte  und  unbewußte  Sjnnbolbildung, 
die  Auffassung  und  die  Hineinpro jizierung,  die  Tatsache  der  Erklärung  und 
die  Erklärung  der  Tatsache  des  Symbols  nicht  rein  voneinander  gesondert  hat. 
Doch  verzeiht  man  es  gern  dem  Verfasser,  welcher  mit  erstaunlicher  Be- 
wanderung  auf  den  verschiedensten  (gebieten  und  in  der  ungeheuren  Literatur 
Gedanken  und  Tatsachen  zu  holen  weiß.  Oft  sind  es  Zitate,  vielfach  auch 
Referate,  manchmal  hübsche  kleine  Monographien,  vne  z.  B.  über  die  An- 
sichten Creuzers  (105—114)  oder  Goethes  (165 — 174).  Es  ist  dem  Leser 
anheimgestellt,  die  angeführten  Gedanken  und  Tatsachen  an  der  Wortgeschichte 
und  an  den  Theorien  des  Symbols  zu  messen.  Der  Verfasser  versteift  sich 
durchaus  auf  keinen  bestimmten  Sinn,  und  dies  ist  ein  Vorzug  und  anderseits 
ein  Mangel  des  Werkes.  Er  erklärt:  „Die  vielfache  Bedeutung  des  Symbol- 
begriffs nötigt  immer  wieder,  sich  mit  dem  Wortgebrauch  für  das  ziu-  Behand- 
lung stehende  Gebiet  von  neuem  zu  beschäftigen  und  ihnen  eine  für  das  be- 
treffende Einzelgebiet  passende  Erklärung  zu  finden"  (38). 

Über  die  Sammlung  des  Werkes  gibt  das  Register  Rechenschaft,  in  welchem 
gegen  2  Yo  Tausend  Autornamen  und  Symboldinge  verzeichnet  sind.  Vieles  ist 
natürlich  unbeachtet  geblieben,  vieles  ist  zu  kurz  gekommen.  So  z.  B.  ver- 
missen wir  den  Namen  Carlyles,  des  Philosophen  der  symboUschen  Welt- 
anschauung, viel  zu  wenig  ist  auf  die  Symbolbetätigung  der  Natm-völker, 
von  welcher  wir  nicht  wenig  als  Erbschaft  behalten,  Rücksicht  genommen, 
rücht  genug  ist  die  Astralsymbolik  herangezogen,  sowie  die  diese  betreffende 
Theorie  von  Dupuis,  welche  neuerdings  weiter  ausgebaut  wird,  nur  flüchtig 
oder  gar  nicht  ist  von  symbohschen  Bräuchen,  wie  vom  Los,  vom  Zweikampf, 
vom  Gruß  usw.  die  Rede,  in  dem  Gebiet  der  Vorurteile  wäre  sehr  viel  zu  finden, 
es  wäre  der  symbolische  Wert  der  Attitüde,  der  Körperhaltung,  der  Körper- 
form, der  Gebärde,  sowie  der  mit  dem  Körper  verbundenen  Gegenstände  zu 
erörtern.  Der  Verfasser  weiß  gut,  daß  er  nicht  alles  erschöpft  hat  und  er 
bittet  um  Unterstützung  für  seine  fernere  Arbeit,  welcher  man  mit  Spannung 
entgegenzusehen  allen  Anlaß  hat.  Das  Buch  eröffnet  eine  Welt,  welche  dem 
Philosophen  ein  unermeßüches  Feld  zur  Bearbeitimg  bietet.  Es  leitet  zu  einem 
philosophischen  Problem  von  weittragendster  Bedeutung  hin,  welches  streng 
empirisch  gelöst  werden  kann  und  muß.  Freilich  muß  dieses  Problem  als  ein 
philosoplüsches  gefaßt  werden.  Es  will  uns  scheinen,  daß  es  in  dem  geschaffenen 
oder  dem  vermeintlichen  ,,Trug"  besteht,  welcher  erkenntnistheoretisch  zu 
erklären  wäre.  Dr.  J.  Halpern  (Warschau). 


Rezensionen.  111 

Dr.    M.    Kronenberg,     Geschichte    des    deutschen    Idealismus.       2  Bände. 
428  und  840  S.     1909  und  1912,  Verlag  der  C.  H.  Beckschen  Verlags- 
buchhandlung. 
Das  Werk  macht  den  Eindruck,  als  ob  es  etwa  auf  einer  entfernten  Insel 
bei   gänzUchem   Fehlen   von   Hilfsbüchern   aus    der   Erinnerung   geschrieben 
wäre,  \md  dazu  von  einem  Verfasser,  der  ungefähr  aus  Hegels  Zeit  stammt 
imd  nichts  darüber  hinaus  weiß  —  ausgenommen,  daß  gegenwärtig  ^\^eder 
IdeaUsmus  in  den  SchwTing  kommt,  demnach  an  die  Tradition  anzuknüpfen 
hat.    Es  ist  eine  populäre  Erzählung  darüber,  was  die  größten  Ideahsten  ge- 
dacht haben,   ohne  Bezugnahme  auf  ihre  Werke  und  lebendige  Beziehungen, 
nicht  eine  Darstellung  eigentlich,  sondern  eine  Besprechung  und  Charakteri- 
siermig  der  Ideen,    einfach  eine  Plauderei  mit  poetischen  Zitaten  reich  ge- 
schmückt, nicht  einmal  eine  Darlegung,  was  der  Verfasser  gelernt  hat.     Wer 
die  Geschichte  aus  Lehrbüchern  kennt,  der  wird  nichts  Neues  erfahren,  der 
sie  aber  nicht  kennt,  dem  wird  es  schwül  werden,  daß  es  viel  zu  erfahren  ist.  Da 
man  bei  jeder  Erzählung  geneigt  ist,  von  vorn  anzufangen,  möglichst  von 
Adam  und  Eva  an,  so  beginnt  der  Verfasser  mit  — •  Parmenides  und  durch- 
läuft  die  alten  Griechen,   berührt  das  christliche  Mittelalter    und  auch  die 
Xatm'philosophie   der   Neuzeit,   wobei   er   Taurellus    und    Cusanus    un- 
beachtet  läßt,    ^-ird   bei   Descartes,    Spinoza,    Leibniz    und   der   Auf- 
klärung ausführhcher,   dann  erinnert  er  sich  noch  kurz  an  die  deutsche  Mystik 
und  gelangt  endhch  —  es  ist  schon  S.  259  —    zu  Hamann    und    Jacobi, 
dami   kommt   Winckelmann    und    Lessing,     vorkritischer    Kant     und 
Herder,   Stiu-m  rnid  Drang  und  der  erste  Band  ist  beschlossen.    Im  zweiten 
Band  ist  in  breitem  Redestrom  von  Kant,  Fichte,  von  dem  neuen  Spinozis- 
mus,  von  Klassizismus  und  Romantik,  Schelling    und    Hegel    die  Rede. 
Mit  dem  bloßen  Auge  kann  der  Verfasser  natürlich  nm'  die  Sterne  erster  Größe 
erbhcken.     Von  solchen  wie  Niethammer,    Eschenmayer,    Beck,    Bar- 
dibi,    Schwab,   Ast,    Rixner,    Oken,    Solger,   Hülsen,   Molitor   usw. 
ist  keine  Erwähnung  getan,  ja  es  sind  Fries,    Baader,    Görres,    Krause 
ganz  übersehen  worden.   Friedrich  Schlegel  und   Schleiermacher  sind 
keiner  Abschnitte  gewürdigt  worden.    Um  irgend  eine  Untersuchung  oder  auch 
eine  Durchführung  einer  Idee  handelt  es  sich  gar  nicht,  vom  Nachweis  irgend 
einer  Entwicklung  ist  keine  Spur.     Der  Verfasser  reitet  auf  dem  Gegensatz 
des  Subjektiven  und  Objektiven  munter  umher  im  Glauben,  daß  er  etwas 
klar  macht,  um  so  mehr,  als  er  wähnt,  in  diesem  Gegensatz  die  Idee  der  Kultur 
zu  besitzen.    Demi  das  Wesen  der  Kultm  besteht  nach  ihm  darin,  daß  „indem 
der  Gegensatz  des  Objektiven  und  Subjektiven  stets  lebendig  bleibt,  doch 
beide  sich  immer  dvu-chdringen  und  zur  Einheit  werden"  (Bd.I,  87),  wonach  es 
auf  eine  Vermischung  und  Verwechslung  ankäme,  die  im  Wahnsinn  ihre  Voll- 
endung hätte.     Es  tut  eben  eine  theoretische  und  geschichtUche  Aufklärung 
über  diese  vieldeutigen  Ausdrücke  not,     wie  auch  über  die  Terminologie  des 
IdeaHsmus  überhaupt,  che  der  Verfasser  als  Gläubiger  einfach  übernimmt, 
ohne  dem  historischen  Verständnis  zu  dienen.    Aber  eine  Aufklärung  erhalten 
vär,  die  uns  der  weiteren  Besprechung  enthebt.     Im  Prospekt,  welcher  das 
Werk  ankündigt,  lesen  wir:    „Das  Werk  will  keine  gelehrte  Monographie  sein. 


112  Rezensionen. 

sondern  wendet  sich  an  die  weiteren  Kreise  der  Gebildeten".  Diese  werden 
Wühl  aber  die  Schriften  von  Julian  Schmidt,  Haym,  Dilthey,  Kircher 
usw.  gelesen  haben  oder  werden  besser  tun,  sie  zu  lesen. 

Dr.  Halpern    (Warschau). 

Benedict  Lachmann,  Protagoras,  Nietzsche,  Stirner.  Ein  Beitrag  zur 
Philosophie  des  Indi\'idualismus  und  Egoismus.  Berhn,  1914, 
L.  Simion  Xf.     8°,  71  S.     1,50  Mk. 

Leider  sind  die  einzelnen  Teile  dieses  Aufsatzes  nicht  gleichwertig  durch- 
gearbeitet. Worin  die  Lehren  der  drei  Individuahsten  zusammenhängen,  worin 
die  eine  auf  der  anderen  fußt  oder  über  sie  hinausgeht  und  sie  weiterfortführt, 
das  ist  zwar  richtig  gesehen,  aber  nicht  mit  gleichem  Glücke  dargestellt.  Wohl 
bei  Protagoras  und  Nietzsche  —  nebenbei  seien  die  mehrfachen  feinen  Be- 
merkungen über  die  ewige  Wiederkehr  und  den  Übermenschen  besonders 
hervorgehoben.  Bei  Stirner  aber  verhert  sich  der  Verfasser  in  eine  unnötig 
reiche  Zitatensammlung  aus  dem  Einzigen  und  läßt  den  kritisch  sichern  Blick 
gegenüber  den  Worten  seines  Lehrers  vermissen. 

Trotz  diesem  Mangel  könnte  die  Arbeit  sehr  wohl  gelten,  wenn  ihr  Zweck 
nur  der  sein  soll,  den  erwähnten  Zusammenhang  oder  Unterschied  bei  den 
drei  behandelten  Denkern  darzulegen.  Lachmann  will  aber  darüber  hinaus 
der  Lehre  des  Egoismus  selbst  das  Wort  reden,  und  dagegen  muß  —  so  kurz 
es  auch  nur  geschehen  kann  —  einiges  gesagt  werden,  da  es  sich  zugleich 
auch  gegen  Stirner  richtet. 

Der  Egoismus  ist  mit  einem  seiner  Hauptsätze  schon  in  sich  selbst  wider- 
legt. ,,Die  Auflösimg  der  Gesellschaft  in  jeder  Form,  Staat,  Nation,  Volk, 
Familie,  Menschheit  iisw.  ist  die  notwendige  Voraussetzung  dafür,  daß  der 
Einzelne,  der  Egoist  zu  seinem  Rechte  kommt,  sein  ganzes  wirkUches  Leben 
lebt."  Ein  Rückblick  in  die  Geschichte  lehrt  aber,  daß  kein  Einzelner  ohne 
die  Gesellschaft  zu  seinem  Rechte  gekommen  ist  oder  kommen  kann,  daß  \iel- 
mehr  jede  kleine  -«ie  große  Form  der  Gesellschaft  als  ein  Versuch  zur  Möglich- 
keit geschaffen  worden  ist,  den  Einzelnen  ihr  Recht  zu  geben.  Sein  ganzes 
wirkhches  Leben  lebt  der  Einzekie  eben  nur  in  der  Gesellschaft.  Aber  neben 
diesem  schwerwiegendsten  Einwand  stehen  noch  andere  unbeantwortete 
Fragen.  W'eder  Stimer  noch  Lachmann  wissen  zu  sagen,  was  denn  eigenthch 
für  den  Einzelnen  ,, seine  Sache"  sein  soll  oder  sein  kann.  Die  landläufige  Be- 
deutung des  Wortes  Egoismus  trifft  nicht  den  wirklichen  Kern ;  das  soll  gern  zu- 
gegeben werden.  Sinnlichkeit,  Leidenschaft  ,,ist  keine  Eigenheit,  ist  Sklaverei", 
ja  auch  das  kann  noch  zugegeben  werden,  daß  es  auch  jede  völhge  Hingabe 
an  ein  Gefühl  nicht  ist.  Aber  nun  sollen  es  auch  meine  Urteile,  meine  Gedanken 
nicht  sein.  ,,VerHere  Ich  die  Macht  an  sie,  so  beherrschen  sie  Mich,  benutze 
Ich  sie  aber  als  mein  Eigentum,  mit  dem  Ich  nach  meinem  Willen  schalten 
kann,  so  sind  sie  Meine  Sache".  Was  heißt  das  aber?  Es  ist  eine  Erklärung, 
die  nichts  erklärt.  W^as  ist  denn  ,,mein  Ich"?  Was  ist  denn  ,,mein  Wille"? 
Was  sagt  mir  dieser  vageste  Begriff !  Als  ob  nicht  jedes  ernste  Wollen,  das 
ich  fasse,  in  gleicher  Weise  mich  zum  Knechte  seines  Zieles  machte ! 


Rezensionen.  113 

„Jahrtausende  haben  sich  die  Menschen  gemüht  und  gestrebt,  den  ,Sinn 
des  Lebens'  zu  begreifen,  ihr  Leben  auszufüllen,  und  stießen  an  den  harten 
Widerstand  der  Welt.  Hunderte  von  Systemen  wurden  erdacht  —  aber  die 
Verwirrung  wurde  immer  größer !  Millionen  Menschen  strebten,  die  , idealen 
Vorbilder'  zu  erreichen  —  aber  Keinem  gelang  es !  Soll  uns  dieses  Fiasko  der 
bisherigen  Menschheitsgeschichte  nicht  soviel  gelehrt  haben,  daß  es  mit  den 
erträumten  , Idealen'  nicht  geht?"  Selbst  wenn  das  wahr  sein  sollte  —  aber 
Lehrer  wie  Schüler  bleiben  den  Beweis  dafür  schuldig  — ,  sie  tun  es  ja  nicht 
anders;  sie  lösen  nur  auf  und  können  einen  positiven  Aufbau  auch  nicht  geben. 
Und  sprechen  sich  selbst  damit  das  Urteil.  ,, Müßiges  Sinnen  —  solches  zu 
wollen,  müßiges  Sehnen,  der  Welt  einen  Stempel  aufdrücken  zu  wollen,  ein 
Dach  für  Alle  schaffen  zu  wollen,  ein  System  ausdenken  zu  wollen,  in  das 
Alles  hineinpaßt,  was  es  an  Wünschen,  Gedanken,  Begierden  gibt !"  Wollen 
sie  selber  das  nicht?  Wozu  dann  ihre  Bücher?  Sie  widersprechen  es  zwar. 
,,Der  Egoist  ist  kein  höheres  Wesen  und  keine  fixe  Idee!  Er  ist  überhaupt 
kein  Wesen,  er  ist  —  Ich  —  wenn  Ich  will,  und  Du  —  wenn  Du  willst.  Keia 
Wort  ist  dem  Egoisten  so  verhaßt,  widerspricht  so  sehr  seinem  Sinne,  wie  das 
Wort:  Du  sollst."  Aber  sogleich  heißt  es  w^eiter:  ,,Nur  zeigen,  in  welchen 
Vorurteilen  wir  befangen  sind,  und  welche  fixe  Ideen  uns  beherrschen,  das  ist 
die  Vorarbeit;  und  der  Sinn:  das  Streben,  als  Ich  zu  leben,  soweit  Ich  es  ver- 
mag, und,  wenn  Ich  ein  Interesse  daran  habe  und  will,  die  Anderen  zu  über- 
zeugen, daß  sie,  wenn  sie  sich  zu  meiner  Meinung  bekehren,  ihr  Interesse 
besser  wahren."  Wenn  sie  ein  Interesse  daran  haben !  Sie  müssen  es  ja  haben 
und  wollen.  Ohne  den  Versuch  einer  Überzeugung  der  Anderen  hat  das  Streben, 
als  Ich  zu  leben,  keinen  Sinn,  weil  keine  MögHchkeit.  (,, Stört  Ihr  Unsere 
Kreise  nicht,  so  geht  Ihr  Uns  Nichts  an" !)  Mit  jeder  Überzeugung  aber  geben 
sie  den  Anderen  auch  das  Soll,  nach  dieser  Überzeugung  zu  leben,  also  hier 
,,als  Ich  zu  leben".  Trotz  aller  Widerrede  —  auch  der  ,, Einzige"  ist  eine  fixe 
Idee.  ,, Begreifen  sollten  die  ,Ideenjäger-  endhch,  daß  sie  ihr  Streben  an  eine 
,fixe  Idee'  hängen,  und  daß  sie,  da  ihnen  die  Macht  dazu  fehlt,  auch  kein 
Recht  haben,  von  Anderen  Anerkenntnis  ihrer  , fixen  Ideen'  zu  verlangen. 
Es  wirkt  lächerUch  und  ist  nicht  geschmackvoll,  sich  über  die  UnzugängHchkeit 
Anderer  den  eigenen  ,Ideen'  gegenüber  zu  beklagen."  Es  kehren  sich,  eben  wie 
bei  Stimer,  leider  so  viele  Worte  des  Verfassers  gegen  ihn  selbst.  Denn  was 
ist  der  nächste  Satz  schon  anderes  als  eine  solche  Klage:  ,,Es  erscheint  mir 
als  die  größte  Ungeheuerlichkeit  der  Weltgeschichte,  daß  die  Menschen  stets 
und  zu  allen  Zeiten  an  ,fixen  Ideen'  hängen  gebheben  sind. . ."  —  Der  Wert 
der  Dinge  ist  nichts,  als  was  wir  selbst  den  Dingen  beigelegt  haben  —  so  sagen 
wir  mit  dem  Verfasser;  aber  wir  sagen  noch  mehr:  darin  eben  sehen  wir  den 
Wert  unseres  Seins  und  Lebens  überhaupt. 

Berlin.  Fritz   Peters. 

Oskar  Kraus,  Piatons  Hippias  minor.  Versuch  einer  Erklärung.   Prag,  1913, 
Taussig  &  Taussig.     VIII,  62  S.     2  Mk. 
Mit  diesem  Versuch  einer  Erklärung  gibt  Kraus  einen  äußerst  wichtigen 
Beitrag  zur  Sokrates-Plato-Forschung:  nichts  weniger  nämhch  als  den  end- 
Arehiv  füT  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  1.  8 


114  Rezensionen. 

liehen  und  endgültigen  Entscheid  über  den  so  verschieden  ausgelegten  und 
beurteilten  Dialog.  Er  weist  unwiderleglich  nach,  daß  ihm  die  Zugehörigkeit 
zu  den  Platonischen  Schriften  nicht  nur  nicht  abgestritten  werden  darf,  daß 
er  \^elmehr  durchaus  als  ein  mit  aller  Sorgfalt,  Feinheit  und  Einheitlichkeit 
ausgearbeitetes  logisches  Übungsstück  angesehen  werden  muß,  das  allerdings 
als  typisches  Beispiel  peirastischer  Überredungskunst  zunächst  wohl  nur 
zum  Gebrauch  für  seine  Schüler  verfaßt  sein  mag,  aber  darüber  hinaus  zur 
Übung  philosophischen  Denkens  überhaupt  sich  vortrefflich  geeignet  zeigt 
und  ganz  gewiß  nicht  ein  erstes,  unreifes  Jugendwerk  des  Philosophen  sein 
kann,  das  seiner  Größe  etwa  gar  unwürdig  wäre.  Als  positives  Ergebnis  dieses 
Werkes  stellt  sich  heraus:  ,,die  Lehre,  daß  dem  Wissen  vom  Guten  eine  deter- 
minierende Svvafjig  zukommt  und  daß  diese  sich  von  jenen  dvvafjteiQ,  welche 
die  Sophisten  ä  la  Hippias  verleihen  wollen,  gar  sehr  unterscheidet,  und  daß 
alles  Wissen  Scheinwissen  ist,  das  nicht  einmal  so  viel  weiß,  daß  man  dieses 
Wissen  vor  allem  anzustreben  habe"  (S.  49). 

Kraus  hat  die  schwierige  Aufgabe  gelöst,  diesen  rätselhaften  und  auch 
den  aufmerksamen  Leser  so  überaus  leicht  verwirrenden  Dialog  restlos  auf- 
zuklären, besonders  durch  die  festgehaltene  Beachtung  des  folgenden,  für 
die  Ethik  überhaupt  wichtigen  Bedeutungsunterschiedes:  „Sirayig  im  Sinne 
der  Kraft,  die  den  Willen  bestimmt,  und  övvafJiq  im  Sinne  der  Kraft,  die 
dem  Willen  selbst  innewohnt"  (S.  V).  —  Die  reichlich  vorhegenden  Schriften 
über  den  Hippias  minor  hat  Kraus  alle  eingesehen  und  berücksichtigt,  seine 
Abweichungen  stets  begründet.  —  S.  20,  Z.  4  v.  u.  muß  es  heißen:  diese  Hand- 
lung nicht  unterlassen  hätte;  Anmerkung  2  S.  37  ist  verdruckt. 

Fritz  Peters  -  Berlin. 

Franz    BoU,  Die  Lebensalter.     Ein  Beitrag  zur  antiken  Ethologie  und  zur 

Geschichte  der  Zahlen  mit  einem  Anhang  über  die  Schrift  von  der 

Siebenzahl.    Leipzig  u.  Berlin,  Teubner.  1913.  57  S.,  mit  2  Taf.   2,40  Mk. 

Seine  erstaunUche  Belesenheit  in  der  großen  zum  Thema  gehörenden 

Literatur  —  in  den  alten  und  neuen  Quellen  so  gut  wie  in  den  Schriften  über 

sie  —  läßt  BoU  seinen  Aufsatz  interessant  genug  gestalten,  der  neben  der 

Richtigstellung  mancher  bisherigen  Irrtümer  auch  viel  Neues  bringt,  so  daß 

wir  ihm  nichts  mehr  zuzufügen  wissen.     Aber  unserer  Meinvuig  nach  gehört 

die  ganze  Arbeit  wohl  mehr  vor  das  Forum  des  Literar-  imd  Kulturhistorikers 

als   vor   das  des    eigenthchen   Philosophen,    woran   der    kurze   Ausbück  auf 

Shakespeare  und  Schopenhauer  nichts  ändert.  Fritz  Peters-Berlin. 

Fritz  Conrad,  Die  Quellen  der  älteren,  pyrrhonischen  Skepsis.  34  S.  Diss. 
Königsberg. 
In  Betracht  kommen  nach  Conrad  nur  Demokrit  und  die  Sophislen. 
Er  lehnt  Hirzels  Beweise  für  die  Abhängigkeit  von  Demckrit  mit  Recht 
ab,  läßt  aber  als  eine  wesentliche  Übereinstimmung  die  gleich  hohe  Schätzung 
der  Medizin  gelten.  Bei  den  Sophisten  findet  er  als  gleich  wesentliche  Über- 
einstimmungen das  Wanderleben  (Timon)  und  die  Vortragsweise  (Pyrrho 
und  Timon).  die  Anwendung  der  Antithese  vopoi  —  dXr^f^sia  auf  ethischem 


Rezensionen.  115 

Gebiete  (Gorgias,  Hippias),  des  Ausdruckes  ov  ^uXkov  und  der  Antilogien 
(Protagoras).  Es  gelingt  Conrad  auch,  die  Bekanntschaft  mit  Lehren  des 
Protagoras  für  PjTrho  als  historisch  höchst  wahrscheinlich,  für  Tinion  als" 
sicher  zu  erweisen. 

Wir  können  aber  der  Arbeit  nicht  die  gewollte  Bedevitung  zuerkennen. 
Aus  allen  solchen  Übereinstimmungen,  zumal  der  Schätzung  einer  Wissen- 
schaft, die  zu  jener  Zeit  überhaupt  in  hohem  Ansehen  stand,  dem  Wander- 
leben und  der  Vortragsweise,  die  durch  das  Wirken  der  Sophisten  allbekannt 
geworden  waren  (was  desgleichen  doch  auch  für  den  Gebrauch  bestimmter 
philosophischer  Ausdrücke  gelten  muß),  —  aus  allen  solchen  Übereinstimmungen 
und  Anklängen  läßt  sich  doch  nur  auf  die  Bekanntschaft  der  Skeptiker  mit 
den  Lehren  ihrer  Vorgänger  schheßen,  nicht  aber  ein  Beweis  führen,  daß 
diese  für  sie  tatsächlich  die  Quellen  ihres  philosophischen  Wissens  waren. 

Fritz  Peters-Berlin. 

Siegfried  Kriegbaum,  Der  Ursprung  der  von  Kallikles  in  Piatons  Gorgias 
vertretenen  Anschauungen.  Paderborn,  Schöningh.  1913.  VIII,  105  S. 
Wer  mit  der  griechischen  Geschichte  und  Literatur  nur  einigermaßen 
vertraut  ist,  wird  in  der  als  13.  Heft  der  Stölzleschen  Studien  zur  Philosophie 
lind  Religion  erschienenen  Arbeit  Kriegbaums  kein  neues  Ergebnis  finden. 
Mit  umständücher  Ausführlichkeit,  die  in  ihren  steten  Wiederholungen  und  Ver- 
weisungen leider  oft  genug  zur  Weitschweifigkeit  wird,  legt  der  Verfasser 
in  dem  fast  die  Hälfte  der  Abhandlung  beanspruchenden  ersten  Kapitel  die 
Anschauungen  des  Kallikles  und  ihre  Verbreitung  dar  und  weist  dann  nach, 
daß  für  sie  keine  ,, papierene  Vorlage"  als  Quelle  anzunehmen  ist,  sondern 
daß  sie  ,,im  Buch  der  Geschichte  ihrer  Zeit  niedergeschrieben"  waren.  Das 
ist  meines  Wissens  auch  niemals  anders  gesagt  worden.  Über  die  im  Inhalts- 
verzeichnis für  den  Schluß  versprochenen  ,,Kallikleischen  Anschauungen  bei 
anderen  Völkern"  erfahren  wir  nichts;  daß  auch  Nietzsche,  wie  in  der  Ein- 
leitung kurz  behauptet  wird,  ,, seine  Anschauungen  gewssermaßen  schon  in  der 
Praxis  vorgebildet  fand",  bleibt  unbewiesen.  Es  ist  eine  wichtig  genommene 
Arbeit  ohne  Belang.  Fritz  Peters-BerUn. 

Georg  E.  Burckhardt,  Individuum  und  Allgemeinheit  in  Piatos  Politeia. 
Halle,  Niemeyer.  1913.  66  S.  1,80  Mk. 
Es  ist  eine  geschickte  Zusammenstellung  alles  dessen,  was  Plato  über 
das  Verhältnis  zwischen  Indi^^duum  und  Allgemeinheit  in  seiner  Politeia, 
im  Zusammenhang  auch  mit  seinen  übrigen  Schriften,  gesagt  hat  —  leider 
nicht  mehr,  auch  da  nicht,  wo  Burckhardt  über  die  Ähnhchkeit  von  Piatos 
Problem  mit  Problemen  der  Gegenwart  spricht,  da  er  es  an  jedem  kritischen 
Versuch  fehlen  läßt.  Es  ist  schade,  daß  er  ihn  uns  vorenthalten  hat,  da  er 
sich  reichhch  befälligt  für  ihn  zeigt.  Aber  die  kleine  Schrift  mag  auch  ohne 
eine  solche  Erweiterung  immerhin  als  eine  gute  Einführung  in  Piatos  Gedanken 
ihre  Geltung  haben  und  bei  denen,  die  solche  Einführungen  brauchen.  Dank 
ernten;  sie  lernen  dann  hoffentUch  bald,  daß  es,  wie  Burckhardt  selber  sagt, 
,, keine  bessere  Hilfe  zur  Vertiefung  in  dies  Meisterwerk  gibt,  als  still  auf  den 
Meister  selbst  zu  hören."  Fritz   Peters-Berhn. 

8* 


116  Rezensionen. 

Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  des  Mittelalters,  nach  Problemen  dar- 
gestellt von  D.  Neu  mark.  Anhang  zum  1.  Bande,  Kapitel:  Materie 
und  Form  bei  Aristoteles.  Berlin,  Reimer  1913.  (V  u.  108  S.) 
Eine  polemische  Schrift,  eine  sehr  polemische!  N.,  von  dessen  großange- 
legter Geschichte  der  jüdischen  Philosophie  nun  schon  zwei  stattliche  Bände 
vorliegen,  beschäftigt  sich  mit  einem  Kritiker  seines  Werkes,  J.  Husik,  der  auch 
in  dieser  Zeitschrift  zu  Worte  kam.  Er  ist  mit  den  Taten  und  Meinungen 
seines  Rezensenten  höchst  unzufrieden.  Wie  unzufrieden,  das  lehrt  —  um 
nur  eine  Stelle  herauszugreifen  —  der  Schluß  seiner  Schrift:  ,,Ich  kann  H. 
nicht  als  wissenschaftlichen  Gegner  betrachten.  Jetzt  noch  weniger,  als  früher: 
Die  Pseudoerwiderung  H.s  ist  das  frivole  Attentat  eines  verzweifelten  literari- 
schen Freibeuters  ohne  Wissen  und  Gewissen  auf  ehrliche  hingebungsvolle 
wissenschaftliche  Arbeit.  Ich  habe  für  H.  nur  einen  ernsten  Rat:  Diesef.  ver- 
ächtliche , Geschäft',  so  erfolgreich  es  auch  erscheinen  mag,  einfach  aufzugeben 
und  sich  ehrlicher  Arbeit  zu  widmen.  Der  Weg  ehrlicher  Arbeit  ist  etwas 
langwierig,  der  Erfolg  kommt  nicht  so  rasch,  aber  wenn  er  kommt,  ist  er  ehr- 
lich verdient  und  —  dauerhaft."  —  Wer  ein  Interesse  an  dem  Streit  zwischen 
Neumark  und  Husik  nimmt,  der  ja  z.  T.  auf  den  Blättern  dieser  Zeitschrift 
ausgefochten  wurde,  mag  die  Schrift  lesen,  die  mit  der  Polemik  die  fruchtbarere 
Absicht  verbindet,  die  von  dem  Verfasser  in  seiner  Darstellung  von  Materie 
und   Form  gegebene  Aristoteles-Interpretation   in   DetaiKragen  fortzuführen. 

Dr.  Max  Wiener -Stettin. 

Al-hidaja  ila  faraid  al-qulub  des  Bachja  ibn  Josef  ibn  Paquda  aus  Andalusien. 
Im  arab.  Urtext  zum  ersten  Male  nach  der  Oxforder  und  Pariser  Hand- 
schrift  sowie   den   Petersburger   Fragmenten   herausg.   von   Dr.   A.    S. 
Yahuda.     Leiden,  Brill  1912. 
Eine  Besprechung  der  Yahudaschen  Edition  an  diesem   Orte  muß  es 
sich  versagen,  die  Leistung  des  Philologen  zu  beurteilen,  sondern  kann  nur 
der  tiefgreifenden    Analyse  der  Quellen    gelten,    die    der  Herausgeber  dem 
arabischen  Text  voranschickt.     Das  Buch  Bachjas,  eines  der  standard-works 
der  arabisch- jüdischen  Religionsphilosophie,  das  bisher  nur  in  der  hebräischen 
Übersetzung  des  Jehuda  ibn  Tibbon  zugängHch  war,  verdiente  seine  Heraus- 
gabe im  ursprünglichen  Gewände  nicht  bloß  um  der  Bedeutung  willen,  die 
gerade  ihm  vor  anderen  in  der  Geschichte  der  mittelalterlichen  Philosophie 
der  Juden  zukommt,  sondern  vor  allem  auch  darum,  weil  die  Eigenart  des 
Autors  und  seines  Übersetzers  eine  gründliche  Erfassung  des  ursprünglichen 
Sinnes  tatsächlich  nur  durch  die  Einsicht  in  den  Urtext  eröffnet. 

Yahuda  zeigt  an  einer  Fülle  von  Beispielen,  wie  stark  der  hebräische 
Text  nach  dem  Original  zu  korrigieren,  und  wie  sehr  bisher  das  Verständnis 
Bachjas  durch  Unkorrektheiten  und  Lücken  der  Übertragung  beeinträchtigt 
worden  ist.  Schon  in  seinen  ,,Prolegomena  zu  einer  erstmaligen  Herausgabe 
des  Kitab  al-Hidaja  usw."  war  Yahuda  eben  auf  Grund  des  arabischen  Ur- 
textes zu  der  Ansicht  gekommen,  daß  nicht  die  Abhandlungen  der  ,, Lauteren 
Brüder"  als  die  unmittelbare  Quelle  wesentlicher  Stücke  der  Lebensansicht 
Bachjas  in  Anspruch  zu  nehmen  sind,  sondern  daß  die  ,, Herzenspflichten" 


Rezensionen.  117 

vor  allem  den  Stempel  Gazalischer  Weltbetrachtung  tragen.  So  glaubte  Y., 
die  Blüte  Bachjas  um  50  Jahre  später  (nach  1100  n.  Chr.)  ansetzen  zu  sollen, 
als  man  es  bisher  getan  hatte.  Die  Einleitung,  die  uns  vorliegt,  meint  freilich, 
diese  These  nicht  mehr  mit  solcher  Bestimmtheit  festhalten  zu  dürfen,  da 
die  genaue  Vergleichung  der  Lehrmeinungen  Bachjas  und  ihrer  Formuherung 
mit  der  islamischen  Literatur  eine  solche  Fülle  von  mehr  oder  weniger  wört- 
lichen Entlehnungen  aus  allen  möglichen  Werken  aufzeigt,  daß  eine  sichere 
Bestimmung  der  ursprünghchen  Quellen  die  größten  Schwierigkeiten  m 
—  Darin  liegt  nun  nach  unserer  Meinung  der  besondere  Wert  von  Y.s  Ein- 
leitung, daß  sie  an  einem  konkreten,  sehr  wichtigen  Beispiel  aufs  neue  die 
innige  Verflechtung  der  jüdischen  mit  der  islamischen  Philosophie  dartut. 
Daß  Bachjas  Gotteslehre  den  unmittelbaren  Einfluß  des  Kalam  zeigt,  liegt 
auf  der  Hand.  Die  allgemeine  Stimmung  seiner  Moralphilosophie  ist  die  des 
Ssufismus,  wobei  freilich  asketische  Ausschreitungen  an  dem  nüchternen 
Sinn  des  Juden  abprallen.  So  ist  es  die  Gleichheit  der  religiösen  Gestimmtheit, 
aber  nicht  unmittelbare  Abhängigkeit,  die  konkret  nicht  zu  erweisen  ist,  die 
unser  Werk  in  die  Nähe  der  Schriften  der  ,, Lauteren"  rückt. 

Yahuda  geht  nun  im  einzelnen  auf  die  Quellen  der  Aussprüche  ein, 
die  B.  anonym  als  die  Worte  der  Weisen  zitiert.  Es  handelt  sich  hierbei  wohl 
ausschließlich  lun  solche  nichtjüdischen  Bekenntnisses,  und  zwar  nicht  bloß 
um  Männer,  die,  wie  griechische  Denker  oder  indische  Weise,  nur  als  Ver- 
treter ,, weltlicher"  Weisheit  dem  Mittelalter  gegolten  haben,  sondern  merk- 
würdigerweise auch  um  ,, fromme  Leute  anderer  Rehgionsbekenntnisse".  Es 
interessieren  uns  hier  besonders  Sprüche,  die  von  den  mohammedanischen 
Gewährsmännern  Bachjas  als  Worte  Jesu  zitiert  werden.  B.  ist  objektiv 
genug,  das  Gute  zu  nehmen,  woher  es  sich  auch  bietet.  Das  gilt  hinsichtlich 
des  Stifters  des  Christentums  nicht  weniger  als  bezügUch  der  von  Mohammed 
tradierten  Aussprüche.  Als  solche  (Hadit)  läuft  bekanntlich  eine  Unzahl  von 
Worten  in  der  islamischen  Literatur  um,  die  jedes  Zeitalter  und  jede  religiöse 
Gruppe  um  neue  vermehrt  hat.  Dazu  treten  die  Manaqib-Schriften,  die  von 
der  Frömmigkeit  und  Weisheit  der  Genossen  Mohammeds,  zumal  der  ersten 
Kalifen,  handeln,  und  die  Literatur,  die  sich  mit  Recht  oder  Unrecht  um  die 
PersönUchkeit  des  Kalifen  Ali  rankt.  Worte  mohammedanischer  Asketen 
und  Ssufis,  die  häufig  selbst  wieder  aus  antiken  oder  indischen  Quellen  fließen, 
vervollständigen  den  Kreis  der  Schriftwerke,  die  B,  benutzt  hat. 

Y^.  hat  mit  vieler  Mühe  aus  der  weitschichtigen,  zerstreuten  und  zum 
großen  Teil  nur  erst  handschriftlich  vorhandenen  Literatur  das  nötige  Material 
zusammengestellt  und  so  einen  beträchthchen  Teil  der  in  den  ,,Herzens- 
pfUchten"  verarbeiteten  fremden  Stücke  auf  ihre  Herkunft  geprüft.  Bei  dem 
eigentümlichen  Charakter  der  mittelalterhchen  Schriftstellerei,  in  der  es  auch 
bei  den  Größten  gang  und  gäbe  war,  andere  Autoren  nach  Beheben  auszu- 
schreiben, mußte  es  natürhch  trotz  wörtlicher  Übereinstimmung  oft  un- 
ausgemacht bleiben,  ob  in  dem  einen  oder  anderen  Falle  eine  direkte  Beein- 
flussung vorlag  oder  nicht.  Y.  betont  dies  auch.  Für  die  allgemeine  Geschichte 
des  Denkens  handelt  es  sich  hierbei  auch  meist  nicht  um  Fragen  ersten  Ranges, 
da  der  schulmäßige  Charakter  der  mittelalterlichen  Philosophie  bekanntüch 


118  Rezensionen. 

keine  scharfen  und  unbedingt  eigenartigen  Denkerpersönlichkeiten  aufkommen 
läßt.  Aber  bei  der  Bedeutung,  welche  Bachja  im  philosophischen  Schrifttum 
der  Juden  zukommt,  ist  es  von  erheblichem  literargeschichtüchen  Interesse, 
möglichst  genau  die  Fäden  bloßzulegen,  die  ihn  mit  der  Moralphilosophie 
der  islamischen  Theologen  verknüpfen.  So  stellt  Yahudas  Einleitung  eine 
außerordentlich  verdienstvolle  Leistung  dar,  da  sie  in  einen  wichtigen  Ab- 
schnitt der  Geschichte  der  orientaUschen  Philosophie  uns  recht  erwünschte 
Klarheit  bringt.  Dr.  Mai?   Wien  er -Stettin. 

Die  Philosophie  von  Richard  Avenarius.  Systematische  Darstellung  und 
immanente  Kritik  von  Dr.  phil.  Friedrich  Raab.  Leipzig,  Verlag 
von  Felix  Meiner,  1912.     IV,  162  S. 

Das  vorliegende  Buch  verdient  in  doppelter  Hinsicht  Interesse  durch  den 
behandelten  Stoff  und  die  Behandlung  selbst.  Es  läßt  sich  der  historische  Wert 
eines  Philosophems  —  seinen  unbedingten  Willen  zur  Wahrheit  vorausgesetzt  — 
bestimmen  durch  das  Maß  der  Annäherung  seiner  Begriffsbildung  an  die 
Forderung  der  Idee.  Es  wird  daher  stets  zu  fragen  sein:  welchen  Begriff  hat 
der  Autor  von  dem  Wesen  und  der  Aufgabe  alles  philosophischen  Denkens 
und  wie  weit  wird  er  der  ideellen  Bedeutsamkeit  dieses  sich  selbst  gewählten 
Begriffes  gerecht,  d.  h.  welchen  Begriff  hat  er  von  seinem  Begriffe;  Fragen, 
die  man  zu  formulieren  pflegt  als  solche  nach  der  Richtigkeit  und  der  Folge- 
richtigkeit eines  Systems.  Ihr  ideelles  Zusammenfallen  soll  hier  unberück- 
sichtigt bleiben. 

Die  Philosophie  des  Richard  Avenarius,  der  sogenannte  Empiriokritizismus, 
erregt  deshalb  in  hohem  Grade  unser  Interesse,  weil  hier  eine  einseitige  und 
unzulängliche  Grundauffassung  in  relativ  höchster  Konsequenz  durchgedacht 
und  ausgeführt  ist.  So  ist  es  denn  auch  Avenarius  gelungen,  alle  philosophischen 
Systeme,  die  mehr  oder  weniger  —  eingestanden  oder  uneingestanden  — 
seine  philosophische  Theorie  den  ihrigen  zugrunde  legen  und  doch  zu  diffe- 
rierenden Resultaten  kommen,  zu  überwinden  und  in  ihrer  Fehlerhaftigkeit 
nachzuweisen,  während  er  allen  anderen  gegenüber  verständnislos  bleibt, 
ihr  abweichendes  Wollen  gar  nicht  zu  erfassen,  geschweige  denn  zu  würdigen 
vermag.  So  läßt  sich  in  der  Tat  zeigen,  daß  etwa  die  Theorie  vom  Parallelis- 
mus des  Physischen  und  Psychischen  oder  der  psychologische  Idealismus  wie 
Avenarius  nur  „begreifen"  will,  diesen  rein  positivistischen  Standpunkt  aber 
nur  zu  schnell  durch  irgend  eine  a  priori  konstruierte  Differenzierung  der 
Unmittelbarkeit  des  Gegebenen,  d.  h.  Begreifbaren  aus  den  Augen  verliert. 
Durch  das  Prinzip  der  Introjektion  widerlegt  Avenarius  alle  Versuche,  auf 
empirische  Weise  den  Zusammenhang  von  Erleben  und  Natur  bestimmen  zu 
können.  Der  kritische  Idealismus  aber  fällt  der  Introjektion  deshalb  nicht 
anheim,  weil  er  eine  gegebene  Scheidung  von  Subjekt  und  Objekt,  äußerer  und 
innerer  Erfahrung  gar  nicht  voraussetzt,  um  hinterher  ein  Hinüberwandeln 
des  einen  in  das  andere  oder  Geborensein  aus  ihm  anzunehmen.  Er  sucht  nur 
die  Bedingungen  für  das  Auftreten  bestimmter  Erlebnisse  zu  begreifen  und 
lehnt  jede  Frage  nach  der  Art,  wie  dieser  Übergang  vom  Physischen  zum 
Psychischen  stattfindet,  als  similos  ab.    Weil  er  aber  in  seiner  Auffassung  der 


Rezensionen,  119 

Idee  der  Philosophie  über  das  bloße  Begreifen  hinaus  nach  dem  objektiven 
Werte  aller  Erlebnisse  fragt,  setzt  er  wohl  den  natürhchen  Weltbegriff,  wie 
Avenarius  behauptet,  voraus;  aber  nicht  logisch  als  Fundament  seiner  weiteren 
Theorien,  sondern  rein  empirisch  als  den  ersten  Gegenstand  für  die  Bewährung 
seiner  objektiven  Kriterien.  Immerhin  muß  aber  zugestanden  werden,  daß 
die  Entdeckung  des  Systems  durch  Avenarius,  als  des  Begriffes  der  unmittel- 
baren Bedingungen  für  die  Faktizität  eines  Erlebnisses  für  die  Vertiefung  und 
Fortbildung  der  idealistischen  Theorien  von  großem  Werte  ist. 

Das  Buch  des  Dr.  Raab  gibt  uns  in  seinem  ersten  Teile  eine  geschlossene 
Darstellung  der  Lehre  des  R.  Avenarius  und  läßt  ihr  dann  eine  Kritik  derselben 
folgen,  indem  es  zunächst  die  Grundanschauung  des  Empiriokritizismus  prüft, 
dann  die  Folgerichtigkeit  seiner  weiteren  Thesen  untersucht  und  Inkonse- 
quenzen durch  unbewußte  Einflüsse  einer  von  Avenarius  abgelehnten  objek- 
tivistischen Philosophie  erklärt.  Der  Verfasser  geht  hierbei  von  der  Ansicht  aus, 
daß  infolge  der  Absolutheit  der  Wahrheit  jede  falsche  Grundanschauung 
konsequent  durchgeführt  zu  off enen  Widersprüchen  gelangen  muß,  daher  stets, 
um  solche  zu  vermeiden,  dem  Einflüsse  anderer  unterUegt.  Die  philosophische 
Theorie  des  Avenarius  wird  vom  Verfasser  als  Einleitung  seines  kritischen  Teiles 
der  eigenen  Form  entkleidet,  gewissermaßen  umgegossen  und  durch  die  syste- 
matischen Begriffe  des  Verfassers  auszudrücken  gesucht.  Dieser  gewinnt  so  die 
Möglichkeit,  an  seiner  Auffassung  von  der  Idee  der  Philosophie  genau  die  des 
Avenarius  abzustecken  und  in  ihrer  einseitigen  Beschränkung  nachzuweisen, 
und  vermeidet  jede  stückweise  Kritik  und  Ablehnung  einzelner  abgeleiteter 
Sätze  und  Begriffe.  Wir  halten  diese  übrigens  glänzend  durchgeführte  Be- 
handlung für  die  einzig  sinnvolle,  leider  zu  selten  geübte  Art  der  Lösung 
philosophiegeschichtlicher  Probleme.  Als  wertvollstes  Ergebnis  des  Empirio- 
kritizismus hebt  Dr.  Raab  die  auch  von  dem  Idealismus  gebotene  Ablehnung 
jeder  Trennung  der  Objekte  des  Physischen  und  Psychischen  hervor.  Im  übrigen 
wäre  ein  genaueres  Eingehen  auf  den  Relativismus  der  Wahrheit  bei  Avenarius 
zu  wünschen,  der  das  einzige  Absolute  seiner  Philosophie  ist  und  so  weit  geht, 
daß  er  ein  Kriterium  für  die  Richtigkeit  seiner  Theorie  außer  ihrem  Erfahren- 
sein mcht  kennt  und  nötig  hat.  Überhaupt  leidet  das  Buch  etwas  unter  seiner 
Kürze;  so  führt  die  Absicht  des  Verfassers,  mit  möglichst  wenig  W'orten  viel 
zu  sagen,  zuweilen  zu  kaum  übersehbaren  Satzperioden,  die  dem  Verständnis 
des  ohnehin  schwierigen  Buches  keinesfalls  förderlich  sind. 

Marburg  a.  d.  L.  Werner    Büngel. 

Friedrich   Lübkers,   Reallexikon  des  klassischen  Altertums.    8.  vollständig 
umgearbeitete  Auflage  herausgegeben  von  J.  Geffken  und  E.  Ziebarth. 
Teubner,  Leipzig -Berlin  1914. 
Zur  Kennzeiclinung  der  neuen  Auflage  wird  in  der  Vorrede  gesagt:    „Das 
alte  Lexikon  nannte  sich  Reallexikon  des  klassischen  Altertums  und  beschränkte 
sich  auf  ein  engeres  Gebiet.     Das  neue  hat  der  gewaltigen  Erweiterung  des 
philologischen  Gesichtsfeldes  in  unserer  Zeit  nach  Kräften  Rechnung  getragen, 
es  hat  eine  Menge  Ballast  des  alten  über  Bord  werfend,  soviel  moderne  wissen- 
schaftliche Werte  wie  möghch  aufgenommen  ..."     Zunächst  zeigt  ein  Blick 


120  Rezensionen. 

in  die  Aufzählung  der  benützten  Literatur,  wie  entschieden  dieses  Bestreben 
war.  Vor  allem  beweisen  daftn  die  einzelnen  Artikel  der  neuen  Auflage,  wenn 
wir  sie  z.  B.  mit  denen  der  sechsten,  die  mir  zur  Verfügung  steht,  vergleichen 
wie  sehr  man  von  dem  Bestreben  geleitet  war,  überall  eine  gute,  Wissenschaft - 
lieh  begründete  Darlegung  des  Sachverhaltes  zu  bieten.  Es  zeigt  dies  beispiels- 
weise ein  Blick  in  die  Artikel  Homeros,  Odysseus,  Plato  der  neuen  Auflage. 
Alle  Beziehungen,  die  bei  der  Besprechung  dieser  Fragen  in  Betracht  kommen, 
sind,  soweit  es  im  Rahmen  des  Buches  möglich  war,  erörtert  und  mit  aus- 
gedehnter Literaturangabe  behandelt  worden,  wodurch  aber  die  fortlaufende 
Darstellung    gelitten    hat. 

Eine  große  Anzahl  von  Artikeln  ist  neu  hinzugekommen  gegenüber  der 
ü.  Auflage;  so  beispielsweise  Augenheilkunde;  Erz,  Erzarbeiten;  Etymologie, 
Etymologika;  Frau;  Freilassung;  Fremdenrecht;  Freundschaft;  Märchen. 
Märchendichtung;  Märtyrerakten;  Sprachwissenschaft.  Den  wissenschaft- 
lichen Nutzen  des  Buches  hat  man  auch  dadurch  zu  steigern  gesucht,  daß  man 
alles,  was  überflüssig  erschien,  wegließ.  Warum  man  aber  den  Artikel  „Mahl- 
zeiten" fortgelassen  hat,  sehe  ich  nicht  ein,  zumal  man  damit  den  Artikel  Sym- 
posionliteratur" hätte  verbinden  können.  Nach  längerem  Schwanken,  wie 
sie  sagen,  haben  sich  die  Herausgeber  auch  zu  einem  gänzlichen  Verzicht  auf 
den  Schmuck  der  Abbildungen  entschlossen.  Aber  vielleicht  ist  dies  zu  be- 
dauern, da  jene  den  früheren  Auflagen  etwas  Belebendes  und  Gefälliges  gaben. 

Jedenfalls  ist  zu  hoffen,  daß  die  Belehrung  und  Anregung,  die  schon  die 
früheren  Auflagen  ohne  Zweifel  vor  allem  vielen  Studierenden  geboten  haben, 
in  noch  verstärktem  Maße  von  der  neuen  Auflage  ausgehen  wird. 

Cöln.  H.  Rick. 

Burnet,  J.,  Die  Anfänge  der  griechischen  Philosophie.  2.  Ausg.,  aus  dem 
Englischen  übersetzt  von  Else  Schenkl.      Teubner,  Leipzig   1913. 

Der  Verfasser  bemerkt  in  der  Vorrede  zur  2.  englischen  Auflage  gegen- 
über der  1.,  daß  der  größte  Teil  neu  geschrieben  werden  mußte.  Ohne  Zweifel 
ist  es  ein  sehr  belehrendes  Buch.  Mit  voller  Beherrschung  der  Literatur  ver- 
bindet der  Verfasser  Selbständigkeit  des  Urteils,  und  sein  Werk  ist  daher  sehr 
geeignet,  den  Leser  in  den  überall  zutage  liegenden  Fragen  zu  unterrichten. 
Das  Buch  berücksichtigt  die  Ergebnisse  der  neueren  Forschungen  über  diesen 
Teil  der  Philosophie,  und  so  ist  für  die  Geschichte  des  Pythagoreismus  der 
Auszug  aus  Menons  ^Iutqixu  benutzt.  Der  Verfasser  betrachtet  die  einzelnen 
Systeme  in  ihrem  inneren  Verhältnisse  zueinander,  inwieweit  sie  von  einander 
abhängig  sind  und  das  eine  Fortbildung  gegenüber  dem  anderen  ist. 

Die  Darstellung  ist  im  allgemeinen  klar  und  auch  die  Sprache  der  Über- 
setzung gewandt.  Aus  dem,  was  in  dieser  Hinsicht  zu  beanstanden  ist,  möchte 
ich  auf  einiges  hinweisen.  S.  31  fehlt  vor  ,, stützt"  ein  „es".  S.  46  ist  „charak- 
teristischesten" sehr  unschön.  Anstatt  ,,Differenziation"  und  ,, Integration" 
S.  129/30  wünschte  man  deutsche  Wörter.  S.  155  ist  der  Ausdruck  ,, siebzig 
Jahre  vorbei"  undeutsch.  Unschön  und  unklar  ist  S.  233  die  Wendung  über 
Perikles,  „wie  er  alles  übrige  brachte".  S.  237  muß  es  heißen  ,, aufhören  sollte 
au  sein"  statt  „aufhören  zu  sein  sollte".     „Weiters"  statt  „Weiterhin"  S.  244 


Rezensionen.  121 

ist  nicht  deutsch.  S.  302  muß  es  heißen  „Bekanntschaft"  statt  „Verwandt- 
schaft". 

Was  einzelne  Auffassungen  griechischen  Textes  angeht,  möchte  ich  fol- 
gendes bemerken:  1.  In  dem  Fragment  14  des  Xenophanes  (S.  104)  halte  icli 
die  Lesart  ißS^rjra  statt  uYo&riGn'  nicht  für  richtig.  2.  Plato  Theat.  181a  ist 
TOv  oXov  GtuGkZzui  mit  einem  gewissen  Spott  gesagt,  und  der  Ausdruck 
heißt  „die  das  Ganze  festmachen";  es  bedeutet  nicht  bloß  „Verfechter  des 
(ranzen"  (S.  111  A.  1).  3.  Die  Herakleiteer  sind  es  nicht,  die  in  Piatos  Crat\-lus 
verspottet  werden  (S.  328  A.  2). 

Mehrere  Druckfehler  finden  sich  in  der  Arbeit. 

Cöln.  H.  Rick. 

Th.  Ribot,  Choix  de  textes  et  etude  de  l'oeuvre  par  G.  Lamarque. 
Preface  de  Pierre  Janet,  Professeur  au  College  de  France.  Mit  Bild 
und  Autograph.  222  S.  Societe  des  editions  Louis-Michaud.  Paris. 
Ohne  Druckjahr.     Preis  brosch.  2  Frcs. 

Theodule  Ribot  hat  in  der  Geschichte  der  französischen  Philosophie 
eine  hervorragende  RoUe  gespielt.  Bis  zur  Veröffentüchung  seiner  ersten  Werke 
hatte  Cousins  spirituahstische  Schule  vorgeherrscht,  deren  Mängel  besonders 
seitens  Taines  scharf  angegriffen  worden  waren.  Man  fühlte,  daß  die  Schlaffheit 
der  Psychologie  nur  durch  Anwendung  einer  wissenschaftlich  begründeten 
Methode  eine  Besserung  erfahren  konnte,  und  war  der  Überzeugung,  daß  die 
Zersplitterung  in  Spezialgebiete  hemmend  auf  die  freie  Entwicklung  der 
psychologischen  Forschungen  einwirken  mußte.  In  der  Tat  erstrebte  man 
in  Deutschland,  auf  Grund  der  Ergebnisse  von  Wundt,  Weber  und  Fechner,  zu 
einer  mathematischen  Feststellung  der  psychologischen  Erscheinungen  betreffs 
Dauer  und  Quantität  zu  gelangen,  in  England  widmete  man  sich  in  der  Haupt- 
sache der  Assoziationspsychologie,  während  in  Frankreich  die  Pathologie 
in  den  Vordergrund  trat.  Man  kann  wohl  sagen,  daß  die  Arbeiten  der  französi- 
schen Psychologen  auf  dem  von  ihnen  gepflegten  Gebiete  in  praktischer  Hin- 
sicht hervorragende  Resultate  gezeitigt  haben.  Es  ist  nun  Th.  Ribot,  dem 
in  der  Hauptsache  das  Aufblühen  der  Psychopathologie  zu  verdanken  ist. 

Seine  Werke  über  ,,Die  Krankheiten  des  Gedächtnisses",  ,,Die  Krank- 
heiten des  Willens"  und  ,,Die  Krankheiten  der  Persönlichkeit"  bezeichnen 
den  Übergang  von  der  alten  zur  neuen  Psychologie.  Von  ganz  besonderer 
Bedeutung  ist  Ribots  Arbeit  über  ,,Die  enghsche  Psychologie  der  Gegenwart", 
in  der  er  gewissermaßen  als  Vorgänger  Wundts^)  die  Trennung  der  psycho- 
logischen Einzelwissenschaft  von  der  Philosophie  fordert. 

Ribot  hat  in  den  oben  genannten  Werken  den  Grundstein  zu  einer 
Methode  gelegt,  von  der  noch  gegenwärtig  die  eigentUche  experimentelle 
Psychologie  abhängt.  Er  fordert  eine  gleichzeitige  Anwendung  der  sub- 
jektiven und  der  objektiven  Methode:  erstere  bei  den  speziell  psychischen 
Erscheinungen  introspektiv  angewendet,  letztere  bei  der  Völker-,  Tier-  und 


^)  S.  Wilhelm  Wundt,  Die  Psychologie  im  Kampf  ums  Dasein.     Alfred 
Kröners  Verlag.     Leipzig  1913. 


122  Rezensionen. 

Kinderpsychülogie.  Bei  seinen  Arbeiten  läßt  sich  Ribot  vor  allem  das  Re- 
sultat angelegen  sein,  indem  er  ein  bescheidenes,  aber  sicheres  Forschungs- 
ergebnis einer  aufsehenerregenden  Theorie  vorzieht,  und  hält  sich  fern  von 
metaphysischen  Spekulationen,  welche  er  als  sein  Gebiet  nicht  berührend 
ansieht. 

Der  Verf.  des  vorliegenden  Bändchens  bietet  im  ersten  Teil  eine  kurz 
gefaßte  Darstellung  des  Gedankens  Ribots,  während  der  zweite  Teil  aus  einer 
Zusammenstellung  von  Auszügen  aus  seinen  wichtigsten  Werken  besteht. 

Verf.  geht  davon  aus,  die  Grundlagen  der  Lehren  Ribots  zu  bestimmen, 
und  findet,  daß  in  der  Hauptsache  sich  deutscher  und  englischer  Einfluß  bei 
ihtn  geltend  gemacht  hat.  Das  Eigenartige  besteht  bei  Ribot  in  seiner  Methode, 
welche  weniger  in  der  physiologischen  Auslegung  psychologischer  Phänomene, 
als  in  der  Anwendung  auf  die  Pathologie  besteht.  Die  falsche  Beurteilung 
der  psychologischen  Methode,  wie  Ribot  sie  auffaßt,  ist  meistens  dem  zu- 
zuschreiben, daß  man  sich  von  vornherein  auf  einen  rein  philosophischen 
Standpunkt  stellt,  was  eine  voreingenommene  Beurteilung  in  sich  schließt, 
weil  Ribots  Methode  die  metaphysische  Gewißheit,  die  man  von  ihr  verlangt, 
weder  zu  geben  imstande  ist,  noch  will.  Man  kann,  nach  dem  Verf.,  Ribots 
Standpunkt  in  dem  zusammenfassen,  was  er  selbst  verschiedentlich  klar- 
gestellt hat:  eine  positive  Stellung  einnehmend,  hat  er  sich  vorgenommen, 
mittels  einer  biologischen  Methode  die  mentalen  Vorgänge,  wie  sie  bei  der 
Beobachtung  erscheinen,  zu  betrachten;  und  hat  dadurch  gezeigt,  an  welche 
Richtschnur  die  Psychologie  sich  zu  halten  hat,  wenn  sie  eine  Wissenschaft 
im  wahren  Sinn  des  Wortes  sein  will. 

Die  Einteilung  des  zweiten  Teils  geschah  nach  folgendem  Schema: 
I.  Geschichte. 

II.  Psychologie: 

a)  die  Stellungnahme, 

b)  die  Methode, 

c)  die  Ergebnisse. 

Das  Bändchen  kann  als  Beitrag  zur  Geschichte  der  Philosophie  nur 
empfohlen  werden,  da  es  eine  leichtfaßhche  und  anschauUche  Darstellung 
der  Gedanken  Th.  Ribots  bietet  und  insofern  eine  wertvolle  Ergänzung  zu 
der  gegenwärtig  vdeder  besonders  in  den  Vordergrund  tretenden  Frage  ist, 
in  wieweit  die  Psychologie  als  von  der  Philosophie  losgelöste  Wissenschaft 
anzuerkennen  sei. 

Stuttgart.  Max  Artur  Jordan. 

Domenico    Lanna,     La     teoria     della    conoscenza     in     S.    Tomase 
D'Aquino.    (Nr.  5  der  ,,Biblioteca  della  rivista  di  filosofia  neo-sco- 
lastica".)     Mit  kirclilicher  Genehmigung.    305  S.     Preis  3  Lire.     Ver- 
legt bei  Libreria  editrice  fiorentina.     Florenz  1913. 
Auf  derselben  Grundlage  wie  die  beiden  Schriften  Gemelhs  bewegt  sich 
das  ausführUche  W^erk  Lannas  über  ,,Die  Theorie  der  Erkenntnis  beim  hl. 
Thomas  von  Aquin". 

Nach  dem  Verf.  umfaßt  das  Problem  des  Erkennens  zwei  Teile.     Er 


Rezensionen.  123 

will  zuerst  die  thomistische  Doktrin  auslegen,  welche  die  Entwicklung  der 
Erkenntnis  betrifft,  um  dann  zu  der  Bestimmung  des  kritischen  Wertes  über- 
zugchen, die  sich  auf  die  Akte  der  Erkenntnis  anwenden  läßt.  Sodann  will 
er  versuchen,  festzustellen,  inwiefern  der  substantielle  Inhalt  der  alten  Philo- 
sophie zur  Anpassung  an  die  Forderungen  der  gegenwärtigen  Geistesströmungen 
und  die  neuen  Richtungslinien  der  Forschungsmethoden  in  dem  großen  Gebiet 
der  philosophischen  Wissenschaften  geeignet  sei.  Auf  diese  Weise  will  Verf. 
nachweisen,  daß  in  dem  alten  Stamm  der  Scholastik  noch  Lebenssaft  in  aus- 
giebigem Maße  vorhanden  ist,  daß  sie  die  Forschungen  der  Neuzeit  günstig 
beeinflussen  könne  —  kurz:  er  verherrlicht  die  Scholastik  als  die  ,,Philosophia 
perennis". 

Auch  Lannas  Methode  besteht  in  der  Hauptsache  darin,  scheinbar 
■wissenschaftliche  Propaganda  für  die  Neo-Scholastik  zu  machen.  Wir  glauben 
daher,  ohne  im  einzelnen  auf  die  hier  und  da  wiederkehrenden  Ausfälle  gegen 
die  naturwissenschafthchen  Weltanschauungen  (s.  besonders  3.  Buch  1.  Kap. 
S.  221f.)  näher  einzugehen,  das  für  Gemelh  Gesagte  wiederholen  und  ohne 
Bedenken  an  dieser  Schrift  vorübergehen  zu  können.  Hervorgehoben  sei  noch 
der  am  Schluß  beigefügte  bibliographische  Anhang,  welcher,  wie  ja  auch  das 
ganze  Buch,  für  solche,  die  sich  speziell  mit  den  thomistischen  Lehren  und  ihren 
Nachwirkungen  in  der  Gegenwart  beschäftigen,  von  Wert  sein  dürfte. 

Stuttgart.  Max  A  r  t  u  r  Jordan. 

Wesselsky,  Anton,  Forberg  und  Kant.  Studien  zur  Geschichte  der  Philo- 
sophie des  Als  ob  und  im  Hinblick  auf  eine  Philosophie  der  Tat.  Leipzig 
und  Wien,  Franz  Deuticke,  1913. 

Die  Schrift  bringt  mancherlei  geschichtlich  interessante  Mitteilungen 
über  Forberg  und  seine  Zeitgenossen.  Sie  ist  veranlaßt  durch  Vaihing  rs 
Buch:  Die  Philosophie  des  Als  ob,  und  soll  dem  Nachweis  dienen,  daß  For- 
berg den  Standpunkt  des  Als  ob  nicht  nur  in  der  Religion,  sondern  in  seiner 
gesamten  Philosophie  vertrete.  Mag  dieser  Nachweis  für  Forberg  zu  führen 
sein,  für  Kant  muß  er  jedenfalls  entschieden  zurückgewiesen  werden.  Bei  ihm 
kann  es  sich  nicht  darum  handeln,  „unwahre  Wahrheiten",  die  „zum  Leben 
nötig"  seien,  zu  erdichten.  Er  hat  vielmehr  an  der  parmenidischen  Gleichung 
festgehalten,  wonach  das  Denken  Denken  des  Seins  ist. 

Michelstadt  (Hessen).  G.  Falter. 

A dickes,  Erich,  Prof.  Dr.  Ein  neu  aufgefundenes  Kollegheft  nach  Kants 
Vorlesung  über  physische  Geographie.    J.  C.  B.  Mohr,  Tübingen,  1913. 

Die  vorliegende  Arbeit  beschäftigt  sich  mit  dem  Kollegheft  W  über  Kants 
physische  Geographie.  Sein  Verhältnis  zu  den  übrigen  Kollegheften,  insbesondere 
zur  Ausgabe  Rinks,  wird  mit  großer  Sorgfalt  und  phUologischer  Akribie  unter- 
sucht. A.  gelangt  zu  dem  Ergebnis,  daß  wir  in  W  eine  Abschrift  der  Vorlage 
vor  uns  haben,  die  Rink  bei  seiner  Ausgabe  benützte.  Nachdem  dm-ch  Adickes 
die  Quellen  bloßgelegt  sind,  aus  denen  Rink  geschöpft  hat,  ist  auch  die  Mög- 
lichkeit vorhanden,  eine  wissenschaftlich  brauchbare  Ausgabe  von  Kants 
Kolleg  über  die  physische  Geographie  zu  schaffen. 

Michelstadt  (Hessen).  G.  Falter. 


124  Rezensionen. 

Immanuel  Kants  Werke  in  Ciemeinschaft  mit  H.  Cohen,  Buchenau,  Buek, 
(Vorland,  Kellermann  herausgegeben  von  Ernst  Cassirer.  Verlegt 
bei  Bruno  Cassirer,  Berlin  1912. 

Man  vergleiche  hierzu  die  Besprechung  von  Band  I  im  „Archiv  f.  Gesch. 
d.  Philos."  Bd.  27  H.  3. 

Band  II  enthält  vorkritische  Schriften. 
Ich  nehme  im  folgenden  zu  einzelnen  Lesarten  Stellung: 
55,  5  V.  u.    Der  Zusatz  ,, Sätze"  von  Menzer  ist  unnötig,  da  aus  dem  vorher- 
gehenden Satz:     „Hieraus  entspringen  3   Sätze"   deutlieh   hervorgeht, 
daß  Sätze  zu  ergänzen  ist. 
55,  2  V.  u.  sodaß  (Ak.)  ist  unnötig. 
64,  9  kann  mit  H.  ,, zuzustehen"  gelesen  werden  als  altertümliche  Übersetzung 

von  concedere. 
70,  9.  ,,ihm"  ist  vorzuziehen,  da  K.  jedenfalls  einen  Dativ   schreiben  wollte. 
7ß,  17.    Im  Satzzusammenhang  müßte  es  heißen  ,,ein  einziges"  (sc.  Prädikat). 

K.  denkt  noch  an  Bestimmungen  und  schreibt  ,,eine  einzige". 
78,  14.    das  letztere,  nicht  die  letztere  (Ak.). 
78,  13  v.  u.    müßte,  nicht  müsse  (Ak.). 
80,  4.    ,,ich"  muß  eingeschoben  werden,  weil  der  Imp.  ungebräuchlich  ist- 

bei  K. 
80,  16.      Hier  ist  die  Einschiebung  eines  ,,er"  überflüssig. 
85,  5.    ,, Zusammenstimmung"  des  Sinnes  wegen.  , 

183,  1.    Zerfallung. 

184,  16.    ,,es",  nicht  ,,sie"  zu  lesen. 
186,  25.    aufzeichnet. 

186,  6  V.  u.    ist  ,,nur"  zu  lesen. 

200,  14  V.  u.    „sei"  (sc.  Betrachtung). 

206,  20.  K.  hat  „gaben"  geschrieben,  weil  er  2  Subj.  las  (sc.  die  mathem. 

Betrachtung  und  die  Erkenntnis  d.  R.). 
215,  5.    „positives"  kann  bleiben. 
219,  14  V.  u.    „eine  Folge"  (als  doppelter  Nominativ?) 

239,  23.    „ihn"  (sc.  Gott). 

240,  9.    Die  Einschiebung  von  ,,das"  oder  ,, dasjenige"  ist  dem  Sinne  nach 

richtig,  braucht  jedoch  nicht  in  den  Text  aufgenommen  zu  werden. 
240,  13.    „die  so  tief"  ist  am  einfachsten. 
242,  35f.    Erkenntnis  —  endiget. 
242,  1  V.  u.    dergleichen  Frage. 
246,  20.    „Erfindungen"  ist  richtig. 
313,  11  V.  u.    Hier  möchte  ich  mit  Ak.  ..vor  der"  lesen.   Der  Ak.  ist  doch  auch 

für  die  damalige  Zeit  fehlerhaft. 
359,  9  V.  u.    Es  ließe  sich  rechtfertigen,  „vielleicht  bisweilen"  zu  lassen. 
388,  18.   „neue  Erfahrungen,  neue  Begriffe"  kann  bleiben.    Der  Sinn  ist  neue 

Erf.  und  neue  Begriffe. 
398,  20.    gegen  ihr  übergestellete. 

Michelstadt  (Hessen).  G.  Falter. 


Rezensionen.  125 

Erwiderung    des    Autors    auf    Fr.  Raabs    Anzeige    von    C.  Siegels 
Geschichte   der    deutschen   Naturphilosophie. 

In  die  freundliche  im  Aprilhefte  dieser  Zeitschrift  erschienene  Besprechung 
der  Geschichte  der  deutschen  Naturphilosophie  hat  sich  leider  ein  peinliches 
Mißverständnis  eingeschlichen,  das  zwar  als  solches  von  den  meisten  Lesern 
meines  Buches  dürfte  erkannt  werden,  den  Nichtleser  jedoch  im  vornehinein 
beirrend  zu  beeinflussen  geeignet  erscheint.  Dieses  Mißverständnis  bezieht 
sich  auf  meine  im  Vorwort  gemachte  Unterscheidung  zweier  Arten  von  Natur- 
philosophie, die  sich  als  wissenschaftUche  Disziplin  von  der  Naturwissenschaft 
entweder  dem  Gegenstand  oder  der  Methode  nach  unterscheiden  müsse*), 
nämlich  einer  kritischen  und  einer  metaphysischen  Natiu-philosophie. 
Und  wie  die  Zuordnung  zu  verstehen  ist,  "wird  in  zwei  kurzen  uiunittelbar 
nachgeschickten  Sätzen  (S.  VII)  ausdrücklich  ausgesprochen.  „Die  meta- 
physisch gerichtete  Naturphilosophie  hat  \A-irklich  selbst  die  Natur  zum  Gegen- 
stand", d.  h.  sie  hat  also  den  gleichen  Gegenstand  wie  die  Naturwissenschaft 
und  muß  sich  daher  durch  die  Methode  von  ihr  unterscheiden.  Nachdem  hierauf 
d.  i.  auf  die  Verschiedenheit  der  Methode  oder  Quelle  in  meinem  Buche  tat- 
sächhch  hingewiesen  ist,  heißt  es  von  der  kritischen  Naturphilosophie  weiter: 
„sie  nimmt  nicht  die  Natur,  sondern  die  Wissenschaft  von  der  Natut 
zum  Gegenstand  ihrer  Untersuchung," 

Der  verehrte  Rezensent  hat  jedoch  (warum  weiß  ich  nicht)  die  Sache 
gerade  umgekehrt  aufgefaßt;  nach  mir  soll  sich  die  kritische  Naturphilo- 
sophie von  der  Naturwissenschaft  durch  die  Methode  (S.  370,  vorletzte  und 
letzte  Zeile),  die  metaphysische  durch  den  Gegenstand  unterscheiden.  Er  be- 
richtet: „Die  zweite  metaphysische  Richtimg  der  Naturphilosophie  habe  nicht 
die  konkreten  Gegenstände  der  Natm-,  sondern  die  hinter  diese  stehende  Natur- 
totahtät  zum  Gegenstand"  (S.  371  Z.  4ff.).  Wenn  er  also  dann  gegen  diese 
Position  Stellung  nimmt,  so  kann  ich  ihm  nur  auf  das  lebhafteste  zustimmen; 
dabei  ist  jedoch  nicht  zu  übersehen,  daß  des  Referenten  Opposition  nicht  das 
von  mir  Gesagte  trifft,  sondern  dessen  direktes  Gegenteil. 

Czernowitz.  C.  Siegel. 


*)  Genau  genommen  hätte  natürhch  a  priori  noch  die  dritte  MögKchkeit, 
Unterscheidung  durch  Gegenstand  und  Methode  zugelassen  werden  müssen, 
aber  offenbar  ist  dieser  Fall  in  jedem  der  beiden  ersten  schon  enthalten,  da 
doch  nur  gemeint  sein  kann:  Unterscheidung  vorzugsweise  durch  den  Gegen- 
stand oder  wieder  vorzugsweise  durch  die  Methode  und  dieser  Unter- 
schied nach  der  anderen  Richtung  (nach  Methode  bzw.  Gegenstand)  \Aärd 
nach  sich  ziehen. 


r 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.    Deutsche  Literatur. 

Allard,   E.,  Die  Angriffe  gegen  Descartes  und  Malebranche  im  Journal  de 

Trevoux  1701 — 1715.      Halle,  Xiemeyer. 
Börner,  W.,  Fi.  Jodl.     Fiankfurt  a.  M.,  Neuer  Frankfurter  Verlag. 
BrunsAvig,  A.,  Das  Grundproblem  Kants.     Leipzig,  Teubner. 
Fichte:  Ideen  über  Gott  und  Unsterblichkeit.     Herausgegeben  von  Büchse!. 

Leipzig,  Meiner. 
Fischer,  P.,  Nietzsche  Zarathustra  und  Jesus  Christus.     2.  Aufl.     Stuttgart. 
Giuliano,   B.,  Der  Grundirrtum   Hegels.      Übersetzt   von  W.   Frankl.      Graz, 

Leuschner. 
Haack,  H.,  Fichtes  Theologie.     Borna,  Noske. 
Heinrichs,    H.,   Die   Überwindung  der   Autorität   Galens   durch   Denker  der 

Renaissancezeit.     Bomi,  Hanstein. 
Hertling,  G.,  Historische  Beiträge  zur  Philosophie.     Kempten,  Kösel. 
Honecker,  M.,  Die  Rechtsphilosophie  des  AI.  Turamini.     Bonn,  Hanstein. 
Kempen,  A.,  Benekes  Rehgionsphilosophie.     Münster,  Coppenrath. 
Kierkegaard,  S.,  Kritik  der  Gegenwart.     Innsbruck,  Brenner. 
Kroner,  R.,  Kants  Weltanschauung.     Tübingen,  Mohr. 
Leibniz:  Ausgewählte  philosophische  Schriften.  Herausgegeben  von  Schmalen- 

bach.     Leipzig,  Meiner. 
Lewkowitz,  A.,  Die  klassische  Rechts-  und  Staatsphilosophie.     Montesquieu 

bis  Hegel.     Breslau,  Marcus. 
Lohmej'er,  E.,  Die  Lehre  vom  Willen  bei  Anselm  v.  Canteibury.     Leipzig, 

Deichert. 
Makarewicz,  M.,  Die  Grund  pro  bleme  der  Ethik  bei  Aristoteles.     Leipzig, 

Reisland. 
IMeyer,  H.,  Geschichte  der  Lehre  von  den  Keimkräften  von  der  Stoa  bis  zum 

Ausgang  der  Patristik.     Bonn,  Hanstein. 
Piatons  Dialog  Sophistes.     Übersetzt  von  O.  Apelt.     Leipzig,  Meiner. 
Rieffert,  J.,  Die  Lehre  von  der  empirischen  Anschauung  bei  Schopenhauer 

und  ihre  historischen  Voraussetzungen.    Halle,  Niemeyer. 
Schmekel,  A.,  Die  positive  Philosopliie  und  ihi-e  geschichtüche  Entwicklung. 

Berlin,  W^eidmann. 
Weingärtner,  G.  R.  Euckens  Stellung  zum  Wahrheitsproblem.    Mainz,  Kirch- 
heim. 
Zeller,  E.,  Grundriß  der  griechischen  Philosophie.    11.  Aufl.    Leipzig.  Reisland. 


Die  neuesten  Erscheinungen  a.  d.  Gebiete  der  Gesch.  d.  Philosophie.     127 

B.  Englische   Literatur. 

Croce,  B.,  Histoiical  mateiiahsm  and  the  economics  of  K.  Marx.     London, 

Latimer. 
Knox,  H.,  The  Philosophy  of  W.  James.     London,  Constable. 
.Sandys,  J.,  Roger  Bacon.     London,  Milford. 
.Shastri,  P.,  The  conception  of  freedom  in  Hegel,  Bergson  and  indian  philosophy. 

Calcutta,  Albion  Press. 
Smith,  D.,    and  Mikami,   Y.,  A  history  of  Japanese  mathematics.     Chicago, 

The  Open  Court  Pubhshing  Co. 
Stebbing,    L.,    Pragmatism    and   french    voluntarism,    with  especial  reference 

to  the  notion  of  truth  in  the  development  of  french  philosophy  from 

Maine  de  Biran  to  Bergson.     Cambridge.  University  Press. 

C.  Französische   Literatur. 

Annales  de  1'   Institut  superieur  de  philosophie.      Universft     de  Louvain. 

Tome  III.     Paris,  Alcan. 
Blondel,  Ch.,  La  psycho-physiologie  de  Gall.    Paris,  Alcan. 
Defourny,  M.,  Aristote.  Louvain,  Institut  superieur  de  philosophie. 
Huan,  G.,  Le  dieu  de  Spinoza.     Paris,  Alcan. 

Reverdin,  H.,  La  notion  d'  experience  d' apres  W.  James.    Geneve,  Geoig. 
Sentroul,  Ch.,  Kant  et  Ai'istote.     Paris,  Alcan. 

Zanta,  L.,  La  renaissance  du  stoicisme  au  XVI  siecle.    Paris,  Champion. 
—     La  traduction  fran§aise  du  Manuel  d'Epictete  d' Andre  de  Rivaudeau. 

Paris,  Champion. 

D.    Italienische   Literatur. 

Braga,  G.,  Saggio  su  Rosmini,  il  mondo  delle  idee.    Milano. 

GaUi  Gallo,  Kant  e  Rosmini.     Citta  di  Castello  Lapi. 

Juvalta,  E.,   II  vecchio  e  il  nuovo  problema  della  morale.    Bologna,  ZanicheUi. 

Pulcini,  C,  L'etica  di  Spinoza.     Genova,  Formiggini. 


Historische  Abhaüdlungen  in  den  Zeitschriften. 

Zeitschrijt  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  B.  154.  H.  1.  Lewkowitz, 
Die  Religionsphilosophie  des  Neukantianismus. 

—  H.  2.     Öchmiecl-KowaTcik,  Fr.  Jodls  Weltanschauung. 

Zeitschrift  für  positivistische  Philosophie.  B.  II.  H.  1.  Angersbach,  Die  natur- 
wissenschaftliche und  insbesondere  die  naturphilosophische  Tätigkeit 
Potonies. 

—  H.  2.   Schleier,  Inwieweit  werden  die  Kantischen  Ansichten  vom  Räume 
durch  die  •moderne  mathematische  Forschung  bestätigt? 

Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.     B.  XXXII.  H.  3  u.  4.     Wentschei,  Da.. 

Außenwelts-  und  das  Ich-Problem  bei  J.  St.  Mill. 
Philosophisches  Jahrbuch.    B.  27.  H.  3.    Schwaiger,  Die  Lehre  vom  sentimento 

fondamentale  bei  Rosmini  nach  ihrer  Anlage.  Klein,  Die  Fehler  Berkeleys 

und  Kants  in  der  Wahrnehmungslehre. 
Revue  philosophique.    1914.  7.    Belot,  La  psychologie  des  phenomenes  d' apres 

Leuba 
Revue  de  Metaphysique  et  de  Monde.     1914.  4.     (Wilson,  L'inneisme  cartesien 

et  la  theologie.     Aillet,  La  coutume  ouvriere   d' apres   Leroy. 
Revue  de  philosophie.     1914.  7.     Chossat,  Saint  Thomas  d'Aquin  et  Siger  de 

Brabant.     Maritain,  L'esprit  de  la  philosophie  moderne. 
Revue  Neo-Scolastique.    1914.  82.    Nys,  La  Constitution  de  la  materie  d' apres 

les  physiciens  modernes.     Cochez,  L'esthetique  de  Plotin.     De  Wulf, 

La  Notion  de  verite  dans  la  criteriologie  du  caidinal  Mercier. 
Mind.     1914.  91.     Rnox,  Has  Green  answered  Locke?     Broad,  Bradley  on 

truth  and  reality.     Rattray,  The  philosophy  of  Samuel  Butler.     Ross, 

Aristotle  and  abstract  truth. 
The  pihilosophical  Review.    1914.  4.    Armstrong,  Bergson,  Berkeley  and  philo- 

.sophical  Intuition. 
The  Monist.     Anderson,  The  person  of  Jesus  Christ  in  the  Christian  faith. 

Crarbe,  Gentile  elements  in  christianity.     Deussens  philosophy  of  the 

bible.    Russell,  Im  memoriam  Charles  S.  Peirce. 
Rivista  di  filosofia.    1914.  3.    Marucci,  Di  alcune  moderne  teoiie  del  concetto. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folo-e.     XXI.  Band,   2.  Heft. 


IV. 

Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus  an  der 
Hand  des  Leibniz-Clarke'schen  Streites. 

Von 
Prof.  Dr.  Joh.  Zahlfleisch. 

(GA.  =:  Gefühlsanschauung,    Trägh.  =  Trägheitsmaxime,    GAL.  =  Gefühls- 
anschauungslehre .  * ) 

Leibniz  nimmt  die  Dinge,  obwohl  er  eine  Gottheit  gelten  läßt, 
unpersönUch,  weshalb  ihm  C'larke  (S.  154  Nr.  1  u.  2)i)  eingewendet 
hat,  daß  die  Einwirkung  Gottes,  der  doch  Alles  auf  Erden  beeinflußt, 
nicht  ohne  eine,  nur  der  Persönlichkeit  zukommende  Selbsttätigkeit 
vonstatten  geht,  während  l^ei  der  ITnpersönlichkeit  ein  totes,  un- 
selbständiges Wirken  vorausgesetzt  werden  müßte.  Leibniz  setzt 
nämlich  die  vollkonmiene,  von  Gott  bei  Schaffung  der  Welt  vollzogene 
Regulierung  auch  der  AVillensbewegungen  voraus,  so  daß  zu  einer 
SellDsttätigkeit  im  Sinne  Clarkes  keine  Möglichkeit  mehr  bliebe. 

Offenbar  geht  ferner  L.  von  dem  Gesichtspunkte  des  Gesetzes 
der  Sparsamkeit  aus,  wenn  er  meint,  daß  Gott  nicht  sich  die  Mühe 


*)  Was  ich  darunter  verstehe,  wurde  von  mir  teils  in  meiner  Ab- 
handlung (S.  155)  d.  Zeitschr.  f.  Religionspsychol.  v.  J,  1911,  teils  in  dem 
Jahrb.  f.  Philos.  (S.  274)  v.  J.  1911  entwickelt;  es  heißt  dort,  daß  das 
Kind  durch  Gefühlsübertragung  die  Verifikation  der  auf  es  wirkenden  Reize 
zu  Empfindungen  ummodeln  könne,  weim  noch  der  zweite  als  dem  Kinde 
von  früher,  her  bekannt  vorauszusetzende  Faktor,  die  Anschauung,  zum 
Gefühle  hinzukomme,  während  ich  in  der  2.  Abhandlung  den,  aus  diesem 
Zusammenwirken  entstandenen  vorläufigen  Erkenntnisfaktor  unter  dem 
Namen  Trägheitsmaxime   in  die   Philosophie  einführe. 

1)   Philosoph.   Bibliothek  Bd.  107  (Cassirer). 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  2.  g 


130  Joh.  Zahlfleisch, 

nehiiieii  werde,  Gleichheiten  da  zu  erzeugen,  wo  sie  üljerfUissig  sind 
(S.  145  Nr.  3),  während  Cl.  (S.  150  Nr.  3  u.  4)  sagt,  daß  es  Gott  wegen 
dieser  Gleichheit  unmöglich  war,  den  Bestandteilen  der  Materie  ihre 
Stellen  anzuweisen,  weil  diese  Stellung  ja  gleichgiltig  sei. 

Ferner  entsteht  ein  Streitpunkt  da,  wo  es  sich  um  die  Notwendig- 
keit handelt,  welche  nach  Cl.scher  Ansicht  bei  Festhaltung  der  Ein- 
beziehung der  Freiheit  in  die  ursprüngliche  Einrichtung  von  bloßer 
Kausalität  von  selten  Gottes  angenommen  werden  müßte.  Denn 
diese  Notwendigkeit  wäre  nach  Cl.  (S.  155f.  Nr.  5  ii.  6)  direkt  mit  dem 
Schicksal  identisch,  worauf  L.  mit  seiner  Unterscheidung  zwischen 
absoluter  und  hypothetischer  Notwendigkeit  antwortet  (S.  166 
Nr.  4  u.  5j,  insofern  jene  Einbeziehung  der  Freiheit  in  die  Kausalität 
,, durch  die  (hypothetische)  Voraussicht  und  Vorausbestimmung  Gottes 
in  den  zunkünftigen,  zufälligen  Ereignissen"  angenommen  werden 
müsse.  Da  nun  allerdings  L.  gefühlt  hat,  daß  dieses  Hypothetische 
ganz  leicht  in  ein  Absolutes  sich  verwandelt,  so  hat  er  sich  bemüht, 
an  die  Stelle  dieser  Unterscheidung  die  der  logischen  oder  meta- 
physischen oder  mathematischen  Notwendigkeit  und  der  moralischen 
festzustellen,  was  aber  auf  dasselbe  hinauskommt,  weil  auch  das  Morali- 
sche trotz  der  von  L.  betonten  Rücksichtnahme  auf  das  höchste  Gut 
oder  auf  die  vorwiegende  Neigung  bei  der  Wahl  immer  die  Prä- 
destination daneben  das  Wort  spricht.  Man  sieht  aber  aus  der  großen 
Anzahl  der  Termini,  wie  nützlich  es  für  den  Intellektualismus  ist,  hier 
Wandel  zu  schaffen. 

Sowohl  Clarke  -  Newtons  mechanistische,  als  auch  Leibnizeiis 
dynamische  Anschauungsweise  ist  nicht  durchfülu'bar.  Insofern 
dem  Kausalprinzip  Newtons  die  Teleologie  Leibnizens  gegenüberti'itt, 
sehen  wir  bei  beiden  verschiedene  Unel)enheiten,  welche  auch  heute 
noch  den  zwei  Schulen  anhaften,  in  welche  die  ganze  Philosophie  sich 
trennt,  soweit  sie  nicht,  sei  es  auf  einem  pathempirischen  (womit  ich 
nicht  für  H.  Gomperz  plädiere),  sei  es  einem  Erlebnis-  oder,  wie  ich 
mich  ausch'ücke,  einem  Gefühlsanschauungsstandpunkte  sich  aufbaut. 
Die  näheren  Beweise  hierfür  werden  im  Folgenden  durch  meine 
Zwischenbemerkungen  zu  dem  Redewechsel  zwischen  Leibniz  und 
Clarke  gegeben.  Der  Fatalismus  Leibnizens  (Windelband,  Die  Geschichte 
der  neuen  Philosophie  5.  Aufl.  S.  505)  wird  hierbei  von  Clarke  gehörig 
gegeißelt,  was  nicht  hindert,  daß  beide  vom  Standpunkte  meiner 
neuen  Lehre  ins  Hintertreffen  kommen.    Daß  übrigens  Leibniz  es  mit 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  131 

der  Gottheit  nicht  recht  ernst  nimnit^  während  Newton-CIarke  gläiibio- 
ist,  beweisen  schon  die  ersten  Zeilen. 

Diese  von  L.  verteidigte  Vereinbarung  zwischen  Kaiisahtät  Uiul 
Freiheit  geht  auf  den  BegTiff  des  Ungehindertseins  zurück.  ]\Iaii 
wählt,  ist  damit  aber  trotz  der  Notwendigkeit,  daß  man  das  Beste 
wählt,  eben  erst  recht  frei.  Jene  Ungehindertheit  mündet  also  in  eine 
Gehindertheit ;  man  fühlt  sich  gehindert,  etwas  Schlechtes  zu  wählen, 
weil  man  auf  Grund  der  Einsicht,  daß  das,  was  man  wählt,  das  Beste 
ist,  sich  gehindert  fühlt,  etwas  Anderes,  Schlechteres  zu  wählen. 
Dadurch  (S.  166 f.  Nr.  6  u.  7)  kommt  aber,  wie  Cassirer  S.  167  (Anm.) 
sagt,  das  Moment  der,  jener  Gottheit  vorausgehenden,  unabhängigen 
und  selbständigen  Bedingung  „möglichen  Naturen"  in  die  Diskussion. 
Denn  Gott  bestimmt  sich  darnach.  L.  wendet  Cl.  (Nr.  8  u.  9  S.  156f. ) 
gegenüber,  wonach  in  dem  Räume  als  unkörperhcher  Substanz  Gott 
gegenwärtig  sein  soll,  ein  (S.  179  Nr.  36),  „daß  zwar  die  Unermeßlich- 
keit eine  Eigenschaft  Gottes  ist,  nicht  aber  der  Raum,  der  häufig  mit 
den  Körpern  gleiches  Maß  hat."  Dabei  sieht  L.  nicht,  daß,  was  wir 
Unermeßlichkeit  nennen,  erst  durch  die  Bestimmung  dessen,  was  wir 
als  Maß  bezeichnen,  seinen  Begriffswert  erhält,  so  daß,  weil  der  Raum 
durch  das  Maß  von  L.  definiert  wird.  Unermeßlichkeit  denselben 
Begriff  enthielte  wie  Raum,  ja  mit  dem  Raum  allein  seine  Existenz- 
fähigkeit bewahrte  oder  verlöre. 

Die  Annahme  von  der  Unermeßlichkeit  Gottes  ist  aber  derart, 
daß  von  ilir  aus  die  Meßbarkeit  der  Dinge  folgt,  insbesondere  aber  auch, 
daß  für  die  Ausdehnung  eines  bestimmten  Körpers  eine  bestimmte 
Meßbarkeit  gilt.  Dadurch  wäre  der  Körper  an  diese  individuelle 
Meßbarkeit  gebunden,  wähi'end  doch  ein  Körper  seinen  Ranm  wechseln 
kann,  wälu^end  die  Anschauung  und  der  Körper  unlöslich  verlmüpft 
sind.  Man  wird  aber  unschwer  erkennen  (das  muß  L.  gegenüber 
gesagt  werden),  daß  Meßbarkeit,  Ausdehnung  und  Raum  in  den 
Stücken,  in  welchen  sie  von  L.  unterschieden  werden,  ganz  gleich  sind. 

Nach  der  hier  durch  L.  vorausgesetzten  Annahme,  daß  der  Raum 
gemäß  den  aus  Clarkes  Behauptungen  folgenden  Ergebnissen  mit 
dem  Körper,  der  den  Raum  erfüllt,  identisch  sein  soll,  ergäbe  sich 
ferner,  daß  derselbe  Raum,  insofern  er  Eigenschaft  oder  Akzidens, 
nicht,  wie  L.  will,  ,,eine  ideale  Beziehungsform"  ist,  Eigenschaft  der 
in  ihm  jeweilig  befindlichen  Substanz  ist,  so  daß  man  den  nämlichen 


132  Joh.  Zahlfleisch, 

Kaum  bald  als  Eigenschaft  dieses,  ])ald  jenes  Körpers,  bald  einer 
inmateriellen  Substanz,  bald  Gottes  selbst  ansehen  kann,  was  ungefähr 
so  aussieht,  als  ob  die  mit  dieser  Eigenschaft,  dem  Räume,  aus- 
gestatteten Subjekte  dieser  Eigenschaft  sich  wie  eines  Kleides  ent- 
ledigen können,  damit  es  von  einer  anderen  Substanz  getragen  MTrde. 
Da,  wie  Cassirer  (Anm.  121)  bemerkt,  L.s  Meinung  war,  daß  die  Eigen- 
schaften der  Substanzen  nicht  durch  Einfluß  der  letzteren  beseitigt 
werden  können,  so  muß  man  voraussetzen,  daß  L.  auch  in  seiner  in 
Rede  stehenden  Entgegnung  es  als  unmöglich  hinstellt,  daß  der  Raum 
unter  dem  Einflüsse  der  jeweihgen  Substanz  von  dieser  sich  entfernen 
und  in  eine  andere  einziehen  könne.  Da  jedoch  alle  diese  Ausdrücke 
bildlich  sind  und  da  der  nämliche  Raum  in  der  Tat  nicht  anders  denn 
als  Form  zu  betrachten  ist,  wie  etwa  die  eidf/  des  Ai'istoteles,  so  läßt 
sich  dagegen  wohl  nichts  einwenden,  außer  L.  hätte  hier  den  Gedanken 
der  Monadologie  von  dem  Fehlen  des  influxus  physicus  vorausgesetzt, 
einen  Gedanken,  der  aber  wegen  der  notwendigen  x\nnahme  eines, 
den  genannten  Monadenkomplex  beherrschenden  göttlichen  Wesens 
so  ziemhch  auf  das  Gleiche  hinauskäme  wie  Tl.s  Voraussetzung,  wo- 
gegen nun  allerdings  wieder  die  Transzendenz  der  L.schen  Gottheit 
spricht,  welche  für  Clarke  zwar  nicht  in  eine  Immanenz,  wohl  aber 
in  eine  bei  allen  Gelegenheiten  der  Xatur Wirkungen  sich  äußernde 
Herablassung  und  Fürsorglichkeit  Gottes  übergeht. 

Mit  der  ferneren  Behauptung,  daß,  wenn,  wie  aus  S.  179  Nr.  37 
hervorgeht,  die  Räume  Beschaffenheiten  der  Substanzen  sind,  die 
endlichen  Räume  als  Beschaffenheiten  der  endlichen  Substanzen 
Ijetrachtet  werden  müssen,  und  dadurch  der  Schluß  sich  ergibt,  daß 
Gott  aus  endlichen  Räumen,  bzw.  aus  endlichen  Eigenschaften  sich 
Ijilde,  hat  L.  den  Beweis  Kants  von  der  Unmöglichkeit,  das  Dasein 
Gottes  darzutun,  weil  der  Antlu'opomorphisnms  dagegen  spricht, 
vorweggenommen;  nur  daß  wir  auch  Kant  gegenül)er  einwenden 
müssen,  daß  wir  ü))erall  nur  aus  unseren,  d.  h.  aus  menschlichen  GAA. 
heraus  die  Dinge  beschreiben  und  erklären,  erkennen  und  erfassen 
können. 

Von  dem  Räume  kann  man  wegen  seiner  Idealität  keine  Realität 
in  dem  Sinne  Cl.s  (S.  157  Xr.  10)  erwarten.  Jene  Idealität  hat  aber 
L.  auf  Grund  seiner  logischen  Betrachtung  (S.  185 f.),  insofern  der 
Raum  nur  ein  Schema  ist,  nachgewiesen,  und  etwas  Ähnliches  gilt 
von  dei-  Zeit,  daran  kein  einziger  Moment  als  etwas  Reales  festgehalten 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  133 

werden  kann.  Während  also  Cl.  den  Raum  und  die  Zeit  als  Eigen- 
schaften Gottes  zu  Realitäten  stempelt,  die  auf  dem  gleichen  Fuße 
wie  Gott  selbst  zu  nehmen  sind,  hat  sich  L.  davon  abgekehlt,  ohne  zu 
Ijedenken,  daß  er  von  R.  u.  Z.  nur  eine  mathematische  Erklärung  gibt, 
welche  wir  uns  im  Vergleiche  zur  Darstellung  Cl.s  nur  als  die  anthro- 
pomorphistische  Anschauung  von  R.  u.  Z.  vorstellen,  während  ihr 
eigentliches  Wesen  uns  ebenso  unbekannt  und  im  Übernatürlichen 
verankert  erscheinen  muß,  wie  viele  andere  Eigenschaften  und  Ivi-äfte. 

S.  187  Nr.  49  sehen  wir  recht  deutlich,  wie  der  Intellektualismus 
vorgeht.  Das,  was  wir  nur  ahnen,  was  erst  entstehen  soll,  nehmen  wir 
als  bereits  entstanden  und  das,  was  als  ideell  entstanden  gedacht  wird, 
verneinen  wir  in  Rücksicht  auf  seine  Realität,  ohne  daß  man  zu  jeder 
Zeit  sagen  könnte,  daß  die  eine  oder  die  andere  Ansicht  Recht  behält. 
Das  Erste  wird  hier  von  Cl.  vertreten,  das  Zweite  von  L.  Denn  wenn 
Cl.  den  Raum  mit  der  Ewigkeit  indentifiziert,  nimmt  er  das,  was 
wir  bloß  asymptotisch  uns  denken  können,  für  verwirklicht:  und 
indem  L.  von  einem  solchen  bloßen  Ahnen  für  die  Realität  nichts 
wissen  will,  bleibt  er  ])ei  dem  reinen  Sinnhchen,  nur  Erfahrungs- 
mäßigen, wie  er  meint.  Cl.  hat  für  sich,  daß  die  GAA.  nur  in  der  Tat 
von  etwas  Ewigem  und  Göttlichen  sprechen.  L.  hat  für  sich,  daß  wir 
der  Dinge  nicht  anders  denn  mit  unseren  physiologischen  Instrumenten 
geistig  Herr  werden  können;  Cl.  hat  gegen  sich,  daß  er  auf  das  rein 
Geistige  allein  sieht,  L.  hat  gegen  sich,  daß  er  dieses  Geistige  überall 
da  außer  Betracht  nimmt,  wo  er  im  Sinnlichen  nichts  sehen  und  be- 
greifen kann. 

C.  hatte  in  seiner  zweiten  Entgegnung  durchl)licken  lassen,  daß 
die  Welt  eines  von  Zeit  zu  Zeit  erfolgenden  Anstoßes  durch  Gott  bedarf, 
worauf  L.  (8.  138  Nr.  13)  erwiderte,  daß  damit  Gott  einem  Hand- 
werker gleiche,  ,,der  der  Unvollkommenheit  seiner  Maschine  abhilft". 
Cl.  hatte  (S.  144)  die  von  L.  hier  angenommene  Störung  des  göttlichen 
Werkes  in  Abrede  gestellt  und  L.  (S.  147  Nr.  13)  erwidert  ihm,  daß 
damit  von  einer  Änderung  gesprochen  würde,  die  keine  Änderung  ist. 
Cl.  meint  (S.  157f.)  dagegen,  daß  wir  manche  Änderungen  nicht 
merken,  wie  z.  B.  der  Schiffer  in  seiner  Kajüte  die  Bewegung  des 
Schiffes,  und  L.  entgegnet  (S.  188), .daß  man  zwischen  Beobachtung 
und  Möglichkeit  der  Beobachtung  zu  unterscheiden  habe.  L.s  Be- 
gründunü',  daß,  wenn  eine  Veränderung  durch  keine  Beobachtung 
feststellbar  ist,  diese  auch  nicht  vorhanden  ist  —  muß  uns  als  zwei- 


134  Joii.  Ziii.ifhMs(  h, 

t;clinoidi<i"('s  Schwcit  erscheinen,  woo'egen  ("1.  ucuciiiiber  gesagt  werden 
darf,  daß,  insoweit  uns  keine  Annalinien  einer  \"erändening  gegeben 
sind,  auch  gewöhnlich  nicht  von  der  Existenz  einer  solchen  gesprochen 
werden  kann.  Aber  beide,  CI.  und  L.,  haben  übersehen,  daß  man 
auch  aus  nebensächlichen  Ursachen,  wie  z.  B.  aus  elementaren  Er- 
scheinungen auf  höhere  Bestimnningen  schließen  darf.  Ein  Beweis 
sind  so  ziemlich  alle  Erfindungen :  hätten  wir  nie  von  Scheinbewegungen 
etwas  gehört,  so  wäre  vielleicht  das  kopernikanische  Gesetz  der  Planeten- 
bewegung nie  entdeckt  worden;  und  so  liegt  in  dem  Einfachen  das 
Zusammengesetztere  enthalten  und  nicht  enthalten  zugleich.  In 
Nr.  53  (S.  189)  will  L.  offenbar  das,  was  Cl.  der  höheren  Einwnkung 
(Gottes)  zuschreibt,  auf  Rechnung  der  natürlichen  Körper  setzen, 
ein  Verfahi'en,  das  sich  nach  beiden  Seiten  aus  denselben  Gründen  zu 
weiteren  Meinungsdifferenzen  herausgestaltet,  wie  das  vorhin  er- 
wähnte. 

Den  Cl.  gegenüljer  von  L.  schon  längst  gemachten  Einwand, 
daß  der  Raum  nicht  etwas  Reales,  sondern  nm'  Ordnung  l)edeutet, 
hatte  Cl.  damit  beantwortet,  daß  Ordnung  nicht  mit  dem  Merkmale 
der  Größe  ausgestattet  sei.  Dagegen  bemerkt  mm  Leibniz  (S.  189f. ), 
daß  auch  auf  die  Ordnung  dieses  Merkmal  passe,  weil  in  ihr  ein  vorher- 
gehendes und  ein  folgendes  Glied  gegeben  sei,  was  auf  Entfernung 
imd  somit  auf  Größenabschätzung  hindeute.  Die  relativen  Dinge 
hätten,  ebenso  wie  die  absoluten,  Größe,  wie  z.  B.  die  Verhältnisse  und 
Proportionen.  Nun  müssen  wir  aber  —  und  das  muß  Leibniz  gegen- 
über eingeworfen  werden  —  sagen,  daß  auf  solche  Weise  allen  Dingen 
alles  zukommt,  ebensogut  wie  wir  im  gewöhnlichen  Leben  nie  alles 
zugleich,  sondern  nur  ein  Teilquantum  vorauszusetzen  haben,  weil 
wir  uns  sonst  bei  der  Partikularität  alles  reellen  Seins  nicht  mehi*  ein- 
ander verstünden.  Inwiefern  die  Ordnung  auf  einem  Maße  beruht, 
das  in  der  Infinitesimakechnung  beliebig  genommen  werden  kann, 
beweist  L.  (S.  102)  durch  die  Formel: 

X  _  c        '^  _  0  _  , 

—      1  —  ~rr  —  ■*■■ 

y       e  '     y       0 

Zu  §  15  (S.  190):  Wenn  nicht  die  Kantsche  Transzendenz  des  Be- 
griffs Zeit  vorausgesetzt  werden  müßte,  daim  wäre  zwischen  L.  und 
Kant  kein  Unterschied,  wenn  wk  hören,  daß  auch  für  L.  die  Zeit  nur 
unter  der  Voraussetzung  wirklicher  Dinge  Bedeutung  und  Sinn  hat. 
L.  wiiul(4  dies  gegen  die  Cl.sche  Behauptung  ein,  daß  Gott  die  Welt 


)^ 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  135 

ZU  ])eliebiger  Zeit  hätte  erschaffen  können.  In  Wnrheit  ist  diese 
Polemik  ebenso  verfrüht,  wie  die  Transzendenz  Kants  gegenüljer 
meiner  Gefühlsanschauungslehre.  Denn  nimmt  man,  wie  L.,  die 
Dinge  an  sich  selbst,  so  sind  alle  unsere  BegTiffe  wahr ;  denn  wo  sollte 
der  Prüfstein  für  die  Haltbarkeit  derselben  oder  für  das  Gegenteil 
genommen  werden.  Deshalb  hatte  Kant  ganz  Recht,  Leibniz'  Dialektik 
zu  verurteilen.  Insofern  jedoch  alle  Transzendenz  wieder  nur  auf 
Begriffe,  d.  h.  auf  Ideen  und  somit  auf  Trägheit  sich  zurückführen 
lassen,  insofern  genügt  auch  jene  Kantsche  Methode  nicht.  Auch  die 
von  C'assirer  richtig  (S.  191  Anm.  136)  interpretierten  Worte  L.s  sind 
ganz  im  Sinne  Kants  mit  der  obigen  Einschränkimg.  L.  gesteht  nämlich 
hier  seinem  Gegner  Cl.  zu,  daß  die  Dinge  dieser  Welt  nicht  schon  von 
einem  durch  menschliches  Ermessen  festgesetzten  Punkte  an  be- 
gonnen haben,  sondern  daß  sie  auch  möglicherweise  weiter  nach 
rückwärts  datiert  werden  können,  sowie  die  "Welt  auch  keinem  von 
uns  bestimmt  angenommenen  Ende,  sondern  vielleicht  einem  früheren 
entgegengeht.  Aber,  sagt  L.,  dies  auszumachen  und  festzustellen 
wäre  höchstens  durch  Erfahi'ungstatsachen  möglich,  während  ein 
bloßes  Behaupten  und  logisches  Spintisieren  darüber  in  keiner  Weise 
Auskunft  erteilt.  AVir  müssen  jedoch  gegenüber  solchen  Äußerungen 
erklären,  daß  die  Elementarvoraussetzungen,  mittelst  welcher  die 
Logik  arl)eitet,  nach  der  Leibnizschen  und  Kantischen  Theorie  doch 
auch  nur  mittelst  der  Logik  festgestellt  wurden,  welcher  jetzt  auf 
einmal  ohne  genügenden  Beweis  von  L.  und  Kant  alle  Beweiskraft 
genommen  wird.  Die  Logik  ist  nämlich  auch  ein  Elaborat  der  GA. 
Und  weil  sonst  die  Normen  der  Logik  für  sich  keine  Bedeutung  haben, 
so  könnte  sogar  L.s  Äußerung  (S.  191  Nr.  57)  für-  die  GAL.  in  Beschlag 
genommen  werden:  „Da  aber  zugleich  mit  den  Dingen"  bei  Erschaffung 
der  AVeit  durch  Gott  „auch  über  ihre  Beziehungen  entschieden  wurde, 
so  gab  es  in  Betreff  der  Zeit  oder  Stelle",  in  welchen  die  Dinge  er- 
scheinen sollten,  „fernerhin  keine  AVahl  mekr,  denn  diese",  Zeit  und 
Raum,  „haben  für  sich  allein  nichts  Reales  und  Bestimmendes,  ja  sogar 
nichts  Unterscheidbares."  Nur  darf  man  die  Dinge  nicht  bloß  mit 
Begriffen  auffassen  wollen.  Mit  Rücksicht  auf  das  von  L.  voraus- 
gesetzte Vorhandensein  der  Dinge,  mit  deren  Existenz  also  Gott  so- 
zusagen rechnen  mußte,  war  Gott  nach  L.  (S.  192  Nr.  60)  gebunden, 
und  ihm  die  Unmöglichkeit  einer  Wahl  zuzusprechen.  In  allen  diesen 
Beweisarten  liegt  aber  auf  Seiten  Cl.s,  wie  L.s  eine  Antlu-opomorphistik 


]36  Joh.  Zahltlcisch, 

vor  und  man  sieht  «eradc  an  der  hier  angewendeten  Polemik,  wie  man 
diese  Methode  der  Vermenschlichung,  also  den  anthropozentrischen 
Standpunkt,  der  allerdings  nur  gilt,  wenn  man  den  Menschen  in  seiner 
Beschränktheit  nimmt,  sowohl  pro  als  auch  contra  zu  v(>rwenden  im- 
stande ist. 

Gegen  L.s  Einwendung  wider  Cl.  (auf  S.  193  IVr.  66),  daß  Gott 
nicht  zuerst  den  gleichen  Raum  und  hiernach  die  den  zwei  vollkommen 
gleichen  Würfeln  zuzueignenden  Stellen  bestimmt  haben  könne,  weil 
die  Entschlüsse  Gottes  niemals  bruchstückweise  vonstatten  gehen,  ist 
einzuwenden,  daß  Gott  doch  auch  diese  Möglichkeit,  von  Fall  zu 
Fall  zu  entscheiden,  vorbehalten  bleiben  muß,  weil  er  sonst  besclu-änlrter 
als  ein  Mensch  wäre.  Allerdings  ist  Cl.  insofern  im  Rechte  als  er  eben 
diese  Eigenschaft,  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden,  Gott  zuschreil)en 
durfte,  wogegen  aber  die,  offenbar  von  L.  hier  angenommene  Endlich- 
keit der  Entschließungen  bei  dem  obersten  Wesen  eine  Instanz  bilden 
müßte. 

Aus  der  vollkommenen  Gleichheit  zweier  Gegenstände  ließe  sich 
nur  dann  mit  L.  (S.  194  Nr.  69)  schließen,  daß  ein  Beweggrund,  ihnen 
verschiedene  Stellen  anzuweisen,  fehlt,  wenn  mit  jener  Gleichheit 
auch  die  Gleichheit  der  Stehen  jener  AVürfel  gegeben  wäre.  Dagegen 
muß  Cl.  gegenüber  gesagt  werden,  daß  er  von  einer  vollkommenen 
Gleichheit  ohne  Gleichheit  der  Stellen  eigentlich  nicht  zu  sprechen 
das  Recht  hatte. 

Was  Nr.  70  anbelangt,  so  wird  heute  weder  einer  blinden  Not- 
wendigkeit noch  einer  Indifferenz,  sondern  dem  Zug  der  Schwere, 
o/.xfi  Tov  ßaQorc  alle  ursprüngliche  Bewegung  bei  Epikur  zuge- 
schi'ieben.  Vgl.  Göbel,  Die  vorsola-atische  Philosophie.  Bonn  1910. 
S.  268. 

Es  ist  das  Verhängnis  L.s,  daß  er  nicht  selten  die  Natur  über 
Gott  setzt.  Von  diesem  Standpunkt  aus  allein  ist  es  zu  erklären,  wenn 
er  (Nr.  71)  Cl.s  Einwand  gelten  läßt,  daß  man  Gott  die  Wahlfähiiikeit 
benehmen  würde,  wenn  man  lauter  gleiche  Atome  voraussetzte.  In 
Wahrheit  ist  aber  auch  in  diesem  Falle  alles  der  Entscheidung  Gottes 
anheimgestellt,  die  allerdings  nicht  im  Sinne  Cl.s  davon  aljhängig 
gedacht  werden  darf,  daß  lauter  gleiche  Elemente  gegeben  sind,  insofern 
ja  auch  zwischen  ungleichen  gewählt  zu  werden  vermag. 

Die  Voraussetzung  Cl.s  (S.  142f.),  L.  habe  die  Wahl  der  Stellen, 
die  Gott  den  Dingen  anweist,  von  denjenigen  ihrer  Eigenschaften  ab- 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  137 

geleitet,  welche  auf  äußere  Beweggründe  für  diese  AValil  führen,  wurde 
von  L.  (S.  148  Nr.  20)  dahin  bekämpft,  daß  Gott  nicht  durch  äußere, 
sondern  durch  innere  Gründe  sich  bestimmen  lasse,  worauf  Cl.  (S.  160 
Nr.  20)  bemerkt,  daß  in  dieser  L.schen  Entgegnung  keine  Beweis- 
kraft liege.  In  der  Tat  kann  es  auch  eigentlich  gleichgültig  sein,  ob 
die  Verschiedenheiten  der  äußeren  Dinge  an  sich  oder  als  auf  das 
Erkenntnisvermögen  sozusagen  projiziert  ihren  Einfluß  üben.  Al)er 
eljen  deshalb  muß,  insofern  L.  auf  Äußerlichkeiten  Gewicht  legte,  da 
er  behauptet,  daß  es  nicht  zwei  gleiche  Baumblätter  gebe,  Cl.s  Ein- 
wand wenigstens  entschuldigt  werden. 

Den  Intellektualismus  erkennen  wir  in  seiner  Nacktheit  wieder 
aus  der  S.  195  Nr.  71  von  L.  gegen  Cl.  gemachten  Einwendung.  Nach- 
dem Cl.  (S.  143  Nr.  9)  nur  hatte  durchblicken  lassen,  daß  auch  eine 
größere  oder  geringere  Menge  Materie  in  der  Welt  existieren  könne 
als  die  gegenwärtig  darin  vorhandene,  war  L.  (S.  149  Nr.  21)  so  un- 
vorsichtig, dies  direkt  in  Abrede  zu  stellen,  woraus  Cl.  (S.  160  Nr.  21) 
folgerte,  daß  unter  Hereinbeziehung  des  P>hlens  der  Herrschaft 
Gottes  über  die  Dauer  der  Materie,  insofern  die  Materie  dem  Aufsichts- 
bereiche Gottes  entzogen  sei,  die  materielle  Welt  unbegTenzt  und 
ewig  ist.  Hier  nun  (S.  195  Nr.  73)  will  L.  als  guter  Gottesgläubiger 
seinen,  von  Cl.  anders  als  L.  meinte,  gefaßten  Satz  rektifizieren, 
indem  er  durchscheinen  läßt,  es  sei  ihm  nie  eingefallen,  zu  liehaupten, 
daß  die  Materie  je  dem  Herrschaftsbereiche  Gottes  entkommen  könne. 
L.  setzt  also  voraus,  daß  die  Begrenztheit  der  Quantität  der  Materie 
von  Gott  angeordnet  sei,  so  daß  Niemand  zu  bewirken  vermöge,  daß 
dieser  Stand  der  Materie  je  geändert  würde.  Von  einem  Nichtkönnen 
bei  Gott  sei  nie  die  Rede  gewesen,  nur  das  Wollen  habe  L.  im  Auge 
gehabt  in  dem  Sinne,  daß  es  allerdings  von  Anfang  an  im  Willen  Gottes 
hätte  liegen  können,  die  Quantität  der  Materie  anders  zu  gestalten  als 
sie  sich  gegenwärtig  finde.  Seitdem  aber  Gott  seinen  positiven  Willen 
erklärt  habe,  lasse  sich  an  dem  daraus  entstandenen  Ergebnis  nicht 
rütteln. 

Was  aber  die  folgende  Entgegnung  L.s  gegen  Cl.  (S.  160)  an- 
betrifft, daß  ein  Schluß  von  der  Ausdehnung  auf  die  Dauer  nicht 
gerechtfertigt  sei  (S.  195  Nr,  74),  so  hat  L.  eigentlich  Recht,  weil 
Cl.  das,  was  er  von  der  Dauer  sagt,  nicht  in  organischen  Zusammenhang 
mit  seiner  Äußerung  über  die  Ausdehnung  bringt  und  doch  an  die 
letztere  so  anknüpft,  als  ob  Ewigkeit  der  Materie,  des  Raumes  und 


VcS  Joh.    Zalilfl..is(h. 

der  Zeit  mit  einander  verquickt  sein  sollten.  In  Wirklichkeit  hat  aber 
eben  ans  Grund  dieser  letzteren,  schon  dem  Aristoteles  geläufioen 
x\nnahme  CI.  selbst  doch  wieder  Eeclit.  Wie  notwendig  es  aber  war, 
daß  dem  Intellektualismus,  von  Kant  Dogmatismus  genannt,  einmal 
ein  Ende  bereitet  wurde,  erkennen  wir  aus  der  von  Cassirer  gemachten 
Anmerkung  139,  in  welcher  von  L.  allen  Ernstes  der  Versuch  unter- 
nommen wird,  dem  Problem  des  Anfangs  oder  der  Anfangslosigkeit 
der  Welt  dui'ch  eine  symbolische  geometrische  Zeichnung  aufzuhelfen. 
Doch  läßt  L.  die  unendliche  Dauer  der  Welt  a  parte  post  gelten,  sagt 
sogar,  wieder  rückweisend  auf  seine  von  CI.  ])estritteneUnendlichkeit 
der  Ausdehnung,  daß  es  der  Ewigkeit  Gottes  widerstreite,  dei"  AVeit 
(zeitliche)  Grenzen  zu  setzen.  Natürlich  läßt  sich  unter  dem  Deck- 
mantel, daß  der  ewige,  unendliche  Gott  es  so  wolle,  alles  be- 
weisen. 

Der  unvorsichtige  Ausdruck  Cl.s  (S.  160  Nr.  29),  der  Raum  sei 
der  Ort  aller  Dinge,  gibt  L.  (S.  197  Nr.  79)  Anlaß,  trotz  der  gleich- 
zeitigen Behauptung  Cl.s  (S.  161),  daß  Gott  und  Welt  nichts  mit 
einander  gemein  hal)en,  zu  erklären,  daß  der  Raum  nicht  Ort  aller 
Dinge  sein  könne,  weil  er  nicht  der  Ort  Gottes  sei.  Insofern  ferner 
der  Geist  als  Urquell  der  Beseelung  betrachtet  werden  muß,  hat  er 
von  seinem  Vermögen  etwas  dann  in  die  Dinge  einfließen  lasseji, 
wenn  sie  als  beseelt  zu  gelten  haben.  Insofern  sind  dann  die  Dinge 
nicht  mehr  im  Geiste,  nämlich  in  der  in  ihnen  befindlichen  Seele, 
sondern  außerhalb  der  letzteren  (S.  197  Nr.  81).  Insofern  aber  von 
L.  fortwährend  der  Raum  mit  Gott  oder  mit  der  Seele  identifiziert 
wird,  hat  er  mit  diesem  letzten  Beweise  dartun  wollen,  daß  es  nicht 
möglich  ist,  die  Dinge  im  Räume  existieren  zu  lassen,  da  nach  CI. 
selbst  vermöge  seines  Vergleiches  der  Seele  mit  Gott  der  Raum  eher 
in  den  Dingen  liegen  müßte.  Da  Gott  nach  Ansicht  Cl.s  viel  zu  hoch 
steht,  um  von  der  Welt  eine  Einwirkung  zu  erleiden  (S.  132  Nr.  12), 
da  er  aber  anderseits  doch  auf  die  Welt  einwirken  nuiß,  und,  wie  das 
bei  allem  reagierenden  Tun  notwendig  ist,  von  dem,  worauf  er  wirlvt, 
Eindrücke  erhält,  so  hat  L.  (S.  197  Nr.  82)  das  Recht,  auf  das  wieder- 
holt von  Newton,  wenn  auch  nur  im  bildlichen  Sinne  gebrauchte 
Sensorium  als  Mittel  dieser  Einwirkung  zurückzukommen.  Es  ver- 
steht sich  jedoch  von  selbst,  daß,  je  nachdem  man  de]i  Zusammenhang 
zwischen  Gott  und  Welt  mehr  veriimerlicht  oder  mehr  veräußerlicht, 
sowohl  L.s  als  Cl.s  i\nsicht  gerechtfertigt  erscheint. 


Einige  Bemerkungen  zum   Int-,  Uoktuali'^mus.  ]oP 

Die  nun  folgende  Auseinandersetzung  L.s  (S.  198— lOO)  geht  auf 
die  von  ihm  (S.  150  Nr.  30)  gemachte  Voraussetzung  eines  vorstellenden 
Prinzips,  durch  welches  die,  von  den  Aristotelikern  (s.  Cassirer  Anm.  142 
und  143)  offen  gelassene  Kluft  überbrückt  werden  sollte.  Xatürlich 
hatten  L.s  Vorgänger  und  auch  Cl.  insofern  Recht,  als  sie  die  Gottheit 
auf  die  Mittel  Einfluß  nehmen  ließen,  durch  welche  die  Erkenntnis 
und  alles  Tun  der  Welt  bestimmt  wird.  Durch  die  Fortschritte  der 
Naturwissenschaften  zur  Zeit  L.s  fiel  aber  von  der  Beschaffenheit 
der  neu  entdeckten  Naturtätiskeit  ein  helles  Licht  auf  die  Wirksamkeit 
der  Dinge,  wodurch  L.  veranlaßt  wurde,  zwar  noch  immer  den  infliixus 
physicus  zu  vermeiden,  aber  doch  jede  Substanz  ki-aft  ihrer  Natur 
sozusagen  zu  einer  Konzentration  und  zu  einem  lebendigen  Spiegel 
des  ganzen  Universums  zu  machen.  Wie  sehi'  diese  Auffassung  an  dem 
Umstände  laboriert,  daß  damit  infolge  Mangels  eines  jeden  Erkenntnis- 
kriteriums alles  geschaffene  zu  einem  Ding  an  sich  gemacht  wird, 
hat  Kant  (und  das  ist  sein  bleibendes  Verdienst)  dargetan. 

Die  Bemerlvung  L.s  (S.  201  Nr.  92),  daß  die  Seele  frei  handelt, 
indem  ilrre  Wirkungsweise  den  Regeln  der  Zweckursachen  gemäß  ist, 
der  Körper  dagegen  mechanisch  handelt,  indem  er  den  Gesetzen  der 
wirkenden  Trsacheji  folgt,  erinnert  sehr  an  die  Kantische  Annahme, 
vermöge  welcher  die  beiden  letzten  Antinomien  gleichsam  als  Zweck- 
Sätze  auf  die  bloßen  mechanischen  Sätze  der  ersten  l^eiden  Antinomien 
wie  auf  Grundlagen  eebaat  sind.  In  Wahrheit  ist  eine  derartige  Ver- 
äußerlichung  mit  dem  von  Cl.  L.  gegenüber  (S.  161  Nr.  32)  einge- 
wendeten Fatalismus  ziemlich  nahe  verwandt.  Wenn  ülirigens  Gott 
als  Regulator  der  menschlichen  Zustände  gelten  soll,  so  kann  selbst- 
verständlich dies  auch  auf  die  freiheitlichen  Handlungen  gehen,  womit 
wieder  L.  im  Rechte  wäre. 

Cl.  geht  (S.  162  Nr.  33)  offenbar  von  der  Definition  der  Tätigkeit 
in  dem  Sinn  aus,  daß  es  keiner  Tätigkeit  bedürfte,  wenn  nicht  eine 
Änderung  in  der  bis  dahin  wirkenden  Ivi-äfteverteilung  erforderhch 
wäre.  L.  stellt  das  bezüglich  der  sogenannten  mechanischen  Ein- 
wirkungen und  innerhalb  des  Bereiches  der  Erhaltung  der  Kraft  in 
Abrede,  kann  aber  doch  nicht  umhin,  eine  übernatürliche  Manifestation 
der  von  Cl.  vorausgesetzten  Entfaltung  neuer  Kj'äfte  gelten  zu  lassen. 
Indem  Cl.  den  Tatbestand,  den  L.  auf  das  Übernatürliche  hinüber- 
spielt, als  etwas  ganz  Natürliches  hinstellt,  will  er  damit  den,  von  L. 
vorausgesetzten   Mechanismus    als   unhaltbar   bezeichnen,    bezüglich 


J4()  Joh.  Zahlfloisch, 

welcher  Aiißcrunft'  vom  Intellekt iialistischeii  Standpunkte  sowohl  dem 
einen,  wie  dem  anderen  Widersacher  Kecht  geiiel)en  werden  muß. 

Insofern  V\.  (S.  162  Nr.  38)  von  dem  Standpunkt  aus!>,eht,  daß 
in  Anbetracht  der  sichtl)aren  Beweguns^  Kraft  verloren  geht,  während 
L.  (S.  203f.)  behauptet,  daß  in  Rücksicht  auf  die  unsichtbare 
(Molekular)-Bewegung  (vgl.  Cassirer  Anm.  147)  das  Gesetz  von  der 
Erhaltung  der  Kraft  gilt,  ist  weder  von  der  einen,  noch  von  der  anderen 
Seite  dem  Problem,  ob  Gott  genötigt  ist,  der  AVeit  von  Zeit  zu  Zeit 
einen  neuen  Antrieb  zu  geben,  aufgeholfen,  weil  auf  Gottes  Eigen- 
schaften diese  Erklärungen  ebensowenig  ])assen,  wie  z.  B.  die  strenge 
Kausalität  des  Naturgesetzes  auf  die  Fieiheit  (vgl.  Kant  Ki'.  d.  r.  V. 
S.  428-432  Aus-.  Reclam). 

(1.  hat  (S.  163  Nr.  40)  behauptet,  daß,  wenn  es  nach  J..  liinue, 
der  die  Nachbesserung  der  Weltoebrechen  für  jenen  Fall  als  überflüssig 
bezeichnet,  in  welchem  alle  später  zu  veranstaltenden  Ergänzunoen 
schon  im  vorhinein  von  Gott  vorgesehen  wurden,  dann  für  die  Ewigkeit 
bestimmte  und  mit  einer  einem  Vielfachen  der  jetzt  lebenden  Menschen 
ausgestattet  erscheinen  sollende  AVeit  schon  gleich  bei  ihrer  Erschaffung 
diese  Eigenschaften  an  sich  tragen  mußte.  Hiebei  hatte  wieder  Cl.  seinen 
Gegner  L.  mißverstanden.  Denn  L.  meinte  und  setzte  ein  solches  AA'elt- 
getriebe  voraus,  wie  es  auch  gegenwärtig  sich  abspielt,  also  insbesondere 
das  Nacheinanderauftreten  der  Menschenmassen,  während  (1.  die 
Sache  von  dem  Standpunkt  der  sofortigen  Effektuierung  des  erst 
später  einzutreten  bestimmten  AVeltzustandes  nimmt.  Insofern  aber 
beide  Gegner  nicht  bedenken,  daß  ilu'e  Sache  eine  rein  anthropo- 
morphistisch  ausgeschmückte  ist,    muß  man  beiden  Um"eeht  geben. 

(1.  hatte  (S.  163  Nr.  41)  gemeint,  daß  L.s  Definition  des  Raumes 
als  Ordnung  deshalb  nicht  gelten  könne,  weil  der  Raum  ein  wirkliches 
mit  materiellem  Inhalt  erfülltes  Ding  sei.  Bezeichne  man  den  Raum 
als  Ordnung  oder  als  Lage,  dann  müßte  die  dadurch  angeordnete 
Stellung  der  Dinge  von  der  Seite  genommen  werden,  daß  der  Raum 
als  Lage  die  Ursache  der  Lage  sei.  Darauf  erwidert  L.  (S.  205  Nr.  104), 
daß  er  den  Raum  nicht  so  ohne  weiteres  als  Lage  bezeichnet  habe; 
denn  die  Lage  komme  erst  den  Dingen  zu,  während  der  Raum  eine 
ideale  Ordnung  der  Dinge  ist.  Die  Bezugnahme  L.s  auf  Nr.  54  gehört 
zu  S.  159  Nr.  14. 

-Der  Einwand  L.s  (S.  206  Nr.  105)  geoen  Cl.s  Behauptung  (S.  163 
Nr.  41),  daß  die  Zeit  keine  Ordnung  ist,  weil  die  Zeit  der  Aufeinaiuler- 


Einige  Bemerkungen  zum   IntellektuHlismus.  141 

foloe  der  Inhalte  größer  oder  kleiner  sein  könne,  besteht  darin,  daß, 
wenn  Cl.  Recht  hätte,  damit  eine  Vermehrung  oder  Verminderung  der 
Zeit  unter  Voraussetzung  stände,  diese  Vermehrung  oder  Verminderung 
wegen  der,  die  dadurch  entstehende  Diskontinuität  nicht  mehr  auf- 
weisenden Leere  vorausgesetzt  werden  müßte,  wovon,  insofern  als 
Kontinuität  ein  Hauptmerkmal  der  Zeit  und  des  Raumes  ist,  nichts 
möglich  ist.  Offenbar  hatte  Cl.  die  Tatsache  der  Verschiedenheit  in 
der  subjektiven  Größenschätzung  der  Zeit  vor  Augen,  was  zwar  für 
diese  Eigentümlichkeit  der  Zeit  unter  gewissen  Umständen,  jedoch 
nicht  dafür  spricht,  daß  diese  Eigentümlichkeit  den,  anderweitig  fest- 
stehenden Charakter  der  Zeit  wesentlich  verändere.  Leibniz  dagegen 
ging  nicht  weit  genug,  indem  ihm  immer  noch  vorgehalten  werden 
konnte,  daß  sein  Zeitbegriff  zu  viel  des  Materiellen  enthalte,  eine 
Tatsache,  die  erst  durch  den  Transzendentalismus  Kants  vorläufig 
beseitigt  werden  konnte. 

Was  die  Äußerung  Cl.s  (S.  163  Kr.  41  f.)  betrifft,  daß  die  Ab- 
wesenheit von  Geschöpfen  nicht  imstande  wäre,  den  Raum  aufzuheben, 
so  hatte  dies  Cl.  offenbar  auf  Grund  der  L.schen  Darstellung  vor- 
gebracht, nach  welcher  R.  u.  Z.  bloß  unter  Voraussetzung  von  Dingen, 
die  in  diesen  R.  und  in  diese  Zeit  hinein  gefügt  werden,  Existenz- 
fähigkeit haben,  so  daß  L.  darauf  (S.  206  Nr.  106)  ohne  weiteres  er- 
widert, daß  unter  der  Cl.schenVoraussetzung  weder  R.  noch  Z.  existierte. 
Cl.  hatte  dabei  jedenfalls  insofern  Um-echt,  als  wir  uns  nur  auf  Grund 
unserer  GAA.  ein  Bild  von  R.  u.  Z.  machen  können,  so  daß,  wo  der 
Mensch  fehlt,  in  der  Tat  auch  R.  u.  Z.  fehlen  müßten.  L.  hatte  Unrecht 
darin,  daß  er  auch  die  Existenz  Gottes,  von  dem  er  glaubt,  daß  er 
immer  noch  ohne  Z.  u.  R.  vorhanden  sein  könne,  zu  wenig  antlu'opo- 
morphistisch  faßt,  wodurch  ihm  nahe  gelegt  worden  wäre,  daß  wir 
uns  eine  solche  göttliche  Existenz  immer  nur  mit  menschlichen  Eigen- 
schaften, also  auch  mit  denjenigen  von  R.  u.  Z.  ausgestattet  vor- 
stellen müssen.  Dem  Grundsatz  L.s,  tlaß  man  in  der  Philosophie 
alles  Wunderbare  auszuschheßen  hal3e,  welchen  L.  (S.  207  ]\t.  107) 
verficht,  weil  dies  eine,  aUen  Menschen  geläufige  Ansicht  sei,  war  auf 
Grund  der  Zurückweisung  des  von  L.  dafiü-  angegebenen  Motivs 
(S.  152  Nr.  42)  von  Cl.  (S.  132  Nr.  12)  mit  der  Bemerkung  wider- 
sprochen worden,  daß  ,,für  Gott  natürlich  und  übernatürlich  nicht 
im  geringsten  von  einander  verschieden  seien."  Es  wäre  aber,  meint  L. 
(S.  207),  sehr  leicht,  unter  dieser  Devise  fiü-  Alles  einen  deus  ex  machina 


]4-2  Joh.  Zahlflciseh, 

ZU  erfinden.  ]..  liatto  nämlich  die  Nachbesserung  der  Welt  durch  Gott 
(a.  a.  0.)  als  Wunder  erklärt,  während  Cl.  dieses  Verfahren  Gottes 
als  etwas  ganz  ,, Gewöhnliches"  bezeichnete.  Es  fragt  sich  also:  Ist 
es  ein  richtiger  Grundsatz,  daß  man  demWunderbaren  in  der  l*liiloso])hie 
aus  dem  Wege  zu  gehen  hat?  Zweitens  darf  man  sich  in  der  Philosophie 
auf  gemeine  menschliche  Ansichten  stützen?  Ist  es  endlich  erlaubt, 
sich  im  Falle  der  Not  einen  deus  ex  machina  zu  konstruieren?  Ich 
glaube,  daß  man  alle  diese  Fragen  sowohl  mit  Ja  als  auch  mit  Nein 
beantworten  nuiß,  indem  man  sich  auf  verschiedene  Standpunkte 
stellt,  die  erst  im  Laufe  der  jeweiligen  Diskussion  zu  eindeutigen  um- 
gebogen werden  können.  L.  hatte  zuerst  die  Behauptung  aufgestellt, 
daß  die  Verbesserung  der  Welt  durch  Gott  ein  Wunder  sei.  Darauf 
entgegnete  Cl.  (S.  144  Nr.  13),  daß  mit  dieser  Verbesserung  keine 
Störung  verbunden  wäre,  was  Cl.  noch  durch  seine  vorläufige  Unter- 
scheidung zwischen  Wunderbarem  und  Natürlichem  oder  zwischen 
Ungewöhnlichem  und  Gewöhnlichem  (S.  164  Nr,  43)  erhärtete.  Indem 
sich  an  unserer  Stelle  (S.  207)  L.  an  den  Begriff  des  Gewöhnlichen 
hält,  insofern  er  in  Abrede  stellt,  daß  jene  Weltverbesserung  durch 
Gott  etwas  Gewöhnliches  sei,  hat  er,  unter  der  von  ihm  gemachten 
Voraussetzung,  daß  (Jl.  das  Wunder  durch  das  Merkmal  ,, ungewöhn- 
lich'' definieren  wolle,  übersehen,  daß  Cl.  an  der  betreffenden  Stelle 
(S.  164  Nr.  43),  die  freilich  erst  nachträglich  bei  L.  zur  Sprache  kommt, 
erklärt,  daß  jener  Begriff  in  der  Vorstellung  vom  Wunder  nur  ent- 
halten sei,  ja  daß  noch  nicht  folge,  daß  alles  Ungewöhnliche  schon  ein 
Wunder  ist,  so  daß  schon  dadurch  L.s  Darlegung  ins  Wanken  zu 
konmien  droht,  weil  die  Definition  des  Wunders  mittelst  des  Merkmals 
„ungewöhnlich"  noch  nicht  erschöpft  ist,  wovon  aber  L.  das  Gegenteil 
annehmen  zu  dürfen  glaubt.  Auch  Cl.  legt  kein  Gewicht  auf  die 
Identifikation  des  Wunders  mit  dem  Ungewöhnlichen,  weil  nach  ihm 
das  Ungewöhnliche  in  der  Tat  auch  nicht  Aninderbar  sein  kann.  Doch 
scheint  L.  den  Satz  Cl.s:  „Der  Begriff  des  Ungewöhnlichen  ist  in  der 
Vorstellung  von  einem  Wunder  notwendig  enthalten"  —  als  Definition 
gefaßt  zu  haben,  in  dem  Sinne,  daß  bei  keinem  AVunder  von  der  Eigen- 
schaft, daß  es  etwas  Ungewöhnliches  sei,  abstrahiert  werden  dürfe, 
so  daß  er  auch  das  von  Cl.  (S.  164)  als  bloße  Unregelmäßigkeit  Be- 
zeichnete stillschweigend  als  Wunder  faßt,  wozu  er  am  Ende  auch 
berechtigt  war,  weil  Cl.  das  Ungewöhnhche  bloß  ,,als  solches"  kein 
Wunder  nennt,  wähi-end  damit  noch  nicht  dem  Wunder  das  definitori- 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  143 

sehe  Merkmal  ,,un2;e wohnlich"  geiiomnien  werden  darf.  Schließlich 
ist  ja  auch  die  Definition  des  Wunders  durch  L.,  daß  durch  dasselbe 
alle  Ki'äfte  der  Geschöpfe  übertroffen  werden,  selbst  nur  als  auf  diesen 
Begriff  des  Ungewöhnlichen  basiert  zu  nehmen.  IKäheres  darüber 
siehe  unten  in  dieser  Abhandlung. 

Das  zum  vorigen  Paragxaph  besonders  von  L.  beachtete  Merkmal 
des  Ungewöhnlichen  faßt  er  nun  hier  (S.  208  Nr.  110)  im  Sinne  des  mit 
Bezug  auf  die  Auffassung  der  Menschen  zu  Unterscheidende  und  meint, 
daß  dann  ein  objektiver  Unterschied  zwischen  dem  Wunderbaren 
und  seinem  Gegenteile  nicht  stattfinde.  Dieser  Cl.  gemachte  Einwand 
L.s  läuft  ungefälu"  auf  dasselbe  hinaus,  was  Kant  gegen  die  subjektive 
Gefühlsphilosophie,  z.  B.  eines  Jacobi,  eingewendet  hatte.  Es  ist 
jedoch  nicht  zu  befiü'chten,  daß  die  GAL.  unter  demselben  Einwand 
leide,  wvil  sie  ja  nicht  reinem  Gefühle  das  Wort  spricht,  sondern 
vielmehr  auch  der  Kantischen  Auffassung  Raum  gibt.  Eben  deshalb 
aber  dm*fte  L.,  so  sehr  ihm  auch  Cl.  Anlaß  gibt,  nicht  so  sprechen,  als 
wäre  es  ihm,  L.,  möglich,  etwas  dem  Subjektiven  gegenüberstehendes 
Objektives  zu  leisten.  In  der  Tat  hat  aber  L.  Recht,  wenn  er  (Nr.  11) 
Cl.  entgegenhält,  daß  durch  die  Vermenschhchung  und  Sublunajü- 
sierung  Gottes  dem  Pantheismus  Tür  und  Tor  seöffnet  sei,  obwohl 
man  wegen  des  auch  für  L.  geltenden  Anthropomorphismus,  der  aller- 
dings im  Kleide  der  metaphysischen  Dichtung  auftritt,  das  Xändiche 
von  seiner  prästabiherten  Harmonie  sagen  darf.  Immerhin  muß  der 
von  unserem  heutigen  Standpunkt  nur  als  frommer  Wunsch  zu  be- 
zeichnende L.sche  Grundsatz,  daß  das  Natürliche  vom  Übernatürlichen, 
d.  h.  wie  Kant  sagen  ^\iirde :  der  Verstand  von  der  Vernunft  ent- 
schiedener getrennt  werden  müsse  (Nr.  112),  genau  jjeachtet  werden, 
obwohl  er  nicht  bloß  an  den  von  Kant  gerügten,  sondern  auch  der 
GAL.  entgegenstehenden  Mängeln  leidet. 

L.  meint,  wenn  man  (Nr.  113)  die,  eben  angenommene  Trennung 
des,  mit  den  Ivräften  der  Geschöpfe  Ausführbaren  von  dem,  was  nur 
durch  die  Kräfte  der  unendlichen  Substanz  erklärbar  ist,  bewirkt, 
daß  wü'  dann  die  Newtonsche  Fernwü'kung  oder  Anziehung,  weil  sie 
das  Unerklärbare  in  allzu  harte  Nähe  des  Erklärbaren  rückt,  nicht 
mehr  nötig  haben.  L.  vergißt  für  einen  Augenljlick  die  Notwendigkeit 
der  Hypothesen,  deren  Bedeutung  für  die  Erkenntnis  Cl.  allerdings 
überschätzt. 

Der    Intellektualisnms   hat,    wie    ich    schon   einmal   angedeutet 


J44  .ioh.   ZahlflcMsch, 

liabo,  das  Eigene,  daß  durch  ihn  eine  Behauptun«-  immer  wieder 
imstande  ist,  ihrem  Gegenteil  zum  Durchbruch  zu  verheilen,  wie  wir 
au  dem  (Nr.  114)  von  L.  hervorgehobenen  Übergewichte  des  Mechani- 
schen vor  dem  Dynamischen  sehen  können.  Denn  nach  den  ,Nouveaux 
Essais'  kultiviert  L.  nicht  einen  reinen  Mechanismus  (Cassirer  An- 
merkung 151),  sondern  einen  aus  einem  reinen  Prinzip  der  Vernunft 
hervorgegangenen,  was  als  Lichtblick  in  der  krausen  Dunkelheit  der 
Cl.-L. sehen  Debatte  festgehalten  und  für  die  GAL.  fruchtljar  gemacht 
zu  werden  verdient.  Auch  an  unserer  Stelle  wird  der  maßhaltenden 
Vernunft  von  L.  (S.  210)  das  Wort  geredet,  so  daß  der  Mechanismus 
bloß  im  Lichte  dieser  Vernunft  erscheinen  soll. 

Eine  besondere  Eigenschaft  des  Intellelctualismus  ist  es,  aus 
seinem  Merkmal  einer  Anzahl  bereits  als  festgestellt  angenommener 
Tatsachen  einer  gewissen  Art  sogleich  auf  das  Vorhandensein  dieses 
Merkmals  bei  allen  diesen  Tatsachen  induktions-  oder  analogieweise 
zu  schließen.  Man  hat  aber  dabei  den  Faktor  der  GA.  übersehen, 
dei'  ebenso  einen  Erkenntniseinschlag  besitzt,  wie  ihn  die  Begriffe 
schon  von  vornherein  haben.  Nur  dieser  Mangel,  der  dem  Intellektualis- 
mus anhaftet,  konnte  L.  auf  die  Idee  1)ringen  (Nr.  116),  daß  alle 
physiologischen  Vorgänge  auf  rein  mechanischem  Wege  erklärt 
werden  müssen.  Da  Cl.  das  Gegenteil  behauptet,  so  handelt  es  sich 
darum,  zwischen  den  verschiedenen  Graden  von  Mechanismus  und, 
sagen  wir,  Djmamisnnis  zu  unterscheiden,  was  uns  eben  nur  durch 
die  GA.  möglich  ist. 

Cl.  hatte  (S.  164  Nr.  45)  die  Newtonsche  Fernwirkung  unter  An- 
nahme eines  unsichtbaren,  untastbaren  und  von  Mechanisnms  prinzipiell 
verschiedenen  Mittels  erldärt.  Es  ist  das  eine  Hypothese,  von  welcher 
sich  Ne^\i:on  streng  fern  gehalten  hat  (S.  116).  Das  spricht  aber  auch 
für  L.s  Anschauung  (S.  211  Nr.  118 — 120).  Und  doch  haben  wir  bereits 
gehört,  daß  L.  selbst  es  ist,  der  den,  auch  hier  allein  berechtigten 
Mechanisnms  durch  seinen  Einschlag  der  Veriumft  ins  Übernatürliche 
hinüber  spielt.  Doch  hat  auch  Cl.  selbst  (S.  122 f.  129f,  S.  164  Nr.  45) 
sich  für  den  Satz  ausgesprochen,  daß  dort  ein  Ding  nicht  wirkt,  wo  es 
nicht  ist.  Da  also  Cl.  diesen  Wirkungserfolg  durch  ein  übersinnliches 
Mittel,  L.  nur  durch  ein  sinnliches  hervorrufen  läßt,  so  hätten  sich 
die  beiden  in  theoretischem  Sinne,  welcher  doch  hier  allein  ausschlag- 
gebend ist,  da  es  sich  um  keine,  das  AVohl  der  Menschheit  in  die  erste 
Linie  stellende  Aktion  handelt,  ganz  leicht  auf  der  Basis  der  L.sclien 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  145 

Überfülining  des  Mechanischen  in  das  Dynamische  verständigen 
können.  In  dem  Augenblicke  jedoch,  in  welchem  die  Angelegenheit 
für  das  wirkliche  Leben  aktuell  wird,  muß  die  GAL.  den  nötigen 
Eückhalt  geben. 

Wenn  L.  zu  all  dem  (S.  212  Nr.  123)  bemerkt,  daß  die  Annahme 
der  Fernwirkung  zu  einem  ähnlichen  Erfolge  fülu-t,  wie  wenn  ein 
Körper,  der  im  Ivreise  herumgeführt  wü'd,  obwohl  er  daran  nicht 
gehindert  ist,  nicht  in  der  Richtung  der  Tangente  sich  entfernte,  so 
ist  dagegen  zu  sagen,  daß  die  Konzession,  „obwohl  er  nicht  daran 
gehindert  ist",  für  den  Fall  der  Fern  Wirkung  doch  nicht  eintritt. 
Denn  eine  solche  Ungehindertheit  hätte  doch  mu-  in  dem  Vorhanden- 
sein einer,  die  beidcii  Dinge,  das  von  dem  die  Fernwirkung  ausgeht, 
und  das,  auf  welchen  sie  Einfluß  nimmt,  verbindenden  durch  Mechaxiis- 
mus  wirkenden  Materie  gelegen  sein  können,  von  welcher  aber  Niemand 
etwas  wußte. 

In  der  Behauptung,  daß  die  mechanischen  Ursachen  es  sind,  an 
welche  die  freiwü-kenden  wie  an  ein  Uhi'werk  angepaßt  sind  (S.  212 
Nr.  124),  liringt  in  die  ganze  L.sche  Lehre  den  unwissenschaftlichen 
Identitätsgedanken  hinein,  welcher  von  Kant  durch  die  Annahme 
seiner  regulativen  neben  den  konstitutiven  Ideen  zu  paralysieren 
gesucht  wiu'de.  Dmch  jene  Angepaßtheit  an  das  besagte  Uln^werk  aber 
wird  nichts  anderes  behauptet,  als  daß  was  wir  Freiheit  nennen, 
nachträglich  doch  nur  unter  Voraussetzung  von  festen  Motiven  zu 
einem  natürlichen  Kausalitätsprozeß  umgestaltet  werden  müsse. 
Es  ist  also  ungefähr  dasselbe  Verhältnis,  wie  da,  wo  ein  Experimentator 
auf  der  Basis  eines  gegebenen  Tatbestandes  einen  daraus  hervor- 
gehenden, vorläufig  unerklärten  Tatbestand  derart  zu  erklären  sucht, 
daß  er  auf  Grund  seiner,  ihm  sonst  als  bekannt  und  sicher  geltenden 
Naturgesetze  eine  Reihe  von  jener  Basis  aus  zu  diesem  Ergebnis- 
tatbestancle  hin  konstruiert.  Insofern  jedoch  die  Stellung  dieses  vor- 
liegenden Problems  in  der  Erkenntnisweise  ganz  derjenigen  gleicht, 
welche  durch  die  Bestimmung  jener  Hilfsgesetze  der  Natur  gefordert 
war,  so  daß  auch  für  diese  wieder  der  gleiche  Vorgang  galt,  so  entsteht 
der,  von  Kant  verpönte  Infinitesimalbeweis  der  reinen  Verstandes- 
kausalität, der  in  Ermangelung  eines  letzten  mechanischen  Prinzips 
notwendig  in  Dtnamismus  endigt.  Natürlich  nniß,  um  diesem 
Infinitesimalzustand  ein  Ende  zu  machen,  die  Freiheit  in  die  Natur- 
kausalität umgebogen  werden,  wodurch  die  von  mir  zurückgewiesene 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII,  2.  in 


146  Job.  Zahlfleisch, 

Identität  entstünde,  eine  Identität,  welcher  icli  m\Y  diireli  die  GAL. 
zu  entrinnen  glaube. 

Es  ist  jedenfalls  zuviel  behauptet,  wenn  L.  (S.  2 18  Nr.  129) 
meint,  daß  gegen  den  Satz  vom  zur.  Grunde  und  gegen  seine  An- 
wendbarkeit nichts  einzuwenden  sei.  Hatten  wir  doch  schon  oben 
(S.  23 f.)  gezeigt,  daß  es  mit  der  Logik  allein  nicht  abgetan  sein  kann. 
Einer  der  Hauptgrundsätze  der  Logik  ruht  gerade  auf  dem  Satze 
des  Grundes,  insofern  alle  Generalistik  und  im  Gefolge  derselben  die 
anscheinende  Unmöglichkeit  der  Umkehrung:  Alles  AVunder  ist  etwas 
Ungewöhnliches  und  alles  Ungewöhnliche  ist  Wunder  gegen  jenen 
Satz  der  allgemeinen  Giltigkeit  des  „Axioms"  vom  zm'eichenden 
Grunde  spricht.  Denn  ist  es  wahr,  daß  nur  die  Einteilung  nach  Genus 
und  Spezies  den  Urteilsprozeß  ermöglicht,  so  daß  jene  als  Ursache  und 
Grund  dieses  zu  bezeichnen  ist,  so  geht  der  Satz  vom  zur.  Grunde 
sofort  verloren,  wenn  wir  beweisen  können,  daß  die  auf  der  Basis 
jener  Urteilsdefinition  als  unmöglich  angesehene  reine  Konversion 
trotzdem  sich  als  möglich  erweist.  Es  gilt  nämlich:  Der  Löwe  ist  ein 
Tier  und  das  Tier  ist  Löwe ;  die  Nelke  ist  eine  Pflanze  und  die  Pflanze 
ist  Nelke  —  gleichzeitig,  insoferne  wir  in  dem  jeweiligen  zweiten  Falle 
auch  ein  giltiges  Urteil  deshalb  bilden  dürfen,  weil,  die  bloß  intellektuali- 
stische  Bedeutung  der  Worte  beiseite  gelassen,  der  Satz:  Das  Tier  ist 
Löwe  soviel  bedeutet  als:  Wenn  wir  dem  Tiere  seine  wirklichen  und 
sämtlichen  Merkmale  zuschreiben  wollen,  wir  von  den  Eigenschaften 
des  Löwen  nicht  absehen  dürfen.  Nun  hatte  Cl.  (S.  154  Nr.  1  u.  2) 
gegen  L.s  Satz  eingewendet,  daß  man  damit  nur  einem  passiven 
Verhalten  durch  Bestimmungsgründe  Vorschub  leiste;  und  darin 
hatte  Cl.  Kecht;  denn  wir  wissen  AUe  zur  Genüge,  wie  diese  Passivität 
aus  dem  bloßen  Mechanismus  der  Logik  des  Aristoteles  hervorgeht. 
Deshalb  muß  derselbe  durch  die  emotionale  Logik  ergänzt  werden 
und  Cl.  hatte  die  Empfindung  für  diese  Notwendigkeit,  wälu'end  sie 
L.  abging,  insofern  dieser  den  Mechanismus  in  ziemhch  schroffer 
Weise  seinem  Gegner  entgegenhielt.  Es  müßte  der,  auch  von  Anderen 
gerügte  Intellektualismus  übrigens  keine  Anfechtung  erleiden  dürfen, 
wenn  nicht  auch  die  Axiome  der  Logik  der  genau  entgegengesetzten 
Fassung  fähig  wären,  also  daß  man,  wenn  auch  nur  in  der,  der  obigen 
Konversionsmögiichkeit  analogen  Bedeutung  sagt:  Jedes  Ding  ist 
mit  sich  selbst  nicht  gleich;  das  Gegenteil  einer  jeden  Behauptung  ist 
auch  walu*;  zwischen  einer  Behauptung  und  ihrem  kontradilrtorischen 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  147 

Gegenteil  gibt  es  nicht  bloß  ein  Drittes,  sondern  auch  ein  Viertes, 
Fünftes  usw.  Der  Satz  vom  Grunde  ist  (in  der  gewöhnlich  ange- 
nommenen Ausch'ucksweise)  falsch.  Solche  Behauptungen  könnten 
nun  naturgemäß  Manchen  erschrecken.  Man  beachte  aber  wohl, 
daß  das  grandiose  Urteil:  „Wenn  die  Logik  wahr  ist,  so  muß  sie  auch 
den  aristotelischen  Satz  der  Konversio  beibehalten"  mit  der  Annahme 
des  Nachsatzes  steht  oder  fällt.  Wir  haben  gesehen,  daß  vom  Stand- 
punkte des  emotionalen  Denkens  der  Nachsatz  keine  unumstößliche 
Wahi'heit  enthält,  weil  die  aristotelische  Konversio  unter  Umständen 
aufgehoben  ist;  also  muß  diese  Logik  an  dem  Mangel  laborieren,  auf 
Grund  dessen  Existenz  die  Unhaltbarkeit  des  aristotelischen  Satzes 
von  der  Konversio  als  sicher  bezeichnet  wurde.  Daraus  ist  nun  ab- 
zunehmen, daß  wir  nicht  von  vornherein  auf  Grund  feststehender 
Begriffe,  Formeln  oder  Gesetze  das  letzte  Wort  zu  sprechen  haben, 
wenn  es  sich  um  die  Entscheidung  in  Sachen  der  logischen  Urteile 
handelt,  sondern  daß  wir  in  erster  Linie  den  Gesamtstand  unserer 
Denkmassen,  wozu  eben  auch  das  emotionale  Denken  za  rechnen  ist, 
in  Betracht  ziehen,  wobei  es  uns  natürlich  selbstverständJich  erscheinen 
muß,  das  hernach  gewonnene  Gedankenergebnis  in  die  Form  der 
herkömmlichen  Logik  zu  ziehen,  so  daß  dieselbe  ungefähr  das  Nämliche 
im  Gegensatze  zu  jener  des  emotionalen  Denkens  bedeutet,  wie  das 
ausgesprochene  oder  auszusprechende  Wort  gegenüber  dem  bloß  im 
inneren  Denken  vorerst  nur  embryonal  gebildeten.  Man  kann  daher 
auch  nicht  mit  L.  einverstanden  sein,  wenn  derselbe  (S.  214  Nr.  130) 
behauptet,  daß  ein  sicheres  Kennzeichen  der  Niederlage  seines  Gegners 
es  ist,  daß  er  mit  dem  Prinzip  des  zur.  Grundes  in  Widerspruch  in  dem 
Sinne  gerät,  daß  „man  ihn  zwingt,  dieses  Prinzip"  für  seine  eben  vor- 
liegende Behauptung  außer  Kurs  zu  setzen,  also  es  ,,zu  leugnen". 
Alles  kommt  nämlich  auf  die,  nur  durch  Emotionalität  in  dem 
bisher  vorgefülu'ten  Sinne  ermöglichte  Ergänzung  des  besagten 
Gesetzes  zum  allgemeinen  Weltbild  an.  Denn,  sagen  wü',  es  seien  die 
erwähnten  Anti-Axiome  nur  vom  regulativen  Standpunkte  zu  fassen, 
so  gelangen  wir  vom  Regen  in  die  Traufe,  insofern  sich  ein  Rückschritt 
zum  Kantischen  Rationalismus  ergäbe,  und  damit  zum  Intellektualis- 
mus, also  bleibt  nichts  Anderes  übrig  als  die  GAL. 

Die  Annahme  Cl.s  (S.  154  Nr.  1  u.  2),  daß  der  Vergleich  der 
Motive  Gottes  mit  einer  Wage  noch  eine  besondere  Tätigkeit  nicht 
berücksichtigt,  deckt  sich  so  ziemlich  mit  der  von  L.  (S.  170  Nr.  15) 

10* 


148  Joh.  Zahlfloisch, 

dagegen  vorgebrachten  Ansicht,  daß  hinter  den  Beweggründen  noch 
das  Bewui^tsein  schaltet  nnd  waltet.  AVemi  also  Cl.  jetzt  (S.  214 
Nr.  1 — 20)  meint,  daß  zwischen  der  erwcähnten  Wage  und  dem  von 
Motiven  sich  bestimmen  lassenden  Geiste  gar  keine  Ähnhchkcit  l)e- 
steht,  so  hat  Cl.  offenbar  jene  von  L.  gemachte  Einschränkung  vom 
Be\Mißtsein  seiner  eigenen  Ansicht  nicht  als  ebenbürtig  angesehen. 
Das  von  L.  eingeführte  Be\mßtsein,  könnte  man  allenfalls  sagen,  ist 
freilich  etwas  zu  wenig  iVktivcs,  als  daß  es  der  von  Cl.  aufgestellten 
Tätigkeit  an  die  Seite  gestellt  werden  dürfte.  Aber,  wie  Cassirer  (An- 
merkung 157)  bemerkt,  liegt  schon  in  dem  AValu-nehnnmgsakt  „ein 
selbsttätiger  und  bestimmter  Faktor";  und  L.  hat  offenbar  denselben 
auch  in  seinem  hier  eingeführten  BeNmßtsein  vorausgesetzt. 

Die  (S.  170  Nr.  16)  von  L.  vorausgesetzte  x\iinahme  des  Wider- 
spruchs beiCl.,  der  dies  gleichgültige  Verhalten  bei  Unentschiedenheit 
auch  auf  eine  Wahl  zurückfülu-t,  insofern  L.  davon  ausgeht,  daß  Wahl 
und  Gleichgültigkeit  nicht  zusammen  bestehen  können,  wird  von 
Cl.  (S.  216  Zeile  19ff.)  damit  zurückgewiesen,  daß  es  dann  beim  Alten 
bhebe,  daß  Gott  eben  nicht  mehr  Gott  wäre,  da  er,  anstatt  ein  tätiges, 
ein  leidendes  Wesen  wäre.  Cl.  hält  (S.  216  Zeile  18ff.)  dafür,  daß  L.^ 
selbst  seinen  Grundsatz  des  zur.  Grundes  umstürzt,  wenn  er  es  (S.  193 
Nr.  66,  S.  194  Nr.  69)  für  unmöghch  erklärt,  daß  Gott  Gründe  dafür 
habe,  um  gleiche  materielle  Teile  zu  erzeugen.  Die  Aufhebung  des 
Satzes  vom  zur.  Grunde  durch  Cl.  hat  ferner  (S.  216  Zeile  39 ff.)  im 
Gefolge,  daß  Cl.  nur  den  Willen  Gottes  bei  der  Wahl  der  den  Dingen 
anzuweisenden  Orte  in  Rechnung  zieht.  Als  ob  ein  Wille  ohne  zur. 
Grund  denkbar  wäre !  Ja,  Cl.  muß  in  Einem  Atem  (S.  217  Zeile  3f.) 
gestehen,  daß  ein  Wille  ohne  Beweggrund  ausgeschlossen  ist.  Cl. 
operiert  aber  (S.  217  Zeile  4)  doch  wieder  mit  Gründen  im  Sinne 
L.s,  und  zwar  in  einer  Weise,  daß  man  erkennt,  daß  selbst  die  Negation 
einer  Sache  zur  Ausführung  einer  Positivität  Anlaß  geben  kann,  woraus 

0     a 
offenbar  unter  Anderem  auch  die  Bedeutung  der  Formel  — ,  —  erhellt. 

u     a 

Denn  Cl.  sagt,  daß,  obgleich  die  eine  Wahl  zwischen  gleichen  materiellen 

Partikeln  ebensogut  wäre,  wie  die  andere,  doch  sich  Gott  für  eine 

bestimmte  schon  damals  zu  erklären  bewogen  fühlte,  als  er  jene  gleichen 

Partikeln  schuf.    Und  damit,  meint  Cl.  (Z.  8 f.),  ist  die  Annahme  des 

Gleichnisses  von  der  Wage,  sowie  es  L.  trotz  seiner  Einfüluimg  des 

BewT,ißtseins  in  dasselbe  interpretiert,  falsch. 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  149 

Die  schwierige  Frage  von  der  verschiedenen  Notwendigkeit, 
insbesondere  ob  man  ne])en  der  absoluten  noch  eine  hypothetische 
und  morahsche  zu  unterscheiden  hat,  wie  sie  von  L.  wirklich  unter- 
schieden wurde,  sucht  unser  Cl.  (S.  217  Z.  löff. )  dahin  zu  beantworten, 
daß  das  Schillernde  der  relativen  Notwendigkeit  (die  moralische  ist 
z.  B.  für  L.  (S.  168  Nr.  8)  eine  N,  ohne  zu  nötigen)  nicht  angängig  ist, 
weil  sonst  ein  gutes  Wesen  zugleich  Böses  tun,  ein  Weises  zugleich 
unweise  handeln  könnte.  Dazu  ist  nun  aber  zu  sagen,  daß  L.  die 
morahsche  N.  von  der  metaphysischen  durch  seineu  Begriff  der  Freiheit 
getrennt  hat,  während  Cl.s  Beispiele  nur  auf  etwas  Physisches  hin- 
weisen. Wenn  L.  (S.  168  Nr.  11)  erklärt,  daß  unser  Wille  nicht  immer 
ganz  genau  den  ursprün.olichen  Beweggründen  folge,  und  wenn  Cl. 
(S.  217  Z.  33,  36f.)  dazu  bemerkt,  daß  hiermit  ein  AViderspruch  gesetzt 
ist,  insofern  doch  das  gilt,  was  als  letzte  Entscheidung  gegeben  ist, 
so  ändert  diese  Bemerkung  Cl.s  nichts  an  der  durch  L.  hervorgehobenen 
Tatsache,  obwohl  L.  sich  auch  anders  hätte  ausdrücken  können, 
insofern  alles,  was  von  ihm  über  die  Entscheidungsgründe  gesagt  wü'd, 
auf  das  Gleichnis  mit  der  AVage  gemünzt  ist,  das  hier  durchgehend 
nach  der  von  Cl.  (S.  154  Nr.  1  u.  2)  gegebenen  Anregung  im  Hinter- 
grunde steht,  vermöge  welcher  beide  Teile,  Cl.  und  L.  außer  der  starren 
Naturnotwendigkeit  noch  etwas  diese  ÜlDerragendes  annehmen,  ohne 
immer,  wie  z.  B.  Cl.  bei  Beurteilung  der  AVahrnehmungsfähigkeit 
(S.  215  Z.  11  ff.)  die  richtige  ErMärung  solcher  Stichwörter  zu  finden. 
Es  verhält  sich  sogar  dabei  auch  nicht  so,  daß  diese  AVahrnehmung 
auf  sich  selbst  hin  spekuliert,  wie  Cl.  (S.  215f.)  meint,  sondern  daß  sie 
als  o])iektiv  treibende  Macht  fungiert,  wie  das  L.  vom  Be^\'ußtsein 
(S.  170  Nr.  15)  sagt. 

Nach  S.  172  Nr.  21  würde  in  dem  Falle,  wenn  die  Gleichheit  der 
Individuen  gegel3en  wäre,  entgegen  dem  von  L.  aufgestellten  Satze 
des  principium  identitalis  indiscernibilium,  das  Gesetz  des  zm*.  Grundes 
aufgehoben,  weil  Gott  diux-h  die  trotzdem  eingerichtete  Verschiedenheit 
der  Individuen  etwas  ÜberflüssiRes  voUfülute.  Und  damit  wäre  gesagt, 
daß  Gott  so  etwas,  wie  die  Herstellung  von  genauen  Gleichheiten  nicht 
auszufühiTn  vermag.  Anstatt  dessen  konstruiert  (nach  Cl.  S.  218 
Z.  5)  L.  daraus  einen  AViderspruch  gegen  die  AA^eisheit  Gottes  (S.  124 
Nr.  25).  Gegen  Cl.  muß  aber  gesagt  werden,  daß  doch  mehrere  Gegen- 
gründe gewichtiger  sind  als  einer. 

AA'enn  Cl.  (S.  219  Z.  27  ff.)  seinem  Gegner  vorwirft,  daß  er  zwar 


150  Joh.  Zahlfleisch, 

die  Verschiedenheit  zweier  ji,e]iau  gleiehei-  Dinge  zugibt,  a])er  doch 
nicht  von  einer  solchen  seinem  Widersacher  zu  sprechen  gestattet, 
so  hätte  sich  Cl.  dessen  l^ewußt  werden  sollen,  daß  hier  eine  Ver- 
schiedenheit der  Methode  der  streitenden  Parteien  vorliege,  wie  es 
auch  in  der  Tat  der  Fall  dadurch  ist,  daß  L.  in  die  ürdnungsreihe  des 
idealen  Eaumes  und  der  idealen  Zeit  die  verschiedenen  Körper  ein- 
trägt, was  auch  durch  die  Annahme  (S.  175  Nr.  18)  von  L.  gezeigt 
wü'd,  daß  man  voraussetzen  darf,  daß  die  Berührungslinie  mittelst 
zweier  Punkte  an  der  Kurve  sitzt,  die  sie  berührt,  insofern  man  in 
idealer  Weise  einen  Eintritts-  und  einen  Austrittspunkt  sich  konstruieit. 
Die  Bemerkung  (S.  219  Z.  16—20),  daß  L.  die  Antwort  auf  die 
Behauptung  schuldig  bleibt,  daß  bei  plötzlicher  Änderung  gewöhnter 
Zustände  dies  im  Universum  nicht  ohne  Folgen  bleiben  müsse,  bezieht 
sich  wohl  unter  Zugrundelegung  von  S.  158  Z.  4 — 9  auf  S.  188  §  13, 
worin  von  L.  eine  Antwort  hätte  erfolgen  sollen.  L.  hatte  ferner 
(S.  175  Z.  18)  von  einem  nicht  realen  Räume  gesprochen,  in  welchem 
keine  Veränderung  vorgehen  kann,  aber  Cl.  macht  daraus  einen 
materiellen  Raum  und  behauptet,  daß  hier  immer  noch,  allerdings 
nur  bei  plötzlicher  Änderung  des  Gleichgewichtes  dieselbe  walu*- 
genommen  werden  muß,  womit  er  gegen  L.s  prästabilisierte  Harmonie, 
die  es  unmöglich  macht,  daß  etwas  Unvorhergesehenes  erscheint, 
verstößt.  Die  Annahme  L.s,  daß  der  Raum  nicht  ohne  Körper 
Bedeutung  habe,  wird  natürlich  von  Cl.  zurückgewiesen.  Aber 
daß  infolge  dessen  beim  Fehlen  der  Materie  auch  keine  Bewegung 
möglich  ist,  kommt  noch  (S.  219  Ende)  als  Folgerung  aus  jener 
Cl.schen  Annahme  hinzu.  Im  großen  Ganzen  beruhen  die  Ein- 
wände Cl.  s  gegen  L.  auf  einer  Mißkennung  des  Standpunktes  dieses 
letzteren,  welcher  überall  die  Idealität  mit  der  Realität  zu  vereinen 
strebt,  während  Cl.  für  sich  nur  immer  einen  Teil  dieser  Doppelstellung 
in  Anspruch  nimmt  und  daher  es  leicht  hat,  diesen  gegen  den  anderen, 
von  L.  vertretenen  auszuspielen.  Es  ist  also  ungefähr-  jenes  Verfahren, 
gemäß  welchem  von  der  einen  Partei  die  zwei  entgegengesetzten 
Behauptungen  des  Intellektualismus  zugleich  gelten  gelassen  werden, 
wie  z.  B.  wenn  eine  Rechtsansicht  dahin  geht,  daß  die  Rechtsgesetze 
durch  Natur  und  durch  Satzung  zugleich  in  die  Welt  gesetzt  wurden, 
wälii'end  eine  andere  Ansicht  nur  der  einen  dieser  beiden  Behauptungen 
huldigt  und  daher  mit  ihrer  Polemik  leichtes  Spipl  hat,  wenn  sie 
voraussetzt  und  ihre  Beweisgründe  jedesmal  so  einrichtet,    daß  nur 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  151 

der  eine,  von  ihr  vertretene  Standpunkt  Gültigkeit  hat,  da  denn  nach 
dem  logischen  Kontradilvtionsgesetz  nnr  die  eine  von  beiden  gegneri- 
schen Annahmen  standhalten  kann,  so  daß,  wo  beide  vertreten  sind, 
ohne  weiteres  die  Unannehmbarkeit  der  Behauptung  der  Methode 
und  des  Vorgangs  stattfindet.  Es  versteht  sich  also  auch  z.  B.  von 
selbst,  daß  L.  in  Anbetracht  der  Notwendigkeit,  die  ideale  Form  des 
Kaums  stets  mit  den  Körpern  der  Natur  ausgefüllt  zu  sehen  (wie  das 
Kant  mittelst  seiner,  ihm  eigenen  Transzendentalität  annimmt), 
einerseits  den  stoffleeren,  absoluten  Raum  Cl.s  ablehnt,  anderseits  aber 
wieder  alles  auf  eine  übernatüiiiche  Ordnung  zurückführt  und  die 
Beeinflussung  des  Materiellen  durch  Gott,  also  seine  Vergeistigung 
im  Sinne  Cl.s  und  Ne\\i;ons  gelten  läßt. 

Wenn  Gl.  (S.  222  Z.  19—32)  den  von  L.  (S.  176  f.  §  34)  bezüglich 
des  Vergleichs  des  Holzes  mit  dem  Wasser  gemachten  Einwand  mittelst 
eines  besonderen  Experiments,  bei  welchem  die,  von  L.  vorausgesetzte 
Verschiebung  der  Teile  des  Wassers  unmöglich  gemacht  wird,  zurück- 
weist, so  ist  das  geradezu  eine  tTSQoy/jrriru^.  Denn  wenn  auch  mit  immer 
gleichermaßen  gegebenen  Elementen  verschiedenartig  experimentiert 
wh'd,  so  kann  es  sich  doch  ereignen,  daß  man  jedesmal  nach  einem 
anderen  Naturgesetze  vorgeht.  Anderseits  hatte  L.  übersehen,  daß 
mit  physikalischen  Experimenten  nicht  darüber  verfügt  werden 
kann,  ob  der  Raum  etwas  Geistiges  oder  etwas  Materielles  ist,  weil 
jenes  immer,  als  etwas  durch  Mechanismen  nicht  Faßbares,  allem 
Sinnlichen  und  daher  auch  allem  Experimentieren  auf  sinnhchem 
Wege  enthoben  ist. 

L.  wollte  (S.  179  Nr.  37)  aus  der  Identifizierung  des  absoluten 
Raumes  mit  der  Gottheit,  wie  das  Cl.als  Behauptung  aufstellt,  schheßen, 
daß  dann  der  begTenzte  Raum  mit  der  Ausdehnung  des  durch  den  R. 
begrenzten  Körpers  gleichbedeutend  wäre.  Dem  gegenüber  sagt  nun 
Cl.  (S.  233,  Z.  3ff.),  daß  ein  begrenzter  Raum  nur  von  unserer  Ein- 
bildung her  angenommen  werden  kann.  Es  versteht  sich  von  selbst, 
daß  die  Phantasie  freilich  ein  Wort  darein  zu  reden  hat,  aber  sie  kann 
nicht  allein  über  Alles  verfügen. 

Cl.  hatte  (S.  156  Z.  23f.)  behauptet,  der  leere  Raum  gehöre  einer 
unkörperhchen  Su1)stanz  als  Eigenschaft  an;  ebenso  hatte  er  (S.157 
Z.  7 ff.)  behauptet,  dem  Räume  als  Attribut  des  notwendigen  Wesens 
komme  notwendiges  Dasein  zu.  Auf  Grund  dessen  hatte  L.  (S.  179 
Z.  14)  die  Voraussetzung  gemacht,  daß  der  Raum  eine  Eigenschaft 


352  Job.  Zahlfleisch, 

sei  und  (Kr.  39)  die  Tatsache,  daß  im  Räume  bald  dieser,  bald  jener 
Körper  seinen  Sitz  aufschlage,  gemeint,  das  käme  so  heraus,  wie  wenn 
ein  Körper  (ein  Subjekt)  das  Kleid  des  Raumes  ausziehe,  damit  ein 
anderer  Körper  (ein  anderes  Subjekt)  in  dasselbe  sich  hüllen  könne 
(so  daß  die  Subjekte  ihi'e  Akzidenzien  auf  diese  Weise  ablegen). 
Darauf  erwidert  Cl.  (S.  223,  Z.  8  ff.),  der  Raum  sei  keine  Beschaffenheit 
eines  oder  des  anderen  Dinges;  und  er  hält  sich  damit  an  die  Folgerung 
L.s,  daß  (S.  179  Z.  17ff.)  der  irdische  R.  die  „Ausdehnung  oder  Meßbar- 
keit" eines  oder  des  anderen  irdischen  Dinges  sei.  Aber  die  Anthropo- 
morphistik  des  R.  als  einer  Eigenschaft  Gottes,  die  Cl.  schon  in  seinen 
früheren  Schreiben  angenommen,  kann  er  auf  diese  Weise  nicht  ab- 
schütteln. Offenbar  hatten  solche  Ivleinlichkeiten  L.  davon  abgehalten, 
die  Diskussion  weiter  fortzusetzen.  Es  war  freilich  ein  gewagtes 
Unternehmen,  der  Gottheit  den  Raum  als  Beschaffenheit  zuzusprechen, 
weil  die  Gottheit  über  allem  Anthropomorphismus  erhaben  ist,  ander- 
seits konnte  Cl.  nicht  anders,  mußte  aber  seine  erste  Behauptung 
wieder  in  Abrede  stellen,  was  L.  zum  Anlaß  seiner  Polemik  nahm, 
die  aus  eben  den,  von  mir  dargelegten  Gründen  ins  Endlose  sich 
erstrecken  zu  wollen  begann.  Selbstredend  war  es  nämlich  Cl.  nach 
seiner  Behauptung,  daß  das,  über  allem  Anthropomorphismus  er- 
habene Gotteswesen  auch  nicht  so  ohne  weiteres  mit  menschlichen 
Eigenschaften,  also  auch  nicht  mit  der,  aus  unserer  sinnlichen  An- 
schauung stammenden  ,, einer  Beschaffenheit  endlicher  Substanzen" 
(S.  223  Z.  13f.),  ausgestattet  werden  diu-fe,  unbenommen,  gegen  diese 
Meinung  L.s  zu  protestieren,  aber  L.  konnte  sich  immer  daran  halten, 
daß  die  Unermeßlichkeit  (Z.  11),  welche  dem  Cl.schen  Gotte  zukommt, 
als  eine  Eigenschaft  zu  gelten  hat.  Zwischen  den  Auschnicken  „In 
irgend  etwas  enthalten  sein",  ferner  und  „die  Eigenschaft  von  irgend 
etwas  sein"  bewegt  sich  die  ungemein  subtile  weitere  Diskussion  über 
das  Verhältnis  zwischen  Materie  und  Raum  (Z.  16 — 21),  woraus  sich 
eine  Unmenge  von  Haarspaltereien  ergeben  müssen.  Es  ist  ferner 
leere  Haarspalterei,  wenn  wohl  die  Teilbarkeit  der  irdischen  Dinge 
auf  die  Gestaltung  des  Wesens  und  der  Formen  der  letzteren  Einfluß 
gewinnen,  aber  nicht  die  Teilbarkeit  „der  Unermeßlichkeit"  (!)  auf 
die  Einheit  dieser  letzteren  (Z.  22—27).  Es  läßt  sich,  auch  rück- 
sichtlich  des  von  Cl.  gebrauchten  Vergleichs  mit  der  trotz  der  Teil- 
barkeit der  Zeit  fortbestehenden  unteilbaren  AVesens  der  Ewigkeit 
geltend   machen,    wie    L.    wirklich   in    einer    Fortsetzung   der  Dis- 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  153 

kussion  vorgegangen  wäre,  daß  man  die  Sache  vom  realen  nnd 
idealen  Standpunkte  fassen  könne. 

Ganz  ebenso  muß  man  mit  Cl.s  Behauptung  verfahren,  daß  Gott 
im  R.  und  in  der  Z.  nicht  existieren  könne;  fühlt  sich  doch  Cl.  nach 
dem  Gesetze  der  intellektualistischen  Ausgleichung  dazu  genötigt, 
in  Einem  Atem  (S.  224,  3ff.)  jenen  Ausdruck  L.s  selbst,  wenn  auch 
nur  bedingungsweise  in  Schutz  zu  nehmen. 

L.  setzt  (S.  147  Nr.  13)  voraus,  daß  die  Bewegung  des  begrenzten 
Weltalls  durch  Gott  so  vonstatten  gehe,  daß,  wie  Cl.  angenommen 
hat  (S.  149  Nr.  13  u.  14),  keine  Veränderung  damit  vorgenommen 
wird.  Und  L.  hat  damit  den  Folgesatz  verbunden,  daß  dadurch  eine 
Änderung  vorgenommen  würde,  die  nichts  ändert,  was  sinnlos  wäre, 
Cl.  sagt  (S.  224  Z.  21  ff.),  daß,  insofern  er  selbst  nur  von  der  Möglich- 
keit jenes  Vorgangs  der  Bewegung  gesprochen  hat,  es  für  L.  notwendig 
gewesen  ^\äre,  zugleich  die  Unmöglichkeit  jener  Bewegung  zu  bev,^eisen. 
Aber  L.,  muß  man  einwenden,  tut  das  ja  indirekt  dadurch,  daß  er  das 
Benehmen  Gottes  unvernünftig  nennt,  da  man  Gott  doch  diese  Ai't 
vorzugehen  nicht  zumuten  darf.  Unter  jener,  zu  Anfang  dieses  Absatzes 
von  mir  erwähnten,  von  Cl.  gemachten  Voraussetzung,  daß  mit  der 
Bewegung  des  Weltalls  durch  Gott  keine  Änderung  darin  angenommen 
sei,  hätte  L.  leichtes  Spiel  gehabt,  wenn  er  den,  nunmelu'  von  Cl. 
wieder  hervorgezogenen  Einwand  (vgl.  S.  219  Z.  16 — 20)  berück- 
sichtigt hätte,  daß  bei  plötzlichem  Auftreten  von  Unregelmäßigkeiten 
in  der  Welt  eine  gewaltige  Veränderung  wahrgenommen  werden 
müßte.  Denn  alle  die,  von  Cl.  gegen  L.  gemachten  Vorhalte  beziehen 
sich  auf  diese  Voraussetzung,  daß  von  Gott  das  Weltall  bewegt  werde, 
ohne  daß  diese  Bewegung  in  demselben  zu  Veränderungen  Anlaß 
gäbe.  Denn  das  ist  ja  der  aufgelegte  Widerspruch.  Cassirer  (Anm.  162) 
hätte  es  also  gar  nicht  notwendig,  durch  die  Feststellung  eines,  infolge 
der  neuen  Bewegung  anzunehmenden  neuen  Teilsystems  des  von  Gott 
zu  bewegenden  Materials  das,  von  dem  früheren  Teils vstem  Gesagte 
einfach  als  wiederholt  hinzustellen. 

Daß  L.  auf  den,  von  Cl.  (S.  225  Nr.  53)  gemachten  Einwand, 
daß  Niemand  auf  Grund  der  von  L.  (S.  189  Nr.  53  Z.  12—16)  vor- 
gebrachten Bestimmungen  den  Raum  nicht  als  getrennt  von  den 
Körpern  voraussetzen  wei'de,  schwerlich  etwas  hätte  erwidern  wollen, 
ergibt  sich  aus  der  Subtilität  der  Sache,  gemäß  welcher  nach  L.  der 
Raum  durch  Vergleichung  der  gegenseitigen  Lage  von  sich  bewegenden 


]54  Job.  Zahlfk-isch, 

Körpern  von  nns  erkannt  wird,  so  daß  der  R.  sowohl  mit  der  Körper- 
welt etwas  zu  tun  hat  als  auch  nicht. 

Die  Bemerkung  Cl.s  (S.  225  Z.  22— 24),  daß  die  Ordnung  bei 
verschiedener  Dauer  oder  Ausdehnung  dieselbe  sein  kann,  beweist 
keineswegs  etwas  dagegen,  daß  der  Raum,  wie  L.  anninnnt,  weim  ihm 
auch  Größe  zuerkannt  wird,  doch  zugleich  Ordnung  genannt  werden 
muß.  Denn  dem,  von  Cl.  mit  jenen  Worten  angegebenen  Argumente 
darf  deshalb  keine  Bedeutung  beigelegt  werden,  weil  Cl.  ja  selbst  die, 
von  L.  als  Definition  von  R.  und  Z.  vorausj2;esetzte  Ordnung  auch  in 
dem,  von  ihm  als  Ausnahme  hingestellten  Fall  anerkennt.  Hierbei 
ist  also  L.  im  Rechte,  wenn  er  auch  den  Verhältnissen  und  Proportionen 
(Z.  30)  Größe  zuerkennt;  denn  es  ist  eine,  erst  zu  beweisende  Be- 
hauptung Cl.s  (Z.  31  f.),  daß  diese  Verhältnisse  usw.  als  ,, Beziehungen 
ganz  anderer  Art"  angesehen  werden  müssen. 

Wenn  Cl.  (S.  227^  Z.  32—35)  dmch  die  Annahme,  daß  dei-  Tag 
gegenüber  %  Tag  und  gegenüber  1  Stunde  doch  immer  der  gleiche 
Tag  bleibe,  gegen  L.s  Annahme  der  Gewinnung  der  Raumvorstellung 
mittelst  Lagevergleichung  und  der  damit  für  Raum  als  Ordnung  ge- 
gebenen Definition  Front  machen  wiU,  so  müßte  man  ihm  entgegnen, 
daß  es  keine  Vergleichung  ist,  wenn  man  den  einen  Teil  der  ins  Auge 
gefaßten  Gegenstände  für  sich  allein  und  aljsolut  nimmt,  so  daß  der 
Schluß  (Z.  35 ff.):  Die  Z.  und  der  R.  ist  kein  Verhältnis,  sondern  eine 
absolute  und  unveränderliche  Quantität  —  eine  vollständige  petitio 
principii  ist. 

Die  (S.  190  §  15)  von  L.  erörterte  Streitfrage,  ob  die  Welt  auch 
früher  hätte  erschaffen  werden  können,  hat  Cl.  die  AVorte  (S.  229 
Z.  3 — 12)  entlockt,  daß  L.  nicht  konsequent  geblieben  sei,  insofern  er 
diese  Frage  sowohl  bejahe  als  verneine.  Vom  Standpunkte  der  GAL. 
hätte  L.  auch  nichts  Klügeres  tun  können.  Denn  auch  nach  Kant 
enthält  diese  Frage  einen  antinomistischen  Anstrich,  ein  Beweis,  wie 
notwendig  es  war,  daß  Kant  ein  für  allemal,  allerdings  unter  dem 
verfänglichen  Titel  von  dialektischen  Vernunftideen  hier  AVandel  ge- 
schaffen und   dem   Intellektualisnms   die  Maske  herabgerissen  hat. 

Natürlich  ist  Zufall  auf  der  einen,  der  WiUe  Gottes  auf  der  anderen 
Seite  von  einander  sehr  verschieden.  Wenn  aber  Cl.  (S.  228  Z.  14 — 21) 
darauf  ein  so  besonderes  Gewicht  legt,  so  hätte  er  auch  L.s  Gründe 
würdigen  sollen,  vermöge  welcher  die  Behauptung  Cl.s  (S.  160  Z.  3 f.) 
feststeht,  daß  Gott  alle  Stellen  ursprünghch  gleich  geschaffen  hat, 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  15D 

wodurch  L.  eben  der  Gedanke  mit  den  2  gleichen  "Würfeln  anf  den 
Zufall  Epikurs  oeführt  hat. 

L.  hatte  immer  vorausgesetzt,  daß  Raum  und  Materie  auf  einander 
angewiesen  sind.    Da  L.  (S.  195  Xr.  73)  die  Ansicht  vertritt,  daß  von 
Gott  nicht  gesagt  werden  darf,  daß  von  ihm  die  Quantität  der  in  der 
Welt  vorhandenen  Materie  nicht  vergrößert  oder  verkleinert  werden 
konnte,  wohl  aber,  daß  er  das,  daß  sie  Grenzen  habe,  nicht  wollte, 
so  wäre  in  dem  Falle,  als  bei  Gott  nach  Cl.  (S.  278  Z.  27)  in  der  Tat 
von  einem  "Wollen  der  Grenzen  nicht  geredet  werden  kann,  doch,  weil 
L.   das  Können  zugab,  die  Veränderung  jener  Quantität  denkbar. 
Das  Merkmirdige  dabei  ist  nur,  daß  dabei  Cl.  mit  sich  selbst  in  "Wider- 
spruch gerät,  da  er  doch  immer  für  Gott  die  Beeinflussung  der  Welt 
voraussetzt;  so  z.  B.  S.  215f.    Aber  Cl.  wendet  die  Sache  wieder  alter- 
nativ so,  daß,  wenn  Gott  doch  seinen  Willen  durchsetzt  in  bezug  auf 
die   Begrenzung   und  BewegMchkeit   des   „materiellen    Universums" 
(Z.  29),  dann  der  Raum,  ,,in  welchem  diese  Bewegung  stattfindet"", 
offenbar,  weil  eine  Bewegung  nach  Cl.  erst  möglich  wird,  wenn  vorerst 
ein  Etwas  vorhanden  ist,  in  welchem  diese  Bewegung  stattfinden 
kann,  „von  der  Materie  unabhängig"  sein  muß.    In  Yoraussetzmig  der 
Unendlichkeit  des  Raumes  aber,  ein  Gedanke,  den  man  sich  ergänzen 
muß,  müßte,  falls  das  Gegenteil  der  eben  erwähnten  Folgerung  statt- 
findet, d.  h.  wenn  der  Raum  von  der  Materie  abhängig  wäre,  auch 
die  jenem  unendlichen  Raum  entsprechende  Materie  unendlich  sein, 
so  daß  sie  auch  nach  vorwärts  und  rückwärts  ewig  wäre,  u.  zw.  ohne 
daß  Gottes  Wille  dabei  etwas  zu  sagen  hätte.    Damit  wkd  aber  auf 
den,  von  L.  (S.  195  Nr.  74)  gegen  den  Schluß  von  der  Ausdehnung 
auf  die  Dauer  gemachten  Einwand,  daß  das  fortwährende  Wachsen 
der  Vollkommenheit  der  Geschöpfe  auf  einen  Anfang  der  Welt  hin- 
weise, keine   Rücksicht  von  Cl.  genommen,  sondern  nur  die,   von 
diesem  (S.  160  Nr.  21)  gemachte  Behauptung  wiederholt,  wie  auch 
L.  selbst  o-esast  hätte.   Cl.  geht  bei  all  dem  immer  von  dem  Gedanken 
der  Identifizierung  des  Raumes  mit  der  Gottheit  aus,  indem  er  die, 
damit  in  Verbindung  stehende  beliebige  Vergrößerung  der  Materie 
als  eine,  nur  auf  der  Voraussetzung  der  L.schen  Raumtheorie  stehende, 
weil  von  den  bloß  materiellen  Körpern  abgeleitete  und  daher    nicht 
haltbare  Folgerung  betrachtet.    Wenn  also  L.  (S.  196  Nr.  75)  erklärt, 
daß  mit  der  Zulassung  der  an  sich  bestehenden  Unendlichkeit  des 
Raumes,  sogar  samt  einer  etwa  daraus  auf  die  Ewigkeit  der  Welt, 


156  Job.  Zahlfleisch, 

wie  sie  von  (1  (S.  160  Nr.  21)  zurückgewiesen  wurde,  gezogenen 
Folgerung,  noch  die  Abhängigkeit  einer  solchen  AVeit  von  Gott 
aufrecht  erhalten  werden  müsse,  so  muß  man  ihm  beistimmen,  obwohl 
es  nun  aber  an  sich  möglich  ist,  diese  Abhängigkeit  von  Gott  sowohl 
bei  Annahme  der  Endlichkeit,  als  auch  der  Unendlichkeit  oder 
Ewigkeit  der  Welt  gelten  zu  lassen,  so  hat  Cl.  dennoch  (S.  229) 
gegen  L.  den  Ausspruch  getan,  daß  diese  Angelegenheit  keine  Be- 
ziehung auf  die  angeregte  Frage  habe,  obwohl  Cl.  wissen  mußte,  daß 
die  Annahme  der  Ansicht,  daß  die  AVeit  von  Gott  abhängt,  sich 
der  Vergöttlichung  des  Raumes  durch  Cl.  sehr  annähert.  Alles,  was 
Cl.  bezüglich  seines  Gottes  als  eines  Ortes  der  Dinge  und  der  Ideen 
sagt  (S.  229  Nr.  79—82),  ist  nicht  Ausfluß  eines  bloßen  AA'ortstreites, 
sondern  bloßes  Gleichnis,  während  L.  ohne  Gleichnis  redet. 

Cl.  war  ferner  (S.  161  Z.  5 — 9)  gegen  L.  aufgetreten,  da  dieser 
(S.  149 f  Nr.  29)  Cl.  vorgeworfen  hatte,  durch  die  Annahme,  daß  Gott 
der  Ort  der  göttlichen  Ideen  sei,  ^^iirde  man  zum  Pantheisten.  Cl. 
meinte  dort,  mit  größerem  Rechte  ließe  sich  sagen,  daß  der  Geist  die 
Seele  der  Abbilder  der  wahrgenommenen  Dinge  sei.  Indem  nun  L. 
(S.  197  Nr.  81)  erklärt,  daß  man  hier  umgekehrt  sagen  müsse,  nämlich 
daß  die  Bilder  im  Geiste  sind,  will  Cl.  sich  (S.  229  Z.  29ff.)  damit 
verteidigen,  daß  er  sagt,  Gott  sei  überall  gegenwärtig.  Man  könnte 
aber  dieses  „Überall"  nicht,  wie  Cl.  (Z.  32)  will,  als  den  bloßen  Ort 
nehmen,  sondern  als  den  Inhalt  der  Dinge  in  der  AA^elt  selbst,  was  eben 
den  Leibniz  dazu  brachte,  Cl.  den  Pantheismus  vorzuwerfen,  der 
z.  B.  S.  197  Nr.  82  erwähnt  wird. 

Der  Ausdruck  ,, repräsentatives  Prinzip"  läßt  sich  auch  von  der 
GAL.  akzeptieren. 

Von  einer  fatalistischen  Notwendigkeit  aber  (S.  230  Z.  29)  durfte 
hier  Cl.  deshalb  nicht  reden,  weil  L.  immer  zugleich  den  freien  AVillen, 
der  aber  nezessitiert  ist  durch  göttliche  Vorausbestimmung,  im  Munde 
führt.  Unter  solchen  Umständen  war  es  wohl  nur  ein  reines  Gleichnis, 
wenn  L.  (bei  Cassirer,  Anm.  168)  seine  Lehre  durch  die  des  Epikur 
und  Hobbes  stützt. 

Der  (S.  231  Z.  1—23)  geführte  Streit  ist  schon  deshalb  ein  AVort- 
streit,  weil  die  GAL.  uns  sagt,  daß  die  Tätigkeiten  der  Naturkräfte 
als  uns  unbekannt  nicht  so  ohne  weiters  als  eine,  den  menschlich- 
freiheitlichen entgegengesetzte  zu  behandeln  sind.  Daher  darf  man 
den  Satz  (Z.  11 — 15),  daß  der  Mechanismus  keine  Handlung  im  eigent- 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  15  < 

liehen  Sinne  ist,  nicht  so  ohne  weiteres  gelten  lassen.  Nehmen  wir 
z.  B.  an,  die  geistige  Grundki'aft  setze  sich  aus  denjenigen  Elementen 
zusammen,  denen  die  physikalischen  Kj'äfte  iluTn  Ursprung  und  ihre 
Existenz  verdanken,  dann  ist,  bei  der  Möglichkeit,  daß  jene  Elemente 
ein  ähnliches  Verfahren  bei  ihrer  Überführung  in  diese  heutigen 
physikahschen  lü'äfte  beobachteten,  wie  es  durch  Willenshandlungen 
geschieht,  und  umgekehrt,  daß  unsere  freiheitlichen  Aktionen  mittelst 
solcher  Funktionen  herbeigeführt  werden,  wie  sie  jenen  Elementen  an- 
haften, ich  sage:  dann  ist  keine  Scheidung  im  Cl.schen  Sinne  mehr 
möglich  und  der  von  L.  hinsichtlich  der  Zurückweisung  der  fort- 
während neuen  Handlungsweisen  gebrauchte  Vergleich  mit  den  zwei 
gleichen,  elastischen  Körpern  ist  ganz  zutreffend,  wenn  man  nur  auch 
berücksichtigt,  daß  L.  offenbar  von  dem  methodologischen  Gesichts- 
punkt ausging,  daß  wir  nur  a  posteriori  die  Dinge  für  nicht  neu  nehmen, 
wählend  L.  (S.  202  Nr.  94)  ausdi'ücklich  bemerkt,  daß,  unter  Bei- 
behaltung des  Gesetzes  der  lü'afterhaltung  immerhin  neue  Phänomene 
erscheinen  können.  Unter  dieser  Voraussetzung  behält  dann  auch  CL 
Recht. 

Mit  der  (S.  23  Nr.  98)  von  Gl.  gegen  den  Vorwiu'f  des  Materialismus 
seitens  L.s  gemachten  Hervorziehung  des  Spiritualisnms  ist  der  Streit 
nur  heftiger  geworden. 

Der,  von  Cl.  (S,  144  Nr.  13  u.  14)  vorgetragenen  Ansicht,  daß  die 
tätigen  Ki'äfte  der  Welt  sich  im  Laufe  der  Zeit  vermindern,  so  daß  sie 
dann  wieder  eines  neuen  Anstoßes  durch  Gott  bedürfen,  dessen  Macht 
also  nicht  so  extramundan  zu  nehmen  sei,  wie  dies  von  L.  voraus- 
gesetzt werde,  stellt  L.  (S.  203  Nr.  99)  die  Behauptung  gegenüber, 
daß  wegen  des  Übergangs  der  Stoßbewegung  in  molekulare  nichts  von 
der  Bewegungsb'aft  verloren  gehe.  Indem  Cl.  dies  wohl  von  elastischen, 
aber  nicht  von  unelastischen  Körpern  gelten  lassen  will,  hat  er  (is-.  232 
Z.  lOff.)  eine  Behauptung  ohne  Beweis  aufgestellt,  wie  dies  von 
Cassirer  (Anni.  170)  angenommen  und  dargetan  whd,  weil  es  keine 
vollkommen  unelastische  Körper  gebe.  Da  jedoch  das  Gesetz  der 
Erhaltung  der  Kraft  von  höheren  Faktoren  abhängig  ist  als  bloß  von 
irdischen  Körpern,  so  läßt  sich  heute  in  Rücksicht  auf  unser  Nicht- 
wissen gewisser  unterhdischen  Vorgänge  darüber  kein  Urteil  bilden. 
Die  Annahme  Cl.s,  daß,  im  Falle  der  Nichtannahme  seiner  Ansicht 
bezüglich  des  Kräfteverlustes  bei  nicht  elastischen  Körpern,  das 
Phänomen  bei  elastischen  Körpern  in  doppelt  erhöhter  Stärke  vor- 


158  Joh.  Zahlfleisch, 

kommen  müßte,  scheitert  an  der  Xichtberücksichtigung  der  von  L. 
hervorgehobenen  Tatsache,  daß  die  sichtbare  Bewegung  in  eine 
Molekularbewegung  übergefülut  wird. 

Wenn  Cl.  (S.  232  Z.  22ff.)  L.  und  seiner  Theorie  von  der  Erhaltung 
der  Kraft  (S.  203  Nr.  99  Ende),  aber  nicht  der  Bewegung,  einwendet, 
daß  es  nicht  um  die  grundlegende,  allerdings  immer  gleich  bleibende 
Trägheitsla'aft,  sondern  um  ,,die  relative,  tätige,  treibende  Ivi'aft"  sich 
handle,  die  fortwährend  parallel  der  Bewegung  sei,  so  erscheint  das 
als  ein  Sensualismus,  obwohl  sich  anderseits  unter  den  Kräften  wohl 
ein  Unterschied  machen  lassen  muß.  Die  von  Cl.  (S.  232 f.)  betonte 
Notwendigkeit,  daß  die,  nicht  in  das  Natm'gesetz  einbezogenen  Wider- 
stände und  Reibungen,  z.  B.  die  bei  der  Aufwärtsbewegung  der  Schwere 
stattfindende  Gegenwü'kung,  nicht  in  Anschlag  gebracht  werden 
dürfen,  bildet  eben  den  Streitpunkt,  so  daß  daraus  sowohl  pro  als 
contra  geschlossen  werden  kann. 

Cl.s  Auseinandersetzung  (S.  233  Nr.  100 — 102)  hat  zur  Grundlage, 
daß  die  Abnahme  der  Ivi'aft  kein  Mangel  sei,  weil  die  Bewegung  pro- 
portional dem  Wachstum  der  Materie  abnimmt.  Aber  auf  solche 
Weise  hat  er  doch  wieder  nur  einen  Wortstreit  heraufbeschworen, 
weil  damit  in  der  Tat  der  Erhaltung  der  Ivi'aft,  wie  dieses  Gesetz  von 
L.  gemeint  ist,  das  Wort  geredet  wird. 

Man  kann  es  allerdings  sogar  einen  Vorzug  nennen,  wenn  eine 
Weltordnung  sich  vervollkommnet;  und  wenn  L.  die  von  Cl.  an- 
genommene Nachbesserung  der  Welt  durch  Gott  einen  Mangel  nennt, 
so  kann  man  auch  nichts  dagegen  haben.  Daher  hat  Cl.  (S.  233  Nr.  103) 
sowohl  Recht  als  Unrecht  zugleich.  Insofern  Gott  seinen  Weltenpia ii 
schon  festgesetzt  haben  muß,  bevor  er  die  Welt  erschuf,  mußte  er  auch 
wissen,  wie  viel  Material  er  dazu  brauchte,  und  insoweit  ist  von  einem, 
erst  später  zu  verbessernden  Tun  Gottes  allerdings  nicht  die  Rede. 
Wenn  L.  behauptet,  daß,  insofern  diese  Annahme  stattfindet,  von 
einer  Unendhchkeit  der  "Welt  nicht  geredet  werden  darf,  so  könnte 
man  sagen,  daß  Cl.  offenbar  die  Worte  L.s  (S.  151  Z.  23f.)  falsch  auf- 
gefaßt hat,  da  L.  die  Unmöglichkeit  der  Abnahme  des  Universums 
nur  von  dem  Standpunkte  des  Aufsichbesclu'änktseins  des  letzteren 
gelten  läßt,  also  im  idealen  Sinne,  in  welchem  auch  die  Bemerkung 
Cassirers  Nr.  100  (S.  151)  gehalten  ist. 

Cl.  verwechselt  (S.  234  Z.  15 — 22)  offenbar  wieder  die  von  ihm 
flu-  die  Definition  von  Größe  (§  54)  gemachte  Voraussetzung  mit  der 


Einige  Bemerkungen  zum  Intellektualismus.  159 

von  L.  herrülireiiden.  Man  hat  zu  beachton,  daß  aucli  Ordnungen  in 
Größengestalt  auftreten  können,  obwohl  es  Fälle  davon  gibt,  in  denen 
zu  konstatieren  ist,  daß  jede  Größe  davon  ausgeschlossen  bleiben  muß. 
L.  hatte  behauptet  (S.  206  Z.  33—36),  daß  die  Existenz  Gottes 
und  dessen  Uneinießlichkeit  und  Ewigkeit  von  der  Existenz  der  Dinge 
unabhängig  sei,  so  daß  auch  R.  und  Z.  allenfalls  nur  in  Gedanken  und 
nicht  real  zu  bestehen  brauchen  (S.  206,  29).  Damit  würde  allerdings 
der  Cl.schen  Annahme  der  Realität  nicht  bloß  von  R.  und  Z.  über- 
haupt, sondern  auch  von  Unermeßlichkeit  und  Ewigkeit  wider- 
sprochen und  der  von  Cl.  vorausgesetzten  Erklärimg  der  Sache  ilu- 
Sinn  benommen  (S.  234  Z.  27).  Man  sieht  aber,  wie  leicht  auf  Grund 
bloßer  Worte  der  Intellektualismus  zu  Mißverständnissen  Anlaß  gibt. 
Und  hier  mache  ich  die  Anmerkung,  daß  wir  im  gewöhnhchen  Leben 
nicht  immer  in  der  Lage  sind,  das  förmlich  diu-chzuführen,  w^as  wir 
oft  nur  durch  Verifikation  einer  plötzUch  aufsteigenden  GA.  in  die 
richtigen  Bahnen  zu  leiten  vermögen.  So  schauen  wk  uns  gewöhnlich 
die  Gesellschaft,  vor  welcher  wü*  einer  Meinung  Auscü-uck  geben  Avollen, 
die  Leute,  denen  wü'  etwas  zu  sagen  haben,  genau  an,  bevor  wir  es 
sagen,  wobei  der  Erfolg  dieser  Prüfung,  wie  wü"  unter  der  Devise: 
Menschenkenner,  Taktgefühl  —  bemerken,  uns  in  der  Regel  im  Fluge 
der  Gefühlsreproduktion,  also   wiederum  nur  durch   GA.,  zustande 

kommt. 

Auch  heute  ist  man  noch  vielfach  gegen  die  Ansicht  Cl.s  ein- 
genommen, gemäß  welcher  zwischen  Wunder  und  Natar  ein  bloßer 
Gradunterschied  besteht  (S.  234f.).  Aber  auch  heute  müssen  wir  uns 
davor  hüten,  der  L.schen  Voraussetzung  beizupflichten,  daß  man 
Alles  auszuschließen  habe,  „was  über  die  Natur  der  geschaffenen 
Dinge  hinaus  liegt"  (S.  207  Z.  24f.).  So  spricht  Uphues  (Psychol.  d. 
Erkennens  I  v.  J.  1893  S.  2)  in  einer  Weise,  als  ob  wü*  die  Eigenschaften 
und  damit  das  Wesen  der  Dinge  nur  insoweit  gelten  lassen  dürfen,  als 
„die  Dinge  aus  einem  gesetzmäßigen  Zusammenhange  in  demselben 
Räume  befindlicher  gleichzeitiger  Teile"  und  „die  Vorgänge  aus 
einem  gesetzmäßigen  Zusammenhange,  sei  es  in  demselben,  sei  es  in 
verschiedenen  Räumen  befindlicher,  auf  einander  folgender  Teile" 
bestehen.  Wenn  wir  nämhch  solange  warten  müßten,  bis  die  Kluft 
zwischen  den  bereits  bekannten,  von  Uphues  als  für  die  Erkenntnis 
notwendig  erachteten  Gesetzen  und  denjenigen  ausgefüllt  wäre,  welche 
nach  der  Weltentwicklimg  immer  noch  zu  gewärtigen  sind,  dann  ver- 


im  -loli.  Zahltloisch, 

striche  soviel  Zeit,  daß  uns,  falls  wir  dieselbe  nicht  mit  den,  nur  als 
Lückeul)iißer  im  Sinne  meiner  GAL.  geltenden  GAA.  ausfüllten,  ein 
naturgemäßes  Handeln  ganz  unmöglich  wäre. 

Cl.  stellt  (S.  235  Z.  30—33)  eine  Alternative  bezüglich  L.s  War- 
nung, daß  man  das  Natürliche  mit  dem  Übernatürlichen  in  einen  zu 
engen  Zusammenhang  rückt.  Cl.  meint,  entweder  nehme  L.  zwei 
verschiedene  Prinzipien  in  Gott  an  oder  er  glaube,  ein  Ding  sei  schw^erer 
von  Gott  auszufülu'en  als  ein  anderes.  Und  indem  er  beides  aus- 
schließt, annehmend,  daß  auf  Gott  keines  von  beiden  Anwendung 
finde,  schheßt  er  (S.  235f.):  also  hat  die  Unterscheidung  zwischen 
Natürhchem  und  Übernatürlichem  nm*  eine  relative  und  vereinende, 
keine  dergestalt  trennende  und  absolute  Bedeutung,  wie  sie  L.  be- 
hauptet. Cl.  übersieht,  daß,  wenn  der  Forscher  sich  in  bewußter 
Weise  bei  seinen  Experimenten  fortwährend  von  übernatürlichen 
lü'äften  beeinflußt  wähnte  und  wenn  er  sich  dieses  Zustandes  stets 
erinnern  müßte,  er  zu  keiner  Arbeit  käme.  Dieses  Be^mßtsein  hat 
nun  aber  auch  allerdings  Grade,  deren  Vorhandensein  wir  mit  der 
Existenz  des  Rehgionsfanatikers  und  des  Materiahsten  oder  Atheisten 
versinnbildlichen.  Wenn  Cl.  (S.  236  Z.  3f.)  meint,  L.  nehme  keine 
unmittelbare  Einwü-kung  Gottes  an,  da  wo  es  sich  um  natlü-liches 
Geschehen  handle,  so  ist  auch  das  im  Hinblick  auf  die  Schwierigkeit 
zu  beanstanden,  welche  bei  der  Auslegung  der  prästab.  Harmonie 
besteht.  Wenn  ferner  Wunder  durch  solche  Ursachen  erklärt  werden 
sollen,  die  neben  den  Naturgesetzen  zu  gelten  hätten,  also  in  sekundärer 
Weise,  so  hat  L.  allerdings  (S.  211  §  117)  gesagt,  daß  es  Wunder  gibt, 
welche  aus  Ej-äften  erfheßen,  die  an  die  unserigen  anknüpfen,  jedoch 
solche  sind,  die  neben  dieser  Anloiüpfung  ins  Riesenhafte  wachsen; 
so  glaube  ich  L.s  Bemerkung  (S.  211  Z.  12 — 14)  erklären  zu  müssen. 
Mag  dem  nun  sein,  wie  ihm  wolle,  Cl.  hatte  auch  hier  nicht  das  Recht, 
zu  sagen,  daß  es  außer  diesen  beiden  Fällen  keinen  dritten  gibt. 

Wenn  Cl.  (S.  236  Z.  9 — 18)  glaubt,  es  sei  unvernünftig  von  L., 
über  die  Fernwirkung  absprechend  zu  urteilen,  weil  man  nichts  über 
die  Ursachen  dieses  Phänomens  angeben,  sondern  nur  das  letztere 
damit  bezeichnen  wolle,  so  ist  darauf  zu  erwidern,  daß  es  auch  sehi' 
viel  bei  der  Erklärung  des  AVissens  einer  Sache  auf  den  Wortausdi'uck 
ankommt.  Nm-  unter  dieser  Voraussetzung  gilt  näniHch  das  Kantische : 
Forma  dat  esse  rei. 

Wie  notwendig  es  ist,  daß  man,  wie  die  Lelu-en  aller  Systeme, 


Einige  Bemerkungen  zum   [ntellektualismus.  161 

SO  auch  die  hier  vorgebrachten  als  bloße  Trägh.  zu  nehmen  halje, 
zeigt  sich  ganz  besonders  aus  der  an  sich  nicht  unberechtigten  Ein- 
wendung Cl.s  (S.  237  Z.  9 — 12),  daß  der  Mensch  in  seinen  Handlungen 
traumhaft,  unfrei,  nur  \yie  geschoben  sei.  Aber  man  möge  sich  eben 
auch  das  L.sche  Svstem  als  ein  nur  vorläufiges,  hinkendes  Gleichnis 
denken. 

Es  ließe  sich,  anschließend  an  die  folgenden  Ausführungen  Cl.s 
(insbesondere  S.  239  Z.  11 — 20),  fragen,  wie  es  kommt,  daß  wü*  bei 
dem  von  L.  angenommenen  Mechanismus  der  Welttätigkeit  nicht 
mehr  von  der  Beschaffenheit  der  Natur ki'äfte  wissen  als  heute.  Doch 
vergißt,  wer  so  fragt,  wieder,  daß  L.s  System  nur  ein  idealistisches 
ist,  wobei  L.  gar  nicht  auf  die  Möglichkeit  des  praktischen  Wissens 
der  Menschen,  über  die  sie,  die  Menschen,  bewegenden  Ki'äfte  ein- 
geht. L.s  Ausdruck  (S.  210  Nr.  116),  daß  alles  maschinenmäßig, 
nachdem  es  von  Gott  erschaffen  worden,  sich  abspielt,  muß  als  un- 
vorsichtig bezeichnet  werden;  denn  in  der  Tat  spielt  sich  doch  Alles 
mechanisch  und  dynamisch  (unfrei  und  frei)  zugleich  ab.  Dann  ent- 
fäUt  aber  auch  die  Einwendung  Cl.s  (S.  239  Z.  20—26). 

Was  Cl.  (S.  239  Nr.  117)  gegen  die,  von  L.  (zur  gleichen  Nr.)  er- 
wähnten Abstufung  der  Wunder  sagt,  muß  auf  Grund  des,  von  L.  hier 
vorausgesetzten  Anthropomorphismus  beurteilt  werden.  Cl.  hat 
(S.  240  Z.  17ff.)  Recht,  wenn  er  erklärt,  daß  ein,  noch  nicht  erklärtes 
Phänomen  nicht  als  falsch  bezeichnet  werden  darf.  Insoweit  aber 
dasselbe  mit  Gesetzen,  die  anderweitig  bekannt  sind,  wie  z.  B.  in  dem 
von  L.  erwähnten  Falle  der  nicht  tangentischen  Fortbewegung  eines 
im  Kreise  herumbewegten  und  dann  (S.  212  Nr.  123)  hinausgeschleu- 
derten Körpers,  in  Widerspruch  gerät,  insoweit  ist  das  Phänomen 
falsch.  Alles  kommt  daher  darauf  an,  in  welchem  Grade  die  Ne^tonsche 
Fernwirkung  nach  dieser  Methode  bemieilt  werden  durfte. 

Indem  ich  die  von  Cl.  (S.  240 f.)  noch  weiter  vorgebrachten  Ein- 
wände wegen  wiederholender  Zusammenfassung  früherer  nicht  weiter 
berücksichtige,  glaube  ich,  daß  der  aufmerksame  Leser  meiner  Anti- 
kritik sich  auch  von  selbst  die  von  L.,  wenn  er  es  getan  hätte,  an- 
gewendete, noch  ausständige  Gegenäußerung  wnd  konsti'uieren 
können. 


Archiv  für  Geschichte  der  Phüosophie.    XXVIII.  2.  H 


V. 

Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens. 

Von 
Carl  Fries. 

Die  Beliandlimg  methodologischer  Fragen  wird  ohne  Theorie  und 
Deduktion,  besonders  wenn  Polemiken  hineinspielen,  niemals  aus- 
kommen, und  auch  unsere  vorige  Betrachtung  der  Methodcnlehre^) 
verzichtete  nicht  auf  dieses  Rüstzeug.  Wo  jedoch  wie  bei  Methoden- 
fragen für  den  Ausschlag  alles  von  dem  Grad  ihrer  Bewährung  ab- 
hängen muß,  genügt  ein  konstruktives,  logisch-ableitendes  Verfahren 
wohl  kaum,  wenn  nicht  dem  empfohlenen  Handwerkzeug  auch  Ge- 
legenheit geboten  wird,  sich  über  die  Realität  der  ihm  beigelegten 
Fähigkeiten  gleichsam  am  lebendigen  Objekt,  am  konkreten  Fall 
zu  erproben.  Ein  solcher  konkreter  Fall  soll  hier  nui'  gesetzt  und  das 
Experiment  ziu"  Kontrolle  des  vorher  deduktiv  Beigebrachten  aus- 
geführt werden,  und  zwar  soll  ein  spezielles  geschichtliches  Problem 
als  Prüfstein  für  die  Qualifikation  der  natui'wissenschaftlichcn  Methode 
auf  ihre  Eignung  in  rein  geisteswissenschaftlichen  Fragen  hin  gewählt 
werden.  Wenn  dabei  die  Untersuchung  sich  zu  sehr  in  Einzelheiten 
zu  verlieren  scheint,  so  darf  demgegenüber  die  Wesentlichkeit  exakter 
Durchführung  des  Experiments  f  üi*  die  Probabilität  des  zu  erweisenden 
Satzes  betont  werden. 

Die  älteste  Geschichte  Griechenlands  beginnt  sich  infolge  glück- 
licher Ausgrabungen  immer  mehr  aufzuliellen,  und  den  neuen  Tat- 
sachen folgen  die  neuen  Lehrmeinungen  der  Historiker  auf  dem  Fuß. 
Es  herrscht  aber  Zwiespalt  im  Lager  der  Hellenisten;  glauben  die 
einen  noch  an  der  alten  Lehre  festhalten  zu  sollen,  die  griechische 
Kultur  sei  autochthon,  so  meinen  die  anderen,  wie  überall  in  der 
Natur  sei  hier  Stein  auf  Stein,  Stufe  auf  Stufe  geschichtet  worden, 


1)  Diese  Zeitschrift  Band  XVI  Heft  4. 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  163 

sei  die  Gesamteinwirkuiig  der  lu'alten  orientalischen  Kiiltiirstaaten 
mit  ihi-er  staunenerregenden  Zivilisation  für  Hellas  von  entscheidendem 
Einfluß  gewesen.  Der  Streit  tobt  seit  einigen  Jahren  hin  und  her, 
und  der  Marbiu-ger  Assyriologe  P.  Jensen  hat  mit  seinen  Thesen 
zur  Honi.erforschimg  im.  Lager  der  altgläubigen  Philologen  einen 
Stm-m  der  Entrüstung  hervorgerufen,  während  sein  freies  Wagnis 
im  anderen  Lager  m.it  großer  Genugtuung  aufgenommen  wurde. 
Nehmen  wir  den  Fall  einmal  als  Schulbeispiel  imd  stellen  wir  die 
Frage,  kann  vom  Standpunkt  entwicklungsgeschiclitlicher,  biologischer 
Betrachtung  ein  kultm'elles  Autochthonentum  der  hellenischen  Bildung 
zugestanden  werden,  wenn  fast  rings  um  das  Ländchen  die  zeugungs- 
kräftigsten, reifsten  Kultur'en  das  junge  Volkstum  umgaben?  Ist 
der  Prozeß  der  Kultm'mischung  weniger  ein  gesetzmäßiger  Natur- 
vorgang als  etwa  die  Oxydation  der  Metalle  oder  andere  chemische 
Vorgänge?  Doch  lassen  wh  die  allgemeinen  Betrachtungen,  und 
mögen  die  Tatsachen  nun  für  sich  selbst  reden. 

AVilam.owitz  beginnt  seinen  Überbück  über  die  griechische  Lite- 
ratm- mit  den  lapidaren  Worten:  „Die  griechische  Literatur  ist  die 
einzige  unserer  Kulturwelc,  die  sich  ganz  aus  sich  selbpf  entwickelt 
hat",  denen  nichts  hinzuzufügen  ist.  Im  Kydathen  40  behauptet 
er,  die  keusche  Rehgion  Hom.ers  sei  dm'ch  semitischen  Götzendienst 
geschändet  worden.  Ach  der  keusche  Homer!  Die  fromme  Helene 
möchte  man  zitieren !  Die  alten  lonier  dachten  anders !  Wie  schänd- 
lich verleumdet  Xenophanes  die  Dichter:  :;ravTa  d-soto  drtthijxccv 
OltrjQog  d-'  Holodog  ra  öooa  Jiag  avd^QOJjioiOL  (rrsiÖea  xccl  ipoyog 
toriv,  x/.tstT£ip  iJor/ev£(v  ts  xcu  älhJAovg  djtarEvsiv  (fr.  11  Diels 
Vorsoki-.  vs.  12).  Wieviel  maßvoller  und  richtiger  dagegen  Christs 
Urteil  in  der  griechischen  Literatm'geschichte  413,  1:  ,,Ich  bin  ein 
Fremdling  in  der  Assyriologie,  aber  der  Einsicht  in  offenbare  Wahrheiten 
darf  sich  niemand  verschHeßen"  usw.  Während  die  klassische  Philologie 
sich  nun  fortgesetzt  ablehnend  verhielt,  begann  die  orientalistische 
Forschimg  ihrerseits  Eroberungszüge  zu  unternehm.en,  gleichzeitig 
regten  sich  Anthropologie,  Ethnologie  und  Sprachvergleichung,  so  daß 
die  Frage  nach  ältesten  Völkerzusammenhängen  immer  dringhcher 
wurde.  Man  ging  von  Fall  zu  Fall,  jeder  bückte  von  seinem  begrenzten 
Studiengebiet,  soweit  das  Auge  über  die  Grenze  reichen  woUte.  Ver- 
nachlässigt aber  büeb  die  Erwägung,  daß  hier  naturwissenschaftüche 

11* 


164  Carl    Fries, 

Methode  anzuwenden  sei,  daß  die  Yülkerorganismen  wie  Gruppen 
des  NatiuTeichs  verglichen,  ko-  und  subordiniert  werden,  und  vor 
allem  in  einen  großen  übergeordneten  Zusammenhang  eingereiht 
werden  müßten.  Gewiß  wurde  der  Gedanke  wohl  gehegt  und  wohl 
auch  ausgesprochen,  zu  der  Herrschaft  aber,  die  ihm  gebührt,  ist  er 
nicht  gelangt.  Unbedingt  gebührt  ihm  die  Suprematie  —  unbedingt 
muß,  wie  in  den  übrigen  Wissenschaften,  auch  hier  das  Be\Mißtsein 
von  der  Evolution  diu'chdringen,  müssen  die  Methoden  der  ent- 
wicklungsgeschichtüchen,  biologischen  Forschung  auch  fiU-  den  Werde- 
gang der  Völker  und  ihrer  Gruppierungen  Platz  greifen.  In  hundert 
und  tausend  Experimenten  hat  das  Verfahren  der  exakten  Forschung 
sich  bewährt  und  der  staunenden  Welt  ein  beispielloses  Staunen 
abgerungen;  unerhört  und  durchweg  umwälzend  in  jeder  Beziehung 
waren  die  Errungenschaften  dieser  AVissenschaften ;  sie  haben  unserem 
ganzen  Lel)en,  unserem  ganzen  Denken  und  Vorstellen,  unserer  ge- 
samten Philosophie  und  Kultur  ihren  lu'eigenen  Stempel  aufgediiickt, 
keine  Seite  des  geistigen  Lebens  blieb  von  ihr  unbeeinflußt ;  die  Wissen- 
schaften haben  ihr  ihre  Methoden  abgelauscht  und  sich  nicht  zu  ihrem 
Schaden  danach  gerichtet.  Man  wird  nicht  für  die  klassischen  Philologen 
eine  so  extreme  Ausnahmestellung  beanspruchen,  auch  ihr  Schaffen 
wird  sich  dem  allgemeinen  Gesetz  unterwerfen,  die  bewährte  Norm 
anerkennen  müssen.  Diese  jedoch  bedingt  einen  ausgesprochenen 
Sinn  für  die  allen  Einzelerscheinungen  zugxunde  hegende  Einheit, 
die  auch  im  Völkerleben  nicht  als  die  letzte  MögHchkeit,  sondern 
als  die  apriorische  Voraussetzung  gelten  sollte.  Es  gibt  doch 
nichts  natürlicheres,  als  daß  Völkerschaften,  die  gleichsam 
organisch  neigen  einander  imd  mit  einander  aufwachsen,  nicht  ohne 
Einfluß  auf  einander  geblieben  sein  werden.  Man  denke  mu'  an  die 
Zellen  und  Gewebe.  Wie  da  eine  Existenz  neben  der  anderen  sich 
ent^vickelt,  eine  der  anderen  ähnlich,  der  anderen  verwandt,  der 
anderen  verschwistert  oder  verschwägert,  so  sollte  man  doch  auch 
die  großen  Komplexe,  die  so  gTuppenweise  beieinander  liegen,  mit 
einer  gewissen  Selbstverständlichkeit  als  auf  einander  ange^\^esen 
und  verwandt  betrachten,  mindestens  aber  die  MögHchkeit  gegen- 
seitiger Beeinflussung  zulassen.  Statt  dessen  baut  man  eine  gToße 
Völkerfamilie  auf  und  in  der  Mitte  als  Waisenkind,  ohne  Verwandte, 
ohne  fördernde  Freunde,  erscheint  Hellas.  In  so  dürftigem  Aufzug 
läßt  man  die  feinste  Blüte  der  Völkermischung  auftreten,  weil  man 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  165 

den  älteren  Schwestern  den  bildenden  Einfluß  auf  die  jüngere  nicht 
gönnen  mag.  So  entsteht  ein  Zerrbild  auf  jedes  organische  "Werden, 
das  die  geschichtliehe  Erkenntnis  hemmt  imd  seinen  Zweck,  den 
Ehrensockel  des  Griechentum.s  zu  erhöhen,  nimmermehr  erreicht. 
Aber  immer  wieder  muß  der  Bastiansche  Völkergedanke  herhalten, 
wenn  m.an  eine  Übertragung  nicht  zugeben  will.  Wie  energisch  hat 
schon  Lehrs  auf  die  Kontinuität  der  Kultm*  hingewiesen  (Pop.  Aufs. 2 
463  f. ).  Auch  Ratzel  sprach  es  aus,  daß  überall  mit  Entlehnungen  zu 
rechnen  sei  ( Anthropogeographie  II,  725  ff.).  Eine  Urzeugung  sei 
auch  auf  diesem  Gebiet  nicht  nachweisbar.  Man  wird  stets  auf  biologi- 
sche Analogien  zmiickgeführt.  Auch  Schui'tz  in  seinem  Werk  (52  ff.) 
trat  für  allgemeinen  Kulturzusammenhang  ein  und  wies  gut  darauf 
hin,  daß  die  Menschheit  im,  ganzen  einen  entschiedenen  Ideenmangel 
an  den  Tag  lege,  daß  überall  Nachahmung  auftrete,  neue  Erfindung 
jedoch  höchst  spärlich  zu  finden  sei  (56).  Sehen  wir  doch  auf  unsere 
erleuchtete  Zeit,  in  der  es  nicht  besser  bestellt  ist.  Selten  sind  die 
neuen  Gedanken,  auf  Nachahmung  des  Vorhandenen  und  ganz  ge- 
ringen Abwandlungen  beruht  aller  Fortschritt.  Das  folgende  Glied 
klemmt  sich  zunächst  ängstlich  an  das  ältere,  tut  himdert  Bewegungen 
auf  dieses  gestützt,  ehe  es  einen  selbständigen  Schritt  wagt.  Wie 
gründlich  ist  jeder  Fortschritt,  auf  welchem  Gebiet  es  auch  sei,  vor- 
bereitet. Und  was  den  Orient  betrifft,  sagt  der  Orient  uns  heut  nichts 
mehr?  Man  mustere  unser  Kunstgewerbe,  unsere  Kunst,  und  man 
wird  z.  B.  ein  starkes  Band  zwischen  Japan  und  Paris,  zwischen  ost- 
asiatischer imd  europäischer  Maltechnik  u.  a.  finden,  wie  Osborn 
das  im  letzten  Band  von  Springers  K\instgesehichte  so  hübsch  aus- 
führt. Wohin  wäre  es  mit  unserer  stolzen  Neuzeit  gekommen,  wenn 
der  Orient  nicht  Kompaß,  Pulver  und  Druck  beigesteuert  hätte. 
Rembrandt  hatte  in  seinem  Atelier  orientalische  Muster,  und  daß 
das  Mittelalter  auf  den  Osten  blickte,  würd  hoffentlich  bald  Gemeingut 
der  Wissenschaft  sein.  Von  modernen  Versuchen,  die  Kultur  aus  der 
Gegend  des  Nordpols  herzuleiten,  wollen  wir  lieber  schweigen.  Von 
komischen  Episoden  ist  keine  Wissenschaft  frei.  Für  den  großen 
Zusammenhang  kämpft  seit  langem  verdienstvoll  Otto  Gruppe 
(Griech.  Bei.  u.  Myth.  719  u.a.).  Er  sagte,  die  Vererbimgstheorie 
könne  man  für  die  mythologischen  Zusammenhänge  der  Indogermanen 
nicht  heranziehen,  aber  es  sei  möglich,  ,,daß  auch  nach  ihrer  Trennung 
Inder,   Griechen  und   Germanen  zu  denselben   Religionsform.en  ge- 


166  Carl    Fries, 

langen  konnten,  indem  sie  sich  dieselljen  von  außen  her  aneigneten" 
(Kulte  u.  Mythen  I,  151).  Er  behauptet,  die  Völker  seien  in  ältester 
Zeit  religionslos  gewesen  und  erst  von  einem  Kulturzentrum  aus  sei 
ihnen  Mythos  und  Religion  iil)erliefert  worden.  Dieser  Standpunkt 
entspricht  durchaus  der  Biologie.  Der  der  Tierwelt  entsprossene 
Mensch  ist  natürlich  zuerst  religionslos  in  höherem  Sinn,  imi  alles 
Mystische  und  Philosophische  zunächst  einmal  auszuschalten.  Im 
Laufe  seiner  Entwicklung  gelangt  er  ziu-  Erleuchtung  und  höchsten 
"Weltanschaimng.  Von  einem  Punkt  verbreitet  sich  jedes  Licht  dami 
in  den  AVellenformen  der  Kulturwanderung  über  die  Erde.  Man 
kann  diese  Konsequenz  in  Gruppes  Adaptationismus  nur  bewundern, 
und  wenn  man  ihn  auch  z.  T.  tendenziös  angegriffen  hat,  so  ist  die 
Wissenschaft  seines  .Verdienstes  doch  längst  inne  geworden.  So  sagt 
z.  B.  W.  Golther  in  der  Germanischen  Mythologie,  daß  die  Annahme 
von  einer  Entlehnung  gerade  auf  religiösem  Gebiet  ungemein  viel 
für  sich  habe  (36).  Die  Völker  waren  auch  nach  seiner  Ansiebt  in 
ältester  Zeit  nicht  so  getrennt,  wie  man  gewöhnlich  annimmt.  Biologisch 
richtiger  muß  es  heißen:  Sie  hatten  sich  von  einander  getrennt,  geteilt 
wäe  Protoplasmen  imd  trugen  die  Signatm-  innerer  Verwandtschaft, 
so  lange  sie  existierten,  an  sich.  Wie  die  Kulturpflanzen  und  Haus- 
tiere nach  Hehn,  wanderten  die  Ideen  von  einer  Zone  über  die  Erde, 
wie  das  schwerfällige  Mammut  oder  Nashorn  bis  zum  äußersten 
Norden  hinaufzogen.  Hugo  Winckler  hat  sich  einmal  sehr  treffend 
hierüber  ausgesprochen.  Da  die  indogermanischen  und  semitischen 
Sprachen  nicht  m.it  einander  ,, verwandt"  waren,  sagt  er  in  der  Kritik 
über  Bolls  Sphära  (Krit.  Sehr.  III,  75),  so  konnte  auch  keine  weitere 
Beziehung  zwischen  den  Völkergruppen  bestanden  haben.  Denn  alles 
Geistesleben  hatten  sie  aus  sich  entwickelt,  alles  war  überall  auf  der 
Erde  immer  wieder  von  neuem  herausgebildet  worden.  Die  alten 
Völker  hatten  keinen  Verkehr  mit  einander,  da  Schienen  und  Dampfer 
ihnen  fremd  waren.  Die  Ethnologie  hatte  längst  den  Völkerverkehr 
als  höchst  rege  erwiesen,  aber  die  Ethnologie  war  keine  Wissenschaft, 
nur  Dilettanten  beschäftigten  sich  mit  ihr.  Man  nmß  die  trefflicher, 
hier  nicht  wörtlich  zitierten  Ausführungen  selbst  nachlesen.  S.  76 
sagt  er:  „Nicht  Entstehung  auf  allen  Punkten  der  Erde,  sondern 
Entlehnung,  so  heißt  jetzt  die  Formel". 

Lefmann  sagt  in  seiner  Geschichte  Indiens  10,  es  sei  ein  histori- 
sches Gesetz,  daß  die  großen  Einflüsse  der  Kulturen  erst  spät  ein-  || 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  167 

gesehen  würden.  Erst  neuerdings  sei  z.  B.  erkannt  worden,  daß  der 
Einfluß  der  Ai'aber  bis  nach  Canton  und  Sumatra  gereicht  habe. 
Man  könnte  dasselbe  von  den  arabischen  Einwirkungen  auf  das 
mittelalterUche  Eui'opa  sagen,  auf  den  Burdach  neuerdings  hinwies 
(Sitzungsber.  Berl.  Ak.  Wiss.  1904,  900j.  Die  Griechen  wußten  von 
einem  historischen  Gesichtspunkt  bitter  wenig.  Es  wäre  interessant 
und  äußerst  lehrreich,  einmal  ihr  Schrifttum  daraufhin  durchzugehen. 
Bei  uns  war  die  dogm.atische  Handhal)ung  der  Wissenschaften  un- 
endlich lange  in  Blüte,  später  erfand  man  eine  philosophische  Gram- 
matik, Philosophie  der  Sprache  usw.,  bis  schließlich  der  historische 
Gesichtspunkt  gefunden  wurde.  Ähnlich  war  es  in  der  Theologie  bis 
auf  die  Tübinger,  im  Recht  bis  auf  Savigny  usw. 

Es  ist  leicht,  eine  kleine  Auslese  von  Anzeichen  der  Beeinflussung 
und  des  Kidtm-zusammenhangs  anzuführen.  Um  erst  einen  Augea- 
blick  bei  neueren  Zeiten  zu  verweilen,  in  denen  sich  das  handgreiflicher 
nachweisen  läßt,  wie  kam.  es,  daß  im  18.  Jahrhundert  der  Brite,  der 
Italiener  und  ebenso  der  gute  Deutsche  sich  mit  Zopf  und  Perrücke 
kleideten?  Das  war  gewiß  ein  Völkergedanke,  eine  generatio  aequivoca 
in  allen  Staaten  Emopas.  Oder  war  es  Nachahmung  Franki'eichs? 
Doch  beim  Zopf  blieb  es  nicht,  auch  nicht  beim  Alexandriner  und  di'ei 
Einheiten  und  dem  Inhalt  der  gesamten  Kunst,  das  ganze  Denken  und 
Philosophieren  der  Zeit  war  aufklärerisch,  rationaüstisch  nach  gleichem 
Geschmack.  Und  von  unserer  modernen  Kunst,  ob  naturalistisch 
oder  symbolistisch  oder  neuiomantisch,  beruht  vieles  wieder 
auf  westlichen  Vorbildern.  Die  beginnende  Erschließung  Ostasiens 
machte  sich  in  unserer  Ai'chitektur  und  Malerei  deutlich  bemerkbar. 
j\Ian  subtrahiere  doch  einmal  aus  der  Kultur  irgend  eines  Landes  der 
Erde  alles,  was  an  seiner  Kultur  nicht  eigenes  Gewächs,  sondern 
Im.port  ist,  und  es  wird  bei  genauer  Prüfmig  nicht  viel  übrig  bleiben, 
ob  man  die  Hilfsmittel  des  täglichen  Gebrauchs  oder  des  geistigen 
Lebens  heranzieht.  AVenn  man  bedenkt,  daß  die  Kultm'  eigentlich 
von  jeher  auf  dem  Austausch,  dem  Vergleich,  dem  Wettbewerb,  dem 
freien  Spiel  der  Kräfte  beruhte,  so  erscheint  das  ganz  natürhch.  Kultm- 
bildete  sich  da  aus,  wo  der  Handel  blühte,  wo  der  Kaufmann  die 
.Waren  seiner  Heimat  als  Tauschartikel  feilbot.  Nicht  das  Binnen- 
land, sondern  die  Küsten,  nicht  die  einsanien  Höfe,  sondern  die  Knoten- 
punkte der  Karawanensiraßen,  nicht  das  flache  Land,  sondern  das 
Gewühl  der  Städte  waren  es.  wo  aus  dem  Austausch  der  Produkte 


1G8  Carl    Fries, 

sich  Industrie,  Gewerbflcilä,  Wohlhabeiilunt  und  Kultur  einstellten. 
Aus  der  Inzucht  der  Aboeschlossenheit  eroaben  sich  nur  Blutarmut 
und  Niedeigano-.  AVie  der  Boden  um.  so  fruchtbarer  wird,  je  nach- 
di'ückliclun-  man  mit  Pflug  und  Eg'ge  seine  Schollen  dmcheinander- 
schüttelt,  so  auch  mit  den  Völkern.  Sparta,  das  sich  isolierte,  blieb 
im.mer  die  Provinzialstadt;  Athen,  die  Zentrale  des  Weltverkehrs, 
blieb  auch  eine  geistige  Hauptstadt  der  Welt.  Die  Landstadt  Rom., 
von  Pfahlbürgern  und  respektvollen  Philistern  bewohnt,  bedeutete 
der  Welt  zehnmal  w^eniger,  als  jede  beliebige  Stadt  Großgriechenlands; 
als  es  die  Griechen  bei  sich'  aufnahm,  trotz  Catos  Zorn,  begann  es 
Caput  mundi  zu  werden.  Und  Ähnliches  gilt  von  anderen  Staaten 
auch.  Also  gerade  der  Güteraustausch  ist  das  Belebende,  Fördernde, 
so  daß  man,  wo  starke  Produktivität  auftritt,  auf  vorgängigen  starken 
Umsatz  zu  schließen  haben  wird.  Das  physiologische  Analogon  der 
Blutverdünmmg  durch  Inzucht  ist  hier  auch  am  Platz;  also  auf 
möglichste  Promiskuität  aller  Güter  auf  stärksten  Umsatz  kommt  es 
an;  Inzucht  hindert  das  Gedeihen,  Zuchtwahl  und  Auslese  schützen 
das  Ganze  vor  üblen  Folgen  verwildernder  Promiskuität.  Auf  diese 
Form.eln  lassen  sich  alle  gemeinsamen,  staatartigen  Gebilde  bringen, 
von  der  niederen  organischen  Welt  bis  herauf  zm-  modernen  National- 
ökononüe.  Freilich  was  ist  dem.  Philologen  diese  Hekuba?  Nie  hat 
er  sich  viel  um  die  Dinge  seiner  ,,Welt"  gekümmert.  Für  biologische 
und  nationalökonom.ische  Dinge  war  er  niemals  interessiert.  Aber 
die  Wissenschaft  von  Hellas,  einem  der  gewaltigsten  Kulturfaktoren 
der  Menschengeschichte,  geht  doch  nicht  die  Philologen  allein  an, 
Griechenland  oder  vielmehr  Athen,  die  veilchenbekränzte,  dämonische 
Stadt,  hat  für  die  ganze  Menschheit  gearbeitet,  jeder  von  uns  ist  von 
Athen  beschenkt  worden  und  hat  die  Pflicht  des  Dankes,  die  er  nicht 
anders  abstatten  kann,  als  durch  hingebende  Liebe  und  innigen  Anteil 
an  der  Blüte  der  heiligen  Polis.  Sollte  der  Philologe  da  das  Recht 
haben,  die  gesunkenen  langen  Mauern  durch  eine  chinesische  Mauer 
des  Banausentums  zu  ersetzen  und  die  Dornenhecke  einer  rückständigen 
Methode  um  sie  zu  pflanzen?  Das  Phänomen  Attika  gehört  mitten 
in  den  Strom  der  Biologie,  von  allen  Seiten  muß  es  beleuchtet,  zu 
jeder  Welterscheinung  in  Beziehung  gesetzt  werden.  Mit  tausend 
Fäden  an  Athen  gebunden  hat  der  Mensch  die  wissenschafthche 
Pflicht,  alle  Pfade,  die  dorthin  führen,  zu  erkunden  und  für  immer 
gangbar  zu  erhalten.     Alle  Strahlen  der  Entwicklung  schnitten  sich 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  169 

im,  Hafen  Athens,  alle  Kiütm-potenzen  drängten  sich  in  die  Erechtheiis- 
stadt,  nni  von  dort  gesteigert  und  erhöht  in  die  Welt  zurückzukehren 
und  die  hohe  Botschaft  von  der  großen  Metropolis  allen  Landen  zu 
melden.  Und  wir  sollten  das  Recht  haben,  dieses  gewaltige  Netz  von 
Beziehungen  zu  zerreißen?  Alle  Wissenschaften  waren  einmal  in 
Athen  angesiedelt,  jede  soll  den  Weg  nach  Athen  siu*hen  und  ihre 
historischen  Beziehungen  für  die  Magna  m.ater  erkunden,  jede  ihr 
Licht  auf  sie  werfen,  bis  sie  von  allen  Richtungen  bestrahlt  plastisch 
vor  uns  steht. 

Und  doch  gab  es  auch  vor  Athen  Ki-ystallisationspunkte  der 
Kultm".  Die  Amarnabriefe  zeigen,  daß  in  einer  viel  früheren  Zeit 
die  Keilschriftsprache  den  Weltverkehr  beherrschte.  Die  Pharaonen 
wie  die  Mitanikönige,  die  Herren  von  Assiu-  und  Bal)el,  wie  die 
Chetafürsten  verstanden  sie  und  wechselten  ihre  Briefe  in  diesen 
Zeichen,  ja  auf  Kypros  und  Kreta  (?)  hat  m.an  Tontafeln  mit  diesen 
Ideogram.men  gefunden.  Wer  will  noch  leugnen,  daß  ein  Weltverkehr 
im  3.  und  2.  vorchristlichen  Jahrtausend  bestand?  Die  Wincklerschen 
Funde  in  Boghazköi  haben  die  Zone  dieser  Kultiu  noch  erweitert. 
Die  großen  Reste  der  Heerstraßen  und  sonstigen  Verkehrsmittel 
zeigen,  daß  die  Verbindungen  der  Völker  schon  in  ältester  erreichbarer 
Zeit  ungemein  ausgebildet  waren.  Das  Buch  von  W.  Max  Müller, 
„iVsien  und  Europa",  stellt  eine  Fülle  von  Beziehungen  beider  Erd- 
teile dar.  In  prähistorischer  Zeit  schon  war  der  Süden  der  gebende 
Teil.  Die  Mittelmeervölker  z.  B.  lernten  das  Metall,  wie  E.  Pernice 
in  Lehnerts  neuer  ,, Geschichte  des  Kunstgewerbes"  I  47,  bem.erkt, 
früher  kennen  als  das  nördliche  Eiu-opa,  und  Vorderasien  und  das 
Niltal  kannten  Metallarbeit  schon  lange  vor  den  Mittelmeerländern. 
Im  Innern  Afrikas  besteht  z.  Z.  noch  die  Steinzeit,  da  es  eben  am 
Austausch  und  Verkehr  mangelt.  Zur  Zeit  der  zwölften  Dynastie 
bestand  zwischen  Ägypten  und  der  ägäischen  Kultur  ein  reger  Aus- 
tausch (ib.  53)\).  Die  Steinschneidekunst  hat  sich  nach  Pernice  (58) 
der  sich  übrigens  dm-chaus  nicht  etwa  als  warmer  Anhänger  der 
Entlehnungstheorie  zeigt,  von  Babylonien  aus  über  Vorderasien  bis 
zu  den  Griechen  verbreitet.     Die  assyrischen  Steine  sind  prunkvoll 


1)  In  hellenistischer  Zeit  dagegen  hat  das  alte  Ägypten  von  der  jüngeren 
Kultur  der  Sieger  so  gut  wie  nichts  angenommen.  S.  Wiedemann  Melanges 
Nicole  561. 


170  Carl    Fries, 

im  Fonnenvortrag,  bei  den  Hethitern  waltet  das  Ornament  vor, 
die  persischen  Produkte  sind  kraftlos  und  nüchtern,  aber  „alle  zehren 
in  den  Darstellunoen  von  dem  Erbe  der  babylonischen  Kunst"  (58). 
]n  der  höchsten  Stadt  des  Hügels  vom.  Hissarlik  ist  ein  starker  hnport 
kretisch  -  niykenischer  Kunst  Ijemerkbar,  der  eine  einheimische 
Produktion  zu  lebhafter  Konkurrenz  anstachelte  (65).  In  der 
Technik  zeigt  sich  die  mykenische  Kunst  von  Babylon  l)eeinflußt, 
wenn  sie  auch  in  der  Ai"t  der  Darstellung  dann  eigene  Wege  geht  (73). 
Die  Bereitung  der  Fayencen  lernten  die  Kreter  von  den  Ägyptern  (81 ). 
AVie  auch  der  frühattische  Vasenstil  dem  Orient  verpflichtet  ist, 
stellt  Pernice  sehr  plausibel  dar  (84).  Auch  die  Bronzetechnik  empfing 
von  Osten  her  ihre  Anregungen  (109),  ebenso  wie  die  Goldschnüede- 
kunst  (118  f. ).  Daß  es  auf  anderen  Gebieten  nicht  viel  anders  stand, 
ist  ein  naheliegender  Schluß.  Leider  ist  die  Kunst  des  flüchtigen 
AVorts  und  Klangs  nicht  in  so  vielen  Überresten  zu  verfolgen  wie  die 
des  Meißels  oder  Töpferrades  sonst  würde  man  auch  hier  Wunder 
erleben.  Aber  die  Sprachen  Kleinasiens  sind  leider  großenteils  unter- 
gegangen, teils  aber  in  noch  unentzifferten  Alphabeten  geschrieben. 
AVenn  dieChetasprache,  dieLykischen  u.  a.  Inschriften  einmal  gedeutet 
sein  werden,  ist  noch  mancher  Aufschluß  zu  erwarten. 

Auch  die  indo-iranische  Kultur  schloß  sich  nicht  gegen  die  Außen- 
welt ab,  im  zweiten  Jahrtausend  stand  Indien  schon  im  AVeltverkehr 
(0.  Francke,  ZDMG  1893,  595  ff.)  Es  hatte  seine  Beziehungen  zu 
Bäveru,  d.  i.  Babylon  wohl  nicht  erst  in  der  Zeit  der  Jatakam  (ib.  606), 
wie  denn  auch  seine  Küstenschiffahrt  spätei"  jedenfalls  Ijeträchtlich 
war  (608).  Auch  über  frühe  Reisen  indischer  Kaufleute  erfährt  m.an 
einiges  (K.  E.  ?veumann.  Reden  Buddhos,  II  548,  Bühler,  Crrund- 
riß  I,  II,  5).  In  astronomischer  u.  a.  Beziehung  hängen  die  Inder  von 
Babylon  al),  dem  sie  auch  sonst  verpflichtet  sind  (s.  Eckstein  in 
AVebers  Ind.  Stud.  II  369,  der  auch  den  altorientalischen  AVeltverkehr 
betont).  Umgekehrt  zeigen  die  Darstellungen  in  Indien  heimischer 
Tiere  auf  dem  Obelisken  von  Niniveh  (Lefm.ann,  Ind.  Gesch.  2 )  und 
die  von  Winckler  in  Chetareich  entdeckten  indischen  Götternamen, 
daß  die  Kunde  vom,  Fünfstromland  frühzeitig  weit  nach  AVesten 
fijedrungen  war.  Im  Mittelaltar  wirkt  Indien  faszinierend  auf  den 
Okzident,  nicht  nur  seines  Reichtums  wegen,  und  noch  unsere  ver- 
gleichende Sprachwissenschaft  ist  der  indischen  zu  Dank  verpflichtet 
(Schröder,  Indiens  Kultur  u.  Litt.  701).  Aber  sowie  v<in  Griechenland 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  171 

die  Rede  ist,  heißt  es  immer,  die  Entfernungen  seien  viel  zu  groß, 
die  Wege  viel  zu  weit  gewesen,  als  ob  die  Kultur  nicht  Meere  durch- 
schwömmen und  Wüsten  und  Felsenkämme  überflogen  hätte.  Man 
bedenke  nur,  welche  Länderstrecken  die  Fabel,  die  Novelle,  der 
Schwank  usw.,  Indiens  durchwandert  haben  (vgl.  Mailath  Magyar. 
Sagen  279  u.  G.  Jacob,  Östhche  Kulturelemente  im  Abendland,  1912, 
eine  sehr  inlialtreiche  Schrift). 

Eine  chinesische  Weltkarte  weist  merkwürdige  Übereinstimnumg 
mit  der  von  Peiser  (Z.  Ass.  IV  360 ff.)  veröffentlichten  babylonischen 
Weltkarte  auf  (W.  Schultz,  Altjon.  Mystik  149).  Die  Theorie  von 
der  chinesisch-babvlonischen  Verwandtschaft  gewinnt  neuerdings 
immer  m.ehr  Anhänger  (s.  Richthofen,  China  I  404 ff.);  man  wird 
natürhch  an  indische  Vermittlung  glauben,  für  die  denn  auch  An- 
zeichen in  reicher  Fülle  vorhanden  sind.  Die  Sprache,  die  vertikale 
Schrift,  die  Mythologie  u.  a.  weisen  deutlich  auf  Vorderasien  hin. 
Das  wäre  alles  an  sich  gar  nicht  so  merkwürdig,  benachbarte  Völker 
würden  sich  kulturell  immer  beeinflussen.  Ganz  etwas  anderes  ist  es, 
wenn  zwischen  zwei  solchen  Ländern  ein  Weltmeer  wie  der  stille 
Ozean  liegt.  Es  ist  gelungen,  sagt  P.  Ehrenreich  (Zeitschr.  f.  Ethnol. 
1908  Supplbd.  S.  3),  „den  engen  Zusammenhang  der  nordasiatischen 
Mythen  mit  der  nordwestamerikanischen  endgültig  siche^  zu  stellen 
und  so  die  ethnologische  Kluft  zwischen  der  alten  und  neuen  Welt 
in  einer  wichtigen  Beziehung  zu  überbrücken".  S.  77  bringt  er  ,, asiati- 
sche Sagenelemente  in  Amerika'"  ])ei;  man  muß  das  bei  ihm  selbst 
nachlesen,  um  von  der  Richtigkeit  dieser  Theorie  völlig  überzeugt 
zu  werden  (vgl.  auch  34).  Die  polynesischen  Zwischenglieder  weist 
Ratzel  auf  (Anthropogeogr.  576,  581,  583:  vgl.  auch  Wuttke,  Gesch. 
d.  Heident.  §  185;  Zöckler,  Gesch.  d.  Askese  I  86  Amn.).  An  eine 
amerikanische  Urmenschheit  wird  man  bei  dem  Verhältnis  des  Menschen 
zu  Platyrrinen  und  Katarrinen  nicht  denken,  wohl  aber  an  Üljer- 
tragimg  aus  Ostasien  über  das  Inselreich  des  großen  Ozeans.  Auf 
Einzelnes  müßte  unten  noch  zurückgekommen  werden. 

Wenn  aber  die  Kultur  von  Vorderasien  in  östlicher  Richtung 
den  gewaltigen  Kontinent  von  Mittel-  und  Ostasien  mit  seinen  un- 
geheuren natiü-lichen  Hindernissen,  Wüsten,  Steppen,  Gebirgsmauern 
u.  a.  überschritten  hat,  und  sogar  in  letzten  Ausläufern  üljer  den 
gi'oßen  Ozean  ging  und  Amerika  streifte,  wird  man  ihr  wohl  zutrauen 
dürfen,    daß   sie  von   Mesopotamien    etwa    durch   Kleinasien  nach 


172  Carl    Fries, 

(jriechenlaiicl  kann.  Es  wäre  lächorlicli,  das  l)estreiten  zu  wollen. 
Man  vergleiche  nnr  eimnal  anf  der  Karte  die  Ijeiden  "Wege.  Die  natür- 
lichen Hindernisse  sind  hier  gar  nicht  größer  als  dort,  vielmehr  weit 
geringer.  Außerdem  gestattete  die  für  jeden  Austausch  gleichsam 
prädestinierte  Küstenformation  der  Levante  und  Ostgriechenlands 
eine  viel  schnellere  Ül)ertragung  als  in  Innerasien,  dessen  Wüsten 
noch  jetzt  unsägliche  Terrainschwierigkeiten  bereiten.  Die  Denkmäler 
Kleinasiens  sprechen  mit  Beredtsamkeit  vom  östlichen  Einfluß. 
Die  öden  Felsgräber  Paphlagoniens,  die  Bam'este  Phrygiens  usw. 
bekunden  es  immer  wieder.  Die  mykenisch-ki'etische  Kunst  hat  bei 
aller  Selbständigkeit  orientalische  Bestandteile,  wie  man  ja  auch  Ton- 
tafeln auf  &eta  gefunden  hat  (Athenäum  1900,  19.  Mai,  634).  Es  ist 
über  die  archäologischen  Zusannnenhänge  zwischen  Hellas  und  Asien 
schon  vieles  geschrieben  worden,  meistens  freilich  noch  wenig  Ab- 
schließendes. Die  Fragen  sind  im  Einzelnen  zudem  auch  so  im  Fluß 
und  das  Material  noch  so  unvollständig,  daß  hier  nm*  mit  wenigen 
Worten  darüber  hingegangen  werden  soll.  Das  phi'vgische  Felsengi'ab 
von  Bojük-Arslantasch  liegt  mitten  auf  der  Vorderseite  eines  würfel- 
förmig zugehauenen  Felsblocks.  Rechts  und  links  von  dem  Grabe 
erheben  sich  auf  den  Yorderpranken  zwei  mächtige  Löwen,  zwischen 
denen  eine  Säule  aufragt.  Man  wird  bei  dem  Anblick  (s.  E.  Branden- 
burg, Phrygien,  AO.  IX  2,  10)  durch  die  frappante  Ähnlichkeit  mit 
dem  m.ykenischen  Löwentor  überrascht.  Die  ältere  archäologische 
Schule,  bemerkt  Brandenbiu'g  S.  11  sehr  richtig,  konstatierte  einfach 
griechischen  Einfluß.  Aber  gerade  füi*  die  mykenische  Kultui'  ist 
doch  asiatischer  Einfluß  sehi'  wahrscheinlich  und  außerdem.  ,,kann 
man  unmöglich  zugeben,  daß  von  Griechenland  herüber  das  schwäch- 
liche Vorbild  der  Löwen  von  Mykene  dieser  geradezu  grandiosen 
Skulptm*  als  Vorbild  gedient  haben  soll.  Diese  niatten  Tiere  von 
Mykenä  m.achen  den  Eindruck  von  chessierten  Zii"kuslöwen,  die  sich 
in  geschulter  Pose  auf  einen  Untersatz  stellen  müssen.  Wie  natürlich 
sind  dagegen  die  Löwen  von  Bojuk  Ai'slan  Tasch  — "  (ib.).  Er  er- 
kennt an  verschiedenen  stilki'itischen  Details,  wie  den  stark  ab- 
gerundeten Rändern  der  Darstellung  hettitischen  Einfluß.  Vergleich- 
bar ist  auch  das  Tor  von  Sendschirli  (s.  AVinckler,  Forschgn.  II 
371,  2)  mit  den  zwei  ansteigenden  Ziegen.  Solcher  Anhaltspunkte  für 
asiatischen  Kiütm'import  gibt  es  aber  noch  viele  und  gäbe  es  wahr- 
scheinlich noch  unendlich  viel  mehr,  wenn  der  Spaten  in  Kleinasien 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denken?.  1  73 

fleißiger  gewesen  w'Ayq,  als  bisher  leider  der  Fall  sein  konnte.  Besonders 
beredt  ist  ja  die  Gemmenkunst  der  Griechen,  die  nach  Fnrtwängler 
(Antike  Gemmen  III,  1)  ganz  auf  babylonischen  Mustern  beruht. 
Wichtig  ist  auch,  was  Oberhummer  (Phöniz.  in  Akarnan.  17  ff.), 
Puchstein  in  der  deutschen  Orientgesellschaft  u.  a.  mitgeteilt  haben. 
Auch  das  Kuppelgrab  bei  Volo  in  Thessalien  in  der  Nähe  des  alten 
Jolkos,  das  unter  Ca\^adias'  Leitung  vor  einiger  Zeit  bloßgelegt 
wwde,  weist  auf  den  mykenischen  Kreis  und  weiter  auf  dem  Orient 
hin.  Ein  Eingehen  auf  die  Vergieichung  kretischer  und  orientalischer 
Grundrisse,  Dekorationen  und  Bildwerke  ^^'ürde  hier  zu  weit  führen, 
es  muß  auf  Evans'  Berichte  im  Amiual  of  the  Brit  .School  und  die 
Mitteilungen  der  archäologischen  Institute  verwiesen  werden. 

Die  literarische  Tradition  ist  ebenfalls  beredt  genug.  Die  Hellenen 
selbst  wo  Uten  gar  nicht  die  Schöpfer  ihrer  Kultiu*  sein.  Herodot  hat 
sich  ja  deutlich  darüber  ausgesprochen  (II,  4,  49 ff.  81,  IbQ  u.  a.). 
Hippokrates  redet  von  den  Asiaten  als  von  kultmell  überlegenen 
Menschen  (de  aere  12).  Keilinschriftliche  Briefe  \MU"den  in  Athen 
geöffnet  und  gelesen.  Ai'isteides  nimmt  den  Pharnabazos  in  Eion 
gefangen,  er  whd  nach  Athen  gebracht  und  ol  'Ad-tivcüoi  xä'^  [dv  liti- 
OToXac  i/trayQail'af/evoi  ly.  tcöv  lAööVQiror  yQaiffaiTor  drtyvojnav 
(Thuk.  IV,  50,  2)  und  Thukydides  gibt  auch  den  Inlialt  des  Briefes 
an  (s.  Nöldeke,  Hermes  5,  461).  In  Piatons  Timaios  sagt  der  ilgypter 
zu  Solon:  E^Ja/vsc  (hl  jrcüÖt^  lort,  ytQcov  dt  'E)J.tjr  oix  eörii'. 
(22  B).  —  Ntoi  bOTS  xaq  ipvyaQ  Jtärxe^'  ovÖtiiiar  yaQ  li'  avxau 
lysxe  Öl  aQ/aiav  äxo?]}'  :jtaXalar  öo^ar  ovÖt  imd^ijiia  XQorro  -ro?MH' 
ordti-,  und  etwas  von  einem  tiefwm'zelnden  Respekt  des  Hellenen  vor 
den  alten  Kultm'en  des  Orients  diüickte  sich  darin  aus,  deren  Einfluß 
auf  das  alte  Hellas  niemals  verkannt  wmde  (cf.  Herod.  6,  54;  7,  8). 
Hekataios  von  Mlet  sagt  von  der  Peloponnes  dcöxi  jtqo  xojv 
'EXX/jvcov  foxtjoav  avxijv  ßccQi^aQoi  imd  Strabo  fügt  verallgemeinernd 
hinzu  (VII,  321):  öytöor  6t  tl  xal  i)  övftjtaaa  'E?Jmq  xaxoixia 
ßaQßccQcor  vjttJQ^e  x6  jcalccLOV,  dsr'  avxmv  XoytyofJtvoig  xcöv 
ffvt/^uovsvofitvcoj'  niXoJiog  fiev  Ix  r/y--  <pQvyiag  ejiayayof/spov 
Xaov  tiq  XTjv  düi'  avzov  xXriB-tlöccv  n£lojt6vvt](jov  xx)..  (cf.  Paus  I, 
39,  6).    Die  Griechen  lasen  die  Schriften  des  Persers  Osthanes  leiden- 


^)  Plato  Tim.  22:  der  Griechen  altes  Wissen.     Billeter  Zürich  Progr.  d. 
Kantonssch.  1901. 


174  Carl    Fries, 

sdiaftlich,  ad  rabiom,  non  aviditatem  modo  scientiae  eins  Graecoruni 
populüs  cgit  (Plin.  N.  H.  30,  2,  5),  es  steht  zwar  sehr  schlimm  um  ihre 
Echtheit  (Diels  Vorsokr.  464),  aber  sok'he  IS^otizen  sind  doch  viel- 
kücht  symptomatisch  für  die  ganze  Richtung.  Die  Athener  liebten 
nämlich  alles  Ausländische,  lith/i'aioi  d'wojiii^)  jteqI  tu  al/.a 
(filo^EVovvTec  Öiareloioiv  octcj  x(a  rnrn  tovc  />£o»v(Strabo,  X,471). 
Ein  besonderes  Interesse  heftete  sich  immer  an  die  Frage,  ob  die  grie- 
chische Philosophie  auf  orientalischem  Einfluß  beruhe  oder  nicht.  Hier 
ist  natürlich  nicht  der  Ort,  das  zu  entscheiden.  Zeller  hat  gegen  Roth, 
Ritter,  Gladisch  u.  a.  die  Beeinflussung  bestritten,  und  seine  Schüler 
folgen  ihm  darin.  Aber  die  neuste  Generation  wird  wieder  ungetreu, 
und  man  kann  es  ihr  nicht  verdenken.  Noch  hat  es  keine  Epoche 
in  der  Geschichte  der  Philosophie  gegeben,  die  in  ihrem  Denken  nicht 
von  einer  älteren  abhängig  gewesen  wäre;  sollte  Griechenland  hier 
wieder  ganz  allein  stehen?  Man  ist  dwch  unser  Zeitalter  der  klassischen 
Humanität,  dmch  AVinckelmann,  Goethe,  Thorwaldsen  daran  ge- 
Avöhnt,  die  Griechen  als  eine  leuchtende,  unvermittelte  Episode  in  der 
Geschichte  vorzustellen,  was  an  sich  begi'eiflich  imd  schön  ist;  jetzt 
aber  stehen  wir  im  Zeitalter  der  Biologie  und  damit  sind  wh  ver- 
pflichtet, jene  Grundansicht  und  auch  alle  in  ihrem  Gefolge  fest- 
gewurzelten Ansichten  zu  revidieren;  zu  diesen  im  Gefolge  der  Haupt- 
lehre festgehaltenen  Dogmen  gehört  die  instinktive  Überschätzung 
hellenischer  Prodidvtivität  auf  philosophischem  Gebiet.  Das  indische 
Denken  ist  erst  seit  viel  kürzerer  Zeit  bei  uns  bekannt  geworden 
und  hat  alsbald  tief  Wm'zel  geschlagen,  Schopenhauer  stand  in  seinem 
Bann,  Richard  Wagner  und  Nietzsche  gleichfalls.  Der  Buddliismus 
ist  eine  Weltrehgion  gewesen  und  ist  es  noch,  und  seine  Propaganda 
umfaßt  die  ganze  Welt.  Es  gibt  bei  uns  begeisterte  Buddhisten. 
Bei  uns  hat  er  also  ganze  Systeme  der  Philosophie  geschaffen,  das 
ganze  19.  Jahrhimdert  ist  vielleicht  ohne  Berücksichtigung  dieses 
Elements  nicht  ganz  zu  verstehen,  da  eben  seine  gi'ößten  Denker  den 
Strahlen  dieses  Lichts  so  lange  ausgesetzt  waren.  Wenn  nun  in  imserer 
erleuchteten  Zeit  die  Kunde  aus  dem  Morgenland  so  entscheidend 
wirkte,  sollte  die  Macht  jener  orientalischen  Gedanken  auf  viel  primiti- 
vere Völker  nicht  entsprechend  stärker  gewhkt  haben?  Die  Lehi'e 
des  Buddha  war  ja  ziemhch  jung,  aber  die  Weisheit  der  Upanischads 
strahlte  wie  Radium  magisch-geheimnisvolle  Strahlen  aus,  ohne  je 
an  der  eigenen  Konsistenz  und  Herrlichkeit  Abbruch  zu  erleiden. 


Zur  Methodologie  de^s  geschichtlichen  Denkens.  175 

Sollten  die  Lichtgedanken  dieser  Dichterphilosophie,  an  denen  Schopen- 
hauer sich  für  Lebenszeit  berauschte,  den  empfängUchen  Hellenen 
nichts  gewesen  sein?  Das  wäre  ein  geschichtlicher  Nonsens!  Und 
daß  jene  Gedanken  nicht  trotz  aller  Entfernungen  und  Grenzen  durch 
alle  Ritzen  und  Spalten  drangen,  wird  uns  niemand  mehr  eim'eden. 
AVir  glauben  jetzt  an  die  Orientreisen  der  ältesten  griechischen 
Philosophen,  wir  schließen  aus  dem  dichten  Rauch  apokrypser 
Tradition  auf  wirkliches  Feuer.  Jetzt  wissen  wir  auch  im  Einzelnen 
viel  mehr  als  Roth  und  Gladisch  wußten,  z.  B.,  daß  der  philosophische 
Dialog  mindestens  formell  aus  dem  Osten  stammt.  Man  versuche 
doch,  das  zu  bestreiten  imd  zu  widerlegen !  Die  Griechen  haben  keine 
Religion  geschaffen,  die  welterobernd  Generationen  und  Völker  an 
ihr  Bekenntnis  fesselte,  wie  der  Orient  es  verschiedentlich  tat.  Das 
Helle nent um  hat  in  religiösen  Dingen  m.ehr  zersetzend  als  schaffend 
gewirkt,  das  hängt  ro,it  der  Zeit  seiner  Volksblüte  zusammen,  drückt 
daher  keinen  Mangel  aus.  Das  Hellenentum  setzte  ein,  als  die  orienta- 
hschen  gToßen  Hierarchien  sich  in  einen  Zustand  des  Zerfalls  be- 
fanden und  in  der  Hemiat  schon  befehdet  wm'den,  wie  schon  die 
Veden  selbst  stellenweise  bezeugen.  Wohl  Ijestand  in  Hellas  eine 
tiefe  Mystik,  aber  der  verstandesfrohe,  dialektische,  taghell  blickende 
Grieche  war  für  den  gleichzeitigen  Rationaüsnius  empfänghcher. 
Sokrates  hat  keine  Schwärmer  herangebildet.  Er  selbst  ist  eine  ganz 
realistische  Gestalt  ohne  Heiligenschein  und  Hinunelfahi't.  Der 
dionysische  Rausch,  den  Nietzsche  aus  der  attischen  Tragödie  heraus- 
liest, war  im  5.  Jahrhundert  und  später  jedenfalls  unbekannt,  es  ist 
eine  wenngleich  schöne  Phantasie  des  Philosophen,  die  wohl  auch 
nicht  streng  historisch  gem.eint  war.  Die  Schwärmer,  die  Griechenland 
heranbildete,  Antisthenes,  Diogenes  usw.,  waren  ironische  Spötter, 
keine  weltfremden  Ideologen,  wie  die  Asketen  des  Orients,  von  denen 
sie  wohl  beeinflußt  sind.  Und  Plato  mit  all  seiner  Mythologie 
und  pythagoreischen  Spekulation  verliert  nie  den  Boden  unter 
den  Füßen.  Aristoteles  hat  in  der  Jugend  romantische  Wallungen, 
Herakleides  Pontikos,  Euemeros  und  ähnliche  Phantasten  bauen 
Luftschlösser,  aber  keine  Klosterhallen.  Akadenüe,  Lykeion  und 
Kvnosaro;es  waren  keine  Büßerhaine.  Ein  Schatten  romantischen 
Halbdunkels  fhmmert  erst  in  hellenistischer  Zeit  aus  den  Dunst 
des  alexancb-inischen  Völkergemi^chs  und  anderer  asiatischer  Hinter- 
länder über  das  Griechenland  hin,  das  nun  schon  kein  reines  Griechen- 


37()  Carl     Fries, 

tum  mehr  ist,  über  das  sich  die  Gewölke  synkretistischer  und  abstruser 
Religionsgebilde  liinwälzen.  Den  Xeupythagoreern  und  Neupia- 
tonikern  fehlt  schon  der  taghelle  Rationalismus  des  klassischen 
Atheners  von  ehedem  ganz  und  gar,  finsterer  Askese,  inbrünstiger 
Schwärmerei  und  Liturgik  ist  er  diu'chaus  nicht  abgeneigt.  Apollonios 
von  Tyana  und  andere  Wanderprediger  finden  gläubigen  Anhang; 
Juden  imd  Christen  beherrschen  bald  die  Welt,  Plotin,  Proklos, 
Porphyrios  stehen  ihnen  schon  so  nahe,  daß  der  Abstand  kaum  wahr- 
nehmbar ist;  und  mit  Julian  sth'bt,  möchte  man  sagen,  auf  Jahr- 
hunderte der  letzte  Verstandesmensch,  wenn  nicht  auch  er  längst 
von  dem  Weihrauch  der  Zeitstimmung  tief  umnebelt  gewesen  wäre. 
Die  Geister  des  Orients  feiern  einen  vollständigen  Sieg,  den  die  Kii'che 
in  vollen  Zügen  genießt.  Das  Griechentum  hat  in  dieser  neuen  Welt 
keinen  Raum  mehr  und  versinkt;  erst  als  die  Zauberformel  des  Be- 
kenntnisses seine  Macht  einzubüßen  ckoht  und  man  auf  die  ersten 
geheimen  Proteste  des  Verstandes  trifft,  entsinnt  man  sich  des  ver- 
gessenen Heidentums,  und  aus  arabischer  Hand  übernimmt  man 
Aristoteles'  Logik,  um  das  gefährdete  Dogma  nüt  den  aus  diesem 
Arsenal  geholten  Verstandeswaffen  zu  verteidigen.  Da  entsann 
man  sich  der  Griechen,  zu  seinem  Rationalismus  flüchtete  sich  die 
bedi'ängte  Mvstik. 

Also  Religionskeime  wucherten  in  Attikas  Boden  nicht.  Haben 
die  Athener  aber  eine  Weltphilosophie  geschaffen?  Hat  eine  der 
von  ihnen  gelehrten  Weltanschauungen,  ja  ganzen  Epochen,  ganzen 
Völkerkomplexen  ihren  Stempel  aufgediiickt?  Die  vorderasiatische 
Kosmologie  und  Naturphilosopie  beherrscht  die  ganze  Kulturwelt 
ihrer  Zeit,  wie  Descartes  und  Leibniz  ihr  Jahrhundert  ])eherrschten. 
Piatons  Schüler  glaubten  schon  nicht  mehr  an  den  Meister,  magis 
amica  veritas.  Eine  Schule  schloß  sich  an  die  andere  an,  keiner  bheb 
der  Sieg,  nur  Neuplatonismus  undGnosis  haben  ihre  Zeit  ganz  erfüllt. 
Man  kann  das  auch  anders  bemteilen.  Aber  die  Griechen  haben 
immer  durch  ihre  Kultur  geblendet,  haben  gelehrt  und  erzogen,  aber 
sie  haben  keinen  Fanatismus  erzeugt,  haben  Sophisten  und  Sillo- 
graphen  gehabt,  aber  keinen  Mohammed,  keinen  heulenden  Derwisch, 
keinen  heiligen  Ki'ieg,  wenn  man  von  den  delphischen  Katzbalgereien 
absieht,  keine  Märtyi'er,  keine  Ivii'chenmusik  erzeugt.  Wohl  hatten 
sie  ihr  Eleusis  und  Samothrake,  ihre  Kybelepriester  und  Tym- 
panisten,  aber  sie  nahmen  das  selbst  nicht  ernst;  in  der  Tragödie 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  1  (  ( 

unterliegen  Pentheus  und  Lykiu-gos,  in  der  AVirklichkeit  schimpft 
das  Volk  wie  Demosthenes  auf  das  Hyes  Attas  der  Agyrten.  Gewiß 
hatten  sie  auch  keine  Inquisition  und  tausend  andere  Schattenseiten 
der  Mystik.  Aber  ihnen  fehlte  doch  schließlich  auch  der  Schlüssel 
zum  Heiligtum  des  Herzens.  Letzte  Worte  des  Menschentums  hat 
Hellas  selten  gesprochen.  Es  schwebt  in  himmlischer  Anmut  über  der 
Prosa  des  Alltags,  aber  Eros  flattert  nicht  durch  die  sieben  Planeten- 
ringe des  gnostischen  Firmaments  zur  höchsten  Ivlarheit.  Die  letzten 
Worte  spricht,  die  letzten  Fragen  stellt  der  Orient  und  mit  seiner 
Weisheit  speist  er  die  Völker.  Die  tiefsten  Empfindungen  werden 
dort  ausgelöst.  Die  Inbrust  babylonischer  Psalmen  ist  dem  Griechen 
fremd.  Das  Heiligste,  höchste  Faßbare  wird  ihm  nicht  lebendig, 
insofern  ist  er  ewig  Heide.  Die  letzten  Geheimnisse  der  gequälten 
Menschenbrust  erschließen  sich  ihm  nicht,  wie  er  die  letzten  mystischen 
Rätsel  man  möchte  sagen  dilettantisch  betastet,  aber  nicht  auf- 
bricht. Die  Geheimlehren  des  Orients  gipfeln  in  der  Alleinheit  des 
höchsten  Wesens,  Xenophanes  und  andere  greifen  wohl  nach  dieser 
Höhe,  ermessen  sie  aber  nicht  mit  dem  Gefühl.  Der  Grieche  hat  das 
Welträtsel  gelöst,  nach  dem  Jahrhundert  verschieden,  aber  immer 
mit  Bestimmtheit:  der  Orientale  hat  über  all  seiner  Weisheit  stets 
die  höhere  Albnacht,  der  gegenüber  nm'  das  Eingeständnis  der  Ohn- 
macht am  Platz  sein  kann.  Die  Selbsterkenntnis  des  Sokrates  ist 
bei  ihm  demütiges  Reizen  vor  der  geahnten  Urkiaft.  Die  Griechen 
hatten  keinen  besonderen  Priesterstand,  aber  sie  hatten  auch  keinen 
Glauben.  Den  Geschmack  werden  sie  stets  beherrschen,  die  Kunst, 
die  Wissenschaft  u.  a.  wird  ihnen  stets  Dank  zollen,  die  Menschheit 
wkd  nicht  zu  ihnen  wallfahrten,  die  letzten  Wege  führen  nicht  nach 
Athen.  Ein  griechisches  Weltreich  gab  es  nie,  auch  die  Geister  werden 
ihrem  Bann  niemals  ganz  verfallen.  Die  letzten  Fragen  werden  an 
sie  nicht  gestellt.  So  mußten  sie  dem  orientalischen,  Jahrtausende 
älteren,  mächtigen  Einfluß  auf  allen  Gebieten  erliegen,  und  wer  das 
bestreitet,  gerät  mit  historischer  Logik  und  Folgerichtigkeit  in  im- 
löslichen  Konflikt. 

Es  seien  noch  einige  Bemerkungen  dazu  in  freier  Folge  gestattet. 
Die  Abhängigkeit  von  Babylon  in  astronomischen  Dingen  bezeugt 
auch  Herodot  (II,  109):  .To/or  Yt'.{)  xcd  yvo'/i/oi'ii  y.cu  xli  dvojÖexc 
iitQut  rf/c  r/iuQTjg  jtaQcc  BaßvXcoriow  ifiaihov  ol  EXhjvsg.    Auch 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVI [I.  2.  12 


178  CaM     Fries, 

die  Steingewichte  der  P^tnisker  beruhen  auf  dieser  Quelle^).  Auch  der 
babylonische  Einfhiß  auf  Indien  wird  jetzt  mehr  anerkannt-),  juan 
braucht  nur  die  z.  T.  wüillich  übereinstinun.enden  Beschwörungs- 
formeln  zu  beachten^),  um.  sich  davon  zu  überzcmgen. 

Als  Bindeglied  sind  die  Chattu  aufzufassen.  In  der  zweiten  Stadt 
Troja  fanden  sich  Spinnwirteln  mit  hettitischen  Schriftzeichen,  und 
tönerne  Siegelzylinder.  x\uch  auf  Kypros  sind  hettistische  Zyhnder 
keine  Seltenheit.'') 

Auch  Indiens  Selbständigkeit  Hellas  gegenüber  tritt  deutlicher 
hervor,  seit  man  über  die  Prinu)rdien  des  indischen  Schauspiels  z.  B. 
anders  denkt  als  vor  einigen  Jahrzehnten.  Pischel  z.  B.  urteilt  in  seiner 
Abhandlung  über  das  indische  Schattentheater,  durch  dieses  sei 
die  letzte  Lücke  in  der  Entwicklung  des  indischen  Dramas  ausgefüllt. 
Indien  habe  keinen  starken,  nachhaltigen  Einfluß  von  Griechenland 
empfangen;  Menander-Mihnda  wird  Buddhist,  Alexander  hinter- 
läßt im  Pendshab  keine  nachhaltigen  Wirkungen.  Die  Annahme, 
der  griechische  Mimus  habe  den  Orient  beeinfhißt,  sei  rundweg  zu 
verneinen:  die  Entlehnenden  seien  vielmehr  die  Griechen  gewesen-^). 
Kür  das  Umsichgreifen  des  Verkehrs  sprechen  auch  die  von  Winckler 
inBoghaz-köi  gefundenen  Tafeln  mit  den  Namen  InchaMitra  Varuna. 

Kleinasien  gilt  dem  Hellenen  als  Heimat  höherer  Kultur.  Einem 
Feingebildeteu  ruft  Alkman  zu:  Du  bist  nicht  ein  Bauer,  nicht  ein 
Thessaler,  nicht  Akarnan  noch  Viehhirt,  <{//«  ^ia^dicor  urr'  dxQÜr.^) 

Sophokles  verwendet  in  der  Antigone  ein  altorientalisches  Motiv, 
das  er  bei  Herodot  fand.  Fast  möchte  man  fragen,  ob  das  Verbot  des 
Kreon,  den  Leichnam  zu  bestatten,  nicht  schließlich  auch  auf  öst- 
lichem Einfluß,  auf  der  iranischen  Sitte  der  Totenaussetzung  beruht, 
die  denn  auch,  z.  B.  in  der  Sassanidenzeit  unter  Ardeschir  I  zu  be- 


1)  Graffimder  Hermes  1908,  450.  cf.  Ideler,  Böckh,  Lefmann  u. 
V.  Eckstein  Ind.  8tud.  II  369,  der  sehr  verständig  zu  der  Frage  Stellung 
nimmt  und  die  Griechen  nicht  aus  dem  großen  Weltzusammenhang  nehmen 
möchte. 

-)  Hirt  Indogermanen  II  487. 

^)  AO  YII,  4,  17. 

■»)  Speck  Handelsgesch.  d.  Altert.  I  242. 

^)  Sitzungsber.  Berl.  Ak.  1906,  501  f.  —  Vgl.  ferner  Kern-Jacobi. 
(!.  d.  Buddhism.  306,  6.     Marquart  Osteurop.-ostasiat.  Streifzüge. 

ß)  Alkman  fr.  24.     cf.  Diels  Hermes  31,  364. 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  179 

«onderen  Verboten  der  Bestattung  führte.     Spiu-en  dei-  Sitte  Inetet 
ja  der  Anfang  des  Buches  Tobit. 

In  Griechenland  waren  in  der  zweiten  Hälfte  des  fünften  Jahr- 
liuiiderts  persische  Waren  sehr  modern  imd  beherrschten  den  Markt. 
Die  Phoiniker,  die  ja  in  Attika  selbst  dem  Namen  nach  fortdauerten 
(Töpffer,  Att.  Geneal.  300),  Ägypter  usw.  steuerten  dazu  bei,  aus 
Kypros  kam  Getreide,  Karthago,  Sardes  und  der  fernere  Osten  standen 
nicht  ziuück^).  Sogar  die  Mode  weist  nach  Osten,  wie  ein  Vergleich 
zwischen  babylonischen  und  mykenischen  Volantröcken  lehrt^), 
die  Beziehungen  waren  eben  jederzeit  rege 3).  Der  Grieche  spricht 
immer  gern  vom  Orient,  der  Orientale  von  Javana  doch  nur  sehr  selten. 

Beachtenswert  sind  auch  Fm-twängiers  Worte:  Es  gilt  für  die 
Glyptik  in  Griechenland  in  ungleich  höherem  Maße  als  für  andere 
Kunstzweige,  daß  die  Anfänge  nur  ini  Zusammenhange  mit  der  älteren 
Kunst  des  Orients  recht  zu  l)egreifen  und  zu  würdigen  sind.  Denn  die 
Glyptik,  das  Schneiden  von  Bildern  in  harten  edlen  Steinen  ist  nicht 
me  bei  den  Völkern  so  allgemeine,  gleichsam  selbstverständliche  Kunst 
wie  das  Kitzen  und  Bemalen  des  Thons  usw.  —  Sie  scheint,  genauer 
])esehen,  überhaupt  nm  eine  einzige  m-sprüngliche  Heimat  zu  haben, 
auf  welche  sich  alle  anderen  Fälle  ihres  Auftretens  mehr  oder  weniger 
zm-ückführen  lassen,  das  ist  —  Babylonien.  Die  ältesten  Denkmäler 
der  Glyptik  in  Ägypten  setzen  doch  bereits  noch  ältere  in  Babylonien 
voraus  ujid  sind  einer  der  wichtigsten  Beweise  dafür,  daß  die  Ägypter 
von  Osten  her  im  Besitz  gewisser  mit  den  babylonischen  überein- 
stimmender Kultm-elemente  in  das  Niltal  eingewandert  sind.  —  Die 
ältesten  ägyptischen  Gemmen  sind  Tonabckücke  von  Siegeln,  die 
dieselbe  Zylinderform  hatten,  die  in  Babylon  alle  Zeit  herrschend 
blieb^)  und  für  die  Kleinkunst  wüd  man  keine  Sondergesetze  suppo- 
nieren  wollen,  was  hier  galt,  stand  auch  dort  in  Kraft,  mag  der  National- 
stolz sich  auch  getröstet  haben:  o  ti  xeg  äv  "EUrp-^sg  ßtcQßaQov 
naQuldßoiiji,  y.ajMor  xovto  tu  tu.oz  a:xhQyatovTau').     Die   Säule 

1)  Wilamowitz  Kydathen  76  f.  cf.  Überhummer,  Akarnanien.  Strzygowski 
Kleinasien  178. 

-)  Jeremias  ATAO^  125  u.  a. 

3)  Vgl.  auch  Niebuhr  MVAG  1899,  173  f.,  der  wichtige  historische  Zu- 
sammenhänge scharfsinnig  aufgedeckt  hat. 

**)  Antike  Gemmen  III,  1. 

^)  Ps.-Plato  Epinomis  987  E. 

12* 


I  80  Carl   Fries, 

ragte  in  Ost  und  West  als  Wahrzeichen  empor,  daß  auch  die  siroße  Kunst 
von  Länderschranken  nicht  gehemnU  wird,  wie  auch  Puchstein  z.  B. 
die  ionische  Säulen  als  klassisches  Baugiied  orientalischer  Herkunft 
anerkennt^).  Es  wird  so  oft  mit  aller  Bestinuntheit  abgeurteilt,  ob 
eine  wechselseitige  Beeinflussung  zwischen  zwei  Völkern  möglich  sei 
oder  nicht,  während  man  a  priori  darüber  doch  eigentlich  nicht  ent- 
scheiden kann.  Auch  hier  gilt  es  vorerst  die  Tatsachen  selbst  reden 
zu  lassen  und  danach  gleichsam  ein  System  oder  eine  Psychologie 
des  Weltverkehrs  aufzubauen,  auf  der  man  dann  ein  für  allemal  fußen 
kann.  Das  alte  Gerede  von  den  weiten  Entfernungen  die  die  Kultm* 
nicht  durchschreiten  könne-)  sollte  doch  nachgerade  verstummen. 
Die  vielen  Sagen  von  Orientfahrten  griechischer  Philosophen,  von 
Hellasfahrten  asiatischer  Weisen  wie  Osthanes  u.  a.  mögen  auf  un- 
glaubwürdiger Tradition  beruhen,  ein  realer  Kern  liegl;  alledem  immer- 
hin zugrunde.  Wie  Dionysos^)  zog  die  Kultur  dm'ch  die  Welt,  und 
auch  Hellas  war  auf  ihrem  Triumphzug  eine  Station,  an  der  sie  freilich 
besonders  gern  und  lang  verweilte. 

Es  ist  ein  Hauptfehler,  der  immer  wieder  auftaucht,  daß  man 
gewisse  Dinge  als  einmal  gegeben  hinnimmt,  statt  die  Frage  nach 
ihrem  Ursprung  zu  stellen.  So  gilt  es  als  Tatsache,  daß  die  Griechen 
die  Philosophie  geschaffen  haben.  Worauf  die  Philosophie  überhaupt 
beruhe,  was  ihre  Uranfänge  seien,  ob  sie  auf  dem  Wege  der  Ent- 
wicklung aus  einem  anderen  geistigen  Element  sich  herausgebildet 
habe,  wird  nicht  gefragt.  Und  doch  ist  dem  so,  doch  beruht  sie  auf 
der  Eeligion  und  dem  Ritual,  wie  sich  im  Einzelnen  erweisen  ließe,  und 
schon  im  Veda  finden  sich  ihre  Spuren^).  Man  hat  denn  auch  die 
Anfänge  der  griechischen  Philosophie  vom  östhchen  Einfluß  zu  trennen 
gesucht,  und  Eduard  Zeller  war  einer  der  lautesten  Rufer  im  Streit. 
Indessen  hat  neuerdings  eine  rückläufige  Bewegung  sich  angekündigt, 
die  Orientalistik  fördert  immer  neue  Dokumente  für  den  gegenteiligen 
Sachverhalt  zutage.  Die  Jonier,  Pythagoras  usw.  stehen  dem  Osten 
nahe,  selbst  Piaton  lernt  von  der  Gesprächsform  der  Inder  und  die 


^)  Brandenburg,  OLZ  1909,  105  ff.,  der  sehr  verständig  urteilt.  Montelius 
Orient,  u.  Europa.    Strzygowski  N.  Jahrbücher  1909,  370  u.  a. 

2)  z.  B.  Geffken  Hermes  1906,  223. 

3)  cf.  Gruppe  Gr.  Myth.  1516. 

')  Winternitz   Ind.  Litt.  I  197.     Deußen,    Allg.  Gesch.  d.  Phil.    L  68. 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  181 

Stoa  setzt  ein  mit  einer  Reihe  von  geborenen  Orientalen  nnd  —  ti  ///} 

Auch  die  Musik  der  Griechen  mit  ihrer  m,athematisch-astralen 
Unterlage  weist  nach  Osten-),  wie  denn  ein  Volk  nicht  leicht  in  einer 
oder  einigen  Beziehungen  vom  Ausland  beeinflußt  wird,  in  anderen 
nicht;  der  Einfluß  ist  gewöhnhch  total  oder  gar  nicht  vorhanden, 
daß  das  Mutterland  architektonisch  von  Kreta  beeinflußt  wmxle, 
weiß  man^),  daß  es  dem  Einfluß  kretischer  Gesamtkultm-  unterlag, 
whd  man  ohne  weiteres- schUeßen.  Handelt  es  sich  doch  um  imstetes 
Wandern  der  höchsten  geistigen  Güter,  wie  der  Mexikaner  von  der 
gToßen  Wanderschaft  seiner  Vorfahren  von  Norden  her  phantasiert, 
so  steht  es  in  Wahrheit  mit  allem  geistigen  Kapital,  jidvra  (5er, 
keine  politischen,  keine  natürlichen  Schranken  tun  hier  Einhalt, 
unaufhaltsam  geht  es  ül)er  die  Grenzen  und  zerteilt  sich  quellend  in 
alle  Windrichtungen. 

Verweilen  wir  zum  Schluß  noch  ein  wenig  bei  der  vergleichenden 
Mythologie.  Sie  stand  eine  Zeitlang  in  üblem  Ruf,  man  sagte  ihr 
Phantasterei  und  Willkür  nach.  Der  Hauptmangel  wurde  nicht  be- 
tont; er  war  auch  in  äußeren  Umständen  begründet.  Damals  verglich 
man  nämlich  allein  die  Mythen  der  indogermanischen  Völker  unter 
einander,  in  falscher  Anwendung  der  sprachvergieichenden  Methode. 
Der  Orient  und  die  Symbolsprache  der  Natm'völker  sind  inzwischen 
imendhch  m^ehr  erschlossen  worden,  imd  man  arbeitet  jetzt  mit  ganz 
anderem  Material.  Dann  aber  ist  jetzt  ein  Gesichtspunkt  geltend  ge- 
w^orden,  der  dies  Material  von  einem  Zentrum  aus  überbhcken  läßt. 
iSchon  Athanasius  Kircher  u.  a.  hatten  in  den  Mythen  siderische 
Vorgänge  erblickt.  Dann  hatte  besonders  der  zu  wenig  anerkannte 
Nork  in  einer  Reihe  von  großen  Werken  die  Göttersagen  in  Gestirn- 
mythen aufgelöst,  ganz  neu  aufgearbeitet  und  zu  einem  bündigen 
System  aber  verband  den  Astralgiauben  erst  Hugo  Winckler  in  seinen 
„Altorientahschen  Forschungen",  seiner  „Geschichte  Israels"  u.  a. 
Sein  System  hier  zu  entwickeln,  ist  nicht  notwendig.    Es  ist  in  seinen 


^)  Vgl.  darüber  Diels  Elementum  41.     Knaack,  Berl.  phil.  Wochenschr. 
1904,  1418,  u.  a.     Auch  Dalman  Buddha  188  ff.   u.  a.  ist  zu  vergleichen. 
-)  Athen,  17od  u.  a. 
3)  Seier  Abhandlungen  II  4f.    W.  Max  Müller,    Asien  u.  Europa,  Ein- 


leitung. 


JS2  Carl    Krirs, 

Schriften  nicdorgeleot  und  seine  Anhäns;er  bauen  anf  seinem  Grunde 
fort.    Groß  sind  auch  die  Verdienste  Eduard  Stuckens,  der  in  viek'u 
Ideen  bereits  voranoing',  und  dei'  Gebrüder  Jeremias,  die  unermüdlich 
auf  diesem,  Gebiet  schaffen,  und  vieler  anderer.    p]s  wird  damit  ein 
System,  eine  Formel  »egeben,  die  alle  Mythologie  wie  ein  Kätsel  löst 
und  alle  in  einenr  Sinn  einigt.     Darnach  sind  Sonne  und  Mond  die 
eigentlichen    Helden   aller   Göttersagen.      Daß   anderes   daneben  in 
Geltung  bleibt,  wird  nicht  bestritten,  aber  der  Kern  der  Sache  scheint 
damit  getroffen  zu  sein.     Näheres  findet  man  in  Alfred  Jeremias' 
Werk  „Das  alte  Testament  im.  Licht  des  alten  Orients'"  (Leipzig  1907, 
2.  Aufl.).  Das  Zentrum  dieser  Mythologie  war  Babylon,  wenn  Winckler 
auch  die  Wanderhypothese  nicht  betont.     Aus  Babylon  kamen  die 
astronomischen  Kenntnisse,  die  Münzen  und  Gewichte,  wie  Böckh 
nachwies,  und  nun  auch  die  Mythen.    Das  war  ein  gewaltiger  Fort- 
schritt, und  Winckler,  dem  der  Ruhm  dieser  Funde  zukommt,  hat  die 
mythologische  Wissenschaft  auf  ein  ganz  neues  Fundament  gestellt. 
Die  klassische  Philologie  hält  sich  fernab  von  der  „Pest  der  Deutungen'" 
(Dieterich,  Archiv  f.  Rehgionswiss.  1905,  490)  und  verharrt  in  dumpfer 
Rückständigkeit.     Und  doch  waren  die  Griechen  selbst  hier  minder 
unzugänghch  und  weitbUckender  als  ihre  ängstüchen  Grenzhüter  in 
luiserer  Zeit.     Allegorische  Deutung  war  ihnen  seit  Theagenes  von 
Rhegion  nicht  fremd;    so   z.  B.   identifizierte  Theagenes  wohl  den 
Heüos  und  Hephaistos,  Poseidon  und  Skamandros  mit  dem  W^asser, 
Antonius  mit  dem  Mond,  Hera  mit  der  Luft  usw.  (Schol.  B  zu  467). 
Auch  Metrodor  von  Lampsakos,    dessen  Piaton  im.  Ion  gedenkt,  sah 
in  Agamemnon  den  Äther,  in  Achilleus  die  Sonne,  in  Helena  die  Erde, 
in  Paris  die  Luft,  in  Hektor  den  Mond  u.  a.  Auch  die  Stoiker  befolgten 
diese  Methode  (^Diels,  Doxogr.  90  ff.),  die  übrigens  bei  den  Indern 
vorbereitet  war.    Auch  bei  Neueren  gab  es  Anhänger  der  Richtung, 
wie  z.  B.  Forchhammer.    Im  Einzelnen  ist  es  leicht,  sie  zu  bestreiten, 
schwerer  dürfte  der  Nachweis  fallen,  daß  ihr  Verfahren  an  sich  ein 
falsches  und  fruchtloses  ist.    Die  neuste  Phase  der  Mythologie  macht 
es  im  Gegenteil  wahrscheinüch,  daß  ein  berechtigter  Kern  all  diesen 
Vermutungen  zugrumle  lag,  nur  daß  aus  Unkenntnis  des  Materials 
und  mangelndem  Überblick  vielfach  übers  Ziel  geschossen  oder  ins 
Blaue  hinein  konjiziert  wurde. 

Als  klassischer  Patron  unserer  Stellungnahme  sei  noch  Solci'ates 
zitiert,    der    bei    Piaton    deduziert:     (fiüvovTc.i    i/oi   rrotoroi    Tf~jr 


Zm-  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  183 

livihfjcjrrc))-  Tcöv  rcir(>l  T/]r  ' /'JX/mÖc.  torrocc  [iövovz  rorq  d^EOtg 
/f/tlöikii,  ovojr^Q  rör  .to//o/  tcöv  ßaQi-iccQon',  /j/uor  xai  othjvfjr 
x(ci  y/'/i-  x<u  uOT{H(.  y.ai  ovqccvov  '  ars  ovr  arra  oQcövTtc  mcvTC 
dtl  löl'TC  ()ooi{(i}  yjcl  UhovTc.  drco  Tarrij^  r/jc  rpratojc  t/~^  ror 
{feir  d-eoi-^  avrocg  Ijtoroiiäoca  '  voreQor  dt  yMTCcvoovvTsg  ror^ 
aV.ovg  jiiiVTccg  /jdr/  tovto  t(~j  oröufcri  .TtQogayoQsvstr^),  wo 
freilich  die  Etymologie  belächelt  wird;  aber  der  astrale  Grund- 
gedanke besteht  ziu'echt.  Sonstige  Kichtungen  seien  gern  als  auch- 
berechtigt  zugegeben,  auch  die  Mutter  Erde  Dieterichs,  auch  Regen- 
zauber und  Korndänionen  haben  ihre  gewisse  Daseinsberechtigung: 
im  Übrigen  ist  unser  Standpunkt  fest  verschanzt.  Übrigens  hat  üsener 
schon  ganz  fortgeschrittenen  Ansichten  gehuldigt  und  verdient  auch 
hier  mit  Ehren  genannt  zu  werden. 

Isoch  einige  AVorte  über  Homer  seien  gestattet,  der  gegenwärtig 
die  Geister  wieder  lebhaft  beschäftigt,  wie  er  das  zu  verschiedenen, 
nicht  zu  allen  Zeiten  der  Geschichte  getan.  AVas  uns  bei  dem  Namen 
Homer  als  geistige  Persönlichkeit  vorschwebt,  gehört  zu  den  Welt- 
dichtern, wie  Firdusi,  Dante,  Shakespeare  usw.,  nicht  zu  den  um- 
fassenden Geistern  wie  Piaton,  Aristoteles  usw.  Er  schildert  keine 
komplizierten  Kulturen  und  keine  komplizierten  Charaktere,  er  spricht 
die  letzten  Worte  menschhcher  Leidenschaft  nicht  aus,  wie  es  Shake- 
speare und  Goethe  tun,  er  läßt  sich  nicht  von  einer  Welle  politischer 
Tendenzen  emportragen,  wie  Jesajas,  Archilochos,  Savonarola, 
Kousseau,  noch  sammelt  er  die  Narrheiten  seiner  Zeit  im  Hohlspiegel 
der  Satire.  Dennoch  übte  er  die  grenzenlosen  Wirkungen  aus. 
£^  c^Qy/jg  y.€(.B^'  'Oi{y(jor  L-xtl  (nfHCi)-/'/ya6L  rrdvrtg.  Für  die  klassische 
Zeit  hat  Tolkiehn  das  dmihgeführt.  Die  Griechen  und  Römer  ehrten 
jenen  bis  zuletzt.  Im  Mittelalter  verschwand  er.  Die  Renaissance  wußte 
nichts  mit  ihm  anzufangen.  Vergil  stand  über  ihm,  wenn  auch  nicht 
so  hoch  wie  Seneca  zuerst  über  Euripides.  Die  Päpste  setzten  Preise 
für  den  Homerus  Latinus  aus,  der  lateinische  I.  H.  Voss,  blieb  aus. 
Allmählich  fand  man  sich  in  ihn  hinein.  Herder  und  Wolf  stellten 
ihn  in  neuem  Rahmen  dar.  Die  Wissenschaft  hatte  sich  seiner  längst 
l)emächtigt,  aber  die  Alexandriner  hafteten  am  Einzelnen,  die  Neueren 
fragten  nach  der  dichterischen  Persönlichkeit.  Der  adelige  Sänger 
ward  von  der  literarischen  Volkspartei  gegen  die  Hofdichtung  ins 


Cratyl.  397  CD. 


]84  Carl     Frios, 

Feld  i^eführt,  weil  inaii  ihn  hiatorisfh  noch  unzureichend  begriff. 
So  hatte  er  seinen  wohlgen),essencn  Anteil  an  der  Völkerbefreiung, 
Heklen  und  Schlagworte  konnte  er  ja  nicht  bieten,  sondern  nui"  seinen 
Stil,  der  aber  mächtig  wirkte.  Mit  dem  Sinken  der  Weltbewegung 
erlahn),te  das  Interesse  an  Homer,  und  wie  Großes  auch  im  19.  Jahr- 
hundert in  der  homerischen  Frage  geleistet  wurde,  man  blieb  schließ- 
lich doch  Epigon  F.  A.  Wolfs,  und  aller  Hader  war  wenig  fruchtbarer 
Diadochenkrieg.  Inzwischen  drang  immer  ungestümer  das  historische 
Prinzip  durch,  das  den  beiden  Epen  gegenüber  freilich  einigermaßen 
ratlos  war,  öoq  (loi  jtov  oroj,  war  die  verlegene  Forderung,  bis  dann 
endlich  der  Anstoß  von  außen  kam.  Der  Spaten  enthüllte  ganz  neue 
AVeiten,  und  als  das  historische  Prinzip  nun  wieder  anpochte,  ward  ihm 
aufgetan,  die  neue  homerische  Frage  regte  sich,  die  Frage  nach  der 
geschichthchen  Eimeihung  und  Authontie.  Reichel,  Robert,  Andrew, 
Lang  u.  a.  untersuchten  die  Beziehungen  zur  bloßgelegten  Technik. 
Rohde  forschte  nach  der  Religion,  doch  blieben  diese  im  Griechentum 
stecken.  Der  Spaten  aber  lehrte  den  großen  Zusammenhang  mit  den 
Ländern  jenseits  des  Bosporos  und  Hellespont.  Wilamowitz  erkannte: 
,,Die  homerische  Forschung  kann  sich  hinfort  nicht  einmal  mehr 
in  den  Grenzen  des  Griechischen  halten".  (Berl.  Sitzungsber.  1906,  60). 
Auch  die  neue  homerische  Frage  ist  von  grundlegender  Bedeutung, 
es  handelt  sich  um  die  Mederlegung  eines  Dogmas,  der  Lehre  vom 
autochthonen  Heldengesang  in  Hellas.  Ii'rlehren  zu  beseitigen  ist 
erspließlich  in  jedem,  so  auch  in  diesem  Fall.  Daher  war  es  ein  großes 
Verdienst,  daß  P.  Jensen  von  seinem  orientalischen  Bollwerk  aus  die 
Frage  mutig  erfaßte  und  Homer  an  die  neugefundene  Epik  Babylons 
anschloß.  Bei  verkündigenden  Thesen  ist  es  einstweilen  geblieben, 
man  findet  sie  in  der  Zeitschrift  für  Assyriologie.  Der  zweite  Band 
seines  Werkes  ,,Das  Gilgamessepos  in  der  Weltliter atm'"  soll  das 
näher  begründen.  — 

Die  Gegner  derartiger  vergleichender  Studien  pflegen  es  als 
einen  Trumpf  auszuspielen:  wenn  man  bei  solchen  Parallelen  näher 
zusehe,  finde  man  kaum  Ähnbchkeit  mehr,  und  die  Analogie  lasse 
sich  nie  l)is  ins  Einzelne  verfolgen.  Auf  diese  Weise  könnte  man 
aber  alle  und  jede  Analogie  aus  der  Welt  schaffen,  indem  man  eben 
statt  der  Ähnlichkeit  Kongruenz  und  Identität  verlangt.  Die  findet 
sich  freibch  nirgends,  deshalb  aber  aUe  Ähnüchkeiten  leugnen  zu 
wollen,  wäre  armseliger  Nonsens.   Bei  der  Gelegenheit  kann  ich  es  mir 


Zur  Methodologie  des  geschichtlichen  Denkens.  185 

(loch  nicht  vcrsag-en,  einem  Rezensenten  meines  Buches  ,,I)as  philoso- 
phische Gespräch  von  Hiob  bis  Piaton'-  hier  noch  einmal  zu  ant- 
worten. C.  Kitter  schrieb:  (Berl.  phil.  AVochenschr.  1906,  1330)  u.  a.: 
„AVelch  ärmliche  Vorstelhmo-  von  dem  Menschen  und  von  Gott, 
der  ihn  geschaffen  hat,  hegt  allen  diesen  Betrachtungen  und  Schlüssen 
des  Verf.  zugrunde !  Wie  unwahr,  niedrig  und  phantastisch  zugleich 
ist  seine  Psychologie.  Wo  irgend  etwas  Ähnliches  in  der  Kiütiu'- 
geschichte  hervorgetreten  ist,  muß  Abhängigkeit  des  einen  vom 
andern  angenommen  werden."  Es  gehörte  nicht  viel  dazu,  den  Ge- 
lehrten zu  widerlegen,  was  ihn  dami  zu  einer  gereizten  Duplik  in  der- 
selben Zeitschrift  veranlaßte.  Da  bekam  ich  die  „unwahre,  niedrige 
und  phantastische  Psychologie'"  zum  zweitenmal  zuhören.  Er  glaubte 
mich  damit  offenbar  besonders  schwer  zu  treffen.  ]S^un,  er  hat  Recht, 
ich  bin  gewiß  kein  Psychologe,  aber  ich  wüßte  auch  nicht,  daß  ich  mir 
das  jemals  eingebildet  hätte,  ja,  daß  ich  auf  diesem  Gebiet  überhaupt 
je  einen  Ehrgeiz  besessen  hätte.  Ich  erkenne  auf  diesem,  wie  auf 
unendlich  vielen  anderen  Gebieten  meine  völlige  Tsulhtät  unumwunden 
an.  Aber  ]nui  fährt  er  fort,  den  Satz  (S.  1  des  Buches)  „durch  die 
Geschichte  der  Menschheit  geht  nur  eine  Kiütm-"  vom  Piedestal 
seiner  Psychologie  herab  zu  konunentieren:  ,,Die  Persönlichkeit 
verliert  dabei  alle  Bedeutung;  der  schöpferische  Genius  wird  als  bloße 
Summe  in  einem  Ivreuzungspunkt  zusam,mentreffender  Wellenberge 
der  Kulturschwingungen  aufgefaßt."  Sehr  schön,  mu  vergißt  der 
Rezensent  eins,  daß  die  Kultur  Übertragung  eben  diu'ch  die  großen 
Persönlichkeiten  vollzogen  wird.  Um  bei  kontrollierbareren  Geliieten 
zu  bleiben,  was  hat  Gottsched,  den  manche  jetzt  nur  den  Großen 
nannten,  denn  geleistet,  das  nicht  auf  Kultmitbertragung  hinaus- 
liefe. Winckelmann  hat  uns  hellenische  Schöiüieit,  Lessing,  Bürger 
und  Goethe  britische  Kunstfreiheit  vermittelt.  Wo  immer  fruchtbare 
und  folgem'eiche  Kultm*mischimgen  stattgefunden  haben,  waren  es 
große  Persönüchkeiten,  die  die  wichtige  Arbeit  verrichteten.  Über 
die  Frage,  ob  Männer  die  Geschichte  machen  oder  nicht,  wird  Rezensent 
nicht  so  eilig  aburteilen,  auf  den  Standpunkt  mittelalterlicher  W^lt- 
chroniken  oder  m.oderner  Bilderbücher  für  artige  Kinder  wird  er  uns 
nicht  zurückschrauben  wollen,  sondern  vorher  recht  reiflich  Taines 
u.  a.  Lehren  in  Erwägimg  ziehen.  Wie  aber  soll  der  Ansicht  von 
alhnähücher  Kult lu* Wanderung  eine  „ärnüiche  Vorstellung  von  dem 
Menschen  und  von  Gott,  der  ihn  geschaffen  hat",  zugrunde  liegen? 


[i^C)  Carl    Fries, 

Der  Kczeiiseiit  meint,  die  KiiHur  entstehe  überall,  wo  sie  ersclieint, 
durch  ein  neues  Wunder,  durch  u,(ittUehe  Oft'enbaiuni!,'  von  Neuem. 
Gewiß  ist  sie  überall  <i;öttlicher  Offen  bar  uni;-  und  uns  ein  unfaßbares 
Wunder,  aber  nicht  mehr  als  jeder  Käfer,  jedes  Blatt,  jeder  Kiesel. 
Dennoch  ist  die  deutsche  Anakreontik,  die  deutsche  Alexandrinertra- 
gödie nicht  etwa  durch  IIrzeufi,ung  oder  eine  himm.lische  (Jffenbaruny,, 
sondern  durch  (Gottsched  den  Großen  und  seine  löbliche  h^hehälfte 
Leonore  Adelgunde,  geborene  Kulnuis  nach  Deutschland  gekommen. 
Und  so  in  zahllosen  anderen  Fällen.  Aber  es  will  denn  doch  scheiju^n, 
daß  die  Annahin.e  eines  Kulturmittelpuiikts,  von  dem  aus  das  Licht 
sich  radial  verbreitet  habe,  eine  durchaus  monotheistische  Ansicht 
sei.  \^)n  einem  Punkt  geht  das  Licht  der  AVeit  aus.  Ein  Schöpfer 
regiert  das  Ganze,  von  einem  Zentrum  strahlen  seine  AVirkungen.  aus. 
Das  scheint  doch  ein  nichts  weniger  als  heidnischer  Standpunkt.  Was 
will  also  Herr  Ritter,  wo  bleibt  seine  Psychologie;  er  scheint  ein  ebenso 
armseliger  Psychologe  zu  sein,  wie  ich.  Meine  Psychologie  taugt 
nichts,  aber  die  seinige  ist  auch  nicht  viel  besser,  wir  sind  darin  beide 
Sünder  und  haben  uns  nichts  vorzuwerfen.  Lii  allgemeinen  muß 
man  der  jetzigen  Philologie  eine  gewisse  Kurzsichtigkeit  zum  Vor- 
wurf nmchen;  die  einzehien  Punkte  werden  erschöpfend  ))ehan(lelt, 
aber  man  verliert  sich  im  Kleinkram,  die  großen  Gesichtspunkte  fehlen. 
Es  fehlt  aber  auch  der  wissenschaftliche  Eros,  wie  könnten  sonst  z.  B. 
diejenigen,  die  in  der  bevorzugten  Lage  sind,  das  Material  an  spracl - 
liehen  Kenntnissen  zu  besitzen,  z.  B.  der  wichtigen  Frage  nach  den 
Einwirkungen  des  indischen  Epos  auf  Arabien  und  den  Okzident 
gegenüber  kalt  und  ruhig  bleiben?  Man  verschanzt  sich  in  seinem 
Gebiet,  und  in  dem  festen  Bewußtsein,  jeden  dilettantischen  Übergriff 
auf  Nachbargebiete  gemieden  zu  haben,  treibt  man  den  wichtigsten 
Fragen  gegenü])er  Straußpolitik.  tI  iioi  itthi  tu  Frysco  — .  Da  steht 
es  um  Wincklers  Methode  doch  anders.  Mag  er  hier  und  da,  mag  er 
oft,  noch  so  oft  geirrt  haben:  er  hat  aber  durch  den  Wagemut,  mit 
dem  er  eben  viele  Kulturgebiete  übersah  und  durchforschte,  gewaltige 
Entdeckungen  gemacht.  Er  war  es  doch,  der  die  Regierungszeit  der 
7  römischen  Könige  als  eine  astronomische  Zahl  iiachwies.  Durch 
dieselbe  Methode  umfassender  Yergleichung  gelang  ihm  ein  anderer 
ebenso  gewaltiger  Fuml;  daß  nämlich  der  ptole maische  Kanon  durch 
Nabonassars  Kalenderreform  l)estimmt  sei  (Winckler,  KeiUnschr. 
Bibl.  11  274,  290,   Ex  Or.  Lux  II  2,  63  A.  Jeremias   ATAO-  68  f.). 


I 


Zur  ^lethodologic  des  geschichtlichen  Denkens.  18  I 

Diese  und  ähnliche  Entdeckungen  gelingen  dem,  der  iniiner  in  seinen 
vier  Pfählen  bleibt,  nicht,  er  hat  sich  dafür  freilich  auch  von  niemandem 
jemals  eine  wissenschaftliche  Tollkühnheit  vorwerfen  lassen,  sondern 
ist  imm.er  hübsch  sittsam  seine  kleine  Bahn  gegangen.  Ohne  Toll- 
kühnheit und  Wagemut  aber  geht  es  nun  einmal  nicht  in  der  Wissen- 
schaft: das  Vermeiden  von  Fehltritten  ist  aller  Ehren  wert,  wer  aber 
fördern  und  treiben  will,  muß  ein  wenig  iVbenteuerlust  mitbringen, 
und  gelegentUch  vor  einem  tollen  Streich  nicht  ziulickschrecken.  Die 
Myopie  war  aber  von  jeher  ein  Übelstand,  der  den  wissenschaftlichen 
Fortschritt  hemmie.  ovrot  ajt'  oQyjiQ  Jiävxa  d-sol  Orf/Toio'  vjrtdif- 
^av,  «//«  '/,Q(>yf:>  Cr]Tor)'T8Q  acpevQioxorijii'  äfisiror,  grollt  schon 
Xenophanes,  und  im.mer  noch  stehen  sie  sich  oft  feindlich  gegenüber 
//^liv  l4Xfjihl(c^  fvxrx/.to^  (CTQfiihg  /jtoq  //dh  ßgonör  do^ai,  ralg 
ovx  fW  .-rioTic  uX/j'hfjg.  Aber,  um  beim  Zitieren  zu  bleiben,  „die 
AVahrheit  ist  gTößer  und  mächtiger,  als  alles,  die  ganze  Erde  ruft 
nach  der  Wahrheit,  der  Hinunel  preist  sie"  (3  Esra  4,33), 

Man  darf  es,  um  zum  Ausgangspunkt  zurückzukehren,  wohl 
aussprechen,  daß  jede  Geschichtsbetrachtung  nur  eine  naturwissen- 
schafthche  sei  und  umgekehrt.  So  groß  angelegt,  um  noch  einmal 
abzuschweifen,  Goethes  iVufsatz  über  die  Natur  auch  ist,  er  läßt  ein 
wenig  das  Hineinbeziehen  des  historischen  Gebiets  vermissen,  das 
eine  nicht  n\inder  reiche  Ausbeute  natm'betrachtender  Ideen  her- 
gegeben hätte  als  das  Naturreich  im  engeren  Sinn.  Aber  es  ist  dem 
homo  sapiens  nun  einmal  eigen,  überall  für  die  trennenden  Grenz- 
scheiden m.ehr  Verständnis  zu  haben  als  für  die  verbindenden  Gem.ein- 
samkeiten,  und  so  wird  noch  mancher  auch  mit  weniger  unzidäng- 
lichen  Mitteln  unternommene  Versuch  unser  Problem  zu  lösen, 
wirkungslos  verlaufen.  Ein  anspruchsloser  Ansatz  wie  dieser,  wird 
keine  Beachtung  finden,  aber  die  Idee  kann  nicht  ruhen,  sie  ist  trieb- 
kräftig und  drängt  zum  Licht,  und  wenn  sie  einmal  wieder  von 
jemandem  hervorgezogen  wird,  dann  froelich  m'staend! 


VI. 

Nietzsche  und  Schopenhauer. 

Von 
Dr.  Michael  Schwarz    in   St.  Petersburg. 

Es  ist  vielleicht  schon  die  Zeit,  ein  objektives  und  unparteiisches 
Urteil  über  Nietzsches  philosophische  Lehre  zu  fällen,  da  uns  das 
ganze,  dazu  unentbehrliche  Material  zur  Verfügung  steht.  Nietzsches 
Nachlaß  und  sein  Briefwechsel  (insbesondere  mit  Erwin  Kohde  und 
Peter  Gast)  gewähren  uns  einen  tiefen  Einblick  in  die  Werkstatt  seines 
Geistes  und  verhelfen  zu  einem  wahren  Verständnis  seiner  philo- 
sophischen Bedeutung:  es  wd  klar,  daß  der  philosophische  Proteus, 
für  den  die  meisten  Kommentatoren  Nietzsche  hielten,  sich  in  Wirk- 
lichkeit ziemlich  unentwegt  und  ganz  konsequent  in  einer  und  der- 
selben Kichtung  ent\Aickelt  hatte,  so  daß  die  übliche  Einteilung  seiner 
geistigen  Evolution  in  drei  prinzipiell  verschiedene  Perioden  nicht 
begründet  zu  sein  scheint,  zumindestens  aber  erheblich  reformiert 
werden  muß.  Als  das  entscheidendste"  Moment  aber  für  die  end- 
gültip'e  und  objektive  Feststellung  der  philosophischen  Position 
Nietzsches  erscheint  seine,  unlängst  veröffenthchte,  wenn  auch  schon 
vor  mehr  als  zwanzig  Jahren  verfaßte,  Autobiographie^),  deren  Druck 
nur  auf  AVunsch  seiner  literarischen  Erben  auf  eine  so  lange  Zeit 
hinausgeschoben  wurde.  Dieses  interessante  und  höchst  wertvolle 
menschliche  Dokument  ist  keineswegs  eine  gewöhnhche  Lebens- 
besehreibung, vielmehr  stellt  es  eine  Geschichte  der  geistigen  Ent- 
wcklung  Nietzsches  dar,  seine  sozusagen  theoretische  Autobiographie. 
Von  besonders  großem  Wert  für  unsere  Aufgabe  erscheint  hier  die 
Tatsache,  daß  gleichzeitig  mit  der  allgemeinen  Charakteristik  seines 
geistigen  ..Ichs",  Nietzsche  selber,  mit  der  ihm  eigenen  Tiefe  und 
Feinlieit  der  psychologischen  Analyse,  seine  Hauptwerke  sehr  aus- 


^)  „Ecce  Homo:    Wie  man  Avird  was  man  ist." 


Xietzbche  und  Schopenhauer.  18iJ 

führlich  in  dem  Kapitel  „AVarum  ich  solche  gute  Bücher  schreibe" 
kommentiert.  Hierdurch  ^\alrde  erst  raogiich,  gestützt  au{  die  cVus- 
führungen  von  Nietzsche  selbst,  seine  philosophische  Lehre  in  ihrer 
allmählichen  ununterbrochenen  Entwickkmg  und  ihren  grundlegenden 
Ideen  nachzuschaffen. 

Die  Philosophie  Nietzsches  stand,  wie  es  jetzt  allgemein  ange- 
nommen wird,  stets  unter  dem  starken  Einfluß  Schopenhauers, 
auch  dann  noch,  tls  Nietzsche  sich  offiziell  von  dieser  Philosophie 
lossagte.  In  der  Tat,  die  ursprünghche  philosophische  Lehre  Nietzsches, 
und  zwar  die  von  ihm  in  der  ,, Geburt  der  Tragödie"  entwickelte 
Metaphysik  der  Kunst,  ist  bloß  eine,  wenn  auch  eigenartige,  Um- 
arbeitung des  dritten  Buches  des  Schopenhauerschen  Hauptwerkes: 
.,Die  Welt  als  WiUe  und  Vorstellung",  d.  h.  seiner  Ästhetik.  Von  den 
Grundgedanken  dieser  letzteren  ausgehend,  versuchte  Nietzsche 
Schopenhauers  Nihihsmus  von  innen  aus  zu  überwinden.  „Hoch  über 
Schopenhauer  habe  ich  die  Musik  in  der  Tragödie  des  Daseins  gehört", 
bemerkt  Nietzsche;  und  mit  diesen  Worten  charakterisiert  er  seinen 
damaligen  Standpunkt.  In  der  ersten  Periode  seiner  Entwicklung 
akzeptiert  Nietzsche  Schopenhauers  Metaphysik  des  WiUens  und  seinen 
Pessimismus  in  ihren  Grundzügen.  Gleich  Schopenhauer  ist  auch  für 
ihn  die  Welt  vom  Leiden  durchdrungen;  wenn  aber  Schopenhauer 
zwei  Wege  der  Welterlösung  verkündet:  den  Weg  der  Kunst  und  den 
der  Askese  (die  ästhetische  und  moralische  Erlösung),  lehnt  Nietzsche 
in  der  ,, Geburt  der  Tragödie"  den  zweiten  Weg  ab.  In  dem,  erst 
sechzehn  Jahre  später  geschriebenen  Vorworte  zur  „Geburt  der  Tra- 
gödie" und  in  einem  anderen  Vorworte  zum  selben  Werk,  das  an 
Wagner  gerichtet  war,  erklärt  Nietzsche  ausdiiicldich,  die  Kunst 
und  nicht  die  Moral  sei  die  wahre  metaphysische  Tätigkeit  des  Menschen. 
Indem  Nietzsche  mit  Recht  den  Widerspruch  zwischen  der  ästhetischen 
Weltanschauung  Schopenhauers  und  seinem  Nihihsmus  zu  vermeiden 
strebt,  verwirft  er  Schopenhauers  Lehre  von  der  Mitleidsmoral  und 
seine  wenig  begründete  metaphysische  Theorie  der  Selbstvernichtung 
des  Willens  (ethische  Erlösung):  er  sieht  die  Welterlösung  nur  in  der 
Kunst  allein  und  überwindet  somit  den  buddhistischen  Nihihsmus 
Schopenhauers  und  seine  buddhistische  Willensverneinung,  welche  in 
der  Nirwana  ihre  Krönung  findet.  Nach  Schopenhauer  objektiviert 
sich  der  Wille  in  der  Welt  der  Erscheinungen,  oder  mit  anderen  Worten 
der  Wille  als  schöpferische  metaphysische  Kraft,  erzeugt  die  Welt 


IPO  Micli.u-1    Schwarz. 

7A\m  Zwecke  seiner  ästhetischen  und  ethischen  Selbsterkenntnis  und 
Selbsterlösung.  Für  INletzsche  aber  ist  diese  ganze  sinnUche  Welt 
der  Erscheinungen  nur  ein  ästhetisches  Phänomen  oder  ein  Kunst- 
werk, dazu  geschaffen,  ihrem  Schöpfer,  dem  ..Künstler-Gott"  die 
höchste  künstlerische  Freude  zu  gewähren  und  somit  vom  Leiden 
zu  befreien.  ..Traum  schien  mir  die  Welt  und  Dichtung  eines  Gottes, 
farbiger  Kauch  vor  den  Augen  eines  göttlich  Unzufriedenen"  .  .  . 
„Eine  trunkene  Lust  ihrem  unvoUkommnen  Schöpfer"  .  .  .  ..Weg- 
sehen wollte  der  Schöpfer  von  sich,  da  schuf  er  die  AVelt'"-).  !Mit  diesen 
"Worten,  die  er  Zarathustra  in  den  Mund  legt,  charakterisiert  der  spätere 
Nietzsche  seine,  in  der  ..Geburt  der  Tragödie"  dargelegte,  ästhetische 
Philosophie.  Danach  ist  es  klar,  daß  ,, unser  empirisches  Dasein, 
wie  das  der  Welt  überhaupt,  als  eine  in  jedem  Moment  erzeugte  Vor- 
stellung des  Ur-Einen"^)  ist  und  folglich  ..sind  wir  für  den  wahren 
Schöpfer  Bilder  und  künstlerische  Projektionen''^).  Wir  und  unser 
ganzes  Leben  sind  ein  künstlerisches  Werk  und  darin  liegt  unsere 
wahre  Würde  und  Bedeutung^).  Der  Mensch  und  sein  Leben  sind  nur 
ein  ästhetischer  x\kt.  Wenn  also  die  Vernunft,  wie  Schopenhauer 
lehrt,  die  Welt  nicht  zu  rechtfertigen  vermag,  wenn  sie  in  derselben 
mehr  negative  als  positive  Seiten  findet  und  infolgedessen  das  Leben 
verurteilt,  so  daß  eine  rationelle  Kosmodicee  unmöghch  wd.  kann 
doch  nach  Nietzsche  das  Leben  ästhetisch  gerechtfertigt  werden: 
eine  ästhetische  Kosmodicee  ist  wohl  denkbar. 

Die  darauf  folgende,  sogenannte  mittlere  Epoche  seines  Schaffens 
^^■ird  gewöhnlich,  ganz  unbegründeterweise,  wie  \x\y  bald  sehen  werden, 
als  die  „positivistische"  bezeichnet.  In  Wahrheit  steht  auch  diese 
Epoche  zweifelsohne  unter  dem  Einfluß  von  Schopenhauer:  gerade  das 
Hauptwerk  dieser  Periode,  „Menschhches,  Allzuraenschhches"  verhält 
sich  echt  schopenhauerisch  —  äußerst  skeptisch  zur  Vernunft.  Nietzsche 
wird  nicht  müde,  wiederholt  auf  das  Alogische,  Irrationale  des  ge- 
samten menschlichen  Lebens  und  selbst  auf  die  LTnfähigkeit  der 
menschlichen  Vernunft  zur  wahren  Erkenntnis  hinzuweisen ;  streng  ge- 
nommen, muß  man  sich  nach  der  Meinung  des  daniahgen  Nietzsche, 


^)  „Ako  sprach  Zarathustra".     Taschenausgabe  S.  41. 
^)  „Geburt  der  Tragödie"  S.  67. 
*)  Ibid.  S.  77. 
^)  Ibid.  S.  77. 


Xietzsche  uikI  Schopenliauer.  191 

diesem  Standpunkte  gemäß,  überhaupt  aller  Urteile  enthalten^). 
Ferner  nimmt  er  in  vollständiger  Übereinstimmuna^  mit  Schopenhauer 
an.  die  bereits  gekennzeichnete  Unzulänglichkeit  unserer  Vernunft 
sei  dadurch  bedingt,  daß  letztere  bloß  ein  Mittel,  ein  Werkzeug 
unseres  Willens  ist').  Daraus  folgt,  daß  Nietzsche  während  dieser 
pseudo-positivistischen  Epoche  sich  in  Wirklichkeit  noch  nicht  ganz 
vom  Primat  des  Willens  befreit  hatte.  Selbst  in  der  dritten  und  letzten 
Periode  seiner  philosophischen  Tätigkeit,  wo  sein  Denken  die  höchste 
Eeife,  Tiefe  und  Selbständigkeit  en-eicht,  selbst  dann,  stellt  seine 
philosophische  Lehre  nichts  anderes  dar,  als  eine  eigenartige  Um- 
I)iklung  oder,  wenn  man  will,  eine  weitere  Entwicklung  des  zweiten 
Buches  der  „Welt  als  Wille  und  Vorstellung",  d.  h.  der  Metaphysik 
des  Willens  bei  Schopenhauer.  Und  in  der  Tat.  in  den  Werken, 
welche  dieser  Periode  seines  Schaffens  angehören  („Also  sprach 
Zarathustra'\  „Genealogie  der  Moral",  „Jenseits  von  Gut  und  Böse", 
„Der  Wille  zur  Macht"),  wii'd  der  Versuch  gemacht,  den  Willen  zur 
Macht  (so  nennt  nunmehr  Nietzsche  Schopenhauers  ,, Willen  zum 
Leben")  zum  Universal prinzip  zu  erheben.  Wer  aber  das  zweite  Buch 
der  ,,Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  aufmerksam  gelesen  hat,  der 
weiß,  daß  diese  Neuerung  Nietzsches  durchaus  nicht  so  originell  ist, 
als  wie  es  vielleicht  ihrem  Autor  erschien.  Schopenhauer  spricht  aller- 
dings überall  ,,vom  Willen  zum  Leben",  er  schheßt  aber  in  diesen 
Ausdruck,  vielleicht  unbewußt,  auch  den  Willen  zur  Macht  ein,  als  eines 
der  wichtigsten  Mittel  zur  Erreichung  seiner  Ziele.  Im  zweiten  Buche 
seines  Hauptwerkes  hebt  Schopenhauer  wiederholt  hervor  das  Vor- 
handensein eines  beständigen  inneren  Kampfes  und  eines  Wett- 
streites zwischen  den  verschiedenen  Erscheinungen  des  Willens  auf 
allen  Stufen  seiner  Objektivation.  Das  Wesen  dieses  Kampfes  und 
Wettstreites,  welchen  man  noch  Schopenhauer  in  der  ganzen  Natur 
verfolgen  kann,  besteht  darin,  daß  ein  und  derselbe,  in  allen  Ideen 
sich  äußernde  Wille,  zu  einer  höheren  und  immer  höheren  Stufe  der 
Objektivation  strebt^).  Um  sein  Ziel  zu  erreichen,  „gibt  der  in  allen 
Ideen  sich  objektivierende  eine  Wille  ...  die  niederen  Stufen  seiner 


*)  „Menschliches,  Allzumenschliches"  (Ausgabe  1899)  §§  31,  .32  Bd.  II, 
48—49. 

')  Ibid.   §§  9,  16,  18,  32,  Bd.  II,  23—24,  32,  34—36,  49. 

*)  Schopenhauer:  „Die  Welt  als  Wille  und  Vorstellung".  Reclamausgabe 
Bd.  I  S.  205. 


192  Michael    Sclnvarz, 

Erscheinung,  nach  einem  Konfhkt  derselben,  auf,  um  auf  einer  hölieren 
desto  mächtioer  zu  erscheinen.  Kein  Sieg  ohne  Kampf:  die  höhere 
Idee  oder  "Willenpobiektivation  kann  nur  durch  Überwältigung  der 
niedrigeren  hervortreten"'^).  AVir  sehen  also,  daß  ^^ietzsches  „Wille 
zur  Macht"  oder  dessen  ,, Kampf  um  die  Macht"'  schon  bei  Schopen- 
hauer bis  zu  einem  gewissen  Grade  vorgebildet  war.  Nietzsche  hat 
nur,  wie  schon  Riehl  bemerkt,  Schopenhauers  Willen  zum  Leben  aus 
einem  metaphysischen  in  ein  biologisches  Prinzip  verwandelt  und 
dieses  mit  Eigenschaften  versehen,  die  offenbar  dem  Darwinismus 
entnommen  sind.  Erwähnen  wir  noch,  daß  Schopenhauer  geradezu 
behauptet,  daß  der  Wille  in  seinem  Streben  „viel  weiter  geht  als  der 
einfache  Selbsterhaltungstrieb",  da  er  fortwährend  mit  einer  un- 
ersättlichen Gier  die  möglichste  Steigerung  seiner  Macht  und  Kraft 
verfolgt^"),  so  wii'd  es  klar,  daß  es  Nietzsche  nur  noch  wenig  zu  tun 
übrig  blieb,  um  im  Anscliluß  an  Schopenhauer  den  „Willen  zur  Macht'' 
zum  Universalprinzip  aller  Dinge  zu  erheben.  Und  so  ist  die  Lehre 
Nietzsches,  auch  in  der  letzten  Periode  seiner  philosophischen  Tätig- 
keit, als  eine  eigenartige  Umgestaltung  der  Lehre  Schopenhauers  vom 
Willen  aufzufassen:  das  Wesen  dieser  Umbildung  besteht  nun  darin, 
daß  Nietzsche  die  Lehre  vom  Willen  nicht  mehr  metaphysisch,  sondern 
empirisch  begründet. 

Aus  dem  Vorhergesagten  ersehen  w  aber,  daß  Nietzsches  geistige 
Evolution  sich  in  steter  Abhängigkeit  von  Schopenhauer  vollzog, 
was  ?uch  seüien  philosophischen  Ansichten  im  Verlauf  seines  ganzen 
Schaffens  eine  ge\^■isse  Einheit  und  Kontinuität  verleilit;  als  Schopen- 
hauers Schüler  entnahm  ilini  Nietzsche  auch  sem  Haupttliema,  und 
zwar:  das  Problem  vom  Werte  des  Lebens.  Während  aber  Schopen- 
hauer keine  genügend  starken  und  zornigen  Ausdrücke  findet,  um 
das  Leben  als  Quelle  des  Bösen  und  des  Leidens  zu  verurteüen  und 
die  endgültige  Erlösung  vom  Leben  nur  in  der  Willensverneinung 
sieht,  verteidigt  Nietzsche,  im  Gegensatz  zu  ilim.  das  Leben  mit  fast 
derselben  genialen  Leidenschaft  und  Energie,  man  könnte  sagen, 
Nietzsche  nehme  das  Leben  gegen  Schopenhauer  in  Schutz.  Die  Biodicce 
d.  h.  die  Rechtfertigung  und  Verklänmg  des  Daseins,  das  ist  der 
zentrale  Punkt,  in  welchem  alle  Fäden  der  philosophischen  Lehre 


9)  Ibid.  S.  206. 

10)  Schopenhauer:  „Die  Welt  als  Wille  und  VorsteUung",  Bd.  II  S.  41 1—412. 


Nietzsche  und  Schopenhauer.  193 

Isietzsches  zusammentreffen,  das  ist  die  Grundmelodie,  welche 
nur  in  verschiedenen  Tonalitäten  fortwährend  in  all  seinen  Werken 
erklingt.  Nietzsche  begründet  allerdings  diese  Verklärung  und  Recht- 
fertigung des  Lebens  seinem  jeweiligen  philosophischen  Standpunkt 
entsprechend:  in  der  ersten  Periode  —  ästhetisch  metaphysisch,  in 
der  dritten  —  ästhetisch  —  naturalistisch;  das  Thema  selbst,  d.  h. 
die  Biodicee,  bleibt  jedoch  unverändert.  AVir  haben  also  bei  Nietzsche, 
der  allgemein  verbreiteten  Meinung  entgegen,  es  tatsächhch  nicht 
mit  drei,  sondern  mit  zwei  deutlich  gekennzeichneten  Perioden  zu 
tun.  denen  ihrerseits  zwei,  ihrem  Inhalte  nach  sehr  ähnliche,  nur 
durch  die  Art  der  Begründung  voneinander  verschiedene,  Welt- 
anschauungen entsprechen.  Diese  beiden  Weltanschauungen  be- 
zeichnet Nietzsche  bekannthch  als  dionysische;  er  symbolisiert  hier- 
mit, nach  dem  hellenischen  Vorbilde,  in  der  Gestalt  des  Dionysos 
die  unbedingte  Bejahung  des  Lebens. 

Daß  w  hier  auf  dem  richtigen  Wege  sind,  das  bezeugt  Nietzsche 
selbst,  hauptsächhch  in  seiner  Autobiographie:  nennt  er  doch  „die 
Geburt  der  Tragödie",  mit  welcher  er  seine  hterarische  Laufbahn  er- 
öffnet, und  wo  zuerst  die  „dionysische  Lebensbejahung''  hervortritt, 
seine  „erste  Umwertung  aller  Werte"^^).  So  weist  Nietzsche  selbst 
auf  die  innere  Verwandtschaft  hin,  welche  zwischen  seinem  ersten  und 
seinem  letzten,  bekannthch  unvollendet  gebhebenen  Werke  („Die 
Umwertung  aller  Werte")  besteht.  Wenn  die  dionysische  Lebens- 
bejahung mit  all  ihren  negativen  und  positiven  Seiten  schon  in  der 
, .Geburt  der  Tragödie"  verkündet  wird,  so  sollte  auch  das  letzte 
(\Herte)  Buch  ,,der  Umwertung  aller  Werte",  von  dem  nur  einzelne 
Fragmente  erhalten  sind,  als  „Dionysos  oder  die  Philosophie  der 
ewigen  Wiederkunft"  betitelt  werden;  auch  hier  ^Yird,  wenn  auch  auf 
neuem  Boden  und  aus  anderen  Gründen,  die  dionysische  Bewertung 
des  Lebens  oder  um  mit  Nietzsche  zu  sprechen:  das  „freudigste, 
übers chwänglich-übermütigste  ,Ja'  zum  Leben"^^)  mit  allen  seinen 
furchtbarsten  und  fragwürdigsten  Seiten  aufs  neue  gepredigt.  Ferner 
im  „Wagner  in  Bayreuth",  wie  auch  im  „Schopenhauer  als  Erzieher", 
in  Werken  also,  die  auch  der  ersten  Periode  seines  Schaffens  an- 
gehören,  entwft    Nietzsche,   laut   seiner   eigenen   Aussage   („Ecce 


^^)  „Götzen-Dämmerung",  S.  350. 

1-)   „Ecce  Homo"  (Taschenausgabe),  Bd.  11  S.  323. 

Archiv  für  GeschichtP  der  Philosophie.    XXVIII.  2.  13 


194  Michael    Schwarz, 

Homo"),  das  Bild  eines  dionysischen,  dythirambischen  Künstlers 
und  eines  dionysischen  Philosophen.  ,,In  allen  psychologisch  ent- 
scheidenden Stellen"  im  „Wagner  in  Bayreuth"  darf  man,  bemerkt 
Nietzsche,  ,, rücksichtslos  meinen  Namen,  oder  das  Wort  ,Zarathustra' 
hinstellen,  wo  der  Text  das  Wort  , Wagner'  gibt"i^),  denn  .,das 
ganze  Bild  des  dythiranil)ischen  Künstlers  ist  das  Bild  des  präexistenten 
Dichters  des  Zarathnstras  mit  abgründlicher  Tiefe  hingezeichnet"^'^). 
Es  scheint,  fährt  Nietzsche  fort,  daß  „Wagner  sich  in  dieser  Schrift 
nicht  wiedererkannte"^^). 

Wenden  wir  uns  aber  jetzt  dem  Hauptwerke  Nietzsches  „Also 
sprach  Zarathustra"  zu,  so  stellt  sich,  laut  seiner  Behauptung,  heraus, 
daß  Zarathustra  selbst  ein  dionysischer  Mensch  ist  (,, dionysischer 
Unhold",  wie  er  sich  scherzhaft  ausdrückt).  Mit  vielen  Zitaten 
aus  ,, Zarathustra"  versucht  Nietzsche  in  seiner  Autobiographie  die 
zweifellose  Verwandtschaft  zwischen  der  Psychologie  Zarathnstras 
und  der  des  dionysischen  Menschen  festzustellen^^).  Wenn  auch 
Zarathustra,  nach  seiner  eigenen  Erklärung,  ,,die  härteste,  die  furcht- 
barste Einsicht  in  die  Reahtät  hat"^'^)  indem  er  als  Verkünder  der 
Idee  des  ewigen  Kreislaufs  des  Lebens  mit  allen  seinen  traurigen  und 
furchtbaren  Seiten  auftritt,  so  findet  er  ,, trotzdem  darin  keinen 
Einwand  gegen  das  Dasein,  selbst  nicht  gegen  dessen  ewige  Wieder- 
kunft"^^). Und  noch  mehr,  dem  Leben,  wie  es  ist,  dem  alogischen, 
amoralischen,  gottlosen  Leben  sagt  Zarathustra  sein  unbedingtes 
,,Ja"  und  ,,Amen".  Er  lehrt  das  Schicksal  heben,  wie  es  auch  sei, 
amor  fati,  —  das  ist  das  Wesen  der  Lehre  Zarathnstras.  Darum  sagt 
er  auch:  ,,in  alle  Abgründe  trage  ich  noch  mein  segnendes  Jasagen"^^), 
und  das  ist  eben  die  dionysische  Wertung  des  Lebens,  argumentiert 
Nietzsche.  Es  bleibt  uns  nur  übrig,  hinzuzufügen,  daß  nach  Nietzsches 
Erklärung  die  Grundkonzeption  des  Zarathustra  keineswegs  die  Idee 
des  Übermenschen  ist,  wie  es  allgemein  angenommen  wird,  sondern  die 
Idee  der  ewigen  Wiederkunft  aller  Dinge,  diese  höchste  Form  der 


13)  Ibid.  ö.  326. 

")  Ibid.  S.  326. 

15)  Ibid.  S.  326. 

1«)  „Ecce  Homo"  S.  354^3.57 

17)  Ibid.  8.  356. 

1«)  Ibid.  8.  356. 

1»)  Ibid.  S.  357. 


Nietzsche  und  Schopenhauer.  195 

Lebeiisbejahung,  die  überhaupt  erreicht  werden  kann'^°).     Die  Idee 
des  ewigen  lü'eislaufs  des  Lebens,  die  im  „Zarathustra"  als  poetische)- 
Mythos,  als  lustvolle  Vision  verkündet  wird,  sollte  auch  die  Ivrönung 
seiner  philosophischen  Lehre  werden.     Es  bestand  die  Absicht,  die- 
selbe in  dem  vierten  Buche  „der  Umwertung  aller  Werte"  systematisch 
zu  begründen  und  zu  entwickeln.  Wer  freudevoD  diese  Idee  des  ewigen 
Kreislaufs  des  Lebens  (deren  Richtigkeit  Nietzsche  aus  dem  Prinzip 
der  Erhaltung  der  Energie  folgert),  akzeptiert,  der  l)eiaht  auch  das 
awige  Leben  und  erreicht  mithin  den  höchsten  Punkt  der  Lebens- 
Ijejahung,  welche  Nietzsche  in  der  Gestalt  des  Dionysos  symbolisiert. 
AVenn  aber  die  Idee  der  ewigen  Wiederkunft  des  Gleichen  als  Zentral- 
idee im  ..Zarathustra"  erscheint,  so  kann  doch  nicht  bestritten  werden, 
daß  gleichzeitig   mit  ihr  dort  auch  die  Idee  des  Übermenschen  ver- 
kündet  vvird,    was  eben  zum  unvermeidlichen    Konflikt   führt:    ist 
doch  die  Idee  des  ewigen  Kreislaufs  des  Lebens  logisch  durchaus  un- 
vereinliar  mit  der  Idee  einer  kontinuierlichen,  fortschreitenden  Be- 
wegung, als  deren  Grenzpunkt  der  Übermensch  erscheint.    Nietzsche 
sucht    diesen    unversöhnlichen    Widerspruch,    der    das    Zarathustra- 
buch  kennzeichnet  und  so  die  Einheit  desselben  stört,  in  seinem  letzten 
Werke  (,,der  Wille  zur  Macht")  zu  beseitigen;  freilich  bleibt  auch  hier 
der  Gedanke  des  Übermenschen  erhalten,  ist  jedoch,  zwecks  Vermeidung 
des  oben  erwähnten  KonfUkts  mit  dem  Gedanken  des  ewigen  Kreislaufs, 
einer  erhebhchen  Änderung  unterworfen.  In  der  Tat  im  ,, Zarathustra", 
in  dieser  ,, Bibel  des  ewigen  Kreises"  ist  der  Übermensch  noch  als 
Exemplar  einer  Überart  gedacht,  der  nur  im  Wege  der  natürlichen 
Zuchtwahl  entstehen  kann,  im  ,, Willen  zur  Macht"  aber  wird  dieser 
Übermensch  durch  den  ,, höheren,  stärkeren  Typus-Mensch"  ersetzt, 
unter  welchem  nunmehr  nicht  die  Entstehung  einer  neuen  Überart, 
sondern  die  Veredlung  der  bestehenden  Menschenart  verstanden  wird. 
In  dieser  Periode  seiner  Entmcklung  sagt  sich  Nietzsche  vom  evolu- 
tionistischen  Natura hsmus  (Darwinismus)  los,  und  verwirft  die  Idee 
des  biologischen  Fortschrittes  als  eine  falsche.    Er  glaubt  schon  nicht 
mehr  an  die  Möglichkeit  der  Entstehung  des  Übermenschen  im  Wege 
der  natürüchen   Zuchtwahl:     der  Mensch,   behauptet   er  schon  im 
., Antichrist",   „ist   das  Ende   der  Entwicklung"   (im   ..Zarathustra" 
hieß  es  noch:  „der  Mensch  ist  kein  Ende").    Wenn  aber  früher  der 


-")  Ibid.  S.  345. 


196  Mic-hacl    Scliwarz. 

Übermensch  nur  diircli  die  natiiiiidu'  Zuchtwiilil  cntstohen  konnte, 
entsteht  dieser  ., höhere  Typns"  nnr  durch  eine  eigenartioe,  man 
könnte  sagen,  geistige  Auslese.  Die  Idee  der  ewigen  AViederkunft  wird, 
im  Moment  ihrer  Entstehung  im  Bewußtsein  der  menschlichen  Gat- 
tung, als  , .großer,  züchtender  Gedanke"  wirken,  und  als  eine  Bürg- 
schaft für  den  Übergang  zu  einem  ,, stärkeren  Geschlecht''  erscheinen. 
Die  ., Schwachen",  argumentiert  Nietzsche,  werden  den  Gedanken 
der  ewigen  Wiederkunft  ihres  Lebens  mit  all  seinen  Leiden  und  Ent- 
sagungen nicht  ertragen  können,  ihn  als  Fluch  empfinden  und  zu- 
grunde gehen;  nur  die  ,, Starken"  w'erden  imstande  sein,  diesen  ver- 
hängnisvollen und  schrecklichen  Gedanken  vom  ewigen  Kreislauf 
des  Lebens  zu  ertragen,  und  ihr  bisheriges  Leben  nicht  nur  freudig 
gutheißen,  sondern  auch  die  ewige  Wiederkunft  dieses  Lebens  er- 
sehnend^). Nur  sie  werden  die  Idee  des  ewigen  Kreislaufs  gewisser- 
maßen, als  eine  ethische  Maxime  ausnützen  können:  der  Ewigkeit 
unseres  Lebens  und  der  ewigen  Wiederholung  unserer  Taten  ein- 
gedenk, werden  sie  mit  allen  Kräften  danach  streben,  den  Stempel 
der  Ewigkeit  ihrem  Leben  aufzudrücken  und  es  wiederholungswürdig 
und  wünschenswert  zu  gestalten.  Dieser  Gedanke  wird  sie  gleichsam 
verwandeln  und  umbilden,  denn  bei  der  Bewertung  jeder  ihrer  Hand- 
lung werden  sie  eindringlich  ihr  tiefstes  und  echtestes  Selbst  be- 
fragen: „Ist  es  so,  daß  ich  es  unzählige  Male  tun  will?"  und  diese 
Fragestellung  wird  sie  veranlassen,  einen  ewigen  Inhalt,  einen  ewigen, 
unvergänghchen  AVert  jedem  Moment  ihres  Lebens  zu  verleihen 
und  seine  ewige  AViederkunft  zu  ersehnen,  ,,Non  alia  sed  haec 
vita  sempiterna".  Somit  wird  hier  die  Idee  des  ewigen  Kreislaufs 
zum  Werkzeug  einer  eigenartigen  geistigen  x\uslese:  einerseits  ver- 
urteilt dieselbe  die  ,, Schwachen"  zum  Aussterben,  anderseits  erzieht 
sie  und  bildet  um  die  „Starken",  indem  sie  ihnen  das  Abbild  der  Ewig- 
keit ihrem  Leben  aufzudrücken  hilft.  Mit  seinem  geistigen  Auge 
sieht  schon  Nietzsche,  wie,  dank  der  züchtenden  Kraft  der  Idee 
der  ewigen  AViederkunft,  dieser  neuen  Form  des  Unsterblichkeits- 
glaubens, von  Zarathustra  als  eine  Art  freudigen  Mythos  ver- 
kündet, eine  mächtige  Generation  heranwächst  und  wie  aus  ihrer 
Mitte,  wenn  auch   in   einer  fernen  Zukunft,    der   „Übermensch"^'^) 


21)  „Der  Wille  zur  Macht"  (Taschenausgabe),  Bd.  IX  S.  52—53. 
-2)  Dem  Begriff  des  Übermenschen  wird  hier,  wie  aus  dem  Vorhergesagten 
folgt,  nur  eine  relative  Bedeutung  beigemessen,  weil  hier  niclit  die  Hervor- 


Nietzsche  inid  Schopenhauer.  197 

entsteht.  Dieser  „ Übermensch "■  wirel,  auch  das  Leljen  mit  all 
seiner  Unlogik,  AmoraUtät  und  Gottlosigkeit  freudig  gutheißen;  sich 
von  jedem  Pessimismus  und  Nihihsmus  lossagend,  wird  er  die 
Welt  mit  einem  Bhck  voller  Liebe,  Wohlwollen  und  Dankbarkeit 
erfassen,  ihre  Vollkommenheit  verkünden  und  dem  ganzen  Sein 
mit  all  seinen  Freuden  und  Leiden  ein  unbedingtes  ,,Ja"  sagen. 

Der  Glaube  an  die  ewige  Wiederkunft  des  Gleichen  ist  das  einzige 
Mittel  den  Übermenschen  zu  schaffen,  und  nur  der  Glaube  an  die  Ent- 
stehung des  Übermenschen  hilft  seinerseits  die  Idee  des  e\vigen  Kreis- 
laufs auszuhalten.  So  verflechten  sich  bei  Nietzsche  seine  beiden 
Grundideen,  sich  gegenseitig  unterstützend^^). 

Tvach  dieser  Analyse  der  Werke  iSietzsches  können  wir  jetzt  schon 
mit  voller  Sicherheit  behaupten,  daß  seine  ganze  philosophische 
Tätigkeit  eine  ununterbrochene  Bearbeitung  eines  und  desselben 
Hauptthemas  darstellt,  und  zwar:  der  Rechtfertigung  des  Lebens 
in  seinem  ganzen  Umfange:  ,,ühne  Abzug,  ohne  Ausnahme  und  ohne 
Auswahl".  Eine  solche  Vergöttüchung  des  Daseins,  eine  solche  ,, Re- 
ligion des  Lebens''  war,  nach  Nietzsche,  nur  den  Griechen  eigen  und 
fand  ihren  x\usdruck  im  Kult  des  Dionvsos,  in  den  dionvsischen 
Mysterien.     Dies  ist  der  Grund,  warum  Dionysos  für  Nietzsche  als 


bringung  eines  Übermenschen  als  Überart  gemeint  ■s\'ird,  sondern  nur  eine 
Züchtung  und  Schaffung  des  ,, höherwertigen"  Typus  —  Mensch  aus  der 
gegenwärtigen  Art  heraus.  Dieser  „höhere  Typus"  könnte  nach  Nietzsche 
nur  „im  Verhältnis  zur  Gesamt-Menschheit  als  eine  Art  Übermensch"  be- 
zeichnet werden. 

-^)  Es  ist  nicht  ohne  Interesse,  hier  zu  bemerken,  daß  sogar  die  Lehre 
von  der  ewigen  Wiederkunft,  welche  Nietzsche  als  die  ,, höchste  Formel  der 
Lebensbejahung"  bezeichnet,  bereits  bei  Schopenhauer  vorgebildet  war.  Im 
4.  Buche  des  1.  Bandes  der  ,,Welt  als  Wille  und  Vorstellung"  finden  wir 
folgende  charakteristische  Stelle:  „Ein  Mensch,  der  .  .  .  seinen  Lebenslauf, 
wie  er  ihn  bisher  erfahren  .  .  .  von  immer  neuer  Wiederkehr  wünschte,  und 
dessen  Lebensmut  so  groß  wäre,  daß  er  gegen  die  Genüsse  des  Lebens,  alle  Be- 
schwerde und  Pein,  der  es  unterworfen  ist,  willig  und  gern  mit  in  den  Kauf 
nähme;  ein  solcher  stände  ,mit  festen  markigen  Knochen  auf  der  wohl- 
geründeten  dauernden  Erde'  und  hätte  nichts  zu  fürchten  .  .  .  Dies  ist  ...  . 
der  Standpunkt  der  gänzlichen  Bejahung  des  Willens  zum  Leben."  (Reclam- 
ausgabe  S.  370,  371,  372.)  Daraus  ist  ersichtlich,  daß  das,  was  für  Schopenhauer 
bloß  eine  flüchtig  hingeworfene  Hypothese  war,  welcher  er  keinerlei  Bedeutung 
beimaß,  bei  Nietzsche  zum  Kern  seiner  philosophischen  Lehre  wurde.  Auf 
diesen  Zusammenhang  wurde  zuerst  von  Krusius  hingewiesen  (siehe  ,, Erwin 
Rohde",  Anmerkung  zu  S.  187). 


11)8  Michael    Scliwarz. 

das  Symbol  cUt  iinboduii2;ten  Lobensbojahun<i;  oischcinl,  waruiii  er 
seine  Bewertung  des  Lebens  als  eine  dionysische  bezeichnet,  warum 
er,  endUch,  diese  Bewertung,  der  heutigen  entgegenstellt,  die.  seiner 
Meinung  nach  ihieu  deutlichsten  Ausdruck  in  der  le])ensfeindhchen 
Ethik  des  Christentums  gefunden  hat.  Daraus  geht  auch  seine 
schonungslose  Kritik  der  gegenwärtigen,  speziell  der  christlichen,  Moral 
hervor.  Diese  Kritik  wurde  nicht  etwa  aus  rein  theoretischen  Erwägun- 
gen unternommen,  sondern  im  Interesse  des  mächtigen  und  kraftvollen 
Lebens,  im  Interesse  seiner  Fülle  und  Schönheit.  Unsere  gegen- 
wärtige christliche  Moral  verleumdet,  «•einer  Meinung  nach,  das  Leben, 
um  es  im  Kamen  eines  jenseitigen  lebensfeindhchen  Ideales  zu  ver- 
neinen und  damit  die  eigentlichen  Grundlagen  des  Daseins  zu  unter- 
graben. Und  darum  schlägt  er  denn  auch  vor,  alle  gegenwärtigen 
lebensfeindhchen,  der  christlichen  Ethik  entstammenden,  morahschen 
Werte  in  dionysische,  d.  h.  in  lebensbejahende  umzuwerten.  Der  christ- 
lichen Moral  mit  ihrer  Lehre  von  der  Selbstentsagung  und  Selbst- 
entäußerung, welche  Nietzsche  für  das  größte  Verbrechen  gegen  die 
nienschhche  Natur  hält,  stellt  er  seine  dionysische,  lebensbejahende 
Ethik  entgegen,  die  aus  dem  Überfluß  der  Lebenskräfte  entstanden 
ist.  Denn  nur  bei  überströmender  Gesundheit,  bei  übergroßer  Lebens- 
fülle („Neurose  der  Gesundheit",  wie  es  Nietzsche  nennt),  entsteht 
eine  Art  Extase,  wo  selbst  der  Schmerz  als  Stinmlans  wirkt  und  wo 
auf  dem  Boden  dieser  eigenartigen  „Psychologie  des  Orgia^mus'' 
nicht  nur  die  einfache  Lebensbejahung  als  solche,  sondern  auch  der 
bacchantische  Lebensrausch  möglich  wird. 

Nietzsche  ist,  wie  schon  Joel  bemerkt^*),  ein  Bacchant,  wie  ihn 
die  Weltgeschichte  noch  nicht  kannte:  in  seiner  aufrührerischen 
Seele  geht  ein  fortwährender  Stimmungswechsel  vor  sich,  eine  e\vige 
Ebbe  und  Flut.  Die  höchste  Seelenspannung,  der  orgiastische  Rausch, 
wo  die  höchste  Freude  gleichsam  den  Schmerz  gebiert,  und  das  tiefste 
Leiden  seinerseits  die  höchste  Freude  erzeugt,  —  diese  ..wundersame 
Mischung  und  Doppelheit  in  den  Affekten'',  so  charakteristisch  für 
den  dionysischen  Zustand,  das  ist  das  wahre  und  echte  Element  der 
Nietzscheschen  Seele,  das  Geheimnis  seiner  Persönlichkeit  und  das 
Grunderlebnis,  dem  seine  Philosophie  entquillt.  Nietzsche  ist  der 
auferstandene  Dionysos. 


4 


-*)  Joel:  „Nietzsche  iiiid  die  Romantik"  8.  90. 


VII. 

L'  Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca. 

Alessandro  Chiapelli, 

professore  emerito  della  R.  Universitä  di  Napoli. 

Qiiando  noi  ci  domandiamo  per  quäle  procedimento  e  per  virtü 
di  quali  coefficienti  storici  sia  sorta  la  filosofia  greca,  e  quali  sieno 
State,  qiiindi,  le  attinenze  di  essa,  nelle  origini  sue,  colla  cultura  Orien- 
tale, dobbiamo  teuer  lontano  dalla  nostra  niente  il  pregiudizio  che 
im  tale  quesito,  in  qualunque  modo  si  risolva,  comprometta  o  dimi- 
nuisca  la  originalitä  ed  il  valore  di  questa  grandiosa  opera  del  pen- 
siero  che  e  la  filosofia  ellenica.  Soltanto  da  uno  spirito  perfettamente 
equilibrato  in  tutte  le  sue  attitudini,  armonioso  insieme  e  libero, 
poteva  nascere  una  cosi  alta  virtü  di  speculazione  filosofica,  e  questa 
creare  quelle  possenti  e  originali  concezioni  dei  grandi  sistemi  che 
sono  come  altrettante  opere  d'arte  del  pensiero  nei  secoli.  Ne  si  deve 
credere,  secondo  altri  ha  fatto  di  recente,  che  un  tale  quesito  sia 
ozioso,  perche  gli  impulsi  esterni  non  ci  possono  dare  ragione  del 
valore  immanente  e  permanente  di  questa  monumentale  costruzione 
del  genio  greco.  Quando  noi  intendiamo  per  mezzo  della  critica 
storica  di  risalire  alle  origini  di  un  gran  fatto,  noi  facciamo  come 
chi  rimonta  alle  scaturigini  prime  d'im  fiume,  e  ne  va  a  ricercare 
le  sorgenti  iniziali  nelle  profonde  ombre  delle  foreste  montane^). 
§enza  questa  indagine,  vano  sarebbe  il  tentare  di  determinare  il 
corso.  la  direzione,  la  natura,  la  stessa  virtü  fecondatrice  di  questa 
corrente  fluviale.  Questo  camminare  a  ritroso  che  fa  la  critica  storica, 
e  costituito  da  una  serie  d'indagini  e  di  ragionamenti  per  impadronirsi 
di  quel  complesso  di  coefficienti  storici,  onde  ha  avuto  non  giä  sua 
la  virtü  intima  ma  la  ispirazione  iniziale,  e  quindi  la  fisionomia  pro- 


^)  Gomperz,   Griechische   Denker.     2.  Aufl.  1903  I  p.  3  syg. 


200  Alessandio    Chiapelli, 

pria,  Ulla  grande  creazione  spiritunlc,  o  si  tratti  dcirarle  o  dcU'opera 
del  pensioi'ü. 

Getto,  fu  graiuleiiiente   benciiiorita  quella  scuola  o  dirozioiie   di 
critica    storica    clio,     dal    Lobeck    al    Grote    e    allo    Zellor,     le- 
nmovendo  gli  antichi  e,  spesso,  fantastici  ravvicinamenti  della  sa- 
pienza  Orientale,  mal  conosciuta  allora,  alla  filosofia  e  cultura  elleuica, 
pose  in  piü  cliiara  luce  roriginalitä  incontestabile  del  pensiero  greco. 
Ma  non  si  potrebbe  escludere  che  a  dare  a  cotale  reazione  critica, 
contro    eruditi    come     il    Roeth,     il     Gladisch,     il     Teich  iiiiiller, 
lo  Schroeder    ed  altri,    im    tono    talora   acre    ed  animoso    e    uno 
spirito  troppo  esclusivo  e  negativo,  non  abbia  confcrito  anche  quel 
supposto  irragionevole  che  il  significato  della  filosofia  greca  nella 
storia  del  niondo  sia  indissolubilmcnte  legato  alla  dimostrazione  della 
sua  assoluta  autoctonia.     A  molti  place  considerare  lo  svolgimento 
filosofico  ellenico  conie  alcunche,  per  cosi  dire,  di  autonatico  e  diretto 
da  una  legge  inerente  fin  dagli  inizi  alla  natura  dello  spirito  greco, 
non  perturbata  mai  da  influssi  esterni  come  avvenne  alla  cultura 
roniana,  deviata,  ad  un  certo  punto  del  suo  svolgimento,  dalla  in- 
fusione deir  ellenismo  nel  mondo  latino.   E  i)iace  ancora  che.  a  com- 
pletare  la  visione  del  quadro,  il  pensiero  greco  fino  dalle  origini  sue 
si  annunzi  immune  da  ogni  impulso  che  gli  potesse  venire  da  di  fuori, 
cioe  dai  contatti  coi  popoli  circostanti,  e  segnatamente  dell'  Asia. 
Se  non  che  questo  supposto  isolamento  non  corrisponde  ai  resultati 
delle  ricerche  piü  sicure  e  piü  recenti,  e  Fhortus  conclusus  degli 
esclusivi  ellenisti  si  e  ormai  aperto  per  mille  vie,  dinanzi  agli  occhi 
della  nuova  critica  storica,  ai  molteplici  influssi  asiatici.     Come  le 
ricerche     del     Wendland,     del     Reizenstein,      del     Cuniont,     del 
Dieterich,    del  Giemen    e  di  tanti    altri  hanno    posto  in  evidenza 
il  nuovo  soffio  che   dalF  Oriente   spirö  sul  terreno  greco  nel  periodo 
ellenistico,  cosi  par  verosimile  che  alcunche  di  analogo  avvenisse  anco 
nel  periodo  delle  origini  della  riflessione  filosofica  greca;  se  poniamo 
mente  alla  natura  e  allo  spirito  di  quel  popolo  da  Piatone  chiamato 
fpiZofia&^sg,  cioe  curioso  e  vago  di  apprendere,  e  avido  di  conosccre, 
che  nel  periodo  eroico  e  mitico  si  era,  per  cosi  dire,  impersonato  nella 
figura  di  Odisi>eo,    di    colui    ,,che   di  molti  uomini  vide  i  costumi 
e  conobbe  la  mente",  e  che  Erodoto  poi    riprodusse    nella    figura 
di  Solone  dinanzi  a  Greso  come    animato    dallo    spirito    di  ricerca 


L" Oriente  e  le  Oiigiiii  della  Filosofia  Greca.  201 

Se  11011  che  i  termini  storici  della  questione  sono  oggi  profoiida- 
nieiite  iimtati:  perclie  le  relazioni  iniziali  tra  la  filosofia  greca  e 
rORIEXTE  vaniio  ricongiuiite  ad  una  serie  di  fenomini  congeneri, 
venuti  in  maggior  luce  dalle  scoperte  e  dalle  indagini  degli  Ultimi 
decenni  suUe  forme  arcaiche  delF  arte  protoelleiiica  e  preellenica, 
cioe  deir  etä  niicenea  e  premicenea,  siii  miti  e  i  ciilti  della  priraitiva 
religione  greca,  e  suUe  prime  manifestazioni  della  cultura  scientifica 
di  quel  popolo,  vediito  nellc  relazioni  sue  antiche  coli'  Asia  e  coUa 
valle  del  Mio.  I  segni  dei  rapporti  fra  TEgitto  e  il  mondo  egeo 
resultano  dai  testi  geroglifici  della  diciottesima  dinastia,  e  dai  bas- 
sorilievi  delle  toml)e  tebane:  conie,  d'altra  parte,  oggetti  ed  idoli 
di  provenienza  egizia  sono  stati  trovati  a  Micene,  nelF  Heraioii 
d'Argo,  in  Creta,  e  Statuette  d'Iside  nelle  piü  antiche  tonibe 
d'Eleusi-).  Quanto  alle  infiltrazioni  orientali  ed  egizie  nelF  antica 
religione  ellenica,  basta  ricordare  Faffinitä  delF  Afrodite  greca 
coir  Astarte  Fenicia  e  1"  Ishtär  assiro  —  babilonese  e  del 
suo  araante  Adonis  —  Thammuz;  la  parentela,  ora  bene  illustrata 
specialmente  dal  Foncart^),  della  Demeter  eleusinia  colla  Iside 
egizia,  e  del  Dionysos  traoio  coli'  egizio  Osiride  (giä  nota  ad  Erodoto); 
il  rinfrangersi  molteplice  della  grande  divinitä  femminile  asiatica, 
scolpita  dagli  Hetei  nei  fianchi  della  montagna  di  Sipilos  nell'  Ana- 
tolia,  in  molte  e  varie  forme,  sulle  coste  delF  Asia  Minore,  nelle  isole 
egee  e  nella  Grecia  Continentale,  sotto  i  nonii  diversi  di  Ma,  di 
('ybele  frigia^),  di  Rhea.  della  Magna  Mater,  della  Bendis  tracia  e 
cosi  via.  Tutto  questo  e  altro  sta  a  dimostrare  che  nell"  Ellade  fino 
dai  piü  antichi  secoli  della  sua  cultura  mediterranea  erano  penetrati 
elementi  religiosi  di  culti  orientali,  e  con  essi  i  primi  semi  di  un  pen- 
sicro  ancora  av^'olto  nella  forme  mitiche  e  rappresentative.  Se, 
dunque,  alla  grandezza  delF  arte  ellenica  e  alla  originale  intuizione 
della  natura  che  sta  al  fondo  dei  miti  greci  nuUa  toglie  che  motivi 
ed  elementi  fossero,  nelF  uno  e  nell'  altro  campo,  venuti  in  prima  dai 
contatti  coi  grandi  centri  dirradiazione  della  civiltä  Orientale,  la 


-)  Fimmen,  Zeit  und  Dauer  der  kretisch-mykenischen  Kultur 
1909  p.  58.  gj.  Foucart,  Les  Mysteres  d'EIeusis.  Paris  1914  tutto  il  Cap.  I. 
^)  Foucart,  op.  cit.  1914  p.  40  segg.  Frazer,  Adonis,  Attis,  Osirisl907; 
Güblet  d'Alviella,   Eleusinia  1903  p.  73. 

'')  Matar    Kubile    in   una   iscrizione   frigia   interpretata   dal   Ramsay 
Journal   cf    Hellenic    Studies  V  p.  24G. 


202  Alc'ssaiulrc)    Chiapclli, 

Mesopotaniia  c  la  valle  del  Nilo,  come  tutti  oramai  dobbon  riconoscere, 
iina  (onsiinile  misura  dev' essere  logicamente  applicata  anche  ai  rap- 
porti  del  prinio  pensiero  filosofico  greco  colla  cultura  dei  popoli  asia- 
tic-i,  e  colla  religione  egizia:  pur  tenendo  conto  del  fatto  essenziale 
che  la  filosofia  fiorisce  in  una  etä  in  cui  la  civiltä  ellenica  e  giä  adulta 
e  preparata  a  questa  superiore  manifestazione  dello  spirito.  Egli 
e  che  i  semi  della  cultura  portati  pel  tramite  delFesteso  commercio,  '' 

le  cui  vie  furoro  sempre  veicoli  di  comunicazioni  intellettuali,  trova- 
vano  giä  nelF  Ellade,  coloniale  dapprima  e  continentale  piü  tardi,  un 
terreno  niirabilmente  propizio  e  fruttifero  a  questa  nuova  feconda- 
zione  straniera.  senza  la  quäle  quelle  felici  disposizioni  native  sareb- 
bero  rimaste  probabilniente  inoperose. 

Giova,  pertanto,  in  primo  luogo  richiamare  i  periodi  e  le  forme 
storiche  principali  della  questione,  per  vederne  meglio  i  terniini  odierni, 
e  gli  elementi  nuovi  che  possano  avviarla  ad  una  risoluzione  criti- 
camente  piü  sicura.  Ora  non  v'ha  dubbio  che  a  chi  guardi  il  coni- 
plesso  delle  testimonianze  storiche.  lungo  Tantichitä  classica  e  cri- 
stiana,  intorno  ai  rapporti  tra  la  filosofia  greca  e  il  mondo  Orientale, 
quelle  testimonianze  crescono  di  numero  e  di  determinatezza  quanto 
piü  si  scende  nella  corrente  dei  tempi.  Se  piü  volte  Erodoto,  Pia- 
tone ed  altri  piü  antichi  scrittori  ci  parlano  d'una  supposta  deriva- 
zione  della  religione  o  della  matematica  greca  dalFEgitto,  nulla  sembra 
essi  sappiano  dei  viaggi  dei  filosofi  greci  e  dei  loro  rapporti  colla  terra 
dei  Faraoni  e  coli"  Oriente.  Solo  dopo  il  terzo  Secolo  questa  opinione 
appare  anche  fra  i  greci,  e  molto  piü  chiara  si  delinea  nel  periodo 
alessandrino.  quando  il  pensiero  greco  entra  in  contatto  colla  cul- 
tura Orientale,  e  i  giudei  ellenisti.  specialniente  d'Alessandria,  come 
i  sacerdoti  egizi  sotto  i  Tolomei,  accreditano  Fopinione  che  i  loro 
libri  sacri  fossero  le  fonti  originali  onde  flui  la  sapienza  greca.  La 
quäle  opinione  trovava  il  terreno  favorevole  fra  i  greci  d'un  tempo 
in  cui  la  originalitä  filosofica  decaduta  e  tutte  le  tendenze  sincretis- 
tiche  del  tempo  facevano  sentire  piü  vivo  il  bisogno  di  ricongiungere 
le  dottrine  elleniche  ad  una  rivelazione  e  ad  una  sapienza  riposta 
ed  arcana  come  quella  Orientale,  che  assumeva  agli  occhi  loro  un 
carattere  augusto  e  venerando^).    La  rassomifflianza  di  certe  dottrine 


^)  V.  per  tutti  il  Wendland,  Die  Hellenistische-Römische  Kultur. 
2.  und  3.  Aufl.  Tübingen  1912  p.  127  segg.  Cumont,  Rcligions  Orientales 
2  p.  240  segg. 


L'Oriente  e  le  Oiigini  della    l*"ilo:^ofia  Greca.  20P> 

crebbe  allora  credito  e  diffusione  alla  leg-^enda  siii  viagni  degli  an- 
tichi  filosofi  in  lontane  regioni;  riflesso  e  riprova  di  quel  sincretismo 
filosofibo  religioso  che  domina  in  tutto  il  lungo  periodo  ellenistico.  Per 
opposte  ragioni  piü  tardi  i  polemisti  pagani  contro  11  Cristianesimo, 
da  Celso  a  Giuliano,  e  gli  Apologisti  e  i  Padri  Alessandrini,  si  appro- 
priarono  qiiesta  idea:  gli  uni  onde  dimostrare  che  quanto  ia  dottrina 
cristiana  aveva  di  meno  spregevole  doveva  essere  ereditä  della  sa- 
pienza  greca  o  adulterazione  della  cultura  classica:  gh  altri  per  ricer- 
care  nel  mondo  pagano  gli  antecedenti.  la  preparazione  della  rivela- 
zione  cristiana,  gli  öjisgitara  rov  hr/ov.  come  Giustino  e  Clemente 
li  chiamano;  ovvero  per  dimostrare  che  la  filosofia  greca  deriva 
dair  Anticü  Testamento,  o  che,  come  aveva  giä  detto  il  neopitao'orico 
]\'umenio,  Piatone  non  e  altro  che  un  Movofjg  aTTixuojv^). 

Ora  ia  critica  moderna  ha  esclusi  per  sempre  i  pretesi  rapporti 
deHa  scienza  greca  con  Mose  e  i  Profeti,  la  siipposta  dipendenza  del 
Timeo  dal  Pentateuco:  fin  da  quando  la  interpretazioni  delle  iscri- 
zioni  geroglifiche  e  delle  cuneiformi  rivelarono  i  misteri  di  due  civiltä 
ben  piü  antiche,  Fegizia  e  l'assiro  —  Babilonese,  e  la  scoperta  del 
sanscrito,  rivelatrice  della  parentela  glottologica  ed  etnica  indo- 
europea,  allargava  Forizzonte  della  Storia  e  illustrava  una  civiltä 
ben  piü  affine  all'  ellenica  che  non  Fantico  Israele.  Se  non  che  FIndia 
e  troppo  lontana  storicamente  dalla  Grecia.  e  i  rapporti  sicuri  con 
essa  non  cominciano  che  all'  etä  di  Alessandr(j  e  dei  Diadochi.  Noi 
potremmo  anche  ammettere  una  penetrazione  d'idee  brahmaniche  e 
Iniddhistiche  nel  Cristianesimo  nascente,  e  per  la  diffusione  della 
letteratura  Buddhistica  al  tempo  di  Cristo,  quäle  resulta  dalle  iscri- 
zioni  d'Asoka  e  dalle  recenti  scoperte  di  traduzioni  nei  dialetti  del- 
Flmpero  Parto:  penetrazione  possibile  per  le  antiche  vie  commerciali 
che  congiungevano  FIndia  alla  Palestina,  e  per  altre  condizioni 
estrinseche  bene  illustrate,  fra  gli  altri,  dalF  Edmunds.  Ma  cinque 
secoli  innanzi  anche  queste  vie  di  comunicazioni  mancavano.  Invece 
vi  erano  altri  due  centri  coi  quali  pare  storicamente  piü  dimostrato 
il  contatto  della  Grecia,  e  sulla  cui  civiltä  la  scoperta  della  hngua 
geroghfica  e  della  lingua  Zenda  ha  sparsa  una  luce  piü  chiara:  da 
uu  lato,  FEgitto  dopo  Psamanetico  alla  metä  del  settimo  secolo  diretta- 


^)  Xumen.  Fragm.  13  Tlied.  fcf.  Giemen.  Struui.  I  8,  5  Stählin). 


204  Alessaudro    Chiapelli, 

inente  aperto  al  commercio  greco,  scgnatamente  dcgf  loiii  deirAsia 
Minore  e  delF  isole  egee,  ma,  senza  diibbio,  in  rapj)orto  piü  indiretto 
colla  cultuta  ellenica,  e  non  solo  per  mezzo  dci  Fenici,  giä  da  moiti 
secüii,  conie  provano  le  scoperte  archeologiche  di  Micene  e  di  Ciiossos, 
la  stessa  arte  cipriota  e  alcuni  miti  proto-elieniei:  dall'altro,  l'Asiria, 
dopo  Ciro  confusa  colla  Persia,  che  traverso  alla  Frigia,  e  la  Lidia, 
spiegava  la  sua  azione  suUe  colonie  grcctie  dell' Asia  Minore  nelF  arter, 
nelle  forme  del  culto,  in  alcune  intuizioni  religiöse,  e  sopratutto  nelli; 
conoscenze  astronomiche  ed  astrologiche.  Non  fa  meraviglia,  quindi, 
che  circa  la  metä  del  secolo  scorso  risorgesse,  suUe  orme  della  sinibohca 
del  Creuzer,  Fantica  ipotcsi  della  origine  della  filosofia  greca  dalF 
Oriente,  principalmente  sostenuta  dal  Roeth,  che,  colla  sua  critica 
spesso  poco  cauta  e  troppo  fantasiosa,  cercava  le  tracce  della  religione 
Zoroastrica  in  Democrito  e  in  Piatone,  in  altri  filosofi  quelli  della 
religione  egizia;  e  dal  Gladisch  che  tentava  un  sistema  piü  compren- 
sivo,  in  cui  cinque  dei  grandi  sistemi  presofistici  si  dovevano  riscon- 
trare  con  altrettante  forme  di  dottrine  Orientali').  Se  non  che  questi 
tentativi  ebbero  poca  fortuna  perche  scarso  era  il  materiale  o  mal 
sicuro  il  fondamento  sn  cui  con  troppa  fiducia  edificavano  i  due  dotti 
tedeschi.  E  d'altra  parte  lo  svolgimento  e  il  fiorire  degii  studi  filo- 
logici  e  storici,  e  la  maggior  conoscenza  delF  antichitä  elassica,  deter- 
juinava  una  non  illigittima  resistcnza  a  questi  ravvicinamenti  orien- 
tali  in  nome  della  originalitä  assoluta  della  cultura  e  della  filosofia 
greca:  e  i  nomi  del  Lobeck,  del  Preller,  del  Welcker,  dello  Schoemann, 
del  Ritter,  del  lanet,  dello  Zeller  (il  piü  autorevole  e  costante  difen- 
sore  delF  assoluta  indipendenza  della  filosofia  ellenica)  fino  al  Rohde, 
al  Burnet**),  al  Milhaud^),  rappresentano  questa  tendenza  in  quello 
che  ha  di  ragionevole  e  d'inconstetabile,  e  in  quello  che  anche  ha  di 
esclusivo  e  di  eccessivo.  Codesta  reazione  critica,  alla  quäle  si  ricon- 
giungono  anche  oggi  orientalisti  come  il  Deussen  ed  ellenisti  come 
il  von  Armin,  che  sono  fra  i  piü  recenti  e  valenti  espositori  della  filo- 


')  Roeth,   Gesch.   unserer  abendländ.   Philos.   2  Bde.   Mannheim  e  del  ^ 

Gladisch  una  serie  di  memorie  che  va  dal  1841  al  1866,  1858  riassunte  nello 
scritto  dal  titolo  Die  Religion  und  Philos.  in  ihrer  geschieht!.  Entwicklung  1852. 

*)  Burnet,  Early  greek  philosophy.  London-Edinburgh  1892 
p.  15;  trad.  ted..  Die  Anfänge  der  griech.  Philosophie.  Leipzig-Berlin 
1913  p.  13  segg.  : 

*)  Milhaud,    Les    Origines    de    la    Science    greciiue.      Paris   1893. 


L'Oriente  e  le  Origini  drlla  Filosofia  (rreca.  205 

Sofia  grcca  c  che  i  siioi  rapporti  coli"  Oriente  passano  sotto  sileiizioi^), 
se  ha  servito  di  giusto  coiitrappeso  alle  troppo  frettolose  conclusioni 
tentatc  nella  prima  parte  clel  secolo  seorso,  non  e  perö  riescita  ad 
eliminare  Fopposta  e  rinascente  tendenza;  la  quäle  piü  di  recente 
provveduta  di  materiale  piii  ricco  e  criticaniente  accertato,  e  tornata 
di  miovo  a  riaffermare  le  attinenze  della  filosofia  greca  primitiva 
colle  rcligioni  e  coi  filosofemi  orientali.  La  maggiore  conoscenza 
dei  libri  sacri  dell'  Oriente,  speeie  del  cosi  detto  .Xibro  dei  Morti" 
deir  antico  Egitto,  il  progresso  degli  studi  assiriologici  e  la  miglior 
conoscenza  critica  dei  documenti  iranici,  doveva  naturalmente  con- 
tribuirvi. 

E  cosi,  per  diverse  vie  e  in  misiira  diversa,  tentarono  d'illustrare 
questi  rapporti  il  Teichmüller,  il  Tannevy,  lo  Schroeder,  il  Pfleiderer, 
il  Gruppe^^),  ed  anche  in  questi  Ultimi  anni  il  AVendland,  il  Cumont, 
FAmelineau:  tantoche,  pur  dissentendo  da  molte  loro  conclusioni, 
ellenisti  del  valore  e  deir  autoritä  del  Diels  e  del  Goraperz,  inclinano 
a  riconoscere  in  massima,  anche  senza  avventurarsi  in  particolari 
ricerche  comparative^^).  che  senza  influssi  orientali  e  colla  ipotesi 
della  pura  autoctonia  dell'  ispirazione,  non  si  possa  oggi  dare  una 
ragione  adeguata  delle  origini  e  delle  prime  forme  della  riflessione 
filosofica  greca:  pur  rimanendo  intatto  e  fernio  il  giudizio  del  suo 
valore  assoluto  ed  originale. 

2. 

La  questione  oggi  si  presenta  per  un  rispetto  assai  piü  complessa, 
e  per  un  altro  assai  piü  determinata  e  seniplice  che  non  fosse  nella 
seconda  metä  del  secolo  seorso,  cioe  nel  massimo  fiorire  della  scienza 

^")  Deussen,  Philosophie  der  Griechen.  Leipzig  1911;  Arnim, 
in  Kultur  der  Gegenwart  dell'  Hinneberg  I,  V,  2.  Aufl.  1913  p.  94  segg. 
Lo  stesso  dicasi  delle  altre  piü  recensi  trattazicni  di  tjuesto  antico  periodo 
del  Doering,  Kinkel,  Gercke  e  Goebel. 

11)  Teichmüller,  Neue  Studien  zur  Gesch.  d.  Begriffe  IL  Gotha 
187S;  Tannery  in  Revue  Philosophique  188Ü;  Schroeder,  Pythagoras 
und  die  Inder.  Leipzig  1884;  Pfleiderer,  Die  Philos.  Heraklits  im 
Lichte  des  Mysterienwesens.  Leipzig  1886;  Gruppe,  Griech.  Kulte 
und   Mythen  I  1887. 

12)  Diels  in  Archiv  für  Gesch.  d.  Philos.  II  p.  89  scrive:  „Das 
Problem  verdient  wirklich  das  eindringlichste  Nachdenken,  da  wohl  nur  noch 
wenige  an  die  völlige  Autochthonie  der  griechischen  Spekulation  glauben 
werden."    Gomperz,  Griech.  Denker  I.    2.  Aufl.  1903  p.  77  segg.  429. 


2()G  Alessandro    Chiapelli, 

deir  antichita  dassica.  Piü  complessa.  poiche  non  basta  Topera 
comparativa  e  rintime  somio-lianze,  bensi  bisogna  dimostrare  per 
quali  medi  termini  storici  una  intuizione  oriPiitale  possa  esser  peiie- 
trata  nel  nioiido  cllcnico,  ed  essere  stata  motivo  e  impulso,  se  iimi 
oscmplare,  di  dottrine  filosofiche:  ma  ancora  piü  semplico,  pcn-ho 
questa  stessa  ragione  esclude,  come  si  potrebbe  dire,  a  priori,  alciiiu' 
delle  eiviltä  piü  lontane  dalla  Grecia,  come  la  Cina,  Tlndia,  ed  Israele. 
Ma  la  questione  deve,  in  primo  hiogo,  considerarsi  in  modo  indiretto 
da  chi  si  domandi  quäl  valore  ed  autoritä  possa  avere  la  tradizione 
che  ad  essa  si  riferisce,  e  a  quäle  epoca  risalga;  prima  di  vedere  quali 
argomenti  intrinseci  vi  sono  per  decidere  se  vi  sieno  stati  questi  in- 
flussi  originali  delF  Oriente  sul  pensiero  greco,  e  in  quäl  misura  si 
possano  o  si  debbano  riconoscere. 

Ora  quanto  al  primo  punto,  conviene  innanzi  tutto  teuer  pre- 
sente  e  discutere  il  giudizio  critico  che  ne  ha  dato  il  massimo  storico 
della  filosofia  ellenica^^^).  e  che  vale  per  ogni  altro  consimile.  Ora 
per  lo  Zeller  la  tradizione  e  qui  insufficiente  e  di  per  se  molto  sospetta. 
come  quella  che  cresce  ed  abbonda  quanto  piü  ci  si  allontana  dalle 
origini.  Gli  eruditi  neopitagorici  e  neoplatonici  della  tarda  antichita 
raccontano  bensi  molti  viaggi  degli  antichi  filosofi:  ma  le  testimo- 
iiianze  loro  sono  poco  attendibih.  Poiche  non  solo  non  mostrano  di 
derivare  da  fonti  sicure,  ma  sembrano.  anche  mosse  da  un  intendi- 
mento  dogmatico,  anziehe  da  un  concetto  storico  e  critico.  Da  un 
lato,  essi  vedono  gli  antichi  filosofi  come  avvolti  in  una  incerta  aureola 
di  leggenda:  da  un  altro,  Orientali  e  Greci,  per  diverse  ragioni,  erano 
indotti  a  prestar  fede  a  quelle  antiche  atinenze.  Invece,  prosegue 
lo  storico  tedesco.  le  piü  antestimonianze  o  tacciono,  o  ci  offrono 
mere  supposizioni.  Anche  se  fosse  certo  il  viaggio  di  Talete  in  Egitto, 
ad  ogni  modo  non  senln-a  ne  avesse  derivate  se  non  conoscenze  mate- 
matiche  ed  astronomiche:  e  che  Pitagora  sia  stato  in  Egitto  ci  vien 
detto  per  la  prima  volta  da  Isocrate,  la  cui  testimonianza  ha  assai 
scarso  valore.  Erodoto,  che  lo  ignora,  accenna  solo  ad  affinitä  reli- 
giöse e  matematiche,  non  filosofiche,  dell"  Ellade  colla  Valle  del  Nilo : 
ne  Democrito  stesso  che  conosce  TEgitto  non  sembra  di  credere  alla. 
superioritä  della  geometria  egizia  sulla  propria;  ne,  certo,  crede  alla 
superiorita  degli  Egiziani  sui  Greci  Piatone,  che  di  quelli.  anzi.  fa 


13)  Zeller,   Philos.  d.  Crieeh.  I,  I^  p.  19—41. 


L'Oriente  e  le  Oiigini  della  Filosofia  Ureca.  207 

cosi  severo  giudizio  nella  Kepubblica.  Aristotele  medesinio  niilla 
sa  di  qiiesti  viaggi  di  filosofi  antichi  in  Oriente:  e  per  lui  gli  Egiziani 
sono  i  preciirsori  bensi  dei  Greci,  ma  solo  nelle  dottrine  matematiche 
ed  astronomiche  (Mctaph.  I,  1).  E  cosi  Diodoro  e  gli  altri  non  parlano 
SB  non  di  processi  tecnici,  di  leggi  civili,  d'istituti  religiosi  come  pro- 
venienti  dall'  Egitto,  non  mai  d'intuizioni  speculative  e  di  motivi 
propriamente  filosofici. 

Se  noi  vogliamo  ora  niisurare  il  valore  di  questi  argonienti  e  il 
significato  della  tradizione  conviene  tener  presente  innanzi  tutto  che 
le  testimonianze,  per  quanto  tarde,  e,  se  si  vuole.  animate  da  un 
intento  dottrinale,  debbono  pure  riannodarsi  ad  un  nucleo  originale 
di  veritä  storica  ancorche  alterato;  e  questo  uucleo  e  appunto  pro- 
posito  nostro  il  cercare.  II  dit'etto  di  testimonianze  piü  dirette,  dice 
il  Tannery,  non  puo  avere  un  valore  decisivo  se  si  consideri  quanto 
sien  ristretti  i  dati  che  noi  possediarao  sulle  conoscenze  dei  primi 
fisici  e  scarse  le  notizie  degli  scrittori  delF  antichitä  sulla  cultura  dei 
„barbari''.  Certo,  prima  che  le  tombc  delF  Egitto  ci  avessero  dato 
i  papiri,  e  i  testi  ieratici,  o  le  escavazioni  asiatiche  ci  avesser  restituite 
le  iscrizioni  cuneiformi  e  le  tavolette  di  Ninive  e  di  Babilonia,  questa 
ignoranza  non  poteva  esser  misurata.  Ma  oggi  bisogna  tener  conto 
delle  rivelazioni  che  ci  danno  codeste  risorte  scritture.  Poiche  gran 
parte  degh  argomenti  addotti  dallo  Zeller  e  dagli  altri  si  dilegua  se 
si  ferma  bene  il  punto  \äsuale  da  cui  dobbiamo  guardare  gli  antichi 
fisici.  II  dire  che  gli  antichi  ci  parlano  di  opinioni  particolari  ereditate 
daU'  Oriente  non  giä  di  concetti  filosofici,  non  basta,  se  consideriamo 
che  questi  anctichi  pensatori  non  muovevano  da  un  principio  astratto, 
bensi  da  particolari  osservazioni  e  da  esperienze  sul  mondo  sensibile, 
che  poi  generaleggiando  riconducevano  a  principi  di  estensione  e 
applicazione  universale.  Indipendenti  da  ogni  tradizione,  seguivano 
una  via  naturale.  Ora  secondo  natura  il  concetto,  direbbe  Aristotele, 
e  Fultimo.  Poiche,  dunque,  prima  della  Metafisica  e  la  Fisica,  e  natu- 
rale aspettarsi  che  gh  antichi  non  ci  parlino  se  non  di  dottrine  geo- 
metriche  ed  astronomiche  come  importazione  egizia  ed  asiatica.  Ma 
solo  da  queste  e  per  queste  si  svolse  la  speculazione  di  questi 
fpvoioloyoi,  come  Aristotele  li  designa;  sebbene  eglipoi  attribuisca 
loro  un  modo  di  vedere  astratto  che  e  ben  lontano  dalle  origini  prime. 
vSuUe  quali  piü  che  altro  c'illumineranno  la  storia  della  civiltä  in  gene- 
rale, e  in  particolare  poi  la  storia  dell'  antica  matematica  ed  astro- 


2C8  Alessaiulio    CluajicUi, 

noniia.     Osa  so  consultiaino  questa,  la  tradizione  iion  e  cosi  scarsa 
di  autoritä,  ne  cosi  discontimia  quanto  si  e  voluto  crcdere^'*);  come 
quclla  che  pur  con  molte  laciine,  facilmcnte  spiegabili  per  la  perdita 
di  tanti  docuiiienti.  va  da  Erodoto  fino  a  Plutarco  e  piü  oltre  aiicora. 
Che,  difatti,  Talete  abbia  visitato  TEgitto,  non  si  puö  serianuente 
oramai  porre  in  dubbio.  La  notizia  proviene  da  Eudemo,  la  cui  autoritä, 
in  fatto  di  storia  delle  scienze  esatte.  e  incontestabile^^):  e  viene  poi 
confermata  indirettamente  da  altri  indizi.     Come  la  origine  della 
geometria  presso  gli  Egizi  anche  da  Eudemo  e  derivata  dalla  neces- 
sitä  di  stalüUre  i  termini  per  le  inondazioni  periodiche  del  Nilo,  cosi 
Erodoto  ed  Aristotele  (Fragm.  248  ed  Rose),  e  dietro  ad  essi  Diodoro 
e  Plutarco,  ricollegano  non  solo  ai  logografi  come  Ecateo.  ma  anche 
ai  filosofi.  come  Talete  ed  Anassagora,  i  tentativi  per  ricercare  Fori- 
gine  e  la  causa  fisica  di  quel  fenomeno.   II  che  mal  si  spiega  senza  una 
conoscenza  diretta  e  personale  di  esso.     Nessuna  meraviglia  quindi 
che.  come  vedremo  piü  tardi.  non  solo  il  sistema  astronomico  ma 
ridea  cosmogonica  di  Talete  abl)ia  il  suo  riscontro  nelle  antiche  intui- 
zioni  deir  Egitto.    Quanto  a  Pitagora,  alla  testimonianza  di  Isocrate 
non  si  puö  negare  autoritä,  anche  se  non  si  voglia  ammettere  ch^  il 
frammento  di  Eraclito^^)  dove  si  parla  della  jtolvuai)-ia  di  Pitagora, 
non  implichi,  come  pur  credono  lo  Schuster  e  il  Gomperz,  i  suoi  viaggi. 
Essa  e  indirettamente  confermata  da  Erodoto  nel  famoso  luogo  sulla 
origine  egizia  della  idea  metempsicosi  (II,  123  cf.  49).  e  da  altri  luoghi 
(II,  81)  dei  quali  apparisce  che  nel  V  secolo  il  nesso  fra  il  Pitagorismc* 
e  la  cultura  egizia  era  Ijen  conosciuto:  anche  senza  teuer  conto  di 
ciü  che  Erodoto  stesso  attesta  sulla  derivazione  dall'  Egitto   delle 
cognizioni  astronomiche  (II,  4)  delF  arte  del  misurare  (IL  109)  e  di 
tutti  quasi  i  culti  e  le  divinitä  elleniche  (II,  52).   L'avere  egli  alhneato 
nello  stesso  libro  delF  opera  sua  le  dipendenze  generah  della  cultura 
greca  daU'  Egitto  e  le  allusioni  alle  attinenze  di  esso  coi  Pitagorici, 


1^)  Troppc  assoluta  e,  infatti,  raffermazitnie  del  Burnet,  Early  greek 
philos.  1892  p.  14.  Anfänge  ca.  1914  p.  13,  che  nessuno  scrittore  dell'  epoca 
classica  della  filosofia  greca  sapesse  allunche  di  questa  suo  derivazione  Orientale. 

15)  Proc\  in  Eucl.  19  (ed  Hertlein),  Ouliic  6i  ttowtov  sie  ^-fiyvTTTOv 
lld-ütv,  /jerrjrxysv  f<c  'Elläöa  T)]r  f^Hooiuv  ruvrrjv  (sc.  ysio^ufTOicr)  y.ui 
nolld  iJfv  avTog  evQf,  tto'/Jmv  de  rag  dqxifC  ^oTg  fier'  am()v  Uprjr^aaTO. 
Eudem.  Fragm.  84  Spengel,  Diels,  Vorsokratiker  I^  p.  8. 

")  Fragm.  40  (Diels,  Iß  Bsw.). 


L'Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  209 

fa  sempre  piii  credere  che  a  lui  e  ai  siioi  contemporanei  tali  attinenze 
fossero  ben  cognite.  E  che  fossero  teniiti  in  alto  concetto  gii  Egiziani 
iiollascienza  geometrica  inclirettamente  lo  confessa  una  parola  con- 
i>ervataci  di  Deraocrito  (presso  Clem.  Strom.  I  304  A.)  che  pure  senza 
dubbio,   deve   aver   visitato   TEgitto,   e   probabilmente   TOriente^'). 

Certo.  i  sacerdoti  egizi  si  compiacquero  nelF  esagerare  questa 
loro  preminenza  sui  Greci:  e  dal  Timeo,  dal  Critia  e  dall'  Epinomide 
platonico,  come  anche  da  Crantore  (Procl.  in  Tim.  24  B)  ci  e  noto 
come  gli  Egizi  si  vantassero  di  conservare  la  mistica  tradizione 
deir  Isola  Atlantide.  Piü  tardi  osserveranno  (Diodor  I,  96)  che  non 
solo  Pitagora  dovesse  all'  Egitto  la  geometria,  la  dottrina  dei  numeri 
e  la  dottrina  della  metempsicosi,  come  Democrito  Fastronomia,  Solone 
e  Piatone  le  loro  leggi  e  i  loro  concetti  politici.  Ma  resterebbe  a  spiegare 
])erche  i  Greci  avi-ebbero  prestata  cosi  facile  fede,  se  nuUa  ci  fosse 
stato  di  vero  in  quello  che  gli  altri  venivano  loro  dicendo:  e  tanto 
piü  in  un  tempo  in  cui  non  era  peranco  penetrata  nella  cultura  greca 
l'ambizione  di  accreditare  le  dottrine  elleniche  coli,  autoritä  delle 
antiche  religioni  d'Oriente.  Questa  opinione  circolava  giä  in  Atene 
alla  etä  di  Piatone,  come  attesta  il  Platonico  Crantore,  e  come  resul 
terebbe  anche  da  un  accenno  del  Busiride  d'Isocrate,  se  dovessimo 
accogliere  l'ipotesi  del  Teichmiiller.  E  se  e  vero  che  Piatone  mostra 
un  certo  dispregio  per  gli  Egizi,  questo  riguarda  TEgitto  del  suo  tempo ; 
dove  per  l'antica  cultura  della  valle  del  Nilo  mostra  d'avere,  nel 
Fedro,  nel  Timeo,  nelle  Leggi,  nell'  Epinomide,  una  gran  riverenza. 

Ma  e  poi  esatto  il  dire  cheagU  antichi  sia  ignota  una  primitiva 
a.ttinenza  della  speculazione  greca  coli'  Oriente?  Aristotele  (Metaph.  I, 
1)  confessa  che  gli  Egiziani  furon  maestri  ai  Greci  nelle  discipline 
matematiche;  e  sebbene  non  parli  propriamente  di  speculazioni 
Orientali,  e  da  notare  che  ricongiunge  le  prinie  filosofie  alle  cosmo- 
gonie  orfiche  e  alle  intuizioni  religiöse  (I,  3,  983  b,  27).  Ne  sembra 
essere  stata  aliena  dalla  sua  mente  una  oscura  idea  di  questa  deri- 
vazione  Orientale.  Giä  nella  Metafisica  stessa  incerta  modo  vi  accenna 


^")  Fr.  299  (Diels  I-  p.  439),  Questo  frammento,  se  e  propriamente  au- 
tentico,  e  decisivo  circa  la  questione  dei  rapporti  tra  la  filosofia  greca  e 
rOriente.  71  Diels  II'-  p.  727  lo  crede  apocrifo.  Xon  cosi  il  Gomperz,  Wiener 
Sitzungsb.  52  I  e  il  Burnet,  Anfänge  p.  19.  In  veritä  sembre  debba  porsi 
in  attimenza,  come  appartenente  aUo  stesso  scritto  autobiografico,  col  Fr.  116 
(Diog.  IX  36.    Cic.  Tuscul.  V  36,  104). 

Archiv  für  Geächichte  der  Philosophie.    XXVIII.  2.  14 


210  Alessandro   Clnapelli, 

(XIV,  4,  1091  b,  3  segg.),  dove  dice  che  Ferecide  e  i  ]Magi,  che  noii 
son  piü  nel  mito,  ponevano  il  bene  a  principio  delle  cose  allo  stesso 
modo  di  Empedocle  e  di  Anassagora.  Ma  piü  apertamente  sembra 
essersi  espresso  su  questo  punto  nelle  opere  ora  perdute,  per  quello 
che  speciahiiente  rigiiarda  i  rapporti  della  filosofia  col  Parsisnio,  che 
il  maestro  d' Alessandro  il  Conquistatore,  era  meglio  in  grado  di  cono- 
scere  di  ogni  altra  religione  Orientale.  Questo  risulta  da  ciö  che  ci 
vien  riferito  da  un  siio  scritto,  il  Magico,  dove  le  origini  delle  filo- 
sofia  eran  chiaramente  dedotte  dalle  cultiu'e  orientali;  e  da  ciö  che 
appare  da  un  altro  frammento  del  jisqI  (fiÄoooffiag  (I  Libro),  ad- 
dotto  da  Diogene  (I,  8),  Aristotele  dice  che  i  Magi  sono  piü  antichi 
degli  Egiziani  stessi,  e  parla  deUa  religione  Zoroastrica.  Ne  per  questo 
rispetto  la  sua  opinione  rimase  isolata:  che,  senza  contare  Xantho 
e  Dinone  di  Colofone,  v'inclinarono,  per  quanto  sappiamo,  Teopompo, 
Eudosso^^),  Ermodoro  il  Platonico,  Eudemo  di  Rodi,  Clearco  di  Soli, 
Ecateo  d'Abdera,  a  cui  s'attribuiva  uno  scritto  jhqI  ttjq  tcöv 
AiyvjirioDV  ffv?.oöoffiaQ. 

Una  testimonianza  non  meno  significativa  di  questa  conosciuta 
penetrazione  d'idee  e  scientifiche  dalF  Oriente  nelF  Ellade  giä  nel 
periodo  classico  della  filosofia  greca,  ci  viene  dalla  scuola  platonica. 
LEpinomide  platonico,  sia  esso  opera  del  maestro  o  un  aggiunta 
aUe  leggi  di  Filippo  di  Opunte,  cerca  una  conciliazione  del  culto  Delfico 
di  Apolline  con  quello  degli  Dei  siderali  che  la  Siria  e  FEgitto  avevano 
dato  alla  Grecia^).  E  perciö  esorta  i  Greci  a  perfezionare  questo  culto, 
recentemente  introdotto  nel  loro  paese,  come  essi  hanno  perfezionato 
tutto  ciö  che  hanno  ricevuto  dai  barbari.  Confessione  preziosa  la 
quäle  trova  conferma  in  alcuni  segni  onde  apparisce  la  derivazione 
di  alcune  dottrine  astronomiche  di  questo  scritto  platonico  dai  Caldei; 


18)  Aristot.  Fragm.  35  Rose  (p.  43)  in  Diog.  L.  I  1.  Td  Ttjg  (piAo- 
cocpiag  Iq/ov  i'noi  (puGiv  uttö  ßagßuQoir  uqtui.  yeyerriad^ui  yug  tvuou  /Jiv 
JTiQGaig  Müyovc,  Tcaqd  Ss  Bußvlovioiq  i]  AgGvqioiq  X(ü6aiovg  xui 
rvfjvoGoy)iGTug  ituo'  IvdoXg  .  .  .  xaid  (pt]Gir  Aoi^G  tot  ihrig  *''  ^^I'  Mayixo) 
xui  ^ioTtov  iv  Ttj  slxoGTM  TQiTM  Ttjg    /t«Jo;f i;c. 

18)  Plin.  X.  H.  30,  3  (Rose,  Arist.  Fragm.  34). 

2°)  Plat.  Epinomis  987  A  Ilahuog  ydo  Sij  xÖTiog  {BüoßuQog)  td-geilis 
TOvg  TTOtÜTOvg  tuvtu  (tu  dGTOovo^ixd)  IvvorjGavTag,  ötd  t6  xdKLog  t^c 
d^soiv7]g  lüoag,  rji'  Al'yvjiTÖg  t£  xai  —vqiu  ixartug  xixTrjui  ....  od^fv  xui 
TTui'TU/ÖGt  xui  devg''  i'§)]X(i  ßsßuQuriGijiru  ;fgoVw  jjvqistsI  xe  xui  dn&iQO). 
cfr.  Thoon.  Smyrn.  de  astroiiomia  ed.  Martin  p.  270. 


L' Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  211 

e  ci  spiega  come  in  un  papiro  ercolanese,  contenente  uno  scritto  dovuto 
forse  allo  stesso  Filippo'^^)  ci  sia  conservata  la  notizia  che  Piatone 
nella  tarda  sua  etä  abbia  ricevuto  un  sapiente  ,,Caldeo"  che  lo  avrebbe 
istruito  sulle  scoperte  fatte  dai  siioi  compatriotti ;  notizia  che  ci  e 
pol  confermata  da  altre  testimonianze  aiitorevoli,  come  Antistene, 
Aristotele  ed  Eudosso^^). 

La  tradizione  non  e,  dunque,  ne  cosi  scarsa  ne  tarda,  ne  cosi 
poco  autorevole,  come  altri  ha  creduto:  ma  risale,  in  qualche  modo. 
ai  grandi  maestri  della  scienza  greca,  e  specialmente  a  quella  scuola 
di  Aristotele,  il  primo  storico  della  filosofia  antica,  dove  Teofrasto 
ed  Eudemo  avevano  posto  mano  a  raccogliere,  con  grande  diligenza. 
le  notizie  sugli  antichi  fisici  e  matematici  greci. 


Ma  se  vogliamo  determinare  i  limiti  della  questione,  e  delineare 
le  vie  di  qnesta  possibile  Influenza  Orientale  sulla  primitiva  riflessione 
filosofica  dei  Greci,  conviene  innanzi  tutto  liberare  il  terreno  da  al- 
cuni  ravvicinamenti  ideali,  che  non  solo  sono  di  per  se  desituiti  di 
saldo  fondamento  storico,  ma  servono  piuttosto  a  complicare  che 
a  semplificare  la  questione.  Quanto  aUa  ipotesi  della  origine  ebraica 
della  filosofia  greca,  non  occorre  oggi  spendere  molte  parole,  essendo 
essa  oramai  esclusa  irrevocabilmente  dalla  critica  moderna.  La  prece- 
denza  cronologica  di  alcuni  libri  delF  iVntico  Testamento  sui  docu- 
menti  del  pensiero  greco,  nulla  prova  circa  la  dipendenza  di  questi 
da  quelli:  ne  la  tradizione  dei  libri  sacri  conosciuti  in  Grecia  ben 
prima  della  versione  Alessandi'ina,  poggia  su  altro  fondamento  che 
la  malfida  testimonianza  dWristobulo.  E  se  oggi  dai  papiii  aramaici 
di  Elefantina,  in  parte  pubbücati  dal  Sayce  e  Cowley  in  parte  dal 
Rubensojm  e  Sachau^^),  sappiamo  che  nelF  alto  Egitto  giä  prima 
che  Cambise,  nel  525,  facesse  delF  Egitto  una  provincia  persiana, 
esisteva  una  comunitä  giudaica,  anche  non  accogliendo  i  dubbi  sorti 


-^)  Index  Herculan.  ed.  Mekler  ool  III  36 
")  Arist.  Fragra.  (Rose)  32,  33,  34.  cf.  Fragm.  35  e  248. 
■-^)  Sayce  and  Cowley,  Aramaic  Papyri  discovered  at  Assuan. 
London  1906;  Rubensohn  und  Sachau,  Drei  aramäische  Papyrusur- 
kunden aus  Elephantine.  Berlin  1907;  e  tutta  la  letteratura  piü  recente 
SU  questo  argomento  in  G.  Rauschen,  Neues  Licht  aus  dem  alten 
Orient.     Bonn  1913  p.  41. 

14* 


212  Alcssandro    Chiaix-lli. 

sulla  loi'o  aiitoiiticita.  corto  o  che  il  giudaismo  egiziano  noii  liori  vera- 
mente  se  non  all'  etä  di  Alessandro;  onde  tutto  fa  credere  che  la  Grecia 
ben  scarsa  e  indiretta  notizia  avesse  del  popolo  d'Israele  e  della  reli- 
gione  di  Jahve  prima  della  conquista  d'Alessandro,  cioe  prima  del 
periodo  ellenistico.  Durante  il  quäle,  come  e  noto  oramai^*),  anziehe 
un  mutuare  del  pensiero  greco  dalla  religione  ebraica  e  piuttosto 
visibile,  nei  libri  dell'  etä  giudaica  delF  Antico  Testamente  di  carattere 
sapienziale  (come  il  libro  della  Sapienza,  i  Maccabei,  e  forse  giä  i  Pro- 
verbi  Salomonici,  e  il  Siracide)  un  assorbimento  di  elementi  ellenici 
per  parte  del  Giudaismo. 

Piü  complessa  e  di  men  sicura  risoluzione  e  l'ipotesi  della  filia- 
zione  indiana  della  filosofia  greca.  Perche  se  l'lndia  e  piü  lontana 
della  Giudea  e  dell'  Egitto.  ella  ha  invece  una  ricca  fioritura  filosofica. 
La  storia  comparata  della  filosofia  trova,  perciö,  in  essa  materia 
opportuna  e  copiosa  a  raffronti  della  maggiore  importanza:  e  basta 
ricordare,  per  tal  rispetto,  i  piü  recenti  lavori  d'indologi  come  il 
Deussen,  il  Max  Müller,  FOldenberg,  il  Ehys-Davids,  lo  Speyer-^). 
Se  non  che  a  trasformare  quelli  che  posson  dirsi  grincontri  ideali 
e  le  somiglianze  in  prove  di  relazione  reale  e  di  trasmissione  effettiva, 
manca  il  tramite  storico  di  un  possibile  influsso  prima  della  conquista 
d'Alessandro;  perche  chi  volesse  cercare  questo  elemento  mediatore 
nei  Fenici,  si  ravvolgerebbe  in  altre  difficoltä,  trattandosi  di  un  popolo 
in  cui  Piatone  riconosceva  assai  scarso  lo  spirito  scientifico,  e  che 
nondimeno  dovrebb'essere  il  portatore  e  il  trasmettitore  d'idee. 
Posta,  dunque,  anche  la  veritä  della  tradizione  secondo  la  quäle 
Callistene  avrebbe  inviato  ad  Aristotele  i  libri  indiani,  codesta  atti- 
nenza  dovrebbe,  se  mai,  riportarsi  al  periodo  post-aristotelico:  tanto 
piü  che  quella  leggenda  stessa  implica  che  di  questi  libri  o  di  quella 
cultura  prima  di  quella  etä  in  Grecia  non  si  avesse  contezza.  Noi 


2*)  V.  per  tutti  gli  altri  >Schürer,  Gesch.  des  jüd.  Volkes  im  Zeit. 
J.  C.  III*  p.  34  e  segg.  131  segg.,  ed  anche  ora  Focke,  Die  Entstehung 
der  Weisheit  Salomons  (in  Forschungen  zur  ReUgion  u.  Literatur  des 
Alten  u.  N.  Testaments  N.  F.  5).     Göttingen  1913. 

^^)  Deussen,  Allgemeine  Gesch.  der  Philos.  I  1908  (cf.  Revue  Bleue, 
9.  Nov.  1907);  M.  Müller,  The  six  Systems  of  Indian  philosophy  1899; 
Oldenberg  in  Die  Kultur  der  Gegenwart  dell'  Hinneberg  I,  V.  Leipzig- 
Berlin  1913,  e  la  letteratura  ivi  citata;  Rhys  Davids,  Buddhism  (American 
Lectures)  1909;  Speyer,  Die  indische  Theosophie,  aus  den  Quellen  dar- 
gestellt.    Leipzig  1914. 


L'Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca,  213 

stessi  non  incontriamo  il  concetto  e  il  termiiie  di  filosofia  (änviksiki) 
nei  libri  indiani  se  non  nello  scritto  politico  di  Kautilya,  di  due  secoli 
piü  tardo  dell'  etä  del  Buddlia  e  posteriore  ä  quella  di  Alessandro : 
ed  e  tale  che  piü  che  al  vero  filosofo  appartiene  al  politico^^).  Se, 
pertanto,  la  dottrina  dei  cinque  elementi  si  trova  nella  filosofia  Sänkya, 
0  la  teoria  dello  Sfero  d'Empedocle  ha  rispondenza  con  quella  dell' 
avyacta  e  vyacta  indiano,  o  la  teoria  orfico-pitagorica  della  nie- 
tempsicosi  ha  giä  il  suo  antecedente  o  collaterale  nelF  Tndia:  se  la 
dottrina  atomistica  del  Vaisesika  ricorda  Democrito,  o  il  concetto 
eracliteo  della  instabile  composizione  dell'  anima  si  puö  ravvicinare 
alla  dottrina  giainica'^') :  tutto  questo  puö  essere  bensi  materia  degna 
di  riflessione  per  una  storia  comparativa  della  filosofia,  non  argo- 
niento  a  pensare  ad  una  filiazione  storica.  L'atoniismo  aveva  gilä 
la  ua  formola  in  Leucippo,  anche  se  ammettiamo  possibile  il  viaggio 
di  Democrito  nell'  India,  di  cui  parla  una  tradizione  della  tarda  anti- 
chitä,  0  che  il  sistenia  Vaisesika  sia  anteriore  all'  atomisnio  ellenico, 
il  che  appunto  non  pare  possibile:  la  dottrina  r'egli  elementi  la  vediamo 
svolgersi  solo  a  poco  a  poco  in  Grecia,  il  che  esclude  ogni  importazione 
dal  di  fuori;  e  la  teoria  della  migrazione  delle  anime,  originariamente 
piü  orfica  che  Pitagorica  e  forse  anche  egizia,  ha,  in  ogni  modo,  nella 
filosofia  greca  una  importanza  secondaria  e  subordinata  sempre  ad 
un  sistema  d'idee  e  di  rappresentazioni  poetiche  di  origine  ellenica. 
Come  l'ipotesi  Indiana  ha  in  generale  assai  dubbio  fondamento, 
cosi  e  a  dirsi,  secondo  riconosce  cra  anche  l'Oldenberg^^),  specialmente 
della  ripresa  che  altri  negli  ultimi  tempi  ne  ha  tentata  per  quel  che 
concerne  le  origini  del  Pitagorismo^^).  Non  solo  le  notizie  sul  viaggio 
di  Pitagora  nell'  India  sono  assai  poco  autorevoli,  e,  come  lo  Schroeder 
stesso  riconosce,  determinate  da  quel  sentimento  di  sorprendente 
accordo  che  i  Greci  nello  scoprire  l'Oriente,  vi  rinvennero  colla  filo- 
sofia ellenica;  ma  il  Pitagorismo  e  un  fenomeno  che  s'accompagna 
con  un  movimento  generale  della  vita  greca  al  principio  del  sesto 


26)  M.  Jacobi  in  Sitzungsb.  der  K.  Pr.  Akad.  d.  Wiss.  1914  Nr.  35. 

2^)  Deussen,  Das  System  der  Vedanta  p.  330,  2.  Aufl.  1906;  Rohde, 
Psyche,  3.  Aufl.  II,  149. 

-*)  Oldenberg,  ,,Die  indische  Philos."  in  Kultur  der  Gegenwart 
I,  V  p.  52  (1913). 

-"•*)  iSchroeder,  Pythagoras  und  die  Inder  1884;  Garbe,  Samkj'a- 
Philosophie,  85  segg.  1894. 


214  Alessandro   Chiapclli, 

secolo,  specie  nclle  popolazioni  doriche,  e  sebbene  quasi  conteiiipo- 
raneo  alla  riforma  buddliistica  nelT  India,  trova  una  adeguata  ragione 
nelle  condizioni  storiche  del  tempo.  Analogie  molteplici  nei  parti- 
colari  coi  testi  brahmaniei  vo  nc  sono,  ed  alcune  anche  singolari  e 
curiose:  ma  tali  sempre  che,  o  possono  derivare  da  coincidenze  del 
pensiero  di  due  popoli  indipendenti  e  lontani:  o,  avendo  i  precedenti 
nella  Grecia  medesima,  noii  iinplicano  una  derivazione  dall'  India, 

0,  infine,  sono  ricavati  da  docunienti  della  letteiatura  indiana  la  cui 
etä  e  incerta,  quando  anche  non  fanno  fede,  invece,  della  int'luenza 
greca  sulla  cultura  scientifica  e  filosofica,  delli  India^). 

Esclusa  cosi  la  possibilitä  d'una  filiazione  della  filosofia  cllenica 
da  civiltä  cosi  lontane,  la  questione  si  determina  circoscrivendosi 
a  quelle  che  storicamente  ebbero  attinenze,  piü  o  nieno  dirette  e  a  noi 
cognite,  colla  Grecia  fino  da  una  etä  precedente  al  sorgere  delle  prime 
forme  del  pensiero  scientifieo:  da  un  lato  l'Egitto,  e  dall' altro  la 
cultura  assiso-babilonese,  dopo  Giro  confusa  dolla  Persia. 

Se  non  che  anche  qui  bisogna  definire  in  quäl  forma  si  pote  eser- 
citare  questa  azione,  e  in  quäl  n  isura  si  possa  dire  di  possedere  argo- 
menti  probativi  e  decisivi.  I  termini  del  paragone  o  del  rapporto 
storico,  la  mitologia  e  Fintuizioni  religiöse  o  anche  le  primitive  cogni- 
zioni  fisiche,  matematiche  e  astronomiche  da  un  lato,  le  concezioni 
filosofiche  propriamente  dette  dalF  altro,  sembrano,  difatti,  cosi 
diversi  che  non  si  possa  parlare  delF  efficienza  degli  uni  e  della  dipen- 
denza  ideale  degli  altri.  Se  non  che,  come  l)ene  osserva  il  Wundt^^), 
in  questo  che  si  puö  dire  periodo  preistorico  della  filosofia,  i  confini 
fra  quello  che  e  intuizione  mitico  o  religiosa  e  ciö  che  puö  dirsi  rifles- 
sione  scientifica  e  speculazione  sono  cosi  incerti,  che  i  due  elementi 
spesso  si  compenetrano  e  fondono  insieme.  La  forma  iniziale  in  cui 
11  pensiero  filosofico  greco  si  annunzia  sta.  difatti,  fra  la  religione 
e  la  scienza.  I  primi  mitografi,  Ferecide,  Epimenide,  gli  autori  ignoti 
delle  teogonie  orfiche  piü  antiche,  come  la  rapsodica,  sono,  in  certo 
modo,  i  primi  filosofi,  come  quelli  che  danno  una  raffigurazione 
sintetica  del  processo  cosmico :    mentre  i  primi  fisiologi  dell'  Jonia, 

^")  iSulIa  quäle  confronta  Weber,  in  Sitziingsber.  der   Berlin.  Akad. 

1890  e  Goblet  d'Alviella,  Ce    que   l'Inde   doit    ä    la   Grece.     Paris  1897. 

^^)  Wundt  in  AUg.  Gesch.  d.  Philos.,  nella  Kultur   der    CJegenwart 

1,  V  p.  2,  2  ed. 


L' Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Oreca.  215 

come  oggi  la  critica  riconosce^^),  non  ci  danno  la  loro  dottrina  cosmo- 
logica  se  non  in  forma  cosmogonica,  quasi  una  narrazione  epica  della 
genesi  e  dello  svolgimento  delle  cose.  Teogonia  da  una  parte,  cosmo- 
gonia  dair  altra,  sono  due  forme  che  si  confondono:  poiche  sotto 
i  nomi  delle  deitä  si  nascondono  i  grandi  fenomeni  naturali;  e  il  pensiero 
scientifico  altro  non  ha  da  fare  che  sciogiiere  il  nucleo  razi'onale  da 
quel  velo  mitico  e  rappresentativo  che  lo  avvolga  e  lo  occulta,  per 
procedere  sicuro  e  indipendente  nelle  sue  vie,  ed  elevarsi  ad  una  rap- 
presentazione  puramente  razionale  della  totalitä  delle  cose  e  delle 
relazioni  naturali  che  intercedono  fra  esse. 

Per  raggiungere  questo  segno  di  una  speculazione  indipendente. 
alla  mente  greca  era  naturale  il  valersi  delle  lunghe  esperienze  degli 
altri  popoU,  dai  quali  aveva  accolti  ed  elaborati  tanti  elementi  di 
cultura.  I  grandi  sistemi  religiosi  dell'  Oriente  e  le  osservazioni  mate- 
matiche'e  specialmente  astronomiche  di  civiltä  tanto  piü  antiche, 
costituivano  il  fondo  su  cui  poteva  disegnare  liberamente  il  proprio 
lavoro.  A  suscitare  il  quäle  poterono  grandemente  due  grandi  eventi, 
fra  i  quali  cronologicamente  intercede  ilprimo  fiorire  dei  sistemi  greci; 
l'aprirsi  dei  porti  sulF  Egitto  al  commercio  dei  Greci  sotto  Psammetico  I 
verso  la  fine  dei  VII  secolo,  e  con  esso  la  rivelazione  piü  diretta  e 
piü  compiuta  di  quella  antichissima  civiltü  ai  sapienti  greci,  e  l'avan- 
zarsi  verso  l'Asia  Minore  e  ai  centri  della  cultura  greca  che  giä  vi  erano 
in  fiore,  della  potenza  persiana,  le  quäle  portava  seco  oltreche  la  cono- 
scenza  della  religione  Zoroastrica,  anche  i  frutti  dell'  antica  sapienza, 
specialmente  astronomica,  assiro  =  bal)ilonese.  Noi  siamo  ben  lontani 
dair  indulgere  alla  moda  di  quelli  che  oggi  si  chiamano  i  ,,Pan-Babilo- 
nisti".  Ma  non  e  dul)bio  che  giä  millennii  prima  dell'  era  volgare 
i  Caldei  avevano  costruito  un  sapiente  e  profondo  sistema  di  crono- 
logia,  il  quäle  esercitö  grande  autoritä  sui  popoli  circostanti;  e  che 
l'azione  loro  sullo  svolgimento  intellettuale  e  religioso  dell'  antichitä 
dassica  fu  considerevole.  Creatori  della  cronologia  e  dell'  astronomia, 
contribuirono  ad  allargare  nel  senso  rehgioso  il  nuovo  concetto  dei 


■'*')  cf.  Ai-nim,  in  Allgemeine  flesch.  der  Philosophie,  nella  ,, Kultur  der 
Gegenwart  dell'  Hinneberg",  Teil  I  Abt.  V  2.  Aufl.  Leipzig-Berlin  1913  p.  97 ; 
A.  Fischer,  Die  Grundlehren  der  vorsokr.  Philcs.,  nella  collezione Große. 
Denker.  Leipzig  1912  I  16  segg. ;  Deussen,  Die  Philos.  der  Griechen. 
Leipzig  1911  p.  38,  e  la  mia  Memoria  su  Talete  e  l'Egitto  negli  Atti  dei  Con- 
gresso   internaz.  di   Scienze  Storiche  1903  e  1' altra  lett.  ivi  citata. 


21(i  Alessaiulro    Chiapelli, 

niondo,  trasfiguraiulo  l'astrologia  coiiie  \m  inotodo  tipico  di  divina- 
zione.  Le  recenti  iiidagini  del  Cumoiit,  da  liii  segnatainente  esposte 
iielle  American  Lectures  di  Storia  dellc  Keligioni,  hanno  bene 
illustrato  questo  punto  di  attinenza  ira  la  cultura  Orientale  c  Fücci- 
dentale.^^)  Di  contro  alla  religione  oraerica  ed  ölinipica,profondaniente 
nniana  e  idealmente  estetica,  la  deificazione  dei  corpi  celesti  riappare 
dair  antico  fondo  Orientale  e  specialmente  ealdeo,  come  im  fatto 
isolato  e  degno  d'esser  segnalato,  nel  pensiero  dei  filosofi,  fino  dai 
piü  antichi  fisici  lonici.  Anche  agli  antichi  Pitagorici  i  corpi  celesti 
appaiono  esseri  divini,  moventisi  in  corale  arnionia  ed  animati  da  nn 
anima  eterea  che  informa  Tuniverso  e  governa  anche  l'anima  umana.  | 

Onde  Anassagora  fu  accusato  di  ateismo  per  avere  asserito  che  il 
sole  non  e  che  una  massa  incandescente  e  la  luna  una  terra  deserta, 
Oltre  il  demiui-go,  Piatone  riconosce  queste  „visibili  deitä''  che  sono 
gli  astri,  di  guisa  che  l'astronomia  diviene  anche  per  lui  quasi  una 
scienza  sacra;  e  lo.  stesso  rivale  di  Piatone,  Aristotele,  magnifica  la 
divinitä  delle  stelle,  che  sono  per  lui  eteree  sostanze  e  principio  di 
movimento;  dottrina  questa  che,  comee  noto,  dominö  poi  nelmedio 
evo  occidentale. 

Certo,  questa  teologia  siderale  era  come  un  tentativo  di  concilia- 
zione  fra  il  politeismo  popolare.  praticamente  indistruttibile,  e  il 
puro  monoteismo,  a  cui  i  filosofi  tendevano.  Per  giungere  a  questo 
bisognava,  come  Senofane,  combattere  Tidea  antropomorfica,  e,  come 
Eraclito,  la  concezione  teogonica.  Gli  astri  non  hanno  sembianze 
umane,  come  gli  Dei  ellenici,  e  sono  ingenerati.  L'incessante  ed  ordi- 
nato  loro  movimento  nei  cieli  dimostra  che  sono  esseri  viventi,  e  Teterna 
immutabilitä  delle  loro  orbite  li  rivela  diretti  da  una  divina  ragione. 
Ma  questo  tentativo  di  riforma  della  religione  popolare  pare  avere 
avuta  rispirazione  prima  dall'  esempio  di  nazioni  orientali.  I  Greci 
che  avevano  accolti  i  principi  fondamentali  della  loro  uranografia  dai 
Babilonesi,  con  questi  ne  derivarono  anche  il  motivo  deha  loro  teologia 
siderale.  In  una  lontana  etä  FEllade  aveva  ricevuto  dalF  Oriente 
il  sistema  di  misurazione.  duodecimale  e  sessagesimale.  del  tempo 
e  delle  cose  materiah:  e  il  metodo  di  divisione  del  giorno  gli  Joni 
derivarono  dagli  Orientali.     Parimente  coli'  uso  di  primitivi  istru- 


^^)  Cumont,  Babylon  und  die  griechische  Astrologie  (Neue 
Jahrb.  f.  das  Klass.  Altertum  XXVII)  (1911);  Astrology  and  Religion 
among  the  Greeks  and  Romans.  Xew  York  and  London  1912  p.  86  segg. 


L' Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  217 

menti  come  lo  gnomone  (Herod.  II,  109)  venne  dalla  Mesopotamia 
l'idea  fondamentale  della  topografia  Celeste:  reclittica,  i  segni  dello 
Zodiaco,  e  piü  tardi  anclie  la  conoscenza  del  periodico  ritorno  delle 
eclissi,  che  i  Babilonesi  conoscevano  giä  col  nome  di  Saros^*)  ereditato 
forse  dair  Egitto. 

A  questa  prima  trasmissione  di  conoscenze  positive  corrisponde 
la  prima  introduzione,  nei  sistemi  greci,  deUe  idee  mistiche  che  gli 
Orientali  vi  associavano.  Anche  se  dubbie  sono  le  tradizioni  che 
fanno  Pitagora  discepolo  dei  Caldei,  pare  che  il  suo  sistema  dei  numeri 
e  delle  figm^e  geometriche  rappresentative  di  certe  divinitä,  abbia 
im  carattere  astrologico  d"origine  Orientale.  Se  il  dodecagono  e  dai 
Pitagorici  chiamato  Zeus,  ciö  e  perche  questo  pianeta  divide  il  circolo 
Zodiacale  in  dodici  parti,  cioe  lo  traversa  in  dodici  anni.  Questa  ed 
altre  consimili  importazioni  scientifiche  e  religiöse  si  riferiscono  ad 
un  periodo  in  cui  le  cittä  commerciali  della  Jonia  si  aprivano  appena 
alle  influenze  asiatiche. 

Ma  i  segni  di  queste  infiltrazioni  Caldee  sono  visibili  anche  quando 
il  pensiero  greco,  dopo  il  periodo  delle  guerre  persiane,  aveva  conse- 
guita  la  sua  autonomia.  Certi  fatti  venuti  da  poco  in  luce,  stanno 
realmente  ad  indicare  che  le  relazioni,  dirette  o  indirette,  fra  i  centri 
della  sapienza  Babilonese  e  della  cultura  greca  non  vennero  mai  nieno 
interamente.  Certo  e  tradizione  favolosa  quella  che  attribuisce  a 
]\Ietone  il  ciclo  di  diciannove  anni,  che  dovrebbe  costituire  un  accordo 
periodico  fra  Fantico  anno  hmare  e  le  rivohizioni  solari;  scoperta  che, 
sostituendosi  all' antico  octaeteris  (ciclo  di  otto  anni),  rivelata 
agli  Ateniesi  nell'  anno  432,  a\Tebbe  suscitata  una  tale  ammirazione 
da  determinare  il  decreto  d'iscrivere  nell'  agora  in  caratteri  d'oro 
i  calcoli  di  Metone.  L'uno  di  questi  sistemi  era  giä  in  uso  in  Babilonia, 
come  resulta  da  documenti  del  sesto  secolo,  e  l'altro,  quello  di  Metone, 
appare  in  iscrizioni  babilonesi  del  quarto  secolo  che,  senza  dubbio, 
si  riferiscono  a  tradizioni  ben  piü  antiche.  Ma  quel  che  piü  monta 
c  che  mentre  nell'  antica  Ellade.  come  resulta  dai  canti  Omerici 
i  cinque  pianeti  conosciuti  neU'  antichitä  avevano  il  nome  loro  dai, 
loro  caratteri    CEcoocfOQog,   "EoxeQog,  tlvoöeig    etc.)  dopo  il  quarto 


3*)  Tannery,  Pour  Thist.  de  la  !Sc.  hellene  1887;  Teichmüller  in 
Gott,  gelehr.  Anzeigen  1880,  34;  Milhaud,  L'origine  de  la  science 
grecque  1893. 


218  Alessandro    Chiapelli, 

secolo  acquistano  nomi  di  divinitä;  e  i  pianeti  divengono  le  stelle  di 
Hermes,  di  Afrodite,  di  Ares,  di  Zeus,  di  Kronos.  Ora  questo,  come 
ha  rilevato  il  Cuinont,  par  dovuto  al  fatto  che  in  Babilonia  questi 
pianeti  erano  respettivamente  dedicati  a  N  e  b  o ,  I  s  h  t  a  r ,  N  e  r  g  a  1 , 
Marduk.  Ninib.  I  Greci  sostituirono  alle  divinitä  barbare  le 
deitä  nazionali  che  con  quelle  apparivano  affini:  e  cosi  l'infiltrazione 
didee  esotiche,  le  idee  del  culto  semitico  degli  astri,  determine  un 
mutamento  ignoto  all'  antica  mitologia  ellenica. 

Quello  che  per  il  nostro  argomento  e  piü  notevole  si  e  Tapparire 
di  alcune  peculiari  credenze  della  religione  siderale  di  Babilonia 
nelle  dottrine  dei  filosofi.  La  triade  Celeste  di  Sin.  Shamash  e  d'Ishtar 
(la  luna,  il  sole  e  Venere,  il  piii  brillante  tra  i  pianeti),  regolatori  dello 
Zodiaco,  appare  in  Babilonia  giä  nel  quattordicesimo  secolo  avanti 
l'era  volgare.  Ora  la  stessa  associazione  di  questi  tre  massimi  pianeti 
s'incontra  inaspettatamente  in  un  frammento  di  Democrito^^),  come 
si  ritrova  piü  tardi  fra  i  Romani.  Come  giä  notammo,  TEpinomide 
platonico  rivela  Finfluenza  del  culto  astrale  dell'  Oriente.  In  questo 
breve  dialogo  appariscono  le  linee  fondamentaü  d'una  dottrina  astro- 
logica  che  Tautore  stesso  attribuisce  ai  Sirii:  onde  non  senza  qualche 
ragione  il  Cumont  Tha  potuto  chimare  ,,revangelio  predicato  agli 
Elleni  della  religione  stellare  dell'  Asia"^^).  Che  la  scienza  in  generale 
sia  un  dono  divino  e  la  matematica  specialmente  sia  stata  rivelata 
agli  uomini  da  Uranos  per  mezzo  delle  sue  periodiche  rivoluzioni: 
la  dimostrazione  che  gli  astri  sono  animati  e  divini,  e  che  fra 
le  divinitä  celestiali  e  la  terra  una  gerarchia  di  spirito  aerei 
opera  e  si  muove:  l'affermazione  che  Fastronomia  e  la  perfet- 
tissima  fra  le  scienze,  ed  e  come  una  teologia;  che  la  contemplazione 
Ventura  dei  celestiali  splendori,  sarä  la  fehcitä  suprema:  tutto  questo 
ha  un  carattere  essenzialmente  Orientale.  AI  che  si  aggiunga  un 
particolare  molto  significativo.  DagH  astrologi  Babilonesi.  Saturno  e 
considerato  quasi  il  sole  della  notte^^),  come  l'Jastrow  ha  dimostrato. 


^5)  Diels,  Fragm.  der  Vorsokratiker  l'^  p.  367;  Alex,  in  Arist. 
Meteor.  26,  11;  cfr.  Ptolom.  Appar.  275,  1  (Diels  I,  391);  Doxographi 
graeci  344. 

^®)  Cumont,  Astrology  and  Religion  among  the  Greeks  1912 
p.  öl. 

^')  Jastrow,  Revue   d' Assyriologie  VII  1910  p.  163  segg. 


L' Oriente  e  le  Ürigini  della  Eilosofia  CIreca.  219 

e  come,  del  resto,  giä  Diodoro  sapeva  (II,  30).  Ora  nell'  Epinomide 
platouico  noi  troviamo  nella  enumerazione  dei  pianeti,  che  il  minore 
di  essi  porta,  secondo  alcuni  popoli,  il  nome  di  Helios;  il  che  certo 
e  un  riferimento  alle  idee  babilonesi^*^).  Ne  tutte  queste  idee  cessa- 
rono  di  esercitare  la  loro  influenza  nella  scuola  platonica.  E  come 
Senocrate,  pel  quäle  Tastronomia  e  pure  una  scienza  sacra,  svolgerä 
la  dottrina  demonologica,  cosi  F  eclettico  Pcsidonio  celebrerä  le  stesse 
opinioni;  ed  un  altro  seguace  di  Piatone  l'astronomo  Eudosso  di 
Cnido  (Cic.  De  Divin  II,  42,  87)  pur  riprovando  la  divinazione  stellare, 
mostrerä  la  sua  perizia  nelle  dottrine  caldee. 

Non  solo,  adunque,  nell'etä  eUenistica,  cioe  dopo  la  conquista 
d'Alessandro,  ma  ben  prima  questa  teologia  astrale  era  penetrata 
dair  Oriente  nelle  scuole  filosofiche  greche.  E  con  essa,  come  noi 
sappiamo  da  altre  parti,  uua  seria  di  nozioni  scientifiche  sul  corso 
dei  fenomeni  celesti,  e  specialmente  delle  perturbazioni  lunari,  che 
avevano  posto  in  grado,  molto  prima  di  Talete,  i  Babilonesi  di  predire 
il  periodico  ritorno  delF  eccüssi^^).  Le  scrizioni  cuneiformi,  inter- 
pretate  dal  Kugler,  danno  oggi  una  sicura  conferma  di  quello  che 
Ipparco  sapeva  dei  calcoli  Babilonesi  sui  periodi  lunari.  E  se  oggi 
conosciamo  i  nomi  dei  sacerdoti  Caldei  dai  quali  nel  terzo  secolo  av, 
6.  Ipparco  pote  apprendere  quelle  notizie,  e  ben  ragionevole  il  credere 
che  per  consimile  via  le  tradizioni  di  Babilonia  fossero  cognite  ai 
primi  fisici  ionici.  I  semi  della  cultura  Orientale  portati  neU'  Occi- 
dente  ellenico  eran  d'altronde,  di  varia  natura.  Noi  sappiamo  oggi 
che  non  le  sole  cognizioni  scientifiche  penetrarono  in  Grecia,  anche 
per  via  indiretta,  dalla  civiltä  Orientale.  II  Diels  ha  mostrato  recente- 
mente  come  le  noveUe  satiriche  da  cui  derivano  le  parole  ripetute 
nei  Giambi  di  Callimaco  e  dai  successori  l'Esopo,  erano  favole  giä 
popolari  in  Assiria^*^)  e  i  papiri  aramaici  del  V  Secolo  trovati  dalSayce 
e  dal  Cowley  in  Elefantina  (alto  Egitto)  ci  dimostrano  che  il  romanzo 
d'Akicharos,  passö  dalF  Eufrate  (assir-bab.  Ahi-akar)  alle  comunitä 
giudaiche  delFEgitto  (donde  il  motivo  del  libro  di  Tobia)  e  si  diffuse 


38)  Plat.  Epin.  987,  <J. 

^*)  Bezold  e  Boll.  Reflex  astrol.  Keilinschriften  bei  griech. 
Schriftstellern  (Abhandlung.  Heidelberg.  Akad.  1911);  Cnmont,  Babylon 
und  die  Ciriech.  Astron.  p.  6  segg. 

*")  Diels,  Orientalische  Fabeln  in  griech.  Gewände  (Internatio- 
nale Wochenschrift  f.  Wiss.,  G.  Aufl.  1910);  Vorsokr.  H^  727. 


220  Alessandro   Chiapclli, 

nella  Grccia  dove  Teofrasto  lo  accolse,  eternando  la  figura  del  savio 
Achicharos'*^). 

A  piü  viciiie  fonti  il  primitivo  pensiero  filosofico  degF  loiii 
poto  piü  tavdi  attingere  quando  lo  Colonie  greehe  del  littorale 
deir  Asia  Minore  caddero  sotto  la  potenza  persiana.  Giä  iiui 
trovianio  Talete  vaticinatore  agl'  loni  delF  eclissi  solare,  avvenuta 
durante  iina  battaglia  fra  i  Lidi  e  i  Medi:  piü  tardi  rinflueiiza 
del  Parsismo  e  dello  Zoroastrismo  appaiono  specialmente  iiei  frani- 
meiiti  Eraclitei.  Dopo  la  conquista  persiana  della  lonia,  la  cultura 
greca  delF  Asia  fii,  e  vero,  dispersa  e  quell'  avvenimento  dette  come 
il  segnale  dell'  emigrazione  ellenica  verso  l'occidente,  dove  si  tras- 
ferirono  i  lunii  intellettuali  del  mondo  greco:  antesignani  due  pen- 
satori  Pita2;ora  e  Senofane,  fondatori  dei  sinedii  filosofici  della  Masna 
Grecia.  Ma  l'aristocratico  e  solitario  Eraclito  (a  non  parlare  di  Me- 
lisso  di  Samo  che  nell'  Jonia  Orientale  continua  Fopera  dei  filosofi 
italioti'*^)  rimasto,  come  pare,  in  Efeso,  trae  motivi  e  ispirazioni  al 
suo  pensiero  dalle  idee  religiöse  delle  civiltä  circostanti.  II  paragone 
fra  le  diverse  concezioni  religiöse,  tanto  piü  se  in  alcune  parti  con- 
trastanti,  apriva  natnralmente  la  via  a  vedute  nuove  ed  acuiva  il 
pensiero.  In  altro  mio  lavoro  cercai  di  niostrare  (e  nessuno  mi  ha 
convinto  di  errore)  che  le  intuizioni  di  Eraclito  si  presentano  in  niolti 
punti,  non  come  ima  adesione,  secondo  aveva  creduto  il  Teichmüller, 
nia  come  una  critica  della  religione  e  della  sapienza  egizia,  mentre 
hanno  una  visibile  affinitä  colla  religione  Zoroastrica,  nella  premi- 
nenza  data  al  fuoco  (jrvQcalCcoo)  come  forza  animatrice  e  dis- 
truggitrice  del  mondo,  a  tutte  le  manifestazioni  ignee  della  natura, 
nel  dispregio  dei  cadaveri,  e  in  vari  altri  punti  che  qui  non  e  il  caso 
di  ripetere^^).  Ne  puö  far  meraviglia  questo  afflato  religioso  del 
TEraclitismo,  e  questa  penetrazione  della  cultura  religiosa  persiana 
in  Efeso,  se  pensiamo,  che,  da  un  lato,  Eraclito  era  addetto  al  San- 
tuario  efesino  d'Artemide  e  fu  in  rapporto  con  Ke  Dario,  ardente 


*^)  Sayce  and  Cowley  Aramaic  Papyri  discovered  at  Assuan, 
London  1906;  cfr.  Rauschen,  Neues  Licht  aus  dem  alten  Orient. 
Bonn  1913  p.  41  segg. 

*-)  V.  la  mia  memoria  Sui  Frammenti  e  Dottrina  di  Meüsso,  Atti  della 
R.  Acc.   dei    Lincei  1890. 

*^)  V.  la  mia  memoria  „su  alcuni  frammenti  di  EracUto"  atti  della 
R.  Accademia  di   Scienze  Morali  e  pol.  di  Napoli  1887. 


L' Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  221 

seguace  della  religione  Zoroastrica,  e  specialmente  cultore  di  Ahuia- 
Mazda^*)  come  appare  dalle  iscrizioni  che  a  liii  si  riferiscono;  e,  dal- 
r  altro,  che  Serse,  prima  della  spedizione  in  Grecia,  mandö  i  suoi 
figli  a  sciogliere  un  voto  alla  divinitä  ellenica  nell'  Artemision  di 
Efeso.  In  questa  religione  del  fnoco  e  del  Die  Celeste,  propagata 
anche  nelFAsia  Minore  dalla  casta  sacerdotale  dei  Magi,  il  pensa- 
tore  efesio  trovava  il  motivo  fondamentale  della  sua  speculazione: 
dacche  il  fuoco  che  genera  la  vita  e  insieme  la  consuma  e  il  simbolo 
vivente  di  quella  unita  degli  opposti  e  di  quel  perpetno  mutamcnto, 
che  e  l'idea  madre  della  sua  dottrina. 


L'altro  centro  a  cui  convien  rivolgersi  se  vogliamo  aver  luce 
sui  primi  movimenti  della  riflessione  filosofica  greca  e,  certamente, 
TEgitto.  Mentre  la  sapienza  Babilonese  e  poi  la  religione  persiana 
avevano  esercitata  su  queg-rinizi  di  un  pensiero  che  poi  si  svolse 
con  si  potente  e  creatrice  originalitä  una  azione  indiretta  emeno 
profonda,  la  cultura  egizia  fu  dapprima  esemplare  alla  scienza 
greca,  quando  questa  muoveva  i  primi  passi  sulla  gloriosa  sua 
\Ta.  Che  da  qualehe  iscrizione  geroglifica.  da  qualche  allusione 
dell'Odissea  a  combattimenti  avvenuti  sulle  foci  del  Nilo,  o  da 
qualche  indicazione  d'Erodoto,  apparisca  che  i  Greci,  in  etä  assai 
remota,  avessero  cercato  di  stabilirsi  in  Egitto,  poco  importa  al  caso 
nostro.  Quella  specie  di  disdegnoso  isolamento  in  cui  gli  Egizi  si 
erano  mantenuti,  specialmente  di  fronte  ai  popoli  piü  giovani,  per 
lungo  ordine  di  secoli,  aveva  fatto  si  che  solo  qualche  notizia  iso- 
lata  di  quelP  antichissima  civiltä,  rimasta  cosi  lontana  e  misteriosa, 
poteva  esser  pervenuta  ai  Greci  prima  del  VII  secolo.  Quando  i  JMi- 
lesii,  stabilitisi  a  Nancratis,  aiutarono  Psammetico  I  a  liberarsi  dai 
nemici  interni  e  a  salire  al  trono  dei  Faraoni,  questi  apri  per  la  prima 
volta  ai  Greci  i  porti  dell'  Egitto.  Con  tutto  Fardore  e  l'impeto  d'un 
popolo  giovine  ed  operoso,  i  Greci  specialmente  dell'  Asia  Minore 
non  solo  portarono  i  loro  prodotti  commerciali  in  Egitto,  e  presero 
parte  ai  grandiosi  lavori  di  costruzioni  e  di  apertura  di  canali  che 
sotto  Psammetico  e  poi  sotto  Necho  ed  Amasi  vi  furono  eseguiti, 


**)  cfr.  oza  Morilton,  Early  Zoroast  rianism  (Hibbert  Lectures  2Ser.). 
London  1913  p.  56  segg. 


222  Alessandro    Chiapelli, 

ma  doverono  sentirc  acuita  la  loro  congenita  curiositä  a  penetrare 
nei  segreti  di  quel  paese  rimasto  fino  ad  allora  misterioso,  e  ripor- 
tarno  una  inipressione  profonda.  Non  occorre  ricordare  le  testimo- 
nianze  d'Erodoto  e  di  Piatone,  o  le  notizie  dei  frammenti  dello  storico 
e  geografo  Ecateo  di  Mileto,  per  convincersene.  Basta  riflettere 
che  da  qiiest'  epoca  comincia  veramente  sul  suolo  della  lonia  a  fiorire 
il  pensiero  e  a  fervere  Fopera  scientifica.  Verso  la  fine  del  Settimo 
Secolo  sorge  ViiQ/riytTt^Q  della  filosofia  greca.  Talete;  e  nel  sesto 
gli  altri  Milesii  Anassimandro  e  Anassimene,  Pitagora  di  Samo,  Seno- 
fane  di  Colofone,  tutti  di  origine  lonica,  gettano  le  prime  fondamenta 
della  speculazione  filosofica.  Le  colonie  greche  di  Mileto,  di  Efeso, 
di  Colofone,  di  Clazomene,  lungo  il  littorale  delF  Asia  Minore,  sono 
i  centri  ove  dapprima  si  desta  lo  spirito  della  scienza,  cioe  qnelli  che 
erano  in  piü  diretti  e  continui  rapporti  specialmente  con  Menfi  e 
con  Tebe. 

Ora  in  una  Memoria  da  nie  presentata  al  ("ongresso  Storico  inter- 
nazionale  undici  anni  orsono,  credo  di  aver  dimostrato  conie  nella 
cosmologia  religiosa  deir antico  Egitto,  quäle  risulta  dal  Libro  dei 
Morti  e  dalle  iscrizioni  di  vari  sarcofagi  e  tombe  e  da  testi  ieratici 
egizi,  vi  sono  tutti  gli  elementi  fondamentah  di  quella  cosmogonia 
che  gli  antichi  attribuiscono  a  Talete,  uno  dei  primi  visitatori  Greci 
della  terra  del  Kilo,  cioe  la  sua,  per  cosi  dire,  teoria  sulF  origine  nettu- 
niana  e  talassica  della  terra  e  della  vita,  e  in  generale  di  tutte  le  cose,. 
come  l'altra  sua  opinione  animistica,  secondo  la  quäle  tutte  le  cose 
sono  animate  da  forze  divine,  o,  per  riprodurre  Tespressione  attri- 
buitagli  dalle  antiche  testimonianze.  tutte  le  cose  sono  piene  di  di- 
vinitä"*^). 

Quel  niio  raffronto  fra  le  opinioni  del  prinio  cosmologo  greco 
e  l'Egitto  ha  ripreso  recentemente  in  esame  l'Amelineau'*^):  il  quäle, 
se  non  ha  aggiunto  alcun  nuovo  elemento  di  comparazione,  vi  ha 
portato  la  conferma  della  sua  autoritä  di  grande  egittologo.  Ne  fa 
meravigiia  che  anche  altri  dotti  come  l'Jacobi  e  il  Cumont  abbiano 
recentemente  esteso  questi  raffronti.     I  cosi  detti  naturalisti  preso- 


*^)  Aless.  Chiappelli,  Gli  elementi  egizi  nella  Cosmogonia  di  Talete 
negli   ,,Atti    del    Congresso    Storico    Internazionale".       Roma   1903 

*®)  E.  Amelineau,  LaCosmogonie  de  Thaies  et  les  Doctrines  de  TEgj-pte 
in  Revue  de  l'hist.  des  Religicns  (Annales  du  Musee  Guimet).  Paris  1910. 


L' Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  223 

cratici  non  sono,  difatti,  veri  e  propri  fisici:  e  sebbene  nmovano  da 
osservazioni  concrete  e  da  esperienze  natiirali  come  da  calcoli  mate- 
matici  proiettano  la  loro  primitiva  concezione  del  mondo  sopra  un 
fondo  dldealitä  religiosa^").  E  come  gli  lonici,  da  Talete  a  Eraclito, 
si  rappresentano  'il  mondo  come  alcunche  di  vivente  e  di  animato ; 
cosi  Anassimandro,  con  evidente  reminiscenza  Orientale,  forse  di  tra- 
dizioni  Babilonesi  ginnte  fino  ai  oentri  dell'  Asia  Minore,  considera 
il  processo  cosmico  come  nna  espiazione  d"una  oscura  colpa  origi- 
nale, che  Empedocle  snppone  propria  del  genere  umano,  Anassimene 
indovina  nel  mondo  un  divino  alito  onde  la  materia  respira,  e  ai  Pita- 
gorici  l'universo  suona  come  una  immensa  armonia  musicale,  dove 
Tanime  vanno  migrando.  L'idea  Orientale,  e  piü  specialmente  egizia, 
dell'analogia  fra  Forigine  cosmica  dall"  acqua  fondamentale  e  il  quoti- 
diano  sorgere  del  sole  dalFimmenso  seno  del  mare  si  prolunga  ed 
ha  i  suoi  svolgimenti  in  Anassimandro,  in  Senofane,  forse  in  Par- 
menide  e  in  Empedocle,  fino  ad  Ippone  d'Ehde,  contemporaneo  di 
Pericle.  E  come  molte  ragioni  fan  credere  che  altre  dottrine  greche 
primitive,  come  la  simbolica  dei  numeri  nel  Pitagorismo,  e  la  dot- 
trina  Empedoclea  dei  quattro  elementi,  abbiano  la  loro  scaturigine 
prima  nelF  antica  religione  delF  Egitto^^),  cosi  Fantichissima  teoria  di 
Anassimene  e  dei  primi  Pitagorici  deUa  respirazione  cosmica  deriva 
da  quella  stessa  sorgente.  Giä  questa  torpia  antropomorfica  pare 
cosi  estranea  al  pensiera  greco  da  far  supporre  non  meno  di  quella 
della  metempsicosi,  una  provenienza  straniera.  Ma  chi  confronti  il 
cosi  detto  „Libro  della  Respirazione"'  (Shait  en  sensen)  pubblicato 
per  la  prima  volta  dal  Brugsch,  e  il  papiro  Kerasher  edito  dal  Budge 
(The  Book  of  the  Deadj^")  si  persuaderä  agevolmente  che  quella 
singolare  intuizione  era  tradizionale  nelFantico  Egitto,  e  che  Fin- 
contro  non  puö  essere  qui  accidentale:  come  non  puö  essere  senza 
qualche  fondamento.  checche  ne  pensi  il  Rohde^"),  che  Erodoto  in 
due  famosi  luoghi  (II,  81  e  II  123)  deri\1  la  dottrina  orfico-pitagorica 


■*■)  Joe],  Über  den  Ursprung  der  griech.  Naturphilos.  aus 
dem     Geist    der    Mystik  1907. 

^8)  Jacobi,  Philos.  Jahrbuch  15.  Bd.  (1902). 

*^)  WalUs  Budge,  The  Book  of  the  De  ad  (Facsimile  of  the  Papyi 
of  Hunefer,  Kerasher  and  Xetchennet).     Lenden  1899  Plate  VIII  p.  28—33, 

5«)  Rohde,  Psyche,  3.  Aufl.  1903  II  107,  134;  Gomperz,  Sitzungsber. 
der  Wiener   Akad.  1886  p.  1032;  Maas,  Orpheus  (1895)  p.  165. 


224  Alessandro    Chiapelli, 

della  migrazione  deiranime  dairEgitto.  e  ponga  sulla  stessa  linea 
gli  orfici.  i  Pitagorici  cogli  egiziani. 

Ora  non  par  duhbio  che  la  religione  dei  Misteri  o  rOrfisnio,  nei 
loro  diie  cicli  niitici  fondanientali,  di  Demeter  e  Persefone  e  del  tracio 
Dionysos,  rappresentino  forme  di  culto  e  di  dottrine  che  per  molti 
elementi  si  rivelano  oris-inariamente  di  earattere  straniero  alle  tra- 
dizioni  religiöse  nazionali,  trapiantate  poi  sul  suolo  ellenico.  e  si  col- 
leghino  a  qiiei  dilti  di  fhoi  ^srr/.oi  di  cui  ci  parlano  testimonianze 
di  scrittori  ed  iscrizioni  antiche;  da  ima  delle  quali  (C.  I.  A.  2,  168) 
sappiamo  d'un  tTjq  "laidog  Isqov  fondato  in  Atene  da  una  colonia 
Egiziani).  Ora  anche  pel  tramite  di  questa  religione  dei  Misteri,  sia 
dei  Misteri  Eleiisini  esistenti  giä  all'  etä  dell'  inno  omerico  a  Demeter, 
e  si  degli  Orfici  i  quali.  nonostante  l'opinione  dell'  Hauck^^j  risalgono 
giä  probabilmente  fino  al  VI  secolo,  lo  spirito  dell'  Oriente  penetrö  nel 
pensiero  Greco.  Giova  notare  in  tal  proposito,  che  la  trasformazione 
deir  antico  mito  dell'  novo  cosmico  nella  Teogonia  rapsodica  degli  Orfici. 
come  ha  riconosciuto  il  Gomperz^^),  non  avvenne  senza  Influenza  stra- 
niera  e  specialmente  egizia.  Poiche  questo  mito  che  i  Greci  avevano  in 
comune  coli'  India  e  colla  Persia,  coi  Fenici,  i  Babilonesi  e  gli  Egiziani, 
ha  presso  di  questi  particolaritä  che  piü  lo  ravvicinano  all'  Orfismo. 
La  creazione  dell'  uovo  cosmico  dall'  acqua  originaria  per  opera  del 
Dio  luminoso  (Ra,  o  Osiris)  o  del  Dio  Ptah  come  apparisce  nei  papiri 
magici^*),  dimostra  una  cosmogonia  religioso-filosofica  che  conteneva 
in  se  gli  elementi  e  della  cosmogonia  fisica  di  Talete  (secondo  che 
altrove  ho  dimostrato)  e  della  cosmogonia  mitica  degli  Orfici.  Cosi 
anche  la  leggenda  Orfica  conosceva  quella  natura  bisessuale  delle 
divinitä  che  troviamo  nel  mito  egizio  e  in  Babilonia:  ed  anche  Eudemo, 


51)  cfr.  fra  gli  altri  de  Jong,  Das  antike  Mysterienwesen  19Ü9, 
9  segg.;  Gruppe,  Griech.  Mythologie  und  Religionsgeschichte  II 
(1906),  1670;  Farnell,  The  Cults  of  the  Greek  states  III  (1907),  198  segg. 
Giemen,  Der  Einfluß  der  Mysterien-Religion  auf  das  alt.  Christ. 
Gießen  1913  p.  4  segg.;  Foucart,    Les    Mysteres   d'Eleusis.     Paris  1914. 

^^)  Hauck,    De   hymnor.  orphic.   aet.  1911. 

53)  Goniperz,  Griech.  Denker  I-  p.  75  segg.,  contro  il  quäle  mi  pare 
poco  persuasiva  la  prctesta  del  Burnet,  Early  greek  philo s.  (trad.  ted. 
1914  p.  16). 

5^)  Dieterich,  Papyrus  Magica,  in  Jahrbücher  f.  Philologie.  Suppl. 
XVI,  773;  Ermann,  Ägypten  253. 


L'Oriente  e  le  Origini  della  Filosofia  Greca.  225 

il  discepolo  di  Aristotele.  sapeva^^)  che  la  dottrina  dei  Magi,  cioe 
la  religione  Zoroastrica,  aveva  in  comiine  colla  teogonia  rapsodica 
il  principio  del  tempo  infinito  (Zervaii-Akarana,  Chronos). 

Mentre  perö  le  teogonie  Orfiche  piü  antiche  furono  uno  dei  tra- 
miti  onde  le  tradizioni  e  intuizioni  orientali  penetrarono  nella  primitiva 
fisica  greca,  l'Orfismo  e  la  religione  dei  Misteri  eleusini,  che  da  esso 
ai  primi  del  sesto  secolo  ebbe  irapulsi  ad  Intimi  mutamenti  spirituali,. 
checche  ne  dica  ora  il  Foncart^^),  per  virtü  del  loro  contenuto  etico- 
religioso  poterono  piü  specialmente  nel  preparare  il  terreno  alla  rifles- 
sione  niorale  cosi  dei  grandi  poeti  lirici  e  tragici  come,  piü  tardi^ 
deir  epoca  dei  Sofisti  e  di  Socrate;  nonostante  che  traccie  di  dottrine 
Orfiche,  come  riconoscono  anche  il  Diels,  il  Kern  ed  altri,  giä  si  tro- 
vino  in  Eraclito,  in  Empedocle,  per  non  dh'e  dei  Pitagorici. 

Tntto  questo  nondimeno  concerne,  in  ogni  modo,  iina  forma 
di  aziome  indiretta  dell'  Oriente  snlle  origini  del  pensiero  greco: 
argomento  che  merita  una  speciale  ricerca,  diversa  da  quella  che  ci 
occupa  qni^").  I  resultati  della  quäle  se  sono,  some  speriamo,  in- 
controvertibili,  giovano  anche  a  determinare  i  limiti  e  il  senso  di 
codesto  influsso  Orientale,  e  specialmente  egizio,  sui  primi  moti  del 
pensiero  filosofico  greco.  Non  vi  ha  dubbio,  difatti,  che  agl'insegna- 
menti  degli  astronomi  Babilonesi,  dei  sapienti  egizi  e  ai  suggerimenti 
e  motivi  che  poterono  venire  dai  loro  testi  sacri,i  Greci  seppero  dare 
quella  sovrana  ed  originale  espressione  sintetica  da  cui  s'inizia  l'opera 
Vera  della  scienza  e  della  filosofia,  nell'  atto  in  cui  si  disciogiie  cosi 
dalla  tradizione  religiosa  e  dal  mito,  come  dalF  empirismo  delle  cogni- 
zioni  astronomiche  e  matematiche,  volte  all'  uso  della  vita. 

Ma  codesti  primi  albori  del  nuovo  spirito  speculativo  non  son 
che  riflessi  della  luce  di  quell'  antica  sapienza  Orientale,  che  ancora 
circonfusa  di  poesia  reügiosa,  era  apparsa  dalla  VaUe  del  Xilo  come 
in  quella  dell'  Eufrate.  Da  quei  due  grandi  centri  di  cultura,  prossimi 
all'Ellade  sacra,  vennero  i  primi  impulsi  ai  piü  antichi  pensatori  greci, 
che  li  seppero  accogiiere  ed  elaborare  con  feconda  e  creatrice  genialitä. 
Certo,  gl'inni  religiosi,  i  testi  ieratici,  le  cosmogonie  mistiche,  non 


''^)  Eudemi,  Fragmenta  ed.  Spengel  p.  171  segg. 
^^)  Foucart,  Les   Mysteres   d'Eleusis  p.  251  segg. 
")  In  parte  intrapresa  giä   dal   Gruppe,    Griechische    Kulte    und 
Mythen  I  1887. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  2.  jg 


226  Alessandro   Chiapelli. 

sono  ancora  i  sistemi  di  fisica  o  di  filosofia  della  natura:  come  gli 
splendori  antelucani  non  sono  ancora  Taiirora  e  il  solc  Oriente,  e  il 
seme  non  e  ancora  la  pianta.  Ma  quelli  s})lendori  delF  alba  son  pure 
preparatori  e  prenunziatori  del  giorno:  e  dal  seme  la  pianta  gerniina 
prima  che  fiorisca  e  fruttifichi  nella  pienezza  dell"  aria  e  nell'  aperta 
luce  solare.  I  Greci,  questi  figli  gloriosi,  questi  divini  alunni  degli 
„antichi  incKti  padri"  riconoscevano  (e  lo  cantö  un  loro  poeta,  Alceo) 
che  „dal  padri  e  l'apprendimento"^^)  e  sapevano  che  dall'  Oriente, 
anche  nel  mondo  della  storia  e  della  civiltä  umana,  venne  sempre  la 
prima  luce. 


58 


)  Fr.  150  (B)  un'  nuTigor  /jidd^og. 


I 


i 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam. 

Von 
Prof.  Dr.  Horten  in  Bonn. 

(Fortsetzimg. ) 

Das  unter  Xr.  8  (S.98)  genannte  Werk  Schiräzis,  die  Erkenntnisse^),  liegt 
in  einer  Lithographie  von  Teheran  (o.  Jahrg.  210  S.  kl.  8)  vor.  Sie  bildet  einen 
Sammelband,  dessen  Inhalt  8.  210  wie  folgt  angegeben  wird :  1.  Abhandlung: 
„Die  Erkeimtnisse"  von  dem  Vorkämpfer  der  Theologen  (sadr  almutaaUihin) 
mit  vielen  Glossen  von  bekannten  Gelehrten  z.  B.  MoUa  Ali  Xüri,  Molla 
Ismail  al  Tsfahani  und  Mirza  Ahmad  al  ardakani  (?),  auch  Schirazi  genannt. 
Er  ist  wohl  derselbe  Alunad  (ca.  1650)  der  mit  Schirazi  (Sadr)  die  Glossen  zur 
Metaphysik  AAicemias  schrieb  (vgl.  Archiv  XXII  392,  20).  Daneben  laufen 
Glossen  des  Verfassers  (Schirazi)  und  Erklärungen,  die  er  dem  Fürsten  der 
Theologen  Aga  >Drza  abul  Hasan  und  anderen  entnahm.  2.  ,,Das  praesente 
(primaere)  und  erworbene  Wissen"-)  von  Tasi  (1273  t;  fehlt  Brockl.  I  508  ff.) 
enthalten  in  einer  Glosse  des  Sadr  (Schirazi)  zu  den  „Erkenntnissen" 
(maschair).  3.  ,,Der  Xachweis  für  das  zeitliche  Entstehen  der  Welt"  von 
Tankäbti  (\'iell.  1700;  elschaih  Husain  el-Tankäbti)  enthalten  in  einer  Glosse 
Schiräzis  zu  den  ,, Erkenntnissen".  4.  Über  den  Thron  Gottes  (d.  h.  die  höchste 
Mystik)  von  Schirazi  1640  und  Kommentar  über  den  Thron  Gottes  (d.  h. 
Mystik)  von  dem  Professor  (ahünd)  MoUa  Ismail,  Isfahäni  (ca.  1700) 
enthalten  in  einer  Glosse  zu  Schiräzis  Werk  ,,Der  Thron  Gottes"  (Mystik). 
„Bereits  früher  wurde  der  Druck  des  erwähnten  (mystischen)  Kommentars 
{des  Ismail)  vollendet  in  Verbindung  mit  der  Schrift  des  Arabi  (1240  f;  Br.  I 
443  Xr.  14)  „Der  Vogel  Greif"  (ankä)  und  anderen  mystischen  Schriften. 
Den  vorliegenden  Text  haben  wir  des  öfteren  mit  den  alten  Handschriften 
verglichen,  indem  große  Gelehrte  uns  unterstützten,  unter  diesen  Aga  Schaih 
Muhammad  Bäkir  Kügäni  (ca.  1890),  der  sich  mit  mir,  Ahmad  Schirazi 
(ca.  1890)  verband."     Letzterer  scheint  ein  reges  wissenschaftUches  Interesse 


1)  Almaschäir  (Singl.  almaschar)  bedeutet  zunächst  die  Sinnesorgane. 
Schirazi  bezeichnet  mit  diesem  Terminus  die  philosophische  Erkenntnis, 
indem  er  denselben  in  der  Bedeutung  von  Kapitel  verwendet,  z.  B.  der 
erste  maschar  (S.  7):  Das  Sein  erfordert  (auf  Grund  seiner  inneren  Evidenz) 
keine  Definition;  der  zweite  maschar:  Die  Art  der  Universalität  des  Seins 
(ob  es  univoce  oder  äquivoce  oder  analogice  von  den  Einzeldingen  ausgesagt 
wird);  der  dritte  mascher:  Dem  Sein  kommt  es  im  vorzüglichsten  Sinne  zu, 
ein  reales  Wesen  zu  besitzen  usw. 

'-)  Fil  ilm  alladuni  walkasbi. 

15* 


228  Horten, 

entfaltet  zu  haben,  denn  von  ihm  stammen  noch  die  folgenden  Publikationen: 

1.  Kommentar  des  Caghmini  (ca.  1700)  mit  vielen  Glossen,  die  den  alten  Ge- 
lehrten entnommen  sind,  und  Abhandlungen  des  Schaichs  Bahai  und  anderer i). 

2.  Kommentar  zu  Abhari  (1264  f)  von  Molla  Sadr,  dem  weisen  und  gottes- 
gläubigen  Lehrer  (lilhakim  almuwähhid  ahünd  molla;  vgl.  oben  Nr.  7.  Er 
kann  kein  anderer  sein  als  Schiräzi  1640  f,  der  Verfasser  der  ,,vier  Reisen") 
mit  vielen  Glossen  von  tiefsimiigen  Philosophen  (vgl.  Archiv  XXII  398  ff.)." 

3.  Kommentar  des  Koranverses  über  das  Licht  (Lure  24,  35).  4.  Eine  Glosse 
von  Gazali,  herausg.  von  Härawi  (Harawi;  Molla  Käzim  Muhammad).  5.  „Ab- 
handlungen" von  dem  „Lehrer  aller"  (ustäd  alkuU)  Schaich  Murtada  al-Ansäri 
(viell.  1520)-)  mit  der  Abhandlung:  Die  Bedeutungen  der  Prinzipien  (der 
Religion)  für  die  Untersuchungen  über  die  Termini  (,, Worte")  und  anderer 
Schriften  von  ihm  (fawäid  alusül  fimabahit  alalfäz;  fehlt  Br.).  ß.  „Beredte 
Weisheitssprüche  über  Metaphysik  (und  Theologie;  badaji  alhikam  fil  hikma 
alilahija)  in  persischer  Sprache.  7.  Abhandlung  über  das  in  der  Prädikation 
(als  Kopula)  ausgedrückte  Sein  (fi  tahkik  ^vugüd  —  z.  erw.  elwugüd  ■ —  arräbiti) 
von  dem  Metaphysiker  Aga  Ali  almudärris  (dem  Lehrer:  viell.  ca.  1700). 
8.  „Darlegung  der  Grundsätze"  (tamlaid  alkawaid),  handelnd  über  das  Sein 
im  allgemeinen  und  den  Nachweis  seiner  Existenz  (fehlt  b.  Br.,  vgl.  dort  I  418 
sub  II  2)  von  Isfahani  (viell.  1348  f);  genamit  Schamsalärifin  wassalikin  (Sonne 
der  Mystiker,  der  wissenden  und  der  pilgernden),  Säinaddin  (Schützer  der 
Religion)  Ali  bn  Muhammed,  mit  Texten  von  Könawi  (Sadraddin;  Br.  I  449) 
und  vielen  anderen  Abhandlungen.  9.  „Die  Anbetung"  (sahifat  assagädija)  mit 
fünfzehn  mystischen  Unterhaltungen  (munägät)  und  solchen  über  das  Evan- 
gelium von  dem  Meister  der  Betenden  (saijid  assagidin  mit  der  Tradition 
(über  den  Propheten)  von  Kisäi  zugleich  mit  dem  Kommentare  zur  „An- 
betung" (scharh  sahifat  assagädija)  der  den  Titel  trägt:  ,,Das  Licht  der 
Lichter"  (nm'  alanwär;  fehlt  b.  Br.)  von  MmataUa  aus  Algier  (algasäiri)  mit 
dem  Kommentare  des  Dämäd  (fehlt  b.  Br.),  dem  Siegel  (Schlußstein)  der 
Gelehrten  (hatam  alhukamä)  und  dem  Kommentare  und  den  Anmerkmigeu 
(talik)  des  Molla  Mühsin  Kaschäni  und  dem  „Garten  des  Neumondes"  (hadikat 
alhilalija),  ein  Kommentar  des  Gebetes  der  Propheten,  als  er  den  Neumond 
erbhckte,  einer  Schrift  des  Bahai  (fehlt  b.  Br.).  10.  „Kritik  der  Urteile  über 
selbständiges  Entscheiden  (in  religiös-juristischen  Fragen)  und  Autoritäts- 
glauben (tankid  alahkäm  fihgtihäd  waltaklid)  von  Zangäni^)  (ca.  1900),  ge- 
nannt Meister  der  Gelehrten  und  Jiuisten  (saijid  alulamä  walmugtahidüi). 
Beweis  für  die  Wahrheit  des  Islam  (huggat  alisläm;  vgl.  denselben  Beinamen  ^ 
bei  Gazäli)  Mirza  abu.  Täub,  Gott  verlängere  sein  Leben  (also  ein  noch  lebender  f| 
Schriftsteller).  11.  Von  demselben  Zangäni :  Persische  Übersetzung  von  ihn 
Maskawaih  (1030  f):  Das  Geschenk  an  die  bekannten  Gelehrten  (tukfat  alaräf). 


^)  Ein  Bahai  starb  1412  (Br.  II  55).  Er  verfaßte  eine  Anthologie  imter 
dem  Titel:   „Die  Aufgangsorte  der  Monde." 

■-)  Viell.  Nazmizade  1706  Ethe  Neupers.    Lit.  347. 

^)  Ein  Zangäni,  der  sich  mit  juristischen  Fragen  beschäftigte,  lebte 
ca.  1684  (Br.  I  198  sub  8,  b). 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  229 

12.  „Enthüllung  der  genügenden  Beweise  über  den  Konsensus  und  die  Tra- 
dition" (kaschf  alkuna  fil  igmä'  walmankül;  fehlt  b.  Br. ;  käni',  der  genügende 
Beweis')  von  Tustari  (Asadallah  der  Löwe  Gottes).  13.  Kommentar  zu 
„Der  Siegreiche  in  der  Religiosität"  (Text  u.  Übers,  unsicher,  firüz  — •  i  — 
mjllija),  der  über  alle  Fragen  des  Gebetes  handelt.  Text  und  Kommentar 
von  „den  beiden  bekannten  Gelelu-ten".  Diese  Xotiz  findet  sich  nach  dem 
Kommentare  des  Schiräzi  zu  Abhari.  Diese  sind  vielleicht  unter  den  „beiden" 
Gelehrten  verstanden.  Ein  Werk  dieses  Titels  ist  von  Abhari  allerdings  un- 
bekannt. 

„Die  Erkenntnisse"  behandeln  folgende  Probleme^):  1.  Die  Art,  wie  die 
Gottheit  die  Individua  und  Universalia  erkemit.  2.  Der  Beweis  für  die  Existenz 
der  lichtähnlichen  (d.  h.  geistigen,  göttlichen;  eine  persisch-zoroastrische 
Ausdrucksweise)  Archetypen,  die  Plato  in  seiner  Ideenwelt  aufgestellt  hat. 
3.  Die  Xatm-  der  Verbindung  zwischen  Geist  und  Gedachtem,  Sinn  und  sinn- 
lich Wahrgenommenem.  4.  Das  Eii^fache  verhält  sich  wie  der  Verstand  (ist 
notwendig  Geist)  und  ist  (im  Erkennen)  die  Gesamtheit  der  existierenden 
Dinge.  5.  Die  Summe  des  Seins  ist  eine  einzige  Substanz,  die  eine  einzige 
Individualität  darstellt  (metaphysischer  Monismus;  vgl.  Spinoza).  Sie  besitzt 
(mj'stische)  Stationen  und  holie  und  niedere  Stufen.  (Die  Ausführungen 
stimmen  S.  9  mit  denen  der  Ringsteine  Farabis  Xr.  9 — 12  überein).     6.  Das 


1)  Einen  Damad  1659  t  gibt  Br.  II  341  Xr.  32  an,  der  eventuell  in  Be- 
tiacht  kommen  könnte. 

-)  Im  Vorworte  gibt  Schiräzi  seine  mystischen  Tendenzen  kund:Dm'ch 
das  schöpferische  Wort  Gottes  wird  unser  Eintreten  in  diese  und  jene  Welt 
bewirkt,  indem  die  seelischen  Fähigkeiten  gereinigt  werden  (vom  Karma; 
indischer  Einfluß),  die  einer  Vervollkommung  fähig  sind,  und  dadurch, 
daß  die  passiv  sich  verhaltenden  Geister  sich  von  den  ihnen  anhaftenden 
Inhärenzien  (maäni)  und  Zuständen  befreien  (die  sie  an  diese  Erde  ketten) 
um  sich  mit  dem  aktiven  Intellekte  zu  vereinigen  (neuplatonischer  Einfluß), 
geleitet  dirrch  das  Licht  philosophischer  Beweise."  „Weil  das  Problem  des 
Seins  der  Anfangspunkt  der  philosophischen  Prinzipien  und  das  Fundament 
der  theologischen  Probleme  wie  auch  der  Pol  ist.  um  den  sich  die  Gottes- 
erkenntnis  ch'eht,  haben  wir  es  für  angebracht  gehalten,  in  diesem  Werke, 
das  über  die  Prinzipien  der  Philosophie  handelt,  die  Untersuchungen  über  das 
Sein,  das  die  Wurzel  eines  jeden  Existierenden  ist,  anzustellen."  ,, Unser 
System  ist  keine  dialektische  Disputation  nach  Art  des  Kalam  (der  alten 
orthodoxen  und  liberalen  Theologie)  noch  Autoritätsglaube  der  ungebildeten 
Menge,  noch  philosophische  Spekulation,  die  (mühsam)  untersucht,  noch 
auch  Sophisterei,  noch  auch  mystische  (sufische)  Phantasterei,  sondern  strenge 
Argumentation,  die  auf  Intuition  beruht  und  durch  den  Koran  als  richtig 
erwiesen  wird." Dadurch  bekennt  sich  Schiräzi  als  einen  Schüler  Sulirawärdis 
(1191  f),  oder  wenigstens  als  in  einer  verwandten  Richtung  stehend.  Der  in. 
der  Lithographie  wiedergegebene  Schriftduktus  ist  durchaus  identisch 
mit  dem  der  Handschrift  Berlin,  Minutoli  229  Ahlw.  Xr.  5045,  die  die  Meta- 
physik Avicennas  enthält. 


230  Horten, 

Sein  ist  dasjenige  Fundament,  aus  dem  die  Wirkungen  und  Gesetzmäßig- 
keiten der  Dinge  erwachsen.    Es  besitzt  also  im  eminentesten  Sinne  Realität. 

7.  Das  Sein  ist  nicht  durch  die  Wesenheit  der  Dinge  gegeben.  8.  Das  Sein 
selbst  existiert  nicht  als  solches,  sondern  nur  in  Form  der  Wesenheiten  der 
Dinge.  9.  Es  gibt  zwei  Arten  des  Akzidens,  das  des  Wesens  und  das  des  Daseins 
(nach  ihren  Substraten  so  unterschieden),  lü.  Die  Existenz  des  Akzidens 
ist  identisch  mit  seiner  Inhärenz  (S.  19).  11.  Das  Sein  ist  keine  Substanz  im 
eigentlichen  Sinne,  noch  eine  Qualität  der  Wesenheit.  Das  Dasein  jedes 
Kontingenten  ist  in  der  Außenwelt  (als  Realität)  identisch  mit  der  Wesenheit 
und  mit  ihr  vereinigt  (ohne  logische  Identität).  12.  Die  Einzeldinge  des  Seins 
werden  individualisiert  entweder  a)  durch  die  Wesenheit  des  Seins  (Gott) 
oder  b)  durch  das  Früher  und  Später  (der  Seinsordnung;  die  anfangslos  und 
ohne  Materie  erschaffenen  Dinge,  die  Geister)  oder  c)  durch  Inhärenzien  (die 
vergänglichen  Dinge).  13.  Das  Sein  (nicht  die  Wesenheit)  ist  per  se  herstellbar 
(erschaffbar)  und  emaniert  aus  der  Ursache.  14.  Die  Individuation  ist  ent- 
weder  identisch   mit   dem    Sein   oder    konvertibel   (umfangsgleich)   mit    ihm. 

15.  Die  Kette  der  erschaffenen  Dinge  muß  auf  einen  notwendig  Seienden 
auslaufen.  Er  besitzt  eine  unendliche  Macht.  Alle  Dinge  kehren  zu  ihm  zurück. 
Aus  der  Fülle  seines  eigenen  Wesens  erkennt  er  die  außergöttlichen  Dinge. 

16.  Der  im  eigentlichen  Sinne  Seiende  ist  Gott.  Alles  andere  ist  in  sich  betrachtet 
vergänglich  und  nichtig.  17.  Die  Eigenschaften  Gottes  sind  mit  seinem  Wiesen 
identisch,  was  der  Lehre  Ascharis  w*iderstreitet.  Sein  W^issen  umfaßt  alle 
Dinge.  18.  Das  Nichtsein  geht  der  Existenz  der  Welt  zeitlich  voraus  (Leugnung 
der  Anfangslosigkeit).  19.  Der  Mensch  muß  sich  zur  Reinheit  des  aktiven 
Intellektes  aufschwingen,  um  sich  mit  diesem  zu  verbinden.  Die  Abschrift 
wurde  1315/1897  von  einem  Isthabanäti  (Isthabanät  in  Fars  S.  O.  von  Istahr; 
Mirza  Abdalkarim  auch  Schirazi  gen.)  hergestellt.  Die  Glossen  sind  unter- 
zeichnet von  1.  Ardakani  (  ?),  Mirza  Ahmad,  2.  (Ahmad)  Schirazi,  3.  Mustafa, 

4.  Muhammad  Husain,  5.  Ismail,  6.  Mirza  abul  Hasan,  7.  Muhammad  Ismail, 

8.  Nüri,  9.  Muhammad  Gafar,  10.  Tankabti.  Schirazi:  1.  Avicenna  (auch  dessen 
„Anmerkungen  (Br.  I  455  Nr.  21),  2.  Suhrawardi  1191  f.  Er  wird  als  zu  der 
Schule  der  Ruwakijün  (die  in  einer  Säulenhalle  lehrenden)  gerechnet.  Dieses 
Wort  übersetzte  man  bislang  mit  Stoiker,  dem  der  arabische  Terminus  aller- 
dings entsprechen  könnte.  Suhrawardi  wird  nun  aber  immer  als  Schüler 
Pia  tos  bezeichnet.  Sein  System  kann  in  keiner  Weise  mit  dem  Stoizismus 
in  Verbindung  gebracht  werden.  Die  Übersetzung  „Stoiker"  (Horowitz: 
Über  den  Einfluß  der  griechischen  Philosophie  auf  die  Entwicklung  des  Kalam 

5.  6  Anm.  1)  ist  also  nicht  in  allen  Fällen  richtig.  Es  kann  auch  die  Akademie 
und  die  Schule  Piatos  so  bezeichnet  werden.  3.  Dauwani.  4.  ibn  Babiija: 
Die  Dogmen  der  Imamlehre  (Br.  I  187  sub  4  Nr.  7)  und  andere. 

Das  oben  Nr.  14  genannte  Werk  Schirazis  „Der  Thron  Gottes"  folgt  in 
demselben  Bande  S.  110  ff.  Im  Archiv  Bd.  XXII  S.  397  wurde  der  Kommentar 
des  Ahsai  zu  demselben  bereits  besprochen.  Hier  liegt  der  Text  mit  dem 
Kommentar  des  Isfahäni  (Molla  Ismail),  des  Siegels  der  Theologen,  vor.  Zu 
dem  1909  im  Archiv  (1.  cit.)  Bemerkten  sei  hinzugefügt:  Die  Kapitel  sind  als 
„Erleuchtungen"   (muschrakin)    bezeichnet.      Dadurch   schließt  sich   Schirazi 


Jahi-esbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  231 

au  das  Werk  vou  Suhrawardi  an:  Die  Philosophie  der  Erleuchtung".  „Alles 
was  in  seinem  Wesen  einfach  ist,  enthält  in  irgendeiner  Weise  in  seiner  Einheit 
und  trotz  derselben  alle  Dinge".  Nichts  real  Existierendes  kann  von  ihm 
negiert  werden.  Die  Gottheit,  das  absolut  Einfache,  enthält  also  in  sich  alle 
Dinge.  Das  Wissen  Gottes  ist  eine  einfache  Wesenheit,  die  sich  trotz  ihrer 
Einfachheit  auf  eine  unbestimmt  große  Vielheit  von  Dingen  erstreckt.  ,, Un- 
richtig ist,  was  die  Akademiker  (Neuplatoniker;  elruwakijün)  berichten,  worin 
ihnen  Sulu-awardi  und  Tusi  (1273  t)  und  die  Späteren  folgten,  daß  das  Wissen 
Gottes  von  den  möglichen  Dingen  verschieden  ist  von  den  kontingenten  Dingen 
der  Außenwelt  (und  in  den  Ideen  Gottes  allein  gegeben  ist).  Unhaltbar  ist 
auch  die  Lehre  Piatos,  daß  das  Wissen  Gottes  in  selbständigen  Substanzen 
und  unkörperlichen  Formen  bestehe,  die  sowohl  von  Gott  als  auch  der  Materie 
getrennt  bestehen.  Die  Dinge  sind  vielmehr  in  geistiger  Weise  in  Gott  präsent 
(S.  119).  In  diesem  Sinne  ist  auch  das  Wort  Gottes  in  ihm,  —  eines  der  Haupt- 
pro bleme  der  islamischen  Philosophie.  „Jedes  Ding,  dessen  Existenz  er- 
kennbar ist,  ist  auch  selbst  (wenigstens  als  im  Wesen  Gottes  Enthaltenes) 
aktiv  erkennend^).  Jede  geistig  oder  similich  erkennbare  Wesensform  ist 
ihrem  Dasein  nach  mit  einem  Erkennenden  vereinigt".  Dadm-ch,  daß  die  Dinge 
in  Gott  und  dem  aktiven  Intellekte  vorhanden  sind  und  aus  ihm  stammen, 
erhalten  sie  die  Bestimmung,  erkennbar  zu  sein.  Da  der  Existenz  der  Welt 
das  Nichts  vorausging,  ist  sie  zeitlich  entstanden.  Die  direkte  und  nächste 
Wirkursache  (129)  für  die  Bewegung  in  allen  ihren  Arten  ist  nur  die  Physis 
eines  jeden  Dinges.  Sie  ist  per  se  das  Prinzip  der  Bewegung.  Die  Lehre 
des  Aristoteles  lautet,  daß  die  Bewegung  des  Himmels  auf  der  Physis  desselben 
beruhe  und  daher  eine  nat  ürliche  sei.  Die  Sphäre  muß  daher  eine  animaUsche 
in  Phantasievorstellungen  tätige  Seele  besitzen.  „Die  zweite  Erleuchtung 
(S.  131;  almuschrak)  handelt  über  das  Erkennen  und  das  andere  Leben  (maäd; 
vgl.  das  Werk  Avicennas  Br.  I  456  Nr.  42).  Sie  enthält  (als  Kapitel)  viele 
einzelne  Erleuchtungen  (ischrakät),  z.  B.  die  Psychologie.     Die  menschliche 


^)  Das  Erkannte  als  solches  ist  eins  mit  dem  Erkennenden.  „Die  Existenz 
der  sinnlich  wahrgenommenen  Form  ist  identisch  mit  ihrem  sinnlichen  Wahr- 
genommensein. Ihr  Dasein  kann  also  von  dem  Dasein  der  wahrnehmenden 
Substanz  nicht  getrennt  oder  verschieden  sein.  Beide  haben  ein  und  dasselbe  Sein 
(S.  122)".  „Daß  zwei  Dinge  eins  werden  (außer  im  Erkennen)  ist  unmöglich. 
Daß  aber  ein  einziges  Wesen  sich  so  vervollkommnet  und  an  Intensität  so 
wächst,  daß  aus  ihm  viele  Dinge  hervorgehen,  die  früher  (vor  dem  Erkeiuitnis- 
akte)  nicht  aus  ihm  hervortraten,  ist  sehr  gut  möglich.  Wenn  sich  die  Seele 
mit  dem  aktiven  Intellekte  verbindet,  so  bedeutet  dies  nichts  anderes,  als 
daß  sie  in  sich  zu  einem  aktiven  Intellekte  wird,  um  die  Wesensformen 
hervorzubringen.  Die  Seelen  emanieren  aus  deiu  aktiven  Intellekte  in  die 
Körper  (der  sublunarischen  Welt).  Dann  kehren  sie  wieder,  wenn  sie  (im 
Erkennen)  ihre  Entelechie  erlangen,  in  den  aktiven  Intellekt  zurück."  Das 
Erkennen  scheint  also  ein  Projizieren  der  Formen  zu  sein,  zu  dem  die  Seele 
durch  die  Verbindung  mit  der  aktiven  Intelligenz  der  Himmelssphäre  be- 
fähigt wird. 


232  Horten, 

Seele  stellt  sich  in  vielen  Graden  und  Stationen  dar.  Das  Sehen  (S.  133)  findet 
weder  dadurch  statt,  daß  Sehkörper  aus  dem  Auge  austreten,  wie  es  die  Mathe- 
matiker lehren,  noch  dadurch,  daß  das  optische  Bild  des  Gegenstandes 
sich  in  der  kristallinischen  Flüssigkeit  des  Auges  abzeichnet  und  einprägt, 
was  die  NaturaUsten  behaupten,  noch  dadurch,  daß  die  Seele  die  Wesensformen, 
die  in  den  Dingen  der  Außenwelt  bestehen,  (mystisch)  erschaut,  was  bekannt- 
lich die  Philosophen  der  Erleuchtung  (Suhrawardi)  aufstellen  und  eine  große 
Anzahl  der  späteren  (d.  h.  arabischen)  Philosophen  für  richtig  halten  z.  B. 
Parabi.  In  unseren  Glossen  zu  der  Philosophie  der  Erleuchtung  haben  wir 
dies  dargetan".  Dieses  Werk  (hawäschi  ala  hikmat  alischräk)  ist  völüg  un- 
bekannt (vgl.  Br.  I  437).  „Die  Erkenntnisinhalte  inhärieren  vielmehr  der 
Seele,  freiüch  nicht  wie  Akzidenzien  der  Substanz,  sondern  wie  Tätigkeiten 
dem  tätigen  Subjekte  (so  daß  die  Seele  dieselben  in  die  Außenwelt  projizieren 
kann  und  auf  diese  Weise  optisch  wahrnimmt)".  Je  nach  der  Intensität  der 
Erkenntnisbilder  und  Phantasiekräfte  ist  diese  Funktion  stärker.  Die  mensch- 
liche Seele  besitzt  eine  Existenzform,  die  der  des  Körpers  (und  ihrer  Ver- 
bindung mit  ihm)  vorausgeht,  ohne  daß  sich  daraus  die  Lehre  von  der 
Seelenwanderung  ergäbe.  Die  Individua  der  menschlichen  Xatur  haben  die 
gleiche  Wesenheit.  Die  IndividuaUtät  ist  eine  einzelne  Art  des  Daseins,  die 
körperhch  oder  unkörperlich  sein  kann.  Das  Dasein  kann  nun  aber  mehr  oder 
weniger  intensiv  sein.  Das  Jenseits  ist  demnach  eine  Phase  unseres  Daseins, 
die  eine  größere  Intensität  und  Aktuahtät  darstellt,  als  unser  diesseitiges 
Leben.  Die  Phantasie  (S.  147)  ist  eine  Substanz,  die  in  ihrer  Substanz  uiid 
Tätigkeit  von  dem  Körper  des  Menschen  „und  dem  siimlichen  Tempel"  (eine 
indische!)  Bezeichnung  für  den  Körper)  getrennt  ist  „und  die  Erkennt- 
nisse (S.  149)  haben  außerhalb  des  Subjektes  keine  Existenz". 

Diese  Andeutungen  genügen,  um  zu  zeigen,  daß  in  dem  Systeme  Schiräzis 
eine  Gedankenwelt  vorüegt,  die  weder  ausschließlich  griechisch,  noch  islamisch, 
noch  persisch  ist.  Sie  muß  also  indisch  sein.  Es  ist  eine  Form  des 
Buddhismus,  mit  platonischen  und  persischen  Vorstellungen  durchsetzt, 
die  uns  hier  vor  Augen  tritt.  Wie  diese"  System  im  einzelnen  zusammen- 
hängt, würde  sich  wohl  der  Mühe  lohnen  zu  untersuchen.  Schirazi  verweist 
in  dieser  knappen  Schrift  häufig  auf  ausfülirlichere  Darlegungen  in  seinen 
„zahlreichen  übrigen  allenthalben  verbreiteten  Schriften."  Er  muß  daher  ein 
einflußreicher  Schriftsteller  gewesen  sein.  Der  Kommentar  Isfahanis  folgt 
dem  Texte  Schiräzis,  indem  er  jedoch  die  Form  eines  selbständigen  Werkes 
annimmt.  Der  letzte  Teil  beider  Schriften  verliert  sich  in  rein  mystisches 
Gebiet:  Der  Mensch  ist  im  anderen  Leben  individuell  derselbe,  als  er  auf 
Erden  war.  Der  Unterschied  des  verklärten  Leibes  von  dem  irdischen  wird 
ausgeführt  usw.  In  beiden  Werken  werden  die  griechischen  und  islamischen 
Philosophen  in  großer  Anzahl  zitiert. 


1)  Über  indische  Einflüsse  in  der  islamischen  Philosophie  vgl.  meinen 
Aufsatz  in  Vierteljahrschrift  für  wissenschaftliche  Philosophie  und  Soziologie 
Bd.  34  (1910)  S.  311  ff.  bis  32U. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  233 

Büni  (1225  t),    Die  Somie  der  Erkenntnisse.     Kairo  1319  =   1907    Lithogr. 

4  Teile.     132  +  116  +  124  +  140  S.   4".     Herausgeg.  von  Abdarrahman 

al  Gaziri. 
Ein  bisher  noch  unbeachtet  gebliebener  Mystiker  und  Philosoph  ist  Büni, 
dessen  Sonne  der  Erkenntnisse  bereits  viermal^)  (Bombay  1879  u.  1881,  Kairo 
1874;  vgl.  Br.  I  497  Nr.  6)  erschienen  ist.  Er  behandelt  alles  Wißbare,  das 
gelegenthch  der  Erklärung  der  göttlichen  Namen  vorgebracht  wird.  Sein  Werk 
zerfällt  in  vier  Teile.  Der  erste  behandelt  1.  die  Geheimnisse  der  Buchstaben 
(Kabbalistik),  2.  Zeiteinteilung,  3.  die  Mondstationen,  4.  die  12  Sternbilder, 
5.  Einsamkeit  und  Sammlung,  6.  Erklärung  von  Koranversen  und  der  Xamen 
Gottes  in  mystischem  Sinne,  7.  die  göttliche  Emanation;  der  zweite  einzelne 
Bezeichnungen  Gottes  unter  Zitierung  zahlreicher  Mystiker,  der  dritte  die 
Eigenschaften  Gottes,  die  aus  dem  Weltall  erschlossen  werden,  der  \-ierte  die 
Buchstaben,  insofern  sie  Elemente  und  Eigenschaften  von  Körpern  vertreten. 
Viele  mystische  Zeichnungen  (Quadrate,  Vierecke,  Kreise,  Kegel,  Wagschalen 
für  eine  Verwendung  beim  Zaubern)  erläutern  den  Text.  Diese  Gedanken- 
welt, die  wohl  auf  Pythagoras  zurückgeht,  bildet  einen  nicht  zu  übersehenden 
Einschlag  der  islamischen  Geisteskultur.  Hat  doch  selbst  Avicenna  sich  nicht 
abschrecken  lassen,  die  Geheimnisse  der  Buchstaben  in  einer  eigenen  Schrift  zu 
behandeln.  Ihi-e  Erschließung  und  Analyse  ist  noch  ein  Desideratum  der 
W'issenschaft  vom  Islam. 

In  den  Werken  von  Gauzija'-)  1350  f  finden  sich  \-ielfach  philosophische 
Ausführungen,  leider  versteckt  in  einem  Wust  von  positiver  Theologie.  Zu 
nennen  ist  hier  zunächst  ,,Die  Heilung  des  Kranken"  (Br.  II  106  Xr.  13  sifa 
elalil,  nicht  wie  Br.  galil),  die  handelt  über  ,,den  götthchen  Ratschluß,  die 
Schicksalsbestimmung,  das  Vorwissen  und  den  kausalen  Einfluß  Gottes  auf 
die  Handlungen  des  Menschen"  (hrsg.  von  Xasäni^)  Kairo  1323  =  1905;  307 
S.  4  mit  Unterstützung  von  Xagi  und  Hänigi^)).    Die  Frage  der  Prädestination 


^)  Vielleicht  noch  öfter;  deim  die  vorliegende  Ausgabe  enthält  S.  1  die 
Angabe,  daß  dies  Werk  mehrere  Male  sowohl  in  Kairo  wie  in  Indien  gedi'uckt 
worden  sei,  jedoch  mit  manchen  Fehlern,  die  diese  AviSgabe  durch  Kollationieren 
mit  mehreren  ägyptsichen  und  einer  nordafrikanischen  Handschrift  vermeidet. 
Wir  liaben  also  hier  eine  kritische  Textausgabe. 

-)  Er  war  ein  Anhänger  des  ibn  Taimija  1328  t. 

*)  Muhammed  Bedreddin  abu  Firas  en-Nasani  el-Halabi. 

*)  Diese  Gelelu'ten  haben  in  Kairo  eine  Gesellscliaft  gegründet,  die  be- 
zweckt, die  Schätze  der  arabischen  Literatur  zu  erschließen.  Dieselbe  hat 
bereits  eine  große  Anzahl  von  klassischen  Werken  verschiedensten  Inhaltes, 
darunter  viele  philosophische  veröffentlicht,  z.  B.  Werke  von  Gazäli  Uli  t> 
Gahiz  869  f  „Die  schönen  und  häßUchen  (kontraeren)  Dinge  (Br.  I  153  Xr.  3), 
Isfahäni  (Rägib)  1108  t,  Ansäri  1520t  (Br.  II  99  Xr.  18),  Schahrastäni  1153  t, 
Rdzi  1209,  Tüsi  1273  t,  Averroes  1198  t,  Subki  1370  t  ibn  Maskaweih,  Faijümi 
„Die  Prinzipien  der  Logik";  Taftazäni  „Glosse  zur  Logik  Kätibis",  Schaich 
Zade,  Streitfragen  der  Anhänger  des  Maturidi  944  t  und  Aschari",  ibn  Taimija, 
ibn  Abdelbärr  1077  t  „Die  Wissenschaft,  ihr  Vorzug  und  ihre  Pflege"   (Br.  I 


234  Horten, 

und  die,  inwiefern  Gott  das  Böse  will  und  schafft,  werden  im  Sinne  der  islami- 
schen Orthodoxie  unter  ausgedehnten  theologischen  Diskussionen  behandelt. 
In  Haiderabad  gelangte  zur  Ausgabe  „Das  Buch  des  Geistes"  (1318  =  1900, 
437  tS.  4U).  Es  behandelt  den  Zustand  des  menschlichen  (Geistes  nach  dem 
Tode.  Dabei  kommen  altorientalische  Ideen  zur  Sprache  so,  ob  die  Seele  sich 
mit  dem  im  Grabe  ruhenden  Körper  wiederum  verbinde.  Aus  der  theologischen 
Literatur  wird  eine  unübersehbare  Anzahl  von  Autoren  und  Ansichten  an- 
geführt. Sie  bilden  einen  willkommenen  Beitrag  für  die  Geschichte  der  Ideen, 
che  zum  großen  Teile  auch  philosophisches  Interesse  besitzen  (Wesen  des 
Geistes,  Unterschied  von  Geist  und  Seele,  Tugendlehre,  Präexistenz  usw.). 
Die  Aufgabe  wäre,  das  Eindringen  griechischer  und  indischer  Ideen  in  islamische 
und  vorislamische  Vorstelhnigsgruppen  S3^stematisch  zu  verfolgen.  Das 
große  ethische  Werk  des  Gauzija  ,,Der  Schlüssel  zum  Tore  des  Glückes"  (Br.  II 
106  Xr.  15;  2  Teile  zu  230  u.  289  S.)  wurde  in  Kairo  1323/1905  —  1325/1907  — 
auf  Grund  von  zwei  Hs  von  Saidi  (Ahmad  bn  Muhammad  aus  Mekka)  heraus- 
gegeben. Die  in  ihm  enthaltenen  philosophischen  Gedanken  beziehen  sich  auf 
die  Lehre  über  Gott  und  die  Ethik.  Auch  Lehren  der  griechischen  Philosophen 
und  Xatm'alisten  (Astrologen)  werden  in  dem  Probleme:  Was  ist  das  Wesen 
des  Glückes,  aufgeführt.  Gauzija  liefert  durch  seine  Schriften  ebenso  wie  ibn 
Taimija  den  Beweis,  daß  auch  Nichtphilosophen  sich  mit  philosophischen 
Fragen  auseinandersetzen  müssen,  wenn  sie  theologische  Gegenstände  be- 
handeln wollen.  So  sehr  beherrschten  zu  jener  Zeit  philosophische  Ideen  die 
Gedankenwelt  des  Islam. 

Eine  für  die  Kenntnis  der  ältesten  Phase  der  philosophierenden  Theologie 
im  Islam  sehr  wichtige  Veröffenthchung  ist  die  des  Werkes:  abu  Udba: 
Der  blühende  Garten,  handelnd  über  Differenzierungslehren  der  Schiden  des 
Aschari  (935)  und  Maturidi  (944  f),  bewerksteUigt  durch  die  „indische  Akademie 
der  Wissenschaften"  in  Haiderabad  1322/1904;  8'  76  S.  Dieses  Werk  bestätigt 
die  Angaben,  die  Goldzihei  in  seinen  „Vorlesungen  über  den  Islam"  S.  115 
bringt.  Die  Probleme  werden  in  Wortfragen  und  sachhche  Differenzen  unter- 
schieden. Beide  betreffen  positiv-theologische  Fragen,  die  nur  insofern  zm* 
Philosophie  gerechnet  werden  können,  als  sie  philosophische  Ideen  in  ihren 
Erläuterungen  (Eigenschaften  Gottes,  Verpflichtung  zu  etwas  Unmöghchem) 
enthalten. 

Eine  gleiche  Bedeutung  besitzt  die  1323/1905  ebenfalls  in  Haiderabad 
(Dekkän)  erschienene  Schrift  Ascharis  „Die  BiUigung  des  Studiums  der 
spekulativen  Theologie"  (istihsän  alhaud  fil  Kaläm;  12  S.).  Aschari  zeigt 
sich  in  diesem  Punkte  als  Vermittlungstheologe.  Von  orthodoxer  Seite  wird 
die  Berechtigung  der  spekiüativen  Theologie  in  Frage  gestellt  imter  Hinweis 
auf  die  Häresien  der  liberalen  Richtung,  unter  denen  auch  die  Lehre  vom 
Sprunge  (vonXazzam)  betont  wird.  Aschari  zerstreut  diese  Bedenken.  Auf  dem 


368  Xr.  3).  Von  Ganzija  gelangten  zum  Drucke  die  Werke  Br.  II  106  Xr.  5, 
Xr.  7,  Xr.  19  und  das  beiBr.  fehlende:  ,,Die  Bestimmungen  über  den,  dei  das 
Gebet  unterläßt"  (abkam  tärik  essalät),  in  denen  sich  wie  in  den  meisten 
theologischen  Werken  zerstreute  philosophische  Gedanken  finden. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  235 

Titel  erscheint  er  als  derjenige,  der  die  Sumia  (die  orthodoxe  Lehre)  des  Pro- 
pheten zum  ,Siege  geführt  habe,  und  dem  System  des  Schafii  folge.  Dieses 
widerspricht  den  Angaben,  die  Aschari  in  seinem  Werke:  Erklärung  der 
Religionsprinzipien"  (kitab  ahbäna  an  usül  aldijäna;  Haidarabdd  1321/1903) 
macht  (vgl.  Goldziher:  Vorlesungen  121)  und  in  denen  er  sich  als  Hanbaliten 
kundgibt.  Ein  absoluter  Widerspruch  ist  damit  noch  nicht  gegeben,  da  Aschari 
zu  verschiedenen  Zeiten  verschiedenen  Richtungen  gefolgt  sein  kann  —  voraus- 
gesetzt, daß  die  genannten  Werke  authentisch  sind. 

Eine  eigenartige  Überraschung  bereitete  der  Wissenschaft  der  in  Ägj^Jten 
lebende  Barküki  (Abdarrahman),  indem  er  die  Naturphilosophie  eines  voll- 
kommen unbekannten  Philosophen,  Hairabadi,  veröffentlichte.  Sie  trägt  den 
Titel:  Das  dem  Said  gewidmete  Geschenk  (alhadija  assaidija).  Der  voUe 
Name  dieses  Duodezkönigs  —  mulaik  —  lautet  Muhammad  Said  Han  Bahadurj. 
Unser  Philosoph  hieß  Muhammad  Fadlalhäkk  (Ausfluß  derWahrheit  —  Gottes), 
wurde  in  Matmid  (in  Samarkand)  geboren,  bekleidete  irgendwo  die  Stelle 
eines  Imäm,  vielleicht  in  Hairabad,  dessen  Fürsten  er  seine  Schrift  widmete. 
Nach  dem  Titel  ist  sie  „das  beste  Buch,  das  der  Menschheit  über  die  Natm'- 
philosf  phie  der  alten  Philosophen  geschenkt  wurde".  Sie  woirde  (S.  32,3) 
unverständlich  durch  die  erdrückende  Fülle  von  Kommentaren  und  Glossen. 
Daher  war  es  an  der  Zeit,  sie  in  einem  kirrzen  Auszuge  (244  S.  8';  Kairo 
1322/1904)  zusammenzufassen.  Derselbe  enthält:  1.  Definition  der  Philosophie; 
2.  Begriff  des  physischen  Körpers  (Hyle  und  Form);  3.  die  universellen 
Akzidenzien  der  Körper;  4.  Raum,  Ort,  Gestalt,  Zeit;  5.  Bewegung  und  Ruhe; 
ß.  die  himmhschen  Körper;  7.  die  Elemente,  Luft,  Metalle,  Pflanzen,  Tiere 
(ihre  inneren  und  äußeren  Sinnesorgane),  der  Mensch.  Der  Sohn  des  Matm'idi 
fügte  diesem  Werke  seines  Vaters  ein  Nachwort  bei,  das  die  Seelenwanderung, 
die  Verbindung  der  Seele  mit  dem  Körper  und  zunächst  dem  Lebensgeiste 
bespricht.  Die  Prinzipien  werden  vielfach  in  der  Formulierung  der  spekulativen 
Theologie  des  IX.  Jahrhunderts  gegeben,  z.  B.  das  Prinzip  des  Universellen 
ist  verschieden  von  dem  des  Partikulären  (Nachwort  1).  Die  der  spekulativen 
und  praktischen  Philosophie  folgt  (S.  3)  der  durch  Avicenna  geschaffenen 
Terminologie.  Zu  beachten  ist  die  Bemerkung  (S.  3,6):  Die  Universalbegriffe 
haben  keine  Existenz  in  der  Außenwelt.  Der  Verfasser  ist  über  den  Ent- 
wicklungsgang der  islamischen  Philosophie  wohlunterrichtet.  Er  zitiert  die 
Lehren  der  orthodoxen  und  liberalen  Theologen,  unter  diesen  die  des  Nazzam 
von  der  Zusammensetzung  der  Körper  aus  aktuell  unendlichen  Teilen,  der 
Mystiker  (der  Philosophie  der  Erleuchtung;  Suhrawardi  und  Plato),  ohne  die 
Peripatetikei'-(zu  denen  neben  Aristoteles  auch  Farabi  und  Avicenna  gerechnet 
werden)  zu  übergehen.  Avicemia  wird  als  der  Altmeister  und  die  erste  Autorität 
zitiert.  Eine  aristotelische  Denkweise  zeigt  sich  in  den  Lehren:  1.  die  Atomistik 
ist  zu  verwerfen;  2.  die  Hyle  kann  nicht  ohne  die  Form  bestehen;  3.  der  leere 
Raum  ist  unmöglich:  4.  die  Bewegung  ist  die  erste  Entelechie  eines  Potenziellen 
als  solchen;  5.  in  jedem  Körper  ist  das  Prinzip  eines  Strebens,  die  Physis  (An- 
ziehungskraft) enthalten;  6.  die  Zeit  ist  eine  kontinuierliche,  unbeständige 
Quantität,  die  das  Maß  der  Bewegung  darstellt;  7.  die  Zeit  ist  ewig;  ihre 
Existenz  hat  weder  Anfang  noch  Ende ;  8.  die  Sphäre  ist  ein  einfacher  Körper, 


236  Horten, 

unzerstörbar  und  sich  ewig  im  Kreise  bewegend  und  zwai  auf  Antrieb  zweier 
psychischen  Prinzipien;  9.  die  Form  der  zusammengesetzten  Körper  ist  eine 
mittlere  zwischen  denen  ihrer  Elemente;  lÜ.  die  Seele  ist  eine  primäre 
Entelechie  eines  physischen  und  organischen  Körpers.  Eingehend  wird  (S.  160) 
der  Vorgang  des  Sehens  besprochen.  „Induktiv  wird  gezeigt,  daß  fünf  innere 
Sinne  bestehen:  der  Gemeinsinn,  die  ästimativa,  die  kombinierende  und  auf- 
nehmende Phantasie  und  das  Gedächtnis."  Diese  werden  sodann  nach  der 
Lehre  Avicennas  lokaHsiert.  Die  wesentlichste  Fähigkeit  der  menschlichen 
Seele  hegt  darin,  daß  sie  die  universellen  und  unkörperlichen  Dinge  erfassen 
kann.  Das  System  des  Hairabädi  bildet  einen  erneuten  Beweis  dafür,  daß  die 
Entwicklung  der  islamischen  Philosophie  zu  einem  immer  größeren  Siege  des 
Aristotehsmus  geführt  hat.  Es  ist  also  eine  Sage,  Gazäli  habe  die  Philosophie 
im  Islam  vernichtet.  Die  Kritik  Gazalis  ist,  wie  auch  Razi  (1209  t),  Tusi  (1273  t) 
und  Schiräzi  (1640  t)  zeigen,  unbeachtet  verhallt. 

Wemi  Averroes  auch  für  die  Entwicklung  der  Philosophie  im  Islam  ohne 
jeden  Einfluß  gewesen  ist,  so  hat  er  doch  in  den  jüdischen  und  christlichen 
Kultvu-kreisen  des  Mittelalters  eine  ausschlaggebende  Bedeutung  erlangt. 
Dies  zeigt  die  fleißige  und  gründliche  Arbeit  von  Isaac  Husik,  A.  M.  Ph.  D.: 
Judah  Messer  Leon's  Commentary  on  the  „vetus  Logica"  (Leyden  1906;  8' 
118  S.).  Judah,  ein  in  Mantua,  später  in  Neapel  lebender  israelitischer  Philosoph 
(gest.  ca.  1480)  kommentierte  1454  die  aristotehsche  Logik  auf  Grund  der 
Kommentare  des  Averroes.  Diese  Arbeit  untersucht  Husik  nach  ihrem  Mss; 
ihrer  Abhängigkeit  von  anderen  Philosophen  (Avicenna,  Gazäh  usw.  S.  64  ff.> 
und  ilirem  Inhalte.  Gegenstand  der  Logik  ist  das  Gedankending,  die  entia 
rationis,  die  eine  gewisse  Existenz  in  der  Außenwelt  besitzen  (gegen  den 
Nominahsmus  und  extremen  ReaHsmus)  und  in  ihr  auch  das  Fundament 
für  die  Universalität  haben  (gegen  den  Konzeptualismus).  Das  formell  All- 
gemeine wird  aus  jener  in  der  Außenwelt  vorhandenen  Potenz  jedoch  nur 
durch  die  abstrahierende  Funktion  des  Geistes  gebildet.  Das  Werk  Judahs 
ist  also  keine  rein  formale  Logik,  sondern  behandelt  erkemitnistheoretische 
und  metaphysische  Fragen.  Die  Methode  wird  in  einem  besonderen  Kapitel 
besprochen  und  mit  der  von  Thomas  von  Aquin  zusammengestellt.  Der 
Verfasser  hat  durch  seine  gründliche  Leistung  gezeigt,  wie  groß  das  noch  zu 
bearbeitende  Feld  seines  Spezialgebietes  (jüdische  Philosophie  und  ihre 
Stellung  in  dei  gesamten  Kidtur  des  Mittelalters)  ist.  Möge  es  ihm  vergönnt 
sein,  noch  manche  Schätze  aus  seinem  Acker  zu  heben. 

Horovitz,   Dr.  S.,    Der  Einfluß  der  griechischen  Philosophie  auf  die  Ent- 
•wicklung  des  Kalam.    Jahresbericht  des  jüdisch-theologischen  Seminars 
zu  Breslau  1909. 
Die   Anfänge   der   islamischen   Philosophie   bieten   trotz   mancher   vor- 
trefflicher Arbeiten     noch  viele  ungelöste  Probleme,  hauptsächlich  weil  die 
Nachrichten  über  diese  Zeit  spärlicher  und  trüber  fließen.     Der  Geschichts- 
forscher ist  zum  Teil  auf  zerstreute,  scheinbar  zusammenhanglose  und  von  den 
arabischen  Berichterstattern  sogar,  wie  H.  meint,  mißverstandene  Sentenzen, 
eines  Philosophen  z.  B.  des  Xazzam  angewiesen,  um  sich  aus  ihnen  das  Welt- 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  237 

bild  ihies  Autors  zu  rekonstruieren.  Der  bereits  durch  seine  früheren  Arbeiten 
auf  diesem  Gebiete  rühmHchst  bekannte  Verfasser  hat  sich  keine  Mühe  ver- 
drießen lassen,  diese  verschlungenen  Pfade  zu  wandeln.  Sie  haben  ihn  zu 
einem  ganz  überraschenden  Resultate  geführt:  einer  ausgesprochen  stoischen 
Gedankenwelt  um  800 — 900  in  Mesopotamien.  Die  Beweise  sind  für  ihn  über- 
zeugend^), wemi  auch  die  Vermittlungsglieder  zwischen  diesen  beiden  End- 
punkten, der  Stoa  imd  den  Arabern,  noch  nicht'-)  sichtbar  seien.  Als  Träger 
der  stoischen  Gedanken  werden  aufgezählt:  Xazzam  8451,  Hischam  845  t 
und  Gähiz  869  f.  Einige  interessante  Punkte  mögen  hervorgehoben  werden: 
1.  Der  Geist  des  Menschen,  so  lehrt  Nazzam,  ist  ein  feiner  Körper,  der  den 
Leib  durchdiingt,  ohne  in  dieser  Mischung  seine  Eigenart  zu  verlieren  (die 
stoische  /.oüoic  Jt'  olior).  Er  bildet  ein  und  dasselbe  „Genus"  mit  allen 
Lebewesen,  d.  h.  dasselbe  Pneuma  dm'chzieht  alle.  2.  Der  Mensch  ist  Geist 
und  Seele;  der  Leib  bildet  niu-  das  Werkzeug  und  Gefäß  (kalab,  nicht 
„Form"  S.  11 — 13)  der  Seele.  3.  Es  gibt  nur  Substanzen.  Was  andere 
,, Akzidenzien"  nennen,  sind  Körper,  deren  Agglomerate  die  realen  Körper 
bilden.  Das  Gleiche  gilt  auch  in  dem  Bereiche  des  Geistigen,  da  der  Geist^) 
ein  Körper  ist  und  seine  Tätigkeiten  räumliche  Bewegungen  sind.  Dem 
Geiste  inhärieren  also  keine  Qualitäten.  Er  ist  vielmehr  lebend,  denkend 
usw.  dm"ch  sein  Wesen  selbst. 

Parallellaufend  mit  den  stoischen  Lehren  seien  auch  (vgl.  oben  Nr.  2 
platonische,  besondei's  bei  Muammar  t  850  und  abu  Häschim  vorhanden. 
Die  endlose  Zahl  von  „Ideen"  in  den  Weltdingen  d.  h.  von  Realitäten,  die 
durch  Teilnahme  an  den  Ideen  entstehen  sollen,  wird  von  ersterem  kühn  be- 
hauptet. Jedem  Wirklichen  der  sublunarischen  Welt,  also  nicht  nur  den 
Substanzen  und  Akzidenzien,  sondern  auch  dem  Inhärenzverhältnisse  und 
dem  Verschiedensein  entsprechen  in  der  geistigen  Welt  Ideen*),  aus  denen 


^)  Die  Kritik  dieser  zum  größten  Teile  unrichtigen  Auffassungen  habe 
ich  veröffentlicht  im  L  Ai'chiv  f.  system.  Philos.  XV  1909  S.  469ff.:  Die  so- 
genaimte  Ideenlehre  des  Muammär,  2.  ZDMG  1909  Bd. 63  S.  774ff.  Die  Lehre 
vom  Kumün  bei  Xazzam,  3.  ebenda  S.  303ff.  Die  Modustheorie  des  abu  Häschim 
4.  ebenda  1910  Bd.  64  S.  391  ff.  Was  bedeutet  mana  als  philosophischer 
Terminus?  5.  Vierteljahrsschrift  f.  wissensch.  Philosophie  und  Soziologie 
1910  Bd.  XXXIV  S.  310:  Indische  Gedanken  in  der  islamischen  Philosophie, 
bes.  S.  321.  6.  Internationale  philosophisch -soziologische  Literatiu-zeitimg 
1909;  1.  Oktober  S.  3.  7.  Orientahstische  Literatm'zeitmig  1909  Xr.  9  Sp.  391  ff. 
8.  Xeues  zur  Modustheorie  des  abu  Häschim  in:  Studien  zur  Geschichte 
der  Philosophie.  Festgabe  zum  60.  Geburtstag  von  Clemens  Baeumker; 
Münster  1913,  S.  45—53. 

-)  Alle  stoischen  Gedanken  bei  den  Arabern  erklären  sich  durch  die 
Vermittlung  des  Galenus. 

3)  Es  liegt  hier  die  unrichtige  Übersetzrmg  des  Wortes  auch  mit  Geist, 
statt  Lebensgeist,  Pneuma  vor.    Xazzam  ist  kein  Materialist. 

*)  Von  diesen  Gedanken  findet  sich  in  den  arabischen  Quellen  keine 
Spur.    Ihre  Aufstellung  beruht  auf  der  irrtümlichen  Übersetzung  wan  mana 


238  Horten, 

die  Weltdinge  bestimmte  Wirklichkeiten  entnelmien.  So  inhäriert  /..  B.  die 
Farbe  einem  Körper.  Diese  Inhärenz  muß  also  verwirklicht  werden  durch 
Teilnahme  an  der  Idee  des  esse  inhaerentem,  also  durch  ein  Akzidenz  zweiter 
Ordnung  (a^),  indem  die  Farbe  selbst  Akzidenz  erster  Ordnung  (a^)  ist.  Von 
a^  gilt  nun  wieder  dasselbe  wie  von  aj^,  was  zu  einem  Akzidenz  dritter  Ordnung 
ag  führt  et  sie  in  infinitum').  Die  Akzidenzien  existieren  also  in  jeder  Art 
(Farbe,  Geruch  usw.),  das  eine  im  anderen  inhärierend,  unendlich  an  Zahl. 

Das  Gleiche  gilt  von  dem  \'erschiedensein.  Das  Schwarze  und  Weiße, 
die  Bewegung  und  Ruhe  unterscheiden  sich  nicht  vcjneinander  durch  ihre 
Natur  allein  (vgl.  Plato,  Sophist.  255),  sondern  durcli  etwas,  was  zu  dieser 
„Physis"  hinzukommt;  demi  eine  Relation  wie  das  Verschiedensein  ist  ein 
anderes  Wirkliche,  als  das  Akzidens  der  Farbe  oder  Bewegung.  Ihm  muß 
also  eine  besondere  Idee  entsprechen,  und  das  Verschiedensein  zweier  realer 
Dinge  (a  und  b)  entsteht  durch  Partizipation-)  an  dieser  Idee.  Dieses  wirk- 
liche erster  Ordnung,  das  esse  diversum,  befindet  sich  in  a  und  b  —  also  a, 
und  bj.  Von  diesen  Dingen  gilt  nun  wiederum  dasselbe  wie  von  a  und  b,  damit 
sie  von  einander  verschieden  sein  können.  So  ergeben  sich  Wirklichkeiten 
(Accidentia)  zweiter  Ordnung  (a,  und  b,),  und  so  weiter  in  endloser  Ineinander- 
schachtelung  (bis  aoo  und  bco).  In  den  bisherigen  Darstellungen  der  islamischen 
Philosophie  wurden  diese  Lehren,  die  mit  den  Schülern  Muammars  erloschen, 
ungenau  wiedergegeben,  obwohl  sie  bei  ibn  Hazra  1060  f  V  46,  Razi  1209  t 
Muhassal  104  und  Schahrastani  1163  f,  von  Horov.  zitiert  und  des  Miß- 
varständnisses  beschuldigt  (S.  47 — -"51)  deutlich,  aber  knapp  dargelegt  werden. 

Wichtig  für  die  Lehre  des  abu  Häschim  933  "f"  ist  seine  Theorie 
der  Modi  (ahwäl).  Mit  derselben  wollte  er  1.  der  von  Muammar  gelehrten 
unendlichen  Hintereinanderordnung  der  Akzidenzien  ausweichen;  2.  die 
Eigenschaften  Gottes  mit  seiner  Einfachheit  widerspruchslos  vereinigen  und 
3.  eine  Lösung  des  erkenntnistheoretischen  Problems  geben.  Die  Modi*) 
sind  Seinsweisen  der  Substanz.  Sie  sind  also  weder  identisch  mit  dem  Wesen 
noch  mit  den  Akzidenzien  und  stehen  dem  Wesen  näher  wie  letztere;  denn  die 
Akzidenzien  können  auch  ohne  die  Substanz  ,,für  sich  allein"  geistig  erfaßt 
werden,  die  Modi  jedoch  nur  mit  der  Substanz.  Sie  Averden  also  nicht  ,, ge- 
dacht", sondern  nm-  „mitgedacht".  Wemi  dem  Denken  nun  das  Sein  ent- 
spricht, so  ist  es  auch  zu  verstehen,  wenn  abu  Haschim  die  Modi  mit  der  in 
der  älteren  Periode  der  Philosojibie  beliebten  paradoxen  Ausdrucksweise 
bezeichnet  als  „weder  seiend  noch  nichtseiend,  weder  erkennbar  noch  nicht 


mit  platonischer  Idee.  Diese  bezeichnet  der  Aarber  mit  mutul  (Archetypen) 
oder  suwar  (Wesensformen),  nie  aber  durch  mana  allein,  ohne  den  Zusatz 
miifarak,  für  sich  bestehend. 

^)  Diese  Lehre  ist  die  der  Vaischesika  von  dem  Inhärenzverhältnis. 
Sie  hat  zu  dem  platonischen  Systeme  keinerlei  Beziehung. 

-)  In  den  Originalquellen  findet  sich  keine  Andeutung  einer  solchen 
Partizipation. 

^ )  Auch  hier  könnten  indische  Einflüsse  vorliegen,  wie  ich  in  der  Viertel- 
jahrschrift (s.  oben)  gezeigt  habe. 


t 


Jahresbericht  über  die  Philosophie»  im  Islam.  239 

erkennbar";  denn  sie  sind  keine  selbständigen  Realitäten,  sondern  haben 
nur  ein  begleitendes  Sein  bei  der  Substanz,  sind  nur  ,, mitseiend"  wie  sie 
auch  nicht  ohne  die  Substanz  denkbar,  sondern  nur  „mit erkennbar"  sind. 
Sehr  klar  gibt  Bagdadi  1037  t  (zit.  von  Horovitz  S.  64  Z.  1  u.  A.  1)  diese  Ge- 
danken wieder  und  zeigt,  wie  abu  H.  die  Ausschließlichkeit  der  Inhärenz  eines 
Akzidens  in  gerade  diesem  bestimmten  Substrate  dm-ch  seine  Modustheorie  er- 
klärt, während  Muammar  diese  Inhärenz  dm-ch  eine  endlose  Kette  von  ,, Ideen" 
(d.  h.  realen  Bestimmungen  sublunarischer  Dinge,  die  sich  zwischen  Akzidens 
und  Substanz  einschieben)  verständlich  machen  wollte.  Das  Wesen  der  Modus- 
theorie wird  daher  dm-ch  die  von  Schahrastani  S.  56  (zit.  von  Hör.  S.  59  A.  2) 
berichteten  Einwände  getroffen,  daß  auch  diese  Theorie  ebenso  wie  die  Ideen- 
lehre Muammars  zu  einer  endlosen  Kette  von  Bestimmungen,  hier  also 
Modi,  führt,  die  sich  zwischen  Akzidens  und  Substanz  einordnen.  Die  Über- 
setzung dieser  Texte  wie  auch  der  sehr  klaren,  wenn  auch  spitzfindigen  Be- 
weise bei  Razi  habe  ich  in  meinen  oben  zitierten  Arbeiten  veröffentlicht. 
Wenn  H.  jene  Texte  als  unklar  bezeichnet,  so  beruht  dies  auf  der  ihm  nicht 
geläufigen  philosophischen  Terminologie  der  Araber,  in  der  die  Lexika  zm  Zeit 
noch  versagen. 

Ein  bleibendes  Verdienst  des  Verfassers  besteht  darin,  das  Problem 
aufgeworfen  zu  haben,  ob  in  dem  Systeme  des  Xazzäm  stoische  Gedanken 
enthalten  seien.  Sehr  bestechend  ist  zunächst  seine  Gleichsetzung,  die  Mudähala 
sei  die  xquGic  öv'  oXov  der  Stoiker.  AUe  Gründe  scheinen  für  diese  Identifi- 
kation zu  sprechen^).  Bedenken  erregt  nur  eine  Äußerung  Tusis  1273  f  in 
seinem  Kommentar  zu  Räzis  Muhassal  S.  94  „Weil  Xazzäm  die  Lehre  auf- 
stellte: es  existieren  unendlich  viele  substanzielle  Einheiten  in  den  end- 
lichen Körpern,  war  er  konsequenterweise  gezA\-ungen  zu  lelu-en:  die  Körper 
durchdringen  sich  gegenseitig".  Die  Lehre  von  dem  sich  Dmchdringen 
der  Körper  ist  demnach  eine  unmittelbare  Konsequenz  aus  dem  anaxagoraei- 
schen  Prinzip:  Die  Homöomerien  bestehen  aus  unendlich  vielen  Teilen,  und 
jeder  Körper  aus  unbestimmt  vielen  Homöomerien.  Sie  stellt  also  eine  selb- 
ständige Fortbildung  dieser  Lelire  dar.  Daneben  lehrte  Xazzäm  ebenfalls: 
der  materielle  Lebensgeist  durchdringt  mit  allen  seinen  Teilen  den  mensch- 
lichen Leib.  Diese  Idee  ist  nun  scheinbar  durchaus  identisch  mit  der  xouaiq 
öl'  öltov  der  Stoiker  —  eine  psychologisch  sehr  interessante  Kombiniermig 
von  Ideen.  Die  Entwicklung  scheint  mir  so  verlaufen  zu  sein:  Die  stoische 
Idee  des  sich  Durchdringens  von  Lebensgeist  mid  Körper  verwandte 
Xazzäm  dazu,  Schwierigkeiten  seiner  von  Anaxagoras  entlehnten  Lehre  zu 
lösen,  letztere  eigenartig  weiterbildend  —  wenn  nicht  ein  indischer  Einfluß 
vorhegt.  Sollten  sich  auch  die  meisten  Thesen,  die  H.  vertritt,  als  umichtig 
erweisen,  so  verdient  seine  Schrift  dennoch,  als  Anregung  und  neue  Problem- 
stellung beachtet  zu  werden. 

In  der  Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft  des  Judentums 
19C4  S.  554  ff.  und  702  behandelt  der  Verfasser  in  ähnlicher  Weise  die  Modus- 


^)  Vgl.   meine   Besprechimg  desselben  Werkes  in  Deutsche   Literatur - 
Zeitung  1909  Nr.  24  Sp.  1493f. 


240  Horten, 

theorie.  Er  geht  von  einer  dem  abu  Haschim  durchaus  fremden  Idee  aus. 
Bei  dem  Versuche,  diese  in  den  Lehren  des  abu  Haschim  wiederzufinden,  stößt 
er  dann  naturgemäß  auf  große  Schwierigkeiten,  die  ihn  dazu  verleiten,  in  den 
Berichten  allerhand  Irrtümer,  Unverständlichkeiten  usw.  zu  finden.  Deren 
Quelle  liegen  jedoch  nur  in  ihm  selbst,  während  die  arabischen  Berichte  be- 
sonders Razi  und  Schahiastäni  sehr  klar  und  scharfsimiig,  allerdings  sehr 
knapp  und  nur  für  geschulte  Philosophen  geschrieben  sind.  Zu  S.  556,7  sei 
bemerkt:  werden  die  Universalia  betrachtet  als  mit  einer  unselbständigen 
Realität  ausgestattete  Gegenstände,  die  den  Substanzen  anhaften,  dann  kann 
eb  keine  passendere  Bezeichnung  für  sie  geben  als  die,  daß  sie  Modi  sind. 
Die  S.  573  angefülirte  Stelle  aus  den  Schriften  der  Getreuen  von  Basra  (ed 
Diterici  S.  552)  hat  zur  Modustheorie  keine  Beziehung. 

S.  Horovitz,  Zum  Kalam  der  Araber  und  zur  christlichen 
Scholastik  in:  Monatsschrift  für  Geschichte  und  Wissenschaft  des 
Judentums.     November-Dezember  1909  S.   745  ff. 

H.  bespricht  kurz  die  Modustheorie  des  abu  Haschim.  Dies  veranlaßt 
mich  zu  folgenden  Berichtigungen.  Der  Modus  besitzt  (vgl.  meinen  Artikel: 
Die  Modustheorie  des  abu  Haschim  933  f  in  ZDMG.  Bd.  63  S.  303)  kein  selb- 
ständiges Sein,  sondern  hat  dasselbe  Sein  ^\ie  die  Substanz,  deren  Modus 
er  ist.  Er  besitzt  also  im  Grunde  die  ganze  Reahtät  imd  Wirklichkeit,  wie  die 
Substanz,  jedoch  nicht  als  eine  ihm  selbständig  zukommende,  sondern  als 
eine  an  der  er  partizipiert,  indem  er  eine  Modifikation  der  Substanz  dar- 
stellt, und  nur  die  Substanz  besitzt  die  Reahtät  als  etwas  Selbständiges.  Wenn 
daher  die  Akzidenzien  den  Modis  inhärieren,  so  folgt  daraus  dirrchaus  nicht, 
daß  die  Modi  ein  selbständiges  Sein  besitzen.  Das  ganze  Sein,  das  die  Modi 
besitzen,  ist  eben  das  dei  Substanz  und  gerade  aus  diesem  Grunde  können 
ihnen  Akzidenzien  inhärieren;  denn  durch  das  Sein  der  Substanz,  an  dem  sie 
partizipieren,  kommt  ihnen  ein  esse  in  se  gewissermaßen  zu,  das  allein  Träger 
für  Akzidenzien  sein  kann.  Aus  demselben  Grunde  können  die  Akzidenzien 
nicht  anderen  Akzidenzien  inhärieren;  denn  Subjekt  der  Inhäsion  karni  nur 
die  Substanz  oder  der  Modus  sein,  der  an  dem  esse  in  se  der  Substanz  teil- 
nimmt. Das  Akzidens  hat  nm-  ein  esse  in  alio  und  kann  daher  nicht  Träger 
eines  andeien  Akzidens  sein.  Diese  Begriffe  von  Substanz  und  Akzidens  sind 
erste    Voraussetzungen   für   das   Verständnis   der    Modustheorie,    die    zudem  J 

zeigen,  wie  in  den  verschiedenen  Auffassungs-  und  Anwendungsweisen  des 
Modus  derselbe  Grundgedanke  in  durchaus  klarer  Weise  immer  A\deder- 
kehrt:  Der  Modus  ist  eine  Seinsweise  der  Substanz,  die  neben  der  Substanz 
kein  selbständiges  Sein  besitzt.  Daß  diese  Vorstellungswelt  dem  modernen, 
der  mittelalterlichen  Philosophie  fernstehenden  Denken  „unklar  und  ver- 
worren" (S.  745)  vorkommen  kömien,  ist  leicht  erklärlich.  Z.  S.  323  Z.  2 
meines  Aitikels  ist  vor  allem  Tüsi  zu  Razi  S.  55,  17;  56  ad  2  und  Horten: 
Die  philosophischen  Probleme  der  spekulativen  Theologie  im  Islam;  Bonn 
1910  S.  118  zu  vergleichen,  die  zeigen,  daß  die  vier  verm-sachten  Modi  in 
Gott:  Wissendsein,  Mächtigsein,  Lebendsein  und  Existierendsein  nicht  etwa 
durch  die  vier  verursachenden  Modi  Wissens,  Macht,  Leben  und  Existenz 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  241 

hervorgerufen  werden  —  dies  würde  eine  Vielheit  in  Gott  bedingen  —  sondern 
dm-ch  den  einen  Modus  der  Göttlichkeit^).  Die  Einheit  Gottes  soll  auf  diese 
Weise  gewahrt  werden. 

Daß  die  Modustheorie  in  die  Erkenntnistheorie  übergreift,  ja  sogar  eine 
Form  der  Erkenntnistheorie  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Ob  im  scholastischea 
Nominahsmusstreit  ähnliche  Gedankenbildungen  aufgetreten  sind  —  z.  B. 
bei  Adelard  von  Bath  —  wäre  daher  der  Untersuchung  wert.  Horowitz  regt 
dazu  mit  einigen  Hinweisen  an. 

Der  schon  frülier  häufig  geäußerte  Wunsch  nach  einem  vergleichenden 
Lexikon  der  philosophischen  Kunstausdrücke  der  Araber,  Syrer  und  Juden 
(vgl.  J.  Pollak,  d.  Z.  Bd.  XVII  S.  204  Anm.  12)  ist  letzthin  wiederum  und  zwar 
in  Form  eines  unifassenden  Planes  von  Dr.  J.  Husik  (Universität  Pensilva  nia) 
geäußert  worden  (Proceedings  of  the  Eighth  Annual  Meeting  of  the  American 
Philosophical  Association  p.  166  u.  177  f.).  Diesem  Plane  haben  sich  die 
Speziahsten  des  Gebietes  angeschlossen.  Die  American  Philosophical  Association 
hat  eine  Comite  gebildet,  um  die  Diu-chführung  des  Unternehmens  anzubahnen. 

Den  Einfluß  der  islamischen  Geisteskultur  auf  das  Abendland  im  Mittel- 
alter schildert  in  sehr  deutlicher  Weise  Otto  Werner:  Ziu:  Physik  Leonardo 
da  Vincis,  einer  Ai-beit,  die  Prof.  Eilh.  Wiedemarua,  der  bekannte  Meister 
auf  dem  Gebiete  der  Naturwissenschaften  bei  den  Arabern  angeregt  hat 
(Erlangen  1910;  Inaugm-al-Dissertation).  Leonardo  kennt  die  bekanntesten 
Philosophen  des  Islam:  Avicenna,  Averroes,  ihn  al  Haitam  (die  auch  Roger 
Baco  ca.  1292  schon  nennt)  Kiudi  und  sogar  Färisi  (Kamaladdin  ca.  1320). 
Es  zeigt  sich  an  ihm  wiederum,  wie  sehr  das  Abendland  die  islamische  Geistes- 
kultur als  eine  überlegene  betrachtete.  Sein  vorzügHchstes  Bestreben  war 
darauf  gerichtet,  von  den  Arabern  zu  lernen.  Das  vorliegende  Werk  behandelt 
die  Optik,  und  fügt  einige  Bemerkungen  über  Akustik,  Wärme  und  Magnetismus 
bei.  Seine  Lehren  über  die  Mechanik  sollen  später  veröffentlicht  werden. 
Die  Beziehungen  zm-  Philosophie  (z.  B.  die  Spezies,  das  Erkenntnisbild,  die 
Wahl-nehmung)  berechtigen  dazu,  diese  Schrift  auch  in  der  philosophischen 
Literatur  zu  nennen. 

Isaak  Husik,  Averroes  on  the  Metaphysics  of  Ai-istotle.  (Philosophical 
Review  XVIII  Xr.  4  July  1909  S.  416—428). 
Der  Verfasser  bespricht  in  diesem  Aufsatze  die  Metaphysik  des  Averroes,. 
die  vor  einiger  Zeit  in  Kairo  von  Kabbäni  auf  Grund  einer  Handschrift,  die 
1322  datiert  ist,  herausgegeben  wurde  (vgl.  dazu  meine  Besprechung  Archiv  XX 
S.  259).  Er  bespricht  die  Metaphysik  des  Averroes  in  seiner  Zeit  und  im  Ver- 
hältnis zu  Aristoteles.  Es  ist  der  kleinere  Kommentar  zu  Aristoteles,  in  dem 
Averroes  seine  metaphysischen  Theorien  auseinandersetzt.      Dr.   Husik  be- 


^)  Der  Ausdruck  von  Horovitz  (S.  745,  13):  In  gleichem  Sinne  gebraucht 
Abu  Haschim  den  Ausdruck  (Modus)  von  den  Attributen  Gottes,  zu  denen  er 
auch  die  Göttlichkeit  rechnet,  läßt  sich  also  dahin  präzisieren,  daß  die  GöttUich- 
keit  der  einzige  primäre  Modus  in  Gott  ist,  aus  dem  die  übrigen,  die 
sekundären  verursacht  werden. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  2.  IQ 


242  Horten. 

spricht  das  Verhältnis  dieses  arabischen  Textes,  zu  den  hebräischen  und 
lateinischen  Übersetzungen  und  weist  auf  große  Verschiedenheiten  dieser  drei 
Textzeugen  hin.  Kurz  und  klar  führt  er  sodann  die  Hauptgedanken  des 
Averroes  aus,  die  folgende  Probleme  bebandeln:  1.  das  Verhältnis  der  Meta- 
physik als  Universalwissenschaft  zu  den  Einzelwissenschaften,  deren  Prinzipien 
sie  klarzustellen  hat;  2.  die  verschiedenen  Bedeutungen  des  Wortes  Dasein; 
3.  die  Kategorienlehre;  4.  die  Universalienfrage  (Erkenntnistheorie);  5.  die 
Begriffe  Potenz  und  Akt;  6.  die  Lehre  von  der  göttlichen  Allwissenheit,  die 
sich  auf  alle  Einzeldinge  erstreckt.  Das  Böse  haftet  jedoch  niu-  der  Materie 
an,  die  Gott  nicht  erkennt.  In  Avicenna  sieht  Averroes  seinen  Hauptgegner 
und  er  nimmt  in  dieser  verhältnismäßig  wenig  ausgedehnten  Schrift  achtmal 
Gelegenheit,  diesen  seinen  Gegner  energisch  anzugreifen.  Interessant  sind 
die  Vorwürfe,  die  Averroes  gegen  die  spekulativen  Theologen  des  Islam  erhebt : 
sie  diskutierten  rücht  in  syllogistischer  Weise  und  prädizierten  nicht  ihre 
Prädikate  in  präzisem  Sinne  (primo  et  per  se).  Hervorzuheben  verdient  es 
ferner,  daß  Averroes  in  der  Ordnung  der  Planeten  die  Somie  an  Stelle  des 
Saturn  stellt.  Die  Herausgabe  des  korrigierten  und  vollständig  hergestellten 
arabischen  Textes  und  der  hebräischen  Übersetzung  durch  den  Verfasser  wäre 
sehr  zu  wünschen  und  dankenswert.^) 

Watwat  1318  t.  Ethik.  Buläk  1284=  18rD7.  473  S.  kl.  4  (gurar  alhasais 
al  wädiha). 
Die  Ethik  des  Watwat  zerfällt  in  16  Kapitel:  1.  Edelsimi  und  Ehrgefühl 
(die  Tugenden  großer  Menschen,  die  Gerechtigkeit  und  Freigebigkeit,  der 
Ruhm);  2.  Tadel  (Subjekt,  Objekt,  Nutzen);  3.  Verstand  (Lob  der  frinen 
Bildung  und  Wissenschaft,  der  gute  Rat);  4.  Verurteilung  der  Unwissenheit; 
5.  Beredsamkeit;  6.  Geschwätzigkeit;  7.  Scharfsinn;  8.  Gleichgültigkeit  gegen 
höhere  Güter;  9.  Spenden  von  Wohltaten;  10.  Geiz;  11.  Mut;  12.  Feigheit; 
13.  Selbstbeherrschung;  14.  Rache;  15.  Freundschaft;  16.  Gefälligkeit.  Watwat 
erklärt  in  dei  Einleitung,  daß  die  großen  Meinungsverschiedenheiten  der 
Ethiker  ihn  veranlaßt  haben,  dieses  Buch  zu  schreiben,  das  dem  Leser  ein 
Freund  und  Begleiter  sein  möge.  Seine  Ansichten  begründet  der  Verfasser 
unter  Anführung  einer  reichen  FüUe  von  Autoritäten  aus  den  Reihen  der 
Dichter,  Traditionssammler,  positiven  Theologen,  Staatsmänner,  Könige 
und  Philosophen.  Sein  Werk  ist  daher  mehr  für  den  Literarhistoriker  als  für 
den  Philosophen  eine  Fundgrube.  „Die  Charaktereigenschaft  ist  eine  Ge- 
wohnheit, die  der  Seele  anhaftet.  Der  Mensch  erwirbt  sich  dieselbe  ohne  Absicht. 
Sie  zerfällt  in  zwei  Spezies,  die  gute  mid  böse  suw.  Sodaim  wird  der  Begriff 
der  durch  Gewohnheit  erworbenen  Tugenden  von  den  durch  die  Natur  ge- 
gebenen unterschieden  usw. 


^)  Eine  deutsche  Übersetzung  habe    ich  unterdessen    (1912,  Halle:   Die 
Metaphysik  des  Averroes)  erscheinen  lassen. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Rezensionen. 

Petersen,    Peter,    Die  Plülosophie  Friedrich  Adolf  Trendelenburgs.     Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Aristoteles  im  19.  Jahrhmidert.    Hamburg, 
Boysen,  1913. 
Der  Verfasser  schreibt  im  Vorwort  (VI):    „Und  doch  vermag  Kant   so 
wenig  wie  Plato  der  realen  Seite  im  Welterlebnis  voll  gerecht  zu  werden.    Ihr 
Ideahsmus,    nenne   man   ihn   transzendental  oder   kritisch   oder   methodisch, 
bedarf  der  Erhebung  zum  Idealrealismus".    Die  Frage  von  der  Lücke  im  kan- 
tischen System,  die  der  Kontroverse  Trendelenburg  —  Kuno  Fischer  zu  gründe 
liegt,  ist  damit  wieder  aufgeworfen.    Gleichwohl  hat  es  den  Anschein,  als  stehe 
Petersen  hinsichtlich  seiner  Auffassung  über  diese  Streitfrage  sowie  über  die 
Auffassung  des  a  priori  auf  der  Seite  von  H.  Cohen,  den  er  zustimmend  zitiert. 
(Vgl.  Kant,  Prolegomena  §  13,  Schluß,  wo  gezeigt  wird,  daß  die  Frage  keinen 
■Sinn  hat.) 

Petersens  Darstellung  ist  im  übrigen  recht  geschickt  mid  verständnisvoll. 
Sie  gibt  ein  klares  Bild  von  der  geschichtlichen  Wirksamkeit  der  anziehenden 
Persönlichkeit  Trendelenbiu-gs.  An  manchen  Stellen  wäre  ausführlichere  Be- 
handlung am  Platz,  insbesondere  bei  dem  Kapitel  über  das  Recht  und  die 
Ästhetik. 

Michelstadt  (Hessen).  G.  Falter. 

Steinmann,  H.  G.,  Dr.  phil..  Über  den  Einfluß  Newtons  auf  die  Erkenntnis- 
theorie seiner  Zeit.     Borna  1913,  Friedr.  Cohen. 

St.  behandelt  zunächst  die  Grundlagen  der  Xewtonschen  Lehre.  Er  zeigt, 
in  welcher  Weise  Newton  die  mathematische  Methode  Galileis  in  der  Physik 
fortführe,  imd  worin  seine  Bedeutung  gegenüber  der  Korpuskular-Physik  be- 
stehe. Interessant  ist  die  Deutung  der  leges  motus.  St.  bringt  dieselben 
(ohne  Cohenianer  zu  sein)  mit  den  platonischen  Ideen  in  Zusammenhang. 
Die  leges  motus  „smd  \-ielmehr  zunächst  nichts  anderes  als  die  notwendigen 
Grundlagen  für  den  deduktiven  Aufbau  der  theoretischen  Physik"  (8).  Solche 
„notwendigen  Voraussetzungen  meinte  Plato  mit  dem  von  Newton  so  stark 
befehdeten  Wort  vTVÖdsatc"  (9).  An  dem  Beispiel  der  Gravitationslehre  tut 
St.  dar,  daß  es  sich  bei  Newton  nicht  um  eine  empiristische  Auffassung  des 
Kausalverhältnisses  handle.  „In  philosophicis  abstrahendmn  est  a  sensibus." 
Darstellung  wie  Kritik  der  Anschauungen  NewtoiLS  sind  klar  und  sachlich. 
Der  Verf.  behandelt  ferner  die  Kritik  der  Newtonschen  Lehre  bei  Berkeley, 
die  Wirkung  Newtons  in  Deutschland  mid  in  Frankreich.  Besonderes  In- 
teresse bietet  der  3.  Abschnitt  wegen  vieler  trefflichen  Bemerkungen  über 
Wolff. 

Michelstadt  i.  Odenwald.  G.  Falter. 

16* 


244  Rezensionen. 

Dr.  Julius  Jakobovits,  Die  Lüge  im  Urteil  der  neuesten  deutschen 
Ethiker.  Studien  zur  Philosophie  und  Religion,  herausgegeben  von 
Prof.  Dr.  Stözle.     16.  Heft. 

Der  Verfasser  gibt  in  seinem  Buche  mehr,  als  er  im  Titel  verspricht. 
Bevor  er  zu  seinem  eigentlichen  Thema  übergeht,  zeichnet  er  in  kurzen  Strichen 
deutlieh  die  Grundlinien  seiner  ethischen  Anschauungen.  Und  das  mit  Recht. 
Denn  eine  Wertinig  der  Lüge,  ihrer  Abarten  und  Nebenerscheinungen  kann 
letzten  Endes  nur  das  Resultat  einer  bestimmten  ethischen  Richtung  sein. 
Der  Autor  bekeimt  sich  denn  auch  zur  fonnalistischen  Schule,  ohne  in  die 
Einseitigkeiten  zu  verfallen,  \ne  sie  Fichte  eigen  sind.  Er  sieht  in  der  Lüge 
,,die  wissentlich  falsche  Darstellung  der  Tatsachen".  Er  legt  Gewicht  auf 
die  Tatsache,  daß  bei  der  Lüge  eine  Dissonanz  zwischen  der  bewußten  Äußerung 
und  den  Gedanken  besteht.  Die  letzteren  müssen  der  Absicht  zu  täuschen  ent- 
springen, um  den  Stempel  der  Lüge  zu  haben.  Demnach  gehören  Vorsatz, 
Bewußtsein  und  die  Absicht,  eine  falsche  Meinung  zu  erwecken,  zu  den  charak- 
teristischen Merkmalen  der  Lüge.  Von  dieser  Grundlage  aus  sucht  der  Verfasser 
nicht  ohne  Geschick  sich  mit  den  der  Lüge  ähnlichen  und  verwandten  Er- 
scheinungen auseinander  zu  setzen  bzw.  sie  zu  bewerten.  So  fällt  er  ein  richtiges 
Urteil  über  die  Akkomodation  als  die  ,, Anpassung  an  die  Sitten,  Gebräuche 
und  Redeweisen  anderer,  soweit  sie  nicht  mit  eigenen  Überzeugungen  in 
Konflikt  geraten".  Desgleichen  entwickelt  er  richtige  Ansichten  über  die 
Zweideutigkeit,  den  Scherz  und  die  Kriegslist.  In  dem  Kapitel  über  die  kon- 
ventionellen Höflichkeitsfomien  weist  er  das  wegTiV'erfende  Urteil  Schopen- 
hauers über  diese  soziale  Umgangsform  zurück  und  kommt  zu  einem  Er- 
gebnis, das  sich  mit  dem  Kants  (Anthropologie)  und  Iherings  (ZAveck  im  Recht) 
deckt.  Es  ist  die  Anerkennvnig  des  Personenwertes,  worauf  ein  jeder  Mensch 
Anspruch  erheben  kann.  Unsere  Rechtsprechung  erlaubt  ja  auch  nur  dann 
die  Herabsetzung  der  persönlichen  Elu'e  und  Würde,  wemi  berechtigte  In- 
teressen auf  Seiten  des  Beleidigenden  vorliegen. 

Mit  einem  gewissen  ethischen  Scharfsimi  behandelt  der  Verfasser  das 
Thema  der  Lüge  des  Bewußtseins.  Er  luiterscheidet  hierbei  zwei  Formen: 
erstens  die  Täuschung  über  die  Motive  der  eigenen  Handlungsweisen  und  zweitens 
die  Vorspiegelung  falscher  Motive  der  eigenen  Meinung.  Die  letztere  tritt 
überall  da  auf,  wo  man  in  ihr  einen  Helfer  für  unsittliche  Maxime  erblickt.  So 
erklärt  sich  die  große  unberufene  Gefolgschaft  in  Lehrmeinungen,  welche  den 
niederen  Trieben  und  Leidenschaften  zu  schmeichehi  scheinen. 

Die  Fülle  gesellschaftlicher  Erscheinungen,  welche  mit  der  Lüge  zusammen- 
hängen, drängt  den  Verfasser  zu  der  Frage,  ob  der  Mensch  eine  aprioristische 
Anlage  zur  Wahrhaftigkeit  oder  ihrem  Gegenteil  besitzt.  Sorgfältig  wiegt  der 
Autor  unter  Benutzung  des  ethnologischen  Materials  das  pro  und  contra  der 
Ansichten  ab  und  kommt  zu  dem  Resultate,  daß  der  Hang  zur  Wahrheit 
das  Natürliche  im  Menschen  sei. 

Noch  ein  Wort  über  die  Fonn.  Das  Buch  ist  flüssig  und  klar  geschrieben, 
der  Gedankengang  ist  methodisch.  Die  Auseinandersetzung  mit  den  zahl- 
reichen Ethikern  ist  sachlich  und  zeugt  von  großer  Belesenheit  auf  dem  Gebiet 
der  ethischen  Literatur. 

Berlin.  Dr.    Martin   Joseph. 


Rezensionen.  24o 

Max  Wentscher,  Hermann  Lotze.  I.  Band:  Lotzes  Leben  und  Werke. 
Mit  zwei  Porträts.  Carl  Winters  Universitätsbuchhandlung,  Heidel- 
berg 1913.  IV  und  367  S. 
Nach  diesem  vorliegenden  ersten  Band  der  auf  zwei  Bände  berechneten 
Arbeit  Wentschers  über  Hermann  Lotze  kann  man  noch  kein  rechtes  Urteil 
fällen  darüber,  wie  weit  der  Verfasser  uns  dem  Verständnis  Lotzes  nahe  bringen 
wird.  Das  wird  erst  der  zweite  systematische  Band  erweisen.  Der  erste  Band 
hat  es  außer  mit  dem  Leben  Lotzes  weniger  mit  seiner  Philosophie  als  mit 
seinen  Schriften  zu  tun.  Wentscher  geht  hier  sehr  weit  ins  einzelne.  Er  gibt 
nicht  nur  den  Inlialt  der  selbständigen  Veröffentlichungen  Lotzes  und  gelegent- 
lich publizierter  Aufsätze  an,  sondern  er  berücksichtigt  auch  weitgehend 
die  kritische  Tätigkeit  des  Philosophen.  Alles  dies  hat  seine  Wichtigkeit  und 
seine  Berechtigung  und  wer  in  Zukunft  sich  eingehend  mit  Lotze  beschäftigen 
■wiU,  wird  dieses  Buch  nicht  entbehren  kömien.  Andererseits  aber  hat  diese 
vornehmlich  chronologisch  angeordnete  und  auch  das  Geringere  nicht  über- 
sehende Ai'beit  den  Nachteil  einer  gewissen  Nüchternheit  und  Trockenheit. 
So  kommt  es,  daß  dieses  Buch  sich  nicht  sehr  der  fortlaufenden  Lektüre  dessen 
empfiehlt,  der  Lotze  kennen  lernen  will,  sondern  vielmehr  ein  Handbuch  für 
den  ist,  der  Lotzes  Philosophie  bereits  kennt  und  Aufschluß  über  Einzelheiten 
sucht.  Diesem  Zweck  entspricht  auch  die  sorgfältige  Ausarbeitung  eines  Sach- 
und  Namenregisters.  Gehen  wir  aber  von  dem  Buch  zu  seinem  Verfasser 
über,  so  müssen  wir  anerkennen,  daß  wir  es  mit  einem  gründlichen  Kermer 
der  gesamten  Lotzeschen  Philosophie  mid  des  Entwicklungsganges  des  Philo- 
sophen zu  tun  haben  und  das  berechtigt  uns  zu  der  Hoffnmig,  daß  der  zweite 
Band  eine  Darstellung  der  Philosophie  Lotzes  bieten  wird,  die  aus  dem  vollen 
geschöpft  ist,  der  gegenüber  dann  dieser  erste  Band  nur  wie  eine  Vorarbeit 
erscheinen  imd  in  der  er  seine  eigentliche  Nutzbarmachung  finden  wird. 
Berlin.  Dr.    Werner    Bloch. 

George  Berkeley,  Siris.   Übersetzt  von  Luise  Raab  und  Dr.  Friedrich  Raab. 
Philosophische  Bibliothek,  Bd.  149.    Verlag  von  Felix  Meiner,  Leipzig. 
XXIV  imd  139  S. 
Dieses  Buch  ist  eine  erwünschte  Ergänzung  der  bisher  in  der  philosophischen 
Bibliothek  erschienenen  Werke  von  Berkeley.     Die  Übersetzung  ist  im  all- 
gemeinen durchaus  anerkennenswert.   Die  orientierende  Einleitung  des  Heraus- 
gebers  und   die   sorgfältigen  Amnerkungen   erleichtern   dem   Leser   das   Ver- 
stäncüüs  wesentlich*).    Sehr  zu  begrüßen  ist,  daß  die  Herausgeber  außer  den 
üblichen  alphabetischen  Verzeichnissen  ihrer  Ausgabe   ein   ,, Verzeichnis  der 
Übersetzungen  der  von  Berkeley  mehr  oder  minder  terminologisch  gebrauchten 
Worte"  beigegeben  haben.  Die  Siris  (das  Wort  bedeutet  „Kette")  ist  bekanntlich 
jenes  eigentümliche  Werk,  das  mit  einem  Rezept  über  die  Bereitung  des  Teer- 
wassei's  anhebt  mid  allmählich  zu  den  tiefsten  philosophischen  Untersuchungen 


*)  Zu  Armierkung  ^)  ist  zu  bemerken,  daß  im  Text  an  ihrer  Stelle  ver- 
sehentlich ^")  steht  mid  daß  die  Hundsgrotte  nicht,  wie  der  Herausgeber  be- 
merkt, mit  Kohlenoxyd  (CO),  sondern  mit  Kohlendioxyd  (CO.,)  gefüllt  ist. 


246  Rezensionen. 

fortschreitet.  Mit  Recht  liabcn  die  Herausgeber  das  philosophisch  Bedeutsame 
vom  Teerwasserrezept  getrennt  und  nui  die  philusopliischen  Ausführmigen 
übersetzt  und  herausgegeben.  In  der  vorliegenden  Form  aber  ist  die  Kenntnis 
dieses  Buches  unentbehrlich  für  denjenigen,  der  der  Philosophie  Berkelej^s 
sein  Interesse  zuAvendet  und  vermittelt  auch  erst  das  volle  Verständnis  mancher 
Äußerungen  Kants  über  Berkeleys  philosophische  Ansichten. 

Berlin.  Dr.  Werner   Bloch. 

Bibliothek    der   Philosophen.     Geleitet  von  Fritz   Mauthner: 

VI.   Band:     Immanuel  Kant,  Briefwechsel,  2.  Bd.  ]  Herausgeg.  von 
VII.      -  -  .  -  3.  Bd.  J  Ernst  Fischer. 

VIII.      -  Agrippa  von  Nettesheim,  Die  Eitelkeit  und  Unsicherheit 

der  Wissenschaften  imd  die  Verteidigmigsschiift.  Herg. 
von  Fritz  Mauthner.      2.  Bd. 
IX.      -  Hebbel    als    Denker.       Herg.    von    Bernhard     Münz. 

X,      -  Schopenhauer,    Die    Welt    als    Wille    und    Vorstellung. 

Herg.  von  Ludwig   Berndl. 
Verlag  von  Georg  Müller,  München  1913. 
Bei  der  Besprechung  der  ersten  fünf  Bände  dieser  neuen  philosophischen 
Bibliothek  bin  ich  bis  ins  Einzelne  ihren  wissenschaftlichen  Mängeln  nach- 
gegangen.   Ich  unterlasse  das  numnehr.     Die  Bibhothek  macht  offenbar  nicht 
den  geringsten  Anspruch  auf  A\-issenschaftliche  Genamgkeit  und  ist  für  den 
Gelehrten  in  keiner  Weise  berechnet.   Ich  werde  daher  nur  ganz  kurz  auf  einige 
der  Umstände  hinweisen,  die  für  ihre  Beiu-teilung  auch  dami  noch  in  Betracht 
kommen,   wenn  man  sie  als  für  den  gebildeten  Laien  bestimmt   betrachtet. 
Da  ist  es  mir  zunächst  angenehm,  feststellen  zu  kömien,  daß  der  Heraus- 
geber der  Kantbriefe  im  dritten  Bande  die  erforderlichen  Erläuterungen  zu 
den  Briefen,  sowie  auch  eine  Üerbsicht  des  Briefwechsels  nach  den  Personen, 
mit  denen  er  geführt  wurde,  bringt.    Auch  das  Nachwort,  in  dem  er  einige  der 
wichtigeren  Probleme,  die  in  den  Briefen  cüskutiert  werden,  übersichtlich  dar- 
stellt, ist  eine  erfreuliche  Beigabe.     Leider  hat  er  es  imterlassen,  bei  Briefen 
und  Briefteilen,  die  mcht  der  Akademieausgabe  entnommen  sind,  den  Ort 
anzugeben,  an  dem  er  sie  gefunden  hat,  so  daß  die  Nachpinifung  der  Voll- 
ständigkeit sehr  erschwert  ist  und  zeigt  auch  sonst  keine  größere  Sorgfalt  im 
1.  Bande. 

Über  den  zweiten  Band  des  Agrippa  habe  ich  kaum  etwas  Neues  zu  be- 
merken; auch  die  beigefügte  Verteidigungsschrift  entbehrt  jedes  philoso- 
phischen Interesses,  und  mit  dem  etwa  sich  daran  knüpfenden  kultur- 
historischen Interesse  haben  wir  es  hier  nicht  zu  tun. 

Auch  bei  dem  Bande  „Hebbel  als  Denker"  kami  man  sicli  nur  fragen, 
was  mag  wohl  der  Herausgeber  dieser  Bibliothek  unter  Philosophie  verstehen. 
Offenbar  hat  er  gar  keinen  bestimmten  Begriff  von  ihr,  sondern  rechnet  ihr 
alles  zu,  was  sich  nicht  so  leicht  der  einen  oder  der  anderen  Wissenschaft  ein- 
gliedern läßt,  aber  doch  von  erhebhchem  Interesse  ist.  Gewiß  sind  Hebbels 
kleine  Abhandlungen  interessant  und  lesenswert,  aber  philosophisch?  Fast 
unglaublich  ist  es,  daß  ein  Band,  der  eine  große  Anzahl  verschiedener  Einzel- 


Rezensionen.  247 

aufsätze,  Tagebucheintragungen  und  Briefe  enthält,  kein  Inhaltsverzeichnis 
aufweist. 

Der  zweite  Band  Schopenhauer  bleibt  leider  hinter  dem  ersten  noch  be- 
trächtlich zurück.  Es  -vnrd  gar  nicht  mitgeteilt,  welche  Auflage  zugrunde 
gelegt  worden  ist.  Es  ist  die  3.  Auflage  des  Gesamtwerkes,  die  2.  Auflage  dieses 
Bandes  von  1854.  Dieser  Band  bringt  nur  den  einfachen  Abdruck,  ohne  jeden 
Vergleich  mit  den  anderen  Auflagen,  ohne  jede  Erklärung  und  ohne  die  Über- 
setzung der  fremdsprachlichen  Zitate,  die  ich  bereits  an  dem  ersten  Bande  aner- 
kennend hervorheben  konnte. 

Es  ist  ja  immer  erfreulich,  wenn  ein  großzügiges  Unternehmen  auf  philo- 
sophischem Gebiet  ins  Leben  gerufen  wird,  aber  auch  bei  einer  für  weitere 
Kreise  bestimmten  Bibliothek  dürfte  man  etwas  mehr  System  in  der  Auswahl 
und  Sorgfalt  in  der  Herausgabe  walten  lassen. 

Berlin.  Dr.  Werner   Bloch. 

Was  wir  Ernst  Häckel  verdanken.  Ein  Buch  der  Verehrung  und  Dankbar- 
keit. Im  Auftrage  des  deutschen  Monistenbundes  herausgegeben  von 
Heinrich  Schmidt.  2.  Bände  mit  12  Abbildungen,  darmiter  5  Häckel- 
porträts.  Verlag  Unesma  G.  m.  b.  H.,  Leipzig  1914. 
Diese  beiden  starken  Bände,  in  denen  123  Männer  und  Frauen  der  ver- 
schiedensten sozialen  Schichten  und  Berufe,  Gelehrte,  Kaufleute  und  Ar- 
beiter über  Häckel  und  ihr  Verhältnis  zu  seiner  Lehre  zu  Worte  kommen, 
ist  zwar  von  keinem  eigentlich  philosophischen  Interesse;  außerordentlich 
^vichtig  ist  es  aber  als  kulturgeschichtliches  Dokument.  Zweifellos  ist  der 
Monismus  heute  eine  der  kräftigsten  Bewegungen,  und  besonders  interessant 
ist  diese  Bewegmig  durch  den  inneren  Widerspruch,  der  doch  ihr  lebens- 
kräftigstes Moment  zu  sein  scheint:  Mit  den  Waffen  des  Geistes  sucht  der 
Monismus  den  Geist  totzuschlagen.  In  der  Methode  setzt  er  überall  den 
Geist  gegen  den  überkommenen  Zwang,  in  den  Zielen  setzt  er  überall  den 
Mechanismus,  das  Starre,  das  Gez\\'ungene  an  die  Stelle  des  überkommenen 
Geistes.  Xun  muß  man  freüich  den  Monismus  als  Reaktionsbewegung  gegen 
die  Reaktion  in  Kirche  und  Schule,  inWissenschaft  und  Leben  begriffen  haben, 
um  sich  überhaupt  in  seinen  Gedankenkreisen  zurechtzufinden.  Der  Monismus 
ist  nämlich  —  eine  Ironie  auf  seinen  Namen !  —  vielleicht  die  ^•ielspältigste 
Bewegung  der  Gegenwart  hinsichtlich  seiner  Motive  sowohl  als  seiner  Aus- 
prägungen. Das  Seltsamste  aber  ist  es  wohl,  wenn  er,  der  Kirchenfeind,  der 
energischeste  Bekämpfer  der  überlieferten  Religionsformen  und  -gemeinschaften 
nachgerade  selbst  zu  einer  solchen  geworden  ist.  Der  Ausdruck  „Monisten- 
papst" ist  nicht  nur  scherzhaft.  In  der  Tat  zeigt  die  monistische  Bewegung 
sich  vöUig  auf  dem  Wege,  eine  neue  kirchliche  Gemeinschaft  zu  werden.  Gott 
mid  seine  Gebote  werden  ersetzt  durch  die  Natur  und  ihre  Gesetze,  die  ortho- 
doxe und  die  liberale  Richtung  sind  eigentlich  jetzt  schon  vorhanden,  es  fehlen 
weder  die  großen  Propheten  noch  die  kultlichen  Handlungen.  Es  gibt  schon 
Aimoncen,  in  denen  an  Stelle  der  Religionsaugabe  steht  ,, Monist".  Wer  einen 
Querschnitt  durch  die  Geadnkenwelt  des  Monismus  kennen  zu  lernen  wünscht, 
in  dem  die  guten  Seiten  des  Morüsmus,  seine  Begeisterungsfähigkeit  und  seine 


248  Rezensionen. 

Bekenntniöfreudigkcit  ebenso  zum  Ausdruck  kommen  wie  seine  sclilcchten 
Seiten,  so  namentlich  der  naturwissenschaftliche  Dogmatismus  der  (wenigstens 
im  philosophischen  Sinn)  halbgebildeten  Masse,  dem  kann  ich  diese  beiden 
Bände  zur  eingehenden  Lektüre,  ja  zum  Studium  empfehlen. 

Berlin.  Dr.  Werner  Bloch. 

Arthur  Trebitsch,  Erkenntnis  und  Logik.  Vortrag  gehalten  in  der  Philo- 
sophischen Gesellschaft  zu  Wien,  20.  Dezember  1912.  Wilhelm  Brau- 
müller, Wien  und  Leipzig  1913.     26  S. 

Im  wesentlichen  bemüht  sich  Trebitsch  in  diesem  Vortrage  zu  zeigen,  daß 
die  Logik  uns  in  keinem  Fall  in  unserer  Erkenntnistätigkeit  fördern  kann,  daß 
der  psychische  Verlauf  einer  Erkenntnis  ganz  anders  ist  als  die  Abfolge  des 
logischen  und  daß  die  Logik  somit  mehr  oder  minder  ganz  überflüssig  ist.  Daß 
alle  Inseln  vom  Wasser  umgeben  sind,  ist  kein  Induktionsschluß  von  vielen 
Inseln  auf  alle,  sondern  folgt  ex  definitione,  denn  ich  benannte  als  Erkennender 
zuerst  etwas  als  Insel,  was  eine  bestimmte  Eigentümlichkeit  besaß,  und  als  ich 
dieser  Eigentümüchkeit  bei  einem  anderen  Gebilde  wieder  begegnete,  fesselte 
sie  mein  Interesse  genug,  um  mich  an  den  ersten  Fall  zu  erinnern  und  den  Namen 
des  ersten  Falls  auch  auf  den  zweiten  zu  erweitern.  Und  von  nun  ab  ist  eine 
Insel  nur,  was  diese  Eigentümlichkeit  zeigt.  Viel  neues  bringt  der  Vortrag, 
der  zunächst  an  Mills  Logik  anschließt,  nicht,  hat  der  Verfasser  aber  auch  wohl 
nicht  beabsichtigt,  in  ihm  zu  bringen  ...  In  den  Einzelausführungen  scheinen 
mir  sogar  größere  Schwächen  enthalten  zu  sein,  als  dem  derzeitigen  Stande 
der  Diskussion  der  Fragen  entsprechend  nötig  wäre.  Die  Tabelle  auf  S.  18 
dürfte  von  den  wenigsten  als  irgend  etwas  beweisend  angesehen  werden,  und 
der  den  Schopenhauerschen  Anforderungen  entsprechen  sollende  Beweis  des 
Pythagoras  S.  23/24  scheint  mir  alles  andere  als  diesen  Anforderungen  zu  ge- 
nügen. Einmal  wird  zu  seiner  Einsicht  ein  Kongruenzsatz  vorausgesetzt,  der 
selbst  erst  bewiesen  werden  muß  und  auch  seinerseits  nicht  ,,ohne  weiteres" 
einleuchtet,  zweitens  ist  die  Figur  sehr  verwickelt  und  drittens  hat  bereits 
Multatuli  in  seinen  ,, Ideen"  (übersetzt  von  Wilhelm  Spohr,  2.  Aufl.,  Berlin 
1903)  auf  S.  162f.  einen  für  diesen  Zweck  viel  geeigneteren  Beweis  gegeben. 
Alles  in  allem  glaube  ich  nicht,  daß  das  vorliegende  Heft  geeignet  ist,  unsere 
Kemitnisse  nach  irgend  einer  Richtung  hin  zu  vermehren  oder  unser  Verständnis 
zu  vertiefen. 

Berlin.  Werner    Bloch. 

Im  allgemeinen  gehört  das  Lesen  von  Dissertationen  nicht  zu  den  höchsten 
geistigen  Genüssen;  denn  oft  wird  ein  gar  zu  enger  Ausschnitt  aus  dem  großen 
Kreis  menschenmöglicher  Erkenntnis  behandelt.  Doch,  wenn  es  dem  Dok- 
torant  beschieden  war,  Neuland  zu  bearbeiten  und  die  eigenen  Forschungen 
in  großem  Zusammenhang  einzuoixlnen,  wie  Rieh.  Klüger,  Die  pädago- 
gischen Aussichten  des  Philosophen  Tschirnhaus  (Leipzig  1913), 
68  Seiten,  dann  liegen  die  Verhältnisse  erfreulicher.  Mit  einigen  Strichen 
zeichnet  Klüger  die  allgemeinen  Zeitströmungen,  das  Charakterbild  und 
den  Werdegang  des  sächsischen  Edelmanns  Ehrenfried  Walther  von  Tschirn- 


Rezensionen.  249 

haus,  geb.  1651,  gest.  1708.  ohne  die  nötige  Kritik  an  dem  Verhältnis  T.'s, 
der  zu  den  Vermittlern  Descartes'  und  Spinozas  gehört,  zu  den  Quellen  zu 
unterlassen  (S.  9).  Auf  die  Darlegung  der  allgemeinen,  philosophischen  Ideen 
T.'s  folgt  die  der  pädagogischen.  Bei  diesem  Anlaß  kann  Klüger  leider  nicht 
ganz  sich  von  seiner  Fachansicht  frei  machen,  indem  er  den  antihumanistischen 
Standpunkt  T.'s  (S.  21,  3G)  unterstreicht,  dabei  aber  übersieht,  daß  T.  nur 
den  einseitig  formalistischen  Betrieb  seiner  Zeit,  aber  nicht  das  humanistische 
Gymnasium  als  solches  angreift.  Nachdem  K.  die  Anschauungen  T.'s  dar- 
gelegt hat,  bekommen  seine  Ausführungen  nochmals  wie  in  der  Einleitung 
ein  Janusgesicht,  indem  der  Zusammenhang  T.'s  mit  Vergangenheit 
und  Zeitgenossen,  bzw.  Nachwelt  eingehend  gewürdigt  wird  (S.  44  ff.); 
z.  B.  gedenkt  K.  des  Gegensatzes  zu  Comenius  (S.  39,  46  ff.),  des  Widerspruchs 
gegen  den  Unterricht  durch  ältere  Schüler,  wie  z.  B.  auch  in  Schulen  der 
S.  ,1.  (S.  46).  Diese  verschiedenen  Spuren  werden  mit  tiefem  Eindringen  in 
den  weitschichtigen  Stoff  verfolgt;  doch  ließen  sich  noch  manche  Ergän- 
zungen vornehmen,  z.  B.  Übereinstimmungen  mit  Plato.  insbesonders  in 
dem  Grundgedanken,  daß  man  durch  richtige  Anweisung  mühelos  zur  Tugend 
gelangen  könne,  und  in  der  hohen  Einschätzung  der  Mathematik  (S.  45,  46; 
cf.  Arch.  f.  Philos.  26,  405  ff).  —  Manche  Gedanken  T.'s  sind  auch  für 
die  Gegenwart  wichtig,  z.  B.  wenn  er  sich,  gleich  Plato,  gegen  einseitige 
Berufserziehung,  gegen  enzyklopädische  Vielwisserei  (S.  20,  67),  d.  h.  gegen 
bedauerUche  Gegenwartsbestrebungen,  wendet.  Wiewohl  T.'s  Leitgedanke 
der  Hofmeistererziehung,  die  zusammen  mit  anderen  Ansichten  (S.  22)  an 
den  von  K.  auch  nicht  beachteten  Rousseau  erinnern,  auch  in  der  Gegen- 
wart unausfühi'bar  ist,  so  hat  T.  doch  auch  für  unsere  Tage  Recht,  wenn  er 
Gewöhnung  an  feine  Sitten  (S.  23),  Erziehung  zum  Ertragen  der  Wechsel- 
fälle des  Lebens  (S.  25),  die  bereits  dem  antiken  Menschen  geläufige  rhythmische 
Ccymnastik  (S.  26),  Selbsttätigkeit  der  Schüler  (S.  27,  31,  34),  z.  B.  im  Hand- 
fertigkeitsunterricht, Besuch  von  Werkstätten,  wie  bei  Weigel  und  in  unseren 
Landerziehungsheimen,  Besuch  von  fremden  Ländern,  wie  bei  unserem 
Kinderaustausch  (S.  37),  warm  empfiehlt.  Auch  die  methodische  Bemerkung, 
daß  Aufsteigen  vom  Leichteren  zum  Schwereren  nötig  sei  (S.  29),  dürfte 
heute  Gemeingut  sein;  dagegen  einige  andere  x4.nsichten  leider  noch  nicht, 
am  wenigsten  bei  den  Eltern,  z.  B.  den  ZögUng  bei  der  Auswahl  der  Studien- 
fächer seinen  Neigungen  folgen  zu  lassen  (S.  28),  das  Verwerfen  von  Strafe, 
da  sie  zu  innerer  Unwahrheit  führt,  wie  ich  vor  Jahren  in  der  Zeitschr.  f. 
Kinderpflege  1908  (Nr.  2  u.  4)  zu  entwickeln  versuchte. 

Diese  wenigen  Zeilen  mögen  genügen,  um  zu  zeigen,  daß  auch  K.'s  Arbeit 
ein  begrüßenswerter  Beitrag  zur  Geschichte  der  pädagogischen  Ideen  ist; 
denn  ihr  Studium  bewahrt  vor  dem  Wahn,  auf  pädagogischem  Gebiet  ganz 
neue  Gedanken  sagen  zu  können. 

Bergzabern  (Pfalz).  Dr.  Jegel. 

Mit  dem  vierten  Beiheft  ihrer  Zeitschrift  legt  die  Gesellschaft  für 
deutsche  Erziehung  und  Unterricht  auch  für  das  Jahr  1911  einen 
sehr   wertvollen   historisch-pädagogischen    Literaturbericht    (Berhn, 


2  50  Rezensionen. 

Weidmann,  1913)  vor,  wie  z.  B.  auch  tlie  Comcniusgesellschaft  zu  Leipzig 
in  ihrer  pädagogischen  ZentralbibHothek  tut.  Ihm  gegenüber  empfiehlt  sich 
meines  Erachtens  für  den  Berichterstatter  derselbe  Ton  und  dieselbe  Stellung- 
nahme, wie  sie  die  Herren  IMitarbeiter  gegenüber  den  von  ihnen  behandelten 
Arbeiten  zeigen,  nämlich  ruhigste  Zurückhaltung;  deiui  es  wäre  mehr  als 
kleinlich,  auf  übersehene  Aufsätze,  die  man  etwa  selbst  geschrieben  hat,  hin- 
zuweisen oder  mit  der  Auffassung  von  dem  oder  jenem  Buch  zu  rechten. 
Verschiedene  Bewertung  einer  Leistung  schließt  rücht  notwendig  einen  Irr- 
tum eines  oder  beider  Berichterstatter  in  sich;  deim  jeder  einzelne,  welcher 
über  ein  fremdes  Erzeugnis  schreibt,  kami  und  wird  zu  ihm  eine  oft  abweichende 
Stellung  einnehmen,  je  nachdem  er  dasselbe,  verwandtes  oder  entgegen- 
gesetztes Arbeitsfeld  beackert:  er  wüd  z.  B.  den  oder  jenen  Satz  anders 
fassen,  diese  oder  eine  andere  Tatsache  vermissen,  nicht  einverstanden  sein, 
daß  bestimmte  Behauptungen  herausgehoben  werden,  wird  schließUch  das 
eine  oder  andere  Buch  an  anderer  Stelle  erwähnt  suchen  und  wünschen. 
Sofern  nur  die  Besprechung  mit  ^Yahl'heitshebe  und  frei  von  aller  persönhchen 
Gereiztheit  geschieht,  hat  sie  innere  Berechtigung.  Ich  glaubte  diese  grund- 
sätzlichen Darlegungen  dem  Buche  und  mir  selbst  schuldig  zu  sein;  denn  daß 
ich  den  Bienenfleiß  und  die  Geschicklichkeit,  mit  der  man  sich  bemüht  hat, 
die  Hochflut  von  Einzelarbeiten,  oft  über  sehr  ähnlichen  Stoff,  zusammen- 
zutragen und  in  Verbindung  zu  setzen,  sehr  bewundere,  will  ich  unumwunden 
aussprechen,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  wegen  dieses  uneingeschränkten  Lobes 
getadelt  zu  werden.  Dem  großzügig  angelegten  Werk,  das  bekannthch  nicht 
nur  auf  fast  allen  anderen  größeren  Arbeitsgebieten  der  Gegenwart,  sondern 
auch  auf  seinem  eigenen  manche  Gesch^nister  hat,  kami  ich  wohl  mcht  besser 
gerecht  werden,  als  wenn  ich  kurz  seinen  Inhalt    wiedergebe. 

Etwas  über  1600  deutsche  pädagogische  Erscheinungen  des  Jahres  1911 
werden  in  5  Haupt-  und  40  Unterteilen  besprochen  oder  wenigstens  ei-wähnt. 
Der  erste  Abschnitt,  Perioden  und  Personen,  enthält  nicht  nm-  die  Literatur 
über  Gesamtent-nicklung,  sondern  auch  über  ■  einzelne  größere  Abschnitte, 
]\Iittelalter,  Humanismus,  Reformation  und  Gegem-eformation,  Neuere  Zeit, 
sowie  einzelne  Männer  von  größerer  oder  geringerer  Bedeutung  (vgl.  auch 
Kap.  39  des  Anhanges,  das  der  Bibhogiaphie  gewidmet  ist.)  In  der  zweiten 
Gruppe,  Bildungseinrichtungen,  werden  die  Schriften  über  einzehie  Schul- 
gattungen erörtert  und  auch  —  zum  erstermial  —  die  Abhandlungen  über 
Charitativerziehung;  denn  Jugendfürsorge  und  Jugendpflege  rückt  mit  vollem 
Rechte  mehr  und  mehr  in  den  Kreis  der  allgemeinen  Aufmerksamkeit  (auch 
Kap.  38  im  Anhang  scheint  mir  Verwandtes  zu  bergen,  da  es  Kinderleben  und 
Kinderspiel  betrifft).  Bei  den  Unterrichtsgegenständen  fehlen  Geschichte, 
Xaturwissenschaften  und  neuere  Sprachen,  weil  über  sie  keine  bedeutenderen 
Arbeiten  vorlagen.  Der  4.  Hauptteil  beschäftigt  sich  mit  der  Literatur  über 
einzelne  deutsche  Staaten,  Österreich  und  Schweiz;  bei  beiden  letzteren  Ländern 
werden  fast  ausnahmslos  nur  Ai-beiten  in  deutscher  Sprache  berücksichtigt, 
da  die  Gesellschaft  sich  mit  deutscher  Erziehung  und  Schulgeschichte  befaßt. 

Die  Verteilung  auf  die  einzelnen  Haupt-  und  Unterabschnitte  gestattet 
selbstverständhch  keine  Schlüsse  auf  größere  oder  geringere  Beschäftigung 


.  Rezensionen.  251 

mit  pädagogischen  Fragen  imierhalb  bestimmter  Staaten;  deim  es  wird  keine 
Scheidung  nach  der  landsmannschaftlichen  Zugehörigkeit  der  Verfasser  ge- 
geben. Andererseits  ist  ein  Überwiegen  der  Geschichte  der  Pädagogik 
gegenüber  der  Theorie  sofort  zu  erkennen.  Der  vornehmste  Grund 
dieser  Erscheinung  scheint  mir  darin  zu  liegen,  daß  die  Hauptquellen  geschicht- 
licher Arbeiten  zwar  mitunter  mühsam  aufzusuchen  und  zusammenzustellen, 
aber  doch  naturgemäß  leichter  zu  behandehi  sind,  weil  sie  mit  bestimmten 
Tatsachen  es  zu  tun  haben.  Die  Theorie  der  Pädagogik  dagegen  gibt  mehr 
persönliche  Eindrücke  und  Anschauungen  des  Sclu-eibenden  wieder.  Vor 
solchen  Bekenntnissen  scheint  man  sich  aber  im  allgemeinen  zu  scheuen:  ich 
weiß  nicht,  soll  ich  sagen  leider  oder  erfreuUcherweise.  Einerseits  wäre  es 
nämlich  für  die  Frage,  ob  und  welche  Abänderungen  bei  den  bestehenden  Ein- 
richtungen nötig  oder  nur  wünschenswert  sind,  von  größter  Wichtigkeit  mög- 
lichst viel  ruhig  sachliche  Schilderungen  über  die  Zustände  an  den  einzelnen 
Schulen  zu  haben.  Andererseits  verändert  sich  das  in  dem  einen  Jahr  zutreffende 
Bild  mit  den  wechsehiden  Schülern  in  dem  nächsten  oft  sehr-  gründlich.  Auch 
gehört  eine  vollkommen  richtige  Würdigung  einer  Klasse,  -wie  sie  zu  dem 
dargebotenen  Stoff,  zu  der  aufgewendeten  Mühe  sie  zu  erziehen  sich  stellt,  zu 
dem  Schwierigsten  und  auch  Peinlichsten,  da  Eltern,  Amtsgenossen  und  Schul- 
vorstände mitunter  über  offene  Worte  sehr  ungehalten  sind.  Je  selbständiger 
nun  der  Verfasser  ist,  um  so  persönlicher  wird  seine  Abhandlung  und  um  so 
leichter  schleichen  sich  Beobachtungs-  und  Darstellungsfehler  ein.  Sie  ver- 
mögen aber  unter  Umständen  großes  Unheil  anzurichten,  besonders  weiui  sie 
ein  gewisses  Publikum,  das  sich  gierig  auf  jede  rückhaltlose  Kritik  bestehender 
Verhältnisse  stürzt,  zu  lesen  bekommt;  denn  es  gibt  schwerlich  ein  Gebiet, 
wo  soviele  Leute  ohne  Verständnis  und  Sachkermtnis  mitreden  zu  dürfen 
glauben,  als  das  pädagogische. 

Im  Hinblick  auf  die  Menge  der  Schriften,  welche  auf  den  408  Seiten  er- 
wähnt werden,  empfindet  man  die  zwei  Register  über  Autoren,  bzw.  Namen 
und  Sachen  als  gi'oße  Wohltat,  wiewohl  der  mit  den  Druckkosten  entschuldigte, 
bei  ihnen  gegenüber  dem  Text  noch  kleiner  werdende  Satz  an  die  Augen  des 
Benützenden  große  Anforderungen  stellt.  Dr.  Jegel. 

Unter  der  Hochflut  deutscher  Bücher  gibt  es  Sammlungen  und  Verlage, 
deren  Namensnennung  allein  genügt,  um  bei  Kundigen  ein  angenehmes 
oder  peinliches  Gefühl  auszulösen,  je  nachdem  die  Erzeugnisse  sich  eines 
guten  oder  schlechten  Rufes  erfreuen.  Zu  der  ersten  Gruppe  gehören  auch  die 
Monumenta  Germaniae  pädagogica  (Berlin,  Weidmann).  In  ihrem 
52.  Bande  (1913)  behandelt  der  Chemnitzer  Schuh-at  Dr.  Julius  Richter 
das  Erziehungswesen  am  Hofe  der  Wettiner  Albertinischen 
(Haupt -)Linie,  von  der  Zeit  Albrecht  des  Beherzten  bis  zu  der  Friedrich 
August  des  Gerechten,  das  heißt  von  der  Mitte  des  15.  bis  zum  ersten  Drittel 
des  19.  Jahrhunderts. 

Es  wäre  meines  Erachtens  Beckmesserei,  an  der  Auffassung  oder  Dar- 
stellung von  Einzelheiten  henimzumäkeln;  denn  die  verschiedenartigen  Kultur- 
bilder, denen  der  Verfasser  —  dem  erhofften  weiteren  Leserkreise  zuhebe  — 


252  Rezensionen. 

gelegentlich  auch  einige  allgemeine  Landesgeschichte  betreffenden  Züge  einfügt, 
sind  zweifellos  sehr  anziehend  und  regen  zum  Vertiefen,  Zusammenfassen, 
Gegenüberstellen  von  manchen  Punkten,  die  der  Verfasser  trotz  der  401  Seiten 
Text  und  182  Seiten  Beilagen  nicht  ausführt,  in  hohem  Grade  an.  Diese  weiter- 
bauende Arbeit  erleichtert  Dr.  R.  durch  genaue  Quellenverweise:  außer 
gedruckter  Literatm'  sind  auch  Archivalien  in  reichem  Maße  beigezogen. 
Da  letztere  bis  jetzt  nur  zum  kleineren  Teile  gehobene  Schätze  sind,  hat  der 
Verfasser  nicht  den  Gesamtarchivbestand  benützen  können,  wiewohl  er  selbst 
fleißig  aus  Urquellen  geschöpft  hat.  Xiemand,  der  selbst  ein  weites  Arbeits- 
feld zu  beackern  begomaen  und  während  der  Studien  die  Aufgabe  hat  wachsen 
sehen,  wird  diese  offen  zugestandene  Beschränkung  tadeln  wollen.  —  Das 
behandelte  Gebiet  bringt  es  mit  sich,  daß  ausgedehnte  Stellen  in  der  Haupt- 
sache umstilisierte  Auszüge  aus  Vorlagen  sind.  Eine  Auswahl  derselben, 
die  am  Ende  des  stattlichen  Bandes  abgedruckt  ist,  ladet  zum  Nachprüfen  ein. 
Ob  mit  der  buchstabengetreuen  Wiedergabe  des  Originals  alle  Historiker  ein- 
verstanden sind,  weiß  ich  nicht.  Besonders  da  Dr.  R.  sich  auch  nichtfach- 
niännische  Leser  wünscht,  hätte  er  auch  die  den  Text  fast  ganz  moderni- 
sierenden Grundsätze  der  badischen  Geschichtskommission  beachten  körmen, 
Avenn  auch  diese  Behandlungsweise  manche  dem  Sprachforscher  wichtig  er- 
scheinende Einzelheit  in  der  Redeweise  verwischt.  Nicht  unerwähnt  darf 
ich  schließHch  lassen,  daß  ein  augenscheinlich  mit  ähnlicher  Sorgfalt  wie  das 
Buch  zusammengestelltes  Register  über  die  vorkommenden  Personen  und 
Ortsnamen  unterrichtet.  Dr.  Jegel. 


Die  neuesten  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  der  Philosophie. 

A.    Deutsche  Literatur. 

Bericht  über  den  6.  Kongreß  für  experimentelle  Psychologie  in  Göttingen  1914. 

Leipzig,  Barth. 
Brinkschulte,  E.,  Scaligers  kunsttheoretische  Anschauungen  und  deren  Haupt- 

quellen.     Bonn,  Hanstein. 
Brunswig,  A.,  Das  Grundprobleni  Kants.     Leipzig,  Teubner. 
Croce,  B.,  Zur  Theorie  und  Geschichte  der  Historiographie.    Tübingen,  Mohr. 
Erdmann,  B.,  Über  den  modernen  Monismus.     Berhn,  Paetel. 
Eucken,  R.,  Die  weltgeschichtliche  Bedeutung  des  deutschen  Geistes.  Stuttgart, 

Deutsche  Verlags-Anstalt. 
Ettünger,  M.,  Die  Ästhetik  Deutingers  in  ihrem  Werden,  Wesen  und  Wirken. 

Kempten,  Kösel. 
Friedrich  der  Große:  Gedanken  imd  Ansprüche.    Herausgegeben  von  Helmolt. 

Berlin,  Deutsche  Bibliothek. 
Kant:    Populäre   Schriften.      Herausgegeben   von   Aster.      Berhn,   Deutsche 

Bibhothek. 
Kierkegaard:  Kiitik  der  Gegenwart.     Innsbruck,  Brenner. 
Nietzsche:  Vom  Krieg  und  Kriegsvolk.     Leipzig,  Kröner. 
Piatons  Dialog  Phaidon,  herausgegeben  von  Ritter.  —  Dialog  übei  die  Tugend, 

herausgegeben  von  Apelt.     Leipzig,  Meiner. 
Rousseaus  Bekenntnisse  aus  seiner  Jugend.    Herausgegeben  von  Wille.    Berlin, 

Deutsche  Bibliothek. 
Schopenhaiier :  Von  der  Nichtigkeit  des  Daseins.  Herausgegeben  von  Buchenau. 

Berlin,  Deutsche  Bibhothek. 
—     ErstUngsmanuskripte.    Herausgegeben  von  Deussen.    München,  Piper. 
Stähler,  P.,  Fichte,  ein  deutscher  Denker.     Berhn,  Simion. 
Spinoza:  Ethik.    Herausgegeben  von  Buchenau.    Berlin,  Deutsche  Bibliothek. 
Thormeyer,  P.,  Die  großen  enghschen  Philosophen  Locke,  Berkeley,  Hume. 

Leipzig,  Teubner. 

ß.    Englische  Literatur. 
Knox,  H.,  The  philosophy  of  Wilham  James.     London,  Constable. 
IMitchel,  A.,  Studies  in  Bergsons  philosophy.     Bulletin  of  the  University  of 
Kansas,  Lawrence. 


254    Die  neuesten  Erscheinungen  a.  d.  Gebiete  der  Gesch.  d.  Philosophie. 

Sandys,  J.,  Roger  Bacon.     London,  Milford. 

Shastri,  P.,  The  conception  of  freedoni  in  Hegel,  Bergson  and  indian  philosophy. 

Calcutta,  Albion  Press. 
Shotwell,  J.,  The  religions  revolution  of  to-day.    Boston,  Miffliu. 
Smith,  D.  and  Mikami,   Y.,  A  history  of  Japanese  mathematics.     Chicago, 

The  Open  Court  Publishing  Co. 
Stebbing,  L.,  Pragmatism  and  french  voluntarism,  Avith  especial  reference  to 

the   notion   of   trutli   in   the   development   of  french   philosophy   froni 

Maine  de  Biran  to  Bergson.     Cambridge,  University  Press. 

C.  Französische   Literatur. 

Annales  de  Tlnstitut  Superieur  de  Philosophie,  Amiee   1914.     Paris,  Alcan. 
De  la  Valette-Monbrun,  Maine  de  Biran,  critique  de  Pascal.     Paris,  Alcan, 
Defourny,  Aristote  Theorie  economique  et  politic[ue  sociale.    Louvain. 
Dontchef-Dezeuze,  M.,  L'image  et  les  reflexes  conditionelles  dans  les  travaux 

de  Pavlov.     Paris,  Alcan. 
Navatel,  Fenelon.     Paris,  Paid. 
Pascal.     Oeuvres  completes.     Paris.     Hachette. 

Reverdin,  H.,  La  notion  d'expcrience  d' apres  W.  James.    Geneve,  Georg. 
Sentroul,  Ch.,  Kant  et  Aristote.     Paris,  Alcan. 
Zanta,  La  renaissance  du  stoicisme  au  XVI  siecle.    Paris,  Champion. 

D.  Italienische   Literatur. 

Braga,  G.,  Saggio  su  Rosmini,  il  mondo  delle  idee.    Milano,  Libreria  Editrice 

Milanese. 
GaUi,  G.,  Kant  e  Rosmini.     Citta  di  Castello  Lapi. 
Limentani,  L.,  La  morale  della  simpatia  di  A.  Smith  nella  storia  del  pensiero 

inglese.     Genova,  Formiggini. 
Pulcini,  C,  L'etica  di  Spinoza.     Genova,  Formiggini. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Vierteljahrsschrift  für  icissenschaftliche  Philosophie  und  Soziologie.  Bd.  XXXVIII 
H.  3.  Dittmann,  Die  Geschichtsphilosophie  Comtes  und  Hegels:  ein 
Vergleich. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Bd.  XXVII.  H.  3.  Schwaiger,  Die  Lehre  vom 
Sentimento  Fondamentale  bei  Rosmini  nach  ihrer  Anlage.  Klein,  Die 
Fehler  Berkeleys  und  Kants  in  der  Wahrnehmungslehre. 

Zeitschrift  für  Philosophie  und  philosophische  Kritik.  Bd.  155.  H.  1.  Schwarz, 
Universale  und  charakteristische  Religion  bei  Rudolf  Eucken.  Böhme, 
Die  Abhängigkeit  der  Raumauffassung  Kants  in  der  ersten  Phase  der 
vorkritischen  Periode  von  seiner  Auffassung  des  Xewtonschen  Attrak- 
tionsgesetzes. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke.  255 

Zeitschrift  für  Aesthetik  iind  allgemeine   Kunstwissenschaft.      Bd.   IX.   H.   4. 

Herni'ied,  Weltanschauung  und  Kunstform  von  Shakespeares  Drama. 

Dosenheimer,  Nietzsches  Idee  der  Kunst  und  des  Tragischen. 
Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.     Bd.  XXXII.  H.  3 — 4.     Wentscher,  Das 

Außenwelts-  und  das  Ich-Problem  bei  John  Stuart  Mill.     Eine  Studie 

zm'  Assoziationspsychologie. 
Revue  de  philosophie.    1914.    8.    Duhem,  Le  temps  et  le  mouvement  selon  les 

Scolastiques.     Gossard,  La  notion  peripateticienne  du  mouvement  et 

la  science  de  l'energie.    Pascault,  La  douleirr  et  le  sens  de  la  vie  d'apres 

Blanc  de  Saint-Bonet. 
Revue  philosophique.   1914.   7.   Belot,  La  psychologie  des  phenomenes  religieux 

d'apres  Leuba. 
Revue  de  M etaphysique  et  de  Marale.     1914.    4.    Gilson,  L'inneisme  cartesien 

et  la  theologie.    Aillet,  La  coutume  ouvriere  d'apres  M.  Leroy. 
Mind.   1914.  91.  Knox,  Has  Green  answered  Locke?  Rattray,  The  Philosophy 

of  Samuel  Butler.   Broad,  Bradley  on  truth  and  reality,    Ross,  Aristotle 

and  abstract  truth. 
The  Philosophical  Review.     1914.     b.     Cumiingham,  Bergson's  conception  oI 

dvu-ation.     Wilde,  The  pragmatism  of  Pascal. 
The  Monist.     1914.     4.     Garbe,  Buddhist  influence  in  the  gospels-Jourdain, 

The  principles  of  mechanics  with  Newton  from  1679  to  1687.    Suzuki, 

The  development  of  Mahayana  Buddhism. 
The  American  Journal   of  Psyrhology.    1914.    3.  Titchener,  An  historical  note 

on  the  James-Lange  theory  of  emotion. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.    Deutsche    Literatur. 

Becher,  E.,  Natm-philosophie.    (Die  Kultur  der  Gegenwart,  III.  Teil,  7.  Abt., 

1.  Bd.)     Leipzig,  Teubner. 
Brunswig,  A.,  Das  Grundproblem  Kants.     Eine  kritische  Untersuchung  und 

Einführung  in  die  Kant -Philosophie.      Ebd. 
Chatzis,  A.,  Der  Philosoph  mid  Grammatiker  Ptolemaios  Chennos.     1.  Teil. 

Paderborn,  F.  Schöningh. 
Cioce,  B.,  Zur  Theorie  und  Geschichte  der  Historiographie.     Aus  dem  Ita- 
lienischen übersetzt  von  E.  Pizzo.     Tübingen,  Mohr. 
Ettlinger,  M.,  Die  Ästhetik  Martin  Deutingers  in  ihrem  Werden,  Wesen  und 

Wirken.     Kempten,  Kösel. 
Hilz,  P.,  Die  Natiu-,  eine  Auferstehung  zu  Gott,  dem  Geiste.   Berlin,  Simion  Nf. 
Kelleimann,  B.,  Die  Kämpfe  Gottes  von  Lewi  ben  Gerson.    Übersetzung  und 

Erklärung   des   handschriftlich  revicherten  Textes.      1.  Teil.      Berlin, 

Mayer  &  Müller. 


25(5  Kantgesell  Schaft. 

Külpe,  O.,  Die  Philosophie  der  Gegenwart  in  Deutschland.  6.  Aufl.  Leipzig, 
Teubner. 

Monunicnta  Germaniae  Paedagogica.  Begr.  von  Karl  Kehrbach.  Bd.  LIIL 
Geschichte  der  reahstischen  Lehranstalten  in  Bayern.  Berlin,  Weid- 
mann. 

Pchkan,  F.,  Entstehung  und  Entwicklung  des  Kontingentismus.  Berlin, 
Simion  Nf. 

.Stähler,  P.,  J.  G.  Fichte,  ein  deutscher  Denker.     Ebd. 

Weinstein,  M.  B.,  Der  Untergang  der  Welt  und  der  Eide.    Leipzig,  Teubner. 

B.    Englische    Literatur. 
Carus,  P.,  Truth  and  other  poems.    Chicago,  Open  Court  Publishing  Co. 

C.    Italienische    Literatur. 

Galh,  G.,  Kant  e  Rosmini.     Castello,  S.  Lapi. 
Gentile,  G.,  Studi  Vichiani.     Messina,  G.  Principato. 


Kantgesellschaft. 

Zur  Eduard  von  Hartmann-Preisaufgabe. 

(Ändennig  des  Ablieferungstermins  der  Arbeiten.) 
Tm  Mai  1912  schrieb  die  Kantgesellschaft  ihr  6.  Preisausschreiben  aus 
über  das  Thema:  „Eduard  von  Hartmanns  Kategorienlehre  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Philosophie  der  Gegenwart"  bei  einer 
Dotierung  von  1500  Mark  für  die  beste  und  von  1000  Mark  für  die  zweitbeste 
Bearbeitung. 

Da  sich  nun  voraussichtlich  einige  Bearbeiter  der  Preisaufgabe  im  Felde 
befinden  und  somit  dm-ch  unmittelbare  militärische  Verpflichtung  überhaupt 
an  der  Bearbeitung  behindert  sein  werden,  andere  aber  bei  den  bewegten  Zeit- 
läuften die  für  die  Bearbeitung  erforderUche  Ruhe  und  Sammlung  nicht 
werden  aufbieten  kömien,  so  teilen  wir  hierdurch  unter  Zustimmung  der 
Preisstifterin,  Frau  Alma  von  Hartmann,  und  der  drei  Preisrichter,  der  Herren 
Professoren  Windelband,  Bauch,  Jonas  Cohn,  mit,  daß  der  Termin  für  die 
Ablieferung  der  Arbeiten  vom  22.  April  1915  auf  den  22.  April 
1916  verlegt  worden  ist.  Sämtliche  übrigen  Bestimmungen  des  Preis- 
ausschreibens bleiben  unverändert  in  Kraft. 
Halle  a.  S.,  Berlin,   im  November  1914. 

Die   Geschäftsführung: 
Vaihinger.  Liebert. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXI.  Band,    3.  Heft. 


VIII. 

Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Natur- 
philosophie. 

Von 
Karl  Zöckler. 

Einleitung  und  Gliederung  des  Ganzen. 

Suchen  wir  uns  in  Kürze  die  Herkunft  der  Schellingschen  Natur- 
philosophie klar  zu  machen,  so  müssen  wir  die  Quellen,  aus  welchen 
ihre  Prinzipien  stammen,  von  dem  Material,  welches  den  Prinzipien 
nur  zum  Beweise  dient,  wohl  unterscheiden.  Das  Material,  aus  welchem 
die  Beweise  für  die  Prinzipien  und  die  aus  ihnen  abgeleiteten  Sätze 
geschöpft  sind,  ist  nichts  anders,  als  die  Natur  selbst  in  der  Gestalt, 
wie  sie  von  dem  Spiegel  der  damahgen  Naturwissenschaft  reflektiert 
wurde.  Es  waren  vor  allem  die  damals  neu  begründeten  Lelu-en  von 
der  Elektrizität,  der  Erregung  und  der  Verbrennung,  und  nicht  minder 
auch  von  der  Entwicklung,  welche  auf  Schelling  den  größten  Einfluß 
ausübten.  So  sehr  er  aber  auch  die  Ergebnisse  der  Erfahi'ung  zu  Rate 
zog,  was  niemand  leugnen  kann,  der  auch  nur  einen  Blick  in  seine 
Schriften  geworfen  hat,  so  haben  sie  doch  für  das  System  der  Natur- 
philosophie und  insbesondere  der  Entwicklungslelu'e  nur  eine  unter- 
geordnete Bedeutung.  Wie  in  den  meisten  philosophischen  Systemen, 
so  dienen  auch  in  dem  von  Schelling  die  induktiven  Beweise  nur  zur 
nachträglichen,  oft  sehr  schwachen  Stütze  von  Gedanken,  die  ganz 
wo  anders  ihren  Ursprung  haben,  nämhch  in'  der  ureignen  Anlage 
und  Überzeugung  des  Philosophen  selbst.  Nirgends  anderswo  als  in 
seiner  Individuahtät  darf  die  erste  Quelle  seiner  naturphilosophischen 
Gedanken  gesucht  werden.     Die  in  dem  jugendlichen  Philosophen 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  3.  J^7 


258  •'^•'^rl    Zöcklor, 

personifizierte  Urkraft  war  nichts  anderes  als  sein  unermeßlicher  Drang 
nach  einer  einheitlichen  Gestaltung  der  gesamten  Welt.    Die  zweite 
Quelle  war  der  deutsche  Kritizisnnis.  Die  Lehi-en  von  Kant  und  Fichte 
sind  die  Prämissen,  ohne  welche  die  Konsequenzen,  nämlich  Schellings 
Lehre,  nicht  zu  verstehen  ist.     Kants  Forschung  war,  nachdem  ei- 
aus  dem  Dogmatismus  zum  Kritizismus  erwacht  war,  auf  die  sub- 
jektive Fähigkeit  des  Menschen  gerichtet,  die  Natur  zu  erkennen. 
Fichte  untersuchte  die  subjektive  Fähigkeit  des  Menschen,  sich  selber 
zu  erkennen;    für  die  Natur  hatte  er  kein    besonderes    Interesse. 
Schelling,  der  sich  diese  Lücke  im  Fichteschen  System  angelegen 
sein  heß,  suchte  die  objektive  Fähigkeit  der  Natur  zu  ergründen, 
von  dem  Menschen  erkannt  zu  werden.     Während  Kant  die  Frage 
untersuchte:  Wie  kommt  der  Mensch  zu  der  Erkenntnis  der  Natur?, 
lautete  SchelUngs  Problem:  Wie  kommt  die  Natur  dazu,  vom  Menschen 
erkannt  zu  werden?    Wären  Natur  und  Mensch,  oder,  was  dasselbe 
ist,  Natur  und  Geist  in  der  Wurzel  verschieden,  so  wäre  eine  Er- 
kenntnis der  Dinge,  eine  Übereinstimmung  des  Idealen  und  Realen 
unmöghch.     Diese  kann  in  SchelUngs  Sinne  nur  dadurch  Zustande- 
kommen, daß  Natur  und  Geist  im  Grunde  identisch  sind.   Das  Prinzip 
der  Einheit  von  Natur  und  Geist  ist  der  Schlüssel  zu  SchelUngs  Ent- 
wicklungslehre.  Denn,  sofern  Natur  und  Geist  aus  einer  gemeinsamen 
Wurzel  ableitbar  sind,  kann  die  Antwort  auf  die  Frage  nach  der 
Entstehung  des  Geistes  aus  der  Natur  nur  lauten:  durch  Entwicklung. 
Diese  stufenmäßige  Entwicldung  ist  aber  nur  dann  mögUch,  wenn 
die  Natur  in  sich  selber  d.  h.  die  unorganische  Natur  mit  der  organi- 
schen eine  Einheit  bildet.     Denn  nur  unter  diesem  Gesichtspunkt 
kann  sich  aus  der  Natur  der  Geist  oder  aus  der  unorganischen  Natur 
die  organische  entwickeln. 

So  haben  wir  die  beiden  Grundprinzipien  der  Schelüngschen 
Entwicklungslehre  gewonnen:  Das  Prinzip  der  Einheit  von  Natur 
und  Geist  und  das  Prinzip  der  inneren  Einheit  der  Natur  als  solcher. 
Obwohl  diese  beiden  Betrachtungsweisen  sich  bei  ScheUing  gegen- 
seitig durchdringen,  erscheint  es  hier  der  DeutUchkeit  wegen  ratsamer, 
dieselben  getrennt  zu  behandeln^). 


1)  Vgl.  auch  die  Einteilung  von  Heußler  in  seiner  kurzen  Darstellung 
von  Schellings  Entwicklungslehre.  (Rhein.  Blätter  f.  Erziehung  und  Unter- 
richt 1882  S.  524ff. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  259 

Kap.  I.   Transzendentale  Entwicklung. 

§  1.    Entstehung  der  Materie. 

Von  dem  ersten  Prinzip  aus  die  Entwicklung  betrachteii,  heißt 
sie  transzendental  betrachten ;  denn  dieses  Prinzip  ist  ja  die  Schelling- 
sche  Antwort  auf  die  transzendentale  Frage  nach  der  Erkennbarkeit 
der  Natur.  Da  die  Natur  mit  dem  Geiste  eins  ist,  so  muß  eins  durch 
das  andere  sieh  erklären  lassen:  die  Natur  durch  den  Geist  und  der 
Geist  durch  die  Natur.  Beide  stehen  in  notwendiger  Beziehung  zu 
einander.  Daher  entsteht  entweder  die  Materie  aus  dem  Geist  oder 
umgekehrt. 

Die  Materie  nun  geht  bei  ScheUing  aus  dem  Geist  hervor  ^). 

Um  jedes  Mißverständnis  zu  vermeiden,  soll  von  vornherein 
bemerkt  werden,  daß  hier  unter  dem  die  Welt  produzierenden  Geist 
nicht  etwa  unser  menschhcher  Geist  zu  verstehen  ist;  vielmehr  soll 
die  Welt  das  Produkt  des  allgemeinen  Weltgeistes  sein,  des  Geistes 
als  Universalprinzip,  von  dem  unser  gewordener  menschlicher  Geist 
nur  die  letzte  und  höchste  Produktion  ist.  Da  aber  eben  deswegen 
unser  Geist  identisch  ist  mit  dem  absoluten  Geist,  dem  allgemeinen 
Weltgeist,  so  haben  wir  die  Fähigkeit  und  das  Eecht,  von  uns  auf  die 
ganze  übrige  Natur  zu  schUeßen,  oder,  in  anderen  Worten,  die  Natur 
denkend  zu  reproduzieren,  wälu-end  der  allgemeine  Weltgeist  sie 
produziert.  Daß  die  Außenwelt  nicht  das  Produkt  unsres  Geistes 
sein  kann,  erhellt  schon  aus  der  Tatsache,  daß  sie  uns  als  ein  Objekt 
erscheint,  das  wir  bereits  in  unserem  Be\\T.ißtsein  fertig  vorfinden. 
Die  Produktion  der  Natur  muß  daher  notwendig  dem  menschlichen 
Be^vußtsein  vorausgehen. 

An  sich  ist  der  Geist  unbedingte,  absolut  freie,  produktive  Tätig- 
keit. Sein  innerster  Kern,  sein  eigenes  Selbst  ist  das  Wollen,  das 
weiter  abzuleiten  unmöglich  ist.  Der  Geist  entwickelt  sich,  weil  er 
seine  Entwicklung  wilP). 

Er  ist  die  tätige,  produktive,  von  Haus  aus  unbewußte  An- 
schauung. Ursprünghch  unterscheidet  er  sich  nicht  als  das  anschauende 
Wesen  von  dem  angeschauten  Produkt;  beides  ist  in  dieser  ersten 
und  ursprünghchen  Selbstanschauung  eins.  Wir  haben  die  vöUige 
Identität  des  anschauenden  Subjekts  und  des  angeschauten  Objekts. 


■-)  I.  1.  37.3,  .374. 
3)  L  1.  395. 


17* 


260  Karl  Zöckler, 

Der  Geist  aber  ist  nicht  nur  anschauende  Tätigkeit  (produlrtive  An- 
schaimng),  sondern  sucht  sich  dieselbe  objektiv  zu  machen,  indem  er 
aus  jener  unmittelbaren  Einheit  des  Anschauens  und  des  Angeschauten 
heraustritt  und  jetzt  mit  Freiheit  wiederholt,  was  er  mit  Notwendig- 
keit erzeugt  hat.  Die  geistige  Tätigkeit,  die  zuerst  mit  dem  Produkt 
einfach  zusammenfiel,  wird  jetzt  frei.  Der  Geist  kann  das  Produkt 
mit  Freiheit  wiederholen  oder  reproduzieren,  aber  die  Anschauung 
nicht  ändern.  Die  Abstralrtion  von  der  Anschauung  ist  frei,  die  An- 
schauung selbst  als  Inhalt  notwendig.  Vermöge  der  Abstraktion  wird 
die  subjektive  Anschauung  frei  und  der  Geist  erkennt  dadurch  sich 
als  Subjekt  und  die  Anschaung  als  Objekt.  Indem  der  Geist  aus  der 
xAnschauung  frei  in  sich  zurückkehrt,  tritt  ihm  sein  Produkt  als  etwas 
Selbständiges,  als  Objekt  gegenüber.  Das  ist  der  transzendentale 
Ursprung  der  Materie,  auf  welche  die  produktive  x\nschauung  des 
Geistes  notwendig  gerichtet  ist*). 

§  2.  Entwicklung  bis  zum  Menschen. 
Ist  der  Geist  in  seiner  unbe^^1^ßten  Form  das  die  Welt  Pro- 
duzierende, so  wissen  wir,  daß  es  blinde  Zweckmäßigkeit  in  der  Welt 
gibt.  Ist  ferner  das  Unbewußte  das  dem  Bewußtsein  Vorausgehende, 
so  erscheint  unter  diesem  Gesichtspunkt  die  ganze  Natm*  als  ein  zum 
Bewußtsein  hinstrebender  Geist.  Die  ganze  Natm-  muß  daher  als 
ein  großer  Organismus  aufgefaßt  werden,  dessen  einzelne  Teile  nur 
dazu  da  sind,  das  Be^^^lßtsein  zustande  zu  bringen.  Vom  Moos- 
geflechte an,  an  dem  kaum  noch  die  Spur  der  Organisation  sichtbar 
ist,  bis  zur  veredelten  Gestalt,  die  die  Fesseln  der  Materie  abgestreift 
zu  haben  scheint,  herrscht  ein  und  derselbe  Trieb,  der  nach  ein  und 
demselben  Ideal  von  Zweckmäßigkeit  zu  arbeiten,  ins  UnendUche 
fort  ein  und  dasselbe  Urbild,  die  reine  Form  unseres  Geistes 
auszudi'ücken  bemüht  ist."^)  Derselbe  Grundgedanke  tritt  nns  in 
einem  der  tiefsinnigsten  naturphilosophischen  Gedichte  entgegen, 
wo  es  am  Schluß  heißt: 

„Vom  frühsten  Bingen  dunkler  Ivi'äfte 

Bis  zum  Erguß  der  ersten  Lebenssäfte, 

Wo  &aft  in  Kraft  und  Stoff  in  Stoff  verquillt. 

Die  erste  Blut',  die  erste  Knospe  schwillt, 


*)  I.  1.  366—373.  •'')  Schellings  Werk  I.  1.  387. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  261 

Zum  ersten  Strahl  von  neugeborenem  Licht, 

Das  durch  die  Nacht  wie  zweite  Schöpfung  bricht, 

Und  aus  den  tausend  Augen  der  Welt 

Den  Himmel  so  Tag  wie  Nacht  erhellt, 

Herauf  zu  des  Gedankens  Jugendkraft, 

Wodurch  Natur  verjüngt  sich  wieder  schafft, 

Ist  Eine  Ki'aft,  ein  Wechselspiel  und  Weben, 

Ein  Trieb  und  Drang  nach  immer  höhern  Leben. "^) 

Das  Wesen  des  Geistes  nun  ist  bedingt  durch  zwei  entgegen- 
gesetzte Funktionen,  eine  positive  und  eine  negative;  jene  geht  ins 
L^nendliche,  diese  als  die  bescluänkende  und  begrenzende  auf  ein 
Endliches;  jene  ist  Tätigkeit,  diese  Leiden.  Wenn  der  Geist  beide  in 
einem  Augenblick  zusammenfaßt,  so  kann  das  Produkt  leider  nur  ein 
Endliches  sein,'  das  aus  entgegengesetzten,  sich  wechselseitig  be- 
schränkenden Funktionen  hervorgeht.  In  dem  Produkt  sind  die  beiden 
entgegengesetzten  Funktionen  des  Geistes  zur  Ruhe  gekommen  und 
erscheinen  hier  als  Ivräfte,  die  nicht  selbst  tätig  sind,  sondern  nur 
dem  äußeren  Anstoß  entgegenwirken.  Die  Materie  ist  somit  nichts 
anderes  als  der  Geist  im  Gleichgewicht  seiner  Kräfte  angeschaut'). 
In  der  Anschauung  seiner  selbst  erfaßt  sich  der  absolute  Geist  als 
ein  Wesen,  das  eine  eigene  Lebenskraft  in  sich  hat,  eine  eigene  ewig 
vorwärtsstrebende,  aus  sich  selbst  sich  hervorbringende  Tätigkeit, 
x\utonomie,  Selbständigkeit,  Macht.  Notwendigerweise  aber  setzt 
der  Geist  etwas  außer  sich,  an  dem  er  diese  Macht  üben,  im  Kampf 
mit  dem  er  sich  betätigen  und  so  zum  Leben  kommen  kann.  Dieses 
notwendige  Außersichsetzen  ist  die  Materie.  Der  Geist  wirkt  und 
schafft  und  schaut  sich  in  seinem  Schaffen  an;  indem  er  das  tut, 
entsteht  eine  Welt,  die  sofort  wieder  von  ihm  überwunden,  in  ihn 
aufgenommen  und  wieder  neu  geschaffen  wird.  Die  Welt  ist  also 
die  Stätte  der  Wirksamkeit  des  Geistes.  Die  ganze  Entwicklung  muß 
daher  aufgefaßt  werden  als  ein  beständiger  Kampf  zwischen  dem 
formenden  Weltgeist  und  der  rohen  Materie. 

In  jedem  Objekt  oder  in  jedem  Produkt  ist  der  Streit  der  l)eiden 
entgegengesetzten  Funktionen  des  Geistes  zur  Ruhe  gekommen;  aber 
er  beginnt  vermittelst  seiner  ins   Unendliche   strebenden  Tätigkeit 


')  I.  4.  546/48. 
')  I.  1.  379,  380. 


262  Karl    Zöcklcr, 

sofort  wieder,  um  sich  in  einer  Reihe  weitei'er  Produkte  zu  objek- 
tivieren. j)ie  ganze  Natur  ist  demnach  die  Geschichte  des  immer 
wieder  zu  neuem  Gegensatz  sich  erh(>l)enden,  in  immer  neuen  objek- 
tiven Produkten  zur  Ruhe  gebrachten  Streites  der  beiden  Funktionen^). 
„Alle  Handlungen  des  Geistes  also  gehen  darauf,  das  UnendMche  im 
Endlichen  darzustellen.  Das  Ziel  aller  dieser  Handlungen  ist  das 
Selbstbewußtsein,  und  die  Geschichte  dieser  Handlungen  ist  nichts 
anderes  als  die  Geschichte  des  Selbstbev^iißtseins.  Jede  Handhmg 
der  Seele  ist  auch  ein  bestimmter  Zustand  der  Seele.  Die  Geschichte 
des  menschlichen  Geistes  also  wird  nichts  anderes  sein  als  die  Ge- 
schichte der  verschiedenen  Zustände,  durch  welche  hindurch  er  all- 
mählich zur  Anschauung  seiner  selbst,  zum  reinen  Selbstl)ewußtseiu 
gelangt."^)  Was  in  dem  absoluten  Geist  oder  dem  Absoluten,  wie 
Schelling  es  kurz  nennt,  ewig  vollendet  ist  und  unwandelbar  dasselbe 
bleibt,  die  lautere,  sich  selbst  vollkommen  gleiche  und  einleuchtende, 
mit  dem  Geist  identische  Vernunft,  erscheint  in  der  Welt  als  ein 
fortschreitender  Entwicklungsprozeß,  dessen  alleinigen  Grund  und 
Inhalt  die  Vernunft  ausmacht^"). 

Ein  und  dasselbe  Wesen  erscheint  in  den  mannigfachen  Stufen 
der  Weltentwicklung.  Alle  Entwicldungsstufen  sind  also,  da  sie  ihren 
aus  der  absoluten  Vernunft  sich  herleitenden  Ursprung  gleichsam 
an  der  Stirne  tragen,  dem  Wesen  nach  identisch;  sie  können  demnach 
nur  graduell  oder  quantitativ  verschieden  sein.  Was  demnach  den 
Kern  und  den  Charakter  der  ganzen  Entwicklung  ausmacht,  ist  das 
differenzierte  Subjekt-Objekt,  d.  h.  die  in  der  Entwicldung  begriffene 
Vernunft"). 

Innerhalb  der  absoluten  Vernunft  herrscht  die  vollkommene 
Identität  zwischen  dem  Subjektiven  und  dem  Objektiven,  zwischen 
Erkennendem  und  Erkanntem.  Da  nun  die  einzelnen  Dinge  auf 
quantitativen  Differenzen  beruhen,  die  in  der  absoluten  Identität 
nicht  möghch  sind,  so  gibt  es  in  dieser  keine  einzelnen  Dinge;  da  die 
absolute  Identität  das  Wesen  aller  Dinge,  „das  einzige  Ansich"  ist, 
so  gibt  es  kein  einzelnes  Ding  an  sich.  Die  Dinge  existieren  nur  insofern, 
als  sie  die  absolute  Vernunft  ausdrückend^). 


")  I.  4.   123.   §  23. 

12)  I.  4.   125.     §§  25—28. 


8)  I.  1.  382 

8)  I.  ].  382. 

1")  I.  4.   119. 

§  1-^ 

Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  263 

Die  quantitative  Differenz  ist  der  Grund  aller  Endlichkeit  der 
Dinge.  Kein  einzelnes  Ding  hat  den  Grund  seines  Daseins  in  sich; 
jedes  ist  bestimmt  durch  ein  anderes  und  darum  begrenzt,  das  andere 
ist  wiederum  bestimmt  durch  ein  anderes  und  so  fort  ins  Unendhche. 
Die  Dinge  bilden  daher  eine  endlose  Eeihe,  in  der  jedes  einzelne  ein 
bestimmtes  und  begrenztes  Ghed  ausmacht.  Den  ewigen  Grund  aber 
und  die  Basis  aller  quantitativen  Differenzen  des  Subjektiven  und 
Objektiven  bildet  deren  totale  Indifferenz,  welche  die  Form  der 
absoluten  Identität  ist.  Die  quantitativen  Differenzen,  wodurch 
die  endlose  Reihe  der  Dinge  gesetzt  ist,  müssen  daher  als  bestimmte 
Formen  der  Arten  des  Seins  der  absoluten  Identität  gelten,  als  deren 
Erscheinungen^^). 

Die  absolute  Identität  selbst  kann  nicht  aufgehoben,  auch  nicht 
an  sich  oder  ihrem  Wesen  nach  verändert,  sondern  nur  in  der  Art  wie 
sie  erscheint,  modifiziert  werden.  Jede  Erscheinung  ist  daher  ein 
Modus  oder  eine  Art  des  Seins  der  absoluten  Identität.  Da  nun  diese 
Art  nichts  anderes  ist,  als  ein  bestimmter  Größenzustand  oder  Grad, 
in  welchem  die  absolute  Einheit  des  Subjektiven  und  Objektiven  er- 
scheint, bezeichnet  Schelling  dieselbe  mit  dem  Worte  „Potenz".  Die 
Dinge  bilden  demnach  eine  Eeihe  von  Potenzen,  deren  ewige,  un- 
verrückbare Basis  die  absolute  Identität  ist.  Jede  Potenz  ist  und 
besteht  nur  als  Glied  der  Reihe;  sie  führt  kein  selbständiges  Dasein 
für  sich;  entweder  sind  alle  Potenzen  oder  keine.  Daher  sind  alle 
Potenzen  zugleich  und  nur  in  ihrer  Gesamtheit  ein  Ausdruck  der 
absoluten  Identität.  Jede  Potenz  ist  in  der  Reihe  aller  ein  notwendiges 
Glied,  ohne  welches  auch  die  Totalität  nicht  sein  kann;  daher  stellt 
jedes  Ding  in  seiner  Weise  die  Totalität  dar.  Diese  im  einzelnen  dar- 
gestellte Totalität  nennt  ScheUing  die  „relative"  im  Unterschied  von 
der  absoluten,  die  das  ganze  oder  den  Inbegriff  aller  Potenzen  aus- 
macht. Dargestellt  ist  in  jeder  Erscheinung  die  Einheit  des  Sul)- 
jektiven  und  Objektiven,  also  die  Totahtät ;  sie  ist  dargestellt  in  einer 
l)estimmten  Form  oder  Potenz,  die  als  solche  in  die  Reihe  aller  gehört 
und  nur  aus  dieser  begriffen  werden  kaim,  daher  „relative  Totahtät."^^) 
In  der  ganzen  Entwicklungsreihe  erscheint  die  Identität,  das  Subjekt- 
Objekt  nur  potenziert  durch  das  Übergewicht  des  einen  oder  anderen 


")  I.  4.   131.     §§  Sl,  38. 
^«)  I.   i.   133.     §§  40—42. 


264  Karl   Zöckler, 

Faktors;  da  nun  die  beiden  Faktoren  nie  getrennt  sein  können,  so  ist 
das  IVIaxinnun  der  Objektivität  das  Mininiuni  der  Subjektivität  und 
umoekehi-t.    Hiernach  stellt  sich  das  erscheinende  Weltall  dar  als  die 
Potenzreihe  eines  und  desselben  Wesens,   des   Subjekt-Objekt,   das 
vom  Minimum  der  Subjektivität  sich  zum  Maxinnim  derselben  erhebt 
und  umgekehrt  vom  Maximum  der  Objelrtivität  zu  deren  ^linimum 
fällt.     Das  Siegende    ist    hiernach    das  Subjektive  oder  der  in  der 
schaffenden  Natur  sich  betätigende  Weltgeist,  das  Unterliegende  das 
Objektive  oder  die  Materie.     Die  Entwicklung  ist  daher  ein  fort- 
währender Kampf  zwischen  dem  formenden  Weltgeist  und  der  Materie, 
ein  Kampf,  in  dem  die  Materie  immer  mehr  unterliegt  und  der  Geist 
zu  immer  größerer  Macht  sich  entfaltet.    Die  Natm-  ist  das  Werden 
des  Geistes,  welcher  aus  der  gebundenen  Form  der  Materie  durch  die 
feinsten  und  zartesten  Übergänge  von  einer  Stufe  zur  anderen  sich 
entwickelt.    ,,Die  Genesis  der  ganzen  Natur  beruht  einzig  auf  einem 
Übergewicht,  welches  fortschreitender  Weise  dem  Subjekt  über  das 
Objekt  bis  zu  dem  Punkte  gegeben  wii'd,  wo  das  Objekt  ganz  zum 
Subjekt  geworden  ist,  im  menschhchen  Bewußtsein.    Was  außer  dem 
Bewußtsein  gesetzt  ist,  ist  dem  Wesen  nach  eben  dasselbe,  was  auch 
im  Be^Mlßtsein  gesetzt  ist.     Die  ganze  Natur  bildet  daher  eine  zu- 
sammenhängende Linie,  welche  nach  der  einen  Richtung  in  über- 
wiegende Objektivität,  nach  der  anderen  Seite  in  entschiedene  Über- 
macht des  Subjektiven  über  das  Objektive  ausläuft ;  nicht  daß  in  dem 
letzteren  Punkte   das   Objekt  völüg  vertilgt  oder  vernichtet  wäre, 
denn  vielmehr  Hegt  es  auch  dem  nun  ganz  in  Subjektivität    ver- 
wandelten noch  immer  zu  Grunde,  sondern  niu"  das  Objektive  relativ 
gegen  das  Subjektive  in  die  Verborgenheit  zurückgetreten,  gleichsam 
latent  geworden  ist,  wie  in  dem  durchsichtigen  Körper  darum,  weil 
er  das  ist,  die  finstere  Materie  nicht  verschwunden,  sondern  nur  in 
Ivlarheit  verwandelt  ist.  In  der  ganzen  Linie  befindet  sich  kein  Punkt, 
wo  nur  das  eine  oder  das  andere  wäre,  auch  auf  dem  äußersten  Punkte 
des  noch  fin  uns  erkennbaren,  aber  übrigens  mit  der  überwiegeudsten 
Objektivität  gesetzten  Realen  zeigt  sich  das  Objektive  schon  von  dem 
Subjektiven  angegTiffen  und  affiziert,  und  ebenso  verhält  es  sich  auf 
dem  entgegengesetzten  Punkte  der  nun  völüg  überwiegenden  Sub- 
jektivität, "i^) 


15 


)  I.  10.  229/30. 


Der  Entwicklnngsgeclanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  26o 

§  3.     Der  Mensch. 

Ihre  höchste  Stufe  erreicht  diese  EntNvicidiing  im  Menschen,  in 
weichem  sich  der  Geist  bis  zu  dem  relativ  höchsten  Grad  der  Voll- 
kommenheit entwickelt  hat.  Im  Menschen  ist  das  engere  Ziel  der 
Natur,  sich  selbst  be^^alßt  zu  werden,  erreicht. 

Vermöge  des  transzendentalen  Gedächtnisses  der  Vernunft  er- 
innert sich  der  Mensch  der  ganzen  Entwicklungsreihe  seines  vor- 
individuellen Seins  bis  zu  seiner  Schöpfung  und  so  erkennt  er  diese 
Entwicklungsreihe  als  seine  eigene  an,  als  ein  Streben  des  Geistes  aus 
der  unbewußten  Form  in  die  bewußte  überzugehen^^). 

Im  Menschen  geht  der  Natur  das  Licht  des  Bewußtseins  auf; 
im  Menschen  gelangt  sie  zur  Selbsterkenntnis.  Vom  Standpunkt 
des  Menschen  oder  in  ScheUingscher  Sprache  vom  Standpunkt  des  Ich 
kann  daher  die  Natur  nur  die  niedere  Potenz  des  Ich  sein,  „das  de- 
potenzierte Ich".  ,,Das  Objekt  hat,  indem  es  in  meine  Hände  kommt, 
bereits  alle  die  Metamorphosen  durchlaufen,  w^elche  nötig  sind,  um 
es  ins  Bewußtsein  zu  erheben.  Das  Objektive  in  seinem  ersten  Ent- 
stehen zu  sehen,  ist  nur  möglich  dadurch,  daß  man  das  Objekt  alles 
Philosophierens,  das  in  der  höchsten  Potenz-Ich  ist,  depotenziert 
und  mit  diesem  auf  die  erste  Potenz  reduzierten  Objekt  von  vorn  an 
konstruiert."^') 

§4.     Die  Kunst. 

Mit  diesem  engeren  Ziel,  welches  im  Menschen  eiTeicht  wird, 
kann  sich  jedoch  die  Natur  nicht  begnügen.  Die  Entwicklung  im 
Menschen  seilest  hat  weiter  zu  streben.  Das  Objekt  muß,  wie  im 
Absoluten,  ganz  in  das  Subjekt  übergehen,  was  im  Menschen  nur 
relativ  erreicht  ist.  Die  Differenzierung  des  Subjekt-Objekt  aus  dem 
Absoluten  kann  nicht  das  Ziel  der  Natur  sein,  sondern  nur  das  Mittel, 
um  dieses  Ziel  zu  erreichen.  Wie  die  Natur  aus  dem  Absoluten  hervor- 
gegangen ist,  so  muß  das  Ziel  auch  wieder  im  Absoluten  gesucht 
werden.  Das  System  kehrt  in  seinen  Ausgangspunkt  zurück;  das  Ziel 
des  aus  dem  Absoluten  entsprungenen  Entwicklungsprozesses  kann 
nur  die  anhand  desselben  gewonnene  absolute  Indifferenz  des  Sub- 
jektiven und  0])ielctiven  sein,  wie  sie  in  dem  Absoluten  besteht.    Das 


1«)  I.  4.  77. 
1")  T.  4.  85. 


266  Karl  Zöckler, 

Streben  des  Menschen  muß  daher  nach  Schellino-  darauf  gerichtet 
sein,  alles,  was  als  objektive  Macht  ihn  in  seiner  Entwicklung  hemmt, 
abzuwerfen,  sich  frei  und  stark  ihm  gegenüber  zu  behaupten  und  so 
sich  immer  mehr  dem  Absoluten  anzunähern.  Das  höchste  Gesetz 
für  den  Menschen  ist  sonach:  Sei  absolut,  identisch  mit  dir  selbst. 
Das  unendliche  Ich  ist  die  absolute,  freie  Tätigkeit ;  f iii-  das  endhche 
Teil  ist  es  eine  morahsche  Forderung,  das  zu  werden. 

.,Die  große  Absicht  des  Universum  und  seiner  Geschichte  ist 
keine  andere  als  die  vollendete  Versöhnung  und  Wiederaiiflösung  in 
die  Absolutheit.  "18) 

Den  höchsten  Grad  der  Annäherung  an  dieses  Ziel  sieht  Schelling 
in  der  absoluten,  freien  Tätigkeit  des  künstlerischen  Schaffens.  Da 
das  Ich  sieh  hier  in  seiner  eigenen  Tätigkeit  als  bewußt  und  bewußtlos 
zugleich  anschaut,  so  tritt  an  die  Stelle  der  Natur  die  Kunst.  Eben 
das  ist  nämlich  nach  Schelling  das  unterscheidende  Merkmal  alles 
künstlerischen  Schaffens,  daß  in  ihm  die  bewußte  und  bewußtlose 
Tätigkeit  schlechthin  zusammenfallen,  d.  h.,  daß  mit  Freiheit  etwas 
erzeugt  wird,  was  in  seiner  Vollendung  die  Notwendigkeit  eines  Natur- 
produktes hat.  In  der  Vereinigung  dieser  beiden  Elemente  kommt 
dem  Ich  seine  eigene  Unendhchkeit,  das  Absolute,  aus  dem  alle  seine 
Tätigkeit  ursprünghch  hervorging,  zur  Anschauung.  Der  Künstler, 
oder  vielmehr  sein  Dämon,  das  Genie,  stellt  in  seinem  Werk  die 
schaffende  Natur  selbst  dar,  ohne  zu  wissen,  was  er  tut,  naiv  wie  die 
Natur  selbst.  Vom  Künstler  gilt  das  Schillersche  AVort: 
„Und  was  kein  Verstand  der  Verständigen  sieht, 
Das  ül)t  in  Einfalt  ein  kincUich  Gemüt." 

Unendlich  wie  die  Macht  des  Unbe\mßten,  .die  den  Künstler 
erfüllt  und  di'ängt,  ist  in  ihm  der  Gegensatz  zwischen  der  bew^ißt- 
losen  und  der  bewußten  endhchen  Tätigkeit.  Das  Gefühl  dieses  Wider- 
spruchs treibt  den  schaffenden  Künstler  und  läßt  ihn  nicht  ruhen, 
bis  er  denselben  aufgelöst  hat  in  dem  vollendeten  AVerk.  Die  Lösuno 
ist,  wie  der  Widerstreit,  den  sie  aufhebt,  ebenso  umfassend  und  tief. 
Daher  nach  den  erhabenen  Schmerzen  des  genialen  Schaffens  das 
Gefühl  einer  unendhchen  Befriedigung  im  Künstler,  der  Ausdruck 
unendlicher  Harmonie  im  Kunstwerk.  Was  der  Künstler  als  erhabene 
Befriedigung  empfindet,  geht  in  sein  Werk  über  und  erscheint  hier 


18 


)  T.  6.  43. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schelling.s  Xatm-philosoy)hie.  267 

als  der  Ausdruck  der  Ruhe  und  stillen  Größe.  Die  geistige  Macht, 
welche  über  das  eigene  Be\vußtsein  hinaus  das  Unendliche  in  ihr 
Werk  legt,  ist  das,  was  wir  Genie  nennen;  auf  der  Darstellung  dieses 
Unendhchen  im  endlichen  Produkt  beruht  alle  Schönheit.  Die  ästheti- 
sche Anschauung  ist  die  objektiv  gewordene  intellektuelle;  durch  das 
Wunder  der  Kunst  wird  das  absolut  Identische,  welches  an  sich 
weder  subjektiv  noch  objektiv  ist,  aus  ihren  Produkten  zurück- 
gestrahlt, das  System  kehrt  in  seinen  Anfangspunkt  zurück.  In  dem 
Genie  kommt  die  schöpferische  Tätigkeit  der  Intelligenz  zum  Ab- 
schluß, das  Genie  ist  daher  die  höchste  Produktion,  oder,  wie  Schelling 
es  nennt,  die  höchste  Potenz  ^^).  Wie  hier  Schelling  das  Genie  faßt, 
so  soU  noch  nicht  damit  gesagt  sein,  daß  es  das  Absolute  selbst  sei. 
Es  kann  nur  als  ein  hoher  Grad  der  Annäherung  an  das  Absolute 
gefaßt  werden.  Das  Genie  ist  nur  die  höchste,  in  der  Entwicklung 
des  Menschen  erreichte  Form  oder  Potenz;  denn  die  Bestimmung  des 
]\Ienschen  ist  nach  ScheUing  ewiges,  unendhches  Streben  nach  dem 
Absoluten.  Dieses  Werden  und  Streben  aber,  das  Schelling  als  das 
AVesen  des  Menschen  aufstellt,  wäre  nicht  mehr  da,  sobald  das  Ziel 
erreicht  wäre.  So  ist  es  also  nicht  nur  eine  theoretische  Nötigung  für 
ihn,  sondern  vielmehr  durch  sein  eigenes  praktisches  Interesse  be- 
dingt, daß  er  das  Erreichen  dieses  Zieles  für  unmöglich  erklärt. 
Schellings  Weltanschauung  besagt  also:  Die  Bestimmung  des  Menschen 
ist  ewiges,  unendhches  Streben  nach  dem  Absoluten,  welches  nie  sein 
Ende  finden  wird,  also  unendhche  Entwicklung. 

Überbhcken  wir  von  hier  aus  die  vorhergehende  Schilderung, 
so  müssen  wir  die  ganze  Entwicldung  als  eine  kontinuierhch  fort- 
schreitende Veränderung  betrachten,  die  aus  dem  Absoluten  als  der 
vollkommenen  Indifferenz  des  Objektiven  und  Subjeldiven  hervor- 
gegangen, sich  in  die  beiden  Faktoren  des  Subjektiven  und  Objektiven 
trennt,  derart,  daß  in  der  ganzen  Entwicklungsreihe  die  beiden 
Faktoren  in  jedem  Produkt  vereinigt,  jedoch  graduell  oder  quantitativ 
von  einander  verschieden  sind.  In  dem  Stufenreiche  der  unorganischen 
Natur  hat  das  Objektive  oder  die  Materie  das  Übergewicht,  während 
in  der  organischen  Natur  das  Subjektive  oder  der  Geist  überwiegt, 
der  durch  die  feinsten  und  zartesten  Übergänge  durch  die  Entwicklungs- 
reihe des  Pflanzen-  und  Tierreichs  zu  immer   höherer  Macht  und 


I.  3.  612—624. 


268  •<<ni   Zöcklcr, 

Gcltima'  "clanot,  bis  er  schließlich  im  Menschen,  insbesondere  im 
Genie,  seine  höchste  Potenz  erreicht.  Die  ganze  Entwicklung  kenn- 
zeichnet sich  daher  als  beständiges,  kontinnierliches  Steigen  der  welt- 
erkennenden nnd  weltproduzierenden  Subjektivität,  welches  not- 
wendig mit  einem  beständigen,  kontinuierlichen  Sinken  des  anderen 
Faktors,  des  Objektiven,  verbunden  ist.  Die  Natur  ist  sonach  in  dem 
ganzen  Stufenreiche  werdender  Geist,  der,  hervorgegangen  aus  dem 
Absoluten,  dem  ,,ewig  Unbewußten",  sich  in  den  endlichen  Individuen 
zum  Bewußtsein  emporringt.  Schelling  wendet  diesen  Begriff  des 
Bewußtseins  auf  die  Natur  als  auf  das  Produkt  der  Vernunft  an  und 
verlangt,  daß  die  verschiedenen  Stufen  als  „die  Kategorien  der  Natur-' 
d.  h.  als  die  notwendigen  Formen  begriffen  werden,  in  denen  die 
Vernunft  aus  der  unbewußten  in  die  bewußte  Gestalt  emporsteigt. 
Hierdurch  ist  die  Kichtung  der  ganzen  Entwicldung  —  eine  zum 
Geist  hinstrebende  Natur  —  festgelegt. 


Kap.  II.    Dynamische  Entwicklung. 
1.  Abschnitt.  Unorganische  Natur. 

§  1.     Übergang  zur  dynamischen  Betrachtungsweise. 

Eine  Fortführung  und  Ergänzung  dieser  ,, transzendentalen" 
Ausführungen  über  das  Wesen  der  Entwicklung  bildet  nun  aber  die 
Betrachtung  derselben  unter  dem  Gesichtspunkt  der  inneren  Einheit 
der  Natur  als  solcher.  Die  aus  dieser  sich  ergebende  Entwicklungs- 
reihe und  die  vorher  geschilderte  transzendentale  stehen  bei  ScheUing 
in  notwendiger  Beziehung  zu  einander.  Die  letztere  ist  streng  philosophi- 
scher Ai-t  und  bildet  das  Band  zwischen  Naturphilosophie  und  Geistes- 
philosophie, zwischen  Natur  und  Geist;  jene  dagegen  steht  im  Bunde 
mit  den  empirischen  Wissenschaften  und  lehi't  uns  die  Natur  er- 
kennen, wie  sie  in  ihrer  realen,  der  transzendenten  entgegengesetzten 
Sphäre  sich  darstellt.  Je  eingehender  sich  Schelling  mit  dem  Studium 
der  Naturwissenschaften  beschäftigte,  desto  mehr  kam  er  zu  der  Er- 
kenntnis, daß  er  in  der  Natur  etwas  Wirldiches,  Reales  vor  sich  habe. 
Nach  der  transzendentalen  Betrachtung  war  jede  Entwicklungsstufe 
eine  flüchtige  und  vergängliche  Erscheinung  des  Absoluten  und  los- 
gelöst von  diesem  kam  ihr  keine  Selbständigkeit  zu.  Die  Natur  wa)- 
nur  die  subjektive  Erscheinung  des  Geistes;  in  der  nun  folgenden 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturpliilosophie.  269 

Betrachtung  der  Natur  als  Entwicklungsreihe  dagegen  tritt  sie  als 
wirkliche  Realität  heraus. 

Was  jenem  (dem  transzendentalen)  Erklärungsprinzip  An- 
schauungen sind,  sind  diesem  Kräfte;  was  jenes  auf  die  not- 
wendigen Anschauungen  des  Geistes  zurückführt,  leitet  dieses  ab  aus 
den  notwendigen  lü-äften  der  Materie^). 

In  dem  Wesen  des  Geistes  als  solchem,  d.  h.  sofern  er  nicht  ledig- 
lich als  anschauend  erfaßt  wird,  erscheinen  die  beiden  Tätigkeiten, 
die  positive  und  die  negative,  welche  die  Anschauung  in  der  Materie 
vereinigt  hatte,  als  Kräfte,  die  der  Materie  innewohnen;  die  positive 
Tätigkeit  des  Geistes  tritt  als  positive  Ki'aft  der  Materie  hervor,  als 
Expansivkraft,  welche  jeder  Beschränkung  ein  unendhches  Bestreben 
entgegensetzt;  die  negative  Tätigkeit  als  das  Gegenteil  derselben,  als 
Atraktivkraft.  Jene  würde  uneingeschi-änkt  einen  unendlichen  Raum, 
diese  ein  absolutes  Ineinander,  den  Punkt,  das  Symbol  der  Zeit,  ent- 
stehen lassen.  Damit  aber  eine  ursprüngliche  Grenze  in  den  Raum 
gesetzt  werde,  an  der  die  Evolution  gehemmt  wird,  muß  zu  diesen 
beiden  noch  eine  dritte  Ivi'aft  liinzukomm.en,  welche  jene  unsteten 
Kräfte  fixiert  und  ihr  gegenseitiges  Verhältnis  reguliert.  Diese  dritte 
Kraft  ist  die  Schwerkraft.  So  sind  also  die  Faktoren,  aus  denen  die 
Materie  folgt,  transzendental,  die  in  ihr  wirken,  dynamisch.  Mithin 
ist  die  Entwicldung  der  Materie  eine  dynamische  Stufenfolge 2^). 

§  2.    Entstehung  der  Erde. 

Alle  Entwicklung  setzt  eine  identische,  in  sich  lebendige  Ur- 
materie  voraus.  Das  gemeinsame  Band,  welches  die  Teile  dieser 
Masse  zusammenhält,  besteht  bei  Schelling  in  ihrer  gemeinsamen 
Unterordnung  unter  das  Ganze  der  Masse,  welche  ilii'e  Zusammen- 
gehörigkeit bewirkt  und  erhält.  In  dieser  Vorstellung  erscheint  das 
System  der  Massen  vergleichbar  mit  einem  Staate,  in  welchem  eine 
Masse  andere  unter  sich  begreift  und  beherrscht,  während  sie  selbst 
und  die  Verbindung  ihi'er  Teile  von  der  Macht  einer  höheren  Masse 
abhängt.  Die  herrschende  Masse  ist  immer  „zentral",  die  ihr  unter- 
geordnete „subaltern";  beide  gehören  in  spezifischer  Weise  zusammen, 
sia  stehen  einander  in  dem  Reiche  der  Weltkörper  am  nächsten  und 


20)  I.  4.  75—78,   §  63. 

21)  I.  2.  213—227. 


270  Karl  Zöckler, 

bilden,  wie  Schellin«-  sagt,  „eine  bestimmte  Afiinitätssphäiv'.  Die 
verschiedenen  Bildungszustände  der  Welt  sind  die  Affinitätssphäi'en, 
die  in  dem  Unterschiede  zentraler  nnd  snbalterner  Körper  bestehen  ^'-j. 
Während  nach  Kants  Hypothese  die  Lusreißiing  peripherischer 
Massen  durch  die  Rotation  der  kugelförmigen  Zentralmasse  und  die 
damit  verbundene  zentrifugale  Gewalt  des  Umsch\\'ungs  erfolgt, 
läßt  Schelling  die  Weltsysteme  durch  eine  fortgesetzte  Kontraktion 
und  Expansion  des  Urstoffs  entstehen;  die  Planeten  durch  eine  ruck- 
weise Zusammenzichung  des  Zentralkörpers,  mit  der  jedesmal  eine 
Ausstoßung  (Explosion)  der  in  ihm  befindlichen  Massen  verbunden 
sein  mußte.  Die  erste  Zusammenziehung  der  Urmaterie  bildet  bei 
Schelling  den  Anfang  der  Weltbildung,  das  Verhältnis  der  ursprüng- 
lichen und  ausgestoßenen  Massen  die  erste  Affinitätssphäre  und  zu- 
gleich den  Ansatz  einer  Reihe  zentraler  Massen,  die  durch  den  fort- 
gesetzten Wechsel  von  Kontraktion  und  Expansion  neue  und  engere 
Affinitätssphären  bilden '^^).  Unter  den  Verhältnissen  der  Welt- 
körper ist  uns  das  nächste  und  erkennbarste  das  zwischen  Sonne 
und  Erde.  Die  Tendenz,  welche  die  Erde  gegen  die  Sonne  hat,  ist 
allen  irdischen  Körpern  gemeinsam.  Durch  diese  Gemeinschaft  sind 
sie  wechselseitig  verknüpft  und  an  einander  gebunden.  Sie  stehen 
im  wechselseitigen  Verhältnis  sowohl  unter  sich  als  gegen  die  Sonne. 
Hierauf  gründet  sich  Schellings  H}^3othese  von  dem  Ursprung  der 
Erde,  die  nach  seinem  System  durch  Kontraktion  und  Expansion, 
die  in  der  Urmaterie  wirksamen  Ki'äfte,  entstanden  ist. 

§  3.     Die  drei  dynamischen  Formen. 

Wir  kommen  nun  aber  bei  der  Betrachtung  der  dynamischen 
Entwicklung  nicht  mit  einer  einheitlichen  Darstellung  aus,  sondern 
gelangen,  je  nach  dem  Standpunkt,  von  welchem  wir  ausgehen,  zu 
verschiedenen  Ausdi'ucksweisen  für  dasselbe  Problem,  die  sich  bei 
Schelling  allerdings  gegenseitig  durchdringen,  die  aber  der  Deuthch- 
keit  halber  getrennt  vorgeführt  werden  müssen.  Die  erste  Formel, 
unter  der  Schelling  die  dynamische  Entwicklung  betrachtet,  ist  die 
Selbstproduktion  der  Natur.  Die  Spaltung  in  immer  neue  Gegen- 
sätze, die  sich  durch  das  Verhältnis  der  Expansiv-  und  Attraktivki-aft 


22)  I.  3.  109. 

23)  I.  3.  116—118. 


Der  Entwicklungsgedaiike  in  Schellings  Naturphilosophie.  271 

l)estimmeii,  kann  nicht  das  Ziel  der  Entwicklung  sein.  Da  in  Schellings 
Gedankengang  die  ursprüngliche  Identität  der  Natur  feststeht,  welche 
vor  allen  Gegensätzen  war,  so  kann  das  Ziel  aller  Entwicklung  nur 
in  der  Wiederherstellung  dieser  Identität  gesucht  werden.  Das  ist 
das  Ideal,  welchem  die  Entwicldung  zustrebt.  Die  Verwirküchung 
dieses  Ideals  ist  aber  nach  ScheUing  unmögUch.  Denn  obwohl  die 
Schöpfungskraft  der  Natur  nur  auf  das  Ganze  gerichtet  ist,  so  erleide^" 
sie  an  den  ursprünglich  in  der  Natur  ausgesteckten  Hemmungspunkten 
verschiedenartige  Brechungen,  infolgedessen  sich  statt  eines  voll- 
endeten Produktes  unzähhge  Scheinprodukte  bilden,  in  denen  das 
Ideal  der  Natur  nicht  erfüllt  ist.  Die  Schöpfungski-aft  der  Natur  kommt 
also  nicht  über  die  Schi'anken  des  Einzelheiten-Schaffens  hinaus  und 
wird  von  ihi'em  Ideal  zur  Bildung  mannigfacher  Arten,  Abarten  und 
Individuen  abgelenkt.  Die  Entwicklung  erscheint  Schelhng  zweitens 
als  Differenzierung  der  Materie.  Aus  den  Naturwissenschaften  hatte 
er  die  Überzeugung  von  der  großen  AVichtigkeit  der  Gegensätze  in 
der  Natur  gewonnen  und  war  dadurch  veranlaßt  worden,  den  Dualismus 
und  die  Polarität  zu  Hilfsprinzipien  seiner  Naturpliilosophie  zu  machen. 
Obwohl  seine  Lehre  durch  und  durch  monistisch  war.  kam  er  so  dazu, 
alle  Einheit  und  alles  Geschehene  in  der  Natur  nur  durch  die  Über- 
windung immer  neuer  Gegensätze  vor  sich  gehen  zu  lassen.  Die  Ent- 
wicklung dieser  Gegensätze  ist  die  Differenzierung.  Die  ganze  Ge- 
schichte der  Natur  von  der  Bildung  der  Weltkörper  an  bis  zum  Empor- 
tauchen des  Menschen  aus  der  organischen  Natur  soll  geschehen 
durch  die  ins  Unendliche  gehende  Differenzierung  der  Materie.  Jeder 
neue  Differenzierungspunkt  entspricht  einer  neuen  Entwicklungs- 
stufe. Die  Natur,  ursprünglich  identisch,  muß  sich  differenzieren, 
um  aus  den  Gegensätzen  immer  wieder  zur  Indifferenz  zurückzustreben. 
Das  durch  die  Differenzierung  veranlaßte  Streben  nach  der  Indifferenz 
ist  aie  bewegende  Ursache  aller  Entwicldung.  Nach  einer  dritten 
Formuherung  bezeichnet  ScheUing  die  Entwicklung  als  dynamischen 
Prozeß.  Hiernach  läßt  er,  beeinflußt  durch  Kielmeyers  Kede  „Über 
das  Verhältnis  der  organischen  Ki'äfte"  die  Verschiedenheit  der 
Organisation  durch  das  verschiedene  Maß  der  Kräfteverteilung  der 
Reproduktion,  der  IiTitabilität  und  der  Sensibiütät  entstehen.  Die 
Organisationen  sind  verschieden  nicht  als  Arten,  sonst  wären  sie  ohne 
gegenseitige  Beziehung,  sondern  nach  dem  Verhältnis  der  organischen 
Kräfte,  nach  dem  Grade,  in  welchem  diese  verteilt  sind  oder  die  eine 


, 


272  Karl  Zöckler, 

die  andere  überwiegt.  Unter  diesem  Gesichtspunkte  erscheinen  die 
organischen  Formeln  und  Arten  als  Abstufungen  der  organischen 
Kräfte,  als  einbegriffen  in  einer  Skala  der  Zu-  und  Al)nahme  derselben. 
Das  Gesetz  der  Verteilung  der  Zu-  und  Abnahme  in  der  Wirksamkeit 
jener  Kräfte  ist  der  Kardinalpunkt  in  Ivielmeyers  Rede.  Dieselbe 
Kräfteverteilung  besteht  aber  auch  in  der  unorganischen  Natur;  nur 
beruht  hier  die  Entwicklung  auf  dem  jedesmal  verschiedenen  gegen- 
seitigen Verhältnis  der  unorganischen  Ivi'äfte.  Der  Übergang  von  der 
einen  Natur  zur  anderen  soll  durch  die  unterste  organische  Kraft,  die 
Reproduktion,  stattfinden.  Daß  die  Natur  durchgängig  aktiv  ist  und 
daß  das,  was  in  ihr  als  graduelle  Verschiedenheit  ihrer  Grundkräfte 
erscheint,  durch  ihre  eigene  Kraft  und  Tätigkeit  bewirkt  ist,  nennt 
Schelling  den  dynamischen  Prozeß,  der  in  seinem  Wesen  einer  und 
derselbe  ist  unr*  nur  seine  Erscheinungsformen  ändert.  Das  sind 
die  tlrei  dynamischen  Formeln,  unter  denen  Scheüing  die  Entwicldung 
faßt.  Was  sie  unter  sich  und  mit  der  transzendentalen  Fassung  gemein 
haben,  ist  vor  allem  das,  daß  die  Natur  überall  als  das  Subjekt  der 
Entwicklung  gefaßt  wird.  Sie  ist  das  Subjekt  des  Be\\T.ißt Werdens 
und  das  Subjekt  aller  Metamorphosen,  welche  sie  in  dem  dynamischen 
Prozeß,  in  der  Differenzierung  der  Materie  und  in  ihrer  Selbstprodulrtion 
durchmacht.  Die  Natur  existiert  in  Wirküchkeit  nur  als  die  ewig 
schaffende,  als  natura  naturans;  die  natura  naturata  dagegen  existiert 
erst  als  das  Objekt  unserer  Reflexion. 

Den  Ausgangspunkt  dieser  drei  Entwicldungsformen,  welche  im 
Grunde  dasselbe  besagen,  bildet  inmier  Polarität  und  Duahsmus. 
Die  Frage,  die  sich  Schelling  bei  dem  Ausgangspunkte  seiner  Ent- 
wicklungslehi-e  vorlegte,  war:  Was  ist  in  allen  Naturerscheinungen 
das  Gemeinsame,  ^vas  ist  in  allen  Erscheinungen  das  gemeinsame, 
tätige  Naturprinzip?  Worin  sind  Materie,  Magnetismus,  Elektrizität, 
chemischer  Prozeß,  Leben,  Organisation  identisch?  Das,  wonach 
hier  gefragt  wird,  ist  der  Punkt,  der  von  vornherein  die  ganze  dynami- 
sche Entwicklung  bestimmt.  In  der  Natur  ist  überall  die  Aktion  durch 
Gegensätze,  das  Produkt  durch  entgegengesetzte  Tätigkeiten  be- 
stimmt, die  sich  wie  Positives  und  Negatives  zu  einander  verhalten: 
Die  Materie  durch  die  lü-aft  der  Ausdehnung  und  Anziehung,  der 
Magnetismus  durch  den  Gegensatz  der  Pole,  die  Elektrizität  durch 
den  Gegensatz  positiver  und  negativer  Elektrizität,  die  chemische 
Anziehung  und  Verwandtschaft  durch  den  Gegensatz  der  Stoffe,  das 


I 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturpliilosopliie.  273 

Leben   durch   den   Gegensatz   der  Erregbarkeit  und  Erregung,   die 
Organisation  durch  den  Gegensatz  der  organischen  lü'äfte. 

Die  Natur  wirkt  in  allen  ihi'en  Erscheinungen  durch  Gegensätze, 
die  nicht  etwa  die  Einheit  der  Natur  aufheben,  vielmelu-  in  und  durch 
dieselbe  bestehen,  daher  nicht  als  eine  Zweiheit  von  Prinzipien,  sondern 
als  eine  Entzweiung  des  Ureinen,  als  Duahsmus  in  diesem  Sinne, 
betrachtet  sein  wollen.  Diese  Gegensätze,  wo  und  wie  sie  immer  auf- 
treten, sind  einander  nicht  fremd,  sondern  gehören  zusammen,  sind 
notwendig  auf  einander  bezogen  und  streben  nach  Vereinigung  und 
Ergänzung.  Es  sind  Gegensätze  innerhalb  eines  und  desselben  Wesens, 
die  sich  daher  als  Pole  zu  einander  verhalten.  Die  Entzweiung  des 
Einen  ist  Selbstentgegensetzung.  Daher  liezeichnet  Schelling  diese 
Dualität  der  Natur,  die  Allgegenwärtigkeit  der  in  ihr  wirksamen 
Gegensätze,  als  ,, Polarität' .  Polare  Gegensätze  entstehen  aus  der 
Entzweiung  des  Einen  und  suchen  ihre  Vereinigung.  Daher  heißt 
das  Grundgesetz  der  Polarität:  Identisches  setzt  sich  entgegen  (ent- 
zweit sich),  Entgegengesetztes  strebt  nach  Vereinigung  (setzt  sich 
identisch) '^'^).  Schelling  hat  das  Wort  Polarität,  das  in  der  Entwick- 
lungslehre eine  t}^ische  Formel  bildet,  aus  der  Physik  entlehnt,  aber 
im  weitesten  Sinne  genommen.  Polarität  bedeutet  bei  ihm  nicht  nur 
ein  Naturgesetz,  sondern  ein  Weltgesetz  und  ist.  in  seinem  Sinn  der 
physikahsche  Ausdruck  eines  Universalprinzips. 

Das  Entwicklungsprinzip,  welches  die  ganze  Natur  umfaßt, 
besteht  darin,  daß  sich  Identisches  entgegensetzt,  Entgegengesetztes 
nach  Identität  strebt,  aus  der  sich  neue  Gegensätze  erzeugen,  die 
wieder  vereinigt  sein  wollen  usw.  bis  ins  Unendliche.  Wo  solche  Wider- 
sprüche hervortreten  und  sich  auflösen,  so,  daß  immer  noch  ein  Rest- 
betrag übrig  bleibt,  der  sich  in  neue  Gegensätze  scheidet,  um  in  höheren 
Formen  wieder  zu  erscheinen  und  neue  Lösungen  zu  suchen,  da  ist 
Entwicklung.  Die  Polarität  im  weitesten  Sinne  gilt  bei  Schelüng  als 
das  eigenthche  Entwicklungs-  oder  Produktionsprinzip  der  Natur, 
als  deren  innerste  Wirkungsart,  als  die  „Weltseele"  selbst. 

Die  Einheit  vor  jedem  Gegensatze  nennt  Schelhng  ,, Identität"; 
die  Einheit,  die  aus  demselben  hervorgeht,  ,, Indifferenz".  Die  letztere 
ist  bedingt  und  vermittelt  durch  den  Gegensatz  der  Kräfte;  sie  ist 
daher  an  die  wirksame  Fortdauer  derselben  gebunden  und  wäre  mit 


2*)  I.  2.  459,  476. 
Archiv  lür  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIIl.  3.  ig 


274  Karl  Zöckler, 

seiner  Verniditiino-  selbst  vernichtet.  Daher  kann  in  jeder  Entwick- 
hmgsstufe  die  Indifferenz  nie  total,  sondern  nur  teilweise  erreicht 
werden;  es  kann  in  der  Natur  nie  zu  einem  Produkt  kommen,  welches 
, .absolute  Indifferenz"  wäre.  Jedes  Naturprodukt  ist  ein  ,, relativer 
Indifferenzpunkt"  und  es  nniß  daher  eine  unendliche  Reihe  solcher 
Produkte  geben,  die  ihre  Einheit  (absolute  Indifferenz)  erstreiken, 
aber  nicht  erreichen;  in  jedem  Produkt  müssen  die  es  bedingenden 
entgegengesetzten  Kräfte  sich  gegenseitig  derart  binden,  daß  ein 
Gleichgewicht  stattfindet.  In  diesem  Gleichgewicht  ist  das  Produkt 
fixiert;  es  ruht  und  erscheint  als  das  Beharrhche  alles  Wechsels  und 
aller  Veränderung.  Dieses  Gleichgewicht  darf  aber  kein  absolutes 
sein;  es  muß  immer  noch  ein  Restbetrag  von  Ri'aft  übrig  bleiben,  der 
sich  in  neue  Gegensätze  scheidet,  die  wieder  ihi'e  Vereinigung  suchen 
usw.  bis  ins  Unendliche  ^^).  Nur  so  ist  eine  ins  Unendhche  gehende 
Entwicklung  möghch.  Das  Produkt,  in  welchem  sich  die  schaffende 
Natur  konzentriert,  kann  nur  ein  solches  sein,  das  den  Trieb  zu  un- 
endlicher Entwicklung  in  sich  hat.  In  jedem  liegt  der  Keim  eines 
Universums. 

Da  nun  die  Grundform  alles  dynamischen  Prozesses  in  der  In- 
differenzierung  der  differenzierten  Materie  besteht,  so  gibt  es  in 
diesem  Prozeß  gerade  so  viel  Stufen,  als  es  Stufen  des  Übergangs  aus 
Differenz  in  Indifferenz  gibt"^^). 

§  4.    Die  Wirkungsart. 

Die  Art  des  Überganos  aus  Differenz  in  Indifferenz  kann  nun 
eine  dreifache  sein.  Die  Differenz  tritt  entweder  hervor  zwischen  den 
einfachen,  in  jedem  Körper  wirksamen  Falrtoren  (Kräften)  oder 
zwischen  den  Produkten,  d.  h.  den  verscliiedenen  Körpern  und  zwar 
so,  daß  die  beiden  verschiedenen  Körper  einander  entgegengesetzt 
sind  entweder  als  Faktoren,  so  daß  der  Körper  A  den  einen,  der 
Körper  B  den  entgegengesetzten  Faktor  darstellt,  oder  als  Produkte, 
so  daß  jeder  Körper  beide  Faktoren  enthält,  aber  in  A  der  eine,  in  B 
der  entgegengesetzte  Faktor  das  absolute  Übergewicht  hat.  Im  ersten 
FaU  besteht  die  Indifferenz,  in  welche  der  Übergang  stattfindet,  in 
der  Aufhebung  des  Gegensatzes,  d.  h.  im  Indifferenzpunkt,  im  zweiten 


25)  I.  3.  307—311. 

26)  I.  3.  315. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  275 

im  relativen  Gleichgewiclit  der  Körper,  d.  h.  in  der  Ausgleichung 
des  Gegensatzes,  im  dritten  in  der  gegenseitigen  Durchdringung  der 
Körper,  d.  h.  in  der  Bildung  eines  neuen  Produkts.  Die  erste  Form 
ist  der  Magnetismus,  die  zweite  die  Elektrizität,  die  dritte  der  chemische 
Prozeß.  Im  Magnetismus  herrscht  die  Differenz  der  Ki'äfte  (Faktoren), 
im  elektrischen  und  chemischen  Prozeß  die  Differenz  der  Körper ;  im 
elektrischen  Prozeß  kommt  es  zum  relativen  Gleichgewicht  (die  Körper 
bleiben  different),  im  chemischen  zum  absoluten  Gleichgewicht,  zur 
oegenseitigen  Durchdringung,  zur  wirklichen  Indifferenz.  Im  chemi- 
schen Prozeß  verhalten  sich  die  Körper,  wie  im  Magnetismus  die 
Ivräfte  (Faktoren)  ^^). 

Da  die  Raumerfüllung  der  Materie  in  den  drei  Dimensionen  der 
Länge,  Breite  und  Tiefe  geschieht,  so  entsteht  die  Frage :  Welche  von 
den  cü-ei  Funktionen  der  Materie  (Magnetismus,  Elektrizität,  chemischer 
Prozeß)  bedingt  jede  dieser  drei  Dimensionen ?2^). 

Die  ursprüngliche  Kraft  ist  die  Ex})ansivki-aft ;  denn  die  Gegen- 
kraft, welche  diese  einschränkt,  setzt  die  Wirksamkeit  derselben 
voraus.  Nehmen  wir  an,  die  Expansivkraft  beginne  in  dem  Punkte  A 
zu  wirken,  so  herrscht  sie  in  diesem  Punkte  ganz  allein:  sie  wirkt 
von  A  aus  nach  allen  Richtungen  zentrifugal.  Erst  in  allmählicher 
Entfernung  von  A  beginnt  die  zentripetale  Wirkung  der  Gegenki-aft; 
sie  ist  zunächst  noch  gering,  wird  aber  mit  zunehmender  Entfernung 
von  A  immer  größer  und  schi'änkt  dadurch  die  ExjDansivkraft  immer 
mehi-  ein.  Verfolgen  wir  die  Wirkung  der  beiden  Ivräfte  weiter,  so 
gelangen  wü*  schheßhch  an  einen  Punkt  B,  in  welchem  die  Attraktiv- 
ki-aft  die  Ex}3ansivkraft  völlig  vernichtet  hat ;  wir  haben  also  in  B  das 
Maximum  der  Attraktivkraft  und  das  Minimum  der  Exijansivki'aft, 
während  in  A  das  umgekehi'te  Verhältnis  der  Kräfte  herrscht.  Da  nun 
von  A  nach  B  die  Expansivki'aft  stetig  abnimmt,  wähi-end  die  Attraktiv- 
ki-aft  in  derselben  Richtung  stetig  wächst,  so  muß  es  zwischen  A  und  B 
einen  Punkt  geben,  in  dem  beide  Kräfte  einander  gleich  sind  und,  da 
sie  in  entgegengesetzter  Richtung  wirken,  sich  einander  das  Gleich- 
gewicht halten.  Dieser  dritte  Punkt  ist  der  Indifferenzpunkt  C.  In 
ihm  herrscht  das  relative  Gleichgewicht  der  beiden  Kräfte.  Das 
Produkt  beider  Ivi'äfte  ist  demnach  die  Linie  oder  die  reine  Dimension 


2')  I.  3.  31.5—321. 
28)  1.  4.  4.     §  4. 

18* 


276  Karl   Zöckler, 

der  Länge  ^^).  „Solange  beide  Kräfte  in  dem  Punkt  C  sich  ein  relatives 
Gleichgewicht  halten,  ist  durch  dieselben  nichts,  als  die  Linie  oder 
die  reine  Dimension  der  Länge  gegeben.  Denn  sowie  die  beiden  einmal 
entzweiten  Kräfte  zum  relativen  Gleichgewicht  tendieren,  können  sie 
nichts  anderes  als  die  in  Kontinuität  stehenden  drei  Punkte  hervor- 
bringen, welche  soeben  deduziert  worden  sind.  Die  Linie  oder  die 
Länge  kann  also  auch  in  der  Natur  nur  durch  jene  drei  Punkte  oder 
unter  der  Form  jener  drei  Punkte  existieren."^")  Die  abgeleiteten 
Punkte,  der  positive  Pol,  der  negative  Pol  und  der  Indifferenzpunkt 
l)estimmen  in  der  Natur  den  Magnetismus.  „Wenn  nun  die  Länge 
in  der  Natur  überhaupt  nur  unter  der  Form  jener  drei  Punkte  existieren 
kann,  diese  drei  Punkte  aber  den  Magnetismus  konstituieren,  so  folgt, 
daß  die  Länge  in  der  Natur  überhaupt  nur  unter  der  Form  des  Magnetis- 
mus existieren  kann,  oder  daß  der  Magnetismus  überhaupt  das  Be- 
dingende der  Länge  in  der  Konstruktion  der  Materie  ist."^^)  Hiernach 
ist  der  Magnetismus  keine  vereinzelte  Naturerscheinung,  sondern  eine 
allgemeine,  die  Länge  bedingende,  konstruierende  Kraft  der  Materie. 
Der  Magnetismus  stellt  die  Materie  noch  im  ersten  Moment  der 
Konstruktion  dar;  die  beiden  entgegengesetzten  Kräfte  sind  hier 
noch  in  einem  Individuum  vereinigt,  zeigen  sich  aber  an  den  entgegen- 
gesetzten äußersten  Punkten  und  streben,  sich  gegenseitig  zu  fhehen. 
Das  verknüpfende  Band,  welches  sie  daran  hindert,  ist  der  Indifferenz- 
punkt C.  Wird  dieser  aufgehoben,  so  entstehen  aus  der  einen  Linie 
ABC  zwei  Linien  AC  und  CB.  Die  Kräfte  sind  jetzt  an  zwei  ver- 
schiedene Individuen  verteilt.  Sie  wirken  nicht  mehr  in  einer  be- 
stimmten Richtung,  da  die  Bedingung  hierzu  (der  Indifferenzpunkt) 
aufgehoben  ist,  sondern  können  ihre  Wirksamkeit  ungehindert  nach 
allen  Richtungen  erstrecken.  Beide  Kräfte,  die  Expansiv-  wie  die 
Attraktivkraft  wirken  nach  allen  Richtungen  in  Linien,  die  von  einem 
Punkte  aus  divergieren;  sie  besclu'eiben  sonach  Winkel  und  wirken 
in  die  Breite  ^2).  „Dieser  Moment  der  Konstruktion  der  Materie, 
durch  welchen  zu  der  ersten  Dimension  die  zweite  hinzukommt,  ist 
in  der  Natur  durch  die  Elektrizität  bezeichnet.  Der  Beweis  kann 
schon  daraus  geführt  werden,  daß  der  Übergang  vom  Magnetismus 


29)  I.  4.  7,  8.    §§  8—10. 

30)  I.  4.  9.    §  n. 
")  I.  4.  10.    §  13. 

^■')  I.  4.  11— i4.    §§  15—19. 


r; 


Der  Entwicklungsgedanke  in  .Schellings  Xatmphilosophie.  277 

zur  Elektrizität  derselbe  ist  mit  dem,  welchen  wir  vom  ersten  Moment 
der  Konstruktion  zum  zweiten  gemacht  haben,  indem  der  oanze 
Unterschied  zwischen  jenem  und  dieser  darauf  beruht,  daß  der  Gegen- 
satz, welcher  im  ersten  noch  vereinigt  in  einem  und  demselben  identi- 
schen Subjekt  erscheint,  in  diesem  als  an  zw^ei  verschiedene  Individuen 
verteilt  erscheint.  Denke  ich  mir  in  der  konstruierten  Linie  den 
Punkt  C  weg,  so  daß  ABC  in  zwei  Linien  getrennt  erscheint,  so  habe 
ich  das  Schema  der  Elektrizität/'^^)  Die  Elektrizität  ist  also  das 
zweite,  die  Breite  bedingende  Moment  in  der  Konstruktion  der  Materie. 
Sie  ist  ebenso  wie  der  Magnetismus  eine  allgemeine  Funktion  der 
Materie. 

Es  bleibt  noch  übrig,  das  dritte  raumerfüllende  Moment  in  der 
Konstruktion  der  Materie  zu  begründen,  welches  das  Verhältnis  der 
Expansiv-  und  Attraktivki'aft  reguhert.  Es  kommt  hier  alles  auf  den 
Grad  der  Einschi-änkung  der  beiden  Kräfte  an.  Da  dieser  in  keiner 
der  beiden  Kräfte,  weder  der  Expansiv-  noch  der  Attraktivla-aft  ge- 
sucht werden  kann,  so  muß  er  in  einer  diitten  Ki'aft  Hegen,  welche 
die  beiden  entgegengesetzten  Kräfte  vereinigt,  ihi'  gegenseitiges  Ver- 
hältnis bestimmt  und  so  den  Raum  bis  in  seine  kleinsten  Teile  durch- 
dringt 2*j. 

Diese  synthetische  Ki-aft  ist  die  Schwere,  welche  die  Materie  als 
Masse  erscheinen  läßt^^). 

Da  nun  diese  wechselseitige,  einen  gemeinsamen  Raum  erfüllende 
Durchdringung  verschiedenartiger  Körper  in  der  Natur  durch  den 
chemischen  Prozeß  bezeichnet  ist,  so  ist  dieser  in  der  Konstruktion 
der  Materie  das  dritte  raumerfüllende  Moment,  welches  die  Tiefe 
bedingt. 

Wie  diese  die  beiden  ersten  Dimensionen  (Länge,  Breite)  in  sich 
enthält,  so  der  chemische  Prozeß  den  Magnetismus  und  die  Elektrizität. 
Wie  die  drei  Dimensionen  eine  Stufenfolge  (Potenzen)  bilden,  so  auch 
die  cü-ei  Formen  des  dynamischen  Prozesses  ^^).  ,,So  wie  nämlich  der 
Magnetismus,  welcher  bloß  die  Länge  sucht,  unmittelbar  dadurch, 
daß  er  eine  Flächenkraft  wird,  Elektrizität  wird,  so  geht  wiederum  die 
Elektrizität   unmittelbar   dadurch,   daß   sie   aus   einer   Flächenkraft 


»=»)  I.  4.  14,  15.    §  20. 

3*)  I.  4.  28—30.    '§§  32,  33. 

3  5)  I.  4.  38.    §  39."' 

■^«)  I.  4.  44,  45.     §§  41,  42. 


278  Karl  Zöckler, 

eine  durchdringende  wird,  in  chemische  Kraft  über.  Man  kann  es  also 
jetzt  als  einen  bewiesenen  Satz  vortragen,  daß  es  eine  und  dieselbe 
Ursache  ist,  welche  alle  diese  Erscheinungen  hervorbringt,  nur  daß 
diese  durch  verschiedene  Determination  auch  verschiedener  Wirkungen 
fähig  wird.  AVas  bis  jetzt  bloße  Ahnung,  ja  bloße  Hoffnung  war, 
endlich  alle  diese  Erscheinungen  auf  eine  gemeinschaftliche  Theorie 
zurückfülu-en  zu  können,  strahlt  uns  jetzt  als  Gewißheit  entgegen, 
und  wir  haljen  Grund  zu  erwarten,  daß  die  ]Nfatur,  nachdem  wir  diesen 
allgemeinen  Schlüssel  gefunden  haben,  uns  allmähhch  auch  das  Ge- 
heimnis ihrer  einzelnen  Operationen  und  der  einzelnen  Erscheinungen, 
welche  den  chemischen  Prozeß  begleiten  und  welche  doch  alle  nur 
Modifikationen  einer  Grunderscheinung  sind,  aufschließen  werde. 
Man  wird  von  jetzt  an  genauer  aufmerken  und  wirkliche  Experimente 
anstellen  über  die  Spuren  des  magnetischen  Moments  im  chemischen 
Prozeß,  die  freihch,  da  dieser  Moment  der  am  schnellsten  vorüber- 
gehende ist,  die  schwächsten  und  unmerklichsten  sein  v.Trden."  „Man 
wird  bei  dem  chemischen  Prozeß  z.  B.  den  die  Wasserzersetzung  be- 
gleitenden elektrischen  Erscheinungen  genauer  verweilen  und  endlich 
vielleicht  selbst  die  Übergänge  einer  und  derselben  Kraft  erst  in  eine 
Flächen-  und  encUich  in  eine  durchdi'ingende  &aft  unterscheiden 
können."^') 

Magnetismus,  Elektrizität  und  chemischer  Prozeß  sind  die  Momente 
in  der  Rekonstruktion,  d.  h.  der  geistigen  Wiedererzeugung  der  Natur. 
Sie  sind  an  sich  nicht  etwa  zeithch  verschieden,  sondern  werden  als 
Reihenfolge  nur  in  der  Erkenntnis  unterscliieden,  welche  notwendig 
genetisch  verfälirt.  Sie  sind  daher  nicht  Perioden,  sondern  „Kate- 
gorien." ^s)  In  der  Stufenfolge  des  Magnetismus,  der  Elelrtrizität  und 
des  chemischen  Prozesses  erblickt  Schelling  das  Geheimnis  der  Pro- 
duktion der  Natur  aus  sich  selbst.  Das  Ursprüngliche  ist  ihm  der 
Magnetismus,  wie  er  in  der  magnetischen  Polarität  der  Erde  hervor- 
tritt, eine  Erscheinung,  die  Schelling  auf  eine  ungleichförmige  Er- 
kaltuns;  der  Pole  bei  der  Bilduno;  der  Erde  zurüclrfülut.  Erst  auf  einer 
höheren  Stufe  beginnt  das  ursprünglich  noch  verdeckte  Gesetz  der 
elektrischen  Polarität  sich  zu  entwickeln.  Die  höchste  Form  aller 
Polarität  erblickt  Schelhno-  im  chemischen  Prozeß,  auf  welchen  der 


3 


38\ 


')  I.    4.    49.    §  45. 
I.    4.    25.     S  30. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  8chellings  Naturphilosophie.  279 

elektrische  durch  seine  chemische  Wirkung  von  selber  überleitet. 
So  beherrschen  Magnetismus,  Elektrizität  und  chemischer  Prozeß 
das  gesamte  Keich  der  unorganischen  Natur. 

§  5.    Die  Qualitätsunterschiede  der   Körper. 

Magnetismus,  Elektrizität  und  chemischer  Prozeß  sind  bei 
Schelling  Momente  in  der  Rekonstruktion,  d.  h.  in  der  Wiedererzeugung 
der  Natur  in  Gedanken,  Expansiv-,  Attraktivki-aft  imd  Schwere  da- 
gegen Momente  in  der  Konstruktion  der  Materie,  der  wirklichen 
AVeltentwicklung,  der  Entwicklung  an  sich.  Diese  bezeichnet  Schelling 
als  ,, Prozeß  erster  Ordnung"  oder  als  die  „produktive  Natur  in  der 
ersten  Potenz",  jene  als  „Prozeß  zweiter  Ordnung  oder  als  die  „pro- 
duktive Natur  in  der  zweiten  Potenz."  Die  Momente  der  Rekonstruk- 
tion der  Materie  durchläuft  die  Natur  vor  unseren  Augen,  die  Momente 
der  Konstruktion  dagegen  liegen  außerhalb  der  Erfahrung,  mit  Aus- 
nahme des  diitten  Moments,  der  Schwere,  die  sich  durch  ihre  Er- 
scheinung bis  in  die  Sphäre  der  Erfahi'ung  erstreckt  ^^). 

Was  die  Quahtätsunterschiede  der  Materie,  die  verschiedene 
Beschaffenheit  der  Körper  anbelangt,  so  leitet  Schelling  diese  zum 
Teil  aus  dem  Prozeß  erster,  zum  Teil  aus  dem  Prozeß  zweiter  Ordnung 
ab.  Auf  dem  Intensitätsverhältnis  der  Expansiv-  und  Attraktivkraft 
beruht  vor  allem  die  Verschiedenheit  der  Aggregatzustände.  Ebenso 
gelten  Kohäsion,  Dichtigkeit  und  spezifisches  Gewicht  als  Eigenschaften 
erster  Potenz.  Je  stärker  die  Kohäsion,  desto  größer  das  Übergewicht 
der  Attraktion;  je  geringer  die  Kohäsion,  desto  größer  das  Über- 
gewicht der  Exi3ansion.  Die  Verschiedenheit  der  Dichtigkeit  und 
spezifischen  Gewichte  der  Körper  leitet  Schelling  aus  den  verschiedenen 
Graden  der  Attraktivkraft  ab.  Alle  Körper  unterscheiden  sich  nämlich 
durch  die  Intensitäten  ihrer  RaumcrfüUung,  d.  h.  durch  den  Grad 
der  Einschränkung  der  Expansivkraft.  Dieselben  Quantitäten  ex- 
pansiver Kraft  können  dargestellt  sein  in  ungleichen  Volumina,  ver- 
schiedene Quantitäten  in  gleichen.  Dasselbe  Quantum  der  Expansiv- 
kraft, dargestellt  im  gleichen  Volumen,  verdichtet  den  Körper  und 
macht  ihn  spezifisch  schwerer.  Daher  folgt  aus  den  verschiedenen 
Graden  der  Attraktivkraft  innerhalb  der  Körper  die  Differenz  der 
Dichtigkeiten  und  spezifischen  Gewichte'"'). 

•9)  I.    4.    43.     §  41.  «)  I.    4.    41,  42.    §  40. 


280  Karl  Zöckler, 

Damit  sind  jedoch  die  Qualitätsunterschiede  der  Materie  noch 
keineswegs  erschöpft. 

Zu  der  gesamten  ponderablen  Materie  tritt  als  notwendiger  Gegen- 
satz die  imponderable  oder  der  Äther  hinzu.  Dieser  ist  nach  Schelhng 
sogar  das  Ursprüngliche,  das,  was  weiter  abzuleiten,  er  für  unmöghch 
hält.  Er  ist  identisch  mit  der  Expansivkraft,  welche  durch  die  ent- 
gegenwirkende Attraktivkraft  eingeschränkt  wird.  Diese  ist  der 
Sauerstoff,  welcher  sich  bei  der  Verbrennung  mit  dem  Körper  ver- 
bindet und  Licht  entwickelt.  Aus  der  Vereinigung  beider  Kräfte 
läßt  Schelling  das  Licht  entstehen,  welches  also  das  Produkt  zweier 
entgegengesetzter  Faktoren,  einer  positiven  Expansivkraft,  des 
Äthers,  und  einer  negativen  Attraktivkraft,  des  Sauerstoffs,  ist.  Das 
Licht  ist  das  allgemeine  Prinzip,  welches  den  größten  Teil  aller  Qualitäts- 
unterschiede der  Körper  bedingt.  Wie  in  der  Konstruktion  der  Materie 
die  Schwerliraft  als  die  ,, konstruierende  Kraft  der  ersten  Potenz  er- 
scheint, so  tritt  in  der  Rekonstruktion  der  Materie  das  Licht  als  die 
,, konstruierende  Kraft  der  zweiten  Potenz"  auf.  Es  ist  ,,die  poten- 
zierende Ursache"  schlechthin.  Es  hängt  hier  alles  von  dem  Ver- 
hältnis ab,  in  welchem  das  Licht  die  Körper  durchdringt,  d.  h.  von 
dem  Grade,  in  welchem  die  Körper  den  positiven  Faktor  des  Lichtes, 
den  Äther,  anziehen  und  den  negativen  Faktor,  den  Sauerstoff,  ab- 
stoßen oder  umgekehrt.  Ist  das  gegenseitige  Verhältnis  zwischen 
Licht  und  Körper  ein  solches,  daß  die  Körper  den  Äther  anziehen 
und  den  Sauerstoff  abstoßen,  so  äußert  sich  in  dieseju  Falle  die  Wirkung 
des  Lichtes  als  das  Bedingende  der  Durchsichtigkeit  des  Körpers. 
Die  verschiedenen  Grade  aller  Durchsichtigkeit  beruhen  daher  auf 
dem  verschiedenen  Grad  der  Anziehung  zwischen  Körper  und  Äther, 
eine  Erscheimmg,  die  notwendig  mit  dem  entsprechenden  Grade  der 
Abstoßung  zwischen  Körper  und  Sauerstoff  verbunden  ist.  Die  Körpei- 
selbst  müssen  in  diesem  Falle  das  negative  Prinzip,  den  Sauerstoff, 
besitzen  und  darum  abstoßen  und  das  positive  Prinzip,  den  Äther, 
anziehen.  Ist  das  Verhältnis  umgekehrt,  so  daß  die  Körper  den 
positiven  Faktor  besitzen  und  abstoßen  und  den  negativen  anziehen, 
so  durchdringt  das  Licht  die  Körper  als  Wärme.  Der  Grad  der  An- 
ziehung gegen  den  Sauerstoff  ist  das,  was  diesen  Körpern  den  ver- 
schiedenen Grad  ihrer  Verbrennlichkeit  oder  die  spezifische  Wärme 
gibt.  Es  ist  bereits  erwähnt  worden,  daß  jeder  Kohäsionszustand  auf 
einem  gewissen   Grade   der   wechselseitigen   Wirkung   zwischen  Ex- 


1: 

,1 


Der  Entwicklungsgedanke  in  .ScheJlings  Xatui-philosophie.  281 

pan&iv-  und  Attraktivkraft  beruht.  Expansion  und  Attraktion  sind 
das  die  Kohäsion  Bedingende,  das  den  Körper  Gestaltende.  Der 
Gegensatz  von  Gestaltung  ist  Entfaltung.  Alle  Entfaltung  i;-t  nach 
Schelling  bedingt  durch  das  Licht,  das  den  Körper  als  Wärme  durch- 
dringt und  dem  vorhandenen  Kohäsionszustand,  der  Starrheit  der 
Gestalt,  entgegenwirkt.  Es  ist  die  Gegenkraft  der  Kohäsion,  welche 
die  Kohäsion  aufzulösen  und  einen  anderen  Kohäsionszustand  her- 
zustellen strebt.  So  ist  das  Licht  die  Ursache  jeder  Kohäsions- 
veränderung.  Da  aber  der  Körper  beim  Durchgang  des  Lichts  kein 
l)loß  passives,  sondern  ein  wirksames  Medium  ist,  welches  das  Licht 
l)ei  seinem  Durchgange  modifiziert,  so  entsteht  vermöge  der  Brechung 
und  Trübung  des  Lichtes  die  Farbenerscheinung  und  deren  prismatische 
Abstufung,  eine  Erscheinung,  welche  Schelling  auf  die  Grade  der 
Brechung  und  weiter  auf  die  graduellen  Differenzen  der  im  Licht 
enthaltenen  Elemente  zurückführt.  Die  Farbe  selbst  bezeichnet 
Schelling  als  „eine  Vermählung  des  Lichtes  mit  dem  Körper"  (ein 
Ausdruck  seiner  Hinneigung  zur  Goetheschen  Farbenlehre^').  Der 
Grundgedanke  also,  aus  dem  Schelhng  die  Quahtätsunterschiede  der 
Körper  zu  entwickeln  versucht,  beruht  auf  der  Annahme  von  dem 
durchgängigen  Verhältnis  der  Körper  zu  dem  Licht,  welches  sie 
durchdringt,  von  dem  beständigen  A\^chselverhältnis  zwischen  der 
imponderablen  und  der  ponderablen  Materie.  Wer  dieses  in  der  Natur 
immer  wiederkelu'ende  Wechselverhältnis  richtig  auffaßt,  habe  mit 
demselben  den  Schlüssel  zur  Erklärung  aller  Hauptveränderung  der 
Körper  gefunden.  Das  Licht  ist  die  potenzierende  Ki'aft  aller  Ent- 
wicklung, wie  sie  sich  in  der  unorganischen  Natur  aus  der  Stufenfolge 
des  Magnetismus,  der  Elektrizität  und  des  chemischen  Prozesses  er- 
gibt. Überall,  wo  Produkte  gebildet  und  umgebildet  werden,  bei  jeder 
Veränderung  und  Entwicklung,  ist  das  Licht  tätig. 

2.  Abschnitt.    Organische  Natur. 

§  1.    Übergang  zur  organischen  Natur. 

Von   der  größten   Bedeutung   für   die   weitere   Gestaltung   von 

Schellings  Entwicklungslehre  war  die  Entdeckung  des  Galvanismus. 

]Mit  Hilfe  des  Galvanismus  konstruierte  Schelling  den  Übergang  der 

unorganischen  Natur  zur  organischen.   Er  glaubte  in  der  galvanischen 


41 


)  I.    2.    399,  400. 


282  Karl   Zöckler, 

Elektrizitätslehre  das  Lobensgelieimnis  entdeckt  zu  haljen  und  wies 
einer  bekannten  physikalischen  &aft,  der  Elektrizität,  die  Stelle  der 
unbekannten  Lebenskraft  an.  Da  der  Galvanismus  vermöge  seiner 
erregenden  AVirksamkeit  Reize  verursacht,  auf  die  der  Muskel  durch 
Zuckungen,  die  Sinnesnerven  durch  ihre  spezifischen  Em])findungen 
reagieren,  welche  als  Schall  und  Licht  (der  Huntersche  Bhtz),  als 
Erschütterung  und  Wärme,  als  saurer  und  bitterer  Geschmack  emp- 
funden werden,  so  ergab  sich  hieraus,  daß  die  galvanischen  AVirkungen 
sowohl  elektrischer  als  auch  chemischer  Art  sind,  daß  demnach  in  den 
Gliedern  der  galvanischen  Kette  sowohl  eine  elektrische  als  eine 
chemische  Differenz  stattfindet.  Aus  der  Annahme  nur,  daß  die  polare 
Entgegensetzung  in  den  Teilen  eines  Körpers  das  AA'^esen  des  Magne- 
tismus ausmacht,  folgert  Schelling,  daß  der  galvanische  Prozeß  den 
magnetischen,  elektrischen  und  chemischen  in  sich  vereinigt  und  daher 
die  Totahtät  des  dynamischen  Prozesses  ausmacht.  Da  nun  für  ihn 
in  der  Erregbarkeit  das  AWsen  eines  jeden  Organismus  besteht  und 
in  der  geschlossenen  Kette  des  Galvanismus  nur  vermöge  der  Erreg- 
barkeit das  Gleichgewicht  im  Organismus  beständig  gestört  und  wieder- 
hergestellt wird,  - —  Prozesse,  in  deren  Permanenz  das  Leben  besteht,  — 
so  ging  Schelling  darauf  aus,  mit  Hilfe  des  Galvanismus  das  Leben 
aus  physikahschen  Ursachen  zu  erldären*').  Die  irritablen  Organe, 
Nerv  und  Muskel,  galten  ihm  als  die  galvanischen  Elemente,  als  die 
entgegengesetzten  Pole  der  Irritabihtät. 

Und  da  bei  ScheUing  die  Irritabilität  gleichsam  der  Mittelpunkt 
ist,  um  den  alle  organischen  Kräfte  sich  sammeln  ^^),  so  führte  der 
Galvanismus  von  selber  in  das  Gebiet  der  organischen  Natur  hinüber. 

Er  bildet,  da  er  die  magnetische,  elektrische  und  chemische  AVkk- 
samkeit,  sowie  zugleich  die  spezifische  Lebenstätigkeit  in  sich  ver- 
einigt, das  eigentliche  Band  der  unorganischen  und  organischen 
Natur.  Denn  er  enthält  den  dynamischen  Prozeß  in  allen  seinen 
Momenten  und  bedingt  zugleich  das  organische  Leben ^^). 

AVie  in  der  unorganischen  Natur  die  Stufenfolge  des  Magnetismus, 
der  Elektrizität  und  des  chemischen  Prozesses  herrscht,  so  bestehen 
die  Funktionen  der  organischen  Natur  in  Sensibilität,  Irritabihtät  und 
Bildungstrieb.     Diese  sind  von  den  Funktionen  der  unorganischen 


^'-)  I. 

3. 

163—165. 

")  I. 

2. 

560. 

'')  I. 

4. 

74,  75.     §  61 

Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  283 

Natur  nicht  verschieden,  sie  sind  in  der  Wurzel  mit  ihnen  gleich,  nur 
deren  höhere  Potenzen.  Es  ist  das  von  der  allerorößten  Wichtigkeit 
für  Schellings  Entwicldungslehre,  daß  Magnetismus,  Elektrizität  und 
chemischer  Prozeß  einerseits,  Sensibilität,  Irritalülität  und  Bildungs- 
trieb anderereits  als  Zweige  Einer  Iiraft  erscheinen.  Die  unorganischen 
Ivräfte  und  die  organischen  sind  einander  verwandt  oder  analog. 
Dem  Magnetismus  entspricht  die  Sensibihtät,  dem  elektrischen  Prozeß 
die  Irritabilität,  dem  chemischen  der  Bildungstrieb.  Die  gemeinsame 
Ursache  des  Magnetismus  und  der  Sensibilität  sieht  Schelhng  in  dem 
Weltprinzip  der  Polarität.  Diese  ist  „der  allgemeine  d3mamisehe 
Tätigkeitsquell",  daher  auch  „der  Lebensquell  in  der  Natur".  Den 
Beweis  für  die  Ähnlichkeit  zwischen  Elektrizität  und  Irritabihtät 
liefere  nun  der  Galvanismus,  der  als  beständiger  Strom  in  der  Kette 
eine  „Elektrizität  höherer  Funktion"  sei.  Ebenso  sei  der  organische 
Bildungstrieb  die  „höhere  Potenz  des  chemischen  Prozesses. "^^) 

Es  genügt  hier  zur  Kennzeichnung  des  Schellingschen  Entwick- 
liingsgedankens  das  Resultat  dieser  Untersuchung  hervorzuheben, 
daß  die  unorganischen  und  die  organischen  Kj'äfte  Zweige  oder 
Erscheinungsformen  Einer  Ivi'aft  sind,  daß  also  zwischen  der  un- 
organischen und  organischen  Natur  nicht  etwa  ein  Sprung,  sondern 
ein  allmählicher,  stetiger  und  kontinuierücher  Übergang  stattfindet. 
Diesen  Übergang  bildet  der  Galvanismus,  der  sowohl  die  Funktionen 
der  unorganischen  Natur  als  auch  vermöge  der  Irritabilität,  welche 
bei  Schelling  den  Mittelpunkt  der  organischen  Kräfte  ausmacht, 
die  der  organischen  Natur  in  sich  schließt. 

§  2.    Funktionen  der  organischen  Natur. 

Das  Wesen  eines  ieden  Organismus  besteht  in  seiner  Erreobarkeit. 
Dadurch  unterscheidet  sich  dieser  von  dem  Toten  oder  Unerregbaren. 
Die  Ursache  der  Erregbarkeit  kann  nicht  im  Organismus  selbst,  sondern 
nmß  in  der  ihn  umgebenden  Außenwelt  gesucht  werden.  Durch  sie 
empfängt  er  Eincüiicke,  durch  die  die  Sensibilität,  der  innerste  Kern 
des  Organismus,  beständig  zu  erneuter  Tätigkeit  angefacht  und  re- 
produziert wird.  „Dadurch  eben  unterscheidet  sich  das  Organische 
vom  Toten,  daß  das  Bestehen  des  ersteren  nicht  ein  wirkliches  Sein, 
sondern  ein  beständiges  Reproduziertwerden  ist."*^)  In  dem  Organis- 

^5)  I.    3.    210—218.  46)  I     3     146 


284  Karl   Zöckler, 

mus  selbst  unterscheidet  Schelling  zwei  Naturen,  einen  höheren  und 
einen  niederen  oder  gröberen  Organismus,  Unter  diesem  versteht  er 
den  Organisnms  als  Ganzes  genommen,  während  der  erstere  den 
innersten  Kern  des  Organismus,  die  Sensibilität,  ausmacht.  Dieser 
eigentliche  Organismus  wird  durch  die  Vermittlung  des  gröberen 
Organismus  von  der  Außenwelt  affiziert.  „Der  Organismus  (als 
Ganzes  genonunen)  muß  sich  selbst  das  Medium  sein,  wodurch  äußere 
Einflüsse  auf  ihn  wirken."^')  Diese  Trennung  des  Organismus  in 
einen  höheren  und  niederen  ist  die  Bedingung  oder  der  Quell  aller 
organischen  Tätigkeit  und  der  Ursprung  des  Lebens.  „In  alles  Organi- 
sche muß  also  der  Funke  der  Sensibilität  gefallen  sein,  denn  der  Anfang 
der  Sensibilität  nur  ist  der  Anfang  des  Lebens. "*8)  Die  Ursache  der 
Sensibilität  weiter  abzuleiten,  ist  unmöglich.  Sie  ist  der  letzte  Grund 
alles  Lebens,  ihre  Wurzeln  reichen  hinab  bis  in  die  letzten  Bedingungen 
der  Natur  selbst,  in  die  Wirkungsart  der  weltbildenden  Polarität.  Die 
Sensi])ilität  kann  demnach  nicht  erst  ein  organisches  Produkt  sein. 
„Sensibilität  ist  da,  ehe  ihr  Organ  sich  gebildet  hat,  Gehirn  und  Nerven 
anstatt  Ursachen  der  Sensibilität  zu  sein,  sind  sie  vielmehr  selbst 
schon  ihr  Produkt."*^)  Demnach  liegt  die  Ursache  der  Sensibilität 
nicht  erst  in  der  organischen  Natur,  sondern  in  der  allgemeinen  oder 
unorganischen.  Denn  die  Sensibilität  ist  bei  Schellmg  eine  allgemeine 
oder  physikalische  Erscheinung. 

Geht  die  Sensibilität,  dieser  innere  Tätigkeit^ quell  des  Organismus 
in  Tätigkeit  über,  so  tritt  an  Stelle  der  Sensibilität  die  Irritabilität. 
Durch  diese  reagiert  die  erstere  auf  die  Einwirkungen  der  äußeren 
AVeit.  ,,Das  irritable  System  erscheint  als  die  Bewaffnung  des  sensiblen, 
als  das  Mittelglied,  wodurch  dieses  allein  mit  seiner  Außenwelt  zu- 
sammenhängt."'^") 

Durch  das  fortwährende  Einwirken  äußerer  Einflüsse  auf  den 
Organismus  wird  in  diesem  das  Gleichgewicht  beständig  gestört. 
Die  Funktion  der  Irritabilität  besteht  nun  darin,  dieses  beständig  ge- 
störte Gleichgewicht  immer  von  neuem  herzustellen.  Diese  Wieder- 
herstellung des  Gleichgewichts  stellt  sich  als  wechselsei Hge  Durch- 
dringung entgegengesetzter  Bewegungen  dar,  die  sich  als  Kontraktion 


")  I.  3.  146. 

«)  I.  3.  156. 

^8)  I.  3.  155. 

^0)  I.  3.  171. 


1 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Xaturphilosophie.  285 

und  Expansion  äußern  und  notwendig  als  entgegengesetzte  Zustände 
empfunden  werden ^^).  Daher  kommt  es  auch  nach  ScheUings  An- 
sicht, daß  die  irritablen  Werkzeuge  eine  notwendige  Dualität  besitzen. 
„Daher,  weil  durch  jede  Erregung  von  außen  eine  homogene  Tätig- 
keit gestört  und  gleichsam  in  entgegengesetzte  zerlegt  wird,  ist  in  jedem 
Sinn  eine  notwendige  Dualität;  daher  für  den  Gesichtssinn  die  Polarität 
der  Far))en,  für  den  Gehörsinn  die  Dur-  und  Molltöne,  für  den  Ge- 
schmacksinn der  saure  und  alkahsche  Geschmack."^-)  Durch  die 
Wirkungsart  der  Irritabilität  ist  bewiesen,  daß  der  Organismus  sich 
selbst  das  Medium  äußerer  Einflüsse  ist. 

„Aber  die  Irritabihtät  (wodurch  das  Organische  als  innerlich 
bewegt  erscheint)  ist  immer  noch  etwas  Inneres,  aber  jene  Tätigkeit 
muß  ganz  zu  einer  äußeren  werden,  ganz  im  äußeren  Produkte  sich 
darstellen,  und,  wenn  sie  in  ihm  sich  darstellt,  in  ihm  erlöschen.  Aber 
diese  Tätigkeit,  in  dem  sie  ganz  in  das  Produkt  als  ein  Äußeres  über- 
geht, ist  keine  andere  als  die  produktive  Tätigkeit  selbst  (der  Bildungs- 
trieb). Irritabilität  nniß  also  unmittelbar  in  Bildungstrieb  oder  Pro- 
duktionskraft übergehen."  ^^) 

Nun  darf  aber  der  Bildungstrieb  in  dem  äußeren  Produkt  nicht 
erlöschen;  denn  das  wäre  das  Ende  aller  Entwicklung.  Er  muß  viel- 
mehr über  das  Produkt  hinausgehen  und  wieder  ein  anderes  schaffen 
usf.  bis  ins  Unendüche.  Nur  so  ist  Entwicklung  möghch.  Die  Pro- 
duktionskraft muß  daher  als  Reproduktion  erscheinen.  Diese  Art 
der  Reproduktion,  wodurch  immer  wieder  ein  neues  Individuum 
geschaffen  wird,  ist  auf  die  Gattung  gerichtet  und  dient  zur  Erhaltung 
derselben.  Die  Reproduktionskraft  erscheint  daher  in  diesem  Falle 
als  Gattungstrieb.  Nun  besteht  aber  auch  eine  Reproduktionskraft 
innerhalb  desselben  organischen  Individuums,  welche  dazu  dient, 
das  Leben  des  Individuums  zu  erhalten.  Das  kann  nur  dadurch  ge- 
schehen, daß  die  Irritabilität  immer  wieder  von  neuem  angefacht  und 
dadurch  unterhalten  wird.  Das  Mittel  zur  Erhaltung  der  Irritabihtät 
ist  die  Nutrition,  die  Aufnahme  immer  neuer  erregender  Potenzen. 
Der  Zweck  der  Nutrition  ist  die  beständige  Wiederanfachung  des 
Lebensprozesses.  Diese  auf  das  Individuum  selbst  gerichtete  Re- 
produktion äußert  sich  daher  als  Lebenstrieb.    Zwar  ergibt  sich  als 


51)  I.    3.    168,  170. 

52)  I.    3.    170,  171. 
")  I.    3.    171. 


286  Karl  Zöckler, 

unvermeidliche  Wirkung  der  Nutrition  eine  Veiinehrung  der  Masse 
des  Individuums,  wodurch  das  Wachstum  bedingt  ist;  doch  liegt 
hierin  nicht  der  Zweck  der  Nutrition.  Damit  nun  aber  das  einzelne 
Individuum  nicht  ins  Eiullose  wächst,  muß  die  Reproduktion  über 
das  Produkt  hinausstreben  und  entweder  ein  weiteres  Produkt  der- 
selben Gattung  hervorbringen  oder  ein  totes  Kunstprodukt  z.  B.  das 
Gehäuse  der  Schaltiere,  die  Bienenzellen  usw.  Im  letzteren  Falle 
erscheint  die  Reproduktion  als  Kunsttrieb.  Gattungstrieb,  Lebens- 
trieb und  Kunsttrieb  sind  die  drei  Formen  der  Reproduktion^-). 
Die  wichtigste  ist  der  Gattungstrieb.  Denn  durch  ihn  wird  die  Gattung 
und  damit  das  Leben  in  der  Natur  erhalten,  w^ährend  die  einzelnen 
Individuen  entstehen  und  vergehen.  Die  letzteren  sind  nur  das  Mittel, 
um  die  Gattung  und  damit  das  Gesamtleben  in  der  Natur  zu  erhalten. 
In  dieser  Hinsicht  redet  Siegel  geradezu  von  einem  Kampf  ums  Dasein 
zwischen  dem  Einzeltier  und  dem  Alltier,  der  Natur  ^^). 

Jedes  Individuum  stellt  die  Entwicklungsstufe  dar,  auf  welcher 
die  auf  das  Ganze  gerichtete  Bildungskraft  der  Natur,  welche  doch 
nur  danach  strebt,  Ein  Produkt  darzustellen,  gehemmt  ist.  Die  auf 
den  höheren  Stufen  stehenden  Individuen  haben  daher  notwendig 
die  niederen  durchgehen  müssen,  um  zu  höheren  zu  gelangen.  Den 
Grund  zu  dieser  Hemmung  erbhckt  Schelling  in  der  Verschiedenheit 
der  Geschlechter.  Doch  glaubt  er,  daß  in  den  ersten  Individuen  jeder 
Gat<-ung  diese  entgegengesetzten  Richtungen  des  Bildungstriebs 
noch  nicht  angedeutet  waren.  ,,So  wäre  also  jedes  erste  Individuum 
seiner  Art,  obgleich  es  selbst  den  Begriff  seiner  Gattung  nicht  voll- 
ständig ausdrückt,  in  bezug  auf  die  später  erzeugten  Individuen 
selbst  wieder  Gattung  gewesen.'' ^^) 

Erst  auf  einer  höheren  Stufe  tritt  die  Geschlechtsdifferenz  hervor, 
wodurch  statt  Eines  vollendeten  Produktes  die  Anzahl  der  unvoll- 
endeten Produkte  oder  Individuen  bedingt  ist.  Durch  die  Verschieden- 
heit der  Geschlechter  wird  die  Entwicklung  von  ihrem  Ideal,  Ein 
Produkt  hervorzubringen,  abgelenkt.  Je  weiter  die  Organisation 
vorgeschritten  ist,  um  so  ausgeprägter  ist  die  Geschlechtsdifferenz. 
Hieraus  ergibt  sich,  daß  die  Entwicldung  sich  immer  mehr  von  ihrem 
Ideal  entfernt  und  so  zur  Bildung  mannigfacher  Arten,  Abarten  .und 


^*)  I.    3.    171—178. 

^^)  Siegel,  Geschichte  der  deutsclien  Naturphilosophie  S.  212. 

56)  I.    3.    56. 


Der  Entwicklmigsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  287 

Individuen  schreitet^").    Auf  diese  Weise  wird  die  Individualisierung 
l)is  aufs  Höchste  gesteigert. 

Da  nun  aber  bei  ScheUing  die  höchste  Stufe  des  gestörten  Gleich- 
gewichts gleichbedeutend  ist  mit  der  Wiederherstellung  des  Gleich- 
gewichts, so  werden  die  Geschelchter,  wenn  jedes  für  sich  den  höchsten 
Grad  seiner  Individualisierung  erreicht  hat,  ihre  entgegengesetzten 
Tätigkeiten  zu  einem  Gemeinschaftlichen  vereinigen  müssen.  Von 
diesem  Augenbhck  an  wird  die  Natur  das  Individuelle  verlassen; 
dieses  wird  somit  zu  einer  Sclu'anke  ilu^er  Tätigkeit,  an  deren  Zer- 
störung sie  kontinuierhch  arbeitet.  Ist  nun  das  gemeinschaftliche, 
über  jede  Individuahsierung  erhabene  Produkt  gesichert,  so  wird 
dieses  von  seinem  homogenen  Zustande  aus  dieselben  Entwicklungs- 
stufen zu  durchlaufen  haben  wie  zuvor,  d.  h.  es  wird  sich  wieder 
individualisieren  usw.  ^^). 

Die  erregende  Ursache  der  auf  die  Gattung  gerichteten  Keproduktion 
bildet  der  Zeugungsakt.  Durch  ihn  wird  zunächst  der  zündende 
Funke  der  Sensibilität  geweckt,  die  dann  in  Irritabilität  und  schließUch 
in  Produktionslvi-aft  übergeht.  Da  nun  die  Sensibilität  das  innerste 
Wesen  des  Organismus  ausmacht,  so  ist  die  Erhaltung  dieser  organi- 
schen Kraft  die  Grundbedingung  alles  Lebens ;  da  ferner  die  SensibiUtät 
in  Irritabihtät  und  diese  wiederum  in  Produktion  und  Reproduktion. 
übergeht,  welche  letztere,  indem  sie  als  Gattungsprozeß  die  Bedingungen 
des  Lebens  beständig  erneuert,  in  die  Sensibilität  wieder  zurückkehrt, 
so  bilden  Sensibilität,  Irritabilität  und  Reproduktion  da:-  System  und 
den  Kreislauf  der  organischen  Kräfte. 

§  3.  Die  Wirkungsart. 
Untersuchen  wir  die  drei  organischen  Ki'äfte  auf  iiu'e  Abhängig- 
keit von  einander,  so  ergibt  sich  ein  durchgängiges  Wechselverhältnis 
derselben.  Da  nur  ein  empfindhcher  Organismus  auf  die  Einflüsse 
von  außen  reagieren  und  sein  beständig  gestörtes  Gleichgewicht 
beständig  wieder  herstellen  kann,  so  erhellt  hieraus  die  Abhängigkeit 
der  Irritabilität  von  der  Sensibilität.  Da  nun  die  nach  außen  gerichtete 
Irritabihtät  die  Kraft  ist,  durch  welche  die  nach  innen  gerichtete 
SensibiUtät  vermittelt  wird,  so  bedeutet  das  die  Abhängigkeit  der 


")  1.   3.   62. 

^■'*)  I.    .3.    52.     (Vgl.    auch    Siegel,    Geschichte    der    deutschen    Natur- 
philosophie S.  213,  214.) 


288  Karl  Zöckler, 

Sensibilität  von  der  Irritabilität.  Und  da  ein  Organismus,  welcher 
nicht  empfindlich  und  erregter  ist,  zweifellos  unfähig  ist,  sich  selbst 
zu  reproduzieren,  so  müssen  Sensibilität  und  Irritabilität  als  die  Vor- 
bedingungen zur  Ke])rodukti()n  angesehen  werden.  Die  drei  organi- 
schen Kräfte  sind  daher  notwendig  an  einander  gebunden  untl 
koexistent.  Sie  sind  in  jedem  Individuum  vereinigt;  keine  kann 
ohne  die  andere  existieren. 

Die  Verschiedenheit  der  Organisationen  entsteht  nur  durch  das 
verschiedene  Maß  der  Verteilung  dieser  drei  organischen  Ivi'äfte. 
Die  Organisationen  sind  verschieden  nicht  als  Arten,  sondern  nach 
dem  Verhältnis  der  organischen  Ej'äfte,  nach  dem  Grade,  in  welchem 
diese  verteilt  sind  oder  die  eine  die  andere  überwiegt.  Unter  diesem 
Gesichtspunkt  erscheinen  die  organischen  Formen  und  Arten  als 
Abstufungen  der  organischen  Ki'äfte,  als  begriffen  in  einer  Skala  der 
Zu-  und  Abnahme  derselben.  Das  Gesetz  dieser  Verteilung  der  Kräfte 
ist  das  Entwicklungsgesetz  der  organischen  Natur.  Vom  Menschen 
abwärts  zeigt  sich  eine  allmähliche  Abnahme  der  Sensibilität;  an  der 
Grenze  der  Tierwelt  ist  nur  noch  ein  dumpfes  Gefühlsorgan  übrig, 
in  den  Pflanzen  ist  die  Sensibihtät  gleich  einer  verschwindenden 
Größe.  Hieraus  ergibt  sich,  daß  die  Sensibilität  nach  abwärts  zu  in 
einer  fortschreitenden  Abnahme  begriffen  ist.  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  der  Irritabilität,  welche  nur  die  nach  außen  gerichtete  Erscheinung 
der  Sensibilität  ist.  Sensibilität  und  Irritabiütät  stehen  also  in  direktem 
Verhältnis.  Während  diese  beiden  organischen  Ili'äfte  nach  abwärts 
zu  immer  mehr  abnehmen,  ist  nach  dieser  Richtung  hin  die  dritte 
organische  &aft,  die  Reproduktion,  in  beständiger  Zunahme  bc 
griffen.  Je  geringer  der  Entwicklungszustand  des  Individuums  oder 
der  Gattung,  desto  größer  die  Reproduktionen,  die  Fruchtbarkeit 
in  der  Zahl  der  Fortpflanz  angen.  So  waltet  ein  Gesetz  durch  die 
organische  Natur,  welches  die  Kräfte  derselben  an  einander  bindet 
in  direktem  und  in  indirektem  Verhältnis.  Ein  direktes  Verhältnis 
besteht  zwischen  Sensibilität  und  Irritabihtät,  ein  indirektes  zwischen 
Sensibilität  und  Irritabihtät  einerseits  und  der  numerischen  Leistung 
der  Reproduktion  andererseits.  Das  Gesetz  dieser  Ki-äfteverteilung 
beherrscht  die  verschiedenen  Organisationen,  die  verschiedenen 
Individuen  derselben  Art  und  die  Entwickhmgsperioden  desselben 
Individuums.  Die  Entwicklungsstufen  des  Individuums  und  die 
Entwicklunosstufen    der    Natur    sind    bei    ScheUing    Erscheinungen 


Der  Entwicklungsgedanke  in  8chellings  Naturphilosophie.  289 

desselben  Gesetzes.    Denn  es  gbit  nur  Ein  LclDen  in  der  Natur,  und 
das  individuelle  Leben  besteht  nur  in  der  Konzentration  des  allge- 
meinen Lebens.      So    herrscht  also    in  der  organischen  j^atur  eine 
Gradation  dei  Kräfte,  die  von  der  Sensibilität  durch  die  Irritabilität 
und  Keproduktion  sich  nach  unten  abstufen.     In  demselben  Maße, 
wie  die  höhere  Kraft  fällt,  steigt  die  niedere;  jene  verhert  sich  in 
diese,  sie  wird  nicht  vernichtet,  sondern  bleibt  latent.     Das  Fallen 
der  höheren  Ki'aft  ist  notwendig  das  Steigen  der  niederen  und  um- 
gekehrt.   Dieses  Gesetz,  welches  die  Zunahme  der  einen  Kraft  an  die 
Abnahme   der  anderen  bindet,   macht   das   Gleichgewicht  und   den 
Bestand  der  organischen  Welt;  die  Abstufung  und  gTaduelle  Ver- 
schiedenheit  bewirkt   den   Reichtum  und   den   Zusammenhang   der 
Lebensformen,  das  System  der  organischen  Welt.     Aus  dem  Gesetz 
der    Verteilung    folgt    das    Entwicklungsgesetz    der    Organisationen, 
welches  Kielmeyer,  auf  dessen  Vorbild  Schellings  diesbezügliche  Lelu-e 
im  wesentlichen  beruht,  den  „Plan  der  Natur"  nannte.   Die  Art  dieser 
Ki-äfteverteilung   ist    bedingt    durch    che    dynamische    Vorstellungs- 
weise ^^). 

Da  immer  die  Abnahme  der  einen  Kraft  an  die  Zunahme  der 
anderen  gebunden  ist,  so  ist  im  Grunde  alles  Leben  Erscheinung  Einer 
Ki-aft  in  den  verschiedenen  Zuständen  ihrer  Gradation,  ilu'er  Zu-  oder 
Abnahme.    Die  verschiedenen  Organisationen  sind  die  verschiedenen 
Stufen  dieser  Erscheinung,  daher  besteht  im  Grunde  nur  Eine  Organi- 
sation, Ein  Produkt  auf  verschiedenen  Stufen.     Jede  dieser  Stufen 
ch-ückt    einen    bestimmten    Grad   oder    Entwicklungszustand    dieser 
Einen  lü'aft  aus,  an  die  die  Kontinuität  der  Entwicklung  gebunden  ist. 
Schelling  bezeichnet  die  in  dem  Produkt  vorübergehend  zum  Still- 
stand gebrachte  Wirksamkeit  dieser  Einen  Ki'aft  als  eine  Hemmunü' 
derselben.  In  dieser  Hinsicht  erscheint  die  Eine  Ki'aft  auf  verschiedenen 
Stufen  ihrer  Wirksamkeit  gehemmt,  wodurch  die  verschiedenen  Stufen 
der  Entwicklung  entstehen.     „Wenn  im  Organismus  eine  Gradation 
der  Kjäfte  ist,  wenn  Sensibihtät  in  IiTitabilität,  Irritabihtät  in  Re- 
produktionski-aft  sich  darstellt,  und  die  niedere  Kraft  nur  die  Ei-- 
scheinung  der  höheren  ist,  so  wird  es  in  der  Natur  so  viele  Stufen  der 
Organisation  überhaupt  geben,  als  es  verschiedene  Stufen  der  Ei'- 
scheinung  jener  Einen  Ki'aft  gibt.    Die  Pflanze  ist,  was  das  Tier  ist, 


59)  I.    .3.    196—204. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  3.  19 


idO  Karl  Zöckler, 

und  das  niedere  Tier  ist,  was  das  höhere  ist.    In  der  Pflanze  wirkt 
dieselbe  Kraft,  die  im  Tier  wirkt,  die  Stufe  ihrer  Erscheinung  nur  liegt 
tiefer.     In  der  Pflanze  ha+  sich  schon  ganz  in  Reproduktionskraft 
verloren,  was  bei  dem  Amphibium  noch  als  Irritabilität  und  beim 
höheren  Tier  als  Sensibihtät  unterschieden  wird  und  umgekehrt.  Es  ist 
also  Eine  Organisation,  die  durch  alle  diese  Stufen  herab  allmähhch 
bis  in  die  Pflanze  sich  verüert,  und  eine  ununterbrochen  wirkende 
Ursache,  die  von  der  Sensibilität  des  ersten  Tieres  an  bis  in  die  Re- 
produktionski'aft  der  letzten  Pflanze  sich  verliert."^)     „Statt  der 
Einheit  des  Produktes  also,  welche  wir  oben  suchten,  und  die  wir 
wegen  der  Trennung  in  entgegengesetzte  Geschlechter  (die  alle  weitere 
Bildung  desselben  Produktes  unterbricht)  nicht  annehmen  konnten, 
haben  wir  nun  eine  Einheit  der  Ivi'aft  der  Hervorbringung  durch  die 
ganze  organische  Natur.    Es  ist  nicht  Ein  Produkt  zwar,  aber  doch 
Eine  Kraft,  die  wir  nur  auf  verschiedenen  Stufen  der  Erscheinung 
gehemmt  erbhcken.   Aber  diese  Kraft  tendiert  urspriingüch  nur  gegen 
Ein  Produkt;  die  Kraft  ist  auf  verschiedenen  Stufen  gehemmt,  heißt 
also  eben  so  viel  als:  jenes  Eine  Produkt  ist  auf  verschiedenen  Stufen 
gehemmt  —  und,  was  notwendig  daraus  folgt,  daß  alle  diese  auf  ver- 
schiedenen Stufen  gehemmten  Produkte  nur  Einem  Produkt  gleich 
gelten."  ^^)  Das  ist  das  Prinzip  der  Stetigkeit  und  Kontinuität  in  dem 
Entwicklungsgedanken  Schehings,  daß  zwischen  Pflanze  und  Tier, 
zwischen  niederen  und  höheren   Tieren  kein  übergehender  Sprung, 
sondern  ein  allmählicher,  langsam  fortschreitender  Übergang  statt- 
findet, der  in  die  ununterbrochene  Kette  des  Ganzen  gehört  und  als 
Modifikation  jener  Einen  Grundkraft  erscheint. 

§  4.    Die  Einheit  der  organischen  Natur. 

(Zusammengefaßt  mit  der  Einheit  der  unorganischen  Natur.) 

Diese  Einheit  der  lüaft  herrscht  aber  nicht  nur  in  der  organischen 
Natur,  sondern  auch  in  der  unorganischen.  Da  hier  Magnetismus, 
Elektrizität  und  chemischer  Prozeß  als  sich  selbst  potenzierende 
lü-äfte  gedacht  sind,  die  sich  nur  durch  die  Verschiedenheit  ihres 
Grades  unterscheiden,  so  sind  auch  sie  aus  einer  Grundkraft  hervor- 
gegangen.    Sowohl  in  der  unorganischen  als  auch  in  der  organischen 

<">)  I.    3.    206.  81)  I.    3.    207. 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Naturphilosophie.  291 


■&• 


S 


Natur  besteht  demnach  die  Einheit  der  Ki'aft  der  Hervorbringung 
Und  da  die  organischen  Kräfte  nur  die  höheren  Potenzen  der  un- 
organischen sind  und  das  individuelle  organische  Leben  nur  die  Kon- 
zentration des  allgemeinen  Lebens  in  der  Natur  ist,  so  zieht  sich  die 
Einheit  der  Kraft  durch  die  ganze  Natur  hindurch. 

Unorganische  und  organische  Natur  sind  demnach  einander 
nicht  fremd,  sondern  jene  ist  die  Bedingung  für  diese;  erst  aus  der 
unorganischen  Natur  konnte  sich  die  organische  entwickeln.  Alles 
organische  Leben  besteht  in  einem  fortwährenden  Ankämpfen  und 
sich  Behaupten  gegen  den  Andrang  der  äußeren  Natur;  die  äußeren 
Wirkungen  werden,  dadurch  daß  sie  von  dem  Organismus  aufgenommen 
und  durch  Gegenwirkungen  erwidert  werden,  in  innere,  organische 
Wirkungen  verwandelt.  Ohne  äußere  Wirkung  keine  organische 
Gegenwirkungen,  ohne  äußere  Natur  kein  organisches  Leben.  Das 
organische  Leben  besteht  nur  mit  dem  Andi'ange  einer  äußeren  Natur. 
Daher  gehören  beide  Naturen,  die  unorganische  und  die  organische, 
notwendig  zusammen;  ohne  die  unorganische  Natur  könnte  die  organi- 
sche nicht  existieren '^2).  Die  Funktionen  der  letzteren  sind  die  höheren 
Potenzen  von  den  Funktionen  der  ersteren,  jene  ist  die  Bedingung 
für  diese.  So  herrscht  also  nicht  nur  innerhalb  der  einzelnen  Naturen 
die  Einheit  der  Ki'aft  der  Hervorbringung,  sondern  diese  waltet  als 
allumfassendes  Weltgesetz  durch  die  ganze  Natur. 

Kap.  III.  Vergleich  mit  dem  Darwinismus  und  Vitalismus 
sowie  Würdigung   der  Schelling'schen   Entwicklungslehre. 

§  1.    Darwinismus. 

Das  Vorstehende  kennzeichnet  den  großen  Gedanken  der  Einheit, 
wie  er  in  Schellings  Entwicklungslehre  sich  darstellt,  den  Gedanken, 
welcher  auch  dem  modernen  Darwinismus,  bezogen  auf  die  organische 
Natur,  zu  Grunde  liegt. 

Beiden,  Schelling  sowohl  wie  Darwin,  fiel  die  gemeinsame  Aufgabe 
der  Erldärung  der  Einheit  in  den  Naturformen  zu.  Da  Darwins  Theorie 
der  Hauptsache  nach  als  allgemeine  bekannt  angenommen  werden 
darf,  so  erübrigt  es  sich,  eine  Darstellung  derselben  zu  geben;  es  sollen 


5-)  I.   :}.   G9— 92. 

19=* 


292  Karl  Zöckler, 

deshalb  nur  die  Punkte  herangezogen  werden,  welche  zum  Vergleich 
mit  Schellings  Entwicklungslehre  nötig  sind. 

Darwins  Theorie  beschränkt  sieh  auf  das  Reich  der  organischen 
Natur,   Schelhngs   Entwicklungslelu-e   dagegen   umfaßt   die  gesamte 
Welt,  die  sichtbare  sowohl  wie  die  unsichtbare.    Schon  aus  dieser  rein 
äußerlichen  Verschiedenheit  des  Umfangs  der  Entwicklungsgedanken 
beider  folgt,  daß  die  auf  den  kleineren  AVirkungskreis  bcsclu'änkten 
Ausführungen  Darwins  eine  größere  Sicherheit  bieten,  als  die  Schelhngs, 
welche  zu  oft  durch  Kühnheit  und  Überschwenghchkeit  ihrer  Beweis- 
führung erstaunen.    Diese  Verschiedenheit  der  Bewertung  ist  bedingt 
durch   die  Verscliiedenheit   der  Voraussetzungen,   von  denen  beide 
Theorien  ausgehen.     Für  Schelhng  ist  das  Subjekt  der  Entwicklung 
das  einzig  Reale,  die  Natur  in  ihrer  absoluten  Produktivität,  che  natura 
naturans;  das  Objekt,  die  natura  naturata  dagegen  ist  das  Sekundäre; 
alles  Objektive  ist  nur  als  ein  Durchgangsprodukt  anzusehen,    durch 
welches  hindmxh  das  Subjekt  der  Entwicldung,  die  Vernunft,  zu 
immer  größerer  Machtvollkommenheit  sich  entwickelt.     Die  in  der 
Entwicklung  begriffene  Vernunft  braucht  notwendig  ein  Objekt,  ini 
Kampf  mit  dem  sie  sich  ent^vickeln  kann,  um  so  zu  immer  höherem 
Grade  der  Vollkommenheit  zu  gelangen.     Zu  diesem  Zweck  darf  der 
Schaffenstrieb  der  Natur  niemals  befriedigt  werden;  denn  das  wäre 
das  Ende  und  der  Stillstand  aller  Entwicklung;  vielmelir  muß  immer 
noch  ein  Restbetrag,  ein  Gegensatz  zwischen  dem  ewig  überlegenen 
Subjekt  und  dem  Objekt  übrig  bleiben,  zu  dessen  Ausgleich  wieder 
ein  neues  Objekt  geschaffen  werden  muß  usw.  bis  ins  Unendhchc. 
Die  nach  der  Bildung  eines  Objekts  sofort  wieder  von  neuem  auf- 
tretenden, nur  dem  Grade  nach  verschiedenen  Gegensätze  zwischen 
Subjekt  und  Objekt  sind  die  bewegende  Ursache  aller  Entwicklung. 
In  der  ganzen  Entwicklungsreihe  des  Subjekt-Objekt  ist  diejenige 
Form  die  vollkommenste,  in  welcher  das  Subjekt  den  relativ  höchsten 
Grad  seiner  Vollkommenheit  erreicht  und  das  Objekt  relativ  gegen 
das  Subjekt  verschwindet,  oder,  was  dasselbe  ist,  ganz  in  das  Subjekt 
übergeht.  Dieses  Ziel  ist  im  reflektierenden  Menschen  erreicht.  Hierauf 
richtet  sich  das  Streben  der  ganzen  Entwicklung  in  stetiger  kontinuier- 
Meher  Stufenfolge.     Sie  ist  nichts  als  werdender  Geist,  der  das  Be- 
streben hat,  sich  durch  das  Stufenreich  der  unorganischen  und  organi- 
schen Natur  bis  zum  reflektierenden  Menschen  aus  der  unbe^^iißteii 
Gestalt  in   die  be\^Tißte   durchzuringen.     Das  ist   der  teleologische 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Natirrphilosophie.  293 

Charakter  der  Entwicklungslehre  ScheUiugs.  Diese  Lehre  sucht  die 
einzelnen  Erscheinungen  nicht  etwa  in  ihrem  kausalen  Zusammen- 
hang zu  erklären;  sie  bezeichnet  vielmehr  ein  idielles  Verhältnis, 
welches  besagen  will,  daß  sich  in  jeder  einzelnen  Erscheinung  die 
Grundidee  des  Ganzen  ausbreitet,  und  welche  jede  einzelne  Erscheinung 
nur  nach  dem  Platz  oder  der  Rangordnung  zu  modifizieren  sucht, 
die  ihr  in  bezug  auf  den  Gesamtzweck  der  Natur  zukommt.  Während 
bei  Schelling  nur  das  Subjekt  der  Entwicklung  Reahtät  besitzt  und 
das  Objelrt  nur  die  vorübergehenden  Durchgangsstufen  des  sich  ent- 
wickelnden Subjekts  bildet,  haben  bei  Darwin  Subjekt  und  Objekt 
der  Entsvicklung  gleiche  Realität.  Daher  ist  eine  Beziehung  zwischen 
beiden  nur  durch  die  Erfahrung  möglich.  Bei  Darwin  ist  kein  In- 
dividuum dem  anderen  gleich,  ebenso  wenig  wie  nach  der  Wissenschafts- 
lehre ein  Gedanke  dem  anderen  gleich  sein  kann,  da  er  ja  zuerst  sein 
Gegenteil  erzeugt,  woraus  sich  weitere  Folgerungen  ergeben.  Diese 
Verschiedenartigkeit  der  Individuen  ist  bei  Darwin  die  Veranlassung 
zur  Entstehung  neuer  Formen.  Die  Vervollkommnung  regelt  sich 
durch  die  Auswahl,  welche  den  Formen,  die  den  jeweihgen  Verhält- 
nissen des  betreffenden  Aufenthaltsortes  zufällig  am  besten  angepaßt 
sind,  das  Übergewicht  gibt  vor  solchen  Formen,  die  nach  dieser  Rich- 
tung hin  weniger  begünstigt  sind.  x\uf  diese  Weise  werden  aUmähhch 
vollkommene  Formen  gezüchtet  und  die  unvollkommenen,  welche 
im  Kampf  ums  Dasein  untergehen  müssen,  ausgeschaltet.  (,,Natür- 
hche  Auslese".)  Die  organische  Form  ist  bei  Darwin  insoweit  voll- 
kommen, als  iluT  Organisation  den  Bedingungen  der  Umgebung 
sich  anpaßt.  Die  Vollkommenheit  ist  daher  eine  rein  zufälhge;  denn 
da  es  ungewiß  ist,  in  welcher  Richtung  sich  die  Daseinsbedingungen 
ändern  werden,  ist  eine  bestimmte  vorausliegende  Tendenz  aus- 
geschlossen. Es  gibt  bei  Darwin  keine  Zielstrebigkeit  in  der  Natur, 
sondern  die  Zweckmäßigkeit  ist  das  notwendige  Resultat  natürhcher, 
rein  kausal  wirkender  Faktoren.  Sein  Entwicklungsplan  steUt  sich 
dar  als  Linien,  die  von  einem  Punkt  aus  divergieren,  so,  daß  diese 
wiederum  sich  nach  allen  Richtungen  rein  zufälüg  verzweigen,  je 
nachdem  die  Bedingungen  der  Umgebung  dieses  ermöglichen.  Schel- 
lings Stufenfolge  dagegen  stellt  Eine  gerade  Linie  dar,  die  in  stetigem 
Drange  dem  Ziele  der  Entwicklung  zustreljt. 

Sonach  herrscht  sowohl  bei  ScheUing  als  auch  bei  Darwin  Ein- 
heit in  der  Entwicklung.    Dieser  Gedanke  der  Einheit  ist  von  Darwin 


294 


Karl   Zöcklcr, 


bezogen  auf  die  organisclic  Natur,  von  Schelling  auf  die  gesamte 
sichtbare  und  unsichtbare  Welt :  er  ist  von  dem  Empiriker  mechanistisch 
von  dem  Ideahsten  teleologisch  durchgeführt^^]. 


§  2.    Vitalismus. 

Der  Zentralbegriff  in  Schellings  Entwicklungslehre  ist  der  Begriff 
des  Lebens.  Ein  gemeinsames  Leben  durchzieht  dem  Prinzip  nach 
die  gesamte  Natur.  Was  in  ihr  tot  erscheint,  ist  nur  erstarrtes  oder 
noch  nicht  vollkommenes  Leben.  Man  darf  ihre  Erscheinungen  nicht 
in  ihrer  Vereinzelung  auffassen;  sie  ist  vielmehr  nichts  als  ein  großer 
Lebenszusammenhang,  ein  ewiges  Lieinandergreifen  der  lii'äfte,  in 
welchem  es  nur  auf  die  Lebendigkeit  des  Ganzen  ankommt.  „Es  war 
gewiß  ein  sinnvoller  Traum,  daß  die  tote  Materie  ein  Schlaf  der  vor- 
stellenden Kräfte,  das  Tierleben  ein  Traum  der  Monaden,  das  Ver- 
nunftleben endhch  ein  Zustand  der  allgemeinen  Erwachung  sei. 
Und'  was  ist  denn  die  Materie  anders  als  der  erloschene  Geist ?  In  ihr 
ist  alle  Duplizität  aufgehoben,  ihr  Zustand  ein  Zustand  der  absoluten 
Identität  und  der  Ruhe.  Im  Übergang  aus  der  Homogenität 
in  Duphzität  dämmert  schon  eine  Welt,  mit  der  AViederherstellung 
der  Duphzität  geht  die  Welt  selbst  auf."  (I.  3.  182.) 

Der  Geist,  oder,  was  dasselbe  ist,  das  Leben,  welches  durch  die 
ganze  Natur  hindurch  auf  jeder  Stufe  in  stetem  Werden  begriffen  ist, 
ist  nur  möglich  durch  den  fortdauernden  Konfhkt  entgegengesetzter 
Prinzipien,  der  den  Wechsel  der  Erscheinungen  unterhält  und  den- 
selben nötigt,  einen  beständigen  lü'eislauf  zu  bilden,  in  welchem  aUes 
Tote  als  „erloschenes  Leben"  und  alles  Lebendige  als  „individuah- 
siertes  Leben"  erscheint,  in  welches  letztere  sich  das  allgemeine  Leben 
der  Natur  kombiniert.  ,,Der  Organismus  ist  nicht  die  Eigenschaft 
einzelner  Naturdinge,  sondern  umgekehrt,  die  einzelnen  Naturdinge 
sind  eben  so  viele  Beschi-änkungen  oder  einzelne  Anschauungsweisen 
des  aUgemeinen  Organismus.  Die  Dinge  sind  also  nicht  Prinzipien 
des  Organismus,  sondern  umgekehrt,  der  Organismus  ist  das  Prinzipium 
der  Dinge.  Das  Wesenthche  aller  Dinge,  (die  nicht  bloße  Erscheinungen 
sind,  sondern  in  einer  unendlichen  Stufenfolge  der  Individualität  sich 
annähern)  ist  das  Leben:  das  Akzidentelle  ist  nur  die  Art  ihres  Lebens, 


®^)  Mejer,    H.,   Das  Verhältnis   der   Entwicklungstheorie   in   Schellings 
Natui-philosophie  zum  Darwinismus.     (Prog.  Görlitz   1906.) 


Der  Entwicklungsgedanke  in  Schellings  Natui'plillosophie.  295 

und  auch  das  Tote  in  der  Natur  ist  nicht  an  sich  tot,  ist  nur  das  er- 
loschene Leben/' ^*)  Diese  Sätze  beweisen  deuthch,  was  Schelhng 
in  seiner  Schrift  von  der  Weltseele  sagen  wollte.  Nur  so  ist  sein  he- 
rührates  Wort:  „Das  AU  lebt"  zu  verstehen.  Das  organische  Leben 
ist  nur  die  Konzentration  oder  Einscliränkung  des  allgemeinen  oder 
unorganischen  Lebens.  Mithin  ist  das  allgemeine  Leben  das  primäre, 
das  organische  das  sekundäre,  welches  sich  erst  aus  jenem  entwickeln 
konnte.  Schelhng  fordert  also  die  allgemeine  oder  die  physikahsche 
Erklärung  des  Lebens. 

Seine  Entwicklungslehre  steht  daher  in  völhgem  Gegensatz  auch 
zu  dem  Vitahsmus  im  Sinne  der  Theorie  der  sogenannten  Lebens- 
kraft. Die  Basis,  auf  der  Schellings  Entwicklungslehre  fußt,  ist  der 
Gedanke  einer  durchgängig  lebendigen  Natur,  einer  sich  selbst  ge- 
staltenden und  organisierenden  Materie,  welche  sich  durch  das  Bereich 
der  unorganischen  und  organischen  Na+ur  stufenmäßig  entwickelt. 
Einer  besonderen  Lebenskraft,  welche  den  Organismen  allein  zu- 
konmien  soll,  bedarf  es  in  dieser  Entwicklungskette  nicht;  denn  das 
Leben  beginnt  bei  ScheUing  bereits  in  der  unorganischen  Natur  und 
zieht  sich  in  immer  höherer  Stufe  durch  die  gesamte  Natur  hindurch. 
Nur  unter  dieser  Voraussetzung  besteht  eine  natürliche  Verbindung 
zwischen  der  unorganischen  und  organischen  Natur,  zwischen  Körper 
und  Geist.  Jede  künsthche  Verbindung  dagegen,  wie  die  Einscliiebung 
einer  besonderen  Lebenski-aft,  würde  in  der  ganzen  Entwicklungsreihe 
Schelhngs  als  ein  fremdes  Ghed  erscheinen,  welches  die  Einheit  des 
Gesamtlebens  der  Natur  vernichten  würde.  Daher  verwirft  Schelhng 
den  Vitahsmus,  die  Theorie  der  sogenannten  Lebensla'aft :  denn  diese 
würde  den  ^linismus  seines  Entwicklungsgedankens  zerstören  und 
nicht  imstande  sein,  das  organische  Leben  zu  erklären,  dessen  Wurzeln 
l)ei  Schelhng  bereits  in  der  allgemeinen  oder  unorganischen  Natur 
liegen  ^^j. 

§3.  Die  Bedeutung  der  Schellingschen  Entwicklungslehre. 

Zum  Schluß  mögen  noch  einige  Bemerkungen  über  die  Be- 
deutung der  Entwicklungslehre  Schelhngs  gegeben  werden.  Doch 
können  diese,  da  che  Schellingsche  Naturphilosophie  schon  genügend 


")  Von  der  Weltseele  II.  A.   1. 
«■5)  I.    -2.    5G4. 


296  Karl  Zöcklcr. 

kritisiert  worden  ist  (vgl.  Siegel,  a.  a.  0.  S.  214ff.,  sowie  die  Abhaiul- 
luiig  von  Heußler  in  den  Khein.  Blättern  für  Erziehung  und  Unter- 
richt 1882,  S.  548 ff.)  nur  beschränlt  sein;  es  sollen  daher  nnr  die 
Momente  hervorgehoben  werden,  die  in  objektiver  Beurteilung  des 
ganzen  großzügig  angelegten  Systems  neben  kleineren,  kaum  zu  ver- 
kennenden Schwächen  unserem  genialen  Autor  in  den  Augen  eines 
jeden  von  wahrhaft  historischem  Geiste  beseelten  Beurteilers  ein 
bleibendes  Denkmal  zu  setzen  imstande  sind.  Was  Schelhng  heute 
allgemein  vorgeworfen  zu  werden  i)flegt,  kann  man  dahin  zusanmien- 
fassen,  daß  er  die  Erfahrung  mißachtet  und  an  ihrer  Stelle  willkürlliche 
Konstruktion  gesetzt  habe.  Daß  Schelling  allerdings  die  Bedeutung 
der  Theorie  gegenüber  der  Erfahiamg  hervorgehoben  hat,  ist  richtig; 
anderseits  aber  darf  nicht  verkannt  werden,  daß  er  zur  Verifikation 
seiner  Theorien  stets  die  Erfahrung  herangezogen  hat.  Höchstens 
könnte  man  ihm  vorwerfen,  daß  er  dabei  aUzu  oberflächlich,  zum 
mindesten  nicht  sorgfältig  genug  und  öfter  allzu  kühn  vorgegangen 
ist.  Doch  was  haben  diese  und  dergleichen  ähnliche  Vorwürfe  zu 
bedeuten  gegenüber  der  großartig  durchgefühi'ten  Idee  von  der  Einheit 
der  gesamten  Natur,  womit  der  untrennbare  Zusammenhang  zwischen 
der  organischen  und  unorganischen  Natur  gegeben  ist !  In  dieser 
grandiosen  Anerkennung  der  Natureinheit  sowie  in  der  konsequenten 
Durchführung  der  dynamistischen  Auffassung,  in  welcher  sich  die 
Natur  durch  die  Einheit  der  Ki'äfte  vor  unseren  Augen  zu  immer 
höherer  Stufe  a  priori  entwickelt,  liegt  die  Hauptbedeutung  der 
Schelüngschen  Entwicklungslehi'e.  Gegenüber  dieser  großzügig 
durchgeführten  Idee,  wie  sie  nur  in  dem  Kopfe  eines  so  einzig  an- 
gelegten Menschen,  w'e  Schelling,  heranreifen  könnte,  treten  kleinere 
Bemängelungen  vollständig  in  den  Schatten,  und  hier  ist  der  Punkt, 
an  deni  eine  objektive  Kritik  anzusetzen  hat. 

Mögen  diese  kurzen  Andeutungen  dazu  beitragen,  Licht-  und 
Schattenseiten  in  den  Leistungen  unseres  großen  Denkers  richtig  zu 
verteilen  und  ihn  dadurch  der  Mitwelt,  bei  welcher  Schelhng  trotz 
der  unparteiischen  geschichthchen  Beurteilung,  für  welche  Kuno 
Fischer  so  energisch  eintritt,  noch  lange  nicht  zur  allgemeinen  Geltung 
durchgedrungen  ist,  menschhch  näher  zu  rücken. 


IX. 

Paul  Deussen. 

Ein  Nachwort  zu  seinem  70.  Geburtstag. 

Von 

Dr.  Franz  Mockrauer. 

Philosophie,  die  höchste  Leistung,  deren  die  Menschheit  fähig 
ist  uiid  zu  deren  Hervorbringung  Menschen  auf  diesem  gebrech- 
hchen  Planeten  entstanden  sind,  Philosophie  hat  eine  seltsame  Ge- 
schichte und  ein  kompliziertes  Wesen,  und  nur  sie  selbst  kann  zum 
letzten  Verständnis  ihrer  Natur  gelangen.  Völkerwanderungen,  Re- 
volutionen, Kriege  mit  all  ihrer  Zerstörungs^\Tlt  konnten  bis  heute 
ihren  langsamen,  aber  doch  stetigen  Fortschritt  nicht  hemmen.  Alles  — 
die  großen  Geister,  ihre  weniger  großen  Schüler,  ihre  umfangreichen 
Schulen,  die  Nationen  samt  ihren  inneren  so  mannigfachen  praktischen 
Kräften,  die  Kunst,  die  empirischen  Wissenschaften  —  sie  alle  müssen 
ihr  dienen,  müssen  sie  aufbauen  helfen  und  sich  von  ihr  leiten  lassen, 
ob  sie  es  wissen  und  wollen  oder  nicht,  ob  es  eingeständlich  geschieht, 
wie  in  Indien  und  im  katholischen  Mittelalter,  oder  verhohlen,  wie 
heute,  ob  sie  sich  auflehnen  oder  freiwillig  unterordnen,  ob  die  Philo- 
sophie in  Gestalt  kirchlicher  Dogmen  oder  staatlicher  Verfassungsgrund- 
sätze oder  wissenschaftücher  Gedanken  auftritt.  Nur  wenige  Menschen 
sind  sich  bewußt,  daß  die  Worte,  in  denen  sie  sich  ausdiücken,  die 
Begriffe,  die  sie  durch  Schule,  Lektüre  und  Umgebung  sich  aneigneten, 
also  auch  die  bewußte  Ethik,  zu  der  sie  durch  andere  und  sich  selbst 
erzogen  wurden,  die  Grundsätze  alles  geistigen  und  praktischen  Tuns, 
daß  alles  dies  aus  mühsamer  Gedankenarbeit  der  früheren  Genera- 
tionen und  genialen  Offenbarungen  weniger  Auserwählter  hervor- 
gegangen ist.  Niemals  hat  Philosophie  die  Macht  der  Gegenwart, 
um  so  sicherer  stets  die  Macht  der  Zukunft,  und  die  Grundgedanken 
der  in  diesen  Zeiten  sich  offenbarenden  deutschen  Ethik  knüpfen 


I 


298  1'  r a  n  z    AI  o ck  i' a  u e  r , 

sich  insbesondere  an  die  Lehren  der  deutschen  Philosophie  des  18.  und 
19.  Jaln-hunderts,  soweit  sie  in  die  staatlichen  Hochschulen  und 
Jugenderziehungsstätten  Eingang  gefunden.  Inzwischen  freilich  ist 
die  Kantische  Philosophie,  welche  im  allgemeinen  die  Grundlage  des 
philosophischen  Denkens  der  Gegenwart  gebheben  ist,  von  einer 
infolge  ihrer  scheinbaren  Po))uIarität  noch  wenig  verstandenen  Me- 
taphysik überholt  worden,  der  Schopenhauerschen:  den  durch  Ee- 
aktion  gegen  Hegels  Routine  des  unklaren  Tiefsinns  erzeugten  empi- 
ristischen, psychologistischen,  materiahstischen  Strünningen  der 
zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  fehlt  es  dagegen  an  meta- 
physischer Vertiefung  oder  Erkenntniskritik,  den  philosoijhischen 
Dichtungen  des  genialen  Nietzsche  an  konsequenter  Systematik, 
Wirklichkeitsbewußtsein,  Weite  des  Tiefsinns  und  Kritik,  so  un- 
schätzbare neue  Elemente  auch  beide  Richtungen,  durch  einzelne 
Grundeinsichten,  Probleme,  i)artielle  Gedanken,  Ausdrücke.  Be- 
obachtungen auf  allen  Gebieten  der  Welt,  der  Philosophie  zuzu- 
führen vermögen.  Die  Schopenhauersche  Philosophie,  welche  eine 
viel  weitere  Welt  umspannt,  als  in  die  Köpfe  der  letzten  Jahrzehnte 
überhaupt  hineinging,  hat  Raum  für  alles,  was  seit  ihrem  Urheber 
gedacht  worden  ist.  Sie  bietet  eine  feste  s3'Stematische  Grundlage, 
da  in  ihr  überwirkliche  Einsichten,  Empirie,  logische  Auflösung  und 
Konsequenz  und  die  Angemessenheit  des  Ausdrucks  in  der  erforder- 
lichen Harmonie  dem  formalen  Charakter  echter  philosophischer  Er- 
kenntnis entsprechen.  Aber  die  Gestalt,  in  welcher  der  Autor  sie 
hinterließ,  genügte  bei  der  Fülle  der  zu  verarbeitenden  Intuitionen 
den  Ansprüchen  an  die  logische  Verkettung  nicht  überall:  darum 
nahm  die  im  allgemeinen  vorherrschende  rationalistische  Philosophie, 
die  Philosophie  der  ordentlichen  Logik,  an  ihr  so  schweren  Anstoß, 
daß  sie  mit  Spott  auf  Schopenhauers  ,,AVidersprüche"'  hinwies  und 
sich  —  so  unglaublich  es  klingt  —  mit  diesem  Hinweis  begnügte, 
während  nur  unproduktive  Philosophen,  desto  lebhafter  aber  be- 
deutende Künstler,  Musiker,  Dichter,  Literaten  vom  Geiste  Schopen- 
hauers mehr  verspürten,  in  deren  Ivreise  der  Denker  allmählich  ein 
l)reites  Pubükum  gewann.  Sehen  wir  von  Frauenstädts  geringfügigen 
anfechtbaren  Fortsetzungen,  von  v.  Hartmanns  verhegelten  und 
schellingisierten  Phantasien,  von  all  den  anderen  nur  Beeinflußten 
und  nicht  Belehrten  ab,  so  bleiben  nur  zwei,  welche  sich  in  ernst  zu 
nehmender    Weise    um    Schopenhauers    Philosophie    bemühten:    der 


Paul  Deussen.  299 

schon  verstorbene  Dresdener  Justizrat  Carl  Bahr,  welcher  als 
junger  Student  ein  heute  noch  sehr  lesenswertes,  vom  Standpunkt 
Kantischor  Ki'itik  aus  verfaßtes  und  von  Schopenhauer  selbst  außer- 
ordenthch  gelobtes  Büchlein  über  die  „Schopenhauersehe  Philosophie 
in  ihren  Grundzügen"  (Dresden  1857)  schrieb,  und  Paul  Deussen, 
welcher,  durch  Nietzsches  persönHche  iVuregun«-  zu  Schopenhauer 
geführt,  als  Dogmatiker  die  eigenthchen  Grundlinien  der  vom  Meister 
hinterlassenen  Philosophie  herausarbeitete  in  seinem  überaus  klaren, 
schönen,  tiefen  Buche  „Elemente  der  Metaphysik"  (in  5.  Auflage  1913). 
Dieses  Buch,  von  dem  ich  gewiß  nicht  sagen  will,  daß  es  nichts  mehr 
zu  tun  übrig  heße,  hat  doch  die  Schopenhauersche  Philosophie  so 
weit  konsolidiert,  daß  nunmehr  eine  einheithche  Organisation  der 
Schopenhauerschen  Schule  und  die  Anknüpfung  der  empmschen 
Forschung  an  die  Grundsätze  dieser  Pliilosopliie  erfolgen  kann. 

Das  ist  Paul  Deussens  Stellung  in  der  systematischen  Philosophie 
des  an  echter  Metaphysik  so  arm  gewordenen  Zeitalters.  Wie  weit 
er  mit  seinen  schon  1877  in  feste  Form  gebrachten  Lehrsätzen  über 
die  Schopenhauersche  Fassung  hinausgelangt  ist,  wie  weit  er  ancü'er- 
seits  über  seinen  Bemühungen  hinter  der  inzwischen  fortschreitenden 
Empirie  und  den  neuen  partikulären  Philosophemen  seines  Zeit- 
alters zurückbleiben  und  mit  Schopenhauer  für  die  wertvollen  Elemente 
der  von  dessen  Zeitgenossen  ausgehenden  Philosophien  unempfänglich 
bleiben  mußte,  für  diese  einer  gründlichen  Untersuchung  durchaus 
bedürftigen  Fragen  fehlt  hier  der  Raum.  Das  allein  möchte  ich  nicht 
verschweigen,  daß  eine  gedeihhche  Entwicklung  der  Philosophie  mir 
nur  im  engen  Anschluß  an  Schopenhauer  und  seine  Schüler  Becker*), 
Bahr  und  vor  allem  Deussen  möghch  erscheint.  AVie  die  Gelehrten- 
welt in  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen  Jahrhunderts,  nachdem  die 
Stürme  der  Hegelei  sich  ausgerast,  auf  Kant  zurückgriff,  um  ihn  nun 
erst  zu  verstehen,  so  wird  man  jetzt,  fast  hundert  Jahre  nach  dem 
Erscheinen  der  „Welt  als  WiUe  und  Vorstellung",  auf  Schopenhauer 
zurückgehen  müssen,  um  der  allgemeinen  Anarchie  der  Wissen- 
schaften Herr  zu  werden.  Man  wkd  dabei  durch  Deussen  ein  besseres 
Bild  des  Systems  gewinnen,  als  vor  ihm  möglich  war,  und  bedauern, 
sich  nicht  schon  vor  37  Jahren  bei  ihm  Rat  geholt  zu  haben.    Aber 


*)  Briefwechsel    zwischen    Arthur    Schopenhauer    und   Johann    August 
Becker,  herausg.  von  Joh.  Karl  Becker.     Leipzig  1883. 


oUÜ  Franz    Mockrauer, 

man  wird,  in  Scliopenhauers  und  Deussens  Sinne,  wiewohl  über  sie 
hinaus,  den  seit  jenen  Zeiten  neu  angesammelten  Stoff  von  Erfah- 
runuen  undPhilusophemenmitaut'zunehmen  haben,  um  dann  wiederum 
hieraus  neue  Grundlinien  zur  Ordnung  der  wissenschaftlichen  iVrbeit 
zu  erhalten.  Zugleich  werden  auch  die  noch  in  Deussens  „Elementen'" 
vorhandenen  inneren  Schwierigkeiten  zu  lösen  sein.  So  wird  auch 
diesmal  wieder,  wie  in  der  Philosophie  schon  oft,  das  Zurückgehen 
ein  Vorwärtsschreiten  sein,  und  man  wird  mit  wachsendem  Danke 
des  Mannes  gedenken,  der,  unbeirrt  durch  die  Bestrebungen  seiner 
Zeitgenossen,  mit  einsichtsvoller  Treue  an  einer  Philosophie  festhielt, 
deren  Modezeit  vorüliergehen  mußte,  deren  wahre  Herrschaft  erst 
jetzt  beginnt. 

Da  ich  nicht  bei  allen  meiner  Leser  die  Kenntnis  der  Schopon- 
hauerschen  Philosophie  im  Deussenschen  Sinne  voraussetzen  kann, 
so  will  ich  ein  kleines  Bild  von  ihr  zu  entwerfen  versuclien,  indem  ich 
einen  Extrakt  des  Extraktes  gebe,  der,  aus  Deussens  eigener  Feder, 
im  Dritten  Jahrbuch  der  Schopenhauergesellschaft  1913  abgedruckt 
ist.  „Was  ist  die  Welt?"  so  hebt  Deussen  an.  Es  ist  merkwürdig, 
sagt  er,  daß  man  allein  schon  diese  Frage  stellt  und  sich  nicht  mit 
dem  Hinweis  auf  die  AVeit  und  die  sie  durchforschenden  empirischen 
Wissenschaften  begnügt.  Sie  beweist,  daß  man  das  Wesen  der  Welt 
von  der  Welt  selbst  unterscheidet,  und  sie  zu  stellen  und  zu  beant- 
worten ist  Sache  der  Philosophie,  und,  mehr  und  mehr  in  die  Tiefe 
gehend,  läßt  sie  sich  dahin  beantworten,  daß  die  Welt  Materie,  Vor- 
stellung, Kraft,  Wille,  Sünde  ist.  In  unendlichen  Baume,  außerhalb 
dessen  nichts  sein  kann,  gibt  es  nur  das,  was  ihn  erfüllt,  die  Materie. 
Aber  diese  materielle  Welt  ist,  wie  Kant  nicht  nur  aussprach,  sondern 
durch  strenge  Beweise  stützte,  nur  Vorstellung,  da  ihre  drei  Grund- 
elemente, Raum,  Zeit  und  Kausalität,  ,,nur  Formen  des  Bewußt- 
seins sind,  jenes  ewigen  und  schrankenlosen  transscendentalen  Be- 
wußtseins, welches  in  jedem  empirischen  Bewußtsein  zur  Erscheinung 
kommt".  Bringt  man  von  der  Welt  alles  in  Abzug,  was  durch  jenes 
Bewußtsein  gesetzt  ist,  so  bleibt  als  Kern  der  Dinge  die  Kraft, 
welche  nicht  die  Ursache  der  Veränderungen  und  Erscheinungen, 
sondern  ihr  rätselhaftes  Innere  ist.  Dieses  eröffnet  sich  uns  aber  an 
einem  einzigen  Punkt  in  der  Natur,  in  unserem  eigenen  Selbst,  „w^elches 
einerseits  wie  alles  andere  uns  von  außen  gegeben  ist  als  der  sich  be- 
wegende Körper  und  andrerseits  von  innen  wie  nichts  anderes,  wo 


Piul  Deusf^en.  301 

dann  das,  was  äußerlich  als  Körperbewegung  sich  darstellt,  von  innen 
als  ein  Akt  des  AVollens  empfunden  wird."  Eine  schrittweise  fort- 
schreitende Analyse  ergibt,  daß  eben  dasjenige,  was  bei  jeder  will- 
kürlichen Bewegung  als  Wollen  empfunden  wird,  auf  anderem  Wege 
alle  vegetativen  Funlrtionen  des  Organisnms  regiert,  daß  der  ganze 
Mensch  nur  der  in  Kaum,  Zeit  und  Kausalität  sich  darstellende  Wille 
ist,  und  daß  dasjenige,  was  in  allen  Tieren,  Pflanzen,  unorganischen 
Körpern  und  ilu'en  Veränderungen  uns  entgegentritt,  nur  der  Er- 
scheinung nach  von  dem  AVillen  in  uns  verschieden,  dem  inneren 
Wesen  nach  aber  mit  ihm  identisch  ist.  Die  Welt  ist  Wille.  Dieser 
WiUe  will  leben  und  sein  Leben  durch  Ernährung  und  Fortpflanzuno- 
erhalten. ,,Die  Wurzel  aller  dieser  Bestrebungen  aber  ist  der  Egoismus'", 
den  die  heilige  Schrift  Sünde  nennt.  „Denn  nach  der  tieferen  Auf- 
fassung des  Christentums  liegt  die  Sünde  nicht  in  den  einzelnen  Hand- 
lungen, welche  nach  dem  Kausalitätsgesetze  mit  Notwendigkeit  aus 
dem  inneren  Charakter  hervorgehen,  sondern  in  diesem  selbst,  nicht 
in  dem,  was  wir  tun,  sondern  in  dem,  was  wir  sind.  Die  ganze  Welt 
mit  all  ihrer  Schönheit  ist  nur  eine  Ausbreitung  des  Egoismus"  und 
somit  der  Sünde.  Aber  dem  kausahtätslosen,  mithin  freien  Willen 
liegt  es  gleich  nahe,  „eine  Welt  wie  die  unsere  zu  wollen  oder  nicht 
zu  wollen".  Doch  obwohl  wir  wissen,  wie  sein  Wollen  erscheint, 
lileibt  uns  unbekannt,  „ob  auch  sein  Nichtwollen  als  Reich  Gottes, 
Himmelreich,  Nii-wana  erscheint".  Aber  nun  treten  schon  innerhall) 
der  Erscheinungswelt  „die  moraüschen  Handlungen  der  uninter- 
essierten Gerechtigkeit,  die  niemanden  schädigen  will,  der  aufopfernden 
Liebe,  welche  allem  Leidenden  in  seiner  Not  zu  Hilfe  kommt,  und 
der  Entsagung,  welche  die  Genüsse  dieser  Welt  verschmäht,  weil 
sie  nach  dem  trachtet,  was  da  di'oben  ist",  hervor  als  solche  Hand- 
lungen, „welche  sich  aus  dem  Egoismus  als  Prinzip  dieser  Welt  in 
keiner  Weise  erklären  lassen  und  als  der  Durchbruch  der  Verneinung 
in  die  Sphäre  der  Bejahung  anzusehen  sind."  „In  der  Tatsache  dieser 
moralischen  Handlungen  liegt  das  ganze  und  sichere  Evangelium  einer 
besseren  Welt,  welche  durch  völlige  Aufgebung  des  egoistischen 
Willens  in  unendhcher  Annäherung  von  uns  allen  erreicht  werden 
wird  und  uns  einem  willensfreien  Zustande  entgegenführt,  welcher, 
nach  dem  Zustande  in  den  Augenblicken  der  ästhetischen  willens- 
freien Kontemplation  zu  urteilen,  sich  charakterisieren  läßt  als  eine 
alle  Genüsse  des  Erdenlebens  weit  hinter  sich  lassende  unaussprech- 
Hche  Seligkeit." 


302  Franz    Mockrauer, 

Diese  allzukurze  Darstellung  der  Hauptgedanken  der  Deussen- 
schen  „Elemente"  kann  als  solche  nicht  mehr  leisten,  als  der  völligen 
Unkenntnis  ein  wenig  zu  begegnen,  und  denen,  welche  Scho])enhauer 
kennen,  Deussens  Auffassung  seiner  Lehre  anzudeuten.  Im  übrigen 
wäre  ich  wohl  in  der  Lage,  den  eigentlichen  Gedanken  dieser  Philosophie 
in  einem  einzigen  Satze  auszusprechen,  wie  dies  Schopenhauer  selbst 
getan  hat.  Al)er  je  abstrakter  und  kürzer  die  Formuherung  der 
Philosophie  gefaßt  ist,  desto  intimere  Bekanntschaft  mit  ihi*  wird 
beim  Leser  vorausgesetzt,  weshalb  man  sagen  kann,  daß  eine  Philosophie 
gerade  so  weit  ausführlich  dargestellt  werden  soll,  als  der  Leser,  für 
den  man  schreibt,  imstande  ist,  ihre  BegTiffe  mit  Anschauung  zu 
erfiülen.  Doch  seltsamerweise  ist  es  nicht  einmal  Schopenhauers  so 
überaus  Idarer  und  stets  von  neuem  an  die  konki'eten  Erscheinungen 
anknüpfender  Darstellungsart  gelungen,  alle  Leser  zum  Verständnis 
zu  zwingen,  nicht  einmal  immer  diejenigen,  welche  ihn  zu  verstehen 
glauben,  indem  sie,  durch  die  Lebendigkeit  und  Schönheit  der  Sprache, 
die  Fülle  der  ihrer  Phantasie  vorgeführten  Bilder,  die  Klarheit  der 
Gedankenfolge  entzückt,  eine  subjektive  Befriedigung  empfinden, 
welche  sie  fälschlich  für  das  Symptom  des  wahren  Verständnisses 
halten.  Kann  somit  im  Grunde  keine  Darstellung  die  allein  angemessene, 
d.  h.  der  Mtteilung,  der  Übertragung  in  andere  Intellekte  allein 
dienhche  sein,  so  ist  es  am  wenigsten  die  excerpierende  Darstellung 
der  an  sich  selbst  toten  Grundbegriffe  eines  Systems,  welche  nicht 
unmittelbar  der  lebendigen  Konception,  sondern  dem  Wunsche  aller, 
es  sich  bequem  zu  machen,  entspringt.  Ich  kann  daher,  um  zum  Ver- 
ständnis der  Deussenschen  Philosopliie  zu  führen,  nichts  Besseres 
tun,  als  auf  die  Bücher  und  kleineren  Scluiften  des  Autors  zu  ver- 
weisen, noch  mehr  auf  die  eigene  Beobachtung  der  kleinen  und  großen 
Dinge  dieser  Wirklichkeit  und  das  tief  verborgene,  bis  unter  die 
Schwelle  der  Erfalirung  und  deren  Formen  reichende  Weltgefühl, 
das  jedem  in  gewissem  Grade  gegeben  ist. 

Eine  Kritik  der  Grundbegriffe  der  Deussenschen  Philosophie 
und  des  durch  sie  geleiteten  Blickes  auf  das  AVeltgeschehen  würde 
ihre  innere  logische  Widerspruchslosigkeit,  das  Quantum  verarbeiteter 
Erfahrung  und  die  Tiefe  und  den  Umfang  der  inspirierenden  über- 
wirklichen Intuition,  sowie  das  Verhältnis  dieser  drei  Elemente  einer 
jeden  Philosophie  in  der  vorliegenden,  endlich  das  Verhältnis  zu  den 
Intuitionen,  Erfahiungen  und  Gedanken  gegenwärtiger  und  früherer 


Paul  Deussen.  30o 

Denker  zum  Gegenstande  haben.  Dabei  würde  sich  zwar  ergeben, 
daß  diese  Philosophie  mit  den  Systemen  der  nachkantischen  Philosophie 
völlig  außer  Zusammenhang  geraten,  aus  der  HauptentwicMungs- 
reihe  der  deutschen  Philosophie  herausgetreten  und  in  eremitischer 
Einsamiveit,  fern  vom  Markte  der  Lehrmeinungen  und  dem  Lärm  der 
Diskussionen,  ihren  Weg  verfolgt  hat  und  mm  wie  der  Fremdhng 
aus  einer  anderen  Welt  mitten  unter  uns  steht,  vom  Zeitgeist  ver- 
kannt und  den  Zeitgeist  nicht  kennend,  daß  sie  ferner  mit  der  un- 
geheuren Zunahme  der  empirischen  Kenntnisse  auf  naturwissen- 
schaftlichem, psychologischem,  soziologischem  Gebiete  bei  weitem 
nicht  gleichen  Scluitt  gehalten  hat  und  vieles,  sehr  vieles  ,, draußen 
läßt":  aber  dafür  Mürde  klar  zu  Tage  treten,  daß  sie,  abgesehen  von 
der  angesichts  der  Fülle  ihres  Inhalts  erstaunlichen  und  mit  Leichtig- 
keit vollkommen  zu  machenden  logischen  Konsequenz,  eine  Tiefe 
imd  einen  Umfang  der  ihr  zu  Grunde  liegenden  und  das  Ghaos  der 
Erfahrungen  ordnenden  genialen  Intuition  aufweist,  wie  außer  der 
platonischen  keine  andere  Philosophie,  darum  unter  allen  bisher  ge- 
schaffenen Systemen  die  beste  Grundlage  bietet  zur  Organisation 
des  Aggregats  der  einander  so  heterogenen  empirischen  Erkenntnisse 
und  von  da  aus  zur  Eegelung  des  praktischen  Lebens  durch  klare 
Einsichten,  endhch  durch  ein  Verhältnis  ihi'er  formenden  Elemente, 
der  Inuition,  Erfahrung,  Gedanken  und  Worte,  zu  einander  sich  aus- 
zeichnet, wie  es  allein  dem  Wesen  der  Philosophie  als  der  organisierten 
Gesamtarbeit  der  mannigfachen  Ki-äfte  des  theoretischen,  d.  h.  um 
der  bloßen  Erkenntnis  willen  tätigen  menschüchen  Intellektes  ent- 
spricht. Das  war  neben  ihi'em  materialen  Wert,  den  neuen  und  wahren 
philosophischen  Gedanken,  das  gTößte  Verdienst  der  Schopenhauer- 
schen  Philosophie,  daß  sie  in  einer  bis  dahin  unerreichten  Weise  den 
formalen  Forderungen,  die  an  eine  als  Philosophie  auftretende  Lehre 
zu  stellen  sind.  Genüge  getan  hat,  daß  in  vollendetem  Vortrag  deutliche 
Gedanken,  in  deutlichen  Gedanken  eine  Idare  Anschauung  der  ganzen 
AVeit,  in  dieser  endlich  ein  über  die  Erfahrung  und  ihre  Formen  hinaus- 
gehendes geniales  Erfassen  der  letzten  Geheimnisse  zum  Ausdruck 
kommen,  gleichviel  welches  im  einzelnen  nun  ihre  Worte,  Gedanken, 
empirischen  Vorstellungen  und  Intuitionen  sind.  Und  nachdem  eine 
Philosophie  erst  diese  Höhe  erreicht  hatte,  gab  es  in  gerader  Fort- 
entwicklung nur  die  Alternative:  entweder  das  Gewonnene  formal 
noch  zu  vervollkommnen  und  für  die  Methode  der  empirischen  Wissen- 


;]04  Franz    Moc krauer, 

schafton   wie   zum  tieferen  Verständnis   der  früheren   Philosu])hieii, 
als  der  nach   der  jetzt  erreichten  Höhe  damals  erst  strebenden  Be- 
iniihuniieii,  fruchtbar  zu  machen,  oder  es  matcrial  durch  Aufnahme 
der  neuen  Erfahrungen  und  I^hilosopheme   zu  erweitern   und  eine 
wirklich    das    Denken    der   Zeit    zusammenfassende    Philosophie    zn 
schaffen.     Es  entsprach  der  Eigenart  Paul  Deussens,  den  ersteren 
Weg  zu  gehen.    Aber  wenn  er  nun  auch  scheinbar  hinter  den  l^rt- 
schritten  seiner  Zeitgenossen  zurückblieb  und,  um  seine  Aufgabe  zu 
erfüllen,  zurückbleiben  nuißte,  so  gleicht  er  doch  demjenigen,  der 
auf  dem  allein  rechten  philosophischen  Wege,  der  steil  und  mühselig 
ist,  langsam  vorwärts  kommt,  indessen  seine  Zeitgenossen  auf  mehr 
oder  weniger  parallel  laufenden  leichteren  Straßen  ihm  rasch  voraus- 
eilen, um  endlich  einzusehen,    daß    sie  sich    verlaufen    halben    und 
nun  zum  Ausgangspunkte  Kant  zurückkehren,  von  da  zu  Schopen- 
hauer und  Deussen  vorwärts  gehen  und  über  sie  hinausgelangen  müssen, 
damit  sie,  gleichsam  nun  erst  auf  legitime   Weise,   wirklich   dorthin 
kommen,  wo  sie  bereits  zu  sein  scheinen,  aber  nicht  sind.     Anstatt 
von  allen  Seiten   Kenntnisse  zusammenzuraffen  und  sich  beliebigen 
Meinungen  anzuschließen,  sobald  sie  —  sie  mögen  sein,  wie  sie  wollen  — 
von  bedeutenden  Köpfen  mit  bewundernswerter  Energie    und  Fähig- 
keit verfochten  werden,  wird  es  stets  wertvoller  sein,  derjenigen  Ent- 
wicklungslinie  zu  folgen,   welche   der  organisiei'ten   Gesamttätigkeit 
des  menschlichen  Bewußtseins,  d.  i.  der  Philosophie  entspricht,  also 
es  bei  aller  Tiefe  an  der  klaren  Ordnung  der  Empirie,  bei  aller  FüDe 
der  Erfahrungen  an  deutlichen,  möglichst  konkreten  Begriffen,  bei 
aller  Mannigfaltigkeit  der  Begxiffe  am  adäquaten,  wohlgeghederten 
Ausdruck  nicht  fehlen  zu  lassen.     Stehen  dann  wenigstens  die  Er- 
fahrungen der  allgemeineri  Bildung  der  Zeit  dem  Denker  zur  Ver- 
fügung, so  wird  er,  als  echter  Popularjihilosoph,  für  die  Philosophie 
mehi"  bedeuten  als  selbst  tiefsinnigere,  aber  weniger  von  der  AVirk- 
lichkeit  wissende  oder  minder  deuthch  denkende  oder  unlesbar  stili- 
sierende Kollegen,  als  jene  anderen  über  eine  viel  größere  Kealkenntnis 
verfügenden,  an  Tiefe,  Gedankenklarheit  und  Ausdruck  jedoch  hinter 
ihm  zurückstehenden  Gelehrten,  als  selbst  logisch  feiner  analysierende 
und  konsequenter  schließende,  im  übrigen  aber  gehaltlose  und  fade 
schi-eibende  Kationahsten,  als  ferner  blendende  Künstler  des  Wortes, 
denen  alles  oder  manches  andere  des  Geforderten  fehlt  und  die  ihre 
Phantasie    dei'    klangreichen,    schöngeistigen  Rede    supponieren,    als 


Paul  Deussen.  305 

alle  endlich,  denen  bei  der  glänzendsten  Begabun"-  mit  allen  oder 
manchen  der  geforderten  Fähigkeiten  die  rechte  Verbindung  zwischen 
diesen,  die  philosophische  Organisation  ilires  Bewußtseins  abgeht. 
Sie  alle  tragen  zur  Philosophie  nur  bei  —  er  aber  philosophiert,  gleich- 
viel, wieviel  er  „draußen  lassen"  muß,  gleichviel,  ob  er  ein  großes  oder 
geringes  Quantum  philosophischer  Produktion  zu  Tage  fördert.  Und 
diese  Bedeutung  kommt  Paul  Deussen  zu. 

Es  wurde  bereits  gesagt,  daß  Deussen  den  AVeg  der  inneren 
Vervollkommnung  des  Schopenhauerschen  Systems,  der  Anwendung 
seiner  Grundsätze  auf  die  Methode  der  empirischen  Wissenschaft 
und  der  Aufschließung  fremder  Gedankenwelten  durch  die  eigene  ge- 
gangen ist.  AVir  werden  seinen  Lebenslauf  unter  diesem  Gesichtspunkt 
verfolgen. 

Am  7.  Januar  1845  zu  Oberdreis  (Ki'eis  Neuwied)  als  einer  der 
Söhne  des  Pastors  gel)oren,  stand  er  früh  unter  dem  Einfluß  der 
metaphysischen,  nämlich  religiösen  Richtung  des  elterlichen  Hauses, 
und  alle  schwer,  aber  noch  rechtzeitig  errungene  Freiheit  von  der 
Engigkeit  theologischer  Begriffe  hat  ihn  nicht  nur  das  tiefere  Ver- 
ständnis der  hinter  den  christlichen  Dogmen  stehenden  Einsichten 
erst  gewinnen,  sondern  darüber  hinaus  ihn  eine  philosophisch,  vielleicht 
nicht  immer  zu  rechtfertigende  persönliche  Neigung  für  die  Gedanken- 
welt des  Christentums  und  der  primitiven,  aber  unvergleichlich  innigen 
und  allüberal]  den  Anfang  der  Philosophie  bildenden  Metaphysik  der 
Rehgionen  überhaupt  sich  weiter  bewahren  lassen.  Der  Unterricht 
im  Elternhause  und  die  Gymnasialzeit  in  Elberfeld  (1857—1859)  und 
besonders  in  Schulpforta  (1859—1864)  erzog  ihn  zu  einer  vielleicht 
einseitig  humanistischen,  aber  darum  außerordentlich  gediegenen 
Bildung  und  erweckte  in  ihm  ein  unmittelbares  Verständnis  und 
freudige  Begeisterung  für  das  klassische  Altertum,  an  das  er  nicht, 
wie  es  heute  geschieht,  von  außen  herantreten,  sondern  in  dem  er  sich 
geistig  zu  Hause  fühlen  lernte.  Auch  ])rachte  sie  ihm  die  unersetzhche 
Freundschaft  mit  Nietzsche,  über  welche  er  uns  einen  zur  Beurteilung 
beider  Beteiligten,  ihres  Lebens,  ihres  Charakters  und  ihrer  Werke 
sein-  schätzenswerten  Bericht  geschenkt  hat  in  den  „Erinnerungen 
an  Friedrich  Nietzsche"'  (Leipzig  1901),  und  welcher  vor  allem  wohl 
die  schöne,  klare,  plastische  Form  seiner  Darstellung,  sodann  die  für 
sein  Leben  so  entscheidende  Berührung  mit  Schopenhauers  Philosophie 
zu  verdanken  ist.    Es  ist  interessant,  aus  diesem  Buche  zu  erfahren, 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  3.  20 


306  Franz    MorUrauer, 

daß  J)cuss('ii  als  StudcMit  (1864 — 1868)  schon  Iriili  sich  dem  Sanskrit 
zuwandte,  daß  er  mit  Piaton  sich  sehr  einoehend  beschäftigte  (seine 
Doktordissertation  war  „Commentatio  de  Piatonis  Sophistae  com- 
positione  ac  doctrina",  Bonn  1869,  jetzt  bei  Brockhaus),  daß  er  dann, 
nachdem  ihn  Schopenhauer  zuerst  nicht  zu  fesseln  vermocht  hatte, 
durch  Kant  auf  ihn  zurückgeführt  wurde,  und,  wie  er  in  dem  Büchlein 
„Berühmte  Autoren  des  Verlages  Brockhaus"  sagt,  „in  dem  Studium 
der  kantisch-schopenhauerschen  Philosophie,  verbunden  mit  dem 
der  Heiligen  Schrift,  die  bleibende  Grundlage  meiner  AVeltanschauung 
fand"  (1869—1872).  Im  Jalu'e  1873  faßte  er  als  Privatdozent  in  Genf 
den  Entschluß,  seine  Liebe  zur  Philosophie  mit  der  zum  Sanskrit  derart 
zu  verbinden,  daß  er,  wie  er  im  selben  Büchlein  sagt,  ,,die  lü'aft  der 
besten  Jahre  der  Bearbeitung  der  indischen  Philosophie  widmete, 
und  dieser  Entschluß  erweiterte  sich  bald  dahin,  als  eigentliche  Lebens- 
aufgabe die  Ausarbeitung  einer  die  Gedanken  der  Philosophen  überall  an 
der  Natur  selbst  prüfenden  und  nach  ihrem  wahren  Werte  würdigenden 
Allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie  zu  unternehmen",  deren  (b"ei 
erste  Abteilungen  er  für  die  indische,  die  drei  weiteren  für  die  euro- 
päische Philosophie  bestimmte.  AVie  dann  in  den  Jalu-en  1875 — 1879, 
in  denen  er  als  Privatdozent  an  der  Aachener  Technischen  Hoch- 
schule lehrte,  aus  seinen  Vorträgen  die  ..Elemente  der  Metaphysik'" 
im  Jahre  1877  als  „das  eigentliche  Lehrprogramm"  seines  Lebens 
hervorgingen,  so  waren  es  diese,  neben  den  anderen  Philosophen  vor 
allem  durch  Schopenhauer  und  den  Schopenhauerschen  Kant  be- 
einflußten, ja  im  Grunde,  bei  aller  Selbständigkeit  des  Philosophierens 
aus  unmittelbaren  Erfahrungen  und  Intuitionen,  nichts  als  eine  Klärung 
der  Schopenhauerschen  Lehre  unter  Einfügung  der  ihr  verwandten 
Sätze  Kants,  Piatons  und  der  Inder  darstellenden  Gedanken,  welche, 
ganz  abgesehen  von  dem  lebendigen  Sichhineinversetzen  in  den  Geist 
der  früheren  Philosophen  und  dem  gründlichen  Studium  des  von  ihnen 
und  über  sie  ÜberUeferten,  ihm  nunmehr  den  Maßstab  für  deren  Wert, 
den  Schlüssel  zu  ihi'en  oft  hinter  undeutlichen  Worten  und  Begriffen 
verborgenen  Meinungen  abgab.  So  ^^^^rde  Deussen  aus  eigener  Natur 
und  mit  völliger  Selbständigkeit  und  Freiheit  Schopenhauers  Schüler ; 
er  erwarb  sich  diese  Stellung  nicht  durch  ,, Lernen",  sondern  durch 
eigenes  Philosophieren  und  kann  die  Sätze  seines  Lehrprogramms  als 
sein  geistiges  Eigentum  betrachten,  da  er  sie  gleichsam  zum  zweiten 
Male  koncipierte.    Nur  diese  tief  in  der  Ivraft  seiner  eigenen  Erkennt- 


Paul  Deussen.  307 

nis  wurzelnde  Orioinalität,  der  es  sozusagen  bloß  accidentell  ist,  daß 
sie  mit  Schopenhauers  Weltauffassung  sich  deckt,  gibt  Deussen  den 
j\Iut  und  die  Fälligkeit,  bei  aller  Verehrung  für  den  Meister,  ihm  mit 
unbefangener  foitik  gegenüberzutreten.  Deussen  lernte  von  Schopen- 
hauer nicht  eine  Philosophie,  sondern  das  Philosophieren,  die  wahre 
Methode,  und  wo  er  die  Begriffe  seines  Lehrers  erweitert  und  korrigiert, 
geschieht  es  gleichsam  aus  dessen  Geiste  heraus,  aber  nicht  künstlich 
durch  mühsames  Sichhineinversetzen,  sondern  unmittelbar  aus  der 
Gleichartigkeit  des  intellektuellen  Charakters,  der  in  beiden  Philo- 
sophen in  der  Anknüpfung  an  die  lebendige  Wirklichkeit,  wie  sie 
einem  allgemein  gebildeten  Be^Mlßtsein  vorschwebt,  in  dem  bis  zu 
den  platonischen  Ideen,  dem  all-einen  Willen  und  dem  Mysterium 
der  Erlösung  hinabreichenden  Tiefsinn,  sowie  der  ungemeinen  Deuthch- 
keit  der  allerdings  nur  bis  zu  einem  gewissen  Grade  verfeinerten  Be- 
griffe und  der  unvergleichlichen  Kraft  und  Schönheit  der  Worte, 
endüch  in  der  dem  philosophischen  Erkennen  allein  angemessenen 
Verbindung  dieser  Elemente  miteinander  zum  Ausdruck  kommt. 
Bis  auf  wenige  Punkte  sind  daher  Deussens  Neuerungen  durchweg 
Verbesserungen  und  Fortschritte,  vor  allem  seine  in  den  letzten  Jahren 
ganz  entschieden  hervortretende  Ansicht,  daß  das  Subjekt  als  Träger 
der  Objektenwelt  nicht  das  empirische,  sondern  das  transscendentalc 
Bewußtsein  sei,  d.  h.  nicht  der  in  der  Erscheinungswelt  selbst  als  ein 
Teil  von  ihr  auftretende  individuelle  Intellekt,  sondern  dasjenige, 
dessen  bloße  Erscheinungen  alle  in  der  WirkHchkeit  existierenden 
Intellekte  sind.  Die  erste  Frudit  seiner  von  1873  an  durch  35  Jahre 
wähi'enden  indischen  Studien  war  das  1887  beendete  Werk  „System 
des  Vedänta'"  nebst  der  Übersetzung  der  ,,Sütras  des  Vedänta"; 
später  entstanden  nach  und  nach  die  Übersetzungen  der  ,, Sechzig 
Upanishads"  und  der  ,,Vier  pliilosophischen  Texte  des  Mahäbhäratam 
und  im  selben  Zeitraum  von  1887 — 1908  die  der  Hymnenzeit,  üpanishad- 
zeit  und  nachvedischen  Philosophie  der  Inder  gewidmeten  drei  ersten 
Abteilungen  seiner  ,, Allgemeinen  Geschichte  der  Philosophie'".  Eine 
kritische  Beurteilung  dieser  ganz  außerordenthchen  Leistungen  muß 
ich  besseren  Kennern  der  hier  betretenen  Gebiete  überlassen.  Aber 
so  viel  scheint  man  behaupten  zu  können,  und  ein  gelehrter  junger 
Inder  bestätigte  es  mir,  daß  Deussens  Auffassung  der  indischen  Philo- 
sopliie  im  wesentlichen  so  treffend  wie  keine  andere  ist.  Deussen 
hat  Eecht,  wenn  er  von  sich  sagt,  daß  er  die  erstmalige  Gesamt- 

20* 


308  Franz    Moc krauer, 

(larstelluiig  der  indischen  Philosophie   sogleich   auf  eine   Höhe   der 
Betrachtung  erhob,  von  welcher  keine  niikrologische  Spezialforschung 
künftiger  Zeiten  imstande  sein  wird,  sie  wieder  herabzuziehen.    Und 
diese   Betrachtung  ist  eben  nach  Methode  und  Maßstab  diejenige 
seines  ,,Lelu'programms".     Inzwischen  wurde  er  1881  Privatdozent 
an  der  Universität  Berlin,  1887  daselbst  außerordentlicher  Professor 
und  1889  Ordinarius  der  Philosophie  an  der  Universität  Kiel,  all- 
mählich —  zunehmend  mit  der  Entfernung  von  seinem  Wirkungs- 
ki-eis  —  mehr  und  mehr  mit  Anerkennung,  Titel,  Orden,  Ernennungen 
geehrt,  und  doch  auch  heute  noch,  trotz  seiner  wachsenden  Popularität 
bei  weitem  nicht  so  berühmt  wie  manche  andere  seiner  Amtskollegen. 
Im  Jahre  1911  erschien  in  Fortsetzung  seiner  Geschichte  der  Philosophie 
die  „Philosophie  der  Griechen",  1913  die  ,, Philosophie  der  Bibel",  zwei 
durchaus  selbständige  Darstellungen,  welche  in  Deussens  klarer  Weise 
manche  neuen  historischen  Behauptungen  und  viele  originelle  Deu- 
tungen und  überraschende  Beurteilungen  der  uns   zwar  bekannten, 
aber  bisher  von  ganz  verschiedenen  Wissenschaften  behandelten  Gegen- 
stände enthalten.     Die  „Pliilosophie  des  Mittelalters",  bereits  unter 
der  Presse,  und  die  ,, Neuere  Philosophie"  harren  des  Erscheinens, 
womit  Deussen  sein  Lebenswerk  als  beendet  ansieht.    Im  Jahi'e  1910 
aber  trat  der  Verlag  R.  Piper  &  Co.  in  München  an  Deussen  mit  dem 
erfreuhchen  Wunsche  heran,  eine  allen  Ansprüchen  der  Wissenschaft 
und  des  Geschmacks  genügende,  dabei  doch  zum  Studium  und  Haus- 
gebrauch geeignete  und  des  Philosophen  wnirdige,  pietätvolle  Ausgabe 
von  Schopenhauers  Werken  zu  veranstalten.  Trotz  seiner  Überbürdung 
mit  eigenen  Arbeiten  und  Anitspfhchten  ging  Deussen  freudig  darauf 
ein,  und  so  konnten  bereits  1911  die  ersten  der  vierzehn  geplanten 
Bände  erscheinen.  Bis  jetzt  sind  die  Werke  des  Philosophen  außer  der 
Farbenlehre  vollständig,  von  seinem  zum  größten  Teil  noch  unveröffent- 
hchten  Nachlaß  die  bisher  nur  in  Bruchstücken  bekannten  Vorlesungen 
publiziert.    Und  als  ein  weiteres  Ereignis  im  selben  Sinne  ist  die  im 
Jahre   1911   durch   Deussen   erfolgte   Gründung   der   Schopenhauer- 
gesellschaft zu  begrüßen,  die  heute  bereits  über  400  Mitgheder  zählt, 
auf  den  vom  Geiste  herzhcher  Freundschafthchkeit  getragenen  General- 
versammlungen manch  wertvolle  Bekanntschaften  vermittelt,  in  ihi'en 
Jahrbüchern  viele  für  die  Fortbildung  der  Schopenhauerschen  Philo- 
sophie, die  Kenntnis  ilirer  Geschichte  und  die  Biographie  ihres  Ur- 
hebers wichtige  Aufsätze,  Bilder,  Faksimilia  herausgibt,  und  in  einem 


Paul  Deusseti.  309 

Archiv  sämtliche  Ausgaben  der  Schopenhauerschen  AVerke  und  die 
ganze  Schopenhauerhteratur  zu  sammeln  bestrebt  ist,  vielleicht  auch 
allmähUch  durch  innere  Organisation  zu  bedeutenderen  Leistungen 
gelangt  und  eine  große  Schopenhauersche  Schule  im  antiken  Sinne 
begründet.  So  kehrt  Deussen  im  Alter  zum  Ausgangspunkt  seiner 
philosophischen  Entwicklung  zurück,  nicht  mehr,  um  zu  lernen, 
sondern,  um  zu  lehren,  und  zwar  über  seinen  akademischen  Wirkimgs- 
lo'eis  hinaus. 

Mit  Befriedigung  darf  der  Jubilar  auf  sein  Lebenswerk  zurück- 
blicken. Aber  der  rüstige  Mann  kennt  keine  Ermüdung;  mit  Eifer 
sagte  er  mir  einmal:  „Wäre  ich  jung,  könnte  ich  noch  einmal  beginnen, 
ich  würde  Naturwissenschaften  studieren."  Und  eine  Hoffnung  vor 
allem  hegt  er  unentwegt,  die  Hoffnung,  daß  einst  Friede  geschlossen 
werde  zwischen  der  Religion  und  der  Philosophie,  nicht  bloß  ein 
äußerer  der  gegenseitigen  Toleranz  und  Ignorierung,  sondern  ein 
innerer  der  wahren  Versöhnung,  ja  Verschmelzung.  Man  mag  mit 
Deussens  Meinung  hier  nicht  in  allen  Stücken  einverstanden  sein, 
sofern  er  die  Philosophie  durch  kirchliche  Dogmatisierung  festzulegen 
und  damit  wiederum  wie  im  Mittelalter  ihre  Entwicklung  zu  hemmen 
scheint,  aber  darin  wird  er  hoffentlich  Recht  behalten,  daß  die  Kirche, 
mit  ihi'en  alten  Dogmen  und  Texten  der  Gedankenwelt  der  Gegen- 
wart völlig  entfremdet,  sich  nicht  bloß  wie  heute  vor  Kant,  dem 
Alleszermalmer,  und  mit  Kant,  dem  Kritiker  der  Praktischen  Ver- 
nunft, durch  Flucht  in  die  bloße  Praxis  retten,  sondern  auch,  dem 
Geiste  gebend,  was  des  Geistes  ist,  sich  um  neue  Dogmatisierung  ihrer 
tiefen  Einsichten  bemühen  wird.  Und  dabei  kann  und  wird  sie  von 
zwei  Männern  vor  allen  anderen  sich  Gedanken  borgen,  von  Schopen- 
hauer, der  den  denkenden  Menschen  der  Gegenwart  das  eigenthche 
Geheimnis  des  Christentums  neu  erschloß,  und  von  Deussen,  der  durch 
jenen  die  Rehgion  sich  wiedergegeben  fühlte  und  mit  seinen  Werken, 
insbesondere  seiner  ,, Philosophie  der  Bibel",  bereits  bewußt  und  mit 
geklärten  Anschauungen  in  das  Gebiet  der  Theologie  hinübergriff. 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus. 

Von 
Dr.   Kratzer,  Regensburg. 

Für  Augustinus  ist  es  unmöglich,  sich  die  Erkenntnis  mit  einem 
allgemeinen  und  allgemein  gültigen  Charakter  einzig  auf  Grund 
physisch-psychischer  Organisation  des  Menschen  und  der  Mitwirkung 
der  gegenständlichen  Welt  zu  erklären;  er  bedarf  dazu  eines  trans- 
zendenten Faktors,  der  objektiven  AVahrheit,  der  die  Seele  zugewandt, 
von  der  sie  berührt  und  erleuchtet  wird,  in  deren  Lichte  sie  erkennt. 
x\ugustinus,  in  dessen  gegenständlich  gerichtetem  Denken  bloße  Be- 
ziehungen zu  Hypostasen  werden,  und  unter  dem  Einfluß  der  neu- 
platonischen Seelenlehre  stehend,  scheint  für  diese  Verbindung  der 
Seele  mit  der  Wahrheit  ein  eigenes  Vermögen  konstatieren  zu  wollen, 
mit  einem  kontemplativen  Charakter,  das  eigens  dem  Menschen  ge- 
geben ist,  Gott  zu  schauen  und  das  den  Charakter  der  Unsterblichkeit 
hat  (De  Trin.  V,  1,  2;  XV,  15,  25),  zu  dem  der  Mensch  über  seine 
wandelbare  Natur  hinaus  vordringen  muß,  um  zur  Wahrheit  zu 
gelangen  (Conf.  VII,  10,  23).  Das  Bewußtsein  dieser  Doppelseite 
der  Seele  hat  Augustinus  selbst  dazu  geführt,  im  Menschen  Seele  und 
Geist  von  einander  zu  unterscheiden,  und  beide  dem  Körper  gegenüber- 
zusetzen. Drei  Dinge  sind  es,  aus  denen  der  Mensch  besteht,  Spiritus 
anima  und  corpus,  wenn  er  auch  Seele  und  Geist  wieder  zusammen- 
fallen läßt,  quae  rursus  duo  dicuntur  quia  saepe  anima  cum  spiritu 
dicuntur.  (Cf.  De  an  et  eins  orig.  4, 13;  De  Civ.  Dei  XI,  27.)  Augustinus 
unterscheidet  klar  und  bestimmt  zwischen  intellektueller  und  spiri- 
tueller Seele  und  läßt  erstere  mit  der  mens,  der  ratio,  inteUectus  als 
dem  eigentüchen  Bestandteile  des  Menschen,  in  dem  er  das  Tier 
überragt,  wesenthch  zusammenfallen  (quaest;  de  Ord.  II,  5,  17;  de 
Trin.  XIV,  16,  22.) 


Die  Frage  nach  dem  Seelenclualismu8  bei  Augustinus.  oll 

Ein  weiteres  Moment  für  clie  Annahme  einer  Scheidung  voii  Seele 
und  Geist  bzw.  einer  Trichotomie  des  Menschen  l^ann  gefunden  werden 
in  De  Gen.  ad.  Lit.  XIT,  6,  15:  tria  genera  visionum  occurrunt:  unum 
per  oculos,  quibus  ipsae  hterae  videntur;  alterum  per  spiritum 
hominis,  quo  proximus  et  absens  cogitatur;  tertium  per  contuitum 
mentis,  quo  ipsa  dilectio  intellecta  conspicitur,  und  ibid.  7,  16:  primum 
ergo  appellamus  corporale,  quia  per  corpus  percipitur  et  corporis 
sensibus  exhibetur.  Secundum  spiritale,  quidquid  enini  corpus  non 
est,  et  tamen  aliquid  est,  jani  recte  spiritus  dicitur:  et  ubique  non  est 
corpus,  quamquis  corpori  similis  sit,  imago  absentis  corporis,  nee 
ille  ipse  obtutus,  quo  cernitur.  Tertium  vero  intellectuale  a  intellectu; 
quia  mentale  a  mente  (ibid.  XII,  12,  25f ;  23,  49ff.),  wonach  Augustinus 
drei  Erkenntnisarten  angibt  und  sie  auf  ebensoviel  Prinzipien  zurück- 
führt. 

Storz  (Die  Philosophie  des  hl.  Augustinus,  Freiburg  1882),  der  in 
seinem  Buche  meint,  daß  Augustinus  bisweilen  von  Körper,  Seele 
und  Geist  in  trichotomistischen  Sinne  spricht,  will  mit  der  Polemik 
Augustins  gegen  dem  SeelenduaKsnuis  der  Manichäer  den  Duahsmus 
im  Menschen  bewiesen  haben.    Doch  bekämpft  Augustinus  die  Mani- 
chäische   Lehre   unter  ethischen  nicht  erkenntnistheoretischem   Ge- 
sichtspunkt. Eine  Stelle  aus  De  an.  et  eins  orig.,  die  Storz  gleichfalls 
anfühi't  und  wo  gesagt  ist,  daß  mit  dem  spiritus  auch  die  anima  aus 
dem  Körper  fliehe,  findet  ihre  Erklärung  in  De  fide  et  symb.  10,  23 
(cf.  De  (iv.  Dei  X,  27),  wo  es  heißt,  daß  Seele  und  Geist  oft  unter 
einem  gemeinsamen  Xamen  zusammengefaßt  werden.    Insofern  kann 
in  Augustinus,  wenn  wir  von  seinen  Ausführungen  inDeTrin.  X,  11,  18 
noch  absehen  wollen,  auch  die  Grundlage  für  die  spätere  scholastische 
Ausdeutung  im  Sinne  einer  Mehrheit  von  Funktionen  eines  einheit- 
lichen Lebensprinzipes  gefunden  werden.     Unser  Denker  folgt  der 
traditionellen  kirchlichen  Lehre,  wie  auch  der  Gegenstand  bei  dessen 
Betrachtung  die  zuletzt  angeführten  Stellen  niedergeschrieben  wurden, 
ein  ethisch-rehgiöser  ist.     Klare  präzise  Fassung  der  Begriffe  aber, 
wie  die  weitere  Erörterung  noch  zeigen  wird,  sowie  die  historische 
Abhängigkeit  Augustins  sprechen  mehr  für  die  Annahme  eines  seeli- 
schen  Dualismus.      Doch   können   die    diesbezüghchen  Äußerungen 
nicht  restlos  in  diesem  Sinne  gedeutet  werden.     Dagegen  steht  die 
kirchliche  Lehi-e,  die  Augustinus  jederzeit  festhalten  will,  und  vor  allem 
die  Unklarheit  seiner  Terminologie.  Es  finden  sich  Stellen  l^ei  unserem 


312  Krat/.or. 

Denker,  wo  eine  Dreihcit  von  die  menschliche  Wesenheit  konsti- 
tuierenden Elementen  behauptet  wird,  was  auch  Theodor  Gan<2:auf 
(Die  metaphys.  Psychologie  des  heil.  Augustinus,  Augsburg  1852) 
zugibt,  wenn  er  schreibt:  es  mangelt  nicht  an  Stellen,  worin 
er  eine  Dreiheit  behauptet,  den  Geist  sonach  von  der  Seele 
unterscheidet.  Und  derselben  Auffassung  pfhchtet  H.  Ritter 
(Geschiehte  der  Philosophie,  Band  IV,  Hamburg  1829^1853 
bei,  der  aus  der  Allgemeinheit  der  Vernunft  im  Sinne  der  den 
individuellen  Vernunftwesen  w'ohl  zugänglichen  aber  transzendenten 
Wahrheit  eine  ZwTiheit  des  Seelen])rinzips  behauptet,  indem  er  die 
Wahrheit  als  Hy|30stase  mit  der  Seele  verbunden  betrachtet.  Was 
jedoch  an  der  bedingungslosen  Konstatierung  eines  seehschen 
Duahsmus  hindert,  ist,  daß  Augustinus  Geist  nnd  Seele  unter  dem 
einheitlichen  Begriff  anima  zusammenfaßt  und  nur  von  einer  Seele, 
die  einer  oberen  und  unteren  Welt  zugewandt  sei,  spricht,  ferner  eine 
genauere  Untersuchung  über  das  Verhältnis  von  Seele  und  Geist, 
vorausgesetzt,  daß  dieser  Duahsmus  ihm  restlos  zuzusprechen  ist, 
nicht  gemacht  hat,  wenn  nicht  seine  Darstellungen  vom  übernatürhchen 
Lichte  und  dessen  Beziehung  zur  Seele  in  diesem  Sinne  zu  deuten  sind. 
Und  unter  diesem  Gesichtspunkt  fehlt  es  auch  nicht  an  Erklärungen, 
in  welchem  die  Unterschiede  in  der  Psyche  auf  bloße  Tätigkeits- 
unterschiede zurückgeführt  werden.  Dieser  Auffassung  tritt  H.  Siebeck 
(Geschichte  der  Psychologie,  I.  Teil;  Gotha  1880)  bei,  und  neuestens 
A.  Schneider  (Die  Psychologie  in  Alberts  des  Großen,  nach  den 
Que  len  dargestellt,  I.  Teil  [Beitr.  z.  Geschichte  der  Philos.  des 
Mittelalters,  herausgeg.  von  Cl.  Baeumker  und  G.  v.  Herthng, 
Bd.  IV  Heft  5,  Münster  1903]):  was  jedoch  die  Beweisstellen  bei 
Siebeck  betrifft,  so  ist  betreffend  quaest.  7  zu  bemerken,  daß  es  bei 
Augustinus  sich  hier  nicht  um  mehr  als  eine  Bestimmung  des  Seelen- 
begriffes  handelt,  der  bald  in  einem  weiteren,  bald  in  einem  engeren 
Sinne  gefaßt  ist;  das  gleiche  gilt  für  De  Gen.  ad.  Lit.  VIII.  21,  40: 
anima  hoc  est  spiritus  creatus,  wonach  er  anima  mit  spiritus  identifi- 
ziert, welche  Stelle  dann  näherhin  erklärt  wird  in  ibid.  XII,  7,  18: 

dicitur  etiam  spiritus  anima,  sive  pecoris  sive  hominis ;     dicitur 

spiritus  et  ipsa  mens  rationahs,  ubi  est  quidam  tamquam  oculus 
animae,  ad  quem  pertinet  imago  et  agnitio  Dei. 

Die  Schwierigkeiten,  das  können  wir  schon  jetzt  sagen,  die  sich 
in  der  Erklärung  des  plotinischen  Seelenbegriffes  ergeben,  finden  sich 


Die  Fragt  nach  dein  Seelendualisinus  bei  Augustinus.  313 

auch  in  der  Erldänmg  des  Begriffes  der  augustinischen  mens.  Die 
Bestimmungen,  die  Biotin  vom  Nous  schlechthin,  dann  auch,  weil  in 
der  Seele  wohnend  und  mit  der  Seele  in  Einheit  gedacht,  von  der 
höheren  Seele  dem  Ich  macht,  und  die  Ed.  Zeller  (Die  Philosophie 
der  Griechen,  II.  Teil:  Leipzig  1892)  in  folgenden  Worten  gibt: 
,,Der  Form  nach  ist  der  Nous  nicht  discursives,  sondern  kon- 
templatives Denken,  Schauung;  dem  Inhalte  nach  Erfassen  seines 
Inhaltes.  Er  ist  reine  vollendete  Tätigkeit,  die  Objekt,  Subjekt  und 
gegenseitige  Beziehung  in  sich  schließt.  Daher  immer  aktuelle  Präsenz 
alles  Wissensinhaltes,  lauter  Gegenwart  ohne  Vergangenheit  und 
Zulvunff.  gelten  auch  für  den  Begriff  der  mens  und  deren  besonderer 
Bestinnnung  als  inteUectus.  Diese  mens  nun,  wie  sie  Augustinus 
kennt,  ist  nicht  bloß  Prinzip,  sondern  auch  Quelle  unseres  Wissens; 
wir  wissen  nur  durch  den  Geist  und  wissen  nur,  was  in  unserem  Geiste 
sich  findet  (De  Trin  XIV,  6,  8).  Er  ist  nicht  die  Seele  selbst,  sondern 
das  auszeichnende  Merkmal  in  der  Seele  (ibid.  XV,  7, 11)  und  bestimmt 
diesen  Begriff  näherhin  als  inteUigentia  rationahs  schlechthin,  sieht 
aber  in  letzterer  dann  auch  eine  besondere  Qualität  der  mens,  eine 
ihr  eigentümliche  Proprietät,  welcher  die  Tiere  entbehren  (ibid.  X, 
5,  7:  8.  11:  XV,  1,  1).  Diese  propria  mentis,  die  sich  für  Augustinus 
als  die  intelhgentia  rationalis  ausweist,  bezeichnet  er  De  Civ.  Dei  VIII,  6 
dann  näherhin  als  conspectus  mentis  und  bezieht  sie  auf  die  Gegen- 
stände, auf  die  sieh  das  intelhgere  erstreckt,  auf  die  inteUgibilia,  die 
durch  das  Schauen  des  Geistes  erkannt  werden:  intelhgibilia  dicimus 
quae  conspectu  mentis  intelhgi  possunt.  Hat  nun  Augustinus,  wie 
vorher  dargelegt,  sich  dahin  ausgesprochen,  daß  nur  das  Wahre  ge- 
wußt werden  kann,  so  bestimmt  er  jetzt  dieses  Wahre  genau  als  das 
Objekt  der  intellektuellen  Funktion  des  Geistes,  wenn  er  in  quaest  54 
erklärt,  quod  enim  inteUigitur  verum  est.  In  der  intellektuellen 
Schauung  kann  man  nicht  getäuscht  werden;  denn  entweder  erkennt 
den  nicht,  der  anders  vermutet  als  es  in  Wirkhchkeit  ist,  oder  aber 
er  erkennt,  und  dann  kann  das  Erkannte  nur  wahr  sein.  (De  Gen. 
ad.  Lit.  XII,  14,  29;  25,  52.) 

Diese  Bestimmung  des  inteUigere  ist  ein  Fundamentalbegriff 
in  der  Philosophie  Augustins,  im  Zusammenhang  stehend  mit  dem 
Grundprinzip  derselben,  dem  Prinzip  der  Selbstgewißheit  des  Geistes. 
Sei  es  nun,  daß  Augustinus  aus  dem  bezeichneten  Tatbestand  erst 
den  Begriff  des  intelligere  abgeleitet  und  auf  alle  Gegenstände  an- 


314  Kratzer. 

gewandt  hat,  die  mit  der  gleichen  Unwandelbarkeit  und  Sicherheit 
des  Wissens  ihm  gegenübertreten  wie  der  eigene  Geist  im  Bewußt- 
sein, oder  aber  den  Begriff  desselben  in  historischer  Abhängigkeit  von 
der  Sclbstschau  des  plotinischeri  Nus  genommen  hat,  jedenfalls  steht 
fest,  daß  Augustinus  ihn  für  die  Selbsterkenntnis  des  Geistes  braucht, 
wenn  er  die  Stelle  de  Gen.  ad  Lit.  XII,  10,  21:  mens  quippe  non  videtur 
nisi  mente  umschreibt  mit  den  Worten:  ibid  24,  50:  quo  enim  aho  modo 
ipse  intellectus  nisi  inteUigendo  conspicitur?  und  parallel  zu  dieser 
Stelle  De  Trin  XIV,  6,  8  beifügt:  mens  igitur  quando  cogitatione  se 
conspicit,  inteUigit  se  et  recognoscit:  gignit  ergo  hunc  intellectnm, 
et  Cognitionen!  suam.  Res  quippe  incorporea  intellecta  conspicitur 
et  inteUigendo  cognoscitur.  Augustinus  hat  damit  zugleich  einen 
anderen,  mit  dem  Begriff  der  mens  identischen  Begriff  gewonnen,  den 
Begriff  des  intellectus,  den  er  ganz  in  Übereinstimmung  mit  De  Trin. 
XIV,  6,  8  in  solil  I,  6,  13  folgendermaßen  bestimmt:  ipsa  autem  visio 
intellectus  est  ille,  qui  in  anima  est,  qui  conficitur  ex  intelhgente  et 
eo  quod  intelhgitur:  ut  in  ocuhs  videre  quod  dicitnr,  ex  ipso  sensu 
constat  atque  sensibili  quorum  detracto  quolibet  videri  nihil  i)otest. 
Wir  sehen,  wie  in  Augustinus  dieser  Begriff  schon  von  Anfans;  an  fest- 
stand und  doch  in  seiner  späteren  Zeit  Geltung  hatte.  Indem  die 
mens  sich  erkennt  im  Denken  oder  denkend  sieh  erfaßt,  macht  sie 
sich  zum  inteUigiblen  Objekt  und  Subjekt  des  Erkennens  zuoieich: 
es  ist  der  Intellekt  Produkt  des  Selbstdenken  des  Geistes,  das  auf  sich 
selbst  reflektierte  Denken,  in  dem  es  keinen  Irrtum  gibt,  und  die 
Tätigkeit  des  intelhgere  dessen  irrtumsloses  Denken.  Der  Intellekt 
ist  also  das  kontemplative  Element,  in  dem  der  Geist  sich  selbst  un- 
mittelbar erfaßt,  um  in  dieser  Selbsterkenntnis  die  Xormen  für  sein 
Denken  und  Handeln  zu  finden. 

Zu  dem  soeben  anoeüebenen  Problem,  ob  Augustinus  einen 
seelischen  Dualismus,  den  einige  Historiker  in  seinen  Lehren  finden, 
behaupte  oder  nicht,  mögen  noch  folgende  Ausführungen  gegeben 
werden.  Xach  A.  Schneider:  Die  Psychologie  Albert  des  Großen 
kennt  Augustinus  nur  eine  einheitliche  Seele  mit  graduell  verschiedenen 
Tätigkeitsweisen,  die  die  metaphysische  Wesenheit  der  Seelensubstanz 
nicht  spalten;  diese  Auffassung  gibt  den  Gedanken  Augustins  wieder, 
insofern  unser  Denker  von  der  mens  im  generellen  Sinne  spricht  und 
deren  Funktionen  aufzeigt,  als  Funktionen  eines  Prinzips,  das  das 
Wesen  des  Menschen  konstituiere  (De  Trin.  XII,  3,  3;  et  sicut  una 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualisnuis  bei  Augustinus.  315 

caro  est  duorum  in  masculu  et  femina,  sie  intelleetum  nostriim  et 
actioneni,  vel  consilium  et  executionem,  vel  rationem  et  apetitum 
rationalem,  vel  si  quo  alio  modo  significantiiis  dici  possimt,  una  mentis 
natura  complectitur ;  et  quemadmodum  de  illis  dictum  est:  erunt  duo 
in  carne  una  sie  de  his  dici  possit,  duo  in  mente  una),  das  mit  seiner 
Funktion  eine  Einheit  darstelle  (ibid.  4,4:  cum  igitur  disserimus  nee 
eam  in  liae  duo  quae  commemoravi,  nisi  per  officia  oeminamus: 
X,  11,  18:  haec  igitur  tria  memoria  intelligentia  voluntas,  quoniam 
non  sunt  tres  vitae  sed  una  vita:  nee  tres  mentes,  sed  una  mens: 
eonsequenter  utique  nee  tres  substatiae  sunt,  sed  una  substantia). 
Die  vollständigste  Zurückführung  der  seelischen  Tätigkeiten  auf  ein 
einheithches  Sein,  in  dem  die  einzelnen  Tätigkeiten  sich  einander 
durchdringen,  erfahren  wir  überall  da,  wo  die  einzelne  Tätigkeit 
gleichsam  als  das  Subjekt  der  übrigen  erscheint:  ibid.  XV,  22,  42  et 
quando  in  memoria  mea  cogitando  invenio  jam  nie  intelligere,  jam 
me  amare  aUquid,  qui  intellectus  et  amor  ibi  erant  et  ante  quam  inde 
cogitarem,  intelleetum  meum  et  amorem  meum  invenio  in  memoria 
mea,  quo  ego  intelhgo,  ego  amo,  non  ipsa.  Item  quando  cogitatio 
memor  est  et  vult  redire  ad  ea  quae  in  memoria  rehquerat,  eaque 
inteUecta  conspicere  atque  intus  dicere,  mea  memoria  memor  est 
et  mea  vult  voluntate  non  sua.  Ipse  quocpie  amor  mens  cum  memi 
nit  atque  intellisit  quid  appeterc  debeat,  quid  vitare  per  meam  non 
per  suam  memoriam  memi  nit;  et  per  intelligentiam  meam,  non  per 
suam,  quidquid  inteUigenter  amat,  intelligit.  Quod  breviter  dici 
potest:  ego  per  omnia  illa  tria  memini,  ego  inteUigo,  ego  diUigo,  qui 
nee  memoria  sum  nee  intelMgentia  nee  dilectio,  sed  haec  habeo. 

i\ugustimis  läßt  sinnliche  und  geistige  Sphäre  mit  einandei" 
verschmelzen  uiid  gewinnt  durch  die  Betonung  einer  Substanz  ein 
Persönlichkeitsich,  einen  Mittelpunkt  des  individuellen  Lebens. 
Doch  fällt  ihm  diese  Einheit  wieder  auseinander,  sol^ald  er  seinen 
dogmatischen  Standpunkt  vergißt,  und  das  Persönlichkeitsprobleni 
unter  dem  Gesichtspunkt  betrachtet,  in  welchem  Verhältnis  die 
Seele  zur  transzendenten  oder  auch  immanenten  A\'ahrheit  stehe. 
In  dieser  Betrachtungsweise  erlangt  die  mens  widerspruchsvolle 
Bestimmungen.  Ich  stelle  hier  einige  Stellen  einander  gegenüber, 
nachdem  vorausgeschickt  ist.  De  Gen  ad  Lit.  III,  20,  30:  id  autem 
est  ipsa  ratio  vel  mens  vel  intelligentia  vel  si  quo  alio  vocabulo  com- 
modius  appellatur:  De  Trin.  IX,  6,  9:  sed  cum  se  ipsani  novit  humana 


816  Kratzer, 

mens  et  amat  sc  ipsam,  iion  aliquid  incommutabile  novit  et  amat. 
quaest.  45:  mens  enim  huniana  de  visibilibiis  judicans  potest  agnoscere 
Omnibus  visibilibus  se  ipsam  esse  meliorem  quae  tarnen  cum  etiam  se 
propter  defeetuin  profectumque  in  sapientia  fatetur  esse  mutabileni, 
invenit  supra  se  esse  incommutabilem  veritatem.  De  iniinort  an  2,2: 
est  autem  ista  ratio  immutabilis:  igitur  ratio  est.  De  Trin.  IX,  6,  9: 
nach  den  bereits  zitierten  Worten  fährt  Augustinus  fort:  ahterque 
unusquisque  homo  loquendo  ennntiat  meutern  suam,  quid  in  se  ipso 
agatur  attendens;  ahter  autem  humanam  menteni  speciah  aut  generali 
cognitione  definit.  Itaque  cum  mihi  de  sua  propria  loquitur,  utrum 
intelligat  hoc  aut  illud,  an  non  intelhgat,  utrum  veht  an  noht  hoc  aut 
illud  credo;  cum  vero  de  humana  speciahter  aut  generahter  verum 
dicit,  agnosco  et  approbo.  Unde  manifestum  est  ahunde  unumquemque 
videre  in  se,  quod  sibi  ahus  dicenti  credat,  non  tamen  videat;  ahud 
autem  in  ipsa  veritate,  quod  ahns  quoque  possit  intueri:  quorum 
alterum  mutari  per  tempora,  alterum  incommutabih  aeternitate 
consistere,  neque  enim  ocuhs  corporis  nuütas  mentes  videndo,  per 
simihtudineni  cohigimus  generalem  vel  specialem  mentis  humanae 
notitiam:  sed  intuemur  inviolabilem  veritatem  ex  qua  perfecte 
quantum  possumus  definiannis,  non  qualis  sit  uniuscuiusque  hominis 
mens  sed  qualis  esse  sempiternis  rationibus  debeat.  Ep.  14,  4:  ita 
quihbet  homo  una  ratione  qua  homo  intelhgitur  factus  est.  At  ut 
populus  fiat,  quamquis,  et  ipsa  una  ratio  non  tamen  hominis  ratio 
sed  hominum.  Die  in  diesen  Stellen  niedergelegten  Gedanken  stehen 
in  vollständiger  Ü])ereinstimmung  mit  der  Lehre  Augustins,  daß  die 
mens  in  ilirer  Substanz  sich  ganz  erkenne,  in  der  Selbsterkenntnis 
aber  von  der  Welt  der  Erfahrung  abhängig  sei.  Augustinus  unter- 
scheidet deuthch  zwischen  einem  wandelbaren  dem  Wechsel  unter- 
worfenen, und  einem  unwandelbaren  Element  in  der  menschhchen 
Psyche,  zwischen  der  individuell  liestimmten  Vernunft,  die  in  ihrem 
Inhalte,  in  ihrer  Betätigung  der  Erfahrungswelt  unterhegt,  und  der 
Vernunft  schlechthin,  die  einerseits  zum  Inhalt  die  Idee  des  Menschen 
hat,  bzw.  selbst  ist,  deren  Inhalte  anderseits  die  intelhgiblen  Wesen- 
heiten sind,  in  denen  der  Mensch  unmittelbar  die  eigentümliche  Natur 
des  Geistes  mit  all  den  Bestimmungen  und  allgemeinen  Eigenschaften, 
die  ihm  zukommen,  erfaßt.  Nicht  durch  die  leibhchen  Augen  oder 
durch  einen  Analogieschluß  zu  unserem  Geiste  gewinnen  wir  Kenntnis 
des  Geistes,  sei  es  eines  individuellen  Geistes,  der  neben  seiner  all- 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualisiiius  bei  Ar.üustinus.  317 

gemeinen  Natur  auch  individuell  noch  näher  determiniert  ist,  sei  es 
der  allgemeinen  Menschenidee,  sondern  nur  durch  unmittelbares 
Hineinschauen  in  die  ewige  Wahrheit,  in  der  dann  nicht  der  einzelne 
Geist  erkannt  wird  in  seinem  empirischen  Sein  und  seinen  Quaütäten, 
sondern  die  Menschheitsidee,  so  wie  sie  im  individuellen  Menschen  zur 
Ausgestaltung  gelangen  soll.  In  ersterer  Beziehung  ist  die  mens 
wandelbar,  in  letzterer  unwandelbar.  Zu  diesen  eben  dargelegten 
Gedanken  verhält  sich  die  Forderung  Augustins,  die  Wahi'heit  in  der 
Seele  zu  suchen,  dabei  aber  über  die  wandelbare  Vernunft  hinaus- 
zugehen als  notwendige  Folgerung  (ef.  Conf.  X,  24,  34  ff.;  De  doc. 
Christ.  I,  8,  8f;  de  1.  arb.  II,  12,  34;  de  v.  rel.  39,  72:  noli  foras  ire, 
in  te  ipsum  redi ;  in  interiore  homine  habitat  veritas :  et  si  tuam  naturam 
mutabilem  inveneris  transcende  et  te  ipsum.  Sed  memento  cum  te 
transcendis,  ratiocinantem  animam  te  transcendere.  lUuc  ergo  tende, 
unde  ipsum  lumen  rationis  accenditur.  Quo  enim  pervenit  omnis 
bonus  ratiocinator  nisi  ad  veritatem?) 

Die  vorwürfige  Frage  nach  den  Beziehungen  zwischen  Walirheit 
oder  Vernunft  und  Seele  läßt  sich  nach  dem  bisherigen  schwer  be- 
antworten. Der  in  de  immort.  an.  und  in  den  Soliloquien  entwickelte 
Gedanke  von  der  untrennbaren  Verbindung  der  unwandelbaren  Ver- 
nunft mit  der  Seele,  wodurch  diese  selbst  unveränderhch  und  unsterb- 
lich wird,  (Anm.  Es  ist  unschwer  ersichtlich,  daß  Augustinus  unter 
dem  Begriff  der  incommutabihs  ratio  der  objektive  Seinsgrund  der 
Dinge  vorschwebt.  Doch  vermag  unser  Denker  für  diesen  BegTiff 
die  ontologische  Form  nicht  beizubehalten,  da  er  die  Dinge  nicht  zu 
denken  vermag  ohne  stete  Beziehung  zur  götthchen  ratio,  zum  gött- 
lichen Denken  und  Wissen,  in  dem  sie  seinen  Fortbestand  haben, 
und  geht  zu  einer  psychologischen  Fassung  der  Vernunft  über,  was 
er  um  so  leichter  unter  der  Voraussetzung  vermag,  daß  der  Logos  diese 
rationes  der  Seele  offenbare),  in  der  die  W^alirheit  zu  suchen  sei, 
widerstreitet  der  in  de  v.  rel  39,  72  aufgesteUten  Forderung,  in  der 
Suche  nach  der  Wahrheit  über  sein  eigenes  Ich  der  veränderlichen 
Vernunft  hinauszugehen  und  zur  ungeschaffenen  Wahi'heit  zurück- 
zukelu-en.  Die  Lösung  dieser  Frage  wäre  für  Augustinus  um  so 
cb-ingender,  da  durch  sie  die  Unsterblichkeit  der  Seele  bedingt  ist; 
es  ist  nicht  ersichtlich,  wo  die  Wahrheit  ihren  Sitz  haben  soll,  wenn 
nicht  in  der  veränderlichen  Seele,  da  ja  ilu'e  Unveränderhch  und  damit 
Unsterbhchkeit  erst  auf  die  Verbindung  mit  der  unveränderhchen 


318 


Kratzer, 


Wahrheit  zurückzuführen  ist  und  ein  zweites  ewiges  l'rinzip  nicht 
angenommen  werden  soll. 

Ich  verweise  bezüglich  dieses  Fragegegenstandes  auf  die  Auf- 
fassung Ritters,  welche  aus  den  Ausführungen  Augustins  über  die 
Vernunft  als  einem  System  von  allgemeinen  Normen  und  Gesetzen, 
das  über  allen  Menschen  waltet  und  auch  der  Einzelnvernunft  gegen- 
über als  transzendentes  Sein  aufgefaßt  wird  (De  1.  arb.  II,  8,  20) 
für  einen  Dichotomismus  der  Seele  eintritt.  Augustinus  spricht  in 
diesem  Zusammenhange  wohl  von  der  ratio  als  einem  oljjektiven 
Sein  im  Sinne  aUgemeiner  Wahrheiten,  die  unal)hängig  von  zeitlichen 
Bestimmungen  und  der  sinnlichen  Wahrnehmung  unwandelbare 
Gültigkeit  haben,  und,  weil  über  der  Einzelvermmft  erhaben,  Gemein- 
gut aller  Vernunftwesen  sein  kann;  ethische  Werte  setzt  hierl)ei 
Augustinus  in  die  gleiche  Ordnung  mit  den  allgemeinen  theoreti- 
schen (ibid.  II,  10,  29,  8,  24ff.),  und  läßt  sie  zu  einer  Einheit  für  den 
Menschen  verschmelzen,  wie  sie  auch  in  der  Einheit  der  Wahrheit 
erkannt  werden.  In  der  Erklärung  der  Wirksamkeit  dieser  AVahrheit 
gegenüber  den  erkennenden  Wesen  geht  Augustinus  bereits  zu  einei" 
subjektiven  Fassung  des  Wahrheitsprinzipes  über;  es  erlangt  neben 
dem  objektiven  Charakter  subjektive  Bedeutung,  da  es,  wenn  auch 
allen  zukommend  (pubhcum)  doch  den  Einzelnen  angehört  und  im 
Innern  der  Seele  des  Individuums  wirksam  ist;  und  doch  soll  es  sieh 
nicht  mit  dieser  in  Einheit  verbinden  (ibid.  II,  12,  33:  ...  sed  omnibus 
incommutabiha  vera  cernentibus  tamquam  miris  modis  secretum  et 
publicum  lumen,  praesto  esse  ae  se  pre])ere  communiter:  omne  autem 
quod  communiter  omnibus  ratiocinantibus  atque  intelhgentibus 
praesto  est,  ad  ulhus  eorum  proprie  naturam  pertinere  quis  dixerit  ?) 
Diese  Erkenntnisquelle  steht  über  der  veränderlichen,  mens  des 
Einzelnen,  weil  selbst  unveränderhch  und  unwandelbar. 

Die  schon  angegebene  subjektive  Wendung  wird  vollzogen  in 
De  immort  an.  II,  2,  wo  sie  im  Menschen  als  unwandelbares  Element 
dem  w^andelbaren  Körper  gegen  übergesetzt  wird.  Mutabile  est  autem 
corpus  humanuni,  et  immutabihs  ratio.  Mutabile  est  enim  omne  quod 
semper  eodem  modo  non  est.  Et  semper  eodem  modo  est,  duo  et 
quattuor  et  sex  Item  semper  eodem  modo  est,  quod  est,  quod  quattuor 
habent  duo  et  duo.  Hoc  autem  non  habent  duo:  duo  igitur  quattuor 
non  sunt.  Est  autem  ista  ratio  immutabilis:  igitur  ratio  est.  Diese 
unmittelbare  Beziehung  von  ratio  im  objektiven  und  subjektivem 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  319 

Sinne  ist  klar  ausgesprochen  de  Ord,  II,  19,  50,  wo  Augustinus,  wie 
in  der  oben  zitierten  Stelle  aus  der  Verbindung  der  „ratio"  mit  der 
„ratio"  die  Unsterblichkeit  begründen  will:  an  ratio  non  est  immortalis  ? 
Sed  unum  ad  duo,  vel  duo  ad  quattuor,  verissima  ratio  est.  Nee 
magis  heri  fuit  ista  ratio  vera  quam  hodie:  nee  magis  cras  aut  post 
annum  erit  vera:  nee  si  omnis  iste  mundus  concidat,  poteritista  ratio 
non  esse.  Ista  enim  semper  tahs  est;  nnmdus  autem  iste  nee  heri 
habuit,  nee  cras  habebit,  quod  habet  hodie,  nee  hodierno  ipso  die, 
vel  spatio  unius  horae  eodem  loco  solem  habuit:  ita  cum  in  eo  nihil 
manet,  nihil  vel  parvo  spatio  temporis  habet  eodem  modo.  Igitur 
si  immortalis  est  ratio,  et  ego,  qui  ista  omnia  vel  discerno  vel  connecto 
ratio  sum:  illud  quo  mortale  appellor  non  est  meum.  Sul^jektivität 
ist  bei  Augustinus  Objektivität,  weil  die  Vernunft  im  ausgezeichneten 
Sinn,  bzw.  die  ewige  Wahrheit  nie  eine  einheithche  Natur  mit  dem 
Menschen  bildet  im  Sinne  einer  metaphysischen  Einheit,  wie  die 
oben  gemachten  Ausführungen  zeigen,  wenn  er  auch  in  der  letzt- 
genannten Stelle  das  spezifisch  Menschliche  in  dem  unwandelbaren 
Element  des  Menschen  findet. 

Die  vortreffUchen  Ausfülu-ungen,  die  H.  Siebeck  über  die  Er- 
kenntnislehre Piatos  macht,  wenn  er  nach  Bestimmung  der  Ideen 
als  objektive  Wahrheit  und  Urgrund  alles  Seins  und  zugleich  als 
subjektives  Bewußtseinskorrelat  in  den  Begriffen,  das  Resultat  seiner 
Untersuchung  in  folgende  Worte  kleidet:  „Im  Zusammenhang  dieser 
subjektiven  Wahrheit  und  Wirkhchkeit  mit  der  objektiven,  d.  h.  in 
dem  Hellwerden  {dvc[uvr/oig)  des  objektiven  Inhaltes  der  Idealwelt 
im  Be\\ußtsein  auf  Grund  der  Existenz  allgemeiner  Begriffe  besteht 
das  Erkennen",  heßen  sich  in  gleicher  Weise  auf  Augustinus  an- 
wenden. Wir  finden  bei  unserem  Denker  die  Lösung  des  Erkenntnis- 
Problems  in  der  gleichen  Weise  versucht  mit  der  Modifikation,  daß 
bei  Plato  das  „Lebendigwerden"  der  Begriffe  im  Zusammenhange  mit 
den  Bestimmungen  der  Idee  in  mehr  mechanischer  prädisponierter 
Form  geschieht,  wähi^end  Augustinus  in  Konsequenz  mit  dem  theologi- 
schen Charakter  seiner  ganzen  Philosophie,  die  als  Analyse  des  Gottes- 
begriffes betrachtet  werden  kann,  die  Kausahtät  des  Logos,  eine 
positive  Ursächlichkeit  des  götthchen  Wesens  postuhert.  Ich  stelle 
zur  Illustration  des  zwischen  Plato  und  Augustin  bestehenden  Ver- 
hältnisses ))ezüglich  der  Erkenntnis  der  Walulieit  die  einzelnen,  hierbei 
beteihgten    Faktoren    in    bildlicher    schematischer    Weise    einander 


820 


Kratzer, 


gegenüber,  wobei  ich  (\v,i^  eine  Sclienia  H.  Siebeck:   Geschichte  der 
Psychologie"  entnehme. 


Plato 

Idee  des  Guten  (Gott) 

Wahrlieit 


Seele 


Idee 


Erkennen 


Augustinus 
Gott 

Logos  (objektive  Wahrheit) 

Geist  rationes 

als  subj.  Erk. -Prinz.         im  obi.  Sinne 

Erkennen 


Ich  darf  hier  noch  anführen,  was  Johann  Huber  (Die 
Philosophie  der  Kirchenväter;  München  1859)  in  dieser  Frage 
ausführt,  wenn  er  auf  die  Konzentration  aller  Wirklichkeitsstufen 
in  der  Seele  x\ugustins  selbst  hinweist,  der  in  der  Sichgegenübe]- 
stellung  dieser  Wirldichkeitsstnfen  zur  Objektivation  fortschreitet: 
,,Wenn  auf  solche  Weise  der  auf  sich  selbst  reflektierende  Mensch 
in  sich  selbst  verschiedene  Seinstufen  gesammelt  findet,  die,  je  mehr 
er  sich  auf  den  Standpunkt  der  rein  vernünftigen  Subjektivität  zurück- 
zieht, für  ihn  nicht  nur  zu  einem  objektiven  überhaupt,  sondern  auch 
zu  einem  äußerlichen  werden,  so  daß  es,  auch  ohne  die  Gewißheit 
einer  realen  Außenwelt  schon  gerechtfertigt  erscheinen  würde,  von 
jenen  verschiedenen  Existenzen  zu  sprechen,  so  ergibt  die  fortgesetzte 
Selbstbetrachtung,  wodurch  ein  übermenschhches  Gebiet  entdeckt 
wird,  den  eingenommenen  anthropologischen  Standpunkt  als  einen 
durchaus  zentralen,  in  welchem  nicht  nur  die  Kadien  eines  nied- 
rigeren, sondern  auch  eines  höheren  Seins  zusammenlaufen." 

Was  nun  die  weitere  SteUungsnahme  diesem  Problem  gegenüber 
betrifft,  so  hält  Huber  an  der  metaphysischen  Einheit  der  Seele  fest 
und  sieht  im  Geiste  (anima)  in  seiner  niedrigeren  Form  das  belebende 
vereinheithchenden  Prinzip  eines  lebenden  Körpers  bzw.  Organismus, 
in  seiner  höheren  Form  aber  die  Intelligenz  und  die  Vernunft,  in  der 
er  sich  betätigt.  Doch  läßt  sich  nach  meiner  Ansicht  aus  den  an- 
gezogenen Stellen  (De  Civ.  Dei  XXII,  24,  3)  diese  Folgerung  nicht 
unbedingt  und  eindeutig  bestimmt  ziehen.  Augustinus  redet  von 
einem  Gegebensein  der  Vernunft  an  die  Seele  durch  die  Gottheit,  die 
sich  im  Laufe  der  physischen  Entwicklung  selbst  zu  entwickeln  habe. 
Diese  Erklärung  ist  selbstverständlich  auch  möglich  bei  der  Annahme, 
daß  in  der  Seele  die  ewige  Vernunft  wohne,  die  unter  dem  Einfhiß 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augu-stinus.  321 

und  nach  Maßgabe  der  Erfahrung  an  die  einzehien  Seelen  sich  offen- 
bare. Das  Gleiche  gilt  für  De  Trin.  XV,  7,  11:  Quod  si  etiam  sie  de- 
finiamus  homineni,  ut  dicamus,  homo  est  substantia  rationaüs,  con- 
stans  ex  anima  et  corpore ;  non  est  du1)iura  homineni  habere  animani 
quae  non  est  corpus,  habere  corpus,  quod  non  est  anima.  Ac  per  hoc 
illa  tria  non  homo  sunt  sed  hominis  sunt  vel  in  homine  sunt.  De 
tracto  etiam  corpore,  si  sola  anima  cogitatur  ahquid  eins  est  mens, 
tamquam  caput  eins  vel  oculus,  vel  facies  . . .  Non  igitur  anima,  sed 
quod  exceUit  in  anima  mens  vocatur,  welche  Stelle  ich  der  von  Huber 
zitierten  anreihen  möchte,  in  der  die  mens  als  ein  Etwas  der  Seele, 
als  das  auszeichnende  Moment  derselben  erscheint,  und  dem  Leibe 
und  der  Seele  gegenübergesetzt  wird  in  der  gleichen  Weise  wie 
x\ugustinus  auch  Leib  und  Seele  als  zwei  getrennte  Substanzen  ein- 
ander gegenübersetzt,  und  diese  drei  Elemente  nicht  zum  Menschen 
zusammengebildet  werden  läßt,  sondern  ihnen  noch  ein  gemeinsames 
höheres  Sein  gibt,  den  Menschen,  in  dem  sie  sich  als  dem  Subjekte 
einen  (cf.  De  Trin.  XV,  22,  42).  Das  Gleiche  gilt  zu  sagen  von  De 
Trin.  XIV,  16,  22,  wo  das  Verhältnis  von  mens  und  Spiritus  dargelegt 
ist:  ich  werde  weiter  unten  darauf  zurückkommen  müssen:  der  Satz: 
sed  quia  onmis  mens  spiritus  est,  non  autem  omnis  spiritus  mens  est 
bildet  die  Erklärung  für:  non  ibi  duas  res  inteUigi  voluit,  quasi  ahud 
sit  mens  ahud  spiritus  mentis,  ebenso  wie  die  Worte:  spiritus  mentis 
dicere  voluit  eum  spiritum  quae  mens  vocatur.  Damit  hätte  Augustinus 
überhaupt  die  Identität  zwischen  den  beiden  Begriffen  dargetan,  wenn 
er  nicht  an  der  gleichen  Stelle  auch  erldären  ^vürde;  dicitur  etiam 
spiritus  in  homine,  qui  mens  non  sit,  ad  quem  pertinent  imaginationes 
similes  corporum. 

Gehen  wir  in  der  Erörterung  unseres  Problems  weiter  und  sehen 
wir,  wie  es  sich  mit  dem  menschlichen  Erkennen,  mit  der  Wahrheits- 
erkenntnis verhält.  Gekannt  und  gewußt  werden  können  nichts 
anderes  als  die  ewigen  Ideen,  wie  sie  dem  Menschen  in  Einheit  durch 
den  Logos  präsentiert  sind ;  doch  ist  der  Mensch  in  seinem  empirischen 
Zustande  nicht  unmittelbar  im  Besitze  dieser  ewigen  unwandelbaren, 
unvergänglichen  Werte,  sondern  sie  schweben  ihm  vor  als  ein  an- 
zustrebendes, zu  erreichendes  Ideal,  in  dessen  Besitz  zu  gelangen 
Aufgabe  und  Ziel  ist.  Daß  dieses  jedoch  nicht  ohne  subjektive  Be- 
dingungen möglich  ist,  wurde  gezeigt.  Daneben  aber  besteht  für  den 
Menschen  eine  andere  Welt,  eine  andere  Wirklichkeit,  der  er  mit 

Archiv  tür  Geschichte  der  Philosophie.     XXVIII,  3.  21 


322  Kiiitzer, 

den  Sinnen  zugewandt  ist,  sie  mit  den  Sinnen  erfaßt,  dann  aber  in 
Überwindung  des  irrationalen  Faktors  der  Materie  der  Verstandes- 
tätigkeit unterstellt,  damit  diese  unter  dem  wirkenden  Einfluß  der 
intelligiblen  Welt,  von  ihrem  Lichte  beleuchtet  und  unterstützt  die 
Erscheinungswelt  selbst  rational  gestalte  und  bilde,  Gesetzen  unter- 
stelle, und  auf  ihren  letzten  Grund  zurückführe.  Aber  wenn  wir  hinter 
die  Erscheinungswelt  zurückgehen,  ihre  wahre  Realität  zu  erfassen 
suchen,  so  finden  wir  hier  dasselbe  rationale  System  von  Ideen  und 
Gedanken,  die  wir  schon  in  der  Einheit  der  Idee,  im  Logos  gefunden 
haben,  mit  dem  Unterschiede,  daß  das  einheitliche  Ganze  der  Idee 
im  Logos  in  der  äußeren  Wirkhchkeit,  wie  Storz  sagt,  als  eine  Vielheit 
und  Verschiedenheit  veränderlicher  Wesen  in  Gott  sich  darstellt, 
die  zwar  trotz  aUer  Verschiedenheit  und  Vielheit  eine  harmonische 
Einheit  sind,  aber  als  solche  eben  erst  durch  die  ordnende  verbindende 
Tätigkeit  der  Vernunft  erkannt  wird.  Der  Unterschied  zwischen 
beiden  Welten  besteht  einzig  in  der  Existenzform.  In  ilu'em  intelligiblen 
Sein  sind  die  Ideen  ungeworden,  ewig,  absolut,  einheithch  in  der 
universellen  Idee  im  Logos  geschlossen,  in  der  materiellen  Wirklich- 
keit, sind  sie  geworden,  geschaffen:  Die  Welt  war  vor  der  Schöpfung 
und  sie  war  nicht,  sie  war  im  Wissen  Gottes,  sie  war  nicht,  wie  sie 
nach  der  materiellen  Verwirkhchung  ist,  weil  durch  das  Schaffen  ein 
Element  mit  der  Idee  sich  verbunden  hat,  das  als  das  irrationale 
Sein  dem  rationalen  gegenübertritt  (De  Gen.  ad.  Lit.  V,  8,  36;  15,  33). 
Was  prinzipahter  atque  incomnmtabiliter  in  der  ewigen  Wahi'heit  ist 
(De  Trin.  IV,  1,  3),  das  findet  sich  in  zeithche,  veränderhche  Ver- 
bindung gesetzt  in  der  Erscheinungswelt;  denn  bei  Gott  sind  die 
Ursachen  aller  veränderlichen,  bei  ihm  bleiben  die  unwandelbaren 
Ursprünge  aller  wandelbaren  Dinge ;  bei  ihm  leben  die  ewigen  Ugründe 
alles  dessen,  was  in  vernuiiftloser  Weise  in  der  Zeithchkeit  geschieht 
(Conf.  I,  6,  9).  Die  Welt  offenbart  die  Gedanken  Gottes:  das  Seiende 
weist  auf  das  unbedingt  Seiende,  das  Schöne  auf  das  Urschöne,  das 
Gute  auf  das  Gute  schlechtliin  (ibid  XI,  4).  Wie  stellt  sich  nun,  fragen 
wir,  das  Erkennen  dar,  welche  Prinzipien  kommen  hierfür  in  Betracht? 
Augustinus  findet  eine  intelhgible  Welt  über  sich,  die  in  sein  Bewußt- 
sein hineinragt,  er  findet  eine  Welt  unter  sich  als  Wirkungsbereich 
für  seine  Seele,  die  er  gestaltet,  indem  er  die  aus  ikr  gewonnenen 
Werte  mit  dem  ihm  gegebenen  allgemeinen  Normen  vergleicht  und 
nach   deren    Übereinstimmunsr   oder    Nichtübereinstimmuno-   er    die 


Die  Frage  nach   dem  Seelendualisnius  bei  Augustinus.  323 

Dinge  als  wahr  oder  falsch  erkennt.  Bei  dieser  Vergleichung  sagt 
x\ugustinus,  finde  ich  die  unwandelbare  und  wahre  Ewigkeit  der  Wahi'- 
heit  über  meinen  veränderHchen  Geiste,  in  der  ich  die  Dinge  zu  ver- 
gleichen vermag  (Conf.  VII,  10,  23),  und  es  ist  diese  Vergleichung  nicht 
freie  und  unbedingte  Tat  des  Menschen,  sondern  sie  geschieht  divinitus 
adjutus  internis  aeternisque  rationibus.  Damit  haben  wir  jetzt  schon 
die  Erkenntnis  gewonnen,  daß  das  menschhche  Erkennen  unter  dem 
Einfluß  der  götthchen  Kausaütät  sich  vollzieht,  durch  sie  allein  nur 
möghch  wird  und  letzten  Endes  auf  ein  Zusammenwuken  zweier 
objelctiver  Faktoren  in  der  menschhchen  Seele  zurückzuführen  ist, 
wobei  die  Seele  selbst,  gleicher  Natur,  zu  ihrem  Bewußtsein  gelangt. 
Wie  der  Seinsgrund  der  Dinge  das  göttüche  Wissen  ist,  unbedingt, 
dessen  Inhalt  dem  menschhchen  Geiste  als  zu  erstrebendes  Erkenntnis- 
ziel gegeben  ist  durch  die  inteUigible  Verbindung  desselben  mit  der 
Walu-heit,  so  ist  dieses  selbe  Wissen  auch  Licht  in  der  intellektuellen 
Erkenntnis,  so  daß  im  ganzen  Prozeß  der  Entwicklung  unserer  Er- 
kenntnis eine  Offenbarungstätigkeit  Gottes  festgehalten  werden  muß 
(De  util  cred.  12,  27;  De  b.  vita  35;  de  Civ.,  Dei  XI,  25.  Diese 
Offenbarungstätigkeit  faßt  Augustinus  unter  einem  doppelten  Ge- 
sichtspunkt, einem  praktischen  und  theoretischen.  I^nter  dem 
theoretischen  Gesichtspunkt  erscheint  sie  ihm  als  die  Offenbarung 
der  Weisheit  an  den  Weisen  und  als  feste  Erkenntnis  Gottes  durch 
letzteren  De  util  cred.  16,  34:  ut  sapientes  esse  possimus  id  est  inhaerere 
veritati.  12,27:  nuneautem  sapientes  voco,  non  cordatos  et  ingeniosos 
homines,  sed  eos  quibus  inest,  quanta  in  esse  homini  potest,  ipsius 
hominis  deique  firmissime  percepta  cognitio.  De  Ord.  II,  2,  7:  sapienti 
ergo  ante  illos  interiores  intellectus  oculos  habenti  omnia,  id  est  deum 
ipsum  fixe  immobihterque  intuenti,  cum  quo  sunt  omnia,  quae 
intellectus  videt  ac  possidet.  Unter  ersterem  Gesichtspunkt  als  das 
dieser  Erkenntnis  entsprechende  Handeln  im  Weisen  selbst  einerseits, 
und  ein  Beherrschen  der  ganzen  Wirklichkeit  durch  denselben  ander- 
seits De  util.  cred.  XII,  27:  nunc  auteni  sapientes  voco  ...  atque 
huic  cognitioni  vita  moresque  congruentes.  De  v.  rel.  31,  57:  nee  jam 
ilud  ambigendum  est  incommutabilem  naturam,  quae  supra  rationalem 
animani  sit,  deum  esse  et  ibi  esse  primamvitam-,  et  primam  essentiam 
ubi  est  prima  sapientia;  nam  haec  est  illa  incommutabihs  veritas, 
c^uae  lex  onmium  artium  recte  dicitur  et  ars  omnipotentis  artificis. 
In  allgemeinerer  Fassung  ist  das  die  Weisheit  als  Beherrscherin  der 

21* 


324  Kratzer, 

Wiikliclikoit,  Ordnung-,  Vorsehung,  Gesetz,  Gerechtigkeit,  welt- 
erhaltende Macht  De  Gene,  ad  Lit.,  IV,  12,  23;  de  1.  arb.  II,  16,  42 ff.: 
de  ord.  II,  19,  51;  20,  54;  De  1.  arb.  II,  20,  54;  17,  45:  hinc  etiani 
coniprehenditur  oinnia  Providentia  gubernari.  Si  enini  omnia  quac 
sunt,  forma  penitus  subtracta  nulla  erunt,  forma  ipsa  incommutabiUs, 
per  quam  mutabiha  cuncta  subsistunt  ut  formarum  suarum  nummeris 
impleantur  et  agantur,  ipsa  est  eorum  Providentia:  non  enim  ista 
essent,  si  illa  non  esset.  Intuens  ergo  et  considerans  imiversani 
creaturam,  quicumque  iter  agit  ad  sapientiam,  sentit  sapientiam  in 
via  se  sibi  ostendere  hilariter,  et  in  omni  Providentia  occurrere  sibi. 
Insofern  der  ganze  Kosmos  der  Ordnung  schaffenden  Kraft  der  Weis- 
heit untersteht,  erlangt  das  ganze  Weltbild  den  Charakter  des  Voll- 
kommenen, eine  Vollkommenheit,  die  auch  nicht  durch  Disharmonie 
gestört  wird,  ja  nicht  einmal  gestört  werden  kann;  der  Weisheit,  der 
Vernunft  kommt  es  zu  zu  herrschen  über  die  Torheit.  De  Ord.  I,  7,  18: 
ita  nee  praeter  ordinem  sunt  mala,  quae  non  diligit  deus,  et  ipsum 
tamen  ordinem  diligit:  hoc  ipsum  enim  dihgit  diligere  bona,  et  non 
diligere  mala;  quod  est  magni  ordinis  et  divinae  dispositionis.  Qui 
ordo  atque  dispositio,  quia  universitatis  congruentiam  ipsa  distinctione 
custodit,fit  ut  mala  etiam  esse  necesse  sit.  Ita  quasi  exantitetis  quodam 
modo,  quod  nobis  etiam  in  oratione  jocundum  est,  id  est  ex  contrariis 
omnium  simul  rerum  pulchritudo  figuratur.  II,  4,  11  — •  der  Gegensatz 
zwischen  Weisheit  und  Torheit  oder,  was  dasselbe  ist,  zwischen  Gutem 
und  Bösem,  beherrscht  den  ganzen  Gottesstaat.  Der  historische 
Ursprung  dieses  Gegensatzes  ist  nicht  schwer  zu  erkennen.  Nach 
Plato  sind  nur  die  Philosophen,  die  Weisen,  die  eigentlichen  Herrscher 
des  Staates,  weil  sie  im  Besitze  der  Erkenntnis  des  zoo/iog  vo/jvog  sind; 
denn  der  Idee,  der  Vernunft  gebührt  die  Herrschaft  über  die  Materie, 
die"  Unvernunft,  die  Notwendigkeit.  Diese  Scheidung  erhielt  bei 
Augustinus  noch  eine  morahsch-dogmatische  Verstärkung  in  der 
Gegenüberstellung  von  Sünde  und  Gnade:  der  Gottesstaat  ist  der 
durch  die  freie  Huld  Gottes  Auserwählten,  der  Staat  des  Teufels  der 
im  Verderben  der  Sünde  Belassenen.  Auch  der  Gedanke,  daß  die 
göttliche  Vernunft  den  Dingen  nicht  bloß  Sein,  sondern  auch  Er- 
kennbarkeit verleihe,  dem  Erkenntnissubjekt  die  Erkenntnisfähig- 
keit ist  platonisch  und  trifft  sich  inhaltlich  mit  der  Idee  des 
Guten  bzw.  des  Plotinischen  Nus. 

Ob   und  inwieweit    meine   Auffassung   von   der    Offenbarungs- 


Die  Frage  nach  dem  ,Seelendualismus  bei  Augustinus.  325 

tätigkeit  des  Logos  richtig  ist,  werden  die  folgenden  Ausfiihrnnoen 
zeigen.     Von  Wichtigkeit  ist,  daß  Augustinus  um  ein  Erfahrungs- 
wissen im  Sinne  der  naturwissenschaftüchen  Erkenntnis  nicht  weiß, 
und  alles  Wissen  auf  die  Autorität  zurückführt   De   util  cred.  16,  34. 
Wenn  die   Gestaltung  aller  Dinge,   die   wir  unbedenklich  aus  dem 
Urc{uell  der  echtesten  Schönheit  ableiten  nüissen,  und  ein  gewisses 
inneres  Bewußtsein  alle  besseren  Geister  gleichsam  öffenthch  und  im 
Geheimen  mahnt,  Gott  zu  suchen  und  Gott  zu  dienen,  so  müssen  wir 
erwarten,  daß  derselbe  Gott  irgend  eine  Autorität  aufgestellt  hat, 
durch  die  wir  uns,  wie  auf  eine  feste  Grundlage  gestützt,  zu  Gott 
erheben  können.    Cf.  Mausbach:  Die  Ethik  des  hl.  Augustinus  I,  169; 
Quelle  der  walu'en  P>kenntnis  ist  einzig  die  ewige  Wahrheit  der  Logos, 
die  göttliche  Weisheit  in  deren  Dienste  sich  dem  menschlichen  Geiste 
in  der  Erkenntnis  mitzuteilen  alle  Geschehnisse  stehen:  Conf.  VII, 
10,  16:  et  inde  admonitur  redire  ad  memetipsum,  intravi  in  intima 
mea  duce  te,  et  potui,  quoniam  factus  es  adjutor  mens.    Intravi  et 
vidi  quahcumque  oculo  animae  meae,  supra  mentem  meam  lucem 
incommutabilem . . .  nee  ita  erat,  sed  superior,  quia  ipsa  fecit  me,  et 
ego  inferior,  quia  factus  sum  ab  ea.    Qui  novit  veritatem,  novit  eam: 
et  qui  novit  eam,  novit  eternitatem.     0  aeterna  veritas !  . . .  Tu  es 
deus  mens.    De  ('iv.  Dei  XVI,  6,  1.  Die  Vernachlässigung  des  empiri- 
schen Wissens  einerseits,  die  Betonung  der  Innewohnung  der  Wahr- 
heit in  der  Seele  anderseits,  der  das  Seelenauge  nur  zugewendet  zu 
werden  braucht,  um  die  Wahrheit  zu  erkennen,  der  untrennbaren 
Verbindung  der  Seele  mit  der  Walu-heit,  die  dem  Geiste  präsidiere  und 
Antwort  stehe  auf  seine  Fragen,  lassen  nur  eine  primäre  KausaMtät 
zu,  die  Kausalität  der  hypostasierten  Wahrheit.  De  Gen.  ad.  Lit.  XII, 
31,  59;  De  1.  arb.  II,  12,  3,  30,  de  magistro  11,  38 f.     Diese  Über- 
zeugung Augustins  hat  ihre  eigene  psychologische  Begründung  in  der 
geistigen  Entwicklung  seiner  Persönlichkeit,  und  deren  inneren  Er- 
lebnissen, die  sein  ganzes  Denken  beherrschen  und  auch  in  seine 
Theologie  hineinwirken,  und  gerade  von  hier  aus  meine  Auffassung 
bestärken;  ich  meine  hier  vor  allem  die  Gedanken  über  Gnade  und 
Sünde.    Vgl.  die  gründlichen  Ausführungen  von  J.  Storz  a.  a.  0.  §  9: 
„Das   Wort  der  Logos   Gottes,   der  das  schöpferische   Formprinzip 
aller  Dinge  ist,  ist  als  Formprinzip  für  die  intelligiblen  Wesen  zugleich 
das  sie   erleuchtende  Prinzip   ihrer  inteUektueUen   Erkenntnis,   das 
erleuchtend  in  ihnen  wirkt,  so  lange  sie  ihr  intelhgibles  Innere,  dieser 


Kratzer, 

leuchtenden  Eiiiwirkuiiü,'  uflVn  halten,  und  mittels  dessen  Erleuehtunu 
sie  zu  ihrer  ideenniäßigen  Bestimnnmg  und  Vollendung  gelangen 
sollen."  Soll  aber  eine  Erkenntnis  der  intelligihlen  AVeit  bzw.  der 
göttlichen  intelligiblen  Wesenheit  in  dieser  intelligiblen  Welt  möglich 
sein,  so  muß  nach  einer  allgemeinen  Forderung  Augustins  eine  Ver- 
bindung zwischen  dem  erkennenden  Subjekt  und  dem  zu  erkennenden 
Objekt  bestehen.  De  Gen.  ad  Lit.  IV,  32,  49:  necque  enim  cognitio 
fieri  potest  nisi  cognoscenda  praecedant  . . .  mens  itaque  humana 
]jrius  haec  quae  facta  sunt,  per  sensus  corporis  experitur  eorumque 

iiotitiam  pro  infirmitatis  humanae  modulo  capit quam  notitiani 

sane  praecedebant  quae  fiebant:  quia  precedit  Cognitionen!  quidquid 
cognisci  potest.  Nisi  enim  prius  sit  quod  cognoscatur  cognosci  non 
potest.  De  Trin.  XIV,  10,  13;  de  magistro  12,  40.  Diese  unmittelbare 
Verbindung  wird  in  unserem  Zusammenhange  dargestellt  durch  die 
erleuchtende  Tätigkeit  des  Logos  gegenüber  der  Seele,  welcher  das 
erleuchtende  Licht  ist  für  deren  Erkenntnis;  de  Gen.  ad  Lit.  XII, 
31,  59:  ahud  autem  est  ipsura  lumen  quo  illustratur  anima,  ut  omnia 
vel  in  se  vel  in  illo  veraciter  inteUecta  conspiciat,  nam  illud  jam  ipse 
deus  est.  De  v.  rel.  36,  66 :  et  haec  est  veritas  et  verbum  in  principio 
et  verbum  deus  apud  deum  . . .  ipsa  est  quia  illud  ostendit  sicut  est : 
unde  et  verbum  eins  et  lux  eius  rectissime  dicitur.    De  peccat.  merit. 

1,  25:  nuUus  hominum  illuminatur  nisi  iUo  lumine  veritatis,  quod 
deus  est.  De  Trin.  XIV,  15,  21:  ubi  nam  sunt  istae  regulae  scriptae, 
ubi  quid  sit  justum  et  injustus  agnoscit  . . .  ubi  ergo  scriptae  sunt, 
nisi  in  libro  lucis  iUius  quae  veritas  dicitur?  VIII,  9,  13:  vivendum 
tanien  sie  esse  dei  ministris,  non  de  aliquibus  auditum  credimus,  sed 
intus  apud  nos,  vel  potius  supra  nos  in  ipsa  veritate  conspicimus. 
IX,  12,  17;  de  1.  arb.  II,  12,  34;  de  v.  rel.  31,  57;  de  magistro  11,  38; 
in  mehi'  unbestimmter  passiver  Form  ist  dieses  Verhältnis  ausgedrückt  in 
quaest  54;  de  1.  arb.  II,  12,  34;  de  mus.VI,  1,1:  de  Trin.  14, 15].  Das 
Ideale  rationale  Gedankensystem  in  der  Gottheit,  der  y.ooiio^  ro/jrog 
im  plotinischen  Sinn,  und  die  gedankliche  Grundlage  für  das  mensch- 
liche Erkennen  entsprechen  sich,  d.  h.  der  Logos  ist,  wenn  auch  als 
lumen  secretum  in  der  Erleuchtung,  der  Mitteilung  der  Wahrheit 
an  die  Einzelseele  individuelles  Erkenntnisprinzip  geworden.  Die 
stufenweise  Offenbarung  seines  Inhaltes  ist  die  Stufe,  auf  der  der 
Weise  bis  zur  Gottschau,  bis  zur  amplexio  Dei  gelangt  (De  Ord.  II, 

2,  6:  ilü  igitur  sapiens  amplectitur  deum;  eoque  perfruitur  qui  semper 


Die  Frage  nach  dem  .Seelendualismiis  bei  Augustinus.  327 

manet  nee  expectatur  ut  sit,  nee  metuitiir  ne  desit,  sed  eo  ipso  quo 
vere  et  semper  est  praesens).  Aus  der  Gleichsetzung  der  Vernunft 
mit  der  Wahrheit  ganz  allgemein  (solil  II,  18,  32,  wo  Augustinus  die 
Seele,  animus,  mit  der  wahren  Form  identifiziert:  nam  ego  puto 
eorpus  ahqua  forma  et  speeie  eontineri,  quam  si  non  haberet  eorpus 
non  esset:  si  veram  haberet  animus  esset.  Forma  schlechthin  aber 
oder  Vera  forma  wie  Augustinus  auch  sagt,  ist  der  Logos.  De  v.  rel. 
36,  56;  43,  81;  de  1.  arb.  II,  17,  45;  Ep.  14,  4)  folgt  unmittelbar,  wie 
Eggersdorfer  (Fr.  H.  Eggersdorfer :  Der  hl.  Augustinus  als  Pädagoge; 
Freiburg  1907)  meint,  daß  auch  die  einzelnen  Teilwalulieiten,  in  platoni- 
scher Weise  auch  die  einzelnen  Sätze  der  besonderen  wissensehafthchen 
Disziphnen  Teilvernunft  sind.  Diese  Gedanken  decken  sich  ganz  mit 
dem,  was  Augustinus  über  die  mens,  bzw.  intellectus  zu  sagen  weiß, 
und  unser  Denker  ist  in  diesem  Zusammenhang  nahe  daran,  den 
Unterschied  zwischen  menschhcher  und  götthcher  Vernunft  zu  ver- 
üeren.  Freihch  muß  zugegeben  werden,  daß  Augustinus  in  den  be- 
tretenen Bahnen  nicht  weiter  ging,  und  die  Konsequenzen  nicht 
gezogen  hat.  Davor  rettete  ihn  theoretisch  die  Unklarheit  seiner 
Terminologie,  praktisch  aber  sein  kirchücher  Standpunkt  von  dem 
aus  er  mit  aUer  Entschiedenheit  nicht  ohne  verstecktem  Spott  die 
Anschauungen  bekämpft,  nach  denen  die  Seele  als  Teil  Gottes  gefaßt 
wird  (cf.  Gangauf  a.  a.  0.  S.  134ff.). 

Von  Bedeutung  für  das  Problem,  ob  bei  Augustinus  ein  seehscher 
Dichotomismus  zu  statuieren  ist,  oder  nicht,  ist  die  Bestimmung  des 
Intellektes  bzw.  der  inteUigentia.  Der  Intellekt  erfaßt  sich  unmittelbar 
selbst,  ist  sich  selbst  immer  präsent,  indem  er  sich  denkt,  und  gibt 
auf  Grund  der  Verbindung  von  Subjekt  und  Objekt  der  Erkenntnis 
dieser  selbst  den  höchst  möghchen  Grad  der  Sicherheit,  (qu.  32:  nos 
autem  ahquid,  non  ita  ut  est  intelhgimus,  velut  hoc  ipsuni  nihil 
inteUigi,  quod  non  ita  ut  est  inteUigitur.  Quare  non  est  dubitandum 
esse  perfectam  inteUigentiam,  qua  prestantior  esse  non  possit:  et 
ideo  non  per  infinitum  ire  quod  quaeque  res  inteUigitur  nee  eam  posse 
alium  alio  plus  intelhgere).  Sein  Sein  ist  beständige  Tätigkeit,  und 
nur  in  seiner  Tätigkeit  ist  er  bewußt,  und  soweit  er  tätig  ist,  Be- 
stimmungen, wie  sie  Augustinus  auch  der  mens  im  allgemeinen  zu- 
weist, Bestimmungen,  wie  sie  zum  Teil  nur  dem  götthehen  Denken 
zukommen  können,  wie  sie  aber  anderseits  eine  endhche  Vernunft 
voraussetzen.      Der   augustinische    Seelenbegriff   ist   denmach   kein 


328  Kratzer, 

einhoitlichcr ;  er  ist  geteilt  in  Merkmale,  wie  sie  sich  im  plotinisehen 
Seelenbegi'iffe  finden;  das  Erkennen  erscheint  als  eine  Scheidung  in 
Subjekt  und  Objekt,  als  ein  bewußtes  GegenUbersetzen  seiner  selbst 
oder  anderen  Gegenständen  gegenüber,  die  sich  als  die  Inhalte  desselben 
darstellen,  welcher  Gegenübersetzung  aber  Keflexion  des  Geistes  auf 
sich  selbst  vorhergeht.  (De  Trin.  XIV,  6,  8  tanta  est  tamen  cogitationis 
vis  ut  nee  ipsa  mens  quodam  modo  se  in  conspectu  suo  ponat,  nisi 
quando  se  cogitat:  ac  per  hoc  ita  nihil  in  conspectu  mentis  est,  nisi 
unde  cogitatur,  ut  nee  ipsa  mens,  qua  cogitatur,  quidquid  cogitatur, 
aliter  possit  esse  in  conspectu  suo  nisi  se  ipsam  cogitando:  quomodo 
autum  quando  se  non  cogitat  in  conspectu  suo  non  sit,  cum  sine  se 
ipsa  nunquam  esse  possit,  qusi  aliud  sit  ipsa,  aliud  conspectus  eins 
invenire  non  possumus.  Unde  igitur  aufertur  mens,  nisi  a  se  ipsa  et 
ubi  ponitur  in  consepectu  suo  nisi  ante  se  ipsam?  Non  ergo  sibi  erit,ubi 
erat,  quando  in  conspectu  suo  non  erat;  quia  ita,  inde  sublata  est. 
Sed  si  conspicienda  migravit,  conspectura  ubi  manebit?  An  cj[uasi 
germinatur  ut  et  illic  sit  et  hie,  id  est,  et  ubi  conspicere  et  ubi  conspici 
possit,  ut  in  se  sit  conspiciens,  ante  se  conspicua?  . . .  proinde  restat 
ut  aliquid  pertinens  ad  eins  naturam  sit  conspectus  eins  et  in  eam, 
quando  se  cogitat,  non  quia  per  loci  spatium,  sed  incorporea  conversione 
revocetur:  cum  vero  non  se  cogitat,  non  sit  quidem  in  conspectu  suo, 
nee  de  illa  suus  formetur  obtutus,  sed  tamen  noverit  se  tamquam  ipsa 
sit  sibi  memoria  sui.  Sicut  multarum  disciplinarum  peritus,  ea  quae 
novit,  eins  memoria  continentur,  nee  est  inde  aliquid  in  conspectu 
mentis  eins  nisi  unde  cogitat.  X,  3,  5:  quid  ergo  amat  mens,  cum 
ardenter  se  ipsam  quaerit  ut  noverit  dum  incognita  sibi  est?  Ecce 
enim  mens  semet  ipsam  quaerit  ut  noverit  et  inflammatur  hoc  studio. 
Amat  igitur:  sed  quid  amat?  Se  ipsam?  Quomodo  cum  se  nonduni 
noverit,  nee  quisquam  possit  amare  quod  nescit?  ...  Quo  pacto 
igitur  se  ahquid  scientem  seit  quae  se  ipsam  nescit?  neque  enim  alteram 
mentem  scientem  seit,  sed  se  ipsam.  Seit  igitur  se  ipsam.  Deinde 
cum  quaerit  ut  noverit,  quaerentem  se  jam  novit.  Jam  se  ergo  novit. 
Qua  propter  non  potest  omnino  nescire  se,  quae  dum  se  nescientem 
seit,  se  utique  seit.  Si  autem  se  nescientem  nesciat,  non  sc  quaerit, 
ut  sciat.  Qua  propter  eo  ipso  quo  se  quaerit,  magis  se  sibi  notam 
quam  ignotam  esse  convincitur?  Novit  enim  se  quaerentem  atque 
nescientem  dum  se  quaerit  ut  noverit;  X,  8,  11). 

Die  dem  Intellekt  oben  zugeteilten  Prädikate  gelten,  wie  bereits 


Die  Frage  nach  dem  Seelenclualismus  bei  Augustinus.  329 

bemerkt,  auch  von  der  mens  (cf.  De  Gen.  ad.  Lit.  TU,  20,  30;  qu.  54), 
von  der  Augustinus  erklärt,  in  de  Trin.  XIV,  6,  9:  sed  quoniam  menteni 
semper  sui  merainisse,  semperque  se  ipsam  inteUigere  et  amare  quamvis 
non  semper  se  cogitare  diseretam  ab  eis,  quae  non  sunt  quod  ipsa 
est  ...  quacrendum  est  quonam  modo  ad  cogitationem  pertineat 
intellectus;  notitia  vero  cuiusque  rei  quae  inest  menti,  etiam  quando 
non  de  ipsa  cogitatur,  ad  solam  dicatur  memoriam  pertinere.  Si 
enim  hoc  ita  esset  non  habebat  haec  tria  ut  et  sui  meminisset,  et  se 
inteUigeret  et  amaret:  sed  memimerat  tantum  sui,  et  postea  cum 
cogitare  se  coepit,  tunc  se  intellexit  atcpie  dilexit.  Mag  nun  hier 
der  Begriff  des  Intellectus  nach  de  Ord.  I,  6,  13  im  Sinne  der  visio 
animae  gefaßt  werden,  oder  mit  Ep.  218  mit  der  mens  schlechthin 
identifiziert  werden  (cf.  de  Trin.  X,  5,  7),  oder  aber  ein  besonderes 
Attribut  über  die  Sphäre  des  mens  hinausreichendes  Merkmal  sein 
(De  Trin.  IX,  6,  11),  jedenfalls  ist  so  viel  ausgesprochen,  daß  der 
InteUect  sich  immer  denkt  (semper  se  intelhgit)  im  Ternare  des  Sich- 
erinnerns,  Erkennens  und  Wollens  in  Einheit  des  Lebens  sich  zu- 
sammenschließt, ohne  daß  damit  eine  Beziehung  zu  einem  von  sich 
selbst  verschiedenen  Gegenstande,  oder  auch  zu  sich  selbst  bewußt 
gegeben  wäre.  Das  Bild,  die  Vorstellung  jeglichen  fremden  und  des 
eigenen  Seins  ist  im  mens  vorhanden,  ist  in  den  psychischen  Lebens- 
zusammenhang aufgenonmien,  der  sich  in  der  Erinnerung,  Denken 
und  Lieben  erfüllt,  wobei  in  keiner  AVeise  eine  bewußte  Apperzeption 
der  Gegenstände  im  Denken  gegeben  sein  muß.  —  (De  Trin.  X,  10, 14; 
12,  19;  XV,  10,  17:  sed  nunc  de  iis  loquamur,  quae  nota  cogitamus 
et  habemus  in  notitia,  etiam  si  non  cogitemus,  sive  ad  contemplativam 
scientiam  pertineant,  quam  proprie  sapientiam  sive  ad  actionem, 
quam  proprie  scientiam  nuncupandum  esse  disserui.  De  his  ergo  nunc 
disserimus  quae  nota  cogitamus  et  nota  sunt  nobis  etiam  si  non 
cogitentur  a  nobis.  Sed  certe  si  ea  dicere  velimus,  nisi  cogitata  non 
possumus). 

Augustinus  Zwiespältigkeit  der  Seele  tritt  hier  wieder  hervor, 
und  ebenso  sein  Xeuplatonisnms,  den  er  nicht  zu  überwinden  vermag; 
die  Identifizierung  zwischen  dem  conspectus  mentis  und  der  notitia 
mentis  und  die  a  priori  damit  gegebene  unmittelbare  und  stetige 
Selbstschau  ist  dem  plotinischen  NusbegTiffe  entnommen;  das  con- 
spectum  esse  wird  identisch  mit  dem  cogitare:  eine  Verschiebung 
tritt  jedoch  dadurch  ein,  daß  Augustinus  den  Begriff  des  cogitare  dem 


330  Kratzer, 

cmpiriselien    Bevvußtseinslebeii   zuteilt,   in   das    natürlich   auch   das 
semper  in  conspectum  esse  mentis  bzw.  semper  se  intelligere  der  mens 
nur  fällt  durch  die  beNViißte  Hinordnung-  des  Geistes  auf  diese  Tätig- 
keit des   Geistes,    wodurch  dann  Augustinus  die  enge   Verbindung 
zwischen  Geist  und  Seele  zeigt,  eine  Verbindung,  wie  wir  sie  auch  in 
2;leicher  Weise  bei  Plotin  finden.    Vom  Geiste  verlangen  wir,  daß  er 
seine  eigene  Wesenheit  und  was  in  ihm  ist,  ergründe.  (Enn.  V,  3,  3); 
es  gibt  ein  einfaches  Sichselbstdenken,  von  dessen  Wirklichkeit  man 
ohne  viele  Widersprüche  nicht  absehen  kann  (V,  3,  1;  3,  6),  das  im 
eigentlichen  Sinn  nicht  Denken,  sondern  liloße  Schauung  des  Ge- 
gebenen ist,  weil  ja  sich  selbst  stets  gegenwärtig  (V,  3,  9).    Wie  in 
dieser  Selbstgegenwart  des  Geistes  allein  die  volle  Wahrheit  begründet 
hegt,  haben  wir  bei  Plotin  wie  bei  Augustinus  schon  gesehen.    Und 
wir  dürfen  nicht  außer  acht  lassen,  daß  dieses  Denken  ein  bewußtes 
Denken  ist;  denn  obwohl  der  Geist  als  eine  Einheit  wiederholt  dar- 
yestellt  wird,  so  ist  er  doch  nicht  mehr  eine  Einheit  im  Sinne  der 
Einfachheit,  sondern  er  schheßt  bereits  eine  Vielheit  ein,  die  zwar 
nicht  die  Einheit  stört,  aber  doch  als  einzelne  Momente  in  sie  auf- 
genommen ist  (V,  3,  15;  V,  1,  7;  VI,  9,  5);  wo  aber  Vielheit,  da  auch 
Bewußtsein  (V,  6,  5).    Der  Geist  allein  hat  ein  Denken  seiner  selbst 
wie  die  augustinische  mens,  die  Seele  denkt  anderes,  bzw.  sie  hat  den 
Gegenstand  ihres  Denkens  nicht  in  ihrem  eigenen  Sein,  sondern  in 
dem,  was  ihr  vom  Geiste  gegeben  wird,  und  was  sie  von  seinem  Lichte 
bestrahlt  erkennt.     Der  Seele  ist  überhaupt  nicht  eigen  das  Denken, 
sondern  das  Nachdenken,  die  Bereicherung  ihi'er  selbst  durch  das 
Nachdenken  (V,  1,  7);  bei  Plotin  ist  Idee  Geist  und  der  Geist  die  Idee 
(V,  9,  8),  wie  bei  Augustinus  der  Logos  die  Einheit  der  rationes ;  darum 
gibt  es  für  ihn  nichts  zu  erwerben,  ist  nicht  gehalten  nach  außen  zu 
gehen,  wie  die  Seele,  braucht  nicht  zu  finden,  nm  zu  Ijesitzen  (V,  9,  8): 
lanter  Bestimmungen,   wie   wir  sie  im  augustinischen  LogosbegTiff 
finden,  Bestimmungen,  wie  sie  den  Begriff  der  mens  ausmachen,  im 
Begriffe  des  Intellektus,  der  inteUigentia,  sich  finden,  die  die  inteUigiblen 
Dinge  in  sich  schließe.     Der  Logos  ist  Leben,   Sein,  Denken,  Licht, 
und  dadurch,  weil  Denken  und  Sein  in  einem  Subjekt,  auch  Wahrheit. 
Der  Nus  ist  Leben  und  zwar  ursprünghches  Leben  (V,  3,  9),  das  Leben 
ist  Weisheit,  dieselbe  Weisheit,  die  nicht  durch  Nachdenken  gewinnt 
(V,  8,  5),  sondern  erkennt  in  unmittelbarem  Lichte,  welches  das  Eine 
über  den  Geist  ausgießt  (V,  5,  7),  der  seinerseits  die  Seele  zu  beleuchten 
imstande  ist  (V,  3,  Bf.). 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  331 

Der  metaphysischen  Fassung  der  Begriffe  Geist  und  Seele  folgt 
auch  eine  psychologische.     Der  Geist  schaut  sich  selbst  und  denkt 
nicht  über  sich  selbst  nach ;  denn  er  ist  sich  selbst  stets  gegenwärtig ; 
die  Selbstgegenwart  des  Ich  wird  abhängig  gemacht  von  der  Hin- 
lenkung der  Seele  zum  Geiste,  und  das  reine  Denken  mit  der  Tätig- 
keit des  höchsten  Seelenteiles  identifiziert  (V,  3,  9).    Augustinus  geht 
über  Plotin  in  seinem  Logosbegriffe  und  dessen  Verhältnis  zur  Seele 
hinaus;  er  faßt  den  Logos  transzendenter,  da  er  in  ihm  doch  vor- 
wiegend die  hypostasierte  götthche  Vernunft  sieht,  und  insofern  in 
das  rein  innergötthche  Leben  mit  einbezieht,  wenn  er  ihn  auch  unter 
der  Vorstellung  des  Inbegriffes   der   Wahrheit,   die   dem  Menschen 
leuchte,  zur  geschaffenen  Vernunft  herabzieht,  und  um  durch  ihn 
ihr  die  wahre  Erkenntnis  zu  gewähren.     Wenn  Augustinus  von  der 
mens  bzw.  dem  intellectus  die  oben  angegebenen  Prädikate  aussagt, 
und  das  Sehen  seiner  Selbst  zu  seinem  eigenen  Wesen  erhebt,  so  hat 
er  damit  die  plotinische  Bestimmung  des  Nus  aufgenommen  (cf.  De 
Trin.  IX,  4,  5 ff.).    Wenn  er  aber  dann  ausdrückhch  von  der  mens  die 
Forderung  des  cogitare  erhebt,  damit  der  Geist  sich  wisse,  so  hat  er 
damit  auf  den  plotinischen  Begriff  der  Seele  übergegriffen,  von  der 
Plotin  auch  angibt,  daß  sie  stets  tätig  sei,  aber  doch  nicht  aUes  im 
Bewußtsein  erfasse  (I,  4,  9;  IV,  8,  8;  V,  1,  12),  geht  aber  über  den 
bloßen  Seelenbegriff  hinaus,  da  Selbstwissen  für  die  Seele  nach  Plotin 
nicht  besteht.    Und  so  verbindet  sich  mit  dem  augustinischen  Seelen- 
begriff einerseits  das  stets  bewußte  Denken  des  Geistes,  anderseits 
die  stete  nachdenkende  Tätigkeit  der  Seele,  die  ihr  Tun  bald  auf 
diesen,  bald  auf  jenen  Gegenstand  richtet  (V,  1,  11),  aber  nur  durch 
Hinordnung  der  Aufmerksamkeit  auf  das  Tun  zum  be\vußten  Tun 
wird;  so  ist  es  natürlich,  daß  Augustinus  in  der  Aufnahme  dieser 
verschiedenartigen  Elemente  in  seinem  Seelenbegriff  das  stete  Sich- 
selbstdenken des  Geistes  zum  bloßen  Selbstwissen,  zum  nosse,  ab- 
schwächt, und  in  ihm  gleichsam  die  Möglichkeit,  im  Menschen  durch 
das  cogitare  bewußt  zu  werden,  sieht.     Augustinus  scheint  hier  die 
aristotelische  Vorstellung  des  aktiven  und  passiven  Intellektes  vor- 
zuhegen,  nach  der  die  Seele  als  möghcher  Verstand  erst  formiert  würde 
durch  den  denkenden  Geist  als  aktivem  Intellekt :  cum  verosecogitat, 
non  sit  quidem  in  conspectu  suo,  nee  de  illa  suus  formetur  obtutus. 
Dieser  Gedanke  hat  noch  weitere  Bedeutung,  und  ich  verweise  hier 
auf  das,  was  oben  bereits  über  das  Verhältnis  von  cogitare  und  nosse 


332  Kratzer, 

gesagt  wurde.    Haben  wir  hier  bei  Augustinus  festzustellen  vermocht, 
daß  gewisse  Sätze,  die  Idee  Gottes,  das  Selbstwissen  des  Geistes  immer 
bekannt  seien,  und  daß  die  Seele  in  ihrer  Tätigkeit  stets  unwandel- 
baren Normen  unterUege,  daß  die  Seele  jedoch  bei  all  ihrer  Tätigkeit 
immer  bloß  auf  einen  Gegenstand  sich  zu  konzentrieren  vermag, 
den  sie  aus  einer  unendlichen  Fülle  von  Vorstellungen  herausgreift, 
so  finden  wir  hier,  wie  schon  erwähnt,  ein  Verhältnis  zwischen  Geist 
und  Seele  ausgesprochen,  das  dem  Verhältnis  von  Moghchem  und 
Wirkhchem  für  das  menschhche  Be^^^^ßtsein  gleichkommt:  die  Seele 
ist  Exijlikation,  Analyse  des  im  Geiste  (memoria)  Gegebenen,  wodurch 
dann,  weil  durch  Apperzeptionsakte  (cogitare)  erfolgend,    notwendig 
auch   Bewußtsein  gegeben  ist;   darum,   wie   Augustinus   sagt,  kein 
Bewußtsein   von  der   Selbsterkenntnis   der  mens,   außer   durch   das 
cogitare.    Plotin  drückt  den  gleichen  Gedanken  so  aus,  daß  er  sagt, 
wir  haben  die  Ideen  in  doppelter  Weise:  in  der  Seele  entwickelt  und 
getrennt,  in  der  Vernunft  aber  in  Einheit  (I,  1,  8).    AVie  die  Vernunft, 
der  Geist  sich  stets  gegenwärtig  ist,  so  schaut  und  denkt  er  sich  un- 
mittelbar (V,  3,  9),  und  es  ist  dies  ein  Denken  seiner  Selbst,  seiner 
Inhalte  (V,  1,  4),  ein  Denken,  nicht  um  zu  erkennen,  sondern  ein 
Denken,  in  dem  alles  Intelligible  in  wesenhafter  Einheit  zusammen- 
gefaßt und  geschaut  wird  (V,  9,  8;  V,  9,  5),  die  das  Bewußtsein  schlecht- 
hin ist.    Denn  der  Zustand,  in  welchem  wir  uns  am  meisten  unserer 
selbst  bewußt  werden,  ist  der,  in  welchem  das  Wissen  von  uns  selbst 
und  wir  selbst  eine  Einheit  bilden  (V,  8,  11).    Augustinus  und  Plotin 
treffen  sich  in  der  Hinaushebung  der  eigenthchen  geistigen  Tätigkeit 
über  das  menschliche  Bewußtsein  vollständig.   Der  Geist  ist  die  FüUe, 
der  Reichtum,  und  er  denkt  und  weiß  in  seinem  eigenen  Lichte,  die 
Seele  steht  mit  ihm  in  Zusammenhang,  um  von  ihm  beleuchtet,  zur 
Erkenntnis  zu  gelangen.      Dem  voüp    (nosse,  intelhgere)  tritt  das 
diavotlv  (cogitare)  zur  Seite.    Der  Geist  besitzt  schon,  und  zwar  im 
sichersten  Besitz,  in  untrüghchster  Wahrheit:  die  Seele  ist  leer,  dem 
Geiste  zugewandt,  um  Inhalte  zu  gewinnen,  durch  Nachdenken  sich 
zu  bereichern;  denn  Nachdenken  setzt  voraus,   daß  man  noch  nicht 
habe  (III,  8,  3;  V.  1,  4;  V,  8,  4),  und  Plotin  bestimmt  dieses  Haben 
näherhin  als  Haben  im  Bewußtsein,  wie  Augustinus,  wenn  er  sagt, 
daß  der  Gebildete  viele  Wissenschaften  habituell  besitze,  ohne  sie 
zu  denken,  ohne  sich  aktuell  jederzeit  sich  damit  zu  befassen;  und 
wie  Augustinus  den  Begriff  des  cogitare  in  diesem  Zusammenhange 


Die  Frage  nach  dem  .Seelendualismus  hei  Augustinus.  338 

kennt,  so  Plotin  das  :rQ0C)0yj]v  lybiv,  das  dies  Denken  des  Nus  in  auf- 
merksamer Hinordnung  auf  dasselbe  in  der  Seele  erscheinen  lassen 
solle  (V.  1,  12);  denn  nur  dadurch  wird  die  vom  Nus  in  die  Seele  ge- 
langende Wahrheit  eine  bewußte  Wahrheit  (IV,  8,  8;  3,  30).  Die 
Seele  muß  den  Geist  befragen,  den  sie  besitzt,  den  sie  aber  oft  ver- 
nachlässigt (V,  3,  9;  1,  12;  3,  3),  sie  muß  zu  dem  erleuchtenden  Prinzip 
hinbewegt  werden,  um  sich  selbst  gegenwärtig  zu  sein  (V,  3,  9).  Die 
Seele  hat  den  Geist,  oder  in  der  Terminologie  Augustinus,  den  Logos, 
die  Wahrheit,  Clu'istus,  den  Lehrer:  nur  ergreift  sie  nicht,  was  sie  hat, 
d.  h.  sie  setzt  jene  Bedingungen  der  Aufmerksamkeit  und  Hinordnung 
nicht,  die  gefordert  ist,  die  Wahrheit  zu  erfassen  (I,  1,  11;  2,  4). 

Wenn  wir  auf  die  eben  gemachten  Ausführungen  einen  Bhck 
zurückwerfen,  so  tritt  ein  beiden  Denkern  vor  allem  gemeinsamer 
fundamentaler  Gedanke  hervor,  der  Gedanke  an  das  Bewußtsein, 
an  das  unmittelbar  erlebte,  empirische  Bewußtsein.  Alle  Wirklich- 
keit, alle  Walirheit,  alles  Leben  und  Denken,  wie  es  durch  die  beiden 
Begriffe  Nus  und  intellectus  repräsentiert  ist,  hat  im  eigenthchen 
Sinn  für  den  Menschen  doch  nur  Wert,  insofern  er  dieselbe  im  Be- 
wußtsein zu  erfassen  vermag.  Es  hegt  ein  denkendes  Prinzip  im 
Menschen,  ein  im  höchsten  Grade  bewußtes  Prinzip;  aber  was  für 
Erfolge  sind  damit  für  den  Menschen  als  physisch-psychisches  Wesen 
gegeben,  wenn  dieses  uns  verborgene,  denkende  Bewußtsein  auf  sich 
beschränkt  bleibt,  und  dem  Menschen  als  Bewußtseinswesen  sich 
nicht  offenbart?  Es  liegt  im  Menschen  ein  Bewußtsein  des  Geistes 
und  ein  Bewußtsein  der  Seele,  die  beide  an  sich  von  einander  meta- 
physisch unabhängig  für  sich  selbst  bestehen,  so  daß  also  ein  Be- 
\^^ßtsein,  Tätigkeit,  Denken  bestehen  kann,  ohne  daß  damit  ein  Be- 
wußtsein in  der  Seele  gegeben  ist;  das  Eine  ist  seinem  Wesen 
nach  Bewußtsein,  das  andere  nur  durch  erfahrungsgemäße 
Bedingungen.  So  sehr*  sie  mit  dieser  Auffassung  des  Bewußtseins 
den  metaphysischen  Duahsmus  auch  in  die  Psj^chologie  und  in  den 
Menschen  hineintragen,  suchen  sie  ihn  zu  überwinden  durch  den  Be- 
griff der  Aufmerksamkeit,  der  inneren  Hinordnung,  durch  den  eine 
erkennende  Erfassung  auch  der  transzendenten  Wahrheit  niöghch 
wird.  Muß  dem  Geiste  Bewußtsein  beigelegt  —  ist  es  unzulässig, 
der  Seele  das  Denken  ihrer  selbst  zuzuschreiben,  so  ist  es  erst  recht 
unzulässig,  es  der  Natur  des  Geistes  beizulegen,  wenn  dieser  die  Er- 
kenntnis der  übrigen  Dinge  zwar  hat,  zur  Erkenntnis  und  zum  Wissen 


334  Kratzer, 

seiner  selbst  aber  nicht  gelangen  soll  —  und  nuiß  dieses  Bewußtsein 
als  das  Bewußtsein  im  eminenten  Sinn  des  Wortes  aufgefaßt  werden, 
so  wird  dieses  Bewußtsein  zum  Unbewußtsein  in  Beziehung  auf  das 
Erfalu'ungsbewiißtsein  der  Seele,  oder  mit  anderen  Worten:  es  gibt 
auf  Grund  der  Beziehung  von  Geist  und  Seele  Erkenntnisse,  Wissen, 
die  für  sich  und  an  sich  bestehen  in  ihrer  Einheit,  eine  denkende 
bewußte  Intelligenz  konstituieren,  für  den  j\lcnschen  aber  ein  un- 
l)e\Mißtes  Sein  darstellen,  und  als  unbewußtes  Erkennen  an  realen 
Wert  dem  bewußten  sogar  weit  voranstehen;  es  ist  der  Begriff  des 
Unbewaißten  bei  beiden  Denkern  ein  bloßer  relativer,  und  gilt  bloß 
in  Beziehung  auf  das  erfahrungsmäßige  Bewußtsein.  Es  erhebt  sich 
hier  nun  die  Frage,  auf  welche  Weise  die  mens  oder  unter  welchen 
Umständen  die  mens  aus  der  bloßen  Selbsterinnerung  zur  aktuellen, 
im  Bewußtsein  reflektierenden  Tätigkeit  sich  selbst  gegenüber  fort- 
schreitet. Die  Lösung  dieser  Frage  gibt  unser  Denker  in  seinen  Dar- 
legungen über  Bedeutung  und  Wert  des  Erfahrungswissens  als  er- 
regender, ermahnender  okkasionaler  Ursachen.  Doch  bleibt  un- 
erklärt, aus  welchem  Grunde  die  mens,  die  sich  selbst  stets  zugewandt 
ist,  kein  Bewußtsein  von  dieser  geistigen  Selbstschau  hat.  Ich  konnte 
auf  dieses  Problem  im  Sinne  einer  Lösung  desselben  keine  direkte 
Bezugnahme  bei  Augustinus  finden,  wohl  aber  die  Bemerkung,  daß 
der  Geist  Kenntnis  von  seiner  steten  Selbstkenntnis  und  Selbsthebe 
erst  habe,  durch  sein  Sichselbstdenken,  wenn  er  in  De  Trin.  X,  8,  11 
ausführt:  interior  est  enim  ipsa  non  solum  quam  ista  sensibiha  quae 
manifestae  foris  sunt,  sed  etiam  quam  imagines  eorum,  quae  in  parte 
quadam  sunt  animae,  quam  habent  et  bestiae,  quamquis  intelligentia 
careant,  quae  mentis  est  propria.  Cum  ergo  mens  sit  interior  quodam 
modo  exit  a  semetipsa  . . .  quae  vestigia  tamquam  imprimuntur 
memoriae,  quando  haec  quae  foris  sunt  corporalia  sentiuntur,  ut 
etiam  cum  absuntista,  praestosint  tamen  imagines  eorum  cogitantibus. 
Cognoscat  ergo  semetipsam,  nee  quasi  absentem  se  quaerat,  sed  In- 
tentionen! voluntatis,  qua  per  alia  vagabatur,  statuat  in  semet  ipsam, 
et  se  cogitet.  Ita  videbit,  quod  nunquam  se  non  amaverit,  nunquam 
nescierit,  und  daß  ihm  das  obenaufgeworfene  Problem  selbst  unlösbar 
sei;  ibid.  XIV,  7,  9:  sed  unde  diu  non  cogitaverimus,  et  unde  cogitare 
nisi  commoniti  non  valemus,  id  nos  nestio  quo  eodemque  miro  modo, 
si  potest  dici  scire  nescimus.  XIV,  6,  8:  Augustinus  verbindet  den 
psychologischen   Begriff  des   Bewußtseins   und   der   Seele   mit  dem 


Die   1*1  age  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  335 

metaphysischen  Begriff  der  Wahrheit,  und  läßt  beide  in  seinen  Seelen- 
begriff eingehen.  Die  einheitliche  Bestimmung  des  Seelenbegriffes 
ist  für  Augustinus  selbst,  wie  wir  sehen,  nicht  ohne  Schwierigkeit. 

Den  Begi'iff  des  reinen  Denkens,  der  im  mens  steckt,  hat  Augustinus 
der  griechisch-alexancMnischen  Philosophie  entlehnt,  wo  er  extra- 
mentale Bedeutung  hatte,  und  ihn  mit  dem  Begriff  der  veränderlichen 
Seele  verbunden,  wie  ihn  das  empirische  Bewußtsein  angibt.  Da 
zugleich  dieses  reine  Denken  dem  historischen  Ursprünge  nach  als 
die  Quelle  aller  wahi'en  Erkenntnis  gefaßt  wird,  so  verstehen  wir, 
daß  Augustinus  mit  Nachckuck  die  Abkehr  von  der  Sinnlichkeit  und 
der  Welt  der  Erscheinung,  des  Scheines,  die  der  reinen  Wirklichkeit 
gegenübertritt,  fordert,  und  nie  müde  wird,  zur  Einkehr  in  sich  selbst 
zu  ermuntern,  wo  die  inteUigible  W^elt,  die  reine  Wahrheit  dem  Geistes- 
auge sich  zeigt.  Da  diese  als  die  volle  Wirldichkeit  erscheint,  so  ist 
damit  notwendig  auch  der  Begriff  der  Kausahtät  gegeben;  und  dieser 
reinen  Wirklichkeit  gegenüber,  die  als  solche  dann  auch  als  höchste 
Kausahtät  erscheint,  hat  das  geschöpfhche  Sein  nur  untergeordnete 
Bedeutung:  es  ist  nur  Werkzeug  in  der  Hand  der  höchsten  Ursache. 
Alle  diese  Momente  sind  in  den  Seelenbegriff  Augustins  aufgenommen, 
aber  nicht  zur  Konsequenz  entwickelt,  weil  nach  dogmatischer  Lehre, 
die  Augustinus  vertreten  wollte,  das  reine  Denken,  der  Logos,  die 
Weisheit,  die  Waluheit  als  transzendentes  Sein  aufgefaßt  werden 
muß.  Die  Nachwirkung  aber  sehen  wir  noch  in  der  Lehre,  daß  der 
Logos  es  sei,  der  den  Menschen  die  Wahrheit  vermittle,  die  walire 
Erkenntnis  der  Seele  einstrahle,  der  in  der  ratio  der  Dinge  sich 
offenbare. 

(Schluß  folgt  im  nächsten  Heft.) 


Metz,  den  5.  März  1915. 

Hochgeehrter  Herr  Professor, 

Im  ,, Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie"  Band  23,  1910 
findet  sich  S.  338 — 373  der  Schhiß  der  sehr  interessanten  und  be- 
lehrenden Arbeit  Leo  Jordans.  S.  338  wird  Malebranche  zitiert. 
Der  Autor  bemerkt:  ,,So  also  lehrte  M.,  ohne  daß  es  uns  leider 
gelungen  wäre,  die  Stelle  nachzuweisen,  wo  er  dies  sagt." 

Mit  einer  Dissertation  über  Ms.  Psychologie  beschäftigt,  bin 
ich  in  der  Lage,  die  gesuchte  Stelle  anzugeben  und  wäre  Ihnen 
für  gütige  Vermittlung  dieser  Mitteilung  an  den  Herrn  Autor 
sehr  dankbar. 

Die  SteUe  steht:  ,, Recherche  de  la  verite"  hvre  6,  partie  2, 
chapitre  3.     (In  Bouillier's  Ausgabe  Seite  64.) 

Mit  vorzüglicher  Hochachtung  grüßt  Sie 

Dr.  E  d.  S  p  e  h  n  e  r , 
Metz-Queuleu,  Rheinische  Str.  8. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam. 

Von 
Prof.  Dr.  Horten  in  Bonn. 

(Fortsetzung.) 

Huart,  M.  Clement,  Textes  Persans  relatifs  a  la  secte  des  Homoüfis  publies, 
traduits  et  aruiotes  par  M.  C.  Hu.  suivis  d'une  etude  sur  la  religion  des 
houroüfis  pai   le  docteur  Rizä  Tevfik  commu  sous  le  nom  de  Feylesouf 
Riza.     Leiden   1909. 
Zu  den  Werken  über  die  Geheimlehren   im  Islam  tritt  diese  Publikation 
Huarts  als  letzte  und  bedeutendste  hinzu.  Sie  bestätigt  von  neuem,  daß  den 
kabbalistischen  Spekulationen  eine  vollständige   Philosophie   zugrunde  liegt. 
Eine  Reihe  von  unbekannten  Schriften  werden  hier  in  persischem  Originale 
und  fi-anzösischer  Übersetzung  geboten:   1.  Das  Buch  der  richtigen  Leitung. 
Es  bringt  einige  Prinzipien  über  den  Wert  und  die  Berechnung  der  Buch- 
staben.    2.  Das  Buch  der  Geheimlehren  bespricht  die  Stellung  der  Imame. 
3.  Das  Buch  der  Ziele  entwirft  ein  neu;;iatonisches  Weltsystem,  wie  es  aus 
Avicemia  bekannt  ist.    Die  Geschöpfe  bilden,  von  der  Hyle  aufsteigend,  eine 
kontinuierhche   Reihe,   indem   jede   höhere   Stufe   che   Vollkommenheiten  der 
niederen  in  einer  höheren  Einheit,  vermehrt  um  eine  neue  Entelechie,  umfaßt. 
Der  Mensch  umfaßt  als  iVIikrokosmos  alle  Stufen  des  Makrokosmos.    4.  Kleine 
Abhandlungen.       ö.   Das  Atom.      0.   Kabbahstische  Abhandlungen,    die  die 
altorientalische  Idee  des  Parallehsnius  der  \\'elten  ausführen  (Malo-okosmos 
gleich  Mikrokosmos).     7.  Das  Buch  Alexandeis. 

Einen  klaren  Einbhck  in  die  neuplatonische  Gedankenwelt,  der  Hurufis 
gewälu-t  uns  die  Studie  des  Dr.  Rizä  Te\^ik,  die  den  Anhang  des  obigen  Werkes 
bildet.  Fadlallah,  1394  dinch  Miränschah,  einen  Sohn  Timms,  hingerichtet, 
lehrte  seinen  Schülern  folgendes  System,  das  von  Ali  aläla,  seinem  Nach- 
folger, in  dem  Orden  der  Bektaschis  verbreitet  wurde.  Es  existiert  eine  erste 
Kraft,  die  ewig  und  einfach  in  sich  besteht.  Sie  spricht  ein  seehsches,  inneres 
Wort  (Logos)  aus,  das  abstrakt  und  universell  ist.  Dieses  individualisiert 
sich  und  wird  dadurch  zum  äußeren,  d.  h.  ausgesprochenen  Worte,  den 
28  Buchstaben  des  arabischen  resp.  den  32  des  persischen  Alphabetes.  Diese 
Buchstaben  sind  die  Elemente,  aus  denen  die  Weltkörper,  Materie  und  Form, 
und  letzthin  das  Selbstbewußtsein  in  uns  entstehen.  Wie  die  Welt  des  Logos  sind 
die  universellen  Wesenheiten,  die  platonischen  Ideen,  solche  die  sich  zirr  Gottheit 
wie  Attribute  verhalten.  Sie  sind  nm'  dem  Wesen,  nicht  der  Zeit  nach  später 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  3.  22 


338 


Horten, 


als  Gott,  und  den  Dingen  immanent.  Aus  ihnen  entstehen  die  materiellen 
Dinge  wie  der  Akt  aus  der  Potenz.  Die  Sinneswelt  ist  also  eine  Aktualisierung 
der  Ideenwelt.  Ebenso  wie  die  „Ideen"  ist  auch  ihr  Substrat,  die  erste  Kraft. 
Gott,  in  der  Sinneswelt  immanent  imd  aktualisiert  sich  in  ihr.  Dadiirch,  daß 
das  Unendliche  und  Absolute  sich  begrenzt,  determiniert  ind  kontingente 
Formen  annimmt,  wird  es  (Gott)  zm  Welt.  Die  Welt  ist  also  eine  Erscheinungs- 
form der  Gottheit.  Ihie  32  Elemente  sind  Worte  Gottes.  Gott  ist  in  sich 
(S.  248)  weder  Substanz  noch  Akzidens.  Die  Welt  beschreibt  einen  Kreislauf, 
indem  sie  aus  dem  Logos  entsteht  und  wieder  in  ihn  veisinkt  (Nirwana). 
Wir  werden  also  am  Ende  der  Dinge  zum  Logos  selbst.  Der  Mensch  ist  die 
Inkarnation  und  Personifikation  Gottes.  Im  Tode  trennt  sich  seine  Individualität 
von  seinem  Wesen  ,,wie  die  Haut  von  dem  Körper"  und  es  bleibt  das  absolute 
Sein  (buddhistisches  Nirwana).  Wemi  die  Simieswelt  sich  tägUch  verändert, 
so  bedeutet  dieses  nur,  daß  Gott  sich  täghch  mit  einem  neuen  Kleide  umhüllt. 
Daß  der  Mensch  eine  Erscheinungsform  der  Gottheit  ist,  ist  die  Geheimlehie 
des  Koran.  Besonders  bedeutende  Inkarnationen  Gottes  sind  die  120  000 
Propheten  bis  auf  Fadlallah,  der  im  Mahdi  der  Endzeiten,  dem  Anticluist, 
wiederkehren  wird.  Die  sinnliche  und  philosophische  Erkenntnis  sind  un- 
genügend. Die  mystische  Intidtion  muß  beide  vervollkommnen.  Wenn  in 
dem  Gottesbegriffe  dieser  Sekte  che  Idee  der  Potenzialität  enthalten  ist, 
die  sich  zur  Welt  entfaltet,  so  ist  vielleicht  der  Umstand  für  die  Entstehung 
dieser  Lehie  besonders  zu  betonen,  daß  das  W^ort  „Kraft"  mit  dem  man  Gott 
bezeichnete,  wie  die  termini  potentia  und  dynamis  sowohl  eine  Aktualität 
als  auch  eine  Potenzialität  ausdrückt.  Zwei  wesentUch  verschiedene  Begriffe 
sind  hier  in  einem  Terminus  vereinigt.  Die  Lehre  von  dem  W  orte  Gottes,  die 
einen  Grundzug  der  Kabbahstik  im  Islam  bildet,  ist  ein  Ausläufer  der  spekulativ 
theologischen  Streitigkeiten  der  ersten  Jakrhunderte  des  Islam  über  das  \\'ort 
Gottes,  den  Logos  (ob  es  ewig  oder  erschaffen,  getrennt  von  Gott  oder  identisch 
mit  ihm  sei).  Neben  diesen  christlich -altorientalischen  Einflüssen  (Marduk- 
idee)  laufen  indische  (Pantheismus,  und  Lehre  von  den  Existenzformen  der 
Buddha-Imamlehre)  und  persische  (CJott  wird  als  das  Licht,  das  Böse  als 
die  Finsternis  bezeichnet).  Die  Rehgion  der  Drusen  und  Nusairier  stimmt 
mit  der  hier  entworfenen  in  den  wesentlichen  Zügen  (abzüglich  der  Kabbalistik) 
überein. 


Frank,  Dr.  Rudolf:  Scheich  'Adi,  der  große  Heiüge  der  Jezidis  in:  Türkische 
Bibliothek,  herausgegeben  von  Dr.  Georg  Jacob,  14.  Bd.,  1911,  134  S. 
Der  Meister  Adi  (gen.  Hakkäri  1163  f)  interessiert  die  Philosophie, 
insofern  er  ein  Gegner  der  spekulativen  Theologen  liberaler  Richtung  (der 
Mutaziliten)  ist.  Er  leugnet  die  Willensfreiheit  vmd  betont  die  naiven  eschato- 
logischen  Vorstellungen  des  Islam,  die  die  liberalen  Theologen  in  geistigem 
Sinne  interpretiert  hatten.  Trotzdem  ninunt  er  (S.  13)  eine  liberal-theologische 
Ansicht  an,  daß  nämlich  der  Glaube  vermehr  bar  und  verminderbar  sei.  Da  er 
eine  Tugend  ist,  gelten  von  ihm  die  Gesetzmäßigkeiten,  die  Aiüstoteles  von  den 
Qualitäten  lehit,  daß  sie  vermehrt  und  vermindert  werden  können.  Diu-ch 
die  (indische !)  Askese  gelangt  der  Mensch  dazu,  sein  eigenes  Selbst  zu  ver- 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  339 

iiichten  (23,  13)  und  sich  dadm-ch  Gott  zu  nähern,  der  ,,ihm  ein  neues  Ich 
(S.  23,  5)  verleihen  wird"'.  Der  Pantheismus  und  die  Seelen  Wanderung  (8.  41), 
die  in  ihren  Ursprüngen  auf  Indien  hinweisen,  treten  in  den  Gedichten^) 
(S.  100 — 126)  und  Prosastücken  klar  hervor  z.  B.  S.  38  Z.  2  mit:  ,,In  meinem 
Geiste  (sirr)  ist  meine  Erkenntnis  vorhanden,  die  besagt:  keine  Gottheit 
existiert  außer  mir  (dem  Mystiker  Adi)".  Auch  die  indische  Idee  von  der 
Wiederkehr  des  Imam  (Wiederkehr  des  Buddha)  lebt  in  dem  von  Adi  ge- 
stifteten   Orden   fort    (S.   47).       Das   sonst   deutlich    hervortretende   Streben 


^)  Nach    philosophischer   Terminologie    könnten   einzelne   Verse   anders 
rt  iedergegeben  werden  (S.   109  V.  4).     Mein  (unvergängHcher,  weil  unkörper- 
licher)  Geist   (sirr)   war  erhaben   über   die   (vergänglichen)   Seinsformen  (der 
Körperwelt:     Bewegung,     Ruhe,    Verbindung    und    Tremiung)     vor    meiner 
^.lanifestation  (in  der  sublunarischen  Welt).   Vor  der  leiblichen  Geburt  befindet 
sich  der  Mystiker  in  Gott  und  der  Geisterwelt.     Er .  präexistiert  daher  von 
Ewigkeit.    Der  unkörpeiliche  Geist  ist  wie  alle  rein  geistigen  Substanzen  ewig 
in  Gott  und  aus  ihm  emanierend.    Zeitlich  erschaffen  ist  nm-  das  Materielle 
und  räimihch-zeitlich  Vergehende,  was  als  „Seinsformen"  (akwan)  bezeichnet 
wird.     S.  112  V.  5.    Da  der  Mystiker  eine  Emanation  des  göttlichen  Wesens 
ist,  besitzt  er  göttUche  Autorität  und  Macht.    Er  ist  also  der  Gnadenspender, 
der  zu  Gott  führt.    „Ich  habe  die  Macht,  so  kann  er  sagen,  che  Menschen  zu 
Gott  hinzuführen  und  ihnen  die  Freundschaft  Gottes,  die  Heihgkeit  zu  ver- 
leihen."    V.  7:  „Ich  bin  der  Gesetzgeber  des  Sittengesetzes  (stehe  über  der 
sitthchen  Weltordnung)   und   erlasse   Bestimmungen   über  das  dem   Werden 
und  Vergehen  unterworfene  Sein  (stehe  ebenfalls  über  den  Xatm-gesetzen). 
V.  10:  Die  ,, Distanz  zwischen  den  beiden  Kurven"  ist  ein  mystischer  Terminus, 
mit  dem  Schirazi  (1640  f)  in  seinem  Werke:  „Die  vier  Reisen"  die  teilweise 
Vereinigung  mit  Gott,  in  der  noch  ein  Zwischenraum  zwischen  dem  Mystiker 
und  Gott  Ijestehen  bleibt,  also  die  Vorstufe  des  vollstäncUgen  Xirwanas,  be- 
zeichnet.   Gott  ist  der  Endpunkt  zweier  Kurven.    Die  absteigende  bedeutet 
das  Ausgehen  der  Geschöpfe    von   Gott    nach  den  verschiedenen  Stufen  der 
Wesen  (Geister  —  Seelen  • —  Körper).     Die  aufsteigende  Km-ve  hat  Gott 
zum  Zielpunkte  (nicht  wie  die  absteigende  zum  Ausgangspunkte),  indem  sich 
alle  Geschöpfe  wiederum  auf  Gott  hinbewegen  und  zwar  aufsteigend,   d.  h. 
mit  zunehmender  Vollkommenheit  (Körper  —  Seele  —  Geist).    Dieses  ist  der 
Kreislauf  des  Kosmos,  eine  Vorstellung,  der  als  optisches  Bild  wohl  die  Sphären- 
bewegung zugrunde  hegt.    Der  Zwischenraum  zwischen  diesen  beiden  Kmven 
ist  ein  Gebiet  v  or  Gott,  nicht  das  innerste  Wesen  Gottes  selbst,  sondern  Gott, 
insofern  er  Ausgangs-  und  Endpunkt  der  Geschöpfe  ist,   also  in  Beziehimg 
zu  außergötthchen  Dingen  steht.    Schirazi  bezeichnet  diesen  Punkt,  der  auch 
eine  mystische  Station  ausmacht,  als  Gott,  insofern  er  Xamen  und  Eigenschaften 
besitzt.   Diese  kommen  ihm  nur  in  Beziehung  zu  den  Geschöpfen  zu  und  geben 
nicht  sein  innerstes  Wesen  wieder.     V.  12:  Statt  „Gunst"  ist  „Verbindung 
und  Vereinigung  mit  Gott"  zu  setzen.   Zu  don  ^^'under  des  wandelnden  Felsens 
(S.  120  u.  126)  vgl.  man  I.  Corinth.  10.  4. 

99* 


340  Horten, 

Hakkäris,  seine  Orthodoxie  hervorzukehren,  geht   wolil  aus  dem  Bestreben 
hervor,  seine  esoterischen,  heterodoxen  Lehren  zu  verdecken. 

Die  vorliegende  Arbeit  ist  eine  sehr  dankenswerte  und  fleißige  Studie 
ül)er  einen  sehr  einflußreichen  Ordensstifter  und  mystischen  Orden  im  Islam 
(die  Jezidis  und  Adawija),  die  uns  philosophische  Systeme  in  ihrer  Anwendung 
auf  das  praktische  Leben  —  den  Orden  in  Indien  zu  vergleichen  —  zeigen. 
Vielleicht  gelingt  es  einmal,  einer  systematischen  Darstolhmg  ihrer  Welt- 
anschauung habhaft  zu  werden. 

(Uittmann,  Dr.  Jakob:  Die  philosophischen  Lehren  des  Isaak  ben  Salomon 
Israeh.  Münster  i.  W  1911.  70  S. 
In  die  Gedankenwelt  der  islamischen  Philosophie  führt  uns  der  jüdische 
Ai'zt  und  Philosoph  Israeli,  ein  Zeitgenosse  Farabis.  Er  vertritt  die  neuplatoni- 
sche Emanationslehre,  wie  sie  von  Farabi  gelehrt  wird.  Sogar  seine  Terminologie 
weist  auf  diesen  Philosophen  hin,  der  in  seinen  Ringsteinen  (Nr.  73)  die  ver- 
schiedenen Welten  als  ,, Horizonte"  (ufq)  bezeichnet,  wie  Israeli.  —  Der  Verstand 
erkemit  das  Unveränderliche  und  Ewige  (S.  26  Z.  17  ,, womit  die  Erkenntnis 
der  ihrer  Natur  nach  ,früheren'  1.  ewigen  —  arab.  kadim  —  Dinge  gemeint 
ist."  Das  „antiquus"  der  Anm.  2  bedeutet  ebenfalls  ,,ewig"  als  Wiedergabe 
des  genannten  arabischen  Terminus).  Von  den  spekulativen  Theologen  des 
Islam  ist  unserem  Philosophen  Nazzäm  (ca.  845)  bekannt  geworden  (S.  76f.). 
Er  zitiert  ihn  gerade  in  einer  Lehre,  in  der  Nazzäm  selbst  sich  in  einen  Wider- 
spruch zu  verM'ickeln  scheint:  Die  Körper  sind  aus  aktuell  unendlich  ge- 
teilten Teilchen  zusammengesetzt.  Dieses  verstand  Israeli  in  dem  Sinne,  daß 
nach  Nazzäm  die  Körper  aus  unteilbaren  Teilchen  beständen.  Nazzäm  leugnet 
jedoch  die  Atomistik,  da  diese  besagt:  Die  Körper  bestehen  aus  aktuell  endlich 
geteilten  Atomen.  Unteilbar  müssen  freilich  auch  nach  Nazzäm  die  letzten 
Bestandteile  der  Körper  sein,  da  eine  aktuell  ausgeführte  unendliche  Teilung 
nicht  weiter  fortgeführt  werden  kann.  Darin  berührt  sich  Nazzäm  wiederum 
mit  seinen  Gegnern,  den  Atomisten,  von  denen  er  in  allen  anderen  Punkten 
weit  abweicht.  In  die  Behaiiptung  Guttmanns,  Israeli  habe  Näzzam  miß- 
verstanden, möchte  ich  daher  nicht  ohne  Vorbehalt  einstimmen.  Es  könnte 
sein,  daß  er  diese  Lehi'e  sehr-  gut  verstanden  und  aus  ihr  eine  naheliegende 
Konsequenz  deduziert  habe.  Die  Studie  CJuttmanns  ist  eine  dankenswerte, 
von  reicher  liiteraturkenntnis  und  gutem  Verständnisse  der  einschlägigen 
Probleme  zeugende  Arbeit. 

Besondere  Erwähnung  verdient  eine  Sammlung  von  ijopulärwissenschaft- 
lichen  Werken,  die  von  L.  Cranmer-Byng  und  S.  A.  Kapadia  herausgegeben 
wird.  Sie  trägt  den  Namen:  ,,The  wisdom  of  the  East"  und  verfolgt  den  Zweck, 
Orient  und  Occident  ,,East  and  West,  the  old  world  of  Thougt  and  the  new 
ot  Action"  in  nähere  geistige  Verbindung  zu  bringen.  Um  dieses  Ziel  zu  er- 
reichen, ist  vor  allem  die  Gedankenwelt  des  Orientes  dem  Abendlande  zu- 
gänglich zu  machen.  Der  Kreis  der  bereits  vorliegenden  Publikationen  er- 
streckt sich  a\if  alle  orientalischen  Völker,  einschließlich  Japans  und  Chinas. 
Im  Folgenden  sollen  nur  solche  Arbeiten  dieser  Serie  bes{)rochen  werden,  die 
sich  mit  der  .spekulativen  Gedankenwelt  der  islamischen  Kultm'  befassen. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  341 

Mystische  Gedichte  von  Sadi  (1201  t)  legt  uns  Wollaston,  Arthur  N. 
(Sadi's  Scroll  of  Wisdom;  London,  John  Murray  1906,  63  S.,  120)  vor.  Die 
FJinleitung  orientiert  über  die  Lebensschicksale  des  bekannten  Dichters  und 
seine  Tätigkeit,  während  der  zweite  seine  ethischen  und  mystisch-religiösen 
Lehren  in  gefälliger  englischer  Übersetzung  (aus  dem  Pand  Namah)  bringt. 
Hadland,  Davis  führt  uns  zwei  andere  bekannte  Mystiker  vor,  Rümi,  Galaluddin 
(1273  t)  und  Gämi  (1492  f:  The  Persian  Mystics  I  Jalaluddin  Rümi;  1907, 
105  S,  12«;  II  Jami,  1908,  107  S.,  12»).  Eine  Einleitung  berichtet  in  der  ersten 
Sclu'ift  über  die  persische  Mystik,  „die  Religion  der  Liebe",  Leben  und  Werke 
Rümis  und  ihre  Bedeutung.  Auf  sie  folgen  Gedichte  aus  dem  Diwan,  den- 
Rümi  seinem  Freunde  Schamzi  Tabriz  widmete,  und  aus  dem  Masnavi. 
Platonische  und  pantheistische  Gedanken  begegnen  häufig.  Ebenso  will- 
kommen wie  dieses  ist  das  zweite  Werk,  das  über  Gämi  handelt.  Andere 
mystische  Poesien  des  obengenannten  Sadi  enthält  das  Werk  von  Cranmer- 
Byng:  The  Rose  —  Garden  of  Sa  'di;  1909,  64  S.,  12°.  In  die  seelischen  Kämjjfe 
des  bekanntesten  islamischen  Theologen  und  Philosophen  führt  uns  die  Schrift 
von  Claud  Field  ein:  The  Confessions  of  al  Ghazzali;  1909,  60  S.,  12".  Die 
Angriffe  Gazälis  gegen  die  von  ihm  als  Unglaube  empfundene  aristotelische 
Philosophie  werden  eingehend  gewürdigt.  In  die  moderne  Bewegung  des 
persischen  Mystizismus,  der  den  Namen  Bäbismus  führt  (ihr  Prophet  ist  Bäb; 
1850  t)  führt  uns  die  Schrift  von  Eric  Hammond:  The  Splendour  of  God, 
being  extracts  from  the  sacred  writings  of  the  Bahais;  1909,  124  S.,  12».  Durch 
,, sieben  Täler"  führt  der  Menschen  Weg  zum  Versinken  in  Gott,  dem  Nirwana. 
Daß  die  islamische  Mystik  eine  spekulative  Weltanschauung  enthält,  also  in 
die  Entwickhingshnie  der  Philosophie  einzuzeichen  ist,  lehren  diese  sehr* 
dankenswerten  Arbeiten  immer  von  neuem.  Den  ethischen  Inhalt  der  arabi- 
schen Sprichwörter  entwickelt  Wortabet,  John:  Arabian  Wisdom,  selections 
and  translations  from  the  arabic;  1910,  75  S.,  12°.  Derselben  Sammlung  ge- 
hören an:  Brönnle,  Paul:  The  Awakening  of  the  Soul,  from  the  Arabic  of  ihn 
Tufail,  und:  Baerlein,  Henry:  The  Diwan  of  Abul-Ala  (al  Maarri).  Die  vor- 
liegende Sammlung  befaßt  sich  hauptsächlich  mit  der  mystisch  gerichteten 
Philosophie  des  Orientes.  Es  wäre  zu  wünschen,  daß  sie  in  derselben  an- 
sprechenden Art  auch  die  rein  theoretische  Geistesarbeit  des  ,, Ostens",  in 
der  das  Gefühl  nicht  dieselbe  Rolle  spielt,  wie  in  der  Mystik,  in  den  Kreis  ihrer 
Veröffentlichungen  ziehe. 

Horten,   Dr.  M.,   Die  Gottesbeweise  bei  Schiräzi  (1640  t)-     Fin  Beitrag  zur 
Geschichte  der  Philosophie  und  Theologie  im  Islam.       Bonn  (Cohen) 
1912,  S.  102. 
Die  Gottesbeweise  Schiräzis  enthüllen  uns  die  ganze  Eigenart  des  Denkens 
und   Deduzierens    dieses  Philosophen,    der    der   bedeutendste   Denker   seiner 
Zeit  ist  und  auf  der  Basis  neuer  und  eigener  Grundgedanken  eine  harmoni- 
sche  Weltanschauung   konstruierte.      Seine  Tendenz  ist  es,    in  den   Gottes- 
beweisen einen  terminus  medius  zu  finden,  der  von  Gott  selbst  nicht  ver- 
schieden ist.  Die  vom  Wesen  Gottes  verschiedenen  termini,  die  die  herrschende 
Philosophie   verwendet,   z.  B.   die  Bestimmungen  der  erschaffenen  Dinge  als 


84-2  Horten, 

kontingenter,  veriu'sachter  und  zielstrebiger,  scheinen  ihm  Umwege,  wenn 
nicht  gar  Abwege  yai  sein.  Der  Mittelpunkt  seines  Beweises  ist  demnach  das 
Sein,  das  sich  vom  Wesen  Gottes  nicht  wie  etwas  Fremdes  unterscheidet. 
Der  Beweis  selbst  ist  ferner  eine  mystische  Intuition,  kein  Rückschluß  von 
der  Wirkung,  den  (Jeschöpfen,  auf  die  Ursache,  den  Schöpfer,  —  und  zudem 
ein  ontologischer  Paralogismus,  verwandt  mit  dem  des  Anseimus:  Das  Sein 
besagt  in  seinem  eigentlichsten  Inhalte,  daß  es  seiend,  ist  also  existiert.  Gott 
ist  nun  aber  das  Sein.  Folglich  muß  er  existieren.  Das  Sein  der  Weltdinge  ist 
ein  unvollkommenes  und  potenzielles.  Das  Unvollkommene  setzt  nun  aber 
das  Vollkommene,  und  das  Potentielle  das  Aktuelle  voraus.  Folghch  muß  es 
ein  absolut  vollkommenes  und  aktuelles  Sein  geben.  Diese  letzte  Argumentation 
identifiziert  Schiräzi  seltsamerweise  mit  dem  obengenannten  Beweise. 
Sie  ist  jedoch  offenbar  von  diesem  dm'chaus  verschieden,  enthält  einen  Rück- 
schluß von  den  Geschöpfen  auf  den  Schöpfer  und  ist  mit  dem  vierten  Gottes - 
beweise  bei  Thomas  von  Aquin  zu  vergleichen^).    Schiräzi  täuscht  sich,  wenn 


^)  Er  besagt:  Das  Sein  ist  uns  in  der  Außenwelt  als  ein  stufenweise 
geordnetes  gegeben.  In  einer  Kategorie,  in  der  begrenzte  Stufen  vorhanden 
sind,  muß  aber  auch  ein  Absolutes  sein,  das  diese  Kategorie  per  se  darstellt, 
quia  omne  quod  est  per  accidens,  reducitur  ad  id,  quod  est  per  se.  Mit  dem 
Kontingenzbeweise  berührt  sich  dei  Gedanke:  Das  Sein  ist  uns  in  der  Außen- 
welt als  ein  veränderliches  gegeben.  Es  muß  also  ein  absolutes,  notwendiges, 
unveränderhches  Sein  geben.  Dieses  absolute  Sein  per  se  ist  Gott.  Herr  Prof. 
Ign.  Goldziher  (Budapest)  macht  mich  darauf  aufmerksam,  daß  die  Worte 
S.  30  Anm.  (Mitte):  ,,In  jedem  Dinge  ...  und  einer  ist"  ein  Vers  des  abul 
Atahija  (Agani  III  143,  9)  ist. 

Folgende  sind  die  für-  che  Geschichte  der  Philosophie  im  Islam  wichtigsten 
Tatsachen,  die  sich  aus  dem  vorHegenden  Texte  Schiräzis  ergeben.  1.  Das 
Problem,  ob  eine  anfangslose,  ewige  Kette  von  Ursachen  und  Wirkungen 
möglich  sei,  war  im  Islam  deshalb  ein  so  heiß  umstrittenes,  weil  man  von  ihm 
die  Möglichkeit  eines  Gottesbeweises  abhängig  machte.  Schiräzi  erkemit 
deutlich,  daß  der  Gottesbeweis  von  dieser  Frage  nicht  abhängen  darf.  Er  ist 
daher  bemüht,  den  Gottesbeweis  unter  Voraussetzung  einer  ewigen  Welt 
zu  führen.  2.  Das  System  Suhrawarchs  wird  klargelegt.  3.  Ebenso  wird  die 
Theologie  (z.  B.  die  Lehre  über  die  Eigenschaften  (xottes,  die  eine  einfache 
und  klare  Lösung  alter  Schwierigkeiten  enthält  S.  32 f.  Anm.)  eines  modernen 
Philosophen,  des  Sabzawäri,  eines  Schülers  Schiräzis,  aufgedeckt  (ca.  1800).  Er 
mag  für  eine  größere  oder  geringere  Gruppe  von  Denkern  typisch  sein.  Sicher- 
hch  beweist  er,  daß  auch  in  der  Neuzeit  das  Verständnis  der  Philosophie  in 
Persien  nicht  erloschen  ist.  (Vgl.  Hugo  Grothe:  Wanderungen  in  Pcrsien; 
Berlin  1910,  S.  153.  Im  Besitze  seiner  traditionellen  Philosophie  fühlt  sich  der 
heutige  Perser  sogar  der  modernen,  europäischen  überlegen,  da  ihm  in  seiner 
zu  Begriffsdichtungen  geneigten  Intelligenz  das  Verständnis  für  nüchterne 
Kritik  und  Empirie  abgeht.)  4.  Sehr  zu  beachten  sind  ferner  die  kritischen 
Ansätze  bei  Schiräzi.  Sorgfältig  unterscheidet  er  in  unseren  Begriffen  das  rein 
Logische,    dem  kein  Korrelat    in    der  Außenwelt  entspricht,    und  das  Reale, 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  343 

er  behauptet,  auch  in  dieser  Ai'gumentation  sei  Gott  selbst  der  terminus 
medius  syllogisnii.  —  Da  die  Argumentationen  Schirazis  möghchst  wörthch 
wiedergegeben  werden,  erlauben  sie  uns  einen  Einblick  in  seine  Denkweise, 
die  vielfach  nicht  gerade  leicht  verständlich  ist.  Sie  setzt  Prämissen  —  viel- 
fach unausgesprochene  und  unbewußte  —  voraus,  die  unserem  heutigen 
Denken  fremd  sind.  Es  ist  eine  verlockende  Aufgabe,  aus  diesen  Deduktionen 
Schirazis  die  zugrundeUegenden  Begriffe  und  Lehren  (z.  B.  S.  87  über  die 
Subjektivität  der  Zahl)  herauszuschälen  und  sie  philosophiegeschichtlich  zu 
verwerten.  In  dieser  Schrift  mußte  von  der  Lösung  der  genannten  Aufgabe 
natiu-gemäß  abgesehen  werden. 


das  diesen  Inhalten  entsprechende  Wirkliche  außer  uns.  Diese  Kritik  er- 
möglicht es  ihm,  eine  sophi.stische  Spielerei  zu  entlarven,  die  man  gegen  den 
Gottesbeweis  und  die  Lehre  von  den  Ursachen  vorbrachte:  Die  Summe,  die 
aus  Gott  und  der  Welt  besteht,  ist  Ursache  ihrer  selbst.  Folglich  kann  ein 
Ding  Ursache  seiner  selbst  sein.  In  dieser  Stellungnahme  bildet  Schiräzi  eine 
Ausnahme  in  seiner  Zeit  —  ein  Beweis  dafür,  wie  sehr  man  noch  in  naiv- 
reahstischen  Konstruktionen  befangen  war. 

Die  von  Sclüräzi  zitierte  Literatur  ist  eine  sehr  umfangi'eiche.  Sie  findet 
sich  in  dem  Werke:  Horten,  Das  philosophische  System  des  Schiräzi  (Straß- 
burg; Trübner)  S.  279 — 93  vollständig  dargestellt  —  und  erlaubt  uns  einen 
Einblick  in  die  Vielseitigkeit  des  Verfassers  und  die  zu  seiner  Zeit  als  bedeutsam 
geltende  Literatur.  In  den  Gottesbeweisen  zitiert  er:  1.  Faräbi:  Ringsteine 
86,  10  unt.  40  (Nr.  1;  Nr.  9,  S.  15  Z.  11  —  vielleicht).  2.  Avicenna:  a)  Die 
Genesung  der  Seele,  9.  Anm.  (Metaphysik);  26,  10  (viel.  Metaph.  VIII  1); 
ö7,  5  (Metaph.  \T;II  3  S.  493  meiner  Übersetzung);  b)  Thesen  und  Erklärungen 
(ahschärät  mattanbihät)  24,  15.  3.  Schahrastäni  1153  t  »j^er  Bekämpfer 
der  griechischen  Philosophen"  43,  7.  4.  Suhrawardi  1191  f:  a)  ,,Die  Philosophie 
der  Erleuchtung"  8,  18,  12  unt.  18  Anm.  23  .\nm.  28  Anm.  29  Anm.  54  Anm. 
b)  ,,Die  philosophischen  Unterhaltungen"  27,  5.  5.  Razi  1209  j:  „Die  mysti- 
schen Untersuchungen"  95  unt.  f.  6.  Tusi:  Kritik  des  Razi:  ,, Kompendium 
der  theologischen  Lelii-en"  (muhassal)  64  Mitte.  7.  Katibi  1276  f:  „Die  Philo- 
sophie von  dem  Individuum"  27  Anm.  8.  Kiischgi  1474  f  vielleicht:  Kommentar 
zu  Tusi:  Dogmatik  (tagrid)  37  Anm.  9.  Schiräzi  1640  t:  a)  Kommentar  zu 
Suhrawardi:  „Die  Philosophie  der  Erleuchtung"  18  Anm.  23  Anm.  b)  „Das 
erste  Prinzip  und  die  Rückkehr"  52.  7  unt.  10.  Däraäd  1659  f:  ,,Die  Ent- 
lehnungen" 54  Anm.  11.  Lahigi  1670  t:  „Die  aufgehenden  Sterne  der  götthchen 
Offenbarung"  54  Anm.  —  vgl.  Kantstudien  XVII  482  (Selbstanzeige).  Theol. 
Litztg.  1912  No.  13  Sp.  4028  (Goldziher).  Rheinische  Hochschulzeitung  3.  Mai 
1912.   Archiv  f.  Religionswiss.  1912  S.  560.  Deutsche  Litztg.  1912  Sp.  1999. 

Horten,  Die  Philosophie  der  Erleuchtung  nach  Suhrawardi  (11191  f)-  Über- 
setzt und  erläutert  in:  Abhandlungen  zur  Philosophie  und  ihrer  Ge- 
schichte. Herausgegeben  von  Benno  Erdmann.  Heft  38.  S.  XI  u-.  83. 
Die  Philosophie  Suhrawardis  ist  dm-chaus  keine  ephemere  Erscheinung 

gewesen.     Sie  wirkte  noch  im  17.  Jahrhundert  im  Systeme  Schirazis  (1640  f) 


344  Horten, 

nach  und  enthält  eine  (hirchaus  mystisch-platonische  Denkweise,  die  eine 
besondere  Richtung  in  der  Philosoplüe  luid  Mystik  begründete.  Suhrawardi 
hat  nicht  die  Absicht,  etwas  Neues  zu  scliaffen.  Er  schließt  sich  Platu  und 
den  altpersischen  ,, Philosophen",  d.  h.  der  Lehre  Zoroasters  an.  Als  Vorlauter 
seiner  Richtung  haben  die  mystischen  Schriften  Avicennas  und  die  sogen. 
Theologie  des  Aiistoteles  zu  gelten.  —  Das  Sehen  findet  weder  durch  eine 
Einjnägung  optischer  Bilder  noch  eine  Ausstrahlung  aus  dem  Auge,  sondern 
dm-ch  eine  ,, Erleuchtung"  statt,  wenn  das  Objekt  dem  Auge  gegenübertritt. 
In  der  gleichen  Weise  haben  wir  das  geistige  Sehen,  das  Erkennen  zu  erklären  — 
daher  der  Xame:  Philosophie  der  Erleuchtung.  Unter  „Licht"  versteht 
Suhrawardi  das  Sein  und  das  Geistige.  Nimmt  das  Licht  ab,  so  nähert  sich 
das  reine  Sein  stufenweise  dem  körperlichen,  der  Finsternis.  —  Suhrawardi 
grenzt  seine  Weltauffassung  und  Schule  scharf  von  der  l.  Avicennas  —  der 
aristotelischen  Richtung  —  2.  der  pantheistischen  Mystiker,  der  Sufis  —  einer 
indischen  Richtung  —  und  3.  der  Theologen,  sowohl  der  liberalen  al'^  der 
orthodoxen  ab.  Seine  Schule  bildet  daher  einen  selbständigen  Strom  in 
der  Geisteskultm'  des  Islam.  Sie  muß  also  das  Recht  beanspruchen,  eine 
selbständige  Stellung  in  der  Darstellung  der  Geschichte  der  islamischen 
Philosophie  einzunehmen.  Daß  diese  zugleich  eine  markante  war.  beweist 
sein  Einfluß. 

Eine  Eigenart  dieses  Systems  ist  folgende:  Die  Ideenwelt  Piatos  findet 
sich  hier  als  die  \A'elt  der  Schemen  wieder.    Diese  bildet  eine  Stufe  des  Seins, 
die  sich  unterhalb  der  Welt  der  reinen  Geister  befindet.    Ihrem  \A'esen  nach 
sind  diese  Wesen  hypostasierte  Phantasiebilder,  die  bestimmte  Dimensionen, 
jedoch  keine  physisch-körperhche  Natur  besitzen.   Sie  wirken  auf  die  sublunari- 
sche  Welt,  indem  sie  einzelne  Individua  ihrer  Spezies  dort  hervorbringen.    — 
Die  menschlichen  Seelen  streben  einer  geistigen  Vollendung  zu,  indem  .sie  von 
der  Welt  der  Körper  zu  der  der  Schemen  und  schließlich  der  reinen  Geister 
aufsteigen.  In  diesem  Prozesse  beleben  sie  zeitweilig  die  Sphären  des  Himmels 
und  setzen  sie  in  Bewegung.  Im  Systeme  Schirazis  (1640  t)  findet  sich  ebenfalls 
dieser  Gedanke  des  beständigen  Aufsteigens  der  Seelen,  indem  sie  eine  reinere 
Seinsform  amiehmen,  sich  substanziell  verändernd.  —  Die  Zitate  aus  der 
philosophischen  Literatur  sind  (besonders  in  dem  Kommentare)  sehr  zahlreich. 
Von  Avicenna  sind  allein  vierzehn  Schriften,  von  Schiräzi  (1640  t)  sieben  ge- 
nannt. Dadm-ch  gewinnt  man  einen  kleinen  Einblick  in  cUejenige  Literatur,  die 
für-  die  Gruppe  um  Suhrawardi,  die  sich  als  eine  eigene  Richtung  fühlt  und 
daher  als  solche  zu  bewerten  ist,  von  Bedeutung  war.    Dabei  ergibt  sich,  daß 
Tusi   (Kommentar  zu  Aviceima)  von  den  philosophischen   „Unterhaltungen" 
Suhrawardis  (mutärahat;  Brockelm.  I  437  sub  3)  abhängig  ist.      S.  365  des 
Originals   wird    ferner    Abhari    (1264  t)    -^Is    Schüler    Avicemias    bezeichnet 
(Glosse).     —     Die  bildlich-poetische  Ausdrucksweise  Suhiawardis  könnte  die 
Veranlassung  dazu  sein,  seine  Ausführungen  nicht  in  streng  philosophischem 
Siime  zu  verstehen.  Diese  Auffassungsweise  ist  jedoch  ausgeschlossen,  da  die 
Interpretationen  der  islamischen  Philosophen  selbst   vorüegen  —   besonders 
des  Schiräzi  (1640  t)  (vgl.  die  Gottesbeweise;    s.  d.  ob.   bespr.    Buch  S.  27 
Anm.  28ff.  usw.)     Von  dem  Erkennen  als   einer  Erleuchtung  „Aufgehen  des 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  345 

Lichtes  Gottes"  über  dem  Mystiker  spricht  Avicenna  an  verschiedenen  Stellen 
z.  B.  Thesen  182,  3.  Er  verwendet  diesen  Terminus  (ischräk)  wie  einen  zu 
seiner  Zeit  beieits  allbekannten.  Er  ist  daher  keine  Neuprägung  Suhrawardis. 
—  Füi"  die  Terminologie  ergibt  sich,  daß  ruwäk  (oder  riwäk)  die  Akademie, 
also  erruwakijün  che  Piatoni ker  bedeutet.  Daß  dieser  Terminus  je  nach 
dem  Kontexte  auch  die  Stoiker,  wie  man  ihn  früher  immer  übersetzte,  be- 
deuten kann,  soll  damit  nicht  ausgeschlossen  sein.  —  Der  S.  50  A.  genannte 
ihn  Malka  (1155  t)  (Brockelmann  I  460  Xr.  9),  in  den  Originaltexten  abul 
Barakat  genannt,  ist  der  bekamite  Kritiker  der  griechischen  Philosophie,  der 
A'on  den  Arabern  stets  mit  großer  Achtung  (vgl.  Archiv  XXII  413  Nr.  32 
und  416  Xr.  9)  genannt  wird.  Sein  Werk:  ,,Das  Beachtenswerte"  (d.  h. 
das  zu  Beachtende,  dasjenige,  was  der  griechischen  Pachtung  als  eine  Warnungs- 
tafel vorgehalten  werden  soll  und  an  dem  sie  nicht  achtungslos  vorübergehen 
könne)  hat  einen  großen  Einfluß  auf  die  islamische  Spekulation  ausgeübt.  — 
ad  38  A.  3  unt.  Die  Xaturkraft  der  Sphären  ist  keine  solche,  wie  die  der 
sublunarischen  Dinge,  die  eine  geradUnige  Bewegung  hervorbringt,  sondern 
eine  eigenartige,  die  nur  eine  Bewegung  der  Lage  nach,  also  eine  kreis- 
förmige erzeugt,  allerdings  nicht  aus  sich,  sondern  unter  Einwirkung  eines 
,,von  der  Materie  getrennten"  d.  h.  reinen  Verstandes.  —  S.  53  A.  6  unt. 
ist  statt  Turteltaube  Ringeltaube  zu  setzen.  In  Hadimäni  S.  3  muß  wohl, 
wie  mir  Prof.  C.  F.  Seybold  freundlichst  mitteilt,  Manes  (Mäni)  stecken,  in 
Matarbus  -vielleicht  Dimetrius.  Munägät  S.  \  20  bezeichnet  den  intimeii 
Verkehr  der  Seele  mit  Gott,  ist  also  (nach  einer  freundlichen  Mitteilung  von 
Prof.  Hartmann,  Berlin)  am  besten  mit  „Zwiesprache"  zu  übersetzen.  Statt 
„mekkanischen  Eroberungen"  ist:  ,,mekkanische  Erleuchtungen",  vielleicht 
sogar  .»Erscheinungen  Gottes"  zu  setzen. 

Gabrieli,  La  Risälah  di  Qusta  b.  Lüqa  suUa  differenza  tra  lo  ><pirito  e  Taninia 
in:    Rendiconti    della   Reale  Accademia  dei   Lincei.  classe  di  scienze; 
Roma  1910;   622  ff. 
Die  in  dieser  Abhandlung  entwickelten  Lehren,  deren  Quellen  Galenus 
Hippokrat,  Aristoteles  und   Plato   besonders  angegeben  werden,   bilden  eine 
Vorstufe  derjenigen  Lehren,  die  später  Farabi  und  Avicenna  vertreten.     Die 
Terminologie  bezeichnet  ebenso  eine  Übergangsstufe  zu  jener  späteren  Ent- 
wicklung, z.  B.  wild  mit  Spezies  dasjenige  bezeichnet,  was  später  das  spezies- 
bildende Moment  ist.  Die  vorstellende  Phantasie  (phantasia  in  der  Scholastik) 
wird  von  der  kombinierenden  Phantasie  (imaginativa  in  der  Scholastik)  nicht 
genügend  unterschieden.      Die  Prinzipien  für  die  Lokalisierung  der  inneren 
Sinne  sind  dabei  dieselben,  wie  die  der  späteren  Zeit.     Bei  Kosta  sehen  wir 
diese  Lehre  also  in  einer  sehr  interessanten  Phase  ihres  Werdens  begriffen. 

Bauer,  Dr.  Hans.  Die  Psychologie  Alhazens  auf  Grund  von  Alhazens  Optik 

dargestellt  in:  Beiträge  zm'  Geschichte  der  Philosophie  des  Mittelalters. 

Münster  i.  W.  1911.     S.  VIII -J-  72. 

Die  Bedeutung  des  ibn  al  Haitam  (1038  t)  für  die  Optik  und  Psychologie 

ist  vielfach   sehr  unterschätzt  worden.      Manche  moderne   Gedanken   hat  er 

trotz  der  sehr  unvollkommenen  experimentellen  Mittel  seiner  Zeit  mit  über- 


o46  Horten, 

raschender  Klarlicit  erkannt,  z.  B.  die  Gesetze  der  Farbenmischung  rotierender 
farbiger  Sektoren,  den  Grundgedanken  des  Webersehen  Gesetzes,  daß  ein 
Reiz  einen  bestimmten  Schwellenwert  überschreiten  muß,  um  wahrgenommen 
zu  werden  —  daß  der  Unterschiedsschwellenwert  von  der  Größe  des  bereits 
vorhandenen  Reizes  abhängt  —  daß  die  Erkenntniszeit  von  der  Wahrnehmungs- 
zeit verschieden  ist  —  daß  die  Farbenempfindung  bei  Helladaptation  eine 
andere  ist  als  bei  Dunkeladaptation  (das  sogen.  Purkinjesche  Phänomen). 
Von  psychologischem  Interesse  sind  besonders  die  Aufstellungen  Haitams 
über  die  Apperzeption,  die  Raumanschauung  (trotzdem  das  Sehfeld  ein  flächen- 
haftes  ist)  vmd  die  Allgemeinvorstellungen  (formae  universales).  Das  was  viele 
Vorstellungen  individueller  Gegenstände  Gemeinsames  besitzen,  haftet  als 
ein  einheitliches,  vielfach  unbewußtes  Bild  in  der  Seele.  Es  ist  in  sich  un- 
bestimmt, wird  in  der  aktuellen  Wahrnehmung  an  den  entsprechenden  Emp- 
findungsinhalt diu'ch  einen  unbewußten  psychischen  Vorgang  herangetragen 
und  ergänzt  ihn  apperzeptiv.  Das  Erkennen  eines  Gegenstandes  ist  eine 
Subsumierung  unter  seine  forma  universalis.  Auch  dm-ch  assoziative  Er- 
gänzung ist  ein  Erkennen  möglich. 

Dem  Verfasser,  Dr.  Bauer,  ist  es  in  dieser  fleißigen,  wohl  durchdachten 
und  systematischen  Arbeit  gelungen,  ein  klares  und  abgerundetes  Bild  der 
optischen  und  zu  diesen  in  Beziehung  stehenden  ps5'chologischen  Lehren 
Haitams  zu  entwerfen.  Dadm'ch  hat  er  zugleich  eine  Lücke  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  im  Islam  in  dankenswerter  Weise  ausgefüllt.  Seine  Arbeit 
zeigt  zugleich,  welch  reiche  Schätze  in  den  bereits  vorhandenen  lateinischen 
Übersetzungen  von  Werken  Haitams  für  denjemgen,  der  sie  zu  lesen  versteht, 
vorhanden  sind.  Möge  diese  Arbeit  die  Veröffentlichung  neuer  Original- 
schriften am-egen.^) 


^)  Die  folgenden  Iritischen  Bemerkungen  bittet  mich  Dr.  Karl  Lokotsch 
(Cöln)  anzufügen.  Zu  pag.  1,  Anmerkung  2.  Es  heißt  hier:  „Dieses  Werk 
(sc.  die  Kreisquadratur  des  Ibn  al-Haitani)  ist  leider  bis  jetzt  noch  nicht 
bearbeitet,  trotzdem  es,  wie  Cantor  voraussetzt,  manches  Interesse  bieten 
wird  (M.  Cantor,  Gesch.  d.  Math.^  I,  744)."  Ein  Blick  in  das  zwei  Seiten  vorher 
(pag.  VII  unten)  und  einige  Seiten  weiter  (pag.  6  oben)  nochmals  als  Quelle 
zitierte  Werk  von  Heinrich  Suter,  „Die  Mathematiker  und  Astronomen  der 
Araber  und  ihre  Werke",  Leipzig  1900,  würde  den  Verfasser  belehrt  haben, 
daß  seine  Bemerkung  nicht  richtig  ist,  wie  denn  auch  in  der  3.  Auflage  des 
Cantorschen  Werkes,  die  übrigens  3  Jahre  vor  dem  zu  bespiechenden  Buche 
Bauers  erschien,  die  betieffende  Notiz  durch  eine  andere  richtigere  ersetzt 
ist.  Tatsächlich  hat  Suter  die  „ Kreis quadratur  des  Ibn  al-Haitam"  nach  zwei 
Berliner  Handschriften,  Codex  Mf  258  und  Mq  559  (5941),  die  er  bereits  1898 
im  dritten  Hefte  der  (Enestroem)  Bibliotheca  Mathematica  beschrieben  hatte, 
und  der  von  Bauer  erwähnten  Vatikanischen  Handschrift,  Codex  Vatic. 
CCCXX  (Catal.  v.  Angelo  Mai  1831,  pag.  467),  im  arabischen  Originaltexte 
nebst  einer  deutschen  Übersetzung  und  sachhchen  Anmerkungen  heraus- 
gegeben: (Schlömilch)  Zeitschrift  für  Mathematik  und  Physik  XLIV.  1899. 
Histor.-literar.  Abteihuig  pag.  33—47.    Die  Erwartung  Cantors  sowie  anderei- 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  347 


Mathematiker,  daß  diese  Abhandlung  des  Ibn  al-Haitam  besonders  Inter- 
essantes bieten  'würde,  ist  allerdings  arg  getäuscht  worden,  da  sie  nur  von 
einigen  bereits  von  griechischen  Mathematikern  korrekter  vorgetragenen 
Xäherungsmethoden  zur  Quadratiu'  besonderer  krummliniger  Figm'cn  handelt, 
wobei  hier  und  da  einige  übrigens  verfehlte  philosophische  Spekulationen  an- 
gebracht werden.  Zu  pag.  8  unten.  „Ein  sicherer  Nachweis  des  Reflexions- 
gesetzes liegt  vor,  da  die  mathematischen  Hilfsmittel  seiner  Zeit  ausreichten, 
während  dieselben  für  die  Feststellung  des  gesetzHchen  Zusammenhanges 
zwischen  einfallendem  und  gebrochenem  Lichtstrahl  versagten,  da  hier  die 
Keimtnis  der  Sinusfunktion  notwendig  ist."  Hierzu  ist  zunächst  zu  bemerken, 
daß  die  Funktion  sinus  bereits  den  Indern  bekannt  war,  z.  B.  häufig  in  der 
Sürya  Siddhanta  (4.  oder  5.  Jahrhundert)  —  cf.  die  Ausgabe  von  Bm-gess 
mit  englischer  Übersetzung,  nebst  Anmerkungen  von  \^'hitney.  In  Journal 
of  the  American  Oriental  Society.  VI.  Xew-Haven  1860.  pag.  141 — 498  — 
und  in  den  Werken  des  Aryabhatta  (geb.  476)  vorkommt.  Bei  den  Arabern 
wmde  che  Sinusfunktion  zuerst  von  Albategnius  (f929:  Muhammad  ibn 
(Täbir  ibn  Sinän  abü  'Abdallah  al-Battäni)  eingeführt;  im  3.  Kapitel  seiner 
Sternkunde,  welches  eine  Trigonometrie  enthält,  wendet  er  den  sinus  regel- 
mäßig an.  Zm  Zeit  des  Ibn  al-Haitam  ^ca.  1000)  muß  sie  bereits  so  allgemein 
bekannt  gewesen  sein,  daß  dieser  Begriff  sogar  schon  in  die  auf  mathemati- 
schem Gebiete  immerhin  mehr  ,, populär"  geschi'iebenen  Abhandlungen  der 
lauteren  Brüder  (Ihwän  as-safä")  aufgenommen  wurde.  Übrigens  ist  che  von 
Alhazen  gegebene  tabellarische  Übersicht  über  das  Verhalten  des  Strahles 
beim  Übeigang  von  Luft  in  Wasser  sicherlich  im  Anschluß  an  die  im  Almagest 
des  Ptolemaeus  angegebene  Aufstellung  entstanden.  Dieser  Alexandriner 
hatte  nämUch  experimentell  die  zu  den  Einfallswinkeln  e  =  0°,  H»",  20*' . . .  80" 
gehörigen  Brechungswinkel/?  =  O",  8°,  lö^o^  ....  50"  festgestellt.  Zu  pag.  8 
Anmerkung  5.  Man  vergleiche  auch  noch  vor  allem  M.  Baker,  Alhazen' s 
problem.  Its  bibliography  and  an  extension  of  the  problem.  In  (Sylvester) 
American  Joiunal  of  mathematics.  IV.  Baltimore  1882.  pag.  327 — 332.  Zu 
pag.  10  Mitte.  Das  heutzutage  unter  dem  Xamen  „Huygenssches  Prinzip" 
bekannte  Prinzip  Heber  das  „Alhazensche  Prinzip"  neimen  zu  wollen, 
geht  doch  wohl  nicht  an,  da  zwischen  beiden  ein  wesenthcher  Unterschied 
besteht:  Während  Alhazen  lehrt,  daß  von  jedem  (sc.  tatsächlich  vor- 
handenen) Punkte  eines  gesehenen  Körpers,  möge  dieser  nun  selbst - 
leuchtend  sein  oder  nur  in  reflektiertem  Lichte  erscheinen,  Licht  nach  allen 
Seiten  hin  ausgeht,  besagt  doch  das  Huygenssche  Prinzip,  daß  man  jeden 
(also  auch  materiell  nicht  vorhandenen)  Punkt  einer  jeden  (sc.  fiktiven) 
Wellenfläche  als  Ausgangspunkt  einer  neuen  Wellenbewegung  betrachten 
kann,  ein  Prinzip,  das  doch  weit  allgemeiner  ist  als  das  von  Alhazen  mit- 
geteilte. Im  Literaturverzeichnis,  das  übrigens  den  Einch'uck  der  Voll- 
ständigkeit hervorruft,  vermißt  man:  R.  Wolf,  Geschichte  der  Astronomie. 
München  1877.  pag.  151  sqg.  —  A.  Heller^  Geschichte  der  Physik  von  Aristoteles 
bis  auf  che  neueste  Zeit.  Stuttgart  1882.  T,  pag.  167  scjg.  —  M.  Steinschneidei, 
Xotice  sur  un  ou^Tage  inecht  d'Ibn  Haitham.  Supplement.  In  (Boncompagni) 
BuUetino  di  bibliografia  e  cU  storia  delle  scienze  matematische  e  fisiche  XVI. 
Roma   1883.  pag.  505—513. 


348  Horten, 

Die  islamische  Philosopliie  ist  die  Fortsetzung  der  hellenistischen.  Diese 
Ideenverwandtschaft  tritt  besonders  deutlich  in  dem  Werke  zu  Tage:  Rudolf 
Asmus:  Das  Leben  des  Philosophen  Isidoros  von  Damaskios  (ca.  470)  aus 
Damaskus  (Leipzig,  Meinei  1911).  Man  befindet  sich  hier  in  demselben  Welt- 
bilde wie  300  Jahre  später  in  der  arabischen  Kultmwelt.  Die  mystisch-weit - 
flüchtige  Richtung  tritt  deutlich  vervor.  Der  Einfluß  der  Brahmanen  (8.  42) 
ist  deshalb  besonders  beachtenswert,  weil  er  einen  Präzedensfall  füi  die  späteren 
indischen  Einflüsse  auf  den  Islam  bietet.  Als  befremdlich  oder  gar  undenkbar 
kann  man  diese  also  nicht  mehr  bezeichnen. 

Der  Einfluß  der  islamischen  Philosophie  auf  die  jüdische  fand  im 
XIII.  Jahrhundert  besonders  durch  Hillel  von  Verona  (ca.  1295  f)  statt. 
Dr.  Max  (Teyer  schildert  in  einer  wertvollen  Dissertation  die  Tätigkeit  und 
Bedeutung  dieses  Denkers  nach  seinem  Werke:  „Die  Vergeltung  der  Seele" 
(Frankfurt  a.  M.  1911.  tJbersetzung  von  Kap.  I  bis  IV  mit  historischer  Ein- 
leitung). Dmch  diese  Schrift  werden  wir  mitten  in  die  averroistischen  Streitig- 
keiten über  das  Wesen  dei  Seele  geführt,  die  zur  Zeit  eines  Thomas  von  Aquin 
bis  zum  Ausgange  der  Renaissanze-Philosophie  die  Geister  so  sehr  erregten. 
Es  ist  eine  im  wesentlichen  durchaus  homogene  Geisteswelt,  die  im  Mittel- 
alter den  islamischen,  jüdischen  und  christlichen  Kulturkreis  umspannte. 
Die  Araber  waren  dabei  das  gebende  und  vorherrschende  Element,  zu  dem 
die  beiden  anderen  Kulturkreise  —  zunächst  wenigstens  —  sich  empfangend 
verhielten.  Man  glaubt  islamische  Philosophen  zu  vernehmen,  wenn  man 
die  Schrift  Hillels  liest.  Die  hebräischen  Ternnni  sind  vielfach  direkt  aus  dem 
Arabischen  übernommen.  Auch  die  deutsche  Übersetzung,  die  an  manchen 
Stellen  dunkel  ist,  ist  des  öfteren  nur  durch  ein  Zurückgehen  auf  das  Arabische 
verständlich. 

Horten,  Dr.  M.,  Die  philosophischen  Systeme  der  spekulativen  Theologen 
im  Islam  nach  OriginalqueUen  dargestellt.  Bonn  1912.  XIII  und  606  S. 
Die  älteste  Phülosophie  im  Islam  stellt  sich  dem  erstmahgen  Beschauer 
als  ein  dirrchaus  unwegsames  Gebiet  dar.  Die  dem  Blicke  zimächst  entgegen- 
tretenden Lehren  sind  so  seltsam  und  befremdend  (z.  B.  Muammar,  Nazzam 
und  abu  Haschim),  daß  sie  unfaßbare  fata  niorgana  zu  sein  schienen.  Haar- 
brücker  versuchte  vergeblich  die  Übersetzung  von  Schahrastani.  Mit  griechischen 
Ideen  lassen  sich  die  Gedankenkon>truktionen  eines  Muammar  und  abu 
Haschim,  die  Lehre  von  der  Momentaneität  des  Seins  und  der  Realität  des 
Nichtseins  wie  auch  die  mystische  Nirwana-Lehre  nicht  aufklären.  Die  in- 
dische Gedankenwelt  mußte  (mit  der  persischen  und  christlichen  — 
Logoslehre)  herangezogen  werden.  Nun  liegt  auf  eimnal  alles  klar  zutage 
\md  alle  Lehi'en  entwickeln  sich  ganz  natürhch.  Daß  Mesopotamien  und  Persien 
unter  einem  dreifachen  Einflüsse  stehen  müssen  —  dem  griechischen,  persischen 
vmd  indischen  (daneben  sekundär  dem  christlichen  und  jüdischen)  —  konnte 
man  (vgl.  Kremer)  fast  a  priori  mit  Sicherheit  voraussetzen.  Die  Anaylse 
der  Gedankenkonstruktionen  der  Zeit  von  800—1000  in  jenen  Ländern  erweisen 
die  genannte  Voraussetzung  als  den  Tatsachen  konform:  die  Vorstellung  von 
der  Momentaneität  der  Akzidenzien  (sogar  Substanzen)  ist  wie  die  der  Diver- 


s 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  349 

sität  der  Dinge  dem  Systeme  der  Sauträntika  (direkt  oder  wohl  wahrscheinlicher 
indirekt)  entlehnt,  die  von  der  (infiniten)  Inhaerenz  und  dem  eigenartigen 
Inhaerenzverhältnisse,  ferner  der  Realität  des  Xichtseienden  dem  Systeme  der 
Waischesika.  Die  indischen  Skeptiker  treten  als  öumanija  auf,  die  zoroastrischen 
Lehren  (die  beiden  kontraeren  Reihen  des  Parsismus  Licht,  Gutes  —  Finsternis, 
Böses)  in  Systemen  wie  dem  des  Nazzam  usw.  Sogar  atheistische  Astral- 
lehren scheinen  im  Weltbilde  der  Dahriten  vorzuliegen:  Die  ewig  kreisende, 
unerschaffene  Himmelssphäre  regiert  das  Weltall.     Sie  ist  die  Gottheit. 

Die  Schwierigkeit,  diese  Gedanken  herauszuschälen,  ist  zunächst  eine 
philologische,  indem  die  Lexika  zum  Verständnisse  der  philosophischen  Termini 
nicht  ausreichen.  Verschiedene  Quellen  mußten  verglichen  werden  (Murtadas 
Munja,  Bagdädi,  Schahrastani  usw.),  bis  aus  der  Vergleichung  von  Parallel- 
telien  der  eigentliche  Sinn  der  manchmal  orakelhaften  Formulierungen  sichtbar 
Avurde.  So  gewannen  die  Gedankengebilde  jener  F^ülizeit  des  Islam  dmch 
mühsame  Vergleichung  verschieden  gefärbter  Berichte  langsam  Umrisse  und 
Gestalt,  so  daß  man  sie  als  Systeme  der  spekulativen  Theologen  bezeichnen 
kami.  Durch  seine  Buntheit  imd  Eigenart  haben  jene  Systeme  besonders  in 
der  verschiedenen  Beleuchtung  anders  orientierter  Quellen  etwas  Reizvolles 
und  ist  die  Analyse  ihrer  Gedankendichtungen  in  mancher  Hinsicht  fessehid. 
Die  Eigenart  der  Vermischung  griechischen  und  indischen  Geistes  konnte  man 
nicht  vorher  ahnen.  Man  muß  die  Berichte  der  Quellen  selbst  wieder  und  wieder 
lesen,  um  sich  in  jene  fremdartige  Geisteswelt  hineinversetzen  zu  köiuien. 
Vielfach  trifft  man  auf  Diskussionen,  die  als  wichtige,  ja  fundamentale  be- 
handelt werden,  ohne  daß  ihr  selbst  relativer  Wert  einleuchtet.  Dieses  gilt 
z.  B.  von  den  heftigen  Dislcussionen  darüber,  ob  die  Erkenntnisse  dadiu-ch 
wirklich  werden,  daß  sie  in  einer  ganz  bestimmten  Weise  auftreten,  oder  nicht. 
Zunächst  liegt  die  Schwierigkeit  darin,  diese  Gedanken  nachzudenken  und 
ihren  Sinn  zu  erfassen  (vgl.  die  Erkenntnistheorie  des  abu  Raschid;  Archiv 
Bd.  24  S.  433 ff.),  dann,  sie  in  die  Weltanschauung  ihres  Urhebers  einzughedern. 
Aus  Vergleichen  mit  verwandten  Diskussionen  auf  andeien  Gebieten  ergibt  sich, 
daß  es  sich  dabei  um  eine  Lehre  der  Sauträntika  handelt,  che  die  Schule  von 
Bagdad  zu  der  ihrigen  gemacht  hat  (Kabi;  Lehre  von  der  Diversität  der  Dinge), 
während  die  Schule  von  Basra  sie  bekämpfte.  In  diesen  Ideenzusammenhang 
gestellt,  lautet  sie:  Die  Dinge  verhalten  sich  nicht  etwa  so,  daß  sie  verschiedene 
Arten  eines  oder  mehrerer  Genera  bildeten,  sondern  jedes  ist  für  sich  gleichsam ' 
ein  „Genus",  also  generisch  von  allen  anderen  unterschieden.  Als  ein  besonderer 
Fall  dieses  allgemeinen  Gesetzes  sind  unsere  Erkenntnisse  generisch  verschieden, 
divers.  Dem  gegenüber  behauptete  die  Schule  von  Basra:  Un-sere  Erkermt- 
nisse  entstehen  dadiu-ch.  daß  sie  innerhalb  eines  Genus  in  besonderen  Spezies 
wirklich  werden.  Nunmehr  ist  die  Bedeutung  dieser  Thesis  verständlich:  Es 
handelt  sich  um  ein  das  ganze  Wirkliche  beherrschendes  Seinsgesetz  (ob 
Diversität  oder  Verwandtschaft  im  Wesen)  und  um  die  Erkenntnistheorie.  Die 
Schwierigkeit  des  Verständnisses  gerade  dieser  ältesten  Periode  wird  dadurch 
zu  einem  sehr  mühevollen,  daß  sie  noch  keine  gleichbleibende  imd  präzise 
Terminologie  ausgebildet  hat.  In  langen  Sätzen  muß  das  ausgedrückt 
werden,   was   Avicenna   und   che  Jüngeren  in   wenigen  Worten   wiedergeben. 


350  Horten, 

Trotzdem  hat  man  sich  zu  liüten,  die  Ausdrucksweisen  einer  jüngeren  Zeit  an 
die  Stelle  der  älteren  zu  setzen,  weil  dadurch  die  Eigenart  der  Begriffsbildung 
dieser  allzu   leicht  verwischt  Averden  könnte. 

Die  theologischen  Kreise  im  Islam  waren  besonders  in  den  ersten 
Jahrhunderten  der  Religion  des  Propheten  (bis  1000)  und  sind  zum  Teil  heute 
noch  für  die  höhere  Geisteskultur  maßgebend.  Ihr  geistiges  Leben  muß  also 
in  erster  Linie  in  Betracht  kommen,  wenn  es  gilt,  die  Entwic^klungslinie  der 
höheren  Geisteskultur  im  Islam  zu  zeichnen.  Die  Eigenart  und  Intensität 
dieses  Lebens  verdient  also  eine  besondeie  Darstellung.  Die  Quellen  denselben 
sind  ziemlich  zerstreut  und  auch  viel  jünger  als  die  berichteten  Ereignisse. 
Daher  ist  es  erforderlich,  Quellen  verschiedener  Färbung  und  Tendenz  zu 
sammenzuhalten,  um  den  subjektiven  Faktor  der  Berichte  um  so  leichtei 
ausschalten  und  zu  den  eigentlichen  Tatsachen  vordringen  zu  können.  Bagdadi, 
ihn  Hazm  und  Schahrastani  schildern  vom  orthodoxen,  Murtada  vom  libe- 
ralen Standpunkte.  Wenn  beide  Richtungen  gemeinsam  eine  Lehre  berichten, 
kann  man  demnach  mit  Sicherheit  armehmen,  daß  es  sich  um  tatsächliche 
Vrrhältnisse  handelt. 

Die  vorüegende  Veröffentüchung  will  zunächst  nur  eine  Vorarbeit  liefern. 
Sie  ist  sich  bewußt,  daß  in  anderen  Quellen  noch  reichliche  Nachrichten  ent- 
halten sind,  die  das  Bild  noch  bedeutend  vervollständigen  werden.  Die  wichtigen 
Angaben  der  „Stationen"  des  Igi  (1355  j)  wurden  nicht  aufgenommen,  weil 
eine  vollständige  Übersetzung  dieses  bedeutsamen  Werkes  islamischer  Philo - 
sopliie  geplant  ist.  Andere  Quellen  sind  die  Schriften  über  das  Sekten- 
wesen im  Islam  (vgl.  ZDMC!.  Bd.  65  S.  349ff.),  die  Korankommentare 
und  Erläuterungen  von  Traditionen,  also  eine  immense  Literatm-,  die  zu 
durchsuchen  wäre.  Erst  nachdem  diese  wenigstens  zum  giößeren  Teile  er- 
schlossen ist,  kann  man  die  einzelnen  Systeme  der  alten  Theologen  vollständiger 
rekonstruieren  und  die  Geisteskämpfe  des  jungen,  mit  einer  hohen  Kultur 
zusammentreffenden  Islam  (ca.  800—1000)  klarer  überschauen.  Eine  kurze 
^Vndeutnng  der  Hauptphasen  der  Entwicklung  dürfte  vielleicht  erwünscht 
sein.  Von  800—  ÜOO  macht  die  liberale  Richtung  (wohl  aus  Opposition  gegen 
die  bildungsfeindhche  orthodoxe)  eine  sehr  große  Bewegung  nach  links,  in- 
dem sie  Elemente  aufnimmt,  die  vom  Islam  als  Fremdkörper  empfunden 
werden  müssen.  Diese  heretische  Tendenz  führte  schließhch  zu  der  Apostasie 
'des  Rawendi  (915  f).  Es  scheint,  daß  dieser  epochemachende  Vorgang  die 
liberale  Richtung  zur  Selbstbesinnung  brachte,  ihr  die  Augen  über  „Glaubens- 
gefahren" öffnete,  der  sie  zusteuerte,  imd  die  Veranlassung  war,  einen  etwas 
orthodoxeren  Kurs  einzusehlagen.  Von  dieser  neuen  Bewegung  war  Aschari 
(935  t)  getragen,  der  wie  ein  Pro])het  seine  frühere  Schule,  die  Liberalen,  die 
er  verUeß.  auf  die  Gefahren  ihres  Unterfangens,  den  Glauben  wissenschaftUch 
zu  durchdringen,  hinwies.  Von  ca.  900—1000  wird  die  Richtung  also  eh\e 
weniger  extrem  Uberale.  Jedoch  drangen  indische  Gedanken  ein,  die  eine  neue 
Gefahr  für  den  Islam  bedeuteten.  Diese  zMeite  Krisis  fand  in  der  „Apostasie" 
des  Ahdab  (ca.  1010  t)  ihre  Entladung,  der  lehrte:  „Das  Dasein  tritt  aus 
innerer  Kraft,  auf  Grund  eines  unkörperliehen  Inhaerenz  zu  den  Wesenheiten  der 
Dinge  hinzu.    Ein  Schöpfer  ist  zu  Erklännig  der  Existenz  der  Welt  also  nicht 


■T 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im   Islam,  351 

mehr  erforderlich"'.  Die  Existenz  Gottes  ist  für  Ahdab  eine  überflüssige  Hypo- 
these —  eine  Lehre  die  einer  Apostasie  vom  Islam  gleichkommt.  Freilich  wird 
nicht  berichtet,  daß  er  den  Islam  in  derselben  scharfen  Weise  wie  Rawend- 
in  der  „Smaragdkrone"  angegriffen  habe  und  formell  aus  ihm  ausgetreten  sei. 
Die  Quellen  beeilten  sich  jedoch  ,  bei  der  Erwähnung  Ahdabs  zu  bemerken, 
daß  seine  Lehre  (die  rein  indisch  ist)  den  giößten  Sturm  der  Entrüstung  ent- 
fachte. Zur  Zeit  dieser  Käm^ife  gewami  nun  die  griechische  Gedankenwelt 
einen  entscheidenden  Einfluß  auf  die  Theologie,  der  seitdem  ständig  wächst. 
Bei  abul  Husain  von  Basra  (ca.  1040  |)  sieht  man  schon  deutlich  die  Stoßki-aft 
iler  Gedanken^^elt  Avicennas,  die  den  Strom  der  theologischen  Spekulationen 
aus  seiner  Richtung  warf.  Dieses  griechische  System  hatte  die  heilsame  Wirkung, 
Scheinprobleme  und  illusorische  Diskussionen  abzuschneiden  und  auszuschalten 
und  die  denkenden  Köi)fe  mit  der  realen  Welt  mehr  in  Kontakt  zu  bringen.  Die 
indische  Philosophie  hatte  die  Gefahr  mit  sich  gebracht,  die  islamische  Speku- 
lation in  luftige  Gebilde  und  Phantome  zu  verflüchtigen  (vgl.  die  Getreuen  von 
Basra  IV  170,  12)  „in  rein  eingebildete  Probleme,  denen  in  der  Außenwelt 
kein  reales  Wesen  entspricht". 

Die  vorhegende  Studie  will  also  nm-  eine  vorläufige  Pionierarbeit  sein. 
Die  Tatsachen  und  Quellen  sind  so  umfangreich,  daß  aus  beiden  nm?  ein  ver- 
hältnismäßig kleiner  TeU  berücksichtigt  werden  konnte.  Das  meiste  bleibt 
noch  zu  tun  übrig,  und  erst  eine  spätere  Zeit  wird  auf  diesem  Gebiete  die  aus- 
gereiften und  fertigen  Früchte  dei  Erkenntnis  pflücken  können.  Ob  das  Bild 
im  einzelnen  so  bleiben  wird,  hängt  von  der  Erscliheßmig  weiterer  Quellen  ab. 
Zu  diesen  sind  neben  den  biographisch-chronologischen,  soweit  sie  aus 
Mangel  an  Raum  unbenutzt  bleiben  mußten,  besonders  die  philosophischen, 
die  die  Doktrinen  entwickeln  und  über  sie  diskutieren,  z.B.  Auüdi  (1233^), 
„Die  ErstHngsfrüchte  der  Gedanken",  die  \^'erke  Razis  usw.  zu  verwerten  — 
Ausgeschlossen  war  es,  die  späteren  philosophierenden  Theologen  Gazali  usw. 
in  diese  summarische  Darstellung  hineinzuziehen;  denn  die  Darstellmig 
der  Lebenstäligkeit  eines  jeden  von  ihnen  erfordert  einen  eigenen  Band.  — 
Die  spekulative  Bedeutmig  der  aufgezählten  orthodoxen  Theologen  ist  von 
sehr-  verschiedenem  Werte.  Die  ultraorthodoxen  dürfen  nicht  ausgeschlossen 
werden,  wenn  sich  philosophische  Lehren  in  ihren  Schriften  finden.  Wenn  diese 
Schattierungen  entfernt  werden,  wird  das  Bild  einseitig.  Daher  darf  ibn  Hazm 
nicht  ganz  übergangen  werden.  —  Rawandi  hat  viele  giiechischen  Züge. 
Es  wäre  aber  ein  schweres  Mißverständnis,  ihn  in  die  Reihe  der  rein  griechischen 
Richtung  einzuordnen,  da  er  seinem  Wesen-  nach  Theologe  ist  und  er  von 
seiner  Zeit  auch  als  solcher  verstanden  wird.  Deutüch  tritt  überall  hervor, 
wie  stark  manche  Theorien  an  indische  Gedanken  erirmern.  Wenn  man  in 
Rücksieht  zieht,  daß  Vertreter  der  indischen  Philosophie  unter  den  MusHmen 
in  Persien  lebten  (die  Sumanija),  wird  man  der  Behauptung,  es  hege  ein 
direkter  indischer  Einfluß  vor,  rücht  entgegenhalten  können:  die  QueUen- 
schiiften  der  indischen  Philosophie  seien  nicht  ins  Arabische  übersetzt  worden. 
Die  lebendige  Übertragung  arabisch  sprechender  Inder  hat  hier  den  Einfluß 
vermittelt. 

Man  konnte  vermuten,    die  MutaziUten    (die    Kberalen  Theologen),    die 


352  Horten. 


ja  theoretisch  freieren  Ideen  das  Wort  reden,  seien  praktisch  auch  in» 
liberalen  Sinne  wirksam  gewesen.  Es  ist  jedoch  ein  sehr  charakteiistisches 
Zeichen  für  die  geistige  Unreife  dieser  llichtung,  daß  sie  ihre  wissenschaftlich 
freiere  Auffassung  vielfach  mit  großer  Intoleranz  verbanden  (Goldziher: 
Vorlesungen  über  den  Islam.  S.  117.  und  Becker:  ChiistUche  Polemik 
und  islamische  Dogmenbildung.  Zeitschr.  f.  AssjTiol.  XXVI  190).  Um 
diesen  Tatsachen  gerocht  zu  werden,  ist  es  geboten,  zwischen  den  Begriffen 
liberal  und  tolerant  scharf  zu  unterscheiden.  Sind  doch  liberale  Rich- 
tungen (in  bezug  auf  die  Theoiie)  häufig  sehr  intolerant  in  der  Praxis. 
Die  Scholastik  der  Dominikaner  bildet  zweifellos  eine  doktrinärliberale 
Richtung,  insofern  sie  der  nichtchristlichen  Wissenschaft  Einlaß  in  die 
cliristhche   Theologie   gewähren.      Dabei   sind   sie   zugleich   die   Inquisitoren! 

1)  Herr  Prof.  (loldziher  hatte  die  FreundUchkeit,  mir  folgende  Berich- 
tigungen mitzuteilen,  S.  52,  6  ibn  Sabä  st.  ihn  es  Sandr,,  ib.  Z.  14  Salmagani 
St.  Salamkani,  S.  102,  8:  Die  Samaritaner  erwarten  natürlich  ihren  eigenen 
Propheten.  Diese  ihre  Hoffnung  deuteten  die  Muslime,  so  schien  mir  nach 
den  Quellen,  auf  ihren  Propheten.  In  diesem  Sinne  klammerte  ich  das  Wort 
„Muhammad"  hinter  Prophet  ein.  S.  566,  4:  Dunas  st.  Dutäs  (vgl.  Goldziher: 
Zahiriten  S.  116  A.  1  Z.  4  uut.).  S.  383  unt.  möchte  Prof.  G.  makälat  in  dem 
Sinne  von  akwäl  „Lehrmeinungen,  Schulrichtungen"  fassen.  Vgl.  Kant- 
studien  XVII  481  f.  Deutsch.  Litztg.  1912  Sp.  1993.  Der  Islam  III  404—09. 
Die  dort  aus  dem  Mangel  an  philosophischer  Einstellung  seitens  des  Kritikers 
sich  ergebenden   Mißverständnisse  werden  ib.  V  226—237   berichtigt. 

(Fortsetzung  folgt.) 


Rezensionen. 

M.  Makarewicz,    Die   Grundprobleme   der  Ethik   bei  Aristoteles   (221  S.)- 
O.  R.  Reisland,  Leipzig.     1914. 

Der  Verfasser  dieser  Schrift  hat  eine  Aufgabe  erkaiuit,  die  schon  seit 
langem  vergebens  ihrer  Lösung  harrt.  In  der  Tat  muß  Aristoteles  einmal 
vor  der  Geschichte  gerechtfertigt  und  der  Ewigkeitsgehalt  aus  seiner  Ethik 
herausgeholt  werden.  Leider  aber  wird  man  bei  der  Lektüre  des  genannten 
Buches  finden,  daß  Verf.  dieser  Aufgabe  nicht  oder  noch  nicht  gewachsen  ist. 
Er  hat  zwar  Aristoteles  fleißig  gelesen,  aber  dieser  Fleiß  ist  leider  darum  \\n- 
fruchtbar  geblieben,  weil  er  bei  weitem  nicht  fest  genug  in  den  Problemen  einer 
wissenschaftlichen  Ethik  steht,  wie  wir  sie  heute  sehen.  Freilich  sehen  wir  ja 
heute  die  Probleme  sehr-  verschieden,  aber  unerläßlich  wäre  es  gewesen,  sich 
die  Probleme  der  Ethik  Kants  klar  zu  machen;  ohne  daß  dies  geschehen  wäre, 
kann  man  doch  nicht  Kant  von  Aristoteles  her  widerlegen  wollen.  Daraus 
erklärt  sich  natm-gemäß  die  große  Unklarheit  des  Buches  und  die  dem  Leser 
immer  wieder  empfindlich  begegnende  Verwechslung  der  psychologischen  und 
der  rein  philosophischen  Untersuchung  der  Probleme.  Hier  ist  Klarheit  umso 
nötiger,  wenn  es  sich  darum  handelt,  che  Ethik  des  Aristoteles  auf  ihren 
dauernden  Wert  zu  prüfen.  Denn  die  volle  Klarheit  ist  bei  Aiüstoteles  noch 
nicht  vorhanden,  obwohl  sie  im  letzten  Grunde  schon  wirkt.  Hätte  Verf.  sich 
größere  systematische  Klarheit  verschafft,  dann  wären  ihm  einige  Stellen 
nicht  entgangen,  die  er  so  trotz  seines  großen  Fleißes  übersehen  hat  —  Stellen, 
die  auf  tiefste  Probleme  hinweisen  und  erkennen  lassen,  wie  hoch  Aristoteles 
als  wissenschafthcher  Ethiker  zu  stellen  ist.  (Da  ich  an  anderem  Orte  eine 
eingehende  Darstellung  hiervon  zu  geben  beabsichtige,  verzichte  ich  jetzt 
auf  weitere  Hinweise). 

Eine  Untersuchung  der  ethischen  Probleme  bei  Aristoteles  muß  m.  E. 
so  angelegt  sein,  daß  1.  die  Geschichte  der  Probleme  bis  Ai'istoteles  angedeutet, 
daß  die  Stufen  angegeben  werden,  welche  zu  des  Ai'istoteles  Lösung  führen. 
Nur  so  läßt  sich  die  Bedeutung  der  von  Aristoteles  behandelten  Probleme 
erfassen.  Er  hat  ja  selbst  durch  die  Anlage  seiner  Werke  gezeigt,  wie  hoch  er 
eine  historisch-genetische  Betrachtung  anschlägt.  2.  ist  zu  zeigen,  welche 
Stellung  das  einzelne  Problem  und  die  von  Aristoteles  ihm  gegebene  Lösung  in 
der  Geschichte  des  menschlichen  Denkens  überhaupt  einnimmt.  Also:  Rück- 
blick und  Ausblick  sind  bei  der  Darstellung  unvermeidlich  1.  zum  Verständnis 
des  Denkers  selbst  und  2.  zui*  richtigen  Würdigung  seiner  Arbeit. 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  3.  23 


354  Rezensionen. 

Leider  wird  die  Benutzung  des  Buches  nocli  dadurch  erschwert,  daß 
die  griechischen  Zitate  viele  Druckfehler  zeigen.  Sehr  unangenehm  fällt  dazu 
auf:  der  menschliche  Ethos  (S.  44  den  aristotelischen  Ethos  S.  34  u.  öfter) 
statt  das  (rö  7J9-nc  und  to  h'9-oc). 

Berlin-Lichterfelde.  Dr.  Willi   Schink. 

L.  Annaei  Senecae  ad  Lucilium  epistularum  moralium  quae  supersunt,  iterum 
edidit.     Otto  Hense,  Lipsiae  1914. 

Nicht  nai  die  Philologie,  auch  die  Philosophie  ist  Otto  Hense  für  die 
Nefuausgabe  der  Briefe  Senecas  zu  größtem  Danke  verpflichtet.  Die  hervor- 
ragende philologische  Leistung  des  Herausgebers  ist  von  Roßbach  in  der 
Berhner  Philol.  Wochenschrift  Nr.  16  (1914)  8.  490—498  gewürdigt  worden. 
Deshalb  können  wir  uns  hier  darauf  beschränken,  den  der  Philosophie  ge- 
leisteten Dienst  hervorzuheben. 

Ein  erneutes,  tief  dringendes  »Studium  der  philosophischen  Schriftwerke 
der  ,, Alten"  ist  in  den  letzten  Jahren  aufgeblüht;  dies  neue  Ziu'ückgreifen 
auf  die  Antike  hängt  natürlich  aufs  engste  zusammen  mit  dem  lebhaften 
philosophischen  Interesse  der  Gegenwart.  Mit  neuen  Gesichtspunkten  treten 
wir  an  die  Quellen  heran;  und  darin  besteht  natürlich  das  Klassische  der 
klassischen  Werke,  daß  sie  jeder  Zeit  noch  etwas  zu  sagen  haben.  Es  sind 
allerdings  in  erster  Linie  die  Griechen  —  allen  voran  Piaton  — ,  mit  denen 
sich  die  Philosophie  der  Gegenwart  auseinandersetzt;  aber  auch  die  römischen 
Philosophen  erfahren  wieder  mehr  Beachtung.  Die  Verdienste  der  Römer 
liegen  ja  auf  einem  Gebiete,  das  als  der  Gipfel  der  Philosophie  gilt:  auf  dem 
Gebiete  der  Ethik.  Und  hier  hat  vor  allem  die  Richtung  glänzende  Verdienste, 
der  Seneca  angehört:  die  Stoa.  Daß  die  »Stoiker  che  wissenschaftliche  Ethik 
sehr  gefördert  haben,  ist  heute  nicht  mehr  zweifelhaft^).  Zu  den  wertvollsten 
Denkmälern  der  stoischen  Schule  werden  mit  Recht  die  Briefe  Seneoas  ge- 
rechnet; sie  sind  in  der  Tat  ein  Handbuch  der  Moral.  Ihnen  kann  man  durchaus 
das  bekannte  Wort  Ciceros  als  Motto  geben:  vitae  viam  invenire.  Möge 
diese  neue  Ausgabe  der  Briefe,  die  auch  stilistische  Meisterwerke  sind,  nicht 
nur  zum  Verständnis  einer  nach  dem  höchsten  —  nach  der  Erkeimtnis  des 
Götthchen  in  der  Welt  — •  ringenden,  mit  der  unserigen  so  viel  Ähnlichkeit 
aufweisenden  Zeit  beitragen,  sondern  vor  allem  —  und  darin  liegt  ihre  eigent- 
liche Aufgabe  —  auch  dem  Einzelnen  Am-egung  zum  Denken  über  das  Leben, 
seinen  Sinn  und  seine  Aufgaben  geben.  Insbesondere  sei  diese  Briefausgabe 
den  philosophisch  interessierten  Lehrern  des  Lateinischen  an  den  Oberklassen 
unserer  höheren  Schulen  empfohlen;  denn  die  reiferen  Schüler  haben  ein 
außerordentliches  Interesse  für  die  ethischen  Probleme.  Cterade  die  Briefe 
des  Seneca  eignen  sich  —  natürlich  in  wohlbedachter  Auswahl  —  besonders 
sowohl  zm'  Einfühlung  in  die  Fragen  der  Ethik  als  auch  zm-  Ergänzung  der  in 
anderen  Unten ichtsfächern  behandelten  Moralprobleme.     Wie  in  allen  Jahr- 


^)   Ich  verweise  auf  meinen  Aufsatz  über  Kant  und  die  stoische  Ethik 
(Kantstudien  1913). 


Rezensionen.  355 

hunderten  der  christlichen  Zeit,  so  werden  auch  in  unserem  den  Briefen  ernste 
Leser  nicht  fehlen. 

Berlin-Lichterfelde.  Dr.  Willi  Schink. 

J.  G.  Fichte,  ein  deutscher  Denker.  Von  Dr.  Paul  Stählei.  Bibhothek  für 
Philosophie,  Bd.  XL  50  8.  Berhn  1914.  Leonhard  Simion  Nf.  1,50.  Mk. 
Nicht  erst  seit  der  im  vorigen  Jahrhundert  abgehaltenen  C4edenkfeier 
seines  Todestages  und  dem  Erscheinen  der  neuen  von  F.  Medicus  besorgten 
Ausgabe  seiner  Werke  ist  ein  erneutes  Studium  Fichtes,  des  deutschesten 
Philosophen,  erwacht.  Es  sei  niu-  an  Rudolf  Eucken  erinnert,  der  Fichteschen 
(ledanken  neue  und  weite  Wirkung  gab.  Heute,  in  dem  großen  Weltkriege, 
in  der  schwersten  Prüfungszeit  Deutschlands  schauen  wir  mit  Stolz  zu  Fichte 
auf  als  einem  unserer  geistigen  Führer;  er  hat  sich  in  der  Tat  als  Deutschlands 
Volkserzieher  bewährt.  Heute  können  wir  ganz  die  Fülle  und  Tiefe  seiner 
Cledanken  ermessen  und  würdigen.  Alles,  was  in  den  zahh-eichen  Kriegs- 
flugscliriften  und  Reden  über  deutsche  Art  und  deutsches  Wesen  gesagt  wurde. 
ist  von  Fichte  schon  vor  mehr  als  100  Jahren  gedacht  und  verkündet  worden. 
Gerade  die  durch  die  schwere  Zeit  uns  aufgenötigte  Selbstbesinnung  hat 
gezeigt,  wie  sehr  wir  uns  auf  ihn  als  Führer  zu  einer  Verimierlichung  der  Lebens- 
auffassung und  Lebensführung  verlassen  können.  In  Fichtes  tiefe  Gedanken- 
welt einzudringen  ist  aber  nicht  leicht,  er  verlangt  von  seinem  Leser  scharfes 
Nachdenken  und  eigene  Arbeit.  Eine  Einführung  ist  daher  gerade  dem  er- 
wünscht, welcher  zum  ersten  Male  an  ihn  herantritt.  Zu  solcher  Einführung 
eignet  sich  vorzügUch  die  oben  angezeigte  Schrift  von  Paul  Stähler,  der  wir 
weiteste  Verbreitung  wünschen  besonders  deshalb,  weil  hier  in  klarem  Ge- 
dankenaufbau und  allgemeinverständlicher  Sprache  das  Werk  des  Plülosophen 
vorgeführt  ist.  Nach  einer  kurzen  Darstellung  von  Fichtes  Persördichkeit 
und  Lebenskampf  folgt  eine  Würdigung  der  Wissenschaftslehre.  Den  Höhe- 
punkt erreicht  die  Schrift  in  dem  Abschnitt  IV:  ,,Die  Bestimmung  des 
Menschen"  und  hier  besonders  im  Absatz  c  ,,Der  Glaube"'.  Die  Gedankenfülle 
Fichtescher  Werke  tritt  vor  allem  in  Abschnitt  V  hervor:  ,,Die  Reden  an  die 
deutsche  Nation".  Auf  eine  Inhaltsangabe  der  angezeigten  Schrift  köimen 
wir  hier  verzichten,  da  es  sich  ja  im  wesentlichen  um  eine  Darstellung  des 
Inhaltes  Fichtescher  Werke  handelt.  Dies  kleine  weitesten  Kreisen  zu  em- 
pfehlende Schriftchen  ist  vielen  Kriegsflugschriften  überlegen  durch  die  über- 
schäumende Kraft  Fichtescher  Gedanken. 

Berlin-Lichter felde.  Dr.  Willi  Schink. 

Die  Vorbildung  zum  Studium  in  der  philosophischen  Fakultät.  Denkschrift 
der  philosophischen  Fakultät  der  Universität  Göttingen.  19  S.  Verlag 
von  B.   G.  Teubner.     Leipzig  u.  Berlin  1914.     (0,80  Mk.). 

Das  Berechtigungswesen  hat  schon  lange  scharfe  Diskussionen  hervor- 
gerufen, besonders  stark  traten  sie  wieder  hervor  durch  die  ministerielle  Ver- 
fügung vom  11.  Oktober  1913,  der  zufolge  den  Absolventinnen  der  Oberlyzeen 
der   Zugang   zur   Universität   freigegeben   wmde.      Auch   die   philosophische 

23* 


356  Rezensionen. 

Fakultät  der  Universität  Göttingen  tritt  auf  den  Plan;  sie  aber  gibt  der  Streit- 
frage weitere  Ausdehnung,  indem  sie  Stellung  nimmt  zu  der  schon  lange  und 
vielleicht  noch  lange  einer  befriedigenden  Lösung  harrenden  Frage:  wie  kami 
die  Kluft  zwischen  Universität  und  Schule  überbrückt  werden?  Denn  es  ist 
allzu  sichtbar,  daß  ,, zwischen  grundsätzlicher  Berechtigung  und  besonderer 
Vorbildung  in  vielen  Fällen  eine  außerordenthche  Spannung  besteht",  daß 
nüt  der  Berechtigung  zum  Studium  noch  lange  nicht  der  Eintritt  und  frucht- 
bringende Beginn  des  Studiums  mögUch  ist.  Der  ehemals  bestehende  Zu- 
sammenhang zwischen  Schule  und  Universität  ist  gestört  nicht  nur  durch 
die  Verschiedenheit  der  von  den  Schulen  vermittelten  Vorbildung,  sondern 
auch  durch  die  infolge  des  Fortschrittes  der  Wissenschaft  im  Universitäts- 
betrieb erfolgte  Differenzierung. 

Es  werden  im  II.  Abschnitt  behandelt  die  ,, Anforderungen  an  die  Vor- 
bildung in  den  einzelnen  Fächern  der  philosoplüschen  Fakultät".  Dabei  wird 
als  besonders  notwendig  zum  wissenschaftlichen  Studium  der  Geschichte 
weitgehende  Beherrschung  der  Sprachen  hervorgehoben;  es  wird  vor  aUem 
hingewiesen  auf  die  notwendige  Kermtnis  der  klassischen  Sprachen  und  auf 
den  Wert  der  humanistischen  Bildung  auch  für  das  Studium  der  neueren 
Sprachen,  des  Deutschen  und  der  Philosophie.  Im  Dritten  über  ,, Eigenart 
und  Grenzen  der  höheren  Schulen  in  ilu'em  Verhältnis  zum  Universitäts- 
studium"  handelnden  Abschnitte  kommt  die  Fakultät  zu  dem  Schluß,  daß 
eigentlich  keine  der  anerkamiten  höheren  Schulen  in  allen  Stücken  die  er- 
forderliche Vorbildung  gibt,  daß  es  ,,fast  nirgends"  ,,ohne  eine  mehr  oder 
minder  erhebliche  Ergänzung"  abgeht.  Die  größten  Schwierigkeiten  aber 
hegen  in  den  lateinlosen  Anstalten:  Oberrealschulen  und  Oberlyzeen.  Am 
schhmmsten  steht  die  Sache  beim  Oberlyzeum,  dessen  Vorbereitung  zur 
Universität ,  ,f  ür  kein  einziges  Fach  der  philosophischen  Fakultät  ohne  weiteres 
ausreicht,  —  für  die  weitaus  meisten  Fächer  aber  .  .  .  Lücken  aufweist,  die 
nicht  nebenher,  auch  nicht  diirch  eine  Ergänzungsarbeit  von  Jahren  aus- 
gefüllt werden  können." 

Wie  sind  nun  die  Spannungen  auszugleichen?  Es  werden  zwei  Vor- 
schläge in  Abschnitt  IV  ,, Folgerungen"  gemacht:  Entweder  sind  die  Er- 
gänzungseinrichtungen an  die  höheren  Schulen  anzuschließen;  dafür  sprechen 
mehrere  Gründe,  nicht  als  letzter,  ,,daß  es  für  die  Eltern  eine  sehr-  erhebliche 
pekuniäre  Ersparnis  ist,  ihre  Kinder  ein  Jahi"  länger  bei  sich  zu  behalten." 
Der  zweite  Weg  der  Lösung  Hegt  in  einem  weiteren  Ausbau  der  Ergänzungs- 
einrichtungen an  den  Universitäten  (Kurse).  Mit  zwei  berechtigten  Wünschen 
schließt  die  sehr  beachtenswerte  Denkschi'if t :  Der  Verkehr  der  Universitäten 
mit  der  Unterrichtsverwaltung  möge  lebhafter  werden,  und  in  der  Öffentüch- 
keit  sollte  weniger  von  Berechtigungen  imd  mehr  von  den  tatsächhchen  Ver- 
hältnissen gesprochen  werden. 

Der  Denkschrift  kann  im  Interesse  der  Förderung  der  Universitäts- 
arbeit, aber  auch  der  ökononüscheren  Eimichtung  der  Vorbereitungsanstalten 
weiteste  Verbreitung  gewünscht  werden. 

Berlin-Liehterfelde.  Dr.  Willi  Sc  hink. 


Rezensionen.  357 

Kant,  Laienbrevier,  Eine  Darstellung  der  Kantischen  Welt-  und 
Lebensanschauung  für  den  ungelehrten  Gebildeten  aus  Kants  Schriften, 
Briefen  und  mündhchen  Äußerungen  zusammengestellt  von  Dr.  Felix  Groß, 
F.  Bruckmann,  München  1912.    2.  Auflage,  214  S. 

Einen  Versuch,  die  populären  Schriften  Kants  zu  sammeln,  hat  Groß 
unternommen.  Inwieweit  dies  freilich  dem  Verfasser  gelungen  ist,  ist  eine 
andere  Frage.  Uns  scheint,  daß  nicht  die  charakteristischsten  Stellen  aus  Kants 
Schriften  ausgewälüt  sind,  zumal  wichtige  und  charakteristische  Schriften 
wie  die  „Allgemeine  Xatm-geschichte  und  Theorie  des  Himmels"  ganz  fehlen. 
Die  Orientierung  ist  mehr  eine  ethische.  Die  Hauptlehre  Kants,  der  trans- 
zendentale Idealismus,  wird  nur  gestreift.  Doch  hat  der  Verfasser  diesen 
Mangel  selbst  gefühlt  und  meint  (im  Schlußwort),  daß  ein  , »Brevier"  (warum 
dieses  mönchische,  mittelalterliche,  für  den  „AUeszermalmer"  wenig  passende 
imd  unlaienhafte  Wort?)  die  eigentlichen  Tiefen  des  Kantischen  Gedanken- 
baus nicht  erschließen  kann  (was  wir  sein*  bestreiten  möchten),  wohingegen 
er  uns  eine  neue  Sammlung  verspricht,  welche  dies  leisten  soll. 

Ferner:  Während  die  Aufmachung  des  Ganzen  eine  populäre  ist, 
so  sehr,  daß  es  der  Verfasser  für  nötig  hält,  das  Wort  Bathos  zu  erklären 
und  darauf  hinzuweisen,  daß  es  nicht  mit  Pathos  zu  verwechseln  ist,  was 
absoluten  Unsinn  ergäbe,  werden  andere  griechische  oder  lateinische  Worte 
wie  ,,Mathesis",  ,,Clinamen"  nicht  erklärt,  die  zimi  Teil  selbst  dem  nicht 
hmnanistisch  gebildeten  Gelehrten  unbekannt  sind,  ja  auch  eine  lateinische 
Jahreszahl  prangt  auf  dem  Titelblatt,  was  wir  in  Anbetracht  unserer  falschen 
humanistischen  Bildung,  welche  die  Geister  verdmnmt  imd  weitabgewandte 
Idioten  heranzüchtet,  für  ganz  unangebracht  halten. 

Wie  weit  aber  der  Verfasser  davon  entfernt  ist,  in  den  Geist  Kants 
eingedrungen  zu  sein,  zeigt  am  besten  das  Schlußwort.  Hier  wird  das  Lebens- 
werk Immanuel  Kants  bezeichnet  als  die  philosophisch-kritische 
Grundlegung  unserer  gesamten  ,,reinmenschlich"-germanischen 
Kultur.  Das  sind  Phrasen.  Was  soll  es  heißen:  Philosophisch-kritische 
Grundlegung  der  Kultur?  Was  soll  es  heißen:  der  ,, reinmenschlichen"  ? 
Gibt  es  auch  eine  tierische  Kultm"?  Nun  gar,  der  germanischen  Kultur, 
was  schon  im  Widerspruch  steht  zu  ,,reinmenschUchen"  und  ,, gesamten". 
Das  Lebenswerk  Kants  ist  ein  viel  umfassenderes  und  erstreckt  sich  auf  die 
ganze  Menschheit.  Was  er  geleistet  hat,  ist  die  Begründung  des  kritischen 
oder  transzendentalen  Idealismus,  abgesehen  von  seinen  übrigen  großen 
Leistungen,  wie  der  Lehre  von  der  Entstehung  und  Entwicklung  des  Welt- 
alls, der  Vernichtung  der  alten  Metaphysik. 

Ebenso  falsch  ist  es,  wenn  Groß  die  äußeren  Einflüsse  bei  Kant,  so 
auch  den  Einfluß  seiner  Mutter  für  so  wichtig  hält.  Dieses  Ammemiiärchen 
tischen  uns  nun  freilich  sämtliche  Historiker  der  Philosophie  auf.  Das  echte 
Genie  wird  nämlich  seine  Werke  schaffen  ohne  alle  äußeren  Einflüsse, 
ja  entgegen  seiner  Zeit.  Der  echte  Philosoph  wird  nur  geboren,  und  bei 
Kant  freilich  ist  es  erstaunlich,  wie  spät  er  seine  Hauptwerke  geschaffen  hat, 
im  Gegensatz  zu  Schopenhauer,  der  entgegen  seiner  Zeit  imd  Umgebung 
schon  in  frühem  Alter  seine  Werke  scliuf. 


358  Rezensionen. 

Wir  glauben  auch  nicht,  daß  Groß  zum  „Sprachverbesserer"  berufen 
ist,  was  sich  nur  ein  Genie  leisten  kann,  und  empfehlen  ihm  zur  Lektüre 
Schopenhauers  geniale  Schrift  über  Deutsche  Sprach  Verhunzung.  Wir 
glauben  nicht,  daß  Schopenhauer  Worte  wie  „eigentlichst",  „allgemeinst", 
das  „Kultiirelle"  als  Bereicherungen  der  deutschen  Sprache  empfunden  und 
hätte  gelten  lassen.  Auch  ist  es  gänzlich  irrig,  wenn  der  Verfasser  Heinrich 
Heines  herangezogenes  Appercu  über  Kant  für  ein  ,, Lügenmärchen"  erklärt, 
da  es  vielmehr  wähl"  ist  und  auch  Schopenhauer,  der  doch  auch  etwas  von 
Philosophie  verstand,  sich  ganz  in  gleichem  Sinne  über  Kant  geäußert  hat, 
daß  Kant  später  aus  Altersschwäche  alles  zugab,  was  er  vorher  widerlegt 
hatte.  Ebenso  irrig  ist  die  Meinung  des  Verfassers,  daß  Kant  nicht  freisinnig 
war,  wie  es  jeder  Philosoph  selbstverständlich  ist,  da  er  sich  vielmehr  über 
alle  politischen,  reügiösen  und  sonstigen  Angelegenheiten  sehr  freisinnig 
geäußert  hat,  wenn  er  auch  in  einigem  wie  in  der  Verwerfung  der  „Notlüge" 
orthodox  war  und  sich  geradezu  beschränkt  zeigte. 

So  kann  unser  Lob  des  Buches  nur  ein  sehr  bescheidenes  sein,  und  so  sehr 
Avir  wünschen,  daß  Kant  popiilär  würde,  soweit  das  möglich  ist,  meinen  wir 
doch,  daß  eine  andere  Auswahl  getroffen  werden  muß,  und  halten  die  von 
Paul  Menzer  herausgegebenen  „Populären  Schriften"  Kants^)  zu 
diesem  Zweck  für  weit  geeigneter.  Georg  Wendel. 


Adolf    Jacobus,     Plato    und    der    Sensualismus.       (Inaugm'al-Dissertation, 
Berlin  1914.) 

Eigentlich  sollte  der  Titel  lauten:  „Piatons  Sensualismus"  oder  „Der 
Platonische  Sensualismus".  Denn  der  Verfasser  wertet  den  Antisensualisten 
Piaton  einfach  zum  Sensualisten  um.  Allerdings  nicht  mit  vollem  Bewußtsein 
und  daher  nicht  ausdrücklich.  Auf  den  Namen  kommt  es  aber  nicht  an,  son- 
dern auf  den  damit  verbmidenen  oder  zu  verbindenden  Begriff.  Im  allgemeinen 
versteht  man  unter  Sensualismus  jene  erkenntnistheoretische  Richtung, 
wonach  unser  gesamtes  AA'issen,  sei  es  unmittelbar,  sei  es  mittelbar,  aus  einer 
und  derselben  Quelle,  der  Sinneswahrnehmung,  entspringt.  Nach  der 
l^ehi'e  des  Antisensualismus  dagegen  gäbe  es  eine  zweite,  von  der  Sinnes - 
Wahrnehmung  wesentlich  verschiedene  höhere  Erkenntnisquelle,  den  Geist 
oder  die  Vernunft  als  das  Vermögen,  „Übersinnliches",  „Ewiges", 
,, Absolutes"  zu  erkennen.  Erkenntnistheoretiker,  die  das  Vorhandensein 
einer  eigenen  höheren  Erkenntnisquelle  solcher  Art  nicht  anerkemien,  gehören 


')  Verlag  Georg  Reimer,  Berlin.  Vgl.  meine  Besprechmig  derselben  in 
der  „Ethischen  Rundschau",  1.  Jahrg.  Heft  11,  und  im  „Archiv  für  Philo- 
sophie." Zur  Popularisierung  Kants  hat  übrigens  Schopenhauer  außer- 
ordentlich beigetragen,  wie  ich  hoffe,  auch  ich  selbst  durch  mein  küi'zUch 
erschienenes  philosophisches  Hauptwerk  ,, Kritik  des  Erkennens" 
(Carl  Georgi,  Bonn  1914),  welches  das  große  Werk  Kants  und  Schopen- 
hauers  unmittelbar   fortsetzt . 


Rezensionen.  359 

eo  ipso  einer  der  besonderen  Richtungen  des  Sensualismus  an.  Nun  hat 
Piaton  von  jeher  als  Hauptvertreter  des  Antisensualismus  gegolten, 
wenigstens  einer  Richtimg  desselben,  und  das  zweifellos  mit  Recht. 

Wie  jedoch  Ad.  Jacobus  zu  zeigen  versucht,  hätte  Piaton  von  Anfang 
an  „einen  Sinn  für  den  Wirklichkeitscharakter"  des  Sensualismus  gehabt 
(S.  35).  Im  Verlaufe  seines  Kampfes  gegen  den  Sensualismus  hätte  dann 
Piaton  seine  unbedingte  Identifizierung  von  Sensuahsmus  und  Subjektivismus 
als  Irrtum  erkannt  und  niu"  mehr  den  Heraklitismus  mit  dem  Subjektivismus 
identifiziert  (S.  4.3).  Im  ,,Phädon",  einer  „Bekenntnisschrift  des  Philosophen 
über  seine  Auseinandersetzungen  mit  dem  Sensualismus"  (S.  45),  hätte  er  uns 
selber  darüber  Aufklärung  gegeben,  welche  Frage  ihn  zui-  Revision  seiner  bis- 
herigen Kritik  des  Sensualismus  veranlaßt  habe.  Es  sei  die  Frage  gewesen: 
,, Woher  kommen  wir  zu  unseren  Begriffen?"  Sie  hätte  ihn  aus  seinem 
Ideenenthusiasmus  gerissen.  Sclu:off,  scheinbar  ohne  alle  Beziehung  zuein- 
ander, ständen  Ideen  und  Wirklichkeit  sich  gegenüber.  Die  Ideen  seien 
das  Sein,  die  Wirklichkeit  das  Werden.  Nun  erkenne  er  plötzlich:  „Die 
Ideen,  unsere  Begriffe,  von  denen  wir  Rechenschaft  ablegen,  stammen 
nirgend  anders  woher  als  aus  der  Wirklichkeit.  Ohne  die  Sinne,  die  uns 
che  Wirldichkeit  vermitteln,  kämen  wir  nicht  zu  unseren  Begriffen"  (S.  35). 
So  müsse  er  sich  derm  entschließen,  die  Wirklichkeit  als  ein  Sein  neben  dem 
Sein  der  Ideen  anzuerkeimen  (S.  37).  Das  Ergebnis  sei  eine  „wahrhaft 
idealistische"  Theorie  der  Wirkhchkeit  (S.  17,  P\  37f.).  Während  nämlich 
die  Wirklichkeit,  ,,die  psychologische  conditio  sine  qua  non  für  das  philo- 
.sophische  Bewußtsein  von  den  Begriffen"  sei,  seien  die  Begriffe  „die  logischen 
Prinzipien  der  Wirklichkeit"  (S.  41). 

Um  dies  richtig  zu  würdigen,  muß  man  außerdem  wissen,  daß  der  Ver- 
fasser ,, Begriff"  und  ,,Idee"  bei  Piaton  ohne  weiteres  identifiziert  (S.  42),  daß 
er  ,,die  von  Aristoteles  hei-stammende  Auffassung,  als  seien  die  Ideen  meta- 
physische Substanzen"  ebenso  ohne  weiteres  verwirft  (S.  42,  30),  daß  er  sich 
damit  begnügt,  die  uvdfJvrjGig  als  ,,das  philosophische  Bewußtsein  von 
den  Begriffen"  zu  kennzeichnen  (S.  38f.)  und  daß  er  schließlich  daraus  die 
Folgerimg  zieht,  daß  es  Piaton  weder  mit  dem  Präexistenzbeweis  noch  mit 
den  Postexistenzbeweisen  für  die  Seele  ernst  gewesen  sei  (S.  47f.). 

In  Anbetracht  alles  dessen  wird  man  zugeben  müssen,  daß  ein  solcher- 
gestalt zugerichteter  Piaton  nimmermehr  für  den  Antisensualismus  in  An- 
spruch zu  nehmen  wäre.  Jedenfalls  ist  der  Verfasser  den  Beweis  für  das  Gegen- 
teil schuldig  geblieben.  Der  Beweis  wäre  auch  nicht  zu  führen.  Damit  ist 
noch  nicht  gesagt,  daß  der  Verfasser  durchaus  unrecht  habe.  Daß  sich 
bei  Piaton  eine  große  Menge  von  Stellen  findet,  che  als  Bausteine  für  den 
„  Antiplatonismus"  und  somit  für  den  Sensualismus  verwertet  werden  können, 
darauf  hat  schon  Laas  in  seinem  Werke  ,,IdeaUsmus  und  Positivismus" 
hingewiesen  (I.  21  f.).  Piaton  war  eben  Synkretist,  ein  Synkretist  freihch,  der 
trotz  alles  Liebäugeins  mit  dem  Sensualismus  ein  t\7)ischer  \"ertreter  des 
Antisensualismus  ist  und  bleibt. 

Dr.  Hubert   Rock  (Innsbruck). 


1 
360  Rezensionen.  J 

Die  Erlanger  Doktor-Arbeit  von  Arnold  Fuchs  über  G.  Thaulows 
Pädagogik  besitzt  dieselbe  wohltuende  Klarheit  und  Sachlichkeit,  welche 
den  Promotionsreferenten  von  Fuchs  im  Kolleg  mid  in  seinen  Schriften  aus- 
zeichnet ;  die  schlichte  Sprache  vermeidet  jede  gesucht  wirkende  Häufung  von 
Fachausdrücken.  —  Nach  dem  üblichen  Schema  wird  zunächst  das  Leben 
des  als  Scliriftsteller  sekr  fruchtbaren  Th.,  über  den  wenig  Literatur  vorliegt, 
und  seine  allgemein  philosophische  Überzeugung  geschildert.  Th.  verfolgt 
den  Hegeischen  Entwicklungsgedanken  weiter  mit  stärkerer  Berück- 
sichtigung der  Persönlichkeit  und  körperlichen  Erziehung  des  Menschen; 
auch  wird  der  ,, Begriff  der  Sittlichkeit  dmch  Einbeziehung  der  Lernarbeit 
als  eines  solchen  Faktors  weitergefaßf  (S.  98ff.  und  lOl).  Auf  der  philo- 
soi^hischen  Grundanschauung,  die  manchmal  auch  an  Schleiermacher  an- 
klingt (S.  97),  baut  sich  die  pädagogische  auf:  sie  erinnert  ihrerseits  in 
dem  allgemeinen  Satze,  ,,daß  die  in  der  Geschichte  tätige  Vorsehung  die  Er- 
ziehung des  Menschengeschlechtes  sei"  (S.  11),  an  Herder.  Im  weiteren  Ver- 
lauf der  Untersuchung  entwickelt  Fuchs  die  Ansichten  Th.s  über  die  Formen 
imd  Mittel  der  Erziehung,  indem  er  in  übersichtlicher  Gliederung  und  mit 
Hervorhebung  der  einzelnen  Hauptpunkte  die  drei  Erzieher,  Familie  und  Staat, 
Kirche  und  Schule  (S.  28ff.),  die  Erziehung  durch  Unterricht  und  Disziplin 
(S.  54ff.),  ähnlich  wie  Herder,  herausarbeitet  und  am  Schluß  die  geschicht- 
liche Stellung  der  Th. sehen  Pädagogik  zeigt.  In  dem  letzten  Abschnitt  werden 
in  wiederholten  Rückblicken  die  Hauptergebnisse  der  einzelnen  Abschmtte 
zusammengefaßt  und  unter  gelegentUcher  Berufung  auf  zeitgenössische 
Stimmen  auch  eingehende  Kritik,  die  freilich  nicht  immer  alle  Leser  unter- 
schreiben dürften,  an  Th.  geübt:  z.  B.  scheint  mir  die  Behauptung,  daß  Th. 
„im  Vergleich  mit  den  Anschauungen  seiner  Zeit  nichts  wesentlich  Neues 
bringe"  (S.  116),  der  anderen,  daß  Th.  gegenüber  Hegel  „Eigenartiges"  biete 
(S.  98ff.  und  120),  zu  widersprechen.  Da  selbstverständlich  ein  Bericht  alles 
Interessante  der  124  Seiten  umfassenden  Schrift,  die  auch  als  546.  Heft  dem 
pädagogischen  Magazin  des  Verlages  H.  Beyer  &  Söhne  in  Langensalza  an- 
gehört, umuöglich  wiedergeben  kann,  so  möchte  ich  aus  dem  von  Th.  ent- 
worfenen „Schulnormativ"  einige  Gedanken,  welche  für  che  Gegen- 
wart in  positiver  und  negativer  Hinsicht  mir  wertvoll  erscheinen,  heraus- 
heben. 

Als  Vertreter  des  Neuhumanismus,  dessen  Betonung  der  auch  welt- 
männischen Abgeklärtheit  Ideen,  wie  sie  z.  B.  v.  Tschirnhausen  vertritt, 
nachklingend  zeigt  (S.  48),  erstrebt  Th.  engste  Fühlung,  ja  Vereinigmig 
zwischen  der  Begeisterung  für  das  idealistisch  gesehene  (S.  57)  klassische  Alter- 
tum und  einem  innerlichen  Christentmn,  das  folgerichtig  ,, absichtliche  Er- 
weckung von  Andachtsgefühlen  ablehnt";  dema  Th.  nennt  die  von  zeit- 
genössischen Professoren  stiefmütterlich  behandelte  (S.  25)  Pädagogik  die 
„Wissenschaft  von  der  Sittlichmachung  des  Menschen"  (S.  22),  und  wendet 
sich,  als  begeisterter  Verehi-er  der  „praktischen  englischen  Nation",  gleich 
Plato  gegen  Banausentum  und  „unglückselige"  Überschätzung  des  \Vissens 
(S.  55).  Mit  schroffer  Einseitigkeit  bezeichnet  es  Th.  als  einen  ,, Frevel 
an  der  Menschheit"   für   10-   bis   12jährige  Kinder   Realschulen  zu   gründen 


Rezensionen,  361. 

(S.  34  und  37);  denn  die  einzige  „Vorbereitungsschule  für  die  Vorbereitungs- 
schule",  d.  h.  Universität,  der  höheren  Berufe  ist  ihm  das  Gjminasium  (S.  39), 
das  erst  nach  der  Tertia  sich  in  einen  g3Tnnasialen  und  real  stischen  Ober- 
bau gabelt  (S.  34/5).  Der  un  ere  Tage  lebhaft  bewegende  Gleich- 
berechtigungsstreit besteht  für  Th.,  der  —  nebenbei  gesagt  — 
auch  Gegner  eines  weitergehenden  Frauenstudiums  ist  (S.  36),  durchaus 
nicht,  da  die  Realschule  mit  gymnasialer  Unterlage,  die  —  abgesehen 
von  der  Betonung  des  Griechischen  —  ungefähr  derjenigen  unserer 
bayrischen  Realgymnasien  entspricht,  dieselbe  Berechtigung  hat  wie  das 
Gymnasium  (S.  42).  Anders  als  im  Gegenwartsgym.nasium  beginnt 
aus  vier  Gründen  schon  in  der  Sexta  das  Griechische  (S.  57)  und  nimmt 
zusammen  mit  Latein,  das  erst  von  der  zweituntersten  Klasse  ab  lebhafter 
betrieben  wird,  über  die  Hälfte  der  Gesamtstunden  in  Anspruch  (S.  58). 
Um  in  diesen  Fächern  grammatische  Sicherheit  zu  erreichen,  soll  der  Ober- 
sekundaner und  Primaner  unter  anderem  die  Grammatikübungen  der  Tertianer 
ebenso  ,, korrigieren"  (S.68),  wie  talentvolle  Schüler  derselben  Klasse  die  mathe- 
matischen Aufgaben  der  jüngeren  Kameraden  (S.  80);  denn  gutes  Latein- 
schreiben ist  das  höchste  Ideal  des  Gymnasialschülers. 

Im  Gegensatz  zu  den  Anschauungen,  welche  besonders  seit  der  Reichs- 
schulkonferenz von  1890  herrschend  wurden,  teilt  Th.  der  Muttersprache, 
„abgesehen  von  Deklamierübungen  und  Aufsätzen",  fiu'  die  er  gute  Rat- 
schläge gibt  und  die  er  entgegen  manchen  Behauptungen  unserer  Tage  „die 
Blüte  der  Schülerbildung"  nennt  (S.  74ff.),  keine  besonderen  Stunden  zu 
(S.  60).  Auch  die  nach  seiner  Ansicht  zu  schwierige  neuere  Geschichte  will 
Th.  aus  dem  Unterricht  verbamit  wissen  (S.  77ff.),  „zumal  der  Patriotismus 
nicht  durch  Absicht  und  Ermahnung  im  Unterricht  erweckt  werden  kami". 
(S.  63).  —  Die  Philosophie  wird  von  Untersekunda  an  in  einer  Wochenstunde 
gelehrt.  Die  von  Th.  gewünschte  Verteilung  dieses  Unterrichtsstoffes  (S.  67ff.) 
ist  in  der  Hauptsache  dieselbe,  wie  z.  B.  in  den  auch  noch  nicht  verwirklichten 
Forderungen  von  Dr.  K.  Siegel,  Methodik  des  Unterrichtes  in  der  philoso- 
phischen Propädeutik  (Wien  1913).  Nur  eine  der  Prima  zugeteilte  Aufgabe, 
Ästhetik  mit  Literaturgeschichte,  wird  in  manchen  Gegenwartsschulen,  z.  B. 
durch  Lektüre  von  Lessings  Laokoon  oder  Hamburgischen  Dramaturgie, 
von  Schillers  philosophischen  Schriften,  mehr  oder  minder  erfüllt.  —  Die 
fremden  Sprachen  treten  in  dem  Organisationsvorschlag  von  Th.  zurück 
und  werden  hauptsächhch  in  Privatstunden  erlernt  (S.  59  und  74).  Auch 
hinsichtlich  der  Anschaffung  von  Klassikern  für  die  Privatlektüre  (S.  72), 
von  geographischen  und  geschichtlichen  Lesewerken  (S.  78)  belastet  Th.  die 
Taschen  der  Eltern  in  einer  Weise,  daß  diese  Wünsche  den  mit  anderen  Aus- 
führangen  (S.  36)  nicht  übereinstimmenden  Gedanken  nahelegen,  als  ob  Th. 
nur  die  Söhne  Wohlhabender  zum  Gjannasialunterricht  herangezogen  sehen 
will.  Die  Mathematik  schätzt  Th.  vor  allem  wegen  der  sittUchen  Ki*aft, 
weil  Schüler,  welche  dieses  Fach  nicht  heben,  gewohnt  werden,  auch  mit  Un- 
angenehmem sich  ernstlich  zu  befassen.  Singen  und  Turnen  wird  ent- 
sprechend seiner  neuhumams tischen  Anschauung  von  Th.  ähnlich  hoch  be- 
wertet, wie  bei  den  Griechen  (S.  81f.).     Das  im  ersten  Fach  Begehrte  ähnelt 


362  Rezensionen. 

tlen  weitgehendsten  Forderungen  mancher  bayrischen  ( Jesangslehrer  im 
Frühjahr  1914. 

Das  Turnen  dient  der  Stählung  von  Gesundheit  und  Mut;  auch  die  in 
imseren  Tagen  besonders  betonten  Schülerwanderungen  befürwortet  Th. 
(S.  94).  Die  militärischen  Übungen,  welche  für  unsere  Wehrkraft  jungen  schon 
in  der  4.  Klasse  (Tertia)  beginnen,  weist  Th.  nur  den  zwei  obersten  Klassen 
zu.  ,, Gesunde  Diätetik  und  Gymnastik  sind  auch  die  besten  Maßregeln  gegen 
die  sog.  geheimen  Sünden".  Dieser  Krebsschaden,  den  auch  mein  leider 
ziemlich  wirkungslos  verhallter  Aufruf  zur  Schaffung  eines  Merkblattes 
(Zeitschr.  f.  Kinderpflege  V,  2,  S.  28/29)  berührte,  erheischt  nämlich  die  größte 
Aufmerksamkeit  (S.  82);  deshalb  wird  der  Rücksicht  auf  die  Pubertät  auch  ein 
in  der  Gegenwart  bedauerlicherweise  fast  mangelnder  Einfluß  auf  den  Stunden- 
plan eingeräumt.  Dieser  Gedanke  steigert  sich  bis  zu  dem  Wunsche,  daß 
,,Arzt  und  Psychologe  über  das  Maß  der  Unterrichtsgegenstände  erste  Ent- 
scheidving  hätten"  (S.  55),  und  daß  die  Schule  der  , »ständigen  Inspektion" 
eines  Arztes  unterstehe.  Die  in  der  Gegenwart  noch  nicht  überall  erledigte 
Schularztfrage  hat  also  Th.  bejahend  beantwortet  (S.  46).  Wegen  derselben 
Erkeimtnis,  daß  zu  den  geistigen  auch  gewisse  körperliche  Voraussetzungen 
für  einen  erfolgreichen  Besuch  der  Schule  gegeben  sein  müssen,  erklärt  sich 
Th.  gegen  die  Aufnahme  von  Schülern,  welche  jünger  als  12  oder  10  Jahre 
seien  (S.  33),  und  schreibt  sogar  den  an  Plato  erinnernden  Satz  (Archiv  für 
Philosophie  26,  409ff.),  welcher  vielen  Gegenwartseltern  wohl  ungeheuerlich 
klingt,  daß  ,,der  Lehrer  entscheiden  solle,  ob  das  Kind  auf  eine  höhere  oder 
auf  die  gewöhnliche  Form  des  Lebens  hinweist"  (S.  34).  Ebenso  soll  „die  An- 
stalt alle  ungezogenen  Schüler  den  Eltern  zurückgeben  können 
(S.  87ff.);  wie  auch  Gegenwartspädagogen  zu  erweisen  sich  bemühen,  daß  der 
Junge  auf  Gnmd  eines  zwischen  Eltern  und  Schule  abgeschlossenen  Vertrages 
die  Anstalt  besuche,  und  daß  letztere,  wie  die  Eltern,  das  Recht  habe,  dieses 
Abkommen  jederzeit  zu  lösen,  auch  wenn  keine  schweren  Vergehen  gegen 
Schulgesetze,  sondern  nur  die  Überzeugung  bei  dem  Lehrerkollegium  vorliege, 
daß  die  Anwesenheit  des  Schülers  für  seine  Kameraden  unheilvoll  sei;  z.  B. 
können  manche  vielfach  leicht  genommenen  Neigungen,  z.  B.  zur  Lüge,  Bos- 
heit, Onanie,  wie  eine  ansteckende  Krankheit  wirken,  so  daß  ich  den  Fuchsischen 
Tadel  gegen  Th.,  welcher  den  sich  Verfehlenden  aus  der  Anstalt  aus- 
schließen will  (S.  88  und  120),  auf  Grund  persönlicher  Erfahrungen  nicht 
bilügen  kann.  Nebenbei  gesag;  bietet  die  neueste  bayrische  Schulordnung 
von  1914  die  Möglichkeit  zu  einer  derartigen  ,, Ausscheidung"  eines  Schülers. 

Im  Zeitalter  der  hochbedauerlichen  Kinderselbstmorde  wird  wohl  mancher 
wahi-e  Freund  der  Jugend  wünschen,  daß  der  für  Kind  und  Allgemeinheit  mit- 
unter gleich  verhängnisvollen  Elterneitelkeit  dieselbe  von  Th.  vorgeschlagene 
Schranke  gezogen  sei.  Umgekehrt  will  Th.,  in  dem  fortschrittliche  und  kon- 
servative Gedanken  eine  eigenartige  Verbindung  eingehen,  Vertreter  der  Eltern- 
schaft in  den  „Ortsschulvorstand",  wie  Gegenwartselternvereinigungen  z.T. 
mit  Erfolg  begehren,  aufgenommen  sehen  (S.  44).  Wenn  auch  Th.,  der  auch 
das  in  der  Gegenwart  sehr  mnstrittene  Abiturientenexamen  als  etwas  ,, Un- 
sittliches" in  der  vorhandenen  Form  verwirft  (S.  90),  für  die  Jugend  volles 


Rezensionen.  36B 

Verständnis  und  warmes  Herz  zeigt,  ein  verweichlichtes  Geschlecht,  dem 
keine  Arbeit  zugemutet  werden  darf,  will  Th.  nicht  auf  dem  GjTnnasium  haben ; 
denn  die  Stundenzahl  der  untersten  Klasse  ist  zwar  halb  so  groß  als  in  der 
Gegenwart,  steigt  aber  in  den  höheren  Klassen,  besonders  nach  erlangter 
körperlichen  Reife  bedeutend  über  die  in  unseren  Tagen  übUche.  Auch  eine 
sehr  lebhaft  betonte  häusliche  Weiterbildung  und  Selbsttätigkeit,  be- 
sonders in  den  von  der  Schule  wenig  oder  nicht  gelehrten  Fächern,  nimmt 
Zeit  und  Kraft  des  Jünglings,  ,, dessen  Rezeptivität  zugleich  selbständige 
Reproduktivität  ist"  (S.  66),  sehr-  in  Anspruch. 

Zum  Schluß  gedenke  ich  nur  kurz  der  Ausführungen  Th.s  über  das  Ver- 
hältnis von  Schule  und  Kirche,  die  in  gegenseitiger  Freiheit  und  freundschaft- 
licher Achtung  zu  einander  stehend  gedacht  werden  (S.  29  ff.).  Bei  der 
eingehenden  Besprechung  der  Gliederung  der  Schulen  wird  u.  a.  der  unsozial 
wirkende  Name  ,, Volksschule"  abgelehnt  (S.  33).  Was  Th.  über  den  ,, ge- 
borenen" Lehrer  und  Direktor  mit  einer  Reihe  trefflicher  Eigenschaften, 
über  Vor-  und  Weiterbildung,  über  angemessene  Besoldung  und  Auszeich- 
nung, über  den  ,, widersinnigen"  Titel  Oberlehrer  sagt  (S.  46ff.),  enthält 
auch  manche  feine  Beziehung  zur  Gegenwart.  Die  sehr  idealistische  Auf- 
fassung des  Verhältmsses  von  Schule  und  Haus  diü-fte  leider  vor  der  rauhen 
Wirküchkeit    kaum   immer   Stand   halten  (S.  92  ff.). 

Aus  Raumrücksichten  muß  ich  mich  mit  vorstehenden  Hinweisen  auf 
einzehie  Gedanken  Th.s  begnügen,  und  möchte  nur  nochmals  wiederholen, 
daß  Th.  Gedanken,  die  Fuchs  geschickt  entwickelt,  vielfach  befrvichtend 
wirken  können,  besonders  weim  man  zu  den  Originalwerken  des  Kieler 
Universitätsprofessors  zurückgeht.  Vielleicht  ist  ihnen  nach  der  eingehenden 
Würdigung  des  Verfassers  auch  eine  kritische    Xeuausgabe    beschieden! 

Dr.  .Tegel. 


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Herausgegeben  von  E.  Bergmann.    Leipzig,  Krüner. 
Hall,   St.,   Die   Begründer  der  modernen  Psj'chologie  (Lotze,   Fechner.   Hel- 

holtz,  Wundt).     Leipzig,  Meiner. 
Herbart,  J.  F.,  Ethik.     Herausgegeben  von  Flügel  und  Fritzsch.     Leipzig, 

Klinkhardt. 
Herbart,  J.  F.,  Lehrbuch  der  Psychologie.     Ebda. 

Kants  Werke.    Herausgegeben  von  E.  Cassirer.    Bd.  5  und  6.    Berlin,  C'assirer. 
Kants  populäre  Schriften.     Bibliothek  in  Wiss.  I. 
Külpe,  O.,  Die  Philosophie  der  Gegenwart.    6.  Aufl.    Aus  Natur  und  (ieistes- 

we!t. 
Ott,  E.,  H.  Bergson.     Aus  Natur  und  Geisteswelt. 
Piatons  Dialog  Phaidros.     Übersetzt  und  erläutert  von  C.  Rittei.     Leipzig, 

Meiner. 
Piatons  Menon.     Übersetzt  und  erläutert  von  Apelt.     Ebda. 
Rousseaus  Bekenntnisse  aus  seiner  Jugend.     Bibliothek  in  Wiss.  I. 
Schopenhauer,  Von  der  Nichtigkeit  des  Daseins.     Ebda. 
Spinoza,  Ethik.     Ebda. 
Stähler,  P.,  J.  G.  Fichte,  ein  deutscher  Denker.     JBerlin,  L.  Simion  Nf. 


Die  neuesten  Erscheinungen  a.  d.  Gebiete  der  Gesch.  d.  Philosophie.     365 

Überwegs  Grunchiß  der  Geschichte  der  Philosophie.  Teil  2:  Die  inittlere 
oder  die  patristische  und  scholastische  Zeit.  10.  Autl.  Herausgegeben 
von  M.  Baumgarten.     Berhn,  Mittler. 

B.    Englisch-amerikanische    Literatur. 

Bailey,  M.,  Müton  and  Jacob  Böhme.     New  Jork,  Oxford  University  Press. 
De  Morgan,  A.,  The  life  and  ^\ork  of  Newton.     Chicago,  The   Open  Coiwt 

Publishing  Company. 
KaUen.  H.,  William  James  and  Henri  Bergson.   A  study  in  contrasting  theories 

of  Hfe.    Chicago,  The  University  of  Chicago  Press. 
Painter,  G.,  The  philosophy  of  Christ's  temptation.     Boston,  Sheiman  &  Co. 
Rand,  B.,  ßerkelej^  and  Percival.     Cambridge,  University  Press. 
Spinoza.  Benedicti  Opera.      Edited  bj'  van  Vloten  and  Land.     The  Hague, 

M.  Nii 


C.    Italienische    Literatur. 

D'Ercoie.   P.,   L'antico  Egitto  c   la   Caldea   come   precm-sori   dell'   ebraismoe 

del  cristianesimo.     Bolgna. 
Mondolfo,  R.,  Francesco  Acri  e  ü  suo  pensiero.     Bologna,  Zanichelli. 
Pelazza,   A.,    Guglielmo   Schuppe   e   la   filosofia   dell'   immanenza.      Libreria 

Editrice  Milanese. 
Puleini,  C,  L'etica  di  Spinoza.     Genova,  Formiggini. 


Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Ztitschrift  für  Philosophie  und  j)hilosophische  Kritik.  Bd.  155  H.  2.  Dorner, 
Hartmaims  Pessimismus  mit  Rücksicht  auf  Korwans  Aufsatz  im 
Band  149  dieser  Zeitschrift.  —  Bd.  156  H.  1.  Falkenborg,  Fichte. 
Dosenheimer,  Fichtes  Idee  des  deutschen  Volkes.  Kleinpeter,  Goethe, 
Kant  und  Schiller.  —  Bd.  156  H.  2.  Kinkel,  W.  Wundts  Ethik. 
Schwarz,  Eine  neue  Metaphysik  der  Geschichte.  Schwandtke,  Zur 
Kritik  von  Ostwalds  Monismus. 

Philosophisches  Jahrbuch.  Bd.  XXVII  H.  4.  GemeUi,  H.  Bergson  und  die 
itahenische  Neuscholastik.  Minges,  Zur  Erkenntnislehre  des  Franzis- 
kaners Johannes  von  Rupella.  Baeumker,  Zur  Rezeption  des  Aristoteles 
im  itaüenischen  Mittelalter.  Schreiber,  Die  Erkenntnislehre  des  heil. 
Thomas  und  che  moderne  Erkenntniskritik.  —  ■  Bd.  XXVIII  H.  1. 
GemeUi  und  Olgiati,  Die  zeitgenössische  Philosophie  in  Itahen.  Brühl, 
Die  spezifischen  Sinnesenergien  nach  «T.  Müller  im  Lichte  der  Tat- 
sachen.    Dyi-off,  Über  Heinrich  und  Dietrich  von  Freiberg. 


366  Historische  Abhandlungen  in  den  Zeitschriften. 

Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Bd.  XXXIII  H.  1  und  2.  Freytag,  Be- 
merkungen zu  Loibnizens  Erkenntnistheorie  im  Anschluß  an  Couturats 
Werk  „La  logic(ue  de  Leibniz  d'apres  des  documents  inedits". 

Kont-Studien.  Bd.  XIX  H.  1  und  2.  Medicns,  Bemerkungen  zum  Problem  der 
Existenz  mathematischer  CJegenstände.  Königswald,  Über  Thomas 
Hobbes'  sj'stematische  Stellung.  Spitzer,  Der  unausgesprochene 
Kanon  der  Kantischen  Erkenntnistheorie.  Rickert,  Über  logische  und 
ethische  Geltung.  Hell,  Robert  Mayer.  —  H.  3.  Curtius.  Das  .Schema- 
tismuskapitel in  der  Kritik  der  reinen  Vernunft.  Scholz,  Zu  „Alexander 
von  Goch".     Pichler,  ^^'indelbands  Einleitung  in  die  Philosophie. 

Logos.  Bd.  V  H.  2.  Bauch,  Die  Diskussion  eines  modernen  Problems  in  der 
antiken  Philosophie. 

The  philosophical  Rerieir.  Vol.  XXIII.  G.  Delbos,  French  works  on  the  history 
of  philosophy  from  1909  to  1913.  Ewald,  German  philosophy  in  1913. 
Ciimiingham,  Bergson's  conception  of  finality. 

The  Journal  of  Philosophy,  Psychology  and  scientific  Methods.  Vol.  XII.  1. 
Sheldon,  The  ^-ice  of  modern  philosophy.  Armstrong,  The  principle 
of  international  ethics.  —  3.  Adams,  The  Mind's  Knowledge  of  reahty. 
Russell,  Hockings  argument  from  experience. 

The  Monist.  Vol.  XX\  .  1.  Garbe,  St.  Thomas  in  India.  Jourdain,  Newton's 
hypothesis  of  ether  and  of  gravitation  from  1672  to  1679.  Thorndike, 
Some  medieval  conceptions  of  magic. 

The  Neic-Chnrch  Bevieic.  Vol.  XXII.  1.  Hay,  Foreword.  Smj'th,  Intro- 
duction.  Goddard,  The  Decalogue  the  Law  of  Xations.  Hite,  Scholars 
as  War  Makers.  Mc  George,  New-Church  Doctrines  applied  to  the  War. 
Boeder,  The  Substance  behind  the  Shadow.  Hoeck,  The  First  and 
Second  Comings  of  the  Lord. 

Isis.  1Ö14.  5.  Mikami,  On  the  Japanese  theory  of  determinants.  Berthier, 
Le  mecanisme  cartesien  et  la  physiologie  au  XVII  siecle.  Mieli,  Van- 
noecio  Biringuccio  ed  il  methodo  sperimentale.  Titrriere,  La  notion 
de  tx'anscendance  geometrique  chez  Descartes  et  chez  Leibniz.  L'in- 
terscendance  leibnizienne  et  l'hypertranscendance.  Sarton,  Soixante- 
deux  revues  et  collections  consacrees  a  l'histoire  des  sciences. 

Bilychis.  Anno  III.  F.  XL  Neal,  Maine  de  Biran.  Murri,  Stato  e  chiesa  negli 
scrittori  itaUani.  Rubbiani,  Gioberti.  F.  R.,  Rousseau.  Gide,  Charles 
Peguy.     Formiehi,  Michele  Kerbaker.     Costa,  IMitra  e  Diocleziano. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

A.  Deutsche  Literatur. 

Arnim,  H.  v.,  Phitos  Jugenddialoge  und  die  Eatstehungszeit  des  Phaidros. 

Leipzig,  Teubner. 
Binder,  JuL,    Rechtsbegriff  und   Rechtsidee.     Bemerkungen    zur  Rechts- 
philosophie Rudolf  Stammlers.    Leipzig,  Deichert. 
Cauer,   P.,    Das  Altertum   im   Leben   der   Gegenwart.     Zweite   Autlage. 

Leipzig,  Teubner. 
Dietzgen,  E,  Dietzgen-Brevier  für  Naturmonisten.    München,  Verlag  der 

Dietzgenschen  Philosophie. 
Hall,  Stanley,  Die  Begründer  der  modernen  Psychologie  (Lotze,  Fechner, 

Helinholtz,  Wundt).     Cbers.  Ton  R.  Schmidt.     Leipzig,  Meiner. 
Hertz,  Fr.,  Rasse  uu'i  Kultur.     Leipzig,  Kröner. 
Hilz,  P.,   Die   Natur,    eine  Auferstehung   zu   Gott,    dem  Geiste.    Berlin, 

L.  Simion  Nf. 
Hosius,    C,    L.  Annaei  Senecae    de    beneficiis    libri  VII    de    dementia 

libri  IL    Leipzig,  Teubner. 
Jcliak,  F.,  Das  Perpetuum  mobile.    Leipzig,  Ebd. 
Kirmss,  P.,  Seid  männlich  und  seid  stark.    Zwölf  Kriegspredigten.  Berlin, 

Protestantischer  Schriftenvertrieb. 
Kriegspredigten.      Die    Festpredigt    des    freien    Christentums    Bd.    17. 

"  Berlin,  Ebd. 
Lempp,    0.,    Friedrich    Schiller.      Die    Religion    der    Klassiker    Bd.    7. 

Berlin,  Ebd. 
Meier,  M.,  Descartes  und  die  Renaissance.    Münster,  Aschendorff. 
Pelikan,  F.,  Entstehung  und  Entwicklung  des  Kontingentismus.    Berlin, 

L.  Simion  Nf. 
Pfannkuche,  A.,  Staat  und  Kirche.     Leipzig,  Teubner. 
Piatons  Dialog  Sophistes.    Gbers.  und  erläutert  von  Otto  Apelt.    Leipzig, 

Meiner. 

—  Dialog  Politikos  oder  Vom  Staatsmann     Übers,  und  erläutert  von 
Otto  Apelt.    Leii^zi?,  Ebd. 

—  Dialog  Phaidros.     Übers,  "von  Const.  Ritter.    Leipzig,  Ebd. 

—  Dialog  Menon   oder  Über  die  Tugend.     Übers,  und  erläutert  von 
Otto  Apelt.     Leipzig,  Ebd. 

Söhngen,  G.,  Über  analytische  und  synthetische  Urteile.     (Diss.)     Köln. 
Spicker,  G,  Vom  Klo^ter  ins  akademische  Lehramt.    Münster,   E.  Ober- 
tüschens  Buchhdlg. 


368  Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

Vahlen,  J.,  Beiträge  zu  Aristoteles  Poetik.     Leipzig,  Teubner. 
Wartensleben,  G.  Gräfin,    Die    christliche    Persönlichkeit   im    Idealbild. 

Kempten,  Kösel. 
Weinstein,  M.  B.,  Der  Untergang  der  Welt  und  Erde.  Leiitzig,  Teubner. 
Wolff,  A.,    Der  Toleranzgedanke    in    der    deutscheu  Literatur  zur  Zeit 

Mendelsohns.     Berlin,  Mayer  &  Müller. 

B.  Englische  Literatur. 

Bailey,  M.  L.,    Milton    and    Jakob    Boehme.      New  York,     Oxford    Uni- 

versity  Press. 
Moore,  Th.  V.,  A  historical  introduction  to  ethics.    New  York,  American 

book  Company. 


Archiv  für  Philosophie. 

I.  Abteilung: 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie, 

Neue  Folge.     XXI.  Band,   4.  Heft. 


XL 

Die  Frage  nach  dem  Seeiendualismus  bei  Augustinus. 

Von 
Dr.  Kratzer,  Regensburg. 

(Schluß  aus  dem  vorigen  Heft.) 

x\ugustiniis  erklärt,  daß  das  Denken,  die  Vernunft  des  Menschen 
die  intelligible  Wirklichkeit  nicht  hervorzubringen  vermöge;  es  nuiß 
aber  eine  unmittelbare  Verbindung  mit  der  transzendenten  Welt 
bestehen,  da  sonst  ein  Erfassen  derselben  im  Erkennen  nicht  möglich 
wäre.  Wie  die  ganze  Wirldichkeit,  nicht  bloß  die  vom  körperlichen 
Sein  losgelösten  allgemeinen  Wahrheiten,  die  als  Beurteilungsnormen 
gelten,  sondern  auch  die  ratioues,  die  in  den  Dingen  sich  auswirken, 
im  Denken  ihren  Grund  haben,  so  kann  deren  Erfassung  im  Verstände 
des  geschöpfUchen  Wesens  nur  kraft  der  Wirksamkeit  der  schaffenden, 
absoluten  Vernunft  vollzogen  werden.  In  ihr  finden  sich  Denken  und 
Sein  in  Einheit  vereinigt;  und  auch  nach  deren  Auflösung  in  die 
Vielheit  ist  das  Sein  seinem  Wesen  nach  nichts  anderes  als  der  Gedanke 
des  Absoluten,  so  daß  in  der  Erkenntnis  der  Dinge  das  Denken  eigent- 
lich nur  sich  selbst  erfaßt.  Denn  die  Erkenntnis  ist  nach  de  magistro 
nur  ein  Vergleichen  zwischen  der  in  der  Seele  sich  offenbarenden 
Wahrheit  und  dem  durch  die  Erfahrung  im  Denken  gewonnenen 
Erkenntnisresultate  (cf.  Storz  a.  a.  0.,  Gangauf  a.  a.  0.,  Enn.  I, 
1,  9;  2,  4). 

Wenn  auch  so  nicht  verborgen  bleiben  kann,  daß  Augustinus 
oft  nahe  daran  ist,  die  Grenzen  zwischen  natürlichem  und  über- 
natürhchen  Sein,  zwischen  Schöpfer  und  Geschöpf  im  Fluge  seiner 
Spekulation  aufzuheben,  und  besonders  in  der  Frage  nach  dem  Ur- 

Arehiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  4.  24 


370  Kiat/.er, 

Sprunge  unserer  Erkenntnis,  und  der  Erklärung  der  Tatsache,  daß 
die  mens  AVissen  in  sieh  habe,  ohne  sieh  dessen  bewußt  zu  sein  (De 
Trin.  IX,  3,  3;  X,  8,  11),  nach  der  platonischen  Präexistenzlehre 
zurückzugreifen  geneigt  ist,  oder  an  Stelle  derselben  eine  geheimnis- 
volle Verbindung  der  Seele  mit  der  Gottheit  setzt,  und  diese  Ver- 
bindung, die  er  als  particij)atio  bezeichnet,  im  unwandelbaren  Elemente 
der  mens  zur  Hypostase  steigert,  so  muß  doch  immer  wieder  darauf 
hingewiesen  werden,  daß  unser  Denker  mit  Entschiedenheit  eine 
Identifizierung  der  Seele  und  der  Gottheit  bekämpft,  wenn  dieses 
auch  weniger  unter  philosophisch  spekulativen,  als  vielmehr  unter 
theologisch-dogmatischen  Gesichtspunkten  geschieht.  In  dieser 
Denkweise  bezeichnet  Augustinus  die  Annahme,  daß  die  Seele  gleich 
Gott  sei,  als  fluchens werte  Gotteslästerung,  und  er  kann  nicht  umhin, 
das  Verderben  vor  dem  Angesichte  Gottes  auf  die  Vertreter  einer 
solchen  Meinung  herabzurufen.  (Conf.  VIII,  10,  22:  pereant  a  facie 
tua  deus  sicuti  pereunt  vaniloqui  et  mentis  seductores,  qui  cum  duas 
voluntates  in  deliberando  animatverterint,  duas  naturas  duaruni 
mentium  esse  asseverant,  unam  bonam,  alteram  malam.  Ipsi  vere  mali 
sunt,  cum  ista  mala  sentiumt,  et  iidem  ipsi  boni  erunt  sivera  senserint. 

verisque  consenserint isti  enim  dum  volunt  esse  lux,  non  in  domino, 

sed  in  se  ipsis,  putando  animae  naturam  hoc  esse  quod  deus  est,  ita 
facti  sunt  densiores  tenebrae :  quoniam  longius  a  te  recesserunt  horrenda 
arrogantia,  a  te  vero  lumine  illuminante . . .  attendite  quid  dicatis  et 
erubescite  et  accedite  ad  eum  et  illuminamini  et  vultus  vestri  non 
erubescent.) 

Doch  kann  hier  die  Frage  nicht  umgangen  werden,  ob  Augustinus 
mit  seiner  Polemik  gegen  die  falsche  Lehre  über  das  Wesen  der  Seele 
seinen  theoretischen  Konsequenzen  zu  entgehen  vermag.  Augustinus 
hat  hier  den  manichäischen  Seelenduahsmus  im  Auge,  den  er  be- 
kämpft, und  kommt  insofern  für  unsere  Frage  nicht  in  Betracht. 
Wichtiger  ist,  was  er  aus  dem  Prädikate  der  Veränderhchkeit,  Wandel- 
barkeit der  Seele  für  ihi-  Verhältnis  Gott  gegenüber  folgert;  wie  kann 
die  veränderliche  Seele,  die  bald  dem  Guten,  bald  dem  Schlechten 
sich  zuwendet,  bald  töricht,  bald  weise  ist,  bald  zu  wissen  verlangt, 
bald  in  Untätigkeit  verharrt,  der  unveränderhchen  ewigen  Gottheit 
gleichgesetzt  werden.  (De  v.  rel.  30,  54:  Ciarum  est,  eam  esse  mu- 
tabilem,  quando  nunc  perita,  nunc  imperita  invenitur;  tanto  autem 
melius  judicat,  quanto  est  peritior  et  tanto  est  peritior,  quanto  alicuius 


Die  Frage  nach  dem  Seeleiidualisnms  bei  Augustinus.  371 

artis  vel  discipliuae  vel  sapientiae  particeps  est.  Ep.  166,  3:  quod  si 
esset,  nee  deficeret  in  deterius,  nee  proficeret  in  melius,  nee  aliquid 
in  semet  ipsa  vel  inciperet  habere,  quod  non  habebat,  vel  desineret 
habere  quod  habebat . . .  non  est  pars  Dei  anima,  si  enim  hoc  esset 
onmino  incommutabihs  atque  incorruptibihs  esset.  De  an.  et  eius 
orig.  I,  4.) 

Mit  diesen  Erklärungen  hat  Augustinus  einer  Forderung  genügt, 
nänihch  den  Begxiff  der  Seele,  wie  sie  im  Bewußtsein  sich  zeigt,  nicht 
mit  der  Gottheit  zusammenfallen  zu  lassen,  und  er  konnte  dies  umso 
leichter,  da  ja  sein  SeelenbegTiff  vielgestaltige  Beziehungen  ein- 
schließt. Seele  ist  ihm  zunächst  nicht  mehi-  als  der  Gegensatz  zum 
leblosen  Körper,  mit  deren  Verbindung  er  erst  organischer,  belebter 
Körper  wird.  Die  Seele  ist  Leben  und  darum  in  ilu'er  Verbindung  mit 
dem  Körper  Prinzip  des  belebten  Körpers,  (De  fide  et  symb.  10,  23: 
deinde  vita  qua  conjungimur  corpori  anima  dicitur.  Enn.  in  ps.  105, 15 
itaque  hoc  loco  animam  non  secundum  id,  quod  rationalis  est  dixit, 
sed  secundum  id  quod  animam  corpus  animal  facit,  dixit).  Sie  ist 
formendes  Prinzip,  welches  dem  Körper  seine  besondere  spezifische 
Eigenart  aufdrückt  und  seine  Stelle  im  Keiche  des  Seins  bestimmt 
(De  immort.  an.  15,  24;  de  quant,  an.  33,  70). 

Erst  in  einem  weiteren  Sinne  hat  dann  Augustinus  auch  das 
rationale  Element  in  den  Seelenbegriff  hineingezogen  und  damit  den 
Begriff  der  Seele  erst  gewonnen  (quaest  7;  de  Trin.  XV,  7,  11),  ohne 
jedoch  damit  die  Beziehungen  zum  Körper  zu  verlieren;  allerdings 
darf  dabei  nicht  übersehen  werden,  daß  x\ugustinus  anstatt  des  Be- 
griffes anima  den  Begriff  animus  setzt,  wohl  um  damit  bereits  eine 
höhere  Ordnung  der  Seele  anzuzeigen.  Die  Seele  ist  dann  eine  Substanz, 
welche  die  Vernunft  besitzt,  und  dem  Körper  zu  seiner  Leitung  ge- 
geben ist  (De  Quant  an  13,  22),  was  dasselbe  bedeutet,  wenn  er  De 
Trin.  XV,  7, 11,  an  den  Begriff  der  anima  festhält  und  ein  auszeichnen- 
des Merkmal  ihm  beigibt,  den  Begriff  der  mens ;  wie  er  denn  auch  in 
einfachen  Worten  es  ausspricht  XII,  1,  1:  animus  qui  substantia 
spiritahs  est,  was  man  schheßhch  auch  noch  auf  die  spiritueUe  Schauung 
deuten  könnte,  zudem  er  de  an.  et  eius  orig.  IV,  23  meint,  daß  animus 
nur  den  Tieren  zukomme;  in  De  Trin.  XV,  1,  1  setzt  er  animus  aller- 
dings identisch  mit  mens.  Und  da  erhebt  sich  nun  für  Augustinus  eine 
weitere  Aufgabe,  nach  der  Aufnahme  des  rationellen  Faktors  in  dem 
Seelenbegriff  die  Einheit  der  Seele  zu  beweisen,  das  Verhältnis  von 

24- 


372  Kratzer, 

Seele  und  Geist  näher  zu  bestimmen,  um  so  allen  pantheisierenden 
Tendenzen  den  j-^oden  zu  entziehen:  Seele  und  Vernunft  bzw.  Seele 
und  Geist  müssen  im  Menschen  in  Einheit  gedacht  werden.  Inwieweit 
es  unserem  Denker  oelungeu  ist,  diese  Einheit  zu  behaupten,  werden 
wir  noch  sehen.  Wenn  Gangauf  die  Identität  beider  aus  sermo  128, 
wo  Augustinus  erklärt:  homo  enim  constat  ex  corpore  et  spiritu  (cf. 
])e  Trin.  XIV,  16,  22)  im  Zusammenhalt  mit  De  civ.  Dei  XIV,  4,  2: 
et  ab  anima  namque  et  a  carne  quae  sunt  partes  hominis,  potest  totum 
significari  quod  est  homo,  ableiten  will,  so  geht  er  über  den  in  diesen 
Stellen  niedergelegten  Gedanken  hinaus,  da  die  Begriffe  bei  Augustinus 
nicht  eindeutig  bestimmt  sind,  und  aus  den  angezogenen  Stellen 
auch  die  Identität  zwischen  Seele  und  Körper  mit  gleichem  Kechte 
gefolgert  werden  könnte.  Eine  unmittelbare  Beziehung  zwischen 
Seele  und  Geist  hat  Augustinus  hier  nicht  hergestellt;  diese  finden 
wir  in  De  an.  et  eins  orig.  2,  2,  in  der  Erldärung  zweier  dogmatischer 
Stellen  aus  der  heiligen  Schrift,  bei  der  man  freilich  im  Zweifel  sein 
kann,  ob  in  der  Deutung  der  Worte:  et  factus  est  homo  in  animam 
vimam  nicht  eine  Erschleichung  vorliegt.  Doch  es  genügt  zu  wissen, 
daß  Augustinus  den  ersten  Teil  der  Stelle:  itane  tu  ignorabas,  duo 
quaedem  esse  animam  et  spiritum  secundum  id  quod  scriptum  est 
alisolvisti  a  spiritu  meo  animam  meam,  et  utcumque  ad  naturam 
hominis  pertinere,  ut  totus  homo  sit  spiritus  et  anima  et  corpus, 
erklärt  durch  den  zweiten:  sed  aliquaiulo  duo  ista  siinul  nomine 
animae  nuncupari,  quäle  est  illud:  et  factus  est  homo  in  animam 
vivam:  ibi  quippe  et  spiritus  intelHgitur,  itemque  aliquando  utrumque 
nomine  spiritus  dici  sicuti  est:  et  inclinato  capite  tradidit  spiritum, 
ubi  et  anima  necesse  est  inteUigatur  et  utrumque  unius  esse  sub- 
stantiae  und  damit  seine  praktische  Stellungnahme  diesem  Probleme 
gegenüber  uns  offenbart. 

Das  Hauptgweicht  scheint  mir  auf  die  Ausführungen  über  das 
Wesen  der  mens  gelegt  werden  zu  müssen,  wobei  allerdings  zu  be- 
achten ist,  daß  es  in  diesem  Zusammenhange  für  Augustinus  nur 
dogmatische  Motive  sind,  die  ihn  zur  Untersuchung  üljer  die  Natur 
der  mens  veranlassen.  Es  müssen  diese  Stellen  mit  den  bereits  oben 
angegebenen  im  Znsammenhang  gehalten  werden. 

Augustinus  bestimmt  die  mens  durch  die  mannigfaltigsten  Prä- 
dikate; sie  erscheint  ihm,  wie  schon  gezeigt,  in  Rücksicht  auf  das 
Wesen  der  Inhalte  und  der  Beziehung  zu  denselben  als  die  memoria, 


Die  Fi'age  nach  dem  Seelendualisinus  bei  Aiioustiiius.  373 

als  das  dem  Menschen  auszeichnende  Merkmal  (JJe  Trin.  XV,  23,  43: 
quamquis  memoria  hominis,  et  maxime  illa,  quam  pecora  non  liabent, 
id  est,  qua  res  inteUigibiles  ita  continentur. . .),  und  tritt  uns  in  einer 
doppelten  Beziehung  entgegen,  in  der  Beziehung  auf  sich  selbst,  und 
auf  ihre  Inhalte;  sie  wird  unter  diesem  Gesichtspunkt  mit  der  mens 
schlechthin  identifiziert  (X,  11,  18:  memoria  quippe,  quae  vita  et 
mens  et  substantia  dicitur  ad  de  ipsam  dicitur:  quod  vero  memoria 
dicitur,  ad  aliquid  relative  dicitur),  und  so  kann  auch  Augustinus 
von  der  memoria,  wie  von  der  mens  sprechen,  daß  ihr  nichts  so  gegen- 
wärtig sei,  als  sie  sel])st:  nihil  autem  tani  in  memoria,  quam  ipsa 
memoria  est. 

In  De  Ti'in.  X,  5,  7  tritt  uns  die  meus  iu  anderer  Fassung  ent- 
gegen, und  zwar  hebt  hier  Augustinus  die  Wesenseigenschaften  hervor; 
die  mens  ist  intelligentia,  oder  in  pleonastischer  i\.usdrucksweise, 
intelligentia  rationalis;  sie  ist  die  spezifische  Quahtät  der  mens, 
welcher  die  Tiere  entbehren  (ibid.  X,  8,  11):  diese  hat  mit  den  sinnen- 
fälhgen  Gegenständen,  und  den  imagines  et  simihtudines  corporum 
nichts  zu  tun,  in  denen  sich  die  niedere  Seele  betätigt,  die  der  Mensch 
mit  dem  Tiere  teilt  (ibid  X,  5,  7).  In  ibid  X,  12,  19  wird  sie  unmittel- 
bai-  mit  der  memoria,  in  XV,  1,  1  mit  der  ratio  identisch  gesetzt,  und 
auf  die  mens  bezogen. 

In  Verbindung  mit  dieser  Zweiheit  läßt  Augustinus  regelmäßig, 
gleichsam  als  die  Verbindung  und  Einheit  der  memoria  und  intelligentia, 
den  Willen  oder  die  Liebe  erscheinen  (X,  21,  41),  welche  3  Momente 
in  gleicher  Weise  am  gleichen  Leben  der  mens  teilhaben.  Dei'  Wille 
ist  die  Liebe  der  mens  zu  sich  selbst,  und  so  stellt  sich  dieser  uns  dar 
als  ein  einheitliches,  sich  in  jenem  ternar  sich  entfaltendes  Sein,  das 
in  seinem  Ansichsein  (mens,  memoria),  in  seiner  Selbstkenntnis 
(inteUigentia,  notitia  sui)  und  Selbstliebe  (amor  sui)  sich  zeigt  (ibid.  XV, 
6,  100,  7,  15).  Damit  hat  Augustinus  die  Erkenntnis  und  den  Willen 
auf  eine  Wesenheit  zurückgeführt  und  wir  verstehen  jetzt  seine  Ei- 
klärung  in  X,  11,  18:  memoria  quippe,  quae  vita  et  mens  et  substantia 
dicitur,  ad  se  ipsam  dicitur;  quod  vero  memoria  dicitur  ad  aliquid, 
relative  dicitur,  hoc  de  intelHgentia  quoque  et  de  voluntate  dixerint: 
et  intelligentia  quippe  et  voluntas  ad  aliquid  dicuntur.  Vita  est  autem 
unaqueque  ad  se  ipsam,  et  mens  et  essentia.  Quocirca  tria  haec  eo 
sunt  unum,  quo  una  vita,  una  mens,  una  essentia:  et  quidquid  aliud 
a  se  ipsa  singula  dicuntur,  etiam  sinuil,  non  pluraliter,  sed  singulariter 


374  Kratzer, 

dicuntur,    die  mit  dem  soeben  Angeführten  in  den  übrigen  Stellen 
sich  deckt. 

Bei  dieser  Beweisführung  Augustins  muß  jedoch  sehr  wohl  ins 
Auge  gefaßt  werden,  worum  es  sich  für  unseren  Denker  in  diesem 
Zusammenhange  handelt.  Der  Beweisgegenstand  ist  die  Einheit  der 
Natur  in  der  Gottheit  zu  zeigen  und  deren  Nachbild  im  mcnschHchen 
Geiste.  Was  Augustinus  in  il)id.  X,  11,  18:  . . .  eo  vero  tria,  quod  ad 
se  invicem  referuntur:  quae  si  aequalla  iion  essent,  non  solum  singula 
singulis,  sed  etiam  omni])us  singula:  noji  utique  se  invicent  caperent. 
Necque  enim  tantum  a  singulis  singula,  verum  etiam  a  singulis  onmia 
capiuntur.  Memini  enim  me  habere  memoriam  et  intelligentiam  et 
voluntatem;  et  inteUigo  me  inteUigere  et  velle  atque  meminisse;  et 
volo  me  veUe  et  meminisse  et  inteUigere,  totamque  meam  memoriam 
et  intelligentiam  et  voluntatem  simul  memini  . . .  item  quidquid 
intelhgo,  inteUigere  me  scio,  et  scio  me  velle  quidquid  volo:  quidquid 
autem  scio  memini.  Totam  igitur  inteUigentiam,  totamque  voluntatem 
ineam  memini.  Simihter  cum  haec  tria  inteUigo,  tota  simul  inteUigo. 
Neque  enim  quidquam  inteUigibilium  non  intelhgo,  nisi  quod  ignoro. 
Quod  autem  ignoro,  nee  memini  nee  volo.  Quidquid  itaque  inteUigibi- 
lium non  inteUigo,  consequenter  etiam  nee  memini  nee  volo.  Quidquid 
autem  inteUigibiUum  memini  et  volo  consequenter  inteUigo  (damit 
wird  (las  inteUigere  als  stets  aktueUes  Bewußtsein  des  Geistes  auf- 
gefaßt,  nicht  als  ein  bloß  habituelles,  das  das  cogitare  iioch  voraus- 
setzt). Voluntas  etiam  mea  totam  inteUigentiam  totamque  memoriam 
meam  capit,  dum  toto  utor,  quod  inteUigo  et  memini.  Quai)ropter 
quando  invicen  a  singuUs,  et  tota  omnia  capiuntur,  aequaha  sunt  tota 
singula  totis  singuUs,  et  tota  singula  sinuil  omnibus  totis,  et  haec  tria 
unum.  unavita,  una  mens,  una  essentia,  von  dem  Verhältnis  der 
einzelnen  GUeder  der  bekannten  Triade,  von  ihi'er  gegenseitigen  Durch- 
di'ingung  und  einheitlichem  Zusammensein  in  einer  Wesenheit,  so  daß 
der  Teil  dem  Ganzen  das  Ganze  dem  Teil  immanent  ist,  und  was  er 
weiterhin  zu  sagen  weiß  von  der  bezeichneten  verschiedenen  Tätig- 
keits weise  derselben,  die  aUe  in  einem  Ich  sich  treffen  (XV,  21,  41  f.), 
das  läßt  er  auch  mit  schwankenden  Modifikationen  von  der  Trinität 
gelten  (XV,  17,  28). 

In  diesem  Zusammenhange  nmß  der  VoUständigkeit  halber 
noch  auf  eine  andere  Stelle  hingewiesen  werden.  In  De  Trin.  XI,  2,  2 
führt  Augustinus  aus,  welche  Elemente  im  Begriffe  der  Liebe,  in  dem 


Die  Frage  nach  dem  Seelenclualisraus  bei  Augustinus.  375 

sich  der  Begriff  der  Gottheit  erschöpfe  (XV,  17,  '29),  eingeschlossen 
sind,  und  erörtert  denselben  speziell  in  der  Anwendung  auf  die  Selbst- 
liebe der  mens.  Das  durch  diese  Untersuchung  gewonnene  Erkenntnis- 
resultat, daß  es  etwas  anderes  sei,  sich  selbst  zu  lieben  und  etwas 
anderes,  seine  Selbstliebe  zu  lieben,  d.  h.  das  wohl  zu  unterscheiden 
sei  zwischen  dem  Objekt  der  Liebe,  und  der  Liebe  als  einer  beziehenden 
Tätigkeit,  überträgt  er  dann  auch  auf  die  mens,  insofern  sie  sich  liebt, 
und  kommt  in  der  Frage  nach  dem  Seinswerte  und  der  Reaütät  der 
Selbstliebe  der  mens  zur  Betrachtung  des  Verhältnisses  zwischen  mens 
und  Spiritus.  Daß  es  sich  hierbei  um  eine  wirkhche  Vielheit  von  Prin- 
zipien handelt,  dürfte  die  ganze  Art  und  Weise  der  Darstellung  von 
Seite  Augustinus  zeigen,  wenn  auch  seine  Auffassung  in  dieser  Sache, 
wo  es  sich  darum  handelt,  die  Einheit  der  Gottheit  auch  in  der  Seele 
dargestellt  zu  finden,  nicht  eine  zweifellos  klare  und  bestimmte  ist. 
Spiritus  und  mens  faßt  er  in  der  Gegenüberstellung  zum  Körper,  aus 
deren  Verbindunii'  der  Mensch  bestehe,  gleichwertig,  d.  h.  als  selbst- 
ständii^e  Weseidieiten,  die  auch  nach  Auflösung  des  compositum  homo 
retracto  corpore  noch  fortbestehen:  non  enim  quia  mens  et  spiritus 
ahcuius  hominis  est  ideo  mens  et  spiritus  est.  Retracto  enim  eo  quod 
homo  est  quod  adjuncto  corpore  dicitur;  retracto  ergo  corpore  mens 
et  spiritus  manet.  Und  es  verhält  sich  hierljei  nicht  so  wie  bei  den 
relativen  Größen  der  Liebe,  daß  mit  der  Aufhebung  des  einen  Elementes 
auch  das  andere  aufgehoben  ist:  et  haec  quideni  duo  relative  ad 
invicem  dicuntur.  Amans  quippe  ad  amorem  refertur  et  amor  ad 
amantem.  Amans  enim  aliquo  amore  amat,  et  amor  alicuius  amantis 
est  ....  retracto  autem  aniante,  nullus  est  amor,  et  retracto  amore, 
nullus  est  amans.  Die  Beziehung  zwischen  mens  und  spiritus  ist  eine 
Beziehung  auf  das  Wesen:  essentiam  demonstrat,  nicht  eine  Be- 
ziehung, wie  sie  besteht  zwischen  der  Substanz  und  deren  Qualitäten: 
simul  etiam  admonemur,  si  utcumque  videre  possumus,  haec  in 
anima  existere  et  tamquaminvolut  aevolvi  ut  sentiantur  et  dinumerantur 
substantiahter,  vel  ut  ita  dicam,  essentialiter,  non  tamquam  in  sub- 
jecto  ut  color  aut  figura  in  corpore  aut  uUa  aha  quahtas  aut  quantitas. 
Quidquid  enim  tale  est,  non  excedit  subjectum  in  quo  est.  Non  enim 
color  iste  aut  figura  huius  corporis  potest  esse  et  alterius  corporis. 
Mag  das  Wissen  und  die  Liebe  der  mens  in  der  Identität  mit  der  mens 
ein  substantiales  Sein  darstellen,  da  ja  beide  in  ilu'er  Tätigkeit  über 
die  mens  hinausgehen  und  auf  eine  Vielheit  und  Mannigfaltiirkeit  von 


876  Kratzer, 

Objekten  sich  beziehen  können,  und  we^cn  ihres  identischen  Kinlieits- 
j)unktes  in  der  mens  anch  für  einander  gesetzt  werden  können  (IX,  4,  5), 
so  trifft  dieses  Verhältnis  bei  (Ümi  Begriffen  der  mens  nnd  sjjiritus 
nicht  zn:  sie  sind  keine  relativen  Größen,  die  etwa  da(birch  zur  Ein- 
heit verschmelzen,  daß  sie  einem  Menschen  angehören.  (IX,  4,  6: 
cf.  Wilhelm  Heinzelmann:  Augustinus  Lehre  von  der  Unsterblichkeit 
und  Inmaterilität  der  menschlichen  Seele.  Jena  1874,  der  sich  über  den 
Begriff  des  spiritus  folgendermaßen  ausspricht:  das  Subjekt  der  Wahr- 
nehmung von  Körperbildern  wird  von  Augustinus  in  der  Regel  durch 
spiritus  bezeichnet,  und  im  Unterschiede  von  der  Vernunft,  welcher 
das  ratiocinari  und  intelligere  zukommt,  propio  sensu  definiert  als  vis 
quaedam  aninuie  mente  inferior,  ubi  corporalium  rerum  similitudines 
exprimuntur;  de  Gen.  ad  Lit.  XII,  9.  Anderseits  will  er  doch  unter 
spiritus  auch  wiederum  proprio  sensu,  distincte,  den  höheren  mit  mens 
identischen,  intellectuellen  Teil  der  menschlichen  Natur  verstanden 
wissen.  Schli(>ßlich  bemerkt  er,  die  Frage  um  den  spiritus  sei  schwierig; 
das  Wort  werde  in  der  heiligen  Schrift  in  verschiedener  Bedeutung 
gebraucht;  auch  die  ganze  Seele  werde  damit  bezeichnet,  ja  im 
\veitesten  Sinne  jede  sinnlich  nicht  greifbare  Substanz,  mithin  sowohl 
Gott  selbst  als  der  spiritus  creator,  wie  der  spiritus  creatus,  die 
Menschen-  und  Tierseele.  Was  nun  die  Anwendung  dieser  Bezeichnung 
auf  die  menschhchen  Seelenvermögen  betrifft,  so  scheint  uns  aus  der 
Vergleichung  der  hierher  gehörigen  Stellen  zu  folgen,  daß  er  zwar 
spiritus  meist  medial  wie  anima  gebraucht,  und  im  Wechsel  mit  aninui 
auf  beide  Seiten  der  menschlichen  Seelen  bezieht:  daß  er  jedoch  be- 
stimmter spiritus  fast  überall,  wo  es  im  Gegensatz  zum  Körper  steht, 
mit  Einschluß  der  mens,  also  für  die  ganze  Seele  als  ein  schlechthin 
unkörperliches,  wo  es  dagegen  im  Gegensatz  zur  mens  steht,  aus- 
schheßlich  zur  Bezeichnung  des  niederen  Teiles  der  menschlichen 
Seele  gebraucht.) 

Ich  darf  in  diesem  ZusaunncMihange  die  Frage  nicht  unerörtert 
lassen,  welcher  Wert  und  welche  Bedeutung  den  Stellen  De  Trin.  XII, 
3,  3f. ;  X,  11,  18  gegenüber  den  Stellen  De  fide  et  sym.  X,  23,  de  anim 
et  eins  orig.  4,  2;  13ff. :  De  Trin.  XV,  7,  11  zukomme.  Betrachten 
wir  die  zuerst  angegebenen  Zitate,  so  erkennen  wdr,  daß  es  Augustinus 
in  der  fraghchcn  Abhandlung  darum  zu  tun  ist,  die  mens  schlechthin 
in  den  Mittelpunkt  des  psychischen  Lebens  zu  stellen,  als  ein  Prinzip, 
von  dem  sich  Erinnern,  Denken,   Wollen  als  Tätigkeiten  herleiten. 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualisiiuis  bei  Augustinus.  377 

Der  Fragepunkt  auf  den  sich  das  Interesse  unseres  Denkers  konzentriert, 
ist,  zu  zeigen,  daiä  wir  in  der  memoria,  intelligentia,  voluntas  als 
Tätigkeiten  nicht  eben  so  viele  Substanzen  entsprechen  lassen  dürfen, 
sondern  daß  es  sich  um  Tätigkeitsweise  der  einen  lebendigen  mens 
handelt.  Die  Folgerung  geht  von  der  numerischen  Einheit  der  mens 
bzw.  der  Seele  auf  die  numerische  Einheit  der  Seelensubstanz  schlecht- 
hin. Schon  die  Bezeichnung  der  mens  als  substantia  führt  dahin,  in 
der  memoria  usw.  nicht  mehr  als  Zuständlichkeiten  zu  sehen,  die 
der  mens  als  Attribut  zugehören. 

Die  am  bezeichneten  Ort  von  Augustinus  gegebenen  Erörterungen 
stehen  schwerhch  in  einem  Zusammenhang  mit  einem  möglichen 
psychischen  Dualismus.  Mag  Augustinus  die  substantiell  eine  mens, 
die  die  bekannte  trias  in  sich  begreift,  im  Sinne  des  menschlichen  Er- 
kenntnis- und  Willensvermögens  schlechthin  fassen  oder  aber  auch 
dessen  Beziehung  zur  ewigen  Wahrheit  mit  in  den  Begriff  aufnehmen, 
so  bleibt  immerhin  seine  Behauptung  von  der  una  substantia  bestehen, 
weil  diese  Beziehung  die  metaphysische  Wesenheit  der  mens  in  keiner 
Weise  berührt.  Die  Anhaltspunkte  für  die  Annahme  eines  seelischen 
Dualismus  sind  nur  in  der  Beziehung  zwischen  menschhcher  Seele 
und  göttlicher  Vernunft  gelegen,  welcher  die  Seele  die  unwandelbaren, 
feststehenden,  allgemeinen  Sätze  verdankt  und  wodurch  die  Seele 
selbst  unvergängUch  und  unsterbHch  wird,  wobei  natüiiich  fest- 
gehalten werden  muß,  daß  diese  Verbindung  eine  innere,  lebendige, 
tintrennbare  Verbindung  ist.  Die  inteUigentia  erscheint  dann  als  die 
subjektive  Fähigkeit  oder  Disposition  der  Seele,  mit  dem  intelligiblen 
Reich  der  Wahrheit  in  Beziehung  treten  zu  können,  die  in  Kücksicht 
auf  den  apriorischen  Charakter  derselben  als  memoria  erscheint, 
(De  Trin.  X,  12,  19;  XV,  23,  43),  die  die  intelhgiblen  Dinge  in  sich 
hat  (solil  11,  17,  33:  sive  enim  figurae  geometricae  in  veritate,  sive  in 
eis  veritas  sit,  anima  nostra,  id  est  intelligentia  nostra,  contineri  nemo 
ambigit;  de  Trin.  X,  10,  13:  duobus  enim  igitur  horum  trium  memoria 
et  intelligentia  multarnm  reruni  notitia  atque  scientia  continentur). 

Es  kann  ganz  gleichgültig  sein,  wie  Augustinus  das  Verhältnis 
von  Seele  und  Geist  bzw.  von  Seele  und  Wahrheit  und  deren  obersten 
Xormen  im  Einzelnen  gedacht  hat.  Der  durchgehende  Gedanke  ist 
immer  der,  daß  die  Seele  veränderlich,  wandelbar,  daß  die  mens  ihre 
Aufmerksamkeit  auf  die  unveränderhche  Natur  richten  müsse  in  der 
Erkenntnis  der  Wahrheit  (XV,  6, 10;  XIV,  14,  20),  daß  die  unveränder- 


378  Kratzer, 

liehe  Wahrheit  dem  Geiste  gegenwärtiger  sei  als  die  Körper  und  deren 
Abbilder  dem  kür})erliehen  Schaiuingsvermögeu  (De  Gen.  ad.  Lit.  XII, 
36,  69),  daß  die  unveränderliche  Natur  der  Wahrheit  uns  stets  nahe- 
steht und  mit  ihrem  gegenwärtigen  Lichte,  wenn  auch  über  uns,  so 
doch  bei  uns  erscheine  (De  Trin.  XV.  6,  10:  De  Civ.  Dei  XI,  27,  2); 
die  immer  wiederkehrende  Erklärungsweise  ist  che  durch  das  Licht, 
die  in  anderer  Form  wieder  durch  adhaerere,  jungi,  inhaerere  veritati 
gegeben  ist,  die  Walu'heit,  das  Licht  des  Lebens,  das  keinem  von  uns 
lerne  steht,  in  dem  wir  uns  bewegen,  leben  und  sind  (De  Trin.  XIV, 
2,  3;  cf.  qu.  54;  de  1.  arb.  II,  12,  34),  einem  Lichte  von  dem  die  Seele 
betroffen,  berührt  wird  (De  Trin.  XIV,  15,  21;  de  mus  VI,  1,  1),  was 
üleichbedeutend  ist  durch  den  allgegenwärtigen  Gott  selbst  beleuchtet 
werden  (De  Gen.  ad.  Lit.  VIII,  12,  26).    Diese  Erleuchtung  bestimmt 
Augustinus  als  eine  participatio  verbi,  als  eine  Teilnahme  am  Absoluten 
und  der  allumfassenden  allgemeinen  Lichtquelle  (De  Trin.  IV.  2,  4), 
durch  die  der  Weise  selbst  weise  ist  (De  Gen.  ad.  Lit.  o}).  imp.  16,  57: 
quae  utique  in  deo  est,  ubi  est  etiam  illa  sapientia  quae  non  participando 
sapiens  est,  sed  cuius  participatione  sapiens  anima  quaecumque  sapiens 
est;  De  Trin.  XIV,  12,  15:  et  non  sua  luce,  sed  summae  iUius  lucis 
participatione  sapiens  erit).    Die  nähere  Bestimmung  der  participatio 
nun  läßt  eine  doppelte  Fassung  zu;  erstens  liedeutet  sie  Teilnahme 
eines  geschaffenen  vSeins  an  seinem  Urbild  im  platonischen  Sinn,  so 
wenn  er,  wie  in  der  oben  zitierten  Stelle,  die  Beschaffenheit  eines 
Seins  abhängig  macht  von  dessen  Idee,  ])zw.  bedeutet  participatio  in 
diesem  Sinne  Immanenz   der  Idee  im  Dinge  (quaest  46).     Daneben 
finden  wir  eine  andere  Fassung,  die  im  passiv  des  Infinitivs  tangi, 
irradiari,  lUuminari  ihren  bestimmten  Auschuck  findet.    Unter  diesem 
Gesichtspunkt  ist  participatio  ein  se  transferre  der  ungeschaffenen 
Weisheit  in  die  geschaffene  Vernunft,  womit  wir  allerdings  über  die  Be- 
stimmung des  bloßen  illuminari  nicht  liinauskommen  würden,  wenn 
Augustinus  nicht  im  Begriffe  der  affectio  eine  nähere  Erklärung  ge- 
geben hätte:  es  ist  die  participation  eine  Affektion  der  Seele,  eine 
leidendUche  Zuständigkeit  /um  Zwecke  der  eigenen  Lichtspendung 
der  Seele  (De  Gen.  ad.  Lit.  L  17.  32:  cum  enim  aeterna  illa  et  incom- 
mutabilis,  quae  non  est  facta,  sed  genita  sapientia  in  spiritales  atque 
rationales  creaturas  se  transfert,  ut  illuminatae  lucere  possint,  fit  in 
eis  quaedam  luculentae  rationis  affectio),  es  ist  eine  Zuständlichkeit 
der  Seele,  in  der  sie  die  Einwirkungen  der  Weisheit  aufzunehmen 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  379 

vermag,  die  aber,  wie  wir  schon  aus  einem  anderen  Zusammenhange 
wissen,  ethische  Reinigung  voraussetzt  (De  Trin.  IV,  2,  4). 

Diese  Affektion  der  Seele  hat  ihren  Grund  in  der  intelhgiblen 
Beleuchtung  durch  die  absolute  Wahrheit,  und  zielt  darauf  hin,  der 
Seele  selbst  Licht  zu  geben  für  die  der  Seele  eigentümliche  Tätigkeit. 
In  diesem  Lichte  ist  es  gegeben,  daß  der  mens  gewisse  Kenntnisse 
und  AVabrheiten  in  abdito  mentis  besitzt,  die  er  stets  weiß,  und 
unter  diesem  Gesichtspunkt  ist  dieses  Licht  selbst  aufzufassen  als  der 
rorc  7rou]xix6c  für  die  allgemeinen,  der  Seele  stets  gegenwärtigen, 
und  von  der  Seele  stets  ge^vußten  Wahrheiten.  Doch  erhält  dieser 
Gedanke  dadurch  eine  bedeutende  Einschränkung,  daß  Augustinus  der 
Seele  eine  spontane  Eigenkraft  zuschreibt,  die  mit  Willkür,  wenn 
auch  unter  Mitwirkung  und  Tätigkeit  des  allgemeinen  Lichtes  aus  der 
Vielheit  der  Gegenstände  auf  einen  die  seehsche  lü'aft  leitet,  und 
diesen  damit  zum  Gegenstande  des  Bewußtseins  macht.  Der  Geist 
bzw.  die  Seele  wird  diesem  einen  Gegenstande  gegenüber  tätig,  und 
setzt  ihn  gleichsam  in  das  Licht  vor  seinem  Angesichte,  so  daß  dadurch 
der  Geist  erst  formiert  wird.  (Die  reine  Aktualität  des  Geistes  ohne 
Potentialität  gilt  nur  für  die  eigene  Tätigkeit  des  Geistes;  für  sein 
Selbsterkennen,  für  sein  Selbsterinnern,  für  seine  Selbstliebe  ist  die 
cogitatiü  nicht  erforderHch,  weil  für  den  Geist  es  keine  Veränderung 
gibt,  wie  für  die  Seele,  deren  Inhalt  vielgestaltig  ist,  und  die  deshalb 
ihre  jeweihge  Erkenntnisform  von  dem  Gegenstand,  quod  cogitatur, 
erhält).  Das  Licht,  das  über  aller  Erkenntnis  steht,  in  Verbindung  mit 
dem  seehschen  cogitare  ist  der  aktive  Intellekt,  der  den  Gedanken 
unserer  Erkenntnis  erstehen  läßt  durch  Herausnahme  aus  der  Vielheit 
der  Erkenntnisdinge  auf  irgend  eine  Ermahmmg  hin.  (De  Trin.  XIV, 
7,  9:  admonemur  esse  nobis  in  abdito  mentis  quarundam  rerum 
quasdam  notitias  et  tunc  quodamodo  procedere  in  medium,  atque  in 
conspectu  mentis  velut  apertius  constitui,  quando  cogitantur:  tunc 
enim  se  ipsa  mens  et  meminisse  et  intelhgere  et  amare  invenit,  etiam 
unde  non  cogitabat,  quando  ahud  cogitabat.  Sed  unde  dici  non 
cogitaverimus,  et  unde  cogitare  nisi  commoniti  non  valemus,  id  nos 
nescio  quo  eoderaque  miro  modo  si  potest  dici  scire  nescimus :  ep.  120 
2,  9);  diese  Erkenntnis  ist  ein  innerhch  gesprochenes  Wort,  das  nur 
dem  Geiste  verständhch  ist  (XIV,  7,  10;  conf.  X,  10,  17),  setzt  den 
apperceptiv  erfaßten  Gegenstand  voraus,  an  dem  unsere  Erkenntnis 
sich  formiert  (De  Trin.  XV,  15,  25:  Wissen  ist  der  zu  seinem 
Gegenstand  verlangte  i\nblick  des  Geistes). 


380  Kral /.CM-, 

Dieses  Licht,  als  welches  Auj^ustiniis  Gott  ani>ibt,  kiiniicii  wir 
nach  dem  Vorbild  des  Aristoteles  als  den  aktiven  Intellekt  bezeichnen, 
der  zwar  transzendenter  Natur,  von  der  Seele  w(>senhalt  verschieden, 
aber  mit  der  veriiiinftioen  Seele  in  einem  natürlichen  Zusammenhani>e 
steht,  so  daß  er  durch  diesen  Zusammenhan«»;  die  menschliche  Seele  zur 
vernünftigen  Seele  macht;  er  schließt  die  intelligiblen  Fornuui  in  sich, 
die  für  die  Seele  selbst  unmittelbai-  feststehen  und  ihre  wahre  Er- 
kenntnis erst  möglich  macht.  Unter  dem  Bilde  des  Lichtes  weist 
Augustinus  auf  die  umfassende  Bedeutung  des  Intellektes  für  die  ganze 
menschliche  Erkenntnistätigkeit  hin  (Ep.  120,  2,  10). 

Da  dieser  Intellekt  etwas  Göttliches  ist,  wie  wir  gesehen,  aber 
doch  an  die  Seele  geknü])ft  ist,  so  erscheint  er  naturnotwendig  in  einei- 
doppelten  Beziehung;  in  Beziehung  auf  sich  selbst  ist  er,  wie  schon 
gesagt,  reines  Leben,  reines  Denken,  reine  Tätigkeit,  die  sich  und  was 
in  ihr  ist,  erkennt,  in  Beziehung  auf  die  Seele  ist  er  das  formende,  er- 
leuchtende, wirkende  Prinzip.  Es  ist  sofort  weiterhin  ersichthch,  daß 
sich  dieser  aktive  Intellekt  für  die  empirische  Seele  mit  dem  intelhgiblen 
Gedächtnis  deckt,  in  das  die  Seele  denkend  sich  zu  versenken  vermag, 
weil  in  ihm  die  Inhalte  für  sie  bereit  liegen:  der  Geist  ist  einheitlich, 
die  Seele  ist  vielgestaltig,  auf  eine  Vielheit  von  Gegenständen  hin- 
geordnet,  mögen  ihr  dieselben  durch  den  Geist  oder  die  Erfahrung 
gegeben  sein.  Daß  Augustinus  die  Seele  aus  dem  Geiste  ihre  erste, 
sicherste,  ja  die  wahre  Erkenntnis  schlechthin  schöpfen  läßt,  zeigt 
von  dem  nahen  Zusammenhang  zwischen  beiden.  Was  der  Geist 
bewußt  weiß,  weiß  die  Seele  schlechthin,  ohne  es  zu  denken  (De  Trin. 
XV,  9,  17;  XIV,  7,  9).  Aus  dieser  an  sich  wesenthchen  Verschiedenheit 
von  Geist  und  Seele  einerseits,  des  engen  Zusammenhangs  anderseits, 
erklärt  es  sich,  wenn  Augustinus  in  De  Trin.  XV,  15,  25  von  einem 
sempiternuni  vivere  des  Geistes  spricht,  von  einem  sempiternum 
scire  des  sempiternuni  vivere,  dann  aber  vom  cogitare  sagt,  daß  es 
unterbrochen  sei.  Was  für  den  Geist  ewig  ist,  ist  für  die  Seele  zeithch; 
für  sie  gibt  es  keinen  einheitlichen  Akt  in  Beziehung  auf  mehrere 
Gegenstände:  nee  tarnen  sempiternum  est  cogitare  vitam  suam  vel 
cogitare  scientiam  vitae  suae:  quoniam  cum  aliud  atque  aliud  coepetit, 
hoc  desinet  cogitare  quamquis  non  desinat  scire.  Ex  quo  fit,  ut  si 
potest  esse  in  animo  ahqua  scientia  sempiterna  et  sempiterna  esse  non 
potest  eiusdem  scientiae  cogitatio. 

Augustinus  hat  in  der  vorliegenden  Frage  seinen  Vorgänger  ge- 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  381 

fluiden  im  Plotin:  leider  hat  dieser  Denker  in  der  Bestimmung  des 
Verhältnisses  von  nus  und  Seele  nicht  alle  Unklarheiten  zu  beseitigen 
vermocht.  Der  Seelenbegriff  ist  bald  weiter,  bald  enger  gefaßt,  und 
so  kommt  es,  daß  die  Seele  schlechthin  mit  Einschluß  des  nus  als  das 
wesentliche  Merkmal  des  Menschen  erscheint,  dann  aber  mit  Aus- 
schluß des  nus  das  AVesen  des  Menschen  konstituerit.  Der  nus  er- 
scheint bald  in  allgemeiner,  bald  in  individueller  Fassung.  In  ersterer 
Beziehung  ist  er  über  der  Seele  als  allgemeine  Wahrheit,  in  letzterer 
in  der  Seele,  in  der  seine  Inhalte  entwickelt  und  gesondert  hegen, 
und  in  seiner  höheren  Funktion  als  Prinzip  der  unmittelbaren  Schauung 
des  GöttUchen,  in  seiner  niederen  Funktion  als  Prinzip  des  ver- 
mittelnden Denkens  uns  entgegentritt:  nach  seiner  allgemeinen  und 
individuellen  Bedeutung  aber  gehört  er  der  höheren  Seelensphäre  an. 
Ich  weise  betr.  dieser  unbestimmten  Auf fassungs weise  hin  auf  Enn.  V, 
3,  3,  wo  wir  auch  zugleich  die  enge  Beziehung  zwischen  beiden  Denkern 
sehen  werden.  Dabei  müssen  wir  vorher  auf  einen  allgemeinen  Satz 
Bezug  nehmen  (Enn.  V,  1,  10),  w^o  es  heißt:  roig  dh  o.  i/tr  /.oyiZo- 
f/trog,  6  ds  XoyiChodaL  xaQtycov  und  Plotin  den  vövq  loyiL,6iitvoc:  als 
reines  Denken  bezeichnet,  das  fern  von  allem  körperlichen  im  Intel) i- 
giblen  wohnt,  wobei  jedoch  dieses  Entferntsein  nicht  in  räumlicher 
Vorstellung  gefaßt  sein  darf  (cf.  die  Erklärung  des  platonischen  Ge- 
dankens, daß  die  Seele  ihr  Haupt  im  Himmel  habe  durch  Plotin  in 
dem  Sinne  der  moralischen  Ablösung  der  Seele  vom  Körper  mit 
Augustinus  De  Trin.  XV,  6,  10,  wonach  die  Trennung  und  Erhaben- 
heit des  Geistes  bzw.  der  Wahrheit  über  die  Seele  ebensowenig  räum- 
lich, sondern  vielmehr  im  Sinne  einer  bloßen  Beziehung  zu  einander 
zu  verstehen  ist,  wie  auch  die  Entfernung  von  Gott  oder  Annäherung 
an  ihn  zu  verstehen  ist  als  morahsche  Bewegung,  als  Erfassen  des 
Götthchen,  bzw.  dessen  Preisgabe  De  Gen.  ad.  Lit.  VIII,  12,  26; 
Enn.  VI,  9,  7).  Es  ist  vielmehr  eine  Beziehung,  die  Plotin  wie  Augustinus 
durch  den  Begriff  des  Erleuchtetseins  der  Seele  durch  den  Geist  er- 
läutert, von  dem  der  reine  Seelenteil  die  Spuren  aufnimmt,  oder  wie 
er  mit  Betonung  der  Aktivität  des  Geistes  der  Seele  gegenüber  sich 
ausdi'ückt,  die  ivsQy/jfiara.  Und  Plotin  bestimmt  diese  irsgyi/ficcTa 
sogar  näherhin  durch  die  Idee  der  Gerechtigkeit,  Gutheit,  Schönheit, 
von  denen  aus  die  Seele  erst  zur  Erkenntnis  der  Wahrheit  und  der 
Dinge  gelangen  kann  (V,  1,  11),  die  die  Seele,  wenn  auch  vom  Geiste 
gegeben,  doch  in  sich  selbst  besitzt  (V,  3,  3f. ;  aber  wie  hat  es  das  Gute 


382  Kratzer, 

in  sich  selbst,  fragt  Plotin;  deswegen,  weil  es  von  der  Art  des  Guten 
ist  und  zur  Wahrnehmung  desselben  durch  den  Geist  gestärkt  wurde^ 
der  es  erleuchtet;  denn  dieser  reine  Teil  der  Seele  nimmt  auch  die 
Spuren  des  über  ihn  liegenden  Geistes  auf),  die  sie  vergleichungs weise 
im  Interesse  der  Übereinstimmung  der  im  Innern  leuchtenden  Wahr- 
heit an  die  äußere  Erscheinung  der  Dinge  heranbringt  (I,  1,  9: 
()ifiXo}tBf  ötj  T('.  xoinc  xal  ra  tdta  rc)  ra  ,««'  öojitariyuc  xal 
orx  avev  oojfiaroQ  nrai  öoa  6i  ov(hir(u  öo'jj/aroc  sie;  tvtQysiar 
Tcwra  iöia  ipvyfjQ  ürat  y.al  rt/r  di/cpoiar  tJiixQiOir  xoLovidvtjv 
Tcöv  (xjto  Ttjg  alötf^/'/otwc  tvxcov  tidij  fjdrj  d-EcoQSlr  xa)  t)^t(OQeir 
olov  owniöd^Tjöu  Tijr  yh  xvQicog  r//c  ipvyfic  r/~c  dhid-ovc  diävoiav. 
cfr.  I.  2;  4.) 

Wir  sehen,  wie  sehr  Augustinus  mit  Plotin  in  der  Überzeugung  von 
dem  Verhältnis  zwischen  Geist  und  Seele,  von  der  Aufgabe  der  Seele 
und  ihrer  allgemeinen  Voraussetzung  für  die  Walu'heitserkenntnis 
übereinstimmt;  und  der  oben  erwähnte  Gedanke  ist  bei  Augustinus 
ein  durchgehender,  ja  er  tritt  in  seiner  späteren  Zeit  mit  um  so  größerer 
Entschiedenheit  und  Klarheit  hervor  (De  1.  arb.  II,  12,  34;  de  v.  reL 
31,  58;  de  Trin.  IX,  6,  10;  XII,  2,  2;  XIV,  15,  21).  Plotin  bezeichnet 
nun  das  Verhältnis  von  Geist  bzw.  inteUigibler  Welt  und  Seele  näherhin 
so,  daß  er  dem  höheren  Seelenteil  die  Geistigkeit  abspricht,  weil  er 
für  den  Geist  Selbsterkenntnis  und  Erkenntnis  seiner  eigenen  Inhalte 
fordert,  während  der  höhere  Seelenteil  in  seiner  Tätigkeit  gespalten, 
auf  die  außer  ihn  selbst  Hegenden  Dinge  gerichtet  ist.  Es  ist  der  Geist 
über  der  Seele,  nicht  ein  Teil  der  Seele,  er  ist  vom  InteUigiblen  herab- 
gestiegen, und  doch  ist  er  der  Seele  eigen,  er  ist  von  der  Seele  ge- 
trennt, und  doch  gebraucht  ihn  die  Seele ;  und  doch  wiederum  ist  er 
letztes  Ziel  alles  Strebens  (V,  1,  3;  V,  3,  3);  zur  Seele  tritt  der  Geist 
hinzu  als  Quelle  aller  wissenschafthcher  Erkenntnis  (VI,  9,  5),  von  dem 
die  Seele  von  obenher  immer  erhellt  und  erleuchtet  wird  (III,  8,  5). 
Augustinus  hat  dieses  Verhältnis  nicht  so  im  Einzelnen  aufgefühit 
wie  Plotin,  und  er  begnügt  sich  in  zusammenfassender  Weise  zu  sagen, 
daß  disponente  ordine,  conditore  deo  die  Seele  mit  der  Wahrheit 
verbunden  sei.  Diese  Verbindung  in  eine  mystisch  gerichtete  Philosophie 
eingeordnet,  hat  mehr  als  theoretische  Bedeutung;  sie  soU  die  Seele 
in  allmählicher  Ablösung  von  der  Sinnlichkeit  zum  Wissen  ihrer 
Abhängigkeit  vom  Geiste  gelangen  lassen,  aus  dem  sie  hervorgegangen, 
von  dem  sie  in  ihrem  Sein  und  ihren  Inhalten  abhängt,  zur  Kenntnis 


ao. 


I 


Die  Frage  nach  deui  Seelendualisuiiis  bei  Augustinus.  38 

dos  Geistes  selbst  vorzudi-ingen  helfen,  um  in  der  Erkeiintnis  des 
Geistes  sieh  selbst  und  den  Geist  zu  erkennen.  Die  Seele  erkennt  sich 
selbst  mir,  soweit  sie  sich  nach  innen  gekehrt  dem  Geiste  zuwendet 
(V,  3,  7) ;  sie  ist  sich  nur  gegenwärtig,  wenn  sie  sich  zum  Geiste  wendet 
(V,  3,  9).  Durch  den  der  Seele  gegebenen  Geist  soll  der  Mensch  den 
Körper  von  sich  selbst  absondern,  die  animalische  Seele  mit  ihi'en 
Passionen  abziehen,  um  in  diesem  Geiste  selbst  Licht  seiend,  den  Geist 
schlechthin  zu  erfassen:  der  Mensch  wird  durch  den  Geist  Geist,  um 
im  Geiste  den  Geist  zu  erkennen  (V,  3,  9;  3,  5;  VI,  9,  5).  Dadurch 
wird  die  Seele  in  den  Stand  gesetzt,  durch  den  verliehenen  Geist  Geist 
geworden,  im  Geiste  sich  selbst,  ihren  Ursprung  und  ihr  Prinzip,  die 
Dinge  in  ihrer  Einheit  und  Idealität,  in  ihren  letzten  Gründen  zu  er- 
kennen. Und  wie  man  vom  Geiste  sagt,  daß  er  in  der  Erkenntnis 
Gottes  als  seines  Grundes  auch  alles  andere  erkennt,  das  von  Gott 
ausgegangen,  und  darum  auch  sich  sel))st  erkennt  (V,  3,  7),  so  erkennt 
sich  die  Seele  im  Geist  und  soweit  sie  Geist  geworden,  und  in  dieser 
Erkenntnis  besteht  die  Weisheit  schlechthin,  die  Glückseligkeit. 

Die  Tendenz,  in  der  Erkenntnis  des  einen  einheithchen  Prinzips 
die  volle  Wahrheit  zu  erblicken,  und  entsprechend  dieser  Tendenz 
alle  Erkenntnisse  auf  ihre  letzte  Einheit  zurückzuführen,  ist  ein  für 
Plotin  und  Augustinus  gemeinsamer  Zug;  sie  hängt  mit  dem  religiös- 
mystischen Charakter  der  beiden  Philosophen  zusammen,  wonach 
letztes  Ziel  alles  Erkennens  und  Strebens  einzig  Gott  ist,  weil  in  ihm 
volle  Wahrheit  und  Ruhe  gegeben  ist.  Dieser  religiöse  Zug  tritt  aus- 
siesprochenermaßen  bei  Augustinus  hervor,  für  welchen  die  Er- 
kenntnis des  Ursprungs  bezüghch  des  Geistes  auch  noch  dem  Bedürfnis 
Rechnung  tragen  sollte,  im  menschhchen  Geiste  das  Bild  der  trinita- 
rischen  Gottheit  aufzuzeigen:  die  fraghche  Dreiheit  des  menschlichen 
Geistes  ist  nicht  deswegen  das  Abbild  Gottes,  weil  der  Geist  sich 
seiner  erinnert,  erkennt  und  liebt,  sondern  erst  dann,  wenn  er  daran 
sich  erinnert,  daran  denkt,  von  wem  er  geschaffen  ist,  und  seinen 
Urheber  liebt;  und  in  dieser  Erkenntnis,  in  dieser  Erinnerung,  in 
dieser  Liebe  besteht  die  Weisheit.  Diese  AVeisheit,  in  der  Über- 
zeugung des  Geistes  bestehend,  seinen  Ursprung  in  Gott  zu  haben,  ist 
nicht  raenschhche  Weisheit,  sondern  göttliche  W^eisheit,  und  darum 
ist  der  Geist  in  dieser  Erkenntnis  weise  durch  Teilnahme  an  der  Weisheit 
Gottes  als  der  wahren  Weisheit  selbst  weise,  wähi'end  die  menschliche 
Weisheit  eitel  ist;  und  es  ist  nur  dem  religiösen  Zuge  seiner  Philosophie 


;;84  Kratzer. 

entsprechend,  wenn  Aiii>ustin\is  die  eii!;en(>  Ki;ift  des  Mensehen  o;ei>en- 
uber  der  Ki*aft  Gottes  hintansetzt  und  in  der  Weisheit  derer,  die  die 
Weisheit  Gottes  nicht  kennen,  sondern  iiire  eiiiene  AVeisheit  begründen 
wollen,  in  der  Erkenntnis  und  Liebe  ihrer  selbst  nur  Torheit  sieht, 
und    in    der  Torheit  das  i;lückselige  Leben  für  unmöglich  erachtet: 
denn  das  glückliche  Leben  ist  nur  ein  ewiges  Leben,  und  da?  ewige 
Leben  besteht  in  der  Erkenntnis  der  ewigen  unwandelbaren  intelligiblen 
Dinge  (De  Trin.  XIV,  12,  15:  XV,  4,  6):  ich  will  wegen  der  Bedeutsam- 
keit  der  ersteren  Stelle  diese  im  ganzen  Umfang  zitieren:  De  Trin. 
XIV,  12,  15:  haec  igitur  trinitas  mentis  nun  propterea  Dei  est  imago, 
quia  sui  meminit  mens,  et  intelligit  ae  diligit  se:  sed  quia  potest  etiam 
meminisse  et  intelligere  et  amare,  a  quo  facta  est.    Quod  cum  facit, 
sapiens  ipsa  fit.     Si  autem  non  facit,  etiam  cum  sui  meminit,  seseque 
intelligit  ac  diUgit,    stulta   est,  meminerit  itaque  dei  sui.  ad  cuius 
imaginem  facta  est  ejumque  inteUigat  ac   diligat.     Quod  ut  bi-evius 
dicam,  colat  deum  non  factum,  cuius  ab  eo  capax  est  facta,  et  cuius 
particeps  esse  potest;  propter  quod  scriptum  est:  ecce  dei  cuhus  est 
sapientia:  et  non  sua  luce  sed  summae    illiu«   lucis   participatione 
sapiense  rit  atqueubiaeterna,  ibi  beata  regnabit.    Sic  enim  dicitur  ista 
hominis  sapientia,  ut  etiam  dei  sit.  Tunc  enim  vera  est:  nam  si  humana 
est  vana  est.    Verum  non  ita  Dei  qua  sapiens  est  deus.    Necque  enim 
participatione  sui  sapiens  est,  sicut  mens  participatione  Dei.     Sed 
quemadmodum  dicitur  etiam  justitia  Dei,  non  solum  illa  qua  ipse 
justus  est,  sed  quam  dat  homini  cum  justificat  impium  quem  com- 
mendans  apostolus  ait  de  quibusdam:  ignorantes  enim  Dei  justitiam, 
et  suani    justitiam    volcntes  constituere,    iustitiaeti   Dei    non    sunt 
subjecti:  sie  etiam  dici  potest  dei  quilmsdam,  ignorantes  dei  sapientiam, 
vel  suam  volentes  constituere,  sapientiae  dei  non  sunt  subjecti.  und 
setze  dieser  gegenüber  Enn.  V,  1,  1  und  gewinne  als  gemeinsanuMi 
Grundgedanken,  daß  die  wahre  Weisheit  in  der  Erkenntnis  des  Ewigen 
besteht,  daß  das  Böse  einen  Grund  habe  in  der  Behauptung  der  eigenen 
PersönUchkeit,  der  Individualität  gegenüber  der   Kraft  und  Macht 
des  Absoluten. 

Wir  kehren  nach  dieser  längeren  Erörterung  zum  nus  zurück 
und  seinem  Verhältnis  zur  augustinischen  mens.  Dem  nus  kommt 
als  Prädikat  ununterbrochenes  Denken  zu:  aber  die  Tätigkeit  des- 
selben, sowie  die  Tätigkeit  der  höheren  Seele,  braucht,  wie  Zeller 
bemerkt,  nicht  in  das  individuelle  Bewußtsein  zu  gelangen;  denn  das 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  385 

Bewußtsein  sei  nur  der  Reflex  der  geistigen  Tätigkeit  im  Wahr- 
nehmungsvermögen, und  daher  durch  diese  sinnhche  Seite  der  Seele 
vermittelt,  oder  mit  anderen  Worten:  das  Bewußtsein  der  Tätigkeit 
des  Geistes  ist  für  die  Seele,  das  seelische  Bewußtsein  nicht  ein  un- 
bedingt bewußtes.  Ein  Bewußtsein  der  geistigen  Tätigkeit  des  nus,  oder 
in  der  Terminologie  Augustinus  des  Intellektes  im  Menschen  ist  dem- 
nach bedingt.  Augustinus  konnte  unter  seiner  Voraussetzung,  daß  der 
Logos  die  einzige  und  unmittelbare  Quelle  alles  Wissens  sei,  zu  seiner 
Lehi'e  von  der  okkasionalen  Aufgabe  seines  Erfahrungswissens  gelangen : 
der  Geist  bedarf  der  Erfalu^ung,  um  seines  Inhaltes  sich  bewußt  zu  wer- 
den, bzw.  sich  selbst  als  Objekt  zu  erfassen.  „Denn  wenn  er  nicht  über 
den  Gegenstand  nachdenkt  . . .,  denkt  er  sich  nicht  selbst,  und  kommt 
nicht  zu  seiner  Selbstkenntnis  und  Selbsthebe  in  der  Weise,  daß  ein  Be- 
wußtseinsreflex dessen  im  impirischen  Bewußtsein  stattfinden  würde." 
Ich  verweise  hier  nochmals  auf  de  Trin.  XIV,  6,  8:  Ernst 
Melzer  (Augustini  atque  Cartesii  placita  .  .  .  Bonnae  1860)  findet 
hier,  wie  schon  bemerkt,  mit  Recht  den  Gegensatz  des  se  nosse  und 
se  cogitare  der  mens  ausgesprochen  und  setzt  dementsprechend,  da 
der  Geist  sich  wohl  wissen  könne  ohne  sich  denken  zu  müssen,  die 
perfecta  sui  scientia  der  mens,  der  sui  cogitatio  derselben  gegenüber 
als  von  einander  unabhängig  bestehend.  Dieser  Auffassung  hegt  der 
stillschweigende  Gedanke  zu  Grunde  von  einem  transzendenten 
Bewußtsein,  das  im  individiellen  Bewußtsein  unter  gegebenen  Be- 
dingungen zum  Durchbruch  kommt.  Die  Selbstschau  der  mens  macht 
Augustinus  abhängig  von  dem  sich  denken:  tanta  est  tamen  cogi- 
tationis  vis  ut  nee  ipsa  mens  quodam  modo  se  in  conspectu  suo  ponat, 
nisi  quando  se  cogitat:  ac  per  hoc  ita  nihil  in  conspectu  nientis  est,  nisi 
unde  cogitatur,  ut  nee  ipsa  mens  qua  cogitatur,  quidquid  cogitatur, 
aliter  possit  esse  in  conspectu  suo  nisi  se  ipsam  cogitando,  sieht  sich 
aber  damit  unmittelbar  im  Widerspruch  mit  den  neuplatonischen 
Bestimnmngen  seiner  mens:  quomodo  autem  quando  se  non  cogitat 
in  conspectu  suo  non  sit,  cum  sine  se  ipsa  numquam  esse  possit  quasi 
ahud  sit  ipsa,  ahud  conspectus  eins,  invenire  non  possum,  und  führt 
mit  Festhaltung  der  Identität  von  Sein  und  Denken  in  der  mens  das 
Selbstbewußtsein  derselben  auf  einen  gewissen  latenten  Schlummer- 
zustand zurück,  auf  den  Begiiff  des  Gedächtnisses,  das  geweckt 
werden  müsse:  proinde  restat  ut  ah  quid  pertinens  ad  eins  naturam 
sit  conspectus  eins,  et  in  eam  quando  se  cogitat,  non  quasi  per  loci 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.     XXVin,  4.  05 


386  Kratzer, 

spatium,  sed  incorporca  conversion  erevocetur:   qiuun  vero  non  se 
cogitat,  non  sit  quideni  in  conspectu  suo,  nee  de  illa  suus  formctur 
obtiitus,  sed  tarnen  noverit  se  taniquam  ipsa  sit  sibi  memoria  sui. 
Sicut  multarum  disciplinarum  peritus  ea  quae  invenit  eins  memoria 
continentur,  nee  est  inde  aliquid  in  eonspeetu  mentis  eins  nisi  unde 
cogitat ;  cetera  in  areana  quadam  notitia  sunt  recondita  quae  memoria 
nuncupatur  und  weiterhin:  mens  igitur  quando  cogitatione  se  con 
spicit,  intelligit  se  et  recognoscit:  gignit  ergo  hunc  intelleetum  et 
Cognitionen!  suam.     Res  quippe  incorporea  intellecta  conspicitur,  et 
intelligendo  cognoseitur.     Nee  ita  sane  gignit  istam  notitiam  suam 
mens,  quando  eogitando  intellectam  se  eonspicit,  tamquam  sibi  ante 
incognita  fuerit:  sed  ita  sibi  nota  erat  quemadmodum  notae  sunt  res 
quae  memoria  continentur,  etiam  si  non  cogitentur,  olme  zu  merken, 
daß  dadurch  der  Begriff  mens  selbst  verloren  geht.    Halten  wir  daher 
diese  Erklärung  unseres  Denkers  fest,  dann  erhebt  sich  die  notwendige 
Frage,  zu  welchem  Zeitpunkte,  und  aus  welchem  Grunde  die  mens 
als  wesenhaftes  Denken  zur  bloßen  Möghchkeit  des  Denkens  herab- 
gedrückt wairde,  eine  Frage,  die  Plotin  lösen  konnte,  die  aber  Augu- 
stinus selbst  nicht  in  Angriff  genommen  hat.    (De  Trin.  IX,  12,  18; 
XIV,  6,  8f.)  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Augustinus  selbst  die  Schwierig- 
keit erkennt,  welche  in  seiner  LehiT  liegt,  daß  der  sieh  stets  gegen- 
wärtige Geist,  in  dem  Sein  und  sieh  Gegenw^ärtig  sein  zusammenfallen, 
sich  denken  müsse,  falls  er  seine  Selbsterkenntnis  gewinnen  wolle, 
und  er  zeigt  damit  an,  daß  er  sich  des  eigenartigen  Doppelcharakters 
seines  Begriffes  wohl  bewußt  ist,  ohne  jedoch  zu  einer  klaren  Analyse 
kommen  zu  können.    Es  ist  nicht  so,  als  ob  die  Selbsterkenntnis  der 
mens  an  sich  ein  gewisser,  näherhin  unbestimmbarer  latenter  Zustand 
w^äre,  wde  das  mehi-gestaltige  Wissen  eines  Gelehrten  oder  Künstlers 
(Plurium  disciplinarum  peritus),   das   nicht  immer  aktuell  gedacht 
wird.     Wäre  solches  der  Fall,  dann  könnte  dem  Geiste  nicht  nach 
Augustinus  das  semper  sui  meminisse,  das  semper  se  ipsam  intelhgere 
et  amare  zugesprochen  werden,  das  unabhängig  vom  cogitare  besteht 
(De  Trin.  XJV,  7,  9:  sed  num  qui  recte  possumus  dicere,  iste  musieus 
novit  quidem  musicam,  sed  nunc  eam  non  intelügit,  quia  eam  non 
cogitat;  inteUigit  auteni  nunc  geometricam,  hanc  enim  nunc  cogitat? 
Absurda  est  quantumapparet  ista  sententia),  sondern  nur  die  memoria 
sui,  d.  h.  die  Möghchkeit,  sich  zu  denken,  und  dem  se  ipsam  intelhgere 
et  amare  müßte  das  cogitare  als  Apperzeptionsakt  vorausgehen. 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augastinus.  387 

Es  besteht  noch  eine  zweite  Schwierigkeit  für  Augustinus,  die 
eben  dargelegten  Gedanken  von  dem  beständigen  Selbsterkennen  der 
mens,  indem  er  sich  ganz  nach  seiner  Totalität  erfaßt,  in  Einklang  zu 
bringen  mit  seiner  Lehre  von  der  Enge  des  Bewußtseins,  und  mit  De 
Trin]  XV,  10,  17  (cf.  XV,  15,  25;  XIV,  7,  9),  wonach  von  stets  ge- 
kannten und  gewußten  Inhalten  der  mens  ohne  spezielle  apperzeptive 
Tätigkeit,  und  anderen  Inhalten,  deren  Erkennen  das  cogitare  ver- 
langt, die  Bede  ist.  Für  das  nosse  der  mens  gibt  es  kein  latentes  nosse, 
wie  von  anderen  Gegenständen  oder  Inhalten  es  ein  latentes  Wissen 
gibt.  Wenn  unser  Denker  das  cogitare  für  das  Wissen  als  voraus- 
gehendes Moment  fordert,  und  erklärt,  daß  es  sich  damit  verhalte, 
quemadmodum  res  quae  memoria  continentur,  etiam  si  non  cogitentur, 
dann  müssen  wir  in  Betracht  ziehen,  daß  das  Gedächtnis  sich  nicht 
bloß  auf  die  vergangenen  körperlichen  Dinge,  sondern  auch  auf  das 
gegenwärtige  Intelhgible  sich  erstreckt  (De  Trin.  XIV,  11,  14:  qua 
propter  sicut  in  rebus  praeteritis  ea  memoria  dicitur  qua  fit  ut  valeant 
recoli  et  recordari:  sie  in  re  praesenti  quod  sibi  est  mens  memoria  sine 
absurdidate  dicenda  est).  Es  ist  sofort  klar,  daß  Augustinus  in  der 
letzteren  Bestimmung  der  memoria  sich  einen  Hilfsbegriff  geschaffen 
hat,  um  eine  unerklärbare  Tatsache  sich  zu  erklären.  Der  Sache  nach 
hat  das  semper  se  nosse  et  int  elligere  des  Geistes  mit  der  memoria, 
wonach  diese  Selbsterkenntnis  als  inteUigibler  Inhalt  im  Gedächtnis 
gleich  den  übrigen  gegenwärtigen  aber  nicht  gedachten  Inhalten  — 
und  Augustinus  zählt  dazu  auch  den  Geist :  conf .  X,  25,  36  —  gegen- 
wärtig sei,  nichts  zu  tun. 

Da  Augustinus  den  conspectus  mentis  mit  der  Wesenheit  der 
mens  identifiziert,  gleichwohl  aber  denselben  von  dem  cogitare  ab- 
hängig macht,  so  wird  letzteres  notwendig  Voraussetzung  und  Be- 
dingung für  ersteres,  und  beide  Begriffe  fließen  unter  der  Tatsächlich- 
keit der  angegebenen  Identifizierung  zusammen,  oder  aber  es  bleibt 
das  cogitare  dem  Selbstwissen  der  mens  gegenüber  als  selbständig 
bestehen  und  wir  müssen  dann  annehmen,  daß  Augustinus  ein  vom 
ersteren  verschiedenes  Subjekt  konstatieren  will,  das  sich  im  Akte  des 
Erkennens  als  bewußtes  Subjekt  setzt,  und  das  in  diesem  Erkennen 
sich  immer  als  dasselbe  erscheint. 

Bezüghch  jener  Ausfühi'ungen,  in  denen  Augustinus  die  Möglich- 
keit, sich  verschiedene  Inhalte  ins  Bewußtsein  zu  rufen,  auf  das 
Gedächtnis  zurückführt,  und  sonach  die  Möghchkeit  sich  selbst  im 

•25* 


388  Kratzer, 

Bewußtsein  gegenwärtig  zu  setzen,  auf  die  memoria  sui  des  Geistes 
gründet,  von  einem  habitualen  Selbstbewußtsein  zu  sprechen,  scheint 
mir  verfehlt.  Wir  wollen  ganz  und  gar  dahingestellt  sein  lassen,  ob 
ein  habituales  Selbstbewußtsein  nicht  einen  Widerspruch  involviert, 
ein  unbewußtes  Bewußtsein  sei.  Wenn  auch  bei  Augustinus,  wie  er 
in  seiner  Ausführung  über  die  memoria  angibt,  das  unbewußte 
psychische  Leben  eine  große  Rolle  spielt,  von  dem  der  Geist  nur  in 
den  Erfolgen  desselben  Kenntnis  gewinnt,  und  von  einer  memoria 
sui  des  Geistes  spricht,  so  darf  diese  Fähigkeit  oder  Möglichkeit  des 
Geistes,  sich  zu  wissen,  nicht  gefaßt  werden  als  eine  Ablenkung  des 
Geistes  von  sich  selbst,  und  Hinlenkung  auf  andere  Dinge,  die  aber 
jederzeit  kraft  der  intentio  voluntatis  auf  die  mens  selbst  zurück- 
geleitet werden  kann,  sondern  als  ein  stetes  unmittelbares  Sichgegen- 
wärtigsein im  Wissen.  Denn  der  Geist  weiß  um  seine  Zuständig- 
keiten, und  darum  auch  um  sein  Wissen  um  sich,  und  damit  ist  nach 
Augustinus  selbst  die  Erklärung  der  memoria  sui  als  habituales  Selbst- 
bewußtsein hinfälhg.  Zudem  darf,  wie  schon  erwähnt  werden  mußte, 
nicht  übersehen  werden,  daß  Augustinus  deutlich  zwischen  Inhalten 
unterscheide,  die  stets  nota  sind,  ohne  daß  sie  gedacht  werden,  und 
zu  diesem  nota  eben  das  semper  se  meminisse  etc.  nebst  den  eigenen 
erlebten  Zuständigkeiten  des  Geistes  rechnet  und  diese  von  Inhalten 
unterscheidet,  die  erst  unter  der  Wirkung  des  cogitare  nota  werden 
(De  Trin.  X,  10,  14;  XV,  10,  17);  daß  aber  Augustinus  mit  dem  nota 
esse  der  erstgenannten  Dinge  ein  aktuelles  Wissen  statuieren  will, 
scheint  hervorzugehen  aus  ibid.  X,  12,  19,  wo  er  von  der  mens  spricht 
und  einem  semper  se  nosse  semperque  se  ipsam  velle,  und  diese  Be- 
stimmungen zur  Grundlage  für  weitere  Folgerungen  macht,  nämhch, 
daß  die  mens,  da  sie  sich  stets  wisse  und  stets  w^oUe,  auch  seiner  sich 
erinnere  und  sich  erkenne.  Augustinus  gibt  hier  für  das  theroetische 
Verhalten  der  mens  zu  sich  selbst  eine  Stufenreihe  an,  und  läßt  auf 
das  se  nosse  als  das  ruhende  Erkennen  ilirer  selbst  das  aktive  meminisse 
folgen,  in  dem  der  Geist  sich  stets  als  der  gleich  gegenwärtige  erkennt 
(XIV,  11,  14),  um  im  inti  iligere  sich  als  Objekt  im  Subjekt  zu  erfassen. 
Augustinus  läßt  den  Begriff  des  cogitare  in  seinem  Inhalte  zur  Geltung 
kommen,  wenn  er  auch  nicht  formell  gebraucht  wird  und  ihn  erst 
verwendet,  wo  er  von  der  Gegenüberstellung  der  mens  und  einem  von 
ihr  verschiedenen  gegenständlichen  Objekte  spricht:  mentem  quippe 
ipsam  in  memoria  et  intelligentia  et  voluntate  sui-medipsius  talem 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  389 

reperiebamus,  ut  quoniam  semper  se  nosse  semperque  se  ipsam  velle 
comprehendebatur;  simul  etiam  semper  sui  meminisse  semperque  se 
ipsam  intelligere  et  amare  comprehenderetur,  quamquis  non  semper 
se  cogitare  discretam  ad  ei  quae  non  sunt  quod  ipsa  est.  Und  weil 
dieses  intelligere  nicht  notwendig  eine  Beziehung  auf  ein  anderes  von 
der  mens  selbst  verschiedenes  Sein  einschließt,  sondern  diese  zum 
se  intelligere  auch  einzig  in  Beziehung  auf  sich  selbst  gelangen  kann, 
darum  die  große  Schwierigkeit,  die  er  für  die  Unterscheidung  der 
memoria  sui  und  intelligentia  sui  des  Geistes :  ac  per  hoc  diff icile  in  ea 
dignoscitur  memoria  sui  et  inteUigentia  sui  findet,  und  doch  besteht 
sie  nicht  unter  der  Annahme,  daß  der  Geist  in  seiner  an  sich  dem 
empirischen  Bewußtsein  verschlossenen  Tätigkeit  unter  gegebenen 
Bedingungen  in  seiner  Tätigkeit  demselben  sich  offenbart. 

Wollen  wir  hypothetisch  das  fragliche  nosse  der  mens  auf  ein 
habituales  Selbstbewußtsein  deuten,  so  muß  demgegenüber  jeden- 
falls ein  aktuales  statuiert  werden,  das  durch  das  cooitare  bedinat 
wäre,  und  in  dem  der  Geist  sich  selbst  gegenübersetzt  und  denkt, 
wie  denn  auch  Augustinus  annimmt,  daß  der  Geist  erst  durch  sein 
Denken  Kunde  gewinnt  von  seinem  dauernden  Selbstdenken  und 
seiner  Selbstliebe.  Diese  Erklärung  scheitert  ebenso  an  den  bereits 
gemachten  Ausführungen,  daß  Augustinus  dem  inneren  Leben  der 
mens,  das  sich  in  se  nosse,  meminisse,  amare  bewegt,  auch  ein  Wissen 
um  diese  Funktionen  zuschreibt,  und  somit  auch  für  sie  selbst  die 
Unterschiedlichkeit  von  Subjekt  und  Objekt  konstatiert  werden 
kann,  wenn  diese  für  das  Selbstbewußtsein  gefordert  ist:  der  Geist 
weiß  um  sich,  um  sein  Wissen,  Lieben  und  Wollen,  und  dieses  Wissen 
um  sich  ist  ein  aktuelles;  er  schheßt  aber  auch  eine  Beziehung  zu 
einem  von  sich  selbst  verschiedenen  Sein  ein,  er  weiß  um  etwas,  das 
er  selbst  nicht  ist,  und  demgegenüber  er  sich  nicht  immer  in  seiner 
Unterschiedhchkeit  denkt.  Li  diesem  factum  das  habituale  Selbst- 
bewußtsein suchen  zu  wollen,  daß  die  mens  sich  nicht  immer  denkt 
im  Gegensatz  zu  einem  anderen,  oder  daß  sie  erst  cogitando  von  sich 
weiß,  würde  das  se  nosse  in  seiner  Beständigkeit  aufheben:  dieses  se 
nosse  oder  scire  soll  ein  AVissen  sein,  ein  unbedingtes,  weil  mit  der 
Natur  des  Geistes  gegeben,  und  soll  zugleich  zum  Wissen  erst  werden 
unter  der  Bedingung  des  cogitare. 

Wenn  Augustinus  in  De  Trin.  XV,  15,  25  ausführt,  daß  dem  Geiste 
als  Attribut  das  sempiternum  vivere  zukommt,  und  ein  ewiges  Wissen 


390  Kiat/cr, 

von  diesem  Leben,  so  wiederholt  er  hier  einen  liekannten  Satz.  Und 
wenn  er  dann  seinen  Gedanken  weiterführt:  nee  tarnen  senipiternum 
est  cogitare  vitani  suani,  vel  cogitare  scientiam  vitae  suae:  quoniani 
cum  aliud  atque  aliud  coepetit,  hoc  desinet  cogitare  quamquis  noii 
desinat  scire.  Ex  quo  fit,  ut  si  potest  esse  in  animo  ahqua  scientia 
sempitcrna  et  sempiterna  esse  non  potest  eiusdem  scientiae  cogitatio, 
so  setzt  er  hier  Bestimmungen,  wie  sie  einem  endlichen  Wesen  zu- 
kommen, indem  er  ihm  Akte  vindiziert  von  einem  objektiv  begrenzten 
Umfange,  die  sich  folglich  nicht  ununterbrochen  auf  das  scire  der 
mens  erstrecken  können,  weil  die  cogitatio  auch  von  anderen  Objekten 
beansprucht  wü-d,  und  diese  immer  nur  auf  ein  Objekt  gerichtet  sein 
kann;  denn  die  psjT-hische  Kraft  ist  eine  eng  begrenzte.  Wie  aber 
dann  das  Wissen  der  mens  noch  fortbestehen  soll,  ist  nicht  ersichtlich. 
Auch  dieses  bloße  Wissen  des  Geistes  um  sich  muß  als  Wissen  ein 
aktuelles  sein,  weil  ja  sonst  das  wissende  Subjekt  von  diesem  Wissen 
nicht  wissen  kann.  Ein  Wissen,  von  dem  ich  nicht  weiß,  ist  kein 
Wissen,  d.  h.  ich  kann  nicht  wissen,  daß  ein  Wissen  in  mir  besteht. 
Muß  aber  dieses  Wissen  vorausgesetzt  und  angenommen  werden, 
dann  muß  auch  als  notwendige  Bedingung  dessen  die  Stetigkeit  des 
cogitare  gefordert  werden,  und  so  kommen  wir  wiederum  zur  Identi- 
fizierung von  beiden. 

Das  Bewußtsein  erscheint,  wie  aus  all  dem  hervorgeht,  und 
worauf  schon  öfter  hinzuweisen  war,  in  einer  doppelten  Gestalt;  den 
lebendigsten  Ausdruck  hierfür  finden  wir  in  der  Unbegreifhchkeit 
dieser  Tatsache  für  Augustinus  selbst,  daß  die  mens  deren  Wesen  mit 
dem  conspectus  sui  zusammenfällt,  einer  besonderen  Hinordnung  auf 
sich  selbst  bedürfen  soll,  um  in  iluTn  eigenen  Blickpunkt  zu  gelangen. 
Was  mich  hindert,  in  dem  se  nosse  ein  habituales  Selbstbewußtsein 
mit  Storz  und  K.  V.  Endert  (Der  Gottesbeweis  in  der  patristischen 
Zeit;  Freiburg  1869)  zu  sehen,  ist,  wie  schon  angegeben,  die 
Identität  der  mens  mit  ihrem  conspectus,  sowie  die  ausdrückliche  Er- 
klärung, daß  dieses  se  nosse  nicht  im  Sinne  eines  pertinere  ad  memoriam 
aufgefaßt  werden  dürfe,  da  ja  sonst  dem  inteUigere  et  amare  das 
cogitare  vorausgehen  müsse ;  daraus  geht  Mar  hervor,  daß  Augustinus 
das  se  inteUigere  der  mens  als  aktuales  stetes  Sichselbsterfassen  auf- 
gefaßt ^\issen  will,  das  aber  dem  empirisch  bedingten  Be\^alßtsein  der 
Seele  verborgen  bleibt;  weiterhin  die  Tatsache,  daß  er  den  Begriff 
der  memoria  modifiziert  und  ihn  in  die  Bedeutung  der  steten  Sich- 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualismus  bei  Augustinus.  391 

Selbstgegenwart  des  Geistes  setzt.  Die  Ideutifizieriing  der  mens  in 
ihrem  Wesen  mit  dem  conspeetum  esse  oder  im  conspectum  suum 
poni  ist  eine  Bestimmung  des  plotinisclien  nus,  die  Forderung  des 
cogitare  für  das  Wissen  der  Selbstschau  von  selten  der  mens  ist  dem 
plotiuischen  Seelenbegriff  entnommen ;  in  das  unmittelbare  emph'ische 
Bewußtsein  ragt  ein  denkendes  Prinzip  herein,  das  in  seinem  Denken 
erst  durch  einen  seehschen  Akt  von  der  Seele  erkannt  wird.  Für 
dieses  empirische  erfaln-ungsmäßige  Be^^^,lßtsein  gilt  dann,  daß  das 
conspectum  esse  der  mens  sich  verhalte  als  ein  Wissen,  das  potentiell 
sei  und  der  Aktuahsierung  bedarf,  wenn  es  ein  bewußtes  Wissen 
werden  soll.  Wir  kommen  immer  wieder  auf  eine  Zwiespältigkeit  im 
Begriffe  der  mens  bei  Augustinus  zurück.  Der  stets  sich  denkende 
Geist  schheßt  Erkenntnissubjekt  und  Erkenntnisobjekt  zugleich  in 
sich.  Das  Erkenntnisobjekt  erzeugt  im  Erkenntnissubjekt  die  Er- 
kenntnis; diese  setzt  also  beide  Faktoren  voraus.  Soll  aber  etwas  er- 
kannt werden  können,  muß  es  erkennbar  sein,  womit  aber  keines- 
wegs gefordert  ist,  daß  alles  Erkennbare  auch  faktisch  erkannt  wird. 
Diese  Erörterung  wendet  Augustinus  auf  die  mens  an  und  läßt  sie 
unter  den  soeben  gegebenen  Bestimmungen  zur  Urheberin  ihrer 
Selbsterkenntnis  werden,  in  welchem  Erkenntnisakte  sie  sich  ganz 
erfaßt;  und  nicht  bloß  das:  da  die  Erkenntnis  der  mens  mit  deren 
Wesen  identisch  ist,  so  setzt  mit  jedem  Erkenntnisakt  die  mens  sich 
selbst  (De  Irin.  IX,  12,  18;  XIV,  6,  8f);  daß  dieses  Sicherzeugen 
der  mens  nicht  als  unterbrochenes  aufgefaßt  werden  darf,  ist  klar; 
ebenso  klar  ist,  daß  zwischen  dem  nosse  als  Erkenntnisakt  des  Geistes 
und  der  darauf  eintretenden  notitia  sui  der  mens  nicht  eine  zeitHche 
Differenz  hegt,  sondern  bloß  eine  kausale  Abhängigkeit  bezeichnet 
sein  soll,  da  ja  Sein  und  Erkennen  bei  der  mens  zusammenfallen; 
und  weil  das,  deshalb  wie  beim  plotinischen  nus  nicht  eine  teilweise, 
sondern  eine  vollständige  Erkenntnis  ihrer  AVesenheit.  Und  bei  dieser 
Identität  von  Denken  und  Sein  im  Begriffe  der  mens  hat  es  unter 
Voraussetzung  des  gleichen  Objektes  keinen  Sinn  zu  sagen;  nee  ita 
sane  gignit  istam  notitiam  suam  mens,  quando  cogitando  intellectam 
se  conspicit  tamquam  sibi  ante  incognita  fuerit :  sed  ita  sibi  nota  erat 
quemadmodum  notae  sunt  res  quae  memoria  continentur  etiam  si 
non  cogitentur;  (De  Trin.  XIV,  6,  8).  In  der  genannten  Konfundierung 
des  plotinischen  Geist-  und  Seelenbegriffes  in  dem  einen  Seelenbegriff 
der  mens  steht  dann  unser  Denker  die  Forderung,  daß,  falls  sie  sich 


392  Kratzer, 

erkennen  solle,  denken  müßte  (De  Trin.  X,  9,  12).  Die  gleiche  immer 
im  Wissen  sich  gegenwärtige  mens  bedarf  einer  besonderen  Hinordnung 
auf  sich  durch  irgend  welche  Anregung.  Indem  Augustinus  dann 
weiterhin  erklärt  (ibid.  IX,  13:  non  ergo  adjungat  aliud  ad  id,  quod 
se  ipsam  cognoscit,  cum  audit,  ut  se  ipsam  cognoscat,  zeigt  er  offenbar, 
daß  es  sich  mit  dieser  Angabe  überhaupt  um  keine  nähere  Bestimmung 
des  uns  geläufigen  Begriffes  mens  handelt  und  daß  die  Selbsterkenntnis 
desselben  auf  eine  äußere  Anregung  hin  einen  anderen  Sinn  hat. 
Augustinus  konfundiert  hier  unmittelbares  Bewußtseinserlebnis  mit 
den  durch  Analyse  des  Begriffes  gewonnenen  und  vom  plotinischen 
nus  herübergenommenen  Merkmalen.  Der  Intellekt  hat  sich  immer 
gewußt,  weiß  aber  dieses  Wissen  erst  durch  einen  Willensakt  der 
Aufmerksamkeit  (ibid.  VIII,  11):  cognoscat  ergo  semet  ipsam  nee 
quasi  absentem  se  quaerat,  sed  intentionem  voluntatis,  qua  per  alia 
vavatur,  statuat  in  semetipsam  et  se  cogitat.  Ita  videbit  quod  nunquam 
se  non  amaverit,  nuncquam  nescierit). 

Den  Begriff  der  mens  als  wesenhaftes  Denken  hat  Augustinus 
bei  Biotin  gefunden,  während  das  subjektive  individuelle  Bewußtsein 
dessen  bedingt  ist  durch  ein  Objekt,  dem  sich  die  mens  gegenüber- 
setzt (ibid.  XII,  19).  Diese  schon  oben  angeführte  Stelle  im  Zusammen- 
hang mit  ibid.  9, 12 :  sed  cum  dicitur  menti:  cognosce  te  ipsam,  cognoscit 
se  ipsam  macht  das  Bewußtsein  der  mens  abhängig  von  der  Scheidung 
in  Subjekt  und  Objekt;  hierin  liegt  die  Grundlage  für  die  von  Augustinus 
in  de  Magistro  gemachten  Erörterungen.  Die  oben  besprochene 
Konfundierung  ist  es  auch,  welche  Augustinus  seine  eigene  Forderung, 
daß  die  mens  sich  denken  müsse,  wenn  sie  ein  Bewußtsein  von  sich 
haben  solle,  nicht  verstehen  läßt.  (De  Trin.  XIV,  6,  8:  quomodo 
autem  quando  se  non  cogitat,  in  conspectu  suo  non  sit,  cum  sine  se 
ipsa  nuncquam  esse  possit,  quasi  ahud  sit  ipsa  aliud  conspectus  eius 
invenire  non  possum,  wenn  er  auch  dann  an  derselben  Stelle  eine 
Lösung  in  dieser  Frage  zu  geben  sucht,  indem  er  schreibt:  nee  ista 
sane  gignit  istam  notitiam  suam  mens,  quando  cogitando  intellectam 
se  conspicit,  tamquam  sibi  ante  incognita  fuerit:  sed  ita  sibi  nota 
erat,  quemadmudum  notae  sunt  res  quae  memoria  continentur 
etiam  si  non  cogitentur).  I 

Bei  dem  jetzigen  Stand  der  Erörterung  läßt  sich  die  Frage,  ob 
wir  bei  Augustinus  einen  psychischen  Dichotomismus  zu  konstatieren 
haben  oder  nicht,  wohl  leichter  entscheiden.    Vor  allem  wird  zu  er- 


■^1 


Die  Frage  nach  dem  .Seelendualismus  bei  Augustinus.  393 

iiinern  sein,  daß  Augustinus  zu  einer  letzten  endgültigen  Entscheidung 
in  diesem  Punkte  nicht  gelangt  ist.  Diese  wird  ihm  unmöglich,  durch 
Aufnahme  der  neuplatonischen  Gedankenreihe,  die  ja  selbst  der  Un- 
klarheit und  Unbestimmtheit  in  diesem  Gegenstand  nicht  entbehrt, 
in  denen  er  in  gleicher  Weise  wie  seine  Autorität  die  Seele  als  das 
Mittelglied  zwischen  der  AVeit  der  Erscheinung  und  der  Welt  des 
Geistes  betrachtet,  mit  der  höheren  Sphäre  dem  Intelhgiblen  zu- 
gewandt, mit  der  niederen  in  der  Welt  der  Ei'scheinungen,  des  Körper- 
lichen sich  betätigend,  von  der  ersteren  erleuchtet,  mit  unwandelbaren 
Wahrheiten  erfüllt,  und  in  lebendiger  Verbindung  mit  ihr,  die  letztere 
selbst  bildend  und  formend  (De  Trin.  XII,  3,  3).  Von  weiterer  Be- 
deutung ist  die  Gegenüberstellung  von  mens  und  spiritus,  wenn 
auch  in  der  Erweiterung  der  Bedeutung  des  Begriffes  spiritus  dieser 
der  mens  wieder  gleichgesetzt  wird.  So  klar  und  deutlich  auch 
Augustinus  vom  spiritus  und  mens  spricht,  und  durch  Überweisung 
des  ersteren  an  die  Erfahrung,  des  letzteren  an  das  intelhsible  Er- 
kenntnisgel)iet  eine  reale  Scheidung  zu  begTünden  scheint  (XIV,  16,  22 ; 
De  Gen.  ad.  Lit.  XII,  7,  16:  quidquid  enim  corpus  non  est  et  tamen 
aUquid  est,  jam  recte  spiritus  dicitur ;  et  utique  non  est  corpus  quamquis 
corpori  similis  sit,  imago  absentis  corporis,  nee  ille  ipse  obtutus  quo 
cernitur),  die  im  späteren  Mittelalter  noch  zur  Annahme  einer  Viel- 
heit von  Wesensformen  im  Menschen  f ühi'te  (Eberle :  Der  Augustinismus 
und  der  Aristotelismus  in  der  Scholastik  gegen  Ende  des  13.  Jahr- 
hunderts ;  Archiv  f.  Lit.  u.  Kirch.  Gesch.  d.  M.  A.  Bd.  V,  Freiburg  1889), 
so  hebt  er  durch  Hineinnahme  der  Funktion  des  spiritus  in  die  mens 
diese  Scheidung  wieder  auf,  um  in  diesem  selbst  zwei  Seiten  zu  schaffen, 
die  eine  der  Welt  des  praktischen  Handelns,  die  andere  der  unmittel- 
baren Schauung  der  intelhgiblen  Wesenheiten,  dem  Reiche  des  In- 
telhgiblen, losgelöst  von  allem  Körperhchen,  zugewandt,  um  aus  ihm 
alle  Wahrheitserkenntnis  zu  schöpfen  (De  Trin.  XII,  3,  3;  XIII,  14, 22). 
Xach  diesen  Darlegungen  scheint  die  vormirfige  Frage  unter  der 
Fülle  der  Motive,  die  Augustinus  Denken  beherrschen  unlösbar.  Unter 
dem  Gesichtspunkt  des  Entstehens  und  Werdens  unseres  Wissens, 
der  Analyse  des  Begriffes  mens  wird  dafür  zu  sprechen  sein,  daß 
die  mens  das  Doppelelement  des  platonischen  nus  einschheßt  (XV, 
15,  25:  illa  etiam  quae  ita  sciuntur,  ut  nuncquam  excidere  possint, 
quoniam  praesentia  sunt,  et  ad  ipsius  animi  naturam  pertinent,  ut 
est  illud  quod  nos  vivere  scimus.   Id  ergo  et  si  qua  reperiuntur  simiha, 


n94  Kratzer, 

in  quibiis  imago  Dei  potius  intucnda  est,  etiamsi  semper  sciuntur, 
tarnen  qiiia  non  semper  etiam  eogitantur  quoniodo  de  his  dicatur 
verbiim  senipiternum,  cum  verbum  nostrum  iiostra  cogitatione  dicatur 
invenire  difficile  est.  Sempiternum  estenimauimo  vivere  sempiternum 
est  scire  quod  vivit:  nee  tarnen  sempiternum  est  cogitare  vitam  suam 
vel  cogitare  scientiam  vitae  suae:  quoniam  cum  aliud  adque  aliud 
coepetit,  hoc  desinet  cogitare,  quamquis  non  desinat  scire.  Ex  quo 
fit,  ut  si  potest  esse  in  animo  aliqua  scientia  sempiterna  et  sempiterna 
esse  non  potest  eiusdem  scientiae  cogitatio),  wonach  die  mens  ihrem 
Wesen  nach  Denken  ist,  wesenhaftes  Selbstdenken  und  doch  der  An- 
regung zum  Selbstdenken,  d.  h.  zum  Denken,  das  der  einzelnen  Ver- 
nunft in  das  Bewußtsein  kommt,  bedarf,  ein  Moment,  das  auch  in  der 
mittelalterhchen  Philosophie,  speziell  bei  Albertus  Magnus  noch  nicht 
Uberwoinden  ist.  Die  mens  ist  nach  Augustinus  wie  der  nus  nach 
Plotin  das  wesenkonstitutive  Element  des  Menschen,  oder  die  mens 
rationahs,  wie  er  öfters  auch  sagt  in  genauer  Präzisierung  dieses 
Begriffes.  (De  Trin.  XII,  3,  3.)  In  ihrem  idealen  Zustande  ist  sie,  wie 
alle  Dinge,  Leben  im  ewigen  ungeschaffenen  Lichte,  im  Worte,  in  dem 
aUe  Dinge  vor  ihrer  Schaffung,  in  ihrem  vorwelthchen  unzeithchen 
Sein  Leben  haben,  das  keinem  Geschöpfe  ferne  steht.  (Ibid.  IV,  1,  3; 
De  Gen.  ad.  Lit.  V,  15,  33 ff.;  DeMagistro  XI,  38;  die  Hypostasen  bei 
Augustinus  und  Plotin  treffen  sich  im  allgemeinen  in  ihren  Bestim- 
mungen nicht;  über  die  Identität  im  Einzelnen  vergleiche  Grand- 
george: St.  Augustin  et  le  Keoplatonisme,  Paris  1896,  Im  Ein- 
zelnen darauf  einzugehen,  ist  nicht  meine  Absicht,  und  hegt 
nicht  im  Rahmen  dieser  Arbeit.  Ich  will  nur  hinweisen,  daß 
die  Bestimmungen,  die  Augustinus  vom  Intellektus,  vom  Logos, 
der  zweiten  Hypostase  der  Trinität  gibt.  Plotin  bereits  dem  Einen 
zuschreibt,  und  daß  in  den  betr.  Attributen  die  Übereinstimnmng 
eine  wörthche  ist;  das  eine  erscheint  bei  Plotin  in  Beziehung  auf  das 
außer  ihm  Liegende  als  das  Belebte,  das  Leben,  das  Tragende,  in  dem 
die  Dinge  sind,  indem  sie  sich  bewegen,  das  allen  Dingen  nahe  ist, 
das  als  die  Erzeugerin  der  Dinge  erscheint,  das  selbst  nicht  gut, 
nicht  schön,  nicht  denkend  ist,  sondern  über  all  diesen  Prädikaten 
steht.  Augustinus  ist  in  den  Bestimmungen  seines  Logosbegriffes 
hierin  Plotin  nicht  gefolgt,  wohl  aber  in  der  Bezeichnung  seines  Logos 
als  Lebensquelle  cf.  Enn.  VI,  9,  9:  ov  yaQ  djroTSTfj///i6f}^a  ovÖi 
'/co()\q  tOf/8V  ei  xal  jrccQefiJceoovoa  t]  of'>//«roc   (fvoig  jtqoc  avrrjV 


Die  Frage  nach  dem  Seelendualisinus  bei  Augustinus.  395 

ijl^iäc  aiXxvotr,  CüX'  tf/jivtofiev  xal  acoCöfad-ai  oc  dovrog,  tira 
djioöTcwxoq  axeivovg,  alX  cht  ■/oQrjyoirTog  tcog.  äv  ^  ojtSQ  aüriv. 
AVenn  auch  Augustinus  mit  Vorliebe  in  der  Erkenntnis  der  Wahr- 
heit die  Seele  mit  dem  Logos  in  Beziehung  setzt  und  die  Wahrheits- 
erkenntnis von  der  Berührung  der  Seele  durch  den  Logos  abhängig 
macht,  so  dürfen  wir  doch  nicht  übersehen,  daß  er  besonders  unter 
ethischen  Gesichtspunkten  mehr  die  Gottheit  schlechthin,  Deus, 
nicht  seinen  Logos  als  Quelle  des  Lichtes  anerkennt  und  damit  den 
Begriff  Deus  in  Korrespondenz  mit  dem  plotinischen  Einen  setzt 
VI,  9,  7:  ov  yccQ  XBirai  Jtov  iQ/j/tcöüar  avrov  ra  al'j'  Iöxlv  tcö  övra- 
(Jtrcp  d^iysiv  txelro  jtccqov,  rfö  6'  ddcvccTovrTt  ov  xc'cQiijriv,  wobei 
die  Annäherung  oder  Entfernung  von  Gott  im  Sinne  der  Annäherung 
oder  Entfernung  im  Willen  gefaßt  wird  Conf.  X,  26;  De  Gen.  ad. 
Lit.  8,  12),  anderseits  aber  wieder  das  Licht  der  Seele,  das  nach  Biotin 
unmittelbar  für  die  Seele  vom  nus  ausgeht  auf  die  Erleuchtung  von 
Seiten  Gottes  nicht  des  Logos  zurückgeht.  Die  ursprünglich  gegebene 
Verbindung  der  Seele  mit  dem  Leben,  Sein,  der  Weisheit  schlechthin, 
bleibt  auch  noch  bestehen  nach  der  Vereinigung  dieser  ideal  be- 
gründeten Wesenheiten  mit  dem  materiellen  Sein,  wenn  dieselbe 
auch  in  bedeutendem  Masse  durch  Abkehr  von  dem  ewigen  Lichte 
gelockert  erscheint.  Gegeben  zur  Erleuchtung  der  Menschen,  die  in 
Sünde  und  Irrtum  befangen,  es  zurückwiesen,  hat  es  die  Seelen  zur 
Aufnahme  seiner  selbst  geeignet  und  fähig  gemacht,  und  zwar  durch 
den  Heraustritt  aus  der  Gottheit  und  Vereinigung  mit  der  Menschen- 
natur. So  erscheint  als  vornehmster  Zweck  der  Inkarnation  die  Ver- 
mittlung der  Weisheit,  die  Erleuchtung  des  höheren  Seelenteiles,  die 
Augustinus  als  participatio  bezeichnet.  (De  Trin.  IV,  2,  4:  contra 
Acad.  III,  19,  53;  contra  Ep.  manich.  36:  docet  autem  unus  verus 
magister,  ipsa  incorruptibilis  veritas,  solus  magister  interior  qui 
etiam  jani  exterior  factus  est  ut  nos  ab  exterioribus  ad  interiora 
revocaret.) 


XII. 

Die  Kausalität  bei  Kant  in  neuer  Beleuchtung. 

Von 
Prof.  Dr.  Joh.  ZahlHeisch. 

In  der  Kausalität  haben  wir  zwar  anch  ein  Beharrliches,  nämlich 
das  Kansalitätsverhältnis,  wie  in  der  Substanz;  aber  hier  ist  der  not- 
wendio-  vorauszusetzende  Begriff  auf  Wandelbarkeit  ausschließlich 
gebaut.  Man  könnte  sagen:  AVährend  der  Substanzbegriff  auf  dem 
Wandel  beruht,  ist  die  Kausalität  auf  der  Beharrung  aufgebaut.  Aber 
so  gut,  wie  wir  die  Substanz  nicht  durch  Erfahrung  im  gewöhnlichen 
Sinne  bestimmen  können,  da  eher  die  Erfahrung  wegen  des  den  Bestand 
der  Substanz  bedrohenden  Tatbestandes  es  unmöglich  machte,  insofern 
die  Substanz  nur  im  Spiegel  der  Veränderlichkeit  wahrgenonnnen 
wü"d,  ebenso  kann  die  Kausalität  nur  dui"ch  eine  gewisse  Alt  des  Be- 
harrens gefunden  werden.  Diese  Beharrung  beruht  dai'auf,  daß,  da 
Kausalität  immer  die  Annahme  einer  Erscheinung  vor  einer  anderen 
unter  Zugrundelegung  der  ewig  formalen  Zeitanschauung  als  Funda- 
mentes bedeutet,  immer  das  Bleibende  an  der  Kausalität  darin  be- 
steht, „daß  dadm-ch  als  notwendig  bestimmt  wird,  welcher"  jener 
beiden  Zustände,  die  in  der  Imagination  das  Eine  dem  Anderen 
vorangehen  läßt,  vorher,  welcher  nachher  und  nicht  umgekelirt  müsse 
gesetzt  werden"  (Kiit.  d.  r.  V.  S.  181).  Habe  ich  z.  B.  ein  mit  Pulver 
gefülltes  Faß,  welches  durch  einen  Funken  explodiert,  so  ist  immer 
zuerst  das  Pulver  gegeben  und  dann  erst  fällt  der  Funke  hinein,  nicht 
umgekehrt,  daß  ich  einen  Funken  habe,  in  welchen  jenes  Faß  hinein- 
gerät. Daher  nenne  ich  den  Funken  die  Ursache  dafür,  daß  das  bereit 
stehende  Faß  in  die  Luft  fliegt,  nicht  umgekehirt  dieses  Pulverfaß 
eine  Ursache  für  irgend  eine  Besonderheit  jenes  Funkens.  Wenigstens 
ist  das  der  natürliche  und  gewöhnliche  Vorgang.  Und  so  in  allen 
anderen  FäUen:  Die  Sonne  und  der  Regen  nüissen  unbedingt  gegeben 
sein,  auf  daß  der  Regenbogen  entstehe,  nicht  der  Regenbogen  ist 
Ursache  der  Sonne  und  des  Regens  usw.  Also  eine  bestimmte  Sukzession 
muß  vorhanden  sein,  welche  durch  den  Zeitablauf  charakterisiert 
und  durch  eine  integrale  Wahrnehmungsbestimnning  materialisiert 
ist.    Darauf  deuten  die  Worte  S.  191  und  196,  erstere  bezüghch  des 


Die  Kausalität  bei  Kaut  in  neuer  Beleuchtung.  397 

Zeitablaufs,  letztere  bezüglich  der  Materialisierung.  In  Hinsicht  der 
letzteren  nehmen  wir,  nm  die  Einzelheiten  des  jeweihgen  Kaiisal- 
prozesses  zu  gewinnen,  die  materielle  Kegel  vorweg.  „Wk  antizipieren 
nur  unsere  eigene  Apprehension,  deren  formale  Bedingung,  da  sie 
uns  vor  aller  gegebenen  Erscheinung  selbst  beiwohnt,  allerdings 
a  priori  muß  erkannt  werden  können.'"  Natüi-hch  gilt  das  für  jeden 
einzelnen  Kausalfall,  aber  auch  für  die  ganze  Kausalität.  Bedenken 
wii-  aber  nun,  was  fiü-  ein  gewaltiger  Apparat  an  Methoden  und 
Operationen  dazu  gehört,  einen  besonderen  Fall  zu  erkennen,  indem 
wir  ja  die  Wahrnehmung,  Einbildungsla-aft,  Bestimmung  des  Falls 
nach  den  Kategorien  usw.  zunächst  in  Anwendunir  bringen  müssen, 
so  ergibt  sich,  daß  wir  das  betreffende  Ziel  erst  dann  erreichen,  wenn 
wir  uns  zuerst  alle  rudimentären  Erscheinungsweisen  zurecht  gelegt 
oder,  besser,  wenn  wü'  vor  allem  die  niecb-igeren  Potenzen  bestimmt 
haben,  von  denen  der  zu  erklärende  Fall  die  Vollendung,  wenigstens 
in  relativem  Sinne,  bildet.  Eines  der  hier  notwendigen  Ingredientia 
ist  der  unter  den  „Grundsätzen  erwähnte  Satz  des  saltus  non  datur 
(Kl-,  d.  r.  V.  S.  2131).  Er  will  nicht  weniger  besagen,  als  daß  in  der 
Natur  keine  Zufälligkeit  herrscht.  Damit  meint  K.  natüi-lich  die  der 
Wissenschaft  unterworfene  Natur. 

Wir  gelangen  aber  damit  zu  einer  prinzipiellen  Frage:  Hat  die 
Philosophie  Wissenschaftscharakter?  Denn  mit  der  Bejahung  oder 
Verneinung  dieser  Frage  steht  und  fällt  alle  Kausalität,  alle  damit  ver- 
knüpfte Notwendigkeit.  Man  kann  darauf  sagen:  Aber  z.  B.  Mathe- 
matik beweist  doch  die  absolute  Notwendigkeit  der  Ereignisse  und 
wenn  nichts  anderes,  so  muß  die  Mathematik  den  Dingen  und  der 
Philosophie  unter  allen  Umständen  Wissenschaftscharakter  verleihen. 
Aber  Mathematik  ist  nur  etwas  Formelles,  während  die  Entwickluno- 
der  Philosophie  auch  den  substantiellen,  dynamischen,  materiellen 
Faktor  unter  die  Lupe  ihrer  Betrachtung  bringt.  Mathematik  als 
solche  bietet  keinen  Anhalt,  diese  letzteren  Bestandstücke  al.^  solche, 
die  Dynamik,  die  Materie,  die  Substanz  zu  entwickeln.  Wohl  ruht  sie 
auf  diesem  Fundamente,  denn  die  Ursprünge  der  Mathematik  (Zahlen- 
lehi-e  und  Geometrie)  weisen  mit  Naturnotwendigkeit  auf  dieses 
Dynamische  usw.,  ja  in  der  praktischen  Verwendung  des  Mathemati- 
schen werden  wir  immer  gestört  durch  unvorhergesehene  physikalische, 
elementare  Einflüsse,  wie  wir  z.  B.  alle  Tage  erleben,  falls  es  sich  zeigt, 
daß    selbst    die    genannten    mathematischen    Messungen,    Schienen- 


398  Johann  Zahlfleisch, 

geleise,   Tuiinelbautcn,   Maschinenkonstruktionen   vor   der  Allgewalt 
der  Naturmächte  keinen  Bestand  haben  und,  ohne  daß  wir  ein  Unglück 
voraussehen,  dasselbe  eintritt.  Also  ist  auch  Mathematik  kein  Elixier 
in  philosophischer  Beziehung,  kein  Allheilmittel,  welches  es  doch  sein 
sollte,  WTun  Philosophie  ilu"en  Zweck  erfüllt.     Ja  nicht  einmal  das 
relativ  beste  Heilmittel  ist  Mathematik;  hat  man  es  ja  doch  gerade 
dieser  Wissenschaft  zum  Vor\nu'fe  gemacht,  daß  sie  das  Massenelend 
durch  Fabriken  und  Maschinenbetrieb,  der  doch  nur  auf  der  genauen 
Konstruktionsmöghchkeit  beruht,  durch  Erfindung  von  eben  solchen 
AVaffen  u.  dgl,  durch  die  in  ilu^em  Gefolge  auftretenden  Schäden  in 
der  Sozietät  (Sozialdemoki'atie)  auf  ihrem  Gewissen  hat.    Mindestens 
kann  man  von  der  physischen  Seite  auf  die  mathematische  die  Schuld 
an  aller  Misere  besagter  Art  wälzen  und  die  Grenze  ist  schwer  zu  ziehen. 
Also,  wenn  die  Mathematik  kein  ewig  geltendes  exaktes  Mittel 
gegen  die  Gebrechen  dieses  Lebens  ist,  was  sollte  es  dann  sein?  Kurz  — 
die  Philosophie  als  solche  hat  keinen  Wissenschaftscharakter.     Wir 
müssen  uns  daher  schon  bescheiden  und  in  jene  Worte  Kants  vom 
saltus  non  datur  das  hineinlegen,  was  sie  im  eigenthchen  Sinne  be- 
deuten wollen:  Wenn  wir  von  Kausahtät  reden  wollen,  —  und  daß 
wir  dieselbe  brauchen,  daran  ist  gar  kein  Zweifel  —  so  besteht  kein 
Zufall,  keine  außerhalb  der  Notwendigkeit  befindliche  Wunderkraft, 
sondern  Alles  hängt  naturgemäß  zusammen.    Daran  ändert  sogar  die 
Einsicht  in  überirdische  Zustände  nichts.     Denn  in  der  Tat  gibt  es 
solche ;  wir  brauchen  nur  unsere  Augen  zu  erheben ;  denn  da  erblicken 
wir  die  Sterne,  auf  welche  wir  keinen  Einfluß  nehmen,  obschon  wir 
selbst  unter  der  Kraftwirkung  vor  allem  unserer  Sonne  stehen,  von 
welcher   doch  auch  angenommen  werden  muß,   daß  sie  gleichfalls 
der  Einwirkung  von  selten  anderer  Gestirne  unterliegt.   Freilich  haben 
wir  hiermit  keine  sichere  Gewähr  gegeben.    Aber  das  Ablaufen  aller 
Erscheinungen  in  der  Natur  und  im  Menschenleben,  sowie  es  sich 
unseres  Geistes  Augen  vorspiegelt,  zeigt  trotz  Elementarereignissen, 
Naturumwälzungen  und  KJ:iegsungiück  doch  so  viel  Konsistenz  und 
Widerstandsfähigkeit,  daß  man  mit  fast  gi'ößerer  Sicherheit  darauf 
schwören  kann,  daß  auch  in  Zukunft  die  Dinge  so  weiter  gehen  werden, 
als  man  davon  überzeugt  ist,  daß  das  Menschengeschlecht  immer 
wieder  nur  dm"ch  Geburten  seine  Lücken  ausbessert,  so  wie  ihm  die- 
selben allerdings  durch  den  sicheren  Tod  der  Individuen  und  —  Völker 
veranlaßt  werden.    Zudem  finden  wir,  daß  in  unserem  Gefühlsleben, 


Die  Kausalität  bei   Kant  in   neuer  Beleuchtung.  399 

in  Sitte,  Recht  und  Gesetz,  in  Gesellschaft  und  Kunst  die  Einfluß- 
nahme des  Rechten  und  Guten  auf  etwaige  Auswüchse  reoelmäßig 
in  dem  Sinne  der  Ausgleichung  erfolgt  und  Überhebungen  immer  auch 
wieder  —  man  weiß  nicht  immer  recht,  wie?  —  zu  Boden  geschlagen 
werden,  während  geringfügigeren  und  umechtmäßig  unterjochten 
Faktoren  der  endliche  Sieg  über  das  Gemeine  und  Niedrige  mit  Natur- 
notwendigkeit geUngt.  Also  es  ist  richtig:  in  mundo  non  datm  casus, 
non  datm*  fatum,  non  datur  hiatus.  Man  könnte  auch  hier  sagen: 
In  hoc  signo  vinces.  Vertrauen  zur  Natur,  Vertrauen  in  ihre  dadurch 
prognostizierten  Gesetze,  das  allein  veranlaßt  uns  zu  dem  wissen- 
schafthchen  und  praktischen  Tun,  welches  die  Menschheit  nun  vielleicht 
schon  Milhonen  von  Jalu'en  übt. 

Vergleichen  wir  nun  aber  diesen  Beweis  mit  dem  Kantschen. 
K.  sagt,  daß  ein  bloß  subjektives  iVufeinanderfolgen  noch  keine  Gewähr 
dafür  biete,  daß  am  Ende  der  Sachverhalt  nicht  auch  umgekehrt 
werde.  Bei  Betrachtung  der  Teile  eines  Hauses  könnten  diese  entweder 
von  unten  nach  oben  oder  auch  umgekehrt  von  oben  nach  unten 
reproduziert  werden.  Wollten  wir  diese  subjektive  Betrachtungsart 
auch  bei  Beurteilung  von  an  sich  in  gleicher  Weise  bezüglich  des 
Beisammenseins  der  Elemente  des  Kausahtätsgedankens  beschaffenen 
Teile  desselben  (Ursache  — Wirkung  —  Pulver  —  Funke)  anwenden, 
so  müßte,  insofern  wü*  von  einer  Ursache  erst  nach  vollzogener  Wirkung 
sprechen  (denn  wo  und  wann  eine  Wirkung,  da  und  dann  ist  auch  eine 
Ursache,  so  daß  beide  wenigstens  in  Gedanken  einen  Moment  zu 
gleicher  Zeit  gegeben  sind),  der  Entscheid  schwer  fallen,  welches 
von  den  beiden  Ursache,  welches  Wü'kimg  ist.  Daher  bedarf  es  eines 
uns  dmch  eine  Verstandesregel  (nicht  dmch  die  Humesche  Gewohn- 
heit) gegebenen  Apriorisatzes,  auf  daß  wir  uns  in  den  zuletzt  bezeich- 
neten Fällen  kausahter  ziu^echt  finden. 

Also  einer  Regel  bedürfen  wir,  die  uns,  ebenso  wie  die  einzelnen 
Kausalvorgänge,  objektiv  gegeben  sein  muß,  d.  h.  die  a  priori,  wie 
auch  bei  der  Substanz,  den  Kategorien  und  bei  Raum  und  Zeit 
gesetzten  Apriorismen  müssen  hier  objektive  Bedeutung  haben. 
Indem  diese  Apriorismen  durch  Erfalu'ung  sich  in  uns  festsetzen,  er- 
halten wir  zugleich  den  Eindruck  der  Notwendigkeit,  womit  zugleich 
das  Gesetz  der  Kausalität  gestützt  wird,  weil  uns  dasselbe  besagt, 
daß  unbedingt  auf  eine  zum  Zwecke  der  Hervorbringung  einer  Sache 
gesetzte  Ursache   auch  die  Wirkung  erfolgen  muß,   wozu  eben  und 


400  Johann  Zahlflcisch. 

wodurch  jede  Zufälligkeit  ausgeschlossen  ist,  insoferne  alles  auf  Ver- 
änderung beruht,  eine  Veränderung  uns  aber  immer  nm-  unter  dem 
Bilde  der  wirkhchen  oder  vermeinten  Kausalität  klar  gelegt  werden 
kann,  da  sonst  der  menschliche  Verstand  kein  Verstand  mehr  wäre 
oder  derselbe  nur  bruchstückweise  wirken  müßte.  Zu  dieser  Kausalität 
gehört  aber  auch  das  feste  Fundament  der  äußeren  Anschauung. 
Denn  wo  Erfahrung,  da  ist  Anschauung.  Diese  muß  innerhalb  des 
Rahmens  der  Kausalität  sich  in  Form  der  Bewegungsqualität  äußern 
(Kr.  d.  r.  V.  S,  219),  weil  Kausalität  auf  dem  Grunde  der  Veränderung 
ruht  und  weil  letztere  nur  durch  die  Anschauung  der  Bewegung 
möglich  ist.  So  basiert  das  eine  auf  dem  anderen;  und  sowie  wir 
Substanz  auf  Veränderung,  diese  auf  der  Natm-  der  Kausalitäts- 
beziehung, diese  wieder  auf  Bewegung,  Raum,  Zeit  sich  gründen 
sahen,  ebenso  verhält  es  sich  mit  den  Postulaten,  Kategorien  usw. 
Nichts  anderes  will  w^ohl  auch  Natorps  Erldärung  der  Objektivität 
des  Erkennens  bei  Kant  durch  das  Bild  von  der  Bewegung  nach  zwei 
entgegengesetzten  Richtungen  (bei  Frischeisen-Köhler,  moderne 
Philosophie  S.  90),  wobei  nur  zu  bemerken  wäre,  daß  dem  wegen  des 
bloß  idealen  Zusammentreffens  der  beiden  Richtungs-  und  Bewegungs- 
zustände  es  immer  noch  nötig  erscheint,  daß  zum  Zwecke  der  Aus- 
füllung der  hiermit  entstehenden  Lücke  aller  menschliche  und  götdiche 
Intellektuahsmus  allein  nicht  ausreicht,  da  ja  noch  andere  Faktoren, 
wie  Schopenhauer,  Deußen,  Siegwart,  Wartenberg,  Hartmann,  Drews, 
Fichte,  AVundt,  Schleiermacher,  Jacobi  beweisen,  mächtig  um  Einlaß 
begehi-en.  Alle  die  von  diesen  Männern  gemachten  Einwendungen 
gehen  darauf  hinaus,  daß  zwischen  zwei  Dingen  die  Entscheidung 
fallen  muß.  Entweder  ist  Subjekt  und  Objekt  getrennt,  oder  die 
beiden  faDen  in  dem  Ichbe\Mißtsein,  auf  welches  Alles  bezogen  wird, 
zusammen.  Letztere  Annahme  ist  wiegen  Fichtes  Fiasko  unmöglich 
geworden.  Also  bleibt  nur,  daß  man  den  Dualismus  annimmt,  freihch 
einen  durch  hypothetische  Bestimmungen  gewährleisteten  Duahsmus. 
Eine  Überbrückimg  dieses  Duahsmus  könnte  durch  die  in  neuester 
Zeit  in  die  Wege  geleitete  Untersuchung  des  emotionalen  Faktors 
insbesondere  in  Hinsicht  auf  seine  Verwendung  beim  Denkprozesse 
(Heimich  Maier  in  Tübingen)  auf  Grund  psychophysischer  Unter- 
suchung a  la  Alfred  Lehmann  möglich  werden.  Vgl.  meine,  nächstens 
in  der  „Neuen  metaphysischen  Rundschau''  in  Berlin  erscheinende 
Abhandlung  über  diesen  Gegenstand, 


^ 


XIll. 

Das  Substanzproblem,   eine  philosophiegeschichtliche 

Darstellung. 

Von 
Dr.  phil.  Luise  Krieg. 

Der  Glaube  an  die  lebensfrohe  Götterwelt  des  Homer  und  Hesiod 
war  erschüttert.  Mochte  der  künstlerische  Sinn  der  Griechen  sich 
auch  durch  den  olympischen  Kult  befriedigt  gefühlt  haben,  dem 
denkenden,  forschenden  Geiste  konnte  er  auf  die  Dauer  nicht  ge- 
nügen. Mit  der  Sehnsucht  nach  dem  unbekannten  Gotte  verstärkte 
sich  der  Trieb  nach  Wahrheit.  Wer  ist  der  Ursprung  alles  Seins, 
wenn  es  die  Olympier  nicht  sind?  Was  ist  Wahrheit?  Was  ist  das 
Beharrende,  Beständige,  Absolute,  welches  ist  die  Lebensquelle,  die 
nie  versiegt,  sondern  ewig  ist,  ohne  Anfang,  ohne  Ende?  Man  nannte 
diesen  Lebensspender,  diesen  Grund  des  Seins  die  Substanz.  Die 
Griechen  suchten  sie  bald  in  der  stofflichen,  bald  in  der  gedanklichen 
Welt,  immer  aber  war  es  die  Frage:  Was  ist  die  wahre  ovoia,  was 
ist  die  Substanz?,  die  sie  bewegte. 

AVar  die  überlebte  Volksrehgion  eine  Vergötterung  der  Natur- 
kräfte gewesen,  so  Heß  man  nun  den  Mythos  bei  seite  und  suchte 
das  Wesen  der  Natur  mit  dem  Verstände  zu  erfassen.  Man  wollte 
den  Schleier,  mit  dem  die  Außenwelt  die  Substanz  verhüllte,  lüften. 

Die  ersten,  die  das  unternahmen,  waren  die  Milesier.  Sie  glaubten. 
die  Substanz  in  einem  Urstoff,  einem  Element  gefunden  zu  haben, 
aus  dem  sieh  alles  andere  Sein  entwickelt.  So  führte  Thaies  alles 
Leben  auf  das  Wasser  zurück,  Anaximander  sah  die  Substanz  in 
einem  gedachten  Urstoffe,  dem  ajcsiQor,  einem  unbestimmten,  un- 
endhchen  Etwas,  aus  dem  sich  auf  mechanischem  Wege  durch  Aus- 
sonderung das  Kalte  und  das  Warme,  das  Flüssige  und  das  Trockene 
bildete,  und  Anaximenes  erklärte  die  Luft  für  den  Ursprung  alles 
Seins  nach  Analogie  der  menschüchen  Seele.  Denn  wie  diese  den 
Körper,  so  halte  die  Luft  die  Welt  zusammen. 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVin.  4.  26 


402  Luise  Krieg. 

Es  war  die  Liebe  zur  Natur,  die  den  Milefieru  diesen  Weg  der 
Forschung  wies,  während  die  Pythagoreer,  vom  Geiste  der  Musik 
getrieben,  die  Lösung  des  Welträtsels  mit  Hilfe  der  Mathematik 
versuchten.  Diese  Wissenschaft  lehrte  sie,  daß  nur  die  Zahlen  und 
ihre  Verhältnisse  unbedingt  gewiß,  „ohne  jeden  Lug"  sind.  Ein 
Hauch  der  Ewigkeit  wehte  sie  an  bei  der  Erkenntnis,  daß  die  Eins 
mit  ihrer  unendlichen  Vermehrbarkeit  nach  oben  und  ihrer  unend- 
lichen Teilbarkeit  nach  unten  auch  das  einzige  Unendhche,  Ewige 
auf  Erden  ist.  Sie  spürten  den  wahren,  ewigen  Formen,  dem  Maß 
und  der  Harmonie  in  der  Welt  nach,  und  da  sie  die  mathematische 
Gesetzhchkeit  in  der  ganzen  Natur  wiederfanden,  so  war  für  sie  die 
Zahl  —  ein  Gedankending  —  das  Element  aller  Dinge,  der  Erzeuger 
alles  Lebens.  Aus  der  Eins  entwickelten  sie  den  Gegensatz  der  un- 
geraden und  geraden  Zahlen,  des  Begrenzenden  und  Unbegrenzten 
und  führten  den  Begriff  des  Gegensatzes  überhaupt  in  ihrer  Welt- 
erklärung durch. 

Diesem  Duahsmus  traten  die  Eleaten  entgegen.  Xenophanes, 
hingerissen  von  Bewunderung  für  die  Natur  und  das  Göttliche  in 
ihr,  brach  in  das  anbetende  Bekenntnis  aus:  „Gott  ist  tv  xcd  jräv\ 
Es  ist  dasselbe  Gefühl,  das  Kant  zu  dem  Geständnis  trieb:  „Zwei 
Dinge  erfüllen  das  Gemüt  mit  immer  neuer  und  zunehmender  Be- 
wunderung und  Ehi-furcht,  je  tiefer  und  anhaltender  sich  das  Nach- 
denken damit  beschäftigt.  Der  bestirnte  Himmel  über  nur  und 
das  morahsche  Gesetz  in  mir."  Es  ist  dasselbe  Gefühl,  das  dem  Men- 
schen sicher  sagt,  das  Gemeinsame  des  Einen  und  des  Alls,  des  Geistes 
und  der  Natur  ist  das  Göttliche,  in  ihm  ist  alles.  Die  Gottheit,  das 
Sein  ist  nur  eines.  Denn  nur,  was  widerspruchslos  gedacht  werden 
kann,  ist  wahr,  existiert.  Die  unendhche  Zeit,  der  unendhche  Raum 
existieren.  Denn  sie  haben  keinen  Gegensatz.  Und  so  dachten  sich 
die  Eleaten  das  wahi'e  Sein  unendhch,  unteilbar  und  unkörperlich 
(Mehssos),  überall  sich  selbst  gleich;  ein  Sein,  das  nur  gedacht  werden 
konnte,  das  aber  nicht  erkennbar  war.  Ihre  Einheitslehre  gipfelte 
in  dem  Satze  des  Parmtnides:  „Dasselbe  ist  Denken  und  Sein." 
Die  Vielheit  der  Außenweltdinge  und  ihre  Abwandlungen  war  für 
sie  nur  eine  trügerische  Vorspiegelung  der  Sinne. 

Gerade  diese  Veränderlichkeit  hielt  Heraklit  von  Ephesos  für 
das  Einzige,  was  immer  war  und  ist  und  sein  wird.  Für  ihn  gab  es 
kein  Sein,  sondern  nur  ein  Werden,  für  ihn  war  das  einzig  Feststehende 


Das  Substanzproplem,  eine  philosophie geschichtliche  Darstellung.       403 

die  Erkenntnis,  daß  ,, alles  fließt",  daß  alles  in  ewigem  Wechsel  be- 
griffen ist.  Denn  erwiesenermaßen  erzeugt  jedes  Ding  sein  Gegen- 
teil, aber  beide  sind  nur  verschiedene  Äußerungen  ein  und  derselben 
Grundkraft,  des  Feuers,  das  den  ewigen  Kreislauf  der  Dinge  hervor- 
ruft. Aus  dem  Feuer  wird  Wasser,  aus  diesem  Erde,  das  Trockene 
verwandelt  sich  wieder  in  das  Flüssige  und  dieses  in  Äther,  den  feu- 
rigen Hauch.  So  ist  das  Feuer  der  Ausgangspunkt  der  ewigen  Ord- 
nung, das  Gesetz,  das  alles  Werden,  das  alle  Veränderung  bewirkt. 
Weder  die  Eleaten  mit  ihrer  starken  Einheitslelu-e  vom  Sein  noch 
Heraklit  mit  seiner  Lehre  vom  Werden  haben  die  Welt  des  Seins 
und  die  der  Erscheinung  in  Einklang  miteinander  gebracht. 

Diesen  Mangel  suchten  Empedokles,  Anaxagoras  und  Demokrit 
zu  beseitigen,  indem  sie  zu  dem  einen  unwandelbaren  Sein  die  Be- 
wegung hinzufügten,  durch  die  das  Werden  erklärt  wird.  Ihre  Sub- 
stanz besteht  aus  immer  sich  gleichbleibenden,  unveränderhchen 
^lassenteilchen,  die  sich  nur  in  verschiedener  Menge  verbinden  und 
trennen  und  dadurch  die  verschiedenen  Gegenstände  und  den  Wechsel 
der  Erscheinungen  schaffen.  Empedokles  setzt  die  Substanz  aus 
vier  (nCcö/iaTa,  aus  vier  Lebenswurzeln:  Feuer,  Wasser,  Erde,  Luft, 
zusammen,  die  zu  einer  Kugel  vereinigt  waren  und  durch  den  von 
außen  herantretenden  Streit  in  Bewegung  gebracht  und  voneinander 
getrennt  wurden,  so  daß  sie  sich  nun  verschieden  mischen  zu  orga- 
nischer und  anorganischer  Welt.  Der  Streit  hat  weiter  keine  Funktion 
als  die  des  ersten  Bewegers.  Die  Verbindung  der  Teile  ist  daher 
eine  zufälKge,  aber  nur  die  sinnvollen  Körper  haben  Lebenskraft. 
Wie  bei  Empedokles  aus  Würzelchen,  so  geht  bei  Anaxagoras  die 
Welt  aus  unendhch  vielen  o.-rtQf/ara  oder  Lebenssamen  hervor.  Sie 
wurden,  damit  sie  sich  verbinden  und  trennen  konnten,  von  außen 
her  durch  den  rovc,  die  Weltvernunft,  bewegt.  Dieser  vovg  ist  die 
Ursubstanz,  das  feinste,  reinste  und  leichteste  aller  Dinge,  also  noch 
stoffhch  gedacht,  aber  ungemischt,  wenn  auch  teilbar;  denn  er 
ist  nicht  nur  der  Anstoß  zur  Bewegung,  wir  finden  ihn  auch  in  den 
Menschen,  den  Tieren,  den  Pflanzen.  Im  Gegensatz  zu  dem  Streit 
des  Empedokles  verfolgt  er  noch  einen  besonderen  Zweck,  die  Welt- 
regierung; denn  er  herrscht  mit  Einsicht  über  die  Dinge.  So  unter- 
scheidet Anaxagoras  zwei  quahtativ  voneinander  verschiedene  Sub- 
stanzen, den  votg  und  die  ojrtQfiata. 

Durch  das  Moment  der  Bewegung  wird  der  Gedanke  des  mecha- 

26* 


404  Luise   Krieg, 

nischen  in  dio  Philosophie  eiiiii^cführt.  Der  bedeutendste  Vorläufer 
der  modernen  mechanischen  Naturauffassung  ist  Demokrit.  Die  Welt 
des  Seienden,  die  Substanz,  besteht  nach  ihm  aus  unendlich  vielen, 
kleinsten  Teilchen,  sie  sind  unteilbar,  unge worden,  unvergänglich, 
unsichtliar,  aber  doch  körperlich  gedacht.  Ihrer  Unteilbarkeit  wegen 
nannte  er  sie  Atome.  Sie  bewegen  sich  aus  Notwendigkeit,  ohne 
Zweck,  und  damit  sie  sich  bewegen  können,  denkt  er  sie  getrennt 
durch  den  leeren  Raum.  Mit  dem  Begriff  der  unsichtbaren  Atome 
und  des  leeren  Raumes  konstruiert  er  ein  „Sein  ohne  Materie".  Die 
Atome  sind  nur  quantitativ  voneinander  verschieden,  nur  verschieden 
an  Gestalt,  Lage  und  Größe,  „an  sich"  existiert  nur  das  Atom,  die 
reine  Form,  die  ö;f/y//«T«.  So  stellt  Demokrit  der  Stoffsubstanz  eines 
Tales  die  Formsubstanz  gegenüber.  Zwischen  beiden  liegen  die 
mannigfaltigsten  Denkmöghchkeiten  für  Substanzerklärungen.  Eine 
jede  könnte,  weil  logisch  folgerichtig  aufgebaut,  wahr  sein.  AVelche 
von  ihnen  entspricht  nun  der  tatsächhchen  Welt?  Welches  ist  das 
Kriterium  der  Wahrheit? 

Gibt  es  überhaupt  eine  allgemein  gültige  Wahrheit?  Die  So- 
phisten waren  es,  die  diese  Frage  aufwarfen  und  dahin  beantworteten, 
daß  für  jeden  Menschen  das  wahr  sei,  was  ihm  als  wahr  erscheine. 
Es  gab  für  sie  keine  absolute,  nur  eine  relative  Wahi'heit,  eine  Er- 
kenntnis, die  ihrer  Art  nach  dazu  angetan  war,  zu  leugnen  und  ein- 
zureißen. Es  mußten  erst  die  ganz  Großen  kommen,  um  wieder  auf- 
zubauen, die  ganz  Großen,  die  den  genialen  Glauben  an  eine  allgemein- 
gültige Wahrheit  in  sieh  trugen  und  die  Kraft  spürten,  sie  zu  finden. 

Sokrates  sah  von  dem  eigenthchen  Substanzproblem  ab.  Ihm 
lag  vielmehr  daran  zu  ergründen,  was  jeder  einzelne  Gegenstand 
„an  sich"  sei.  Durch  die  Fragestellung:  quid  iuris?  suchte  er  die 
Berechtigung  der  Benennungen,  suchte  er  das  Wesen  der  einzelnen 
Dino;e  aufzudecken  und  in  einer  Definition  festzuhalten.  Durch 
diese  seine  Methode  wies  er  seinen  größeren  Schüler  Plato  auf  das  be- 
gTiffliche  Sein  hin. 

Plato  ging  den  Definitionen  auf  den  Grund  und  fand,  daß  die 
Begriffsbestimmungen  uns  nur  möglich  sind,  weil  wir  in  unserem 
Geiste  die  Idee  des  wahren  Seins  haben.  Die  irdischen  Gegenstände 
sind  nur  Spezialfälle  der  Uridee,  diese  ist  das  Musterbild,  das  Allge- 
meine, von  dem  die  Einzeldinge  nur  Abbilder  sind.  Die  Vernunft- 
dinge, die  Gedankendinge  sind  das  ursprüngliche,  das  walu'haft  Seiende, 


Das  iSubstanzproblein,    eine   philosophiegeschichtliche  Darstellung.      405 

sie  sind  die  Substanz.  Aber  wie  kamen  dieee  Vernunftdinge  in  unsere 
Seele?  Die  x\ntwort  ist  von  hinreißender,  poetischer  Schönheit. 
Sie  sind  nicht  durch  Abstraktion,  durch  Denkprozesse  erworben  oder 
der  Seele  eingeboren,  sondern  sie  sind  Erinnerungen,  die  die  Seele 
aus  ihrem  vorirdischen  Dasein  mit  auf  diese  Welt  brachte.  Anfangs 
existierten  nur  der  Demiurg,  das  formlose  Substrat  —  beide  vergäng- 
lich gedacht  —  und  die  sich  selbst  stets  gleichbleibende  Ideenwelt. 
Aus  diesen  beiden  mischte  der  Demiurg  die  Weltseele,  aus  ihr  ent- 
standen die  Seelen.  Ehe  nun  die  Seelen  auf  die  Erde  gingen,  traten 
sie  eine  Fahrt  nach  den  seligen  Gefilden  der  Wahrheit  an,  wohnten 
bei  den  göttlichen  Ideen  und  brachten  von  dort  Erinnerungen  mit, 
die  auf  der  Erde  durch  die  Sinne  getrübt  werden.  Mag  Plato  nun  den 
Ideen  außerhalb  der  irdischen  Welt  eine  reale  Wirkhchkeit  zuer- 
kannt haben  oder  nicht,  jedenfalls  erklärte  er  die  allgemeine  Idee, 
das  Vernunftding,  wie  wir  es  in  unserem  Geiste  erschauen,  für  die 
Substanz,  für  das  walire  Sein. 

An  diesem  Punkte  setzte  sein  Schüler  Aristoteles,  der  dem  hohen 
Gedankenfluge  des  Meisters  nicht  folgen  konnte,  ein.  Ihm  ist  nicht 
das  Vernunftding  die  Substanz,  für  ihn  existiert  wahrhaft  nur  der 
einzelne  Gegenstand.  Das  den  einzelnen  Gegenständen  Gemeinsame 
—  die  platonische  Idee  — ,  das  in  sie  hineingelegt  wird,  ist  die  Sub- 
stanz. Sie  ist  der  Träger  der  Eigenschaften,  die  wir  durch  die  Sinne 
wahniehmen.  Jeder  einzelne  Gegenstand  hat  auch  eine  Ursache 
und  einen  Zweck,  die  in  ihm  verborgen  liegen  und  sein  Wesen  aus- 
machen. Dies  ist  der  DuaHsmus  von  Ursache  und  Zweck,  so  daß 
wir  bei  Aristoteles  schließlich  drei  Substanzen  unterscheiden  müssen. 
Neben  dem  einzelnen  Gegenstande  nennt  er  auch  noch  Stoff  und 
Form,  die  Ursache  und  Zweck  entsprechen,  als  Substanzen.  Der 
Stoff  ist  gestaltlos  und  enthält  nur  die  MögMchkeit  zu  einer  realen 
Existenz  in  sich.  Zur  Wirklichkeit  erhebt  ihn  erst  die  Form,  erst 
sie  gibt  dem  Stoff  das  Leben,  erst  sie  verleiht  ihm  das  wirkliche 
Dasein. 

Demgegenüber  faßten  die  Stoiker  Stoff  und  Form,  Körper  und 
Geist  als  eine  Einheit  auf,  für  sie  war  nur  der  Körper  wirklich.  Da- 
durch wurden  sie  zur  Annahme  einer  stoffhch  körperlichen  Substanz 
geführt.  Alles,  was  Kraft,  was  Leben  hat,  alles,  was  wirkt,  ist  Körper, 
also  auch  Abstraktes,  auch  die  Seele  ist  Körper,  ist  Substanz.  Man 
fing  eben  an,  nach  dem  hohen  Geistesflug  der  drei  Heroen  die  wahre 


406  Luise  Krieg, 

ousia  wieder  woniger  in  der  begrif fliehen  und  wieder  mein*  in  der 
sinnlichen  AVeit  zu  suchen. 

Das  tat  in  konsequenter  Durchführung  Epikur  von  Sanios. 
Er  wollte  die  Vielheit  der  irdischen  Erscheinungen  dadurch  erklären, 
daß  er  alles  Bestehende  in  Atome  zerlegte.  Die  Atome  sind  die  Sub- 
stanz, sie  bewegen  sich  im  leeren  Räume.  Während  sie  aber  bei 
Demokrit  nur  gedachte  Wirklichkeit  besaßen,  legte  ihnen  Epikur 
reale  Wirklichkeit  bei  unter  Leugnung  jedes  Zweckgedankens. 

So  lösten  die  philosophischen  Systeme  einander  ab.  Das  eine 
hob  das  andere  auf,  und  jedes  beanspruchte  doch  Allgemeingültig- 
keit für  sich.  Da  war  es  kein  Wunder,  daß  sich  schließlich  eine  skep- 
tische Grundstimmung  der  Menschheit  bemächtigte,  die  daran  ver- 
zweifelte, die  Beschaffenheit  der  Dinge  „an  sich"  überhaupt  je  er- 
fassen zu  können.  Sie  ist  unbekannt  und  wird  immer  unbekannt 
bleiben.    Denn  die  Sinne  trüben  die  Kräfte  des  Verstandes. 

Unser  Gang  durch  die  griechische  Philosophie  von  Thaies  — 
zur  Skepsis  zeigt  uns,  daß  im  Altertum  der  Begriff  der  Substanz 
direkt  auf  die  Dinge  selbst  geht.  Die  Substanz  ist  den  Alten  eine 
Form  des  Seins  und  darum  auch  des  Denkens.  Das  Substanzproblem 
ist  hier  rein  ontologischer  Natur. 

Im  Mittelalter  verband  sich  in  der  heidnischen  wie  in  der  christ- 
lichen Philosophie  mit  dem  Wunsche  nach  Erklärung  des  rätsel- 
vollen Universums  eine  starke  religiöse  Sehnsucht  und  der  Glaube 
an  die  Unsterbhchkeit.  Neuplatonismus  einerseits,  Patristik  und 
Scholastik  andrerseits  befehdeten  und  befruchteten  einander  gleicher- 
weise. 

Ihnen  allen  gemeinsam  ist  der  Gedanke  von  der  Einheit  der 
Substanz,  den  Plotin  als  Panentheismus  entwickelte.  Das  wahrhafte 
Sein  ist  nach  ihm  das  göttliche  Ureine,  das  Ungewordene,  die  Su))- 
stanz  ohne  alle  besonderen  Eigenschaften,  das  Absolute  schlechthin. 
Aus  ihm  geht  durch  Ausstrahlung  die  Weltvernunft  mit  der  Ideen- 
welt hervor,  aus  dieser  die  Weltseele,  welche  die  Ideen  in  der  sinn- 
Hchen  Materie  sichtbar  darstellt.  Die  Materie,  die  Körper  sind  das 
gewordene  Sein  oder  nach  Plato  das  Nichtseiende  und  dementsprechend 
das,  was  vergeht. 

Die  chisthche  Philosophie  fülnte  den  Gegenstaz  von  ungewordenem 
und  gewordenem  Sein  in  das  ethische  Gebiet  über  und  leitete  die 
Lehre  von  der  Unsterblichkeit  der  Seele  daraus  ab.    Das  Ungewordene 


Das  Substanzproblem,  eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      407 

ist  das  Prinzip  des  Guten  im  Menschen,  repräsentiert  durch  die  Seele, 
die,  weil  ungeworden,  nicht  vergehen  kann,  also  unsterblich  ist. 
Das  Gewordene  ist  das  Prinzip  des  Bösen  im  Menschen,  der  Körper, 
der,  wie  alles  gewordene  Sein,  auch  vergänghch  ist. 

Hatte  der  Neuplatonismus  die  Substanz  als  Einheit  aufgefaßt, 
deren  Ausstrahlung  das  Nichtseiende  ist,  so  sah  die  christliche  Philo- 
sophie von  der  Ausstrahlungstheorie  ab  und  lehrte  eine  einheitliche 
göttliche  Substanz,  die  die  Fülle  der  untergeordneten  Substanzen 
umfaßt.  Man  glaubt  an  Gott  als  den  Quell  alles  Seins,  aber  man 
identifiziert  ihn  in  keiner  Weise  mit  dem  All.  Die  götthche  Sub- 
stanz ist  die  überwelthche  Ursache  alles  Seins. 

Dieses  Dogma  soll  nun  philosophisch  begründet  werden,  daher 
die  Versuche  der  Gottesbeweise,  deren  berühmtester  der  Anselmsche 
ist.  Anselm  konstruiert  aus  dem  reinen  Begriff  Gottes  dessen  Existenz. 
Weil  wir  uns  Gott  als  schlechthin  vollkommen  denken,  so  kann  er 
nicht  nur  ein  Begriff  sein.  Denn  sonst  müßten  wir  uns  ein  noch 
vollkommeneres  Wesen  vorstellen,  das  auch  Eealität  besäße,  also 
kommt  Gott  als  dem  vollkommensten  W>sen  nicht  nur  begriffliche, 
sondern  auch  objektive  Realität  zu. 

Wie  stellte  sich  nun  die  christliche  Philosophie  zu  den  der  gött- 
lichen Substanz  untergeordneten  Substanzen?  Die  untergeordneten 
Substanzen  waren  die  Begriffe  und  die  Körper.  Kam  den  Begriffen 
oder  den  Körpern  Realität  zu,  und  wie  war  diese  zu  denken?  Um 
diese  Frage  drehte  sich  der  UniversaMenstreit,  der  die  Gemüter  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  erhitzte.  Es  ist  dieselbe  Frage,  die  schon 
Plato  und  Aristoteles  in  Gegensatz  zueinander  gebracht  hatte,  die 
dann  die  Syrer,  später  die  Araber  übernahmen  und  die  nun  auf  syrisch- 
arabischem Wege  an  die  christhche  Philosophie  des  Abendlandes 
herangebracht  wurde.  Sind  die  Vernunftdinge  oder  die  einzelnen 
Gegenstände  das  Reale?  Im  Mittelalter  spielt  das  Moment  des  zeit- 
lichen prius  eine  große  Rolle,  das  Ursprüngliche,  das  Erste  ist  auch 
das  Reale. 

Die  Realisten,  an  ihrer  Spitze  Scotus  Eriugena,  erklärten:  außer- 
halb Gottes  ist  nichts.  In  ihm  sind  die  Ideen,  die  Allgemeinbegriffe. 
Diese  sind  die  Substanzen,  welche  die  einzelnen  Gegenstände  aus 
sich  heraus  entwickeln,  bilden.  Sie  sind  daher  nicht  nur  die  logi- 
schen, sondern  die  wahrhaft  realen  Formen  des  Seins. 


408  Luise  Krieg, 

Diesem  schroffen  Realismus  gegenüber  nahm  Abälard  einen  ge- 
mäßigteren Standpunkt  ein.  Er  spricht  dem  Allgemeinen  an  sich 
und  im  besonderen  Existenz  zu.  Die  AUgemeinbcgriffe,  die  Ideen, 
waren  in  Gott  vor  aller  Zeit,  ,,v()r"  allen  Dingen.  Gott  brachte  seine 
Ideen  an  den  einzehien  Gegenständen  zur  Erscheinung,  sie  existieren 
also  „in  "den  Dingen,  sie  machen  deren  eigenthches  Wesen  aus,  und 
wir  finden  durch  den  Denkprozeß  der  Vergleichung,  durch  Ausschei- 
dung des  bloß  Zufälhgen  und  Zusammenfassung  des  Gemeinsamen, 
Gleichartigen  das  Allgemeine,  wir  schafften  es  im  menschlichen  Ver- 
stände „nach"  den  Dingen.  Die  Gattungsbegriffe  haben  demnach 
ihre  Wirklichkeit  an  den  einzelnen  Gegenständen. 

Den  gemäßigten  Standpunkt  nahm  auch  Thomas  von  Aquin 
ein.  Er  beweist  die  Existenz  Gottes  mit  Hilfe  des  Kausalgesetzes, 
indem  er  von  der  Wirkung,  nämlich  der  Welt,  auf  die  erste  Ursache, 
auf  Gott  schheßt.  Nur  Gott,  die  absolute  Substanz,  existiert  an 
sich,  von  sich,  aus  sich  selbst.  Seine  Wirkung,  die  Welt,  stellt  ein 
Stufenreich  der  substanzialen  Formen  dar,  eine  Entwickelungsreihe 
von  den  niedrigsten  Formen  bis  hinauf  zur  Vernunftseele  des  Men- 
schen, die  Gott,  das  unendliche  Sein,  erkennen,  erfassen  möchte. 

Im  Gegensatz  zu  den  Realisten  standen  die  Nominahsten.  Sie 
hielten  die  einzelnen  Gegenstände  für  das  Ursprünghche,  für  das 
wirkhch  Existierende,  die  Gattungsbegriffe  aber  nur  für  Abstrak- 
tionen des  Verstandes  aus  den  Einzeldingen,  also  erst  nachträglich 
auf  logischem  Wege  gefunden.  Wie  damals  alle  philosophischen 
Lehren,  so  wurde  auch  diese  auf  das  kirchliche  Dogma  angewandt. 
Roscehnus  erläuterte  daran  die  Unmöglichkeit  der  götthchen  Trinität, 
und  so  wurde  der  Nominalismus  von  der  Kirche  verdammt. 

Erst  im  14.  Jahrhundert  gewann  er  wieder  an  Bedeutung.  Duns 
Scotus  und  besonders  Occam  griffen  diese  Lehre  von  neuem  auf. 
Sie  schrieben  dem  Einzeldinge  den  höheren  Wert  zu.  Denn  erst 
durch  die  persönhche  Note  erhalte  das  Allgemeine  das  Leben.  Die 
Allgemeinbegriffe  seien  nur  Zeichen,  nur  termini,  die  nur  das  gedachte, 
das  objektive  Sein  der  Dinge  angeben.  Die  einzelnen  Gegenstände 
aber  seien  das  Wirkliche,  sie  zeigen  das  Leben,  das  „an  sich"  Sein 
der  Dinge,  das  subjektive  Sein  an. 

Beide  Strömungen,  Realismus  und  Nominalismus  enthielten  die 
Keime  zu  den  großen  Systemen,  die  aufzubauen  der  Neuzeit  vor- 
behalten blieb.    Hatte  der  Realismus  das  Vernunftding  für  das  einzig 


Das  Substanzproblem,  eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.       40!* 

Reale  erkannt,  so  erklärten  nun  die  neuzeitlichen  Rationalisten  die 
Vernunft  selbst  für  das  einzige  Erkenntnismittel  und  demzufolge 
nur  das  für  walu-,  was  unsere  Vernunft  erkennt.  Aus  dem  Stand- 
punkt des  Nominalismus,  der  nur  die  einzelnen  Gegenstände  als 
wirklich  bezeichnete,  ergab  sich  in  konsequenter  Weiterführung 
das  Studium  der  Einzeldinge  und  nur,  was  wir  von  diesen  erfahren, 
ist  wahr,  lehrten  die  Empiristen.  Die  Neuzeit  geht  also  von  der 
Methode  aus  an  alle  Probleme  und  so  auch  an  das  Substanzproblem 
heran. 

Die  scholastische  Philosophie  hatte  um  1500  abgewirtschaftet, 
sie  stand  doch  immer  mehr  oder  weniger  unter  der  Herrschaft  des 
Glaubens.  Sie  war  im  ganzen  doch  die  Magd  der  christlichen  Theo- 
logie. 

Am  Eingang  zur  Neuzeit,  ehe  wir  zu  den  großen  Systemen  der 
Rationahsten  und  Empiristen  gelangen,  steht  die  Renaissance. 

Die  neue  Zeit  kündigt  sich  bereits  durch  eine  ganz  andere  Frage- 
stellung an.  Die  Frage:  Was  ist  die  Substanz?  Was  ist  die  Ur- 
sache des  Seins,  des  Lebens?  war  bis  zur  Erschöpfung  behandelt 
worden,  ohne  doch  zu  einer  allgemeingültigen  Lösung  geführt  zu 
haben.  An  Stelle  des  „Was"  interessierte  jetzt  das  „Wie'"?  Wie 
wirkt,  wie  ist  die  Substanz?  Statt  der  früheren  Ansicht,  die  in  den 
gestaltlosen  Stoff  die  Form  von  außen  hereintrug,  vertrat  man  jetzt 
den  Standpunkt,  daß  die  Substanz  durch  die  in  ihr  wohnende  Kraft 
wirke.  Stoff  und  Kraft  fallen  jetzt  in  eins  zusammen,  der  Sitz  des 
Lebens  ist  im  Stoff  selbst.  Die  poetischen  Gemüter  faßten  die  Kraft 
als  Lebensprinzip,  als  Seele,  Weltseele  auf  und  erkannten  daher 
das  ganze  Weltall  als  beseelt,  während  die  ernsteren  Naturforscher 
die  Gesetze  der  Kraft  suchten. 

Der  schönheitstrunkene  Panentheismus  eines  Bruno  reißt  uns 
noch  heute  zum  heroischen  Affekt  hin.  Gott  ist  ihm  das  All  und  das 
Eine,  die  Monade  der  Monaden,  die  Substanz.  Er  baut  das  ganze 
Weltall  aus  unzähhgen,  graduell  verschiedenen  Monaden  auf,  von 
denen  jede  eine  Offenbarungsform  des  unendhchen,  göttlichen  Seins 
ist.  Außerhalb  der  Monaden  gibt  es  keinen  Gott,  und  Gott  ist  die 
Monade.  Zu  dieser  Erkenntnis  führte  ihn  die  Vielheit  der  Erschei- 
nungen, der  Sinneseindrücke,  die  uns  ,,zwar  nicht  belügen,  uns  aber 
doch  nicht  die  volle  Wahrheit  sagen".  Um  diese  zu  finden,  führte 
er  die  Vielheit  auf  die  Einheit,  auf  die  Monade  zurück.    Leider  aber 


-^10  L  u  i  E  e  K  r  i  0  g , 

blieb  er  bei  dieser  mehr  intuitiv  erschauten  Erkenntnis  stehen,  er 
unterHeß  es,  die  Monade  mathematisch  zu  bestimmen. 

Diesen  Schi'itt  tat  erst  Galilei.  Als  die  realen  Eigenschaften  der 
Dinge  sah  er  Gestalt,  Zahl  und  Bewegung  an.  Diese  machen  die 
Substanz,  das  Bestehende  im  Körper  aus,  so  daß  man  Gestalt  und 
Zahl  als  extensive  Größen,  also  als  Stoff,  Bewegung  als  intensive 
Größe,  also  als  Kraft  auffassen  kann.  Weil  er  durch  die  Mathematik 
erkannt  hatte,  nur  was  meßbar  ist,  ist  wahr,  so  maß  er  die  Größe 
der  Bewegung  und  stellte  ihre  Gesetze  fest.  Er  lehrte  die  Gesetze 
von  der  Erhaltung  des  Stoffes  und  von  der  Erhaltung  der  Kraft, 
die  Bruno  schon  genial  erschaut  hatte,  wie  er  denn  in  ,,von  der  Ur- 
sache, dem  iVnfangsgrund  und  dem  Einen"  sagt:  ,,Das  Universum, 
das  ein  großes  Ebenbild  und  Abbild  und  die  einheitliche  Natur  dar- 
stellt, ist  ebenfalls  alles,  was  sein  kann,  sofern  die  Arten  und  haupt- 
sächlichsten Gheder  in  ihm  dieselben  bleiben  und  die  Gesamtkraft 
der  Materie  sich  als  dieselbe  erhält." 

Auch  für  Gassendi  ist  die  Bewegung  die  erste  Ursache.  Sie  be- 
wirkt die  Verbindung  und  Trennung  der  Atome.  Die  Atome  bilden 
die  Substanz,  die,  nicht  weiter  teilbar,  den  Raum  erfüllen  und  durch 
das  Leere  voneinander  getrennt  sind. 

Dem  Atomismus  gegenüber  erkannte  Boyle  nur  eine,  ausgedehnte, 
undurchdringliche,  aber  teilbare  Substanz  an.  Die  in  ihr  wohnende 
Kraft  oder  Bewegung  zerlegte  sie  in  kleinste  Körperchen  oder  Korpus- 
keln von  bestimmter  Größe,  Gestalt  und  Lage,  die  sich  zu  zusammen- 
gesetzten Körpern-Molekülen  mischen  können,  so  daß  die  Korpus- 
keln den  Elementen  gleichkommen.  Auch  er  führte  alle  Natur- 
erscheinungen auf  Bewegung,  also  auf  Druck  und  Stoß,  auf  Mechanik 
zurück,  und  alles  Mechanische  ist  nuithematisch  bestimmbar. 

Das  System  der  mathematischen  Prinzipien  der  Naturphilo- 
sophie aufgestellt  zu  haben,  ist  das  Verdienst  von  Newton. 

Das  Studium  der  Mathematik  und  der  Natur  bestimmen  die 
Philosophie  im  17.  und  dem  folgenden  Jahrhundert.  Von  der  Mathe- 
matik nimmt  der  Rationalisnuis,  von  der  Naturwissenschaft  der 
Empirismus  seinen  Ausgang. 

Unter  den  rationahstischen  Denkern  beschäftigte  sich  besonders 
Descartes  mit  dem  Substanzproblem.  Er  ging  vom  methodologischen 
Zweifel  aus,  um  die  erste  Grundwahrheit  zu  finden  in  dem  berühmt 
gewordenen  cogito  sum.     Die  Tatsache  des  denkenden  Bewußtseins 


Das  Substanzproblem,   eine  philosophiegcschichtliche  Darstellung.      41 1 

war  ihm  der  Beweis  für  die  Wirklichkeit  des  denkenden  Subjekts. 
Dieser  wSatz  besaß,  weil  unmittelbar  einleuchtend,  AUgemeingültig- 
keit,  er  gehörte  zu  den  eingeborenen  Ideen.  Darauf  weiter  aufbauend, 
erkannte  er,  daß  alles  gewiß  ist,  was  wir  ebenso  klar  und  deutlich 
erkennen  wie  dieses  cogito  sum.  Die  höchste  Idee,  die  wir  in  unserem 
Geiste  haben,  ist  die  der  Substanz.  Er  definiert  die  Substanz  als 
das,  was  zu  seiner  Existenz  keines  anderen  bedarf,  also  der  unge- 
schaffene Gott.  Die  Gottesidee  können  wir  nicht  selbst  durch  Denk- 
prozesse gebildet  haben,  da  sie  weit  über  alles  hinausgeht,  was  auf 
Erden  existiert.  Sie  kann  uns  daher  nur  von  einem  vollkommenen 
AVesen,  von  Gott  selbst,  eingegeben  sein.  Zu  einem  schlechthin 
vollkommenen  Wesen  gehört  auch  seine  Existenz.  Es  ist  derselbe 
ontologische  Gottesbeweis,  den  schon  Anselm  aufstellte.  Und  schon 
damals  wurde  dagegen  eingewandt,  daß  man  die  Realität  eines  Vor- 
stellungsinhalts niemals  wieder  durch  eine  Vorstellung  begründen 
könne.  Anselms  Gegner  Gaunilo  von  Montigni  aus  dem  Kloster 
Marmoutiers  hielt  ihm  vor,  daß  die  Vorstellung  einer  vorzüglichsten 
Insel  durchaus  kein  Beweis  sei  für  das  Vorhandensein  dieser  vor- 
zügUchsten  Insel.  Denselben  Zirkelbeweis  wie  für  das  Dasein  Gottes 
beging  Descartes  sogleich  noch  einmal,  indem  er  von  der  Wahrhaftig- 
keit Gottes,  der  uns  keine  Scheinwelt  vortrügen  könne,  auf  die  Wirk- 
lichkeit der  Außenwelt  schloß.  Er  unterschied  neben  Gott,  der  un- 
endlichen Substanz,  die  Welt  als  die  endliche  Substanz.  Diese  ge- 
schaffene, endhche  Substanz  ist  eine  zweifache:  Geist  und  Körper. 
Ihre  konstitutiven  Merkmale  sind  Denken  und  Ausdehnung.  Geist 
und  Denken,  Körper  und  Ausdehnung  sind  dasselbe,  sind  identisch. 
Von  dem  Geiste  haben  wir,  wie  schon  das  cogito  sum  zeigt,  ein  un- 
mittelbares Bewußtsein.  Die  Körper  halten  wir  für  wirklich,  weil 
sie  mathematisch  bestimmbar  sind.  Die  beiden  endhchen  Substanzen 
sind  reahter  von  einander  unterschieden,  sie  negieren  sich,  sie  haben 
nichts  miteinander  gemein.  Da  aber  das  Denken  doch  im  Körper, 
im  Kopfe  stattfindet,  so  mußte  der  Seele  ein  Sitz  in  diesem  ange- 
wiesen werden.  Der  Platz  mußte  möghchst  unräunüich,  ohne  Aus- 
dehnung, punktförmig  sein,  und  da  die  Zirbeldrüse  der  einzige  un- 
paarige Teil  des  Gehirns  ist,  so  wurde  die  Seele  dort  einquartiert. 
Zwar  hatte  Descartes  eine  gegenseitige  Beeinflussung  von  Geist 
und  Körper  durchaus  geleugnet,  doch  lehrte  ihn  der  Augenschein, 
daß    auf   gewisse    Denkprozesse   stets   gewisse    körperliche    Erschei- 


412  Luise  Krieg, 

nungcn  folgen  und  luii gekehrt.  Diese  Aufeinanderfolge  erklärte 
er  für  AVirkungen  der  Lebensgeister,  unendlieh  feiner  Substanzen, 
die  durch  den  ganzen  Körper  verteilt  sind  und  zum  Gehirn  aufsteigen 
und  hier  den  entsprechenden  Vorgang  auslösen.  Nur  durch  die 
Lebensgeister  kann  die  Seele  den  Leib  zu  Richtungsänderungen 
der  Bewegungen  veranlassen.  Das  Merkwürdige  an  der  Descartes- 
schen  Substanzauffassung  ist  der  doppelte  Dualismus  zwischen  un- 
endlicher und  endlicher  Substanz  einerseits  und  der  denkenden  und 
ausgedehnten  Substanz  andrerseits.  Geradezu  aber  eine  Schwäche 
ist  die  Erfindung  der  Lebensgeister,  um  gewisse  Wirkungen,  die 
er  erst  negiert  hatte,  nun  doch  erklären  zu  können.  An  diesen  beiden 
Punkten  setzten  seine  Nachfolger  ein. 

Die  Okkasionahsten  erklärten  sich  gegen  die  Wechselwirkung 
der  denkenden  und  ausgedehnten  Substanz.  Denn  man  kann  nur 
das  vollbringen,  wovon  man  weiß,  wie  es  geschieht.  Wir  wissen 
aber  nicht,  wie  die  Seele  die  Gheder  zu  Bewegungen  veranlaßt.  Sie 
schoben  daher  diese  Veranlassung  auf  die  unendliche  Substanz,  auf 
Gott  ab  und  sagten:  ,,Bei  Gelegenheit"  meines  Willens  bewegt 
Gott  meinen  Körper,  bei  ,, Gelegenheit"  meiner  Bewegung  ruft  Gott 
eine  Vorstellung  in  meinem  Geiste  hervor. 

Den  Duahsmus  und  die  Wechselwirkungstheorie  korrigierte 
Spinoza.  Auch  er  definierte  die  Substanz  als  das,  was  Ursache  seiner 
selbst  ist:  causa  siii,  ewig  und  unendlich.  Mehrere  Substanzen,  meh- 
rere Unendliche  kann  es  nicht  geben,  denn  sie  könnten  durch  nichts 
voneinander  unterschieden  werden,  sie  wären  identisch.  Die  Sub- 
stanz oder  Gott  offenbart  sich  uns  unter  Attributen,  deren  Zahl 
unendlich  ist,  von  denen  wir  aber  nur  zwei  kennen,  nämlich  Denken 
und  Ausdehnung,  Geist  und  Körper.  Diese  sind  keine  Substanzen, 
weder  als  Ausfluß  der  göttlichen,  noch  als  geschaffene  oder  unter- 
geordnete, sondern  sie  sind  der  Ausdruck  der  Wesenheit  Gottes. 
Die  Attribute  haben  nichts  miteinander  gemeinsam,  sie  stehen  in 
keiner  AVechselwirkung  zueinander,  sondern  ihre  Äußerungen  gehen 
nebeneinander  her,  sie  entsprechen  einander  restlos.  Zwischen  Geist 
und  Körper  findet  Parallelismus  statt.  Neben  jedem  körperlichen 
Vorgang  läuft  ein  entsprechender  geistiger  her.  Die  Attribute  Gottes 
stellen  sich  wieder  in  den  Einzelobjekten  dar,  die  modi  oder  Akzi- 
denzien genannt  werden.  x\uch  der  Mensch  ist  nur  ein  solcher  modus, 
ohne  selbständiges  Dasein,  nur  an  der  und  durch  die  Substanz  exi- 
stierend. 


Das  Substanzproblein,   eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      413 

Wie  Descartes  und  Spinoza,  so  kam  auch  Leibniz  vo!i  der  Mathe- 
matik ]ier  an  das  Substanzproblem.  Er  wollte  die  Prinzipien  der 
Mechanik  fest  begründen  und  fand,  daß  die  Annahme  einer  aus- 
gedehnten Masse  nicht  hinreichte,  sondern  daß  noch  der  Begriff 
der  Kraft  hinzugenommen  werden  müßte.  Er  ging  nun  bei  seiner 
Substanzerklärung  von  der  Tatsache  des  Zusammengesetzten  in 
der  Welt  aus  und  sagte:  „Es  muß  eine  einfache  Substanz  geben, 
weil  es  zusammengesetzte  gibt."  Denn  das  Zusammengesetzte  ist 
nichts  Anderes  als  eine  Anhäufung  des  Einfachen.  Leibniz  schüeßt 
hier  falsch.  Denn  die  logische  Notwendigkeit  der  Begriffsfolge  ergibt 
noch  keineswegs  die  reale  Folge  der  Existenz  der  Dinge,  die  unter 
diesen  Begriff  fallen.  Er  schheßt  aus  der  Realität  des  Grundes  des 
Zusammengesetzten  auf  die  Wirklichkeit  der  logischen  Folge  des 
Einfachen.  Das  Zusammengesetzte  ist  teilbar,  teilbar  bis  in  das 
Unendliche,  und  auch  bis  in  das  Unendliche  geteilt.  Es  liegt  kein 
Grund  vor,  mit  der  Teilung  bei  sogenannten  kleinsten  Körpern  oder 
Atomen  halt  zu  machen,  da  ein  Materielles  immer  geteilt  werden 
kann,  WTnn  es  auch  noch  so  klein  ist.  Das  Einfache  aber  muß  unteil- 
bar sein.  Er  ging  nicht  wie  Boyle  auf  eine  chemische  Lösung  des 
Problems  aus,  für  den  das  Element  der  einfache  unteilbare  Stoff 
war.  Er  fand  keine  andere  Lösung,  als  eine  metaphysische.  Nur  das 
Geistige  gibt  uns  unteilbare  reale  Einheit.  Er  setzt  also  die  Körper 
aus  einfachen  unkörperUchen  Bestandteilen  zusammen  und  nannte 
diese  Einheiten  Monaden.  Sie  sind  die  wahre  Substanz.  Da  die 
Monade  unräunüich  ist,  so  kann  sie  nicht  von  außen  beeinflußt  werden, 
sie  entwickelt  ihre  eigenen  Zustände  aus  sich  heraus.  Die  Monade 
ist  nicht  das,  was  aus  sich  selbst  „ist",  sondern  das,  was  aus  sich 
selbst  „handelt",  der  Monade  eignet  das  Moment  der  tätigen  Kraft, 
die  keine  Anregung  von  außen  braucht,  wie  es  die  Ansicht  früherer 
Jahrhunderte  war,  sondern  die  sich  selbst  in  Bewegung  setzt.  Die 
Monaden  sind  durch  ihre  Tätigkeit  verschieden,  alle  einzelnen  Dinge 
unterscheiden  sich,  selbst  wenn  sie  scheinbar  gleich  sind,  innerhch. 
Darum  ist  jede  Monade  ein  einzelner  Körper  nach  dem  Prinzip  der 
Individualität.  Denn  wenn  sie  innerhch  nicht  unterscheidbar  wären, 
dann  wären  sie  in  Wirklichkeit  „ein"  Ding,  sie  wären  absolut  identisch 
nach  dem  principium  identitatis  indiscernibiüum.  Hieraus  ergibt 
sich  noch  ein  Weiteres.  Jede  Monade  trägt  die  Gesetze  ihi'er  Zustände 
in  sich  und  zwar  von  Ewigkeit  her,  die  Leibesmonaden  ebenso  wie 


414  Luise   Krieg, 

die  Seelenmöiiaden.  Beide  sind  individuell,  also  ganz  verschieden 
geartet,  sie  stehen  demnach  nicht  in  Wechselwirkung  miteinander, 
sondern  ihre  Zustände  laufen  parallel  und  stimmen  genau  zueinandei'. 
Da  die  Tätigkeiten  aller  Monaden  genau  zueinander  passen,  einander 
entsprechen,  so  ergibt  sich  im  Weltgeschehen  eine  Harmonie,  die, 
weil  von  Ewigkeit  her  vorausbestimmt,  die  praestabiüerte  Harmonie 
heißt. 

Während  die  rationalistischen  Denker  sich  bemühten,  der  Sub- 
stanz Kealität  zu  verleihen,  so  suchten  die  Empiristen  den  Glauben 
an  ihr  Dasein  zu  erschüttern. 

Locke  war  der  erste,  der  den  Substanzbegriff  gehörig  revidierte. 
Auf  dem  Wege  der  Analyse  fand  er,  daß  von  den  Körpern  schlechter- 
dings nichts  übrig  bleibt,  wenn  man  ihre  einzelnen  Eigenschaften 
abzieht,  daß  also  ein  Substrat,  an  oder  in  dem  die  Eigenschaften 
vorkommen,  nicht  vorhanden  ist.  Ebensowenig  bilden  die  Eigen- 
schaften eines  Körpers  eine  durch  Mischung  entstandene,  einheit- 
liche Masse.  Die  Substanz  ist  daher  weder  der  Träger  noch  die  Summe 
der  Eigenschaften  eines  Körpers.  Es  gibt  keine  Substanz,  und  doch 
kommen  wir  um  die  Idee  der  Substanz  nicht  herum,  sie  ist  einmal 
da  und  läßt  sich  nicht  wegleugnen.  Sie  ist  das  große  X,  das  „I  know 
not  what",  sie  ist  ein  Begriff,  den  zu  bilden,  unser  Geist  das  Vpr- 
mögen  hat. 

Einen  Schritt  weiter  ging  Berkeley.  Für  ihn  gibt  es  keinen 
Unterschied  zwischen  sekundären  und  primären  Qualitäten,  den 
Locke  noch  anerkannt  hatte.  Die  ursprünghchen  Eigenschaften: 
Größe,  Gestalt,  Lage,  Bewegung  existieren  ebensowenig  außerhalb 
unserer  Vorstellung  wie  Farbe  und  Geruch.  Es  existiert  nur  unsere 
Idee  von  den  Dingen,  es  gibt  nur  unsere  Seele  und  das,  was  wir  voi- 
stellen.  Nur  Geister  und  deren  Vorstellungen  haben  Realität,  .-^ie 
stammen  von  Gott  und  sind  die  eigentlichen  Reaha,  die  wahre  Sub- 
stanz. Alles  andere  löst  sich  in  Schein  auf.  Demgemäß  faßt  er  seine 
Substanzerklärung  in  die  Worte  zusammen:    „esse  est  percipi". 

Berkeley  erkannte  die  geistige  Substanz  noch  an,  für  Hume 
fällt  auch  diese  dahin.  Ebensowenig  wie  dem  Körper  ein  Substrat 
zugrunde  liegt,  ebensowenig  hegt  dem  Geist  oder  der  Seele  ein  be- 
harrliches Selbst  oder  Ich  zugrunde.  Wie  der  Körper  nichts  ist  als 
die  Summe  seiner  Eigenschaften,  so  ist  der  Geist  nur  die  Sunune 
seiner  inneren  Zustände.     Die  Erscheinung  einer  körperlichen  oder 


Das   Substanzproblem,  eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.       415 

iieistioen  Substanz  beruht  nur  auf  dem  Eindruck  einer  sleichniäßi"- 
wiederkehrenden  Ideenassoziation.  Die  Ideenverbindungen  sind 
jedoch  zufällig  und  können  sich  ändern.  Hume  löst  also  die  Substanz 
in  Ideenassoziation  auf. 

Für  die  Empiristen  ist  die  Substanz  lediglich  eine  Form  des 
Denkens,  sie  hat  nur  logische  Bedeutung.  Nur  Berkeley  erkannte 
tine  Substanz  an  und  zwar  die  des  Geistes. 

Zu  einem  ganz  entgegengesetzten  Resultat  gelangten  Hobbes 
und  die  französischen  Materiahsten,  obgleich  sie  ihren  Ausgangs- 
punkt auch  von  der  Empirie  nahmen.  Sie  leugneten  die  geistige 
Substanz.  Denn  jede  Geistestätigkeit  beruht  auf  innerer  Bewegung, 
die  durch  eine  äußere  Bewegung  hervorgerufen  wird.  Wir  können 
uns  äußere  Bewegung  nicht  vorstellen  ohne  ein  ihr  zugrunde  hegendes 
Substrat.  Das  zwingt  uns,  eine  Materie  oder  Substanz  anzunehmen. 
Diese  Substanz  besteht  aus  Atomen,  besser  Molekülen,  die  quahtativ 
voneinander  verschieden  sind  und  in  denen  die  Bewegung  als  Selbst- 
erhaltungstrieb hegt.  Die  Bewegung  beruht  auf  der  chemischen 
Wahlverwandtschaft,  auf  den  Kräften  der  Anziehung  und  Ab- 
stoßung. 

Während  Rationahsten  und  Empiristen  ihren  Ausgang  von  dem 
Erkenntnismittel,  sei  es  die  Vernunft,  seien  es  die  Sinne,  nahmen, 
war  die  Grundfrage  für  Kant  nicht:  Welches  ist  das  wahre  Erkenntnis- 
mittel?, sondern  die  Frage:  Wie  kommt  Erkenntnis  zustande?  So 
untersucht  denn  Kant  auch  in  seiner  transzendentalen  Logik,  wie 
sich  die  reinen  Denkbegriffe  zu  den  reinen  Erfahrungen  der  Natur- 
wissenschaften verhalten.  Wie  es  keinen  Inhalt  ohne  Form  gibt, 
so  muß  auch  jede  Anschauung,  die  Erfahrung  werden  will,  in  die 
Kategorie  eingegangen  sein.  Erst  dadurch  kommt  eine  Erkenntnis 
zu  Wege,  Umgekelut  dürfen  wir  auch  die  Kategorie  nicht  gebrauchen, 
wenn  ihr  nicht  eine  Anschauung  zugrunde  hegt.  Die  Kategorien 
sind  Elementarbegriffe,  Stammbegriffe  des  Verstandes,  die  das  Mannig- 
faltige der  sinnhchen  Erscheinungen  auf  eine  Einheit  beziehen  und 
zusammenfassen.  Es  gibt  soviel  Kategorien  als  es  Verknüpfungs- 
weisen des  Verstandes  gibt,  also  12.  Unter  diesen  12  Kategorien 
befindet  sich  auch  die  der  Substanz.  Kant  erklärt  sie  für  das  Kon- 
stante, sich  selbst  Gleichbleibende  im  Gegensatz  zu  den  Zuständen, 
die  die  Dinge  durchlaufen.  Sie  ist  der  Träger  der  Bewußtseins  Vor- 
gänge.    Das  Quantum  der  Substanzen  kann  weder  vermekrt  noch 


416  Luise  Krieg, 

vermindert  werden.  Sie  sind,  sofern  sie  im  Räume  als  zugleich  wahr- 
genommen werden  können,  in  durchgängiger  Wechselwirkung.  Die 
Substanz  kann  nur  auf  die  Objekte  der  sinnlichen  Erfahrung  be- 
zogen werden,  sie  gilt  aber  nicht  für  die  intelligiblen  Dinge  „an  sich". 
Ob  Kant  selbst  die  intelligiblen  Dinge  „an  sich"  leugnete,  ist  nicht 
sicher  festzustellen.  Gewiß  weiß  man,  daß  er  ihre  Erkennbarkeit 
leugnete.  Demnach  hat  für  Kant  die  Substanz  weder  eine  ontolo- 
gische  noch  eine  logische  Bedeutung,  für  ihn  ist  sie  eine  Form  des 
Deidvens  und  darum  auch  des  Seins,  nämlich  des  Seins  in  der  Erfahrung, 
sie  hat  also  erkenntnistheoretische  Bedeutung. 

Es  schien,  als  hätte  Kant  mit  seinem  Kritizismus  der  Meta- 
physik für  immer  ein  Ende  bereitet.  Aber  das  Bedürfnis  des  Menschen 
nach  einer  Erklärung  der  übersinnlichen  Welt  ist  zu  stark,  als  daß 
es  sich  länger  als  auf  kurze  Zeit  eindämmen  ließe.  Und  so  kommt 
um  1800  die  große  Reaktion  gegen  Kant,  die  an  seinen  Begriff  des 
Dinges  „an  sich"  anknüpft.  Er  hatte  verboten,  die  spekulative 
Vernunft  auf  die  Dinge  „an  sich"  anzuwenden.  Es  fehlte  daher  eine 
letzte  Ableitung  des  Seienden  aus  einem  obersten,  höchsten,  meta- 
physischen Prinzip,  um  das  Kantische  System  einheitlich  zu  gestalten. 
Das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  erwachte  Spinozastudium  führte 
zu  diesem  Prinzip  hin.  In  Spinozas  Identitätsgedanken  war  der 
Satz  für  die  denknotwendige  Ableitung  gegeben,  und  so  stellen  die 
Systeme  der  großen  Idealisten:  Fichte,  Schelling,  Hegel,  Schopen- 
hauer eine  Synthese  von  Kant  und  Spinoza  dar. 

Fichte  negierte  die  Reahtät  der  Dinge  „an  sich",  für  ihn  war  der 
mundus  intelhgibihs  dahingefallen.  Man  fragt  sich,  welche  Stellung 
er  überhaupt  zu  Sein  und  Denken  einnahm,  in  welcher  Synthesis  er 
sie  sich  wiederfinden  ließ.  Da  das  Sein  nichts  mit  dem  Denken  ge- 
meinsam hat,  so  kann  es  dieses  auch  nicht  hervorrufen.  Wohl  aber 
hat  das  Denken  mit  dem  Sein  ein  gemeinsames  Moment  in  dem 
Bewußtsein;  denn  es  ist  bewußtes  =  denkendes  Sein.  Also  kann 
man  aus  dem  Denken  das  Sein  ableiten.  Der  erste  gewisse  Denksatz, 
der  das  Bewußtsein  ausmacht,  ist  der  Satz  Spinozas  von  der  Identität: 
A  =  A,  der  aber  über  die  Existenz  von  A  durchaus  nichts  sagt.  Über 
die  Existenz  sagt  der  Identitätssatz  erst  etwas  aus,  wenn  es  heißt 
Ich=  Ich,  das  setzende  Ich  ist  das  gesetzte  Ich.  Das  Ich  setzt  sich 
selbst,  ist  also  causa  sui,  absolut.  Es  ist  causa  sui  wie  die  Substanz 
des  Spinoza,  doch  aber  fehlt  ihm  das  Sein  dieser  Substanz  als  konstitu- 


Das   Substanzpioblem.  eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      41  < 

tive?  Merkmal,  es  besitzt  das  Sein  nur  konsekutiv.  Denn  ursprüng- 
liche Eioenschaft  des  Ich  ist  die  Tätijs;keit,  und  erst  durch  die  Tätig- 
keit wird  das  Sein  gesetzt,  also  ist  dieses  abgeleitet.  Die  Tätigkeit 
des  Ich  ist  auf  sich  selbst  gerichtet.  Das  Ich  selbst  ist  der  Grund 
seiner  eigenen  Tätigkeit,  und  die  Folge  dieser  Tätigkeit  ist  seine 
eigene  Negierung.  Es  setzt  damit  das  Nicht-Ich,  näniHch  die  AVeit 
des  Seienden.  Die  Denktätigkeit  hat  die  endüchen  Gegenstände 
als  Produkte.  Da  Ich  und  Nicht- Ich  einander  in  demselben  Ich 
negieren,  so  kämpfen  sie  miteinander  um  die  Herrschaft,  damit 
sie  sich  aber  nicht  vernichten,  beschränkt  sich  ein  jedes.  Aus  der 
beiderseitigen  Beschränkung  entsteht  die  Reflexion  auf  die  Relations- 
kategorien, aus  ihrem  gegenseitigen  Kampfe  entsteht  die  Produktion 
der  Vorstellungsvermögen.  Das  Ich  ist  ein  Ich  der  absoluten  Posi- 
tion, das  Gute  schlechthin,  das  Nicht-Ich  seine  Negierung,  die  Welt, 
das  Schlechte.  Im  Bewußtsein  seiner  selbst  hat  das  Ich  gegen  das 
Nichtich  anzukämpfen,  der  Welt  seinen  Charakter  aufzuprägen,  dei 
in  ihm  liegt,  es  hat  seine  Bestimmung  zu  erfüllen.  „Damit  wir  sollen 
können,  dazu  ist  die  Welt  da." 

So  haben  wir  hier  das  Merkwürdige,  daß  Fichte  mit  dem  Ich 
ein  Absolutes,  eine  causa  sui  setzt  ohne  Substanz  —  d.  h.  ohne  Seins- 
charakter. Anfänglich  war  Gott  für  ihn  identisch  mit  dem  abso- 
luten Ich.  Erst  später  erhob  er  ihn  über  das  Ich,  über  die  reine  Tätig- 
keit, indem  er  ihm  das  reine  Sein,  also  Substanz  verlieh. 

Schelling  begann  seine  philosophische  Laufbahn  in  geistiger 
Abhäugifikeit  von  Fichte  mit  dem  Gegensatz  von  Ich  und  Nicht- 
Ich.  Das  Ich  oder  das  Denken  ist  ihm  der  Inbegriff  des  Subjektiven, 
das  Nicht- Ich  oder  die  Natur  der  Inbegriff  des  Objektiven.  Ur- 
sprüngüch  sind  Subjekt  und  Objekt  identisch  gewesen.  Die  Trennung 
fand  erst  statt,  als  die  Intelügenz  in  uns  bewußt  ward  und  sich  von 
der  bewußtlosen  Natur  schied.  Über  Subjekt  und  Objekt  erhebt 
sich  als  Einheit  das  Absolute,  das  aUe  Gegensätze  in  sich  vereinigt, 
zur  totalen  Indifferenz,  das  Absolute,  das  identisch  ist  mit  Subjekt 
und  Objekt.  ScheUing  denkt  sich  das  Absolute  als  Substanz,  als 
Gottheit  ebenso  wie  Spinoza,  nur  daß  er  das  Moment  der  Intelligenz 
stärker  betont,  das  Absolute  ist  ihm  absolute  Vernunft,  während 
Spinoza  mehr  die  Ausdehnung  hervorhebt.  Und  noch  mit  einem 
anderen  Gedanken  steht  er  in  Gegensatz  zu  Spinoza.  Bei  ihm  ent- 
wickelt die  absolute  Identität  aus  sich  heraus  die  ganze  Natur,  von 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIIl.  4.  27 


418  Lxiise  Krieg, 


der  aiiorgaiiischon  an  bis  hinauf  zur  organischeu,  bis  hinauf  zum 
Menschengehirn.  Spinoza  aber  dachte  die  absohite  Substanz  als 
immanente,  die  Natur  ist  ihm  der  Ausdruck  des  vollkommensten 
Wesens,  aber  sie  hat  sich  nicht  aus  diesem  allmählich  entwickelt. 

Auch  Hegel  bekennt  sich  zur  Identitätsphilosophie  des  Spinoza. 
Das  Absolute  stellt  auch  ihm  die  Einheit  von  Gott  und  Natur  dar. 
Zugleich  aber  macht  sich  der  Einfluß  seiner  klassischen  Studien  gel- 
tend. Die  Phiolosophie  der  Eleaten  mit  ihrer  Behauptung:  „Das- 
selbe ist  Denken  und  Sein",  und  Heraklit  mit  seiner  Lehre  vom  ewigen 
AVerden  w\^ren  bestmmend  für  seine  Erklärung  des  Absoluten.  Das 
Absolute,  die  wahre  WirkUchkeit,  ist  der  Gedanke,  die  Idee.  Das 
Denken  ist  auch  das  Sein,  beide  sind  identisch.  Oberster  allgemeinster 
Begriff  ist  das  Sein.  Nach  der  Methode  der  Selbstbewegung  der 
Idee,  die  Thesis,  Antithesis  und  Synthesis  aufstellt,  um  die  Wahrheit 
zu  finden,  sucht  er  das  Gegenteil  vom  Sein  und  findet  das  Nichts. 
Sein  und  Nichts  sind  dasselbe.  Denn  sie  sind  beide  qualitätslos. 
Bei  dem  Übergang  vom  Sein  zum  Nichts  und  vom  Nichts  zum 
Sein  ensteht  das  Werden.  In  ihm  treffen  sich  beide  zur  Einheit,  das 
Werden  ist  ihre  WaMieit.  So  ist  das  Absolute  bei  Hegel  nicht  die 
ruhende  Substanz,  sondern  das  sich  selbst  entwickelnde,  lebendige 
Substanzsubjekt.  Wie  bei  Plato  existierte  die  Ideenwelt  ursprüng- 
lich als  ein  System  von  Begriffen.  Die  Ideen  modifizierten  sich  später 
in  der  unbewußten  Natur,  um  dann  im  Menschen  als  Selbstbewußt- 
sein zu  erwachen.  Im  menschlichen  Geiste  erlangte  die  Idee  ihre 
höchste  Vollendung  in  den  Schöpfungen  der  Kunst,  der  Rehgion 
und  der  Wissenschaft.  Die  Idee  hat  ihre  Bestimnumg  erreicht  und 
kehrt  in  sich  selbst  zurück.  Jeder  einzelne  Gegenstand  auf  Erden 
stellt  eine  Entwickelungsstufe  des  Denkens,  der  Vernunft  dar,  und 
darum  ist  das  Wirkliche  das  Vernünftige  und  das  Vernünftige  das 
Wirldiche.    Hegel  führt  sein  System  konsequent  durch. 

Im  Gegensatz  dazu  ist  Schopenhauer  inkonsequent  genug.  Er 
geht  aus  von  den  Kantischen  Kategorien,  die  er  auf  eine  einzige  zurück- 
führt, nämlich  auf  den  Salz  vom  zureichenden  Grunde  oder  die  Kate- 
sorie  der  Kausahtät.  Dieser  Satz  hat  eine  4fache  Wurzel,  den  Grund 
des  Seins,  des  Geschehens,  des  Handelns  und  des  Erkerinens.  Für 
uns  kommt  die  2.  Wuizel  in  Betracht.  Der  Satz  vom  Grund  des 
Geschehens  fordert  für  jede  Veränderung  eine  vorhergehende,  die 
ihre  Ursache  ist,  und  eine  Substanz  als  unveränderliches  Substrat 


o 


ö 


Das  Substanzproblem,   eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      419 

derselben,  die  Materie.  Alle  Veränderungen  sind  notwendig,  alles 
Wirkliche  ist  materiell.  Aber  die  Kategorie  der  Kausalität  gilt  nur 
für  die  Erscheinungen,  nicht  für  die  Gedankendinge  und  nur  für 
die  Zustände  der  Substanzen,  nicht  für  diese  selbst.  Das  wahre  Wesen 
der  Dinge  „an  sich"  können  wir  nicht  erkennen.  Raum,  Zeit  und 
KausaHtät  trüben  den  Blick  für  die  außer  uns  gegebene  Welt.  Ich 
sehe  die  Außenwelt  nicht,  wie  sie  ist,  sondern  wie  meine  Sinne  sie 
malen.  Nur  ein  Ding  auf  der  Erde  ist  uns  von  außen  und  innen  ge- 
liehen, das  sind  wh*  selbst,  unser  Selbstbewußtsein.  Wir  erbhcken 
unseren  Körper,  und  sofort  fühlen  wir  uns,  wissen  wk  uns  als  wollend. 
Unser  Wille  ist  keine  Vorstellung,  sondern  er  ist  das,  was  unser  walu'es 
Wesen  ausmacht,  das  wahrhaft  Seiende.  Auf  den  Willensakt  fol£>:t 
augenbhcküch  die  Körperbewegung,  beide  sind  identisch.  Der  AVille 
ist  nur  der  von  innen  gesehene  Leib,  der  Körper  der  von  außen  ge- 
sehene Wille.  Diese  Erkenntnis  überträgt  Schopenhauer  auf  die 
ganze  übrige  Welt  Wie  unser  Körper,  so  ist  auch  das  Universum 
reahsierter  Wille.  So  haben  z.  B.  die  Steine  den  Willen  zum  Fallen. 
So  erhebt  sich  hinter  der  Welt  als  Vorstellung  die  Welt  als  Wille. 
Das  ,,an  sich'"  des  Urwillens  können  wir  nicht  erkennen.  Der  Wille 
ist  das  wahrhaft  Seiende,  das  Absolute,  er  ist  ewig,  ungeteilt,  an  sich 
unbewußt,  einheitlich,  er  ist  das  Ein  und  Alles  tv  xai  jiav.  Sein 
AVesen  ist  das  Verlangen  nach  Reahtät.  Er  stellt  sieh  materiell  in 
immer  vollkommeneren  Stufen  dar,  in  dem  menschüchen  Gehirn 
hat  er  sich  ein  Organ  geschaffen,  mit  dem  er  sich  selbst  denkt.  Gehirn 
und  Denken  sind  dasselbe.  Schopenhauer  scheut  sich  nicht,  seiner 
anfängUchen  Behauptung,  die  Welt  ist  meine  Vorstellung,  die  Materie 
ist  nur  Vorstellung,  am  Schluß  den  Satz  gegenüber  zu  stellen:  ,,Die 
Vorstellung  ist  eine  Gehirnfunktion." 

Schopenhauer  ist  der  letzte  der  großen  Gelehrten,  die  im  An- 
schluß an  Kants  Ideahsmus  ihre  Philosophie  entwickeln.  Je  nach 
dem  Punkt,  den  ihre  Systeme  besonders  betonen,  nennt  man  den 
Ideahsmus  Fichtes  den  ethischen,  den  ScheUings  den  physischen, 
den  Hegels  den  logischen  und  den  Schopenhauers  den  subjektiven. 
Nach  Abschluß  dieser  4  großen  ideahstischen  Systeme  treten  die 
Geisteswissenschaften  ihr  Zepter  an  die  mathematischen  Natur- 
wissenschaften ab.  Die  Philosophie  der  neueren  Zeit  ist  von  diesen 
beherrscht. 

Herbart  geht  von  der  Erfalmmg  aus  an  den  SubstanzbegTiff 

27* 


420  Luise  Krieg, 

heran.  Die  P^rfahi'uiip;  lehrt  den  Gegensatz  von  Erscheinung  und 
Sein,  sie  lehrt,  daß  jeder  Erscheinung  ein  Sein  zugrunde  Hegt.  Was 
die  Dinge  an  sich  wirldich  sind,  können  wir  nicht  erkennen,  weil 
sie  uns  nicht  unmittelbar  gegeben  sind.  Wir  können  nur  aus  der 
Erscheinung  auf  das  Sein  schließen.  Da  die  Dinge  der  Außenwelt 
viele  Eigenschaften  haben,  so  müssen  wir  aus  der  Vielheit  der  Er- 
scheinungen auf  die  Vielheit  des  Seins  schließen.  Weil  die  Gegen- 
stände der  Erscheinungswelt  die  Summe  vieler  Eigenschaften  sind, 
so  ist  auch  das  Ding  „an  sich",  das  wahre  Sein,  ein  Zusammen  vieler, 
einfacher  Realen.  Jedes  Reale  oder  jede  Monade  ist  uranfängüch, 
unveränderUch,  voneinander  verschieden,  raumlos  und  ohne  innere 
Zustände.  Er  bezeichnet  seinen  Standpunkt  als  den  des  qualitativen 
Atomismus.  Obgleich  er  mit  Leibnitz  den  Begriff  der  übersinnhchen 
Monade  gemeinsam  hat,  so  folgt  er  ihm  doch  nicht  in  seiner  Lehre 
von  der  praestabilierten  Harmonie.  Jedes  Reale  hat  Individualität, 
aber  ihre  Zustände  sind  nicht  aufeinander  abgestimmt,  sondern  sie 
widersprechen,  sie  stören,  sie  hemmen  einander.  Darum  ist  das 
Wesen  der  Realen  der  Trieb  der  Selbsterhaltung.  Dieses  Verlangen 
nach  Selbsterhaltung  ist  das  einzige  Geschehen,  die  einzige  Verände- 
rung, auf  sie  ist  die  Welt  der  Erscheinung  zurückzuführen.  Näher 
als  alle  anderen  Realen  liegt  uns  unsere  Seele,  die  sich  im  Gehirn  be- 
findet und,  weil  sie  als  Reales  raumlos  ist,  punktförmig  gedacht  wird. 
Auch  sie  übt  Selbsterhaltung  gegen  die  Störungen,  gegen  die  Vor- 
stellungen. Herbart  faßt  die  Vorstellungen  als  Kräfte  auf,  Kräfte 
kann  man  messen  und  berechnen,  und  so  macht  er  den  Versuch, 
Statik  und  Mechanik  auf  die  Seelenkräfte,  die  Vorstellungen,  anzu- 
wenden, ein  Versuch,  der  ihm  mißlang. 

Fechner  war  es,  der  an  diesen  Gedanken  Herbarts  wieder  an- 
knüpfte. Das  Naturgesetz  von  der  Erhaltung  der  Energie  sollte  ihm 
den  Weg  weisen.  Er  glaubte,  daß  jedem  geistigen  Vorgange  ein 
körperlicher  zugrunde  liege.  Beide  stehen  in  einem  bestimmten 
Verhältnis  zueinander,  etwa  wie  innere  und  äußere  Seite  des  Kreises. 
Bestimmte  Verhältnisse  kann  man  messen.  Man  mußte  nur  die 
Maßeinheit  der  geistigen  und  körperüchen  Vorgänge,  der  Vorstellungen 
und  ihrer  körperüchen  Ursache  finden,  und  diese  heferte  das  Gesetz 
von  der  Erhaltung  der  Energie,  das  für  beide  Arten  von  Vorgängen 
gilt.  Die  psychische  Intensität  wächst  nicht  so  schnell  wie  der  ent- 
sprechende physische  Eindruck,  sondern  nur  im  Verhältnis  des  Reiz- 


Das  Substanzproblem,   eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      421 

Zuwachses  zu  der  schon  vorhandenen  Reizptärke.  Auf  Grund  von 
Beobachtungen  war  dieses  Verhältnis  festzustellen,  was  auch  gelang. 
Das  Experiment  war  damit  in  die  Seelenlehre  eingeführt.  Zugleich 
war  die  Auffindung  der  psychisch-physischen  Formel  der  Beweis, 
daß  tatsächlich  ein  Parallehsmus  der  geistigen  und  körperhchen 
Vorgänge  stattfindet.  Fechner  schloß  aus  dem  Parallehsmus  im 
Menschen  auf  den  Parallehsmus  im  Universum.  Überall  entsprechen 
Geistiges  und  Körperhches  einander.  Unendhches  und  Endhches, 
Gott  und  Welt,  bilden  eine  Einheit  wie  Seele  und  Körper  im  Menschen. 
Beide,  Unendhches  und  Endhches,  bauen  sich  auf  einer  Einheit  auf, 
die  höchste  geistige  Einheit  ist  das  Gottesbewußtsein,  die  letzte  körper- 
liche das  Atom.  Er  faßt  das  Atom  allerdings  nur  als  wissenschaft- 
liches Hilfsmittel  auf,  um  kleinste  Kraftzentren  zu  gewinnen.  Da 
jedem  Körper  ein  Geistiges  zugrunde  hegt,  so  hat  alles  Endhche 
auch  Seele,  Organismen  wie  Anorganisches.  Alles  ist  beseelt.  Die 
Einheit  dieser  einzelnen  Seelen  ist  die  göttliche,  die  Weltseele,  mit 
der  sie  nach  dem  Tode  einen,  von  räumhch-körperhchen  Schi^anken 
befreiten  Zusammenhang  l)ilden.  Er  stellt  diese  Lehre  von  den  Seelen 
als  „Tagansicht"  der  atomistischen  „Nachtansicht"  gegenüber. 

Auch  Fechners  Schüler  Lotze  unterscheidet  zwischen  der  äußeren 
und  inneren,  der  endhchen  und  der  unendhchen  Welt.  In  der  end- 
lichen Welt,  in  der  Welt  des  Scheins,  herrscht  die  Notwendigkeit, 
die  Mechanik.  Die  Welt  des  Scheins  setzt  sich  aus  Atomen  zusammen, 
die  im  Kausal-  und  Wechselwirkungsverhältnis  zueinander  stehen. 
Hinter  dieser  endhchen  Welt  steht  die  unendliche,  die  Welt  des  Seins, 
die  sich  aus  geistigen  Realitäten  zusammensetzt.  Wie  die  Gesamt- 
heit der  Atome  die  endhche  Materie  ausmachen,  so  bilden  die  Seelen, 
die  geistigen  Reahtäten,  die  Ursubstanz.  Diese  ist  absolut,  aber  nicht 
qualitätslos,  sondern  absolute  Persönlichkeit.  Ihr  Gesetz  ist  nicht 
die  Notwendigkeit,  der  Mechanik  der  endlichen  Welt  entspricht  der 
Zweck  der  unendhchen.  Der  Zweck  der  Ursubstanz  ist  die  Reahsierung 
der  Welt  der  Werte.  Jedes  Reale  verfolgt  einen  Zweck,  trägt  eine 
Idee  in  sich,  die  es  verwirklichen  soll,  und  daher  stehen  alle  Realen 
in  Beziehung,  in  Wechselwirkung  zueinander.  „Sein"  heißt  also 
bei  Lotze  in  Wechselwirkung  stehen,  und  „das  Sein"  ist  die  Ursub- 
stanz, die  absolute  Persönlichkeit. 

Wie  Lotze  und  Fechner,  so  wandte  auch  von  Hartmann  die 
naturwissenschafthche   Methode   für  seine   Erklärung   der   Substanz 


422  Luise  Krieg, 

an.  Die  Dinge  ,,an  sich"  haben  eine  reale  Existenz  außerhalb  unserer 
Vorstellung.  Das  Wesen  der  Ideenwelt  ist  Tätigkeit,  ist  mit  sicli 
selbst  identische  Wirksamkeit,  es  ist  die  unbewußte  Einheit  von 
Vorstellung  und  Wille.  Von  Hartmann  erhebt  zur  obersten  Einheit 
das  Unbewußte.  Das  Unbewußte  ist  die  Substanz,  es  produziert 
den  Bewußtseinsinhalt  und  die  Materie,  also  geistige  und  körperliche 
Welt. 

Von  Hartmann  war  es,  der  in  seiner  Kategorienlehre  wieder  die 
Frage  aufwarf,  ob  der  Substanzbegriff  nur  eine  Form  unseres  Denkens 
oder,  weil  eine  Form  unseres  Denkens,  auch  die  des  Seins  ,,an 
sich"  sei. 

Die  Beschäftigung  mit  dem  Substanzproblem  zeigt,  daß  es  ein 
metaphysisches  Problem  sei,  denn  es  führt  über  die  Erfahrung  hinaus 
in  das  Außersinnliche.  Das  Übersinnhche  ist  uns  vernunftmäßig 
gegeben.  Daher  war  die  Metaphysik  immer  mit  der  Methode  der 
Deduktion  verbunden.  Erst  durch  den  Einfluß  der  Naturwissen- 
schaften verfielen  Lotze,  Fechner  und  Hartmann  darauf,  die  Induktion 
und  das  Experiment  auf  die  Metaphysik  anzuwenden  und  so  der 
Metaphysik  von  ,,oben"  die  von  ,, unten"  entgegenzusetzen.  Das 
einzige  außersinnliche  Sein,  das  uns  gegeben  ist,  ist  unser  eigenes 
Denken,  unsere  Seele.  Deshalb  unternahmen  es  jene  Philosophen, 
die  Seele  naturwissenschaftlich  zu  betrachten,  ihre  Zustände,  ihre 
Wirkungen  zu  beobachten,  ihre  Gesetze  mathematisch  zu  bestimmen. 
Indem  die  moderne  Psychologie  die  Seele,  das  geistige  Wesen  studiert, 
hofft  sie  dem  Übersinnlichen  näher  zu  kommen,  ebenso  wie  die  Natur- 
wissenschaft die  sinnhche  Materie  ergründen  will,  indem  sie  den 
Begriff  des  Körpers  feststellt.  Beide  Wissenschaften  arbeiten  an 
ihrem  Teil  zur  Klärung  des  Substanzproblems  mit.  Sie  stellen  die 
Grundtatsachen,  die  Grundbegriffe  fest. 

Für  die  moderne  Naturwissenschaft  ist  der  Körper  das  Element, 
aus  dem  die  Substanz  sich  zusammensetzt.  Die  Außenwelt  besteht 
aus  einem  Inbegriff  von  Körpern,  die  in  Raum  und  Zeit  gegeben 
siiid.  Der  Körper  ist  relativ  beharrhch,  im  Gegensatz  zur  früheren  An- 
sicht, nach  der  die  Substanz  absolut  beharrhch  war.  Der  Körper 
ist  ferner  im  Raum  und  er  muß  einen  Raum  erfüllen.  Die  Größe 
der  Raumerfüllung  ist  bestimmt  durch  den  Begriff  des  Raumes,  der 
.ihn  dreidimensional  gibt.  Demnach  hat  auch  der  Körper  drei  Dimen- 
sionen, seine  Gestalt  verändert  sich  nicht,  wenn  er  sich  im  Räume 


Das  Substanzproblem,  eine  philosophiegeschichtliche  Darstellung.      423 

verschiebt.  Ein  Körper  ist  ein  einzelner  Körper  nnr  durch  seine 
zeithch-räumhchen  Bestimmungen,  nicht  aber  durch  ein  principe 
interne.  Denn  zeitüch  kann  an  demselben  Orte  nicht  noch  ein  zweiter 
Gegenstand  sein.  Der  Körper  ist  auch  eine  Masseneinheit,  er  hat 
Volumen,  ist  undurchdringlich.  Die  Masse  des  Körpers  ist  das,  was 
bei  allem  Wechsel  beständig  bleibt,  was  bei  aller  Veränderhchkeit 
feststeht.  Die  Masse  ist  der  RealgTund  für  die  Undurchdringlichkeit. 
Da  die  Masse  das  Konstante  ist,  so  galt  es  vor  allen  Dingen,  sie  zahlen- 
und  größenmäßig  genau  zu  erfassen.  Da  zeigte  die  Forschung,  daß 
nur  eine  Erfahungstatsache  an  der  Masse  gegeben  ist.:  Körper  er- 
fahren beschleunigte  Bewegung.  Die  Auffindung  der  Fallgesetze 
zeigte  dann  weiter,  daß  die  Masse  der  Realgrund  der  Trägheit,  des 
Beharrungsvermögens  der  Körper  ist,  die  Masse,  die  man  hier  als 
Schwerkraft  auffaßte.  In  der  Schwere  hatte  man  die  Grundkraft 
der  Materie  entdeckt.  Und  so  löste  die  mechanische  Naturauffassung 
die  Körperwelt  in  die  Bewegungen  der  Atome  auf.  Im  Gegensatz 
dazu  fand  Ostwald  die  Einheit  von  Materie  und  Geist  in  der  Energie. 
Alles  ist  Arbeit,  mechanische,  magnetische,  elektrische,  chemische 
Energie.  Wieder  andere  halten  die  Elektronen  für  die  Elemente  des 
Seins,  der  Materie  und  hoffen,  von  hier  aus  eine  neue,  die  wahi'e  Sub- 
stanzerklärung zu  finden. 

So  stellt  die  Geschichte  der  Philosophie  „das  Ringen  um  die 
Kategorie  der  Substanz"  dar.  Wir  wollen  diese  Erkenntnis  erweitern 
und  sagen,  das  Ringen  um  die  Erkenntnis  der  Substanz  ist  die  Ge- 
schichte der  Menschheit  überhaupt,  und  die  Stellung  des  Menschen 
zu  diesem  Problem  ist  sein  Schicksal.  Und  doch  müssen  wir  uns 
bescheiden.  Wir  können  der  Lösung  nur  immer  näher  kommen. 
Es  ist  dem  Menschen  gesetzt,  die  Walii'heit  zu  suchen,  das  Finden 
ist  die  Vollendung.  Und  so  bleibt  das  Endhche  für  die  Forschung, 
aber  das  Unendüche,  das  wir  im  Geiste  erschauen,  das  beten  wir  an. 


t 


XIV. 

über  die  BeziehungeD  Fichtes  und  seiner  Schule 
zur  Universität  Charkow  (Russland).*) 

Ein  biographischer  Beitrag 

Yon 

Dr.  Paul  Stähler,  Hoclischuldozent. 

a)    Fichtes    Berufung   nach   Charkow. 

Der  Bruch  mit  der  weimarischen  Regierung  infolge  des  Altheis- 
musstreites war  vollzogen,  und  Fichte  wollte  sich  als  Einsiedler 
nach  Rudolstadt  zurückziehen,  was  ihm  jedoch  sein  Fürst,  Herzog 
Karl  August,  verweigerte.  So  wandte  sich  Fichte  nach  Berlin,  dessen 
geistiges  Leben  er  mächtig  beeinflussen  und  anregen  sollte.  Am 
3.  Juni  1799  traf  er  hier  ein.  Der  preußische  König  gewährte  ihm 
bereitwillig  den  Aufenthalt.  So  sieht  sich  denn  bald  Fichte  von  einem 
Kreis  ehrhcher  Freunde  umgeben,  wie  Tieck,  Schleiermacher, 
die  beiden  Schlegel,  Hufeland,  Varnhagen,  Chamisso  u.  a.  — 
Ein  neuer  akademischer  Wirkungskreis,  das  Wieb  jedoch  seine  Sehn- 
sucht: die  so  notwendige  Vorbedingung  seines  geistigen  Schaffens. 
Sich  entzünden  am  eigenen  Wort  —  das  war  sein  Bedürfnis.  Zwar 
bot  ihm  Jacobi  Düsseldorf  als  Zufluchtsstätte  an,  aber  seine  Hoff- 
nungen setzte  Fichte  auf  eine  Professur  in  Heidelberg. 

Fichte  näherte  sich  in  Berlin  dem  Religionsproblem,  und  ge- 
waltige Werke  entfheßen  seiner  wuchtigen  Feder,  wie  „die  Bestim- 
nmng  des  Menschen",  „der  geschlossene  Handelsstaat"  (1800),  den 
er  ja  eigentündicherwcise  für  seine  größte  Leistung  hielt,  u.  a.  — 
Trotz  der  fruchtbaren  Tätigkeit  fand  sein  Gemüt  nicht  die  nötige 


*)   Vgl.   meine  Schrift:    „Fichte,    ein   deutscher   Denker",    S.    16 — 17, 
Verlag  Leonhard  Simion  Nf.,  Berlin  1914. 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  425 

Befriedigung.  Die  gewaltige  Predigernatur  in  ihm  wolKe  ihre  Rechte. 
Das  Feuer  der  edelsten  Begeisterung  suchte  Nahrung,  suchte  Herzen, 
in  denen  es  zünden  konnte.  Den  Stempel  seines  Geistes  der  Welt  auf- 
zudrücken —  das  war  sein  innerstes  Bedürfnis.  Die  Spuren  des  Fichte- 
schen Geistes  sind  unverwischbar  geMiebcn  —  wir  wissen  es  heute. 

Da  erreichte  ihn  unverhofft  ein  ehrenveller  Ruf  an  die  neu- 
gegründete  Kaiserliche  Universität  Charkow  (Südrußland).  Die 
Berufung  traf  gleichzeitig  mit  derjenigen  von  Bayern,  nach  Lands- 
hut,  ein.  Die  Verhandlungen  wegen  der  Professur  in  Landshut  zer- 
schlugen sich,  da  die  Bedingungen  Fichtes  in  bezug  auf  AVirkungs- 
freiheit  außerordentlich  weit  gingen.  Die  Bedingungen  aber,  die 
Fichte  von  Charkow  aus  angeboten  werden  konnten,  waren,  wie 
wir  unten  sehen  werden,  in  materieller  Hinsicht  hervorragend,  mit 
der  Einschränkung,  daß  die  später  eintretende  Geldkiisis  eine  be- 
deutende Entwertung  der  russischen  Assignaten  bewirkte,  unter 
der  auch  die  Charkower  Professoren  empfindlich  litten. 

Keineswegs  verlockend  waren  die  Bedingungen  der  Lehrtätigkeit. 
Fichte  wäre  gezwungen  gewesen,  lateinisch  zu  lesen.  Das  stellt  an  die 
Kenntnisse  dieser  Sprache  naturgemäß  bedeutende  Anforderungen, 
sowohl  auf  selten  des  Lehrers  als  auch  der  Hörer.  Die  deutsche  Sprache, 
mit  der  Fichte  ja  gänzlich  verwachsen  war,  hätte  er  vollständig  preis- 
geben müssen.  Daraus  ergab  sich  aber  die  Unmöglichkeit  einer  nach- 
haltigen Wnkung  auf  die  Umgebung,  und  gerade  das  war  ja  Fichtes 
Element  und  Lebensbedürfnis. 

Sei  dem  wie  immer !  Fichte  hatte  schon  derart  tiefe  Wurzeln  im 
deutschen  Kulturleben  geschlagen,  hatte  schon  frühzeitig,  z.  B.  auch 
in  Warschau  den  kulturellen  Gegensatz  kennen  gelernt,  daß  alle 
jene  Bedingungen  ihn  mir  zur  Ablehnung  der  Berufung  bewegen 
mußten. 

So  wandte  sich  denn  der  Kurator  der  Charkower  Universität 
Graf  Potozki,  nach  Weimar.  Dem  Historiker  Professor  Bogalei, 
dem  gründlichsten  Kenner  der  Charkower  Universitätsgeschichte 
als  auch  der  Geschichte  Südrußlands,  ist  es  gelungen,  im  Archiv  des 
Unterrichtsministeriums  in  St.  Petersburg  einen  Brief  Goethes 
vom  Jahi'e  1803,  gerichtet  an  den  Charkower  Kurator,  zu  entdecken. 
In  diesem  Schreiben  wird  J.  G.  Schad,  damals  Professor  der  Phi- 
losophie an  der  Universität  Jena,  für  die  Lehrkanzel  der  neugegründe- 
ten Universität  empfohlen. 


426  Paul  Stählcr, 

1))    Biographisflios. 

Johann  Baptist*)  Schad  wurde  im  Jahre  1758  in  Mürsbac-li 
bei  Bamberg  geboren.  Sein  Vater  war  Bauer  nnd  unterhielt  dabei 
ein  kleines  "Wirtshaus;  er  war  streng  katholisch  und  kleinbürgerlich 
sittlich  und  auch  von  Aberglauben  nicht  frei.  Was  ihn  ferner  aus- 
zeichnete, war  eine  ausgesprochene  Unduldsamkeit  gegen  Anders- 
gläubige. Bis  zu  seinem  10.  Jahre  wurde  Johann  Baptist  in  der  Familie 
erzogen  und  lernte  die  Beschäftigung  des  Vaters.  Seine  schöne  Stimme 
und  seine  musikahsche  Begabung  entschieden  aber  bald  sein  Schicksal. 
Er  sollte  in  den  Chor  des  Benediktinerklosters  in  Banz  eintreten. 
Sein  Lehrer  war  musikbegabt;  wissenschaftlichen  Unterricht  erhielt 
er  nicht,  sondern  er  wurde  nur  in  der  lateinischen  Sprache  und  in  der 
Musik  unterwiesen.  Von  sittlicher  Erziehung  konnte  keine  Rede  sein, 
nur  schlechte  Beispiele  gab  ihm  seine  Umgebung.  Sein  Aberglaube 
während  seines  vierjälirigen  Aufenthaltes  wurde  nur  verstärkt.  Vier- 
zehn Jahre  alt  kam  er  in  das  Jesuitenseminar  nach  Bamberg,  um 
humaniora  zu  studieren.  Der  Unterricht  wurde  unentgeltheh  erteilt, 
und  dazu  bezog  er  ncoh  30  Taler  Einkommen  als  Chorsänger.  "Die 
jesuitische  Methode  bestand  in  mechanischen  Gedächtnisübungen 
und  lateinischer  Syntax.  Die  Ivlassiker  wurden  nur  zu  gTammatischen 
Beispielen  benutzt,  der  Inhalt  aber  wurde  mit  Absicht  nicht  be- 
achtet, weil  der  IiTtum  schlecht  und  gefährlich  sei.  In  den  zwei  un- 
teren Klassen  wurde  Geschichte  und  Katechesis  auswendig  gelernt 
und  auch  die  allgemeine  Geschichte  mechanisch  durchgetrieben. 
In  der  dritten  Klasse  wurden  die  griechischen  Ivlassiker  gelesen, 
ohne  den  Inhalt  zu  berücksichtigen,  bloß  das  Neue  Testament  diente 
als  eigenthche  Unterrichtslektüre.  Zwar  wurde  auch  in  jener  Zeit  die 
deutsche  Sprache  eingeführt,  aber  schlecht  unterrichtet.  Mittel- 
alterlich-scholastisch war  die  ganze  Methode  und  traditionell  w^aren, 
auch   die   öffentlichen   feierlichen    Dispute. 

Der  junge  Schad  konnte  infolge  seiner  schlechten  Kenntnisse 
nur  als  letzter  aufgenommen  werden,  aber  sein  Elu"geiz  regte  ihn 
zu  unermüdhchem  Fleiß  an;  bald  hatte  er  alle  andern  überholt.  Jetzt 
begann  auch  seine  selbständige  Arbeit;  die  Musik  und  die  Klassiker 
waren  seine  Lieblingsbeschäftigung.  Sein  Lehrer  regte  seinen  eitlen 
Ehrgeiz  noch  mehr  an.    Prälat  war  sein  Ziel  im  Kloster,  Heiliger  und 


^)  wie  er  vor  seinem  Übertritt  zum  Protestantismus  hieß. 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  427 

Gelehrter  dasjenige  im  Seminar.  Tiefe  Wirkung,  nachhaltigen  Ein- 
druck machten  auf  ihn  „die  Legenden  der  Heihgen".  Durch  Selbst- 
geißelung, durch  Keuschheitsgelübde  suchte  er  das  hohe  Ziel  zu  er- 
reichen. Um  seine  geschlechthchen  Instinkte  vollständig  zu  unter- 
drücken und  zu  ersticken,  schnitt  er  auf  seiner  Brust  den  Namen 
Jesus  ein.  Nichts  half.  Ratlos  wendet  er  sich  an  seinen  Beichtvater, 
der  ihm  den  Rat  erteilt,  ins  Kloster  einzutreten.  Sein  Entschluß 
war  bald  gefaßt,  sein  Erzieher  verlangte  von  ihm  blinden  Glauben 
und  unbedingten  Gehorsam.  Trotzdem  fiel  ihm  die  Aufgabe  leicht, 
weil  er  ziell7e^nlßt  an  seiner  sinnlichen  Befreiung  arbeiten  wollte. 
So  verbrachte  er  sieben  Jahre  im  lüoster  Banz.  Eigenes  Denken 
und  Fühlen  wurden  ihm  Sünde,  und  der  Sinn  zur  Natur  wurde  ge- 
waltsam unterdrückt.  Die  häufigen  Bestrafungen  aber,  denen  er 
nicht  entging,  quälten  sein  Gewissen  immer  melir,  und  schließlich 
geriet  er  in  heftige  Selbstbeschuldigung,  indem  er  sich  der  Unfähig- 
keit zur  Seligkeit  anklagte.  Dazu  kamen  schwere  körperhche  Leiden, 
so  daß  in  ihm  bald  der  Selbstmordgedanke  reifte,  mit  dem  er  Gott 
zu  dienen  glaubte.  Strenge  Warnungen  und  Drohungen  aber  hielten 
ihn  von  der  Ausführung  des  Gedankens  zurück. 

Nun  erst  erfolgte  der  Umschwung  in  seinem  Denken.  Das  „sapere 
aude"  wurde  ihm  das  Mittel  des  seehschen  Gleichgewichts.  Jetzt  be- 
gann auch  seine  Kritik  des  Mönchtums.  Von  dieser  aber  ist  nur  ein 
Schritt  zur  Kiitik  der  päpsthchen  und  kirchhchen  Autorität.  So 
fing  er  an,  den  blinden  Glauben  zu  hassen.  Es  erfolgte  jetzt  in  ihm 
ein  sittlicher  Umschwung.  Aus  einem  „Egoisten"  wurde  ein  humaner 
Mensch,  der  den  Sinn  für  die  Natur  bald  wieder  gewann  und  die  gött- 
liche Liebe  in  den  Mittelpunkt  alles  Lebens  stellte.  Die  Ehe  erschien 
ihm  als  eine  von  Gott  gewollte  natürliche  Einrichtung.  12  Jahre 
noch  blieb  er  im  Kloster,  um,  wie  er  selbst  sagt,  andere  von  der 
Knechtschaft  zu  befreien.  In  dieser  Gesinnung  wirkte  er  als  Religions- 
lehrer, Beichtvater,  Prediger,  Geisthcher  und  Schriftsteller.  Be- 
sonders nachhaltig  aber  war  die  Wirkung  seiner  Umarbeitung  „der 
Legenden  der  Heiligen",  in  der  er  seiner  antimönchischen  Moral  Aus- 
druck verschaffte.  Die  Ausgabe  erregte  Anstoß  und  wurde  als  ketze- 
risch bezeichnet.  Der  Verfasser  suchte  dann  durch  seine  Apologie 
in  der  ,, Mainzer  Monatssclu'ift  von  geistlichen  Sachen''  nachzuweisen, 
daß  er  nicht  den  Katholizismus,  sondern  ausschließlich  das  Möncli- 
tum  angegriffen  habe.   Der  Abt  Valerianus  verlangte  seine  Bestrafung, 


428  Paul  Stähler, 

aber  der  Fürst-Bischof  erklärte  sich  mit  der  Apologie  einverstanden. 
Die  Umarbeitung  der  „Legenden"  hatte  eine  nachhaltige  Wirkung 
auf  sein  ganzes  geistiges  Leben.  Handelte  es  sich  doch  hier  um  kri- 
tische Prüfung  auf  Grund  der  Kirchengeschichte,  d.  h.  um  Aus- 
schaltung der  erdichteten  abergläubischen  und  zweifelhaften  Legenden. 
Was  ihm  1)esonders  zustatten  kam,  war  die  ausgedehnte  Benutzung 
der  großen  Klosterbibliothek,  die  ihm  eine  kritische  Prüfung  und 
gründUche  Quellendurchsicht  ermöglichte.  Die  dogmatischen  Miß- 
verständnisse des  Christentums  wollte  er  durch  geschichtliche  Studien 
berichtigen.  Das  gedankliche  Ziel,  das  ihn  bei  seiner  Arbeit  leitete, 
war  ein  harmonisches  System  des  Christentums,  eine  Versöhnung 
des  Kathohzismus  und  der  Vernunft.  Jedenfalls  standen  ihm  eine 
ausgezeichnete  Schulung  in  der  scholastischen  Dialektik  und  Logik, 
sowie  eine  gründhche  Kenntnis  der  griechischen  und  römischen 
Klassiker  zu  Gebote. 

Li  jener  Zeit  geht  ihm  „die  wirkliche  Sonne"  auf,  die  alles  mit 
ihrer  blendenden  Helle  überflutet,  die  seinem  ganzen  Leben  Richtung 
verleiht,  nämhch  Kants  „lü-itik  der  praktischen  Vernunft".  Hier 
fand  er,  was  er  solange  sehnHch  gesucht  hatte:  die  innere  Freiheit. 
Ablehnend  aber  verhielt  er  sich  zur  ,, Kritik  der  reinen  Vernunft". 
Nach  seiner  Meinung  war  es  nur  ein  Grundbuch  des  Skeptizismus 
und  infolgedessen  weiter  nichts  als  eine  besondere  Begründung  der 
Autorität.  Genau  wie  der  Katholizismus,  so  meint  Schad,  führt 
„die  K.  d.  r.  V."  zum  ()ffenl)arungsglauben,  weil  sie  uns  beweist, 
daß  Gott  durch  Vernunft  nicht  erkannt  werden  kann.  Mit  Leibniz 
verlegt  Schad  die  Quelle  der  Offenbarung  und  der  Vernunft  in  Gott, 
d.  h.  die  göttMche  Offenbarung  wird  unmittelbar  durch  die  Vernunft 
erkannt.  So  bekämpfte  er  den  Winden  Glauben  aller  orthodoxen 
Richtungen  jeder  Konfession,  sich  dennoch  kritisch  gegen  Kant  ver- 
haltend. Freudig  aber  begrüßt  er  Fichtes  Philosophie;  diese  Idee 
der  Selbstentwicklung  unseres  Geistes  entsprach  seinem  Denkbe- 
durfnis.    Ohne  diese  sei  kein  Leben,  denn  sie  sei  frei  und  unabhängig. 

Auch  weiterhin  suchte  er  morahsch-religiös  auf  das  Volk  einzu- 
wirken, so  durch  Übersetzung  des  Bibelkommentars  Le-Maistre  de 
Sacy.  Es  handelte  sich  ihm  nicht  um  Übersetzung,  sondern  er  ver- 
suchte eigene  Deutungen,  die  Bibelkommentare  protestantischer 
Theologen  zu  Rate  ziehend.  Li  demselben  Sinne  entstand  aus  seiner 
Feder  eine  umgearbeitete  Ausgabe  des  „Handbuchs  zur  Religion", 


über  die  Beziehungen   Fichtes  zur   Universität  Charkow.  429 

worin  der  Geist  „der  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  bloßen  Ver- 
nunft" Kantens  in  eigener  Deutung  verarbeitet  wurde.  Schads  letztes 
Werk  iin  Kloster  waren:  ,, Lebensschicksale  des  unwürdigen  Vaters 
Sincerus",  die  ihm  später  so  verhängnisvoll  werden  sollten. 

In  jener  Zeit  wurde  Schad  vom  Herzog  Karl  von  Württemberg 
als  Hofprediger  berufen.  Man  suchte  ihm  jedoch  das  Schreiben  der 
Regierung  vorzuenthalten,  da  der  Prälat  und  der  Fürstbischof  mit 
seinem  Weggange  nicht  einverstanden  waren.  So  sah  er  sich  ge- 
zwungen, abzusagen  und  ließ  sich  durch  Versprechungen  des  Fürst- 
bischofs abhalten.  Auch  einer  Einladitng  nach  Straßburg  folgte  er 
nicht. 

Eine  schwere  Lungenentzündung  mit  nachfolgendem  Blutspucken 
warf  ihn  auf  ein  langwieriges  Krankenlager.  Der  Arzt  verhieß  ihm 
nur  ein  halbes  Jahr  zu  leben.  So  faßte  er  den  Entschluß,  seine  „Lebens- 
schicksale", jene  bittere  Satire  auf  das  Mönchtum,  zu  veröffentlichen, 
und  zwar  sollte  der  erste  Teil  direkt  nach  seinem  Tode  erscheinen. 
Wider  Erwarten  aber  genas  er,  infolgedessen  jedoch  war  eine  Flucht 
unumgänglich  notwendig,  weil  er  sonst  der  Inquisition  unverweiger- 
hch  in  die  Hände  gefallen  wäre. 

In  einer  dunklen  Nacht  bereitete  er  sich  zur  Flucht  vor,  sprang 
über  die  Ivlostermauer  und  irrte  in  der  Dunkelheit  undier,  da  er 
mehrere  Male  den  Weg  verlor.  Endlich  war  er  der  Gefahr  entronnen,  — 
bei  aufgehender  Morgenröte  sah  er  ein  protestantisches  Dorf  vor  sich. 
So  konnte  er,  nach  seinen  eigenen  Worten,  die  21  jährigen  Ketten 
seiner  Knechtschaft  abschütteln,  seine  reichhaltige,  teuere  Bibhothek 
aber  und  sein  geliebtes  Cello  hatte  er  im  Stich  lassen  müssen. 

Das  einzige  Mittel,  dem  Mönchtum  zu  entkommen,  sah  er  in 
dem  Übertritt  zum  Protestantismus,  den  ihm  auch  Hofrat  Schaubert 
dringend  angeraten  hatte.  Jetzt  suchte  er  den  philosophischen  Doktor- 
grad in  Jena  nach,  ohne  Prüfung,  auf  Grund  bereits  veröffentHchter 
Schriften.  Seine  Absicht  war,  Vorlesungen  in  Jena  zu  halten.  Zu 
diesem  Zwecke  legte  er  Fichten,  der  damals  Professor  in  Jena  war, 
die  genaue  Wiedergabe  seiner  Philosophie  in  drei  Teilen  vor. 

Fichte  war  über  die  philosophische  Begabung  Schads  erstaunt  und 
nahm  besonderes  Interesse  an  der  Ai'beit,  weil  der  Autor  ein  früherer 
Mönch  war.  Schads  Dissertation  zur  öffentKchen  Verteidigung  lautete : 
,,De  nexu  philosophiae  theoricae  cum  practica".  Er  entledigte  sich 
seiner  Aufgabe  mit  Erfolg  und  erhielt  die  ,, Venia  docenti".     Beim 


430  Paul  Stähler, 

Verlassen  der  Universität  Jena  soll  Fichte  die  Studenten  auf  Sehad 
als  seinen  Nachfolger  hingewiesen  haben,  wenn  man  dieser  Behaup- 
tung Schads  Glauben  schenken  soll. 

Vom  Jahre  1799  bis  1804  erschienen  folgende  Werke  Schads: 
1.  „Grundriß  der  Wissenschaftslehre",  2.  „Geist  der  Philosophie 
unserer  Zeit",  3.  ,, Transzendentale  Logik",  4.  Ziemhch  starke  Ab- 
handlung in  dem  phihjsophischen  Journal,  5.  Abhandlungen  über 
die  Verbesserung  des  Mönchwesens,  6.  ,, System  der  Natur  und  trans- 
zendentale Philosophie",  7.  ,, Meine  Lebensgeschichte",  8.  „Gefahren 
des  Staates  und  der  Rehgion  von  selten  des  Mönchtums",  9.  „Das 
Paradies  der  Liebe"  —  Mönchsroman  in  2  Teilen. 

Im  Jahre  1799  trat  Schad  in  die  Ehe.  1804  wurde  er  als  Professor 
für  praktische  und  theoretische  Philosophie  an  die  neu  eröffnete 
Universität  Charkow  (Südrußland)  berufen.  Als  Gehalt  waren  ihm 
2400  bis  3000  Taler  zugesichert  nebst  Erstattung  der  Reiseunkosten. 
Schad  nahm  die  Berufung  an. 

Material  findet  sich  mehr  wie  reichlich  in  seiner  SelbstbiogTaphie: 
, .Johann  Baptist  Schads  Russisch  kaiserhchen  CoUegienrathes  und 
Professors  der  Philosophie  in  Jena  ehemals  Benedictiners  zu  Kloster 
Banz,  Lebensgeschichte  von  ihm  selbst  geschrieben  (Fürsten,  Staats- 
männern, ReUgionslehrern  und  Erziehern  vorzüghch  gewidmet. 
Neue,  durchaus  umgearbeitete,  mit  Reflexionen  über  die  in  unsern 
Tagen  besonders  interessanten  Gegenstände  2.  Auflage,  3  Bände, 
Altenburg  1828,  mit  herzogüch  Sächsischen  Censur)" 

und  ferner  ,,J.  G.  Schad"  von  Professor  F.  A.  Selenogorsky, 
Charkow,   Universitätsberichte  vom  Jahre   1890  (russisch). 

c)    Über   die   Lehre    Schads. 

Seh.  mußte  lateinisch  lesen  und  verfaßte  auch  seine  Werke  in 
Rußland  ausschließlich  in  lateinischer  Sprache.  Der  lateinische  Mittel- 
schulunterricht heß  damals  sehi*  zu  einsehen  übrig,  so  daß  Seh. 
hier  mit  großen  Schwierigkeiten  zu  kämpfen  hatte.  Trotzdem  war 
Seh.  bei  den  Studenten  recht  beliebt,  und  Professor  Rommel  lobt 
ausdrücklich  das  flüssige  Latein  seines  Kollegen. 

Die  Logik  ist  nach  Sch.s  Lehre  nicht  unmittelbares  Organ  zur 
Entdeckung  der  Wahi'heit;  sie  fördert  nur  das  Denken  und  die  Über- 
mittlung von  Gedanken.     Begxiffe  werden  hier  aus  Grundbegriffen 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  431 

abgeleitet,  welche  alsdann  genau  abgegrenzt  werden  müssen.  Der 
Grundbegriff  jedoch  braucht  Wahrheit  nicht  zu  enthalten,  nur  von 
Wahrem  kann  AVahres  abgeleitet  werden.  Die  Wahrheit  des  Grund- 
begriffes aber  ist  nicht  Sache  der  Logik,  —  das  beweist  uns  der  Ma- 
terialismus. So  behauptet  Seh.:  ,,Logieam  immediate  et  primario 
iiptam  non  esse  ad  veritatem  inveniendam". 

Hier  stimmt  Seh.  mit  der  Kritik  Kants  überein,  der  die  Grenze 
zwischen  Verstand  und  Vernunft  aufgerichtet  und  dem  Verstände 
jede  Möglichkeit  des  Erkennens  abgestritten  hat.  Es  gibt  ein  Denken 
per  intellectum  und  ein  Denken  per  rationem.  Durch  Vernunft  allein 
wird  das  Universum  erkannt,  wie  es  in  sich  existiert.  Der  Intellekt 
aber  wird  durch  die  Erscheinung  begrenzt. 

Das  Werk  Sch.s,  welches  seine  philosophische  Ul)erzeugung 
charakterisiert,  heißt:  ,,Institutiones  philosophiae  universalis 
Tomus  primus.  Logicam  puram  et  applicatam  complec- 
tens  1812.  Charkow."  Die  reine  Logik  zeigt  den  Nutzen  und  den 
Gebrauch  der  logischen  Kegeln.  Sie  hilft  der  Ausführung  der  Wahr- 
heit durch  gesetzliche  Folgerung.  Aus  den  bereits  angeführten  Grün- 
den aber  l)leibt  die  Logik  stets  eine  Fehlerquelle  der  Philosophie. 
Die  formale  Logik  vor  allem  schafft  die  GegensätzHchkeit  von  Subjekt 
und  Objekt.  Der  Doppelcharakter  in  der  Natur  des  Intellekts  wird 
zum  Prinzip  erhoben.  Der  Intellekt  findet  Substanz  und  Veränderung 
(Accidenz),  welche  zufällig  ist.  So  wird  die  Unterscheidung  von  innen 
und  außen  erst  abgeleitet.  Kant  und  in  der  Foloe  auch  Reinhold 
haben  durch  die  Setzung  des  absoluten  Gegensatzes  von  Subjekt 
und  Objekt  nur  neue  IiTtümer  hervorgerufen. 

Die  Formen  der  Dinge  und  diejenigen  des  Geistes  sind  identisch. 
Die  notwendigen  Formen  des  Geistes  drücken  die  Natur  der  Dinge 
aus  und  erzeugen  ideell  die  Wirküchkeit.  Demzufolge  also  herrscht 
auch  das  Prinzip  der  Gegensätzhchkeit  in  der  Natur.  So  findet  Seh. 
den  Übergang  zu  den  Naturwissenschaften  und  zu  Schelhngs  Natur- 
philosophie. Magnetismus,  Elektrizität,  Chemie,  ja  das  ganze  Leben 
liefern  ihm  den  deutlichen  Beweis  seiner  Behauptung,  und  auch  der 
Qrganismus  in  der  Mannigfaltigkeit  seiner  Teile  stellt  Einheit  und 
Harmonie  der  Gegensätze  dar. 

In  der  reinen  Logik  verarbeitet  Seh.  in  traditioneller  Weise  Be- 
griff, Urteil  und  Schluß  unter  Anwendung  der  von  Fichte  geschaffenen 
heuristischen   Methode    von    Thesis,   Antithesis   und    Synthesis. 


432  Paul  Stähler, 

Sch,  behandelt  dann  Begriff  und  Idee.  AVie  sich  der  Begriff  zum 
Verstand  verhält,  so  verhält  sich  die  Idee  7A\r  Vernunft.  Es  besteht 
jedoch  kein  wesentlicher  Unterschied  zwischen  Urteil  und  Schluß. 
J>r  mittlere  Terminus,  die  kopula  verbindet  Subjekt  und  Prädikat 
und  ist  beiden  gemeinsam.  Sind  aber  zwei  Größen  einer  dritten  gleich, 
so  sind  sie  auch  untereinander  gleich.  In  jedem  Urteil  ist  das  Ver- 
bindungsmittel als  mittlerer  Terminus  wenigstens  „implicite"  ge- 
dacht. Sobald  der  mittlere  Terminus  „exiDÜcite"  gedacht  oder  offen 
ausgesprochen  wird,  so  geht  das  Urteil  zum  Schluß  über.  Der  Schluß 
also  unterscheidet  sich  nicht  wesentlich  vom  Urteil;  denn  hier  wird 
der  mittlere  Terminus  implicite  dort  expücite  gesetzt.  Die  Kanteaner 
haben  daher  einen  groben  Fehler  begangen,  das  Urteil  zum  Verstände, 
den  Schluß  aber  zur  Vernunft  zu  zählen. 

Aber  auch  das  Urteil  und  der  Begriff  zeigen  keinen  wesentlichen 
Unterschied.  Einen  Begriff  haben  wii',  wenn  wir  die  Ähnlichkeit 
zwischen  einem  Begriff  und  dem  andern  durch  einen  dritten  Begriff 
sehen,  was  expücite  ausgesprochen  oder  implicite  gesetzt  wird. 

In  jedem  synthetischen  Urteil  wird  das  unbekannte,  zum  ersten 
Male  perzipierte  Ding  zusammengestellt  mit  einem  bekannten  Ding. 
Sehen  wir  eine  Ähnüchkeit  zwischen  dem  unbekannten  Ding  und  dem 
Gattungsbegriff  des  Dinges,  das  früher  bekannt  war,  so  haben  wir 
einen  Begriff  vom  Ding.  Wir  haben  es  in  ein  bestimmtes,  vorher 
bekanntes  Gebiet  hineingezogen  und  mit  ihm  verbunden.  Zuerst 
percipimus,  dann  concipimus. 

Im  ersten  Akt  gibt  es  keinen  Geist,  keinen  vorhergehenden  Be- 
griff, der  die  Beziehungen  des  Geistes  und  des  Objekts  bestimmt. 
Im  zweiten  Akt  verändert  sich  die  Lage;  d.  h.  der  erste  Akt  geht 
über  in  den  Begriff  der  objektiven  und  subjektiven  Welt.  Es  entstehen 
neue  Arten  und  Gattungen,  mit  welchen  alles,  was  neu  aufgenommen, 
verbunden  wird. 

Hier  behandelt  auch  S.  die  Kategorien,  die  er  übereinstimmend 
mit  Kant  als  reine  Verstandesformen  bezeichnet;  und  zwar  unter- 
scheidet er  ein  elementum  sensibilc  und  ein  elementum  intellectuale. 
Das  letzte  sind  die  Kategorien,  das  erste  ist  das,  was  von  den  äußeren 
Sinn  aufgenommen  wird. 

Im  Geiste  selbst  unterscheidet  er  die  leidende  receptivitas 
und  die  tätige,  unabhängige  Produktivität  des  Geistes,  die  spon- 
taneitas.     Die  Dcdulrtion  der  Kategorien  aus  den  Urteilsformen, 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  433 

die  schon  längst  bekannt  waren,  durch  Kant  findet  Seh.  mangelhaft. 
Vor  allem  sei  Kant  zu  weit  gegangen,  indem  er  die  Modalität,  d.  h. 
die  Beziehungen  der  Dinge  zum  menschlichen  Verstände  und  die 
Relation,  d.  h.  die  Beziehungen  der  Dinge  untereinander,  in  eine 
Kategorie  gebracht  habe,  als  zwei  Arten  ein  und  desselben  Denk- 
begTiffes.  Das  sei  eine  logische  Inkonsequenz.  Die  Modaütät  (Möglich- 
keit, WirkUchkeit  und  Notwendigkeit)  bezeichnet  die  Grade  der 
Erkenntnis  und  gehört  folglich  zum  subjektiven  Gebiet.  Die  Relation 
dagegen  gehört  zu  den  Dingen  der  objektiven  Welt.  Da  nach  Kant 
eine  Erkenntnis  der  Außenwelt  objektiv  nicht  möghch  sei,  verbindet 
dieser  die  Modalität  mit  der  Relation  und  richtet  sein  Augenmerk 
nur  auf  die  subjektiven  Formen.  Das  Wesen  der  Dinge  wird  durcli 
das  Urteil  ausgedrückt,  welches  Beziehungen  und  Verbindungen  unter 
Dingen  behauptet.  Es  ist  nicht,  wie  die  Kanteaner  es  wollen,  eine 
Übertragung  der  Geistesformen  auf  die  Dinge,  sondern  es  sind  wirk- 
liche Verbindungen,  die  den  Dingen  selbst  eigen  sind,  denn  sonst 
sei  die  Allgemeinheit  und  Einheit  der  Dinge  im  Universum  undenkbar. 
Die  Anzahl  der  Urteilsformen  sei  durch  die  Kategorien 
und  deren  Anzahl  bedingt,  nicht  umgekehrt. 

Die  Modalität  gibt  die  Grade  des  Erkennens  an.  Zuerst  ist  eine 
Untersuchung  der  Möglichkeit  des  Dinges  notwendig.  Möglichkeit 
aber  ist  noch  keine  Existenz;  daher  ist  es  auch  nötig  zu  wissen,  ob 
das  nötige  Ding  auch  in  der  Wirklichkeit  existiert.  Wird  diese  Existenz 
durch  die  Erfahrung  bestätigt,  so  führt  diese  Tatsache  zur  Anerken- 
nung der  Notwendigkeit  des  Dinges.  Auf  diese  Weise  umfaßt  das 
apodiktische  Urteil  (Notwendigkeit)  das  problematische  und  asser- 
torische (wirkliche  Existenz).  Damit  aber  sind  die  drei  Grundformen 
des  Urteils  abgeleitet. 

In  der  reinen  Logik  behandelt  auch  Seh.  Raum  und  Zeit,  und 
zwar  als  Ideen.  Raum  und  Zeit  werden  unendlich  vorgestellt,  und 
deshalb  sind  es  keine  Vorstellungen,  die  durch  äußere  Sinne  empfangen 
sind,  denn  diese  percipieren  nur  einzelne  Dinge.  Raum  und  Zeit 
sind  also  Wirkungen  der  absoluten  wiUkürrchen  Produktivität  (spon- 
taneitras)  unseres  Geistes.  Die  mathematische  Evidenz  beweist 
die  Einheit  der  Natur  der  Dinge  mit  derjenigen  unseres  Geistes;  sie 
wird  mit  Notwendigkeit  erzeugt  und  stimmt  mit  der  Natur  der  Dinge 
selbst  überein. 

Die  Gattungs-  und  Artbegriffe  erläutert  Seh.  naturphilosophisch 

Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.    XXVIII.  4.  28 


434  Paul  Stähler, 

und  evolutionistisch.  Die  Natur  ist  die  Entwicklung  der  entgegen- 
gesetzten Kräfte,  und  zwar  1.  der  Anziehung  und  Abstoßung  in  der 
unbelebten  Natur,  2.  des  Reizes  und  der  Empfindung  in  der  be- 
lebten Natur  und  3.  der  Willenskraft  und  der  Denkfähigkeit  in  der 
vernünftigen  Natur.  Allem  ist  der  gemeinsame,  positive  und  nega- 
tive Charakter  eigen,  der  einen  Aufstieg  in  höhere  Stufen  ermöglicht. 
Die  entgegengesetzten  Kräfte  bewegen  sich  um  einen  Mittelpunkt, 
um  ihr  Gleichgewicht.  Dieser  mittlere  neutrale  Punkt  ist  die  Gattung 
(genus  reale);  die  entgegengesetzten  Punkte  sind  die  species  reales. 
Der  Amor  der  Natur  ist  es,  der  alles  erzeugt,  durch  eine  ständige 
Verbindung  der  Gegensätze.  So  entsteht  der  absolute  Organismus, 
so  entsteht  aus  dem  Tode  sogar  das  Leben  —  das  Grundgesetz  des 
Erkennens  ist  demnach  dasjenige  der  Existenz.  Beides  ist  eins  und 
dasselbe. 

Sehen  wir  nun,  daß  Seh.  sich  in  seiner  theoretischen  Philosophie 
eklektisch  verhält,  so  steht  er  mit  seiner  poütischen  Überzeugung 
mitten  auf  dem  Boden  Fichtes.  Am  25.  Dezember  1814  wurde  die 
Befreiung  Rußlands  durch  einen  feierlichen  Akt  der  Universität 
festlich  begangen.  Seh.  hielt  eine  glühende  lateinische  Rede:  „de 
libertate  Europae  vindicata".  Er  leitet  sie  mit  seiner  philo- 
sophischen Hauptidee  der  Gegensätzlichkeit  aller  Dinge,  jenem  uni- 
versalen Lebensgesetz,  kraftvoll  ein.  Dieses  Gesetz  beweise  die  un- 
geheure Wichtigkeit  des  Sieges  und  der  Freiheit;  denn  es  ist  das  Ent- 
wicklungsgesetz für  Familie,  Stände  und  Staat,  die  sich  wie  alle  Or- 
ganismen durch  Wirkung  und  Gegenwirkung  entfalten  müssen.  Auch 
für  die  Nationen  gilt  dasselbe  Gesetz.  Nach  ihrer  Verschiedenheit 
sollen  sie  sich  entwickeln,  dem  Mma,  ihren  geistigen  und  psychischen 
Bedürfnissen  entsprechend.  Diese  Gegensätzhchkeit  aber  ist  die 
Bedingung  jeder  Entwicklung  zur  Vollkommenheit.  Mit  Entrüstung 
greift  er  die  Verteidiger  der  Universalmonarchie  Napoleons  in  Europa 
an,  Wahnsinnige  nennt  er  sie.  Die  gefährlichste  Wunde  des  mensch- 
lichen Geschlechtes,  der  morahsche  Tod  der  Völker,  das  Grab  der 
Freiheit,  Würde,  Vollkcnimenheit  und  des  menschlichen  Glückes, 
das  sei  eine  derartige  allgemeine  Selbstherrschaft.  Der  beständige 
Frieden  werde  dann  erkauft  durch  den  Preis  der  Freiheit  und  der 
Menschenwürde;  eine  große  Tierherde  sei  dann  die  Menschheit  dem 
Herrscher  zum  Füttern,  zum  Gehorsam  und  zum  Opfer  verdammt. 
Die  Gegenwirkungen  seien  aufgehoben,  aber  dafür  sei  auch  jeder  Funke 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zm*  Universität  Charkow.  435 

des  Strebens  nach  Vollkoiiimenheit  ausgelöscht.    „Si  vis  pacem  para 
IjeUiim",  das  gilt  immer  und  überall. 

Aber  nur  wilde  Tiere,  denen  nichts  heiUg  ist,  können  Kiieg  führen 
aus  Habsucht  und  Herrschsucht.  Wer  aber  aus  unreinen  und 
selbstischen  Motiven  dem  gerechten  Kriege  ausweicht,  verdient  das 
größte  Elend.  Zu  ewigem  Frieden  sind  wir  nicht  berufen,  denn  dieser 
ist  der  Anfang  alles  Bösen.  Das  alte  zusammengebrochene  römische 
Reich  hatte  dieses  verdammungswürdige  Gut  besessen,  dieses  unglück- 
lichste Glück.  Die  Frankogallen  hielten  sich  für  berufen,  dieses 
zweifelhafte  Erbe  Roms  anzutreten  und  in  ihrer  habgierigen,  boshaften 
Absicht  suchten  sie  auch  Rußland  zu  unterjochen.  Doch  ein  fiu:cht- 
l)ares,  aber  gerechtes  Schicksal  ereilte  sie. 

In  seinem  Vorwort  zur  Logik  hatte  Seh.  eine  Metaphysik,  eine 
Ethik,  ein  natürliches  Recht  versprochen.  Er  hat  jedoch  nur  ein 
System  des  natürUchen  Rechts  gehefert  in  seinem  Buche  „Insti- 
tutiones  juris  naturae"  1814,  von  dem  weiter  unten  noch  oft 
die  Rede  sein  wird. 

Seh.  kennt  also  negative  und  positive  Mittel  zum  Auffinden 
der  Wahrheit.  Kants  Kritik  kann  nur  ein  negatives  Mittel  sein,  nur 
eine  Vorbereitung  zur  wahren  Philosophie.  Diese  aber  befaßt  sich 
mit  den  selbst  erzeugten  Vernunftideen  und  der  Intellekt  erkennt 
die  vollkommene  Harmonie  aller  Gegensätzhchkeit  im  Universum. 
Diese  Gegensätzlichkeit  ist  das  allgemeine  Gesetz  des  Lebens  und 
ihre  Vernichtung  ist  ewiger  Tod.  Der  Unterschied  von  Geist  und 
Natur  ist  nicht  wesentlich,  denn  die  Formen  des  Geistes  sind  eine 
Reproduktion  der  Formen  der  wirklichen  Natur.  Jenes  Gesetz  der 
Gegensätzhchkeit  gilt  auch  in  der  morahsch-politischen  Welt.  In- 
dividuum, Staat  und  Gesellschaft  befinden  sich  im  dauernden  Zu- 
stand der  Veränderung,  des  Werdens,  des  Fortsclu-itts  und  damit 
im  Zustande  des  Überganges  zur  Vollkommenheit. 

Überbhcken  wk  den  Entwicklungsgang  Schads,  so  sehen  wir, 
wie  er  vergeblich  versucht,  die  Fesseln  des  Rationahsmus,  welche 
ihm  die  Schule  Leibnizens  angelegt  hatte,  abzustreifen.  Das  Ein- 
dringen in  den  Geist  der  Kantischen  Kritik  bleibt  ihm  versagt;  aber 
rücksichtslos  wendet  er  sich  der  Fichteschen  Lehre  von  der  Freiheit 
des  tätigen  Ich  zu,  und  nur  zu  bald  sieht  er  sich  gezwungen,  seinen 
unkritischen,    dogmatischen    Naturbegxiff   an    ScheUing   zu   stützen. 

28* 


436  Paul   Stähler, 

d)    Die    Ausweisung   Schads   aus    Rußland. 

Zwei  Hauptgründe  waren  es,  welche  die  Ausweisung  Schads 
herbeiführten:  1.  die  Begünstigung  der  Doktoranden  Kowalewsky 
und  Grine witsch  durch  unerlaubte  Nachhilfe  bei  den  Dissertationen; 
2.  seine  eigenen  Abhandlungen,  die  als  schädlich  und  gefährlich  für 
die  russische  Jugend  bezeichnet  wurden. 

In  der  Sitzung  des  Senats  vom  22.  Dezember  1815  beantragte 
der  französische  Professor  Degouroff,  die  Dissertation  des  Kandi- 
daten Grinewitsch  mit  den  Kollegienheften  der  Studenten  Soro.- 
schinski  und  Koladin  zu  vergleichen,  wodurch  der  Beweis  gehefert 
werden  könnte,  daß  die  Arbeit  eine  Abschrift  aus  den  Vorlesungs- 
heften sei.  Der  Senat  setzte  zur  Prüfung  der  Angelegenheit  eine 
Kommission  ein  und  verfügte  weiterhin,  daß  das  Doktordiplom  nicht 
auszuhändigen  sei.  In  der  Sitzung  vom  5.  Januar  1816  behauptete 
Degouroff,  daß  die  Dissertation  des  Doktoranden  Kowalewsky  dem 
Wortlaute  nach  mit  früheren  Abhandlungen  Schads  übereinstimme 
(iisdem  verbis  conspecta).  Degouroff  stellte  daher  den  Antrag  auf 
Untersuchung  und  Zurückhaltung  des  Diploms.  Wiederum  wurde 
zur  Erledigung  der  Angelegenheit  eine  Kommission  angesetzt.  Diese 
Konmiission  sprach  sich  am  9.  Februar  dahin  aus,  daß  Schads  Unter- 
suchungen zwar  bedeutend  größer  als  die  Kowalewskys  seien,  daß 
aber  die  hervorragenden  Fachkenntnisse  und  das  fließende  Latein 
fremde  Hilfe  vernieten.  Trotz  des  Protestes  von  Seh.  wurde  in  seiner 
Abwesenheit  und  derjenigen  Degouroffs  verhandelt.  Am  16.  Januar 
wurde  in  der  Sitzung  ein  Schreiben  des  Ministers  verlesen,  das  die 
Einsendung  der  beiden  Dissertationen  sowie  der  Sch.schen  KoUegien- 
hefte  verfüg-te.  Schad  behauptete,  daß  er  keine  Manuskripte  besitze, 
und  so   übermittelte  man  die  Hefte  dreier  Studenten. 

In  der  Sitzung  vom  26.  April  wurde,  nachdem  der  Kurator  die 
Entscheidung  des  Senats  verlangt  hatte,  das  Protokoll  der  Prüfung 
Kowalewskys  vorgelesen.  Es  stellte  sich  heraus,  daß  die  Dissertation 
bloß  vom  Dekan  der  Fakultät  unterschrieben  worden  sei.  Später 
behauptete  der  Sekretär  der  Fakultät,  er  habe  auch  unterschrieben, 
wisse  aber  nicht,  ob  die  Unterschrift  mit  derjenigen  Schads  in  die 
Druckerei  gekommen  sei.  Am  29.  April  erfolgte  die  weitere  Ver- 
lesung des  Fakultätsjournals.  Es  geht  daraus  hervor,  daß  man  Schad 
ermächtigt  hatte,  die  Arbeit  Kowalewsky  zu  erweitern  und  heraus- 
zuarbeiten.   Am  3.  Mai  wird  die  Angelegenheit  Kowalewsky  wieder 


über  die  Beziehungen  Fichtes   zur  Universität  Charkow.  437 

verhandelt  und  Professor  Degouroff  bemerkte,  daß  die  Dissertation 
nicht  von  allen  Fakultätsniitgliedern  gutgeheißen  sei.  Übrigens  sei 
Kowalewsky  von  Seh.  allein  examiniert  worden  und  nicht  durch  den 
Adjunkten  Dudrowitsch  (Logik).  Am  22.  November  machte  der 
Kurator  den  Vorschlag,  Kowalewsky  nach  einem  Jahi'e  ergänzenden 
Studiums  zu  einer  neuen  Prüfung  zuzulassen.  Dasselbe  verordnet 
er  auch  für  den  Doktoranden  Grinewitsch. 

Am  5.  Januar  1816  wurden  auch  Bemerkungen  Degouroffs  über 
Seh.  Schulbuch:  ,,De  viris  illustribus  urbis  Romae"  vorge- 
legt und  Seh.  mitgeteilt.  Am  3.  März  wurde  ein  Schreiben  des  Mi- 
nisters verlesen,  welches  ersuchte,  das  Buch  durchzusehen,  die  Mei- 
iiungen  darzulegen  und  die  Gründe  der  Ausgabe  auf  Kosten  der  Uni- 
versität zu  rechtfertigen.  Der  Denunziant  Degouroff  stand 
nämlich  mit  dem  Ministerium  in  dauerndem  aneeberi- 
schem  Briefwechsel.  —  Der  Senat  teilte  dem  Ministerium 
mit,  Degouroff  habe  das  Buch  dem  Unterrichtsrat  selbst  unter- 
Ijreitet,  und  dann  sei  es  an  die  literarische  Fakultät  gelangt.  Vorher 
habe  Seh.  den  Vorschlag  gemacht,  die  Herausgabe  des  Buches  selbst 
zu  übernehmen,  ohne  ein  Entgelt  zu  beanspruchen.  Der  Senat  habe 
dann  Seh.  mit  der  Herausgabe  beauftragt,  weil  nach  ministerieller 
Verfügung  vom  22.  Juli  1811  die  lateinischen  Klassiker  auf  Universi- 
tätskosten gedruckt  werden  könnten;  zwar  sei  ein  Einverständnis 
mit  dem  eigentlichen  Zensurkomitee  nicht  erfolgt,  aber  die  Heraus- 
gabe sei  dem  Kurator  gemeldet.  Das  Ministerium  verlangte  am 
28.  Januar  1816  die  unverzügüche  Einsendung  eines  Exemplars. 
Das  Buch  war  gedruckt,  aber  infolge  des  Protestes  Degouroffs  noch 
nicht  erschienen.  Zwei  Exemplare  wurden  nach  St.  Petersburg  ge- 
sandt und  ein  Exemplar  dem  Kurator  überreicht. 

Die  Kommission  zur  Untersuchung  der  Angelegenheit  Grine- 
witsch und  Kowalewsky  entschied  in  ihrem  Gutachten:  im  ersten 
Falle  sei  der  Beweis  geliefert,  daß  die  Dissertation  zum  allergrößten 
Teil  wörtheh  aus  den  Vorlesungsheften  abgeschrieben  sei.  Die  Arbeit 
Kowalewskys  dagegen  sei  nur  zum  geringen  Teil  abgescluieben,  aber 
sie  stimme  mit  dem  Sinne  der  Abhandlung  Sch.s,  welche  nur  bedeu- 
tend umfangreicher  sei,  fast  überall  überein.  Jedenfalls  sei  Seh.  für 
Ijeide  die  einzige  materielle  und  sprachliche  Quelle  der  Wiedergabe. 

Am  15.  Februar  1816  reichte  der  Magister  Kowalewsky  eine 
Ivlage  an  den  Minister  ein,  worin  er  gegen  die  ungesetzlichen  Hand- 


438  Paul  stähler, 

lunsen  des  Senats  protestiert  und  besonders  auf  die  offizielle  Ge- 
nehmigung des  Senats,  welcher  Seh.  eine  Ülierarbeitung  gestattete, 
hinwies. 

Gleichzeitig  lief  auch  beim  Ministerium  eine  lüage  Sch.s  gegen 
Degouroff  ein,  worin  er  sich  über  die  Verletzungen  der  Universitäts- 
nrdnung  beklagt;  man  mache  ihm  eine  Verteidigung  unmöghch, 
und  infolgedessen  bleibe  er  den  Senatssitzungen  fern.  Ebenfalls 
hebt  er  die  offizielle  Genehmigung  des  Senats  zur  Überarbeitunii' 
der  Dissertation  Kowalewskys  hervor.  Grinewitsch  habe  zwar  teil- 
weise seine  (Sch.s)  Arbeiten  benutzt,  aber  die  Lösung  des  Haupt- 
problems sei  ihm  vollkommen  selbständig  gelungen.  Die  Studenten 
hätten  keine  andern  Quellen  als  seine  eigenen  Bücher  und  Manu- 
skripte. Es  genüge  vollständig,  wenn  die  Studenten  öffentlich  mit 
Lob  seine  Philosophie  verteidigen  könnten.  Demnach  sei  also  Degou- 
roffs  Anklage  gegen  Grinewitsch  hinfäUig,  seine  wissenschaftliche 
Befähigung  vor  allem  sei  über  jeden  Zweifel  erhaben.  Im  übrigen 
bezieht  sich  Seh.  auf  seine  Rede  vom  25.  Dezember  1814,  die  von 
allen  gebilligt  worden  sei.  Professor  Dela\ngne  habe  es  aber  gewagt, 
ihn  wegen  seiner  Angriffe  auf  die  Franzosen  zu  beleidigen.  Der  Senat 
jedoch  bestand  auf  Ausmerzung  dieses  unwürdigen  Mitgliedes. 

Dieser  formalen  Erwiderung  Schads  kann  jedoch  keine  Bedeu- 
tung beigemessen  werden;  vor  aUen  Dingen  wurde  sie  durch  das 
von  Seh.  selbst  unterschriebene  Senatsprotokoll  widerlegt.  Soviel 
war  jedoch  sicher:  Seh.  hatte  sich  durch  seine  überaus  scharfe  Kritik 
Napoleons  und  der  französischen  Nation  den  tötlichen  Haß  dei- 
französischen   Kolleo;en  zuo;ezooen. 

Sei  dem  wie  immer !  Am  empfindlichsten  trafen  Schad  die  An- 
klagen, die  sich  auf  den  Geist  seiner  Werke  gründeten.  Am  22.  No- 
vember 1815  reichte  Degouroff  eine  Anfrage  ein,  ob  die  Arbeit  Sch.s: 
„de  viris  illustribus  urbis  Romae"  dem  Zensurkomitee  vorgelegt 
worden  sei.  Außerdem  bemängelte  er  das  Vorwort  und  die  persönliche 
Widmung  dieses  Schulbuches,  das  doch  im  Auftrage  des  Senats  heraus- 
gegeben worden  sei.  Im  gegebenen  Falle  erhob  Degouroff  formell 
Protest  gegen  das  Erscheinen  des  Buches.  Am  29.  November  machte 
Degouroff  dem  Zensurkomitee  gegenüber  folgende  Einwendungen: 
Das  Vorwort  hätte  nicht  ohne  BiUigung  der  Universität  gedruckt 
werden  dürfen;  außerdem  enthielte  es  beleidigende  Bemerlmngen 
gegen  den  eigenthchen  Verfasser  des  Buches  Laumont  (1718 — 94). 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  439 

Übrigens  sei  das  Buch  40  Jahre  früher  herausgegeben,  und  der  Ver- 
fasser hätte  demnach  zu  Napoleon  keine  Beziehungen  haben  können. 

Die  Hinzufügungen  von  Seiten  Sch.s  seien  meist  für  die  Jugend 
durchaus  ungeeignet,  so  sagt  z.  B.  der  frühere  Verfasser  „Rea  Silvia 
Remum  et  Romuluni  uno  partu  edidit".  Seh.  fügt  hinzu  „complexu 
Martis",  und  weiterhin  ])emerkt  er:  ,,fabula  conficta  est  Martem 
amplexu  suo  eam  Romuli  et  Remi  matrem  efficisse".  Ferner  lautet 
eine  Bemerkung  Sch.s:  „Acca  Laurentia  propter  quaestum  corporis 
a  vicinis  lupa  appeUata  est  unde  ad  nostram  usque  aetatem  meretricum 
celullae  lui)anaria  vocantnr." 

Der  frühere  Verfasser  erzählt  in  einigen  Worten  die  Geschichte 
LukiTz  :  „Sextus  Lucretiae  vim  intulit";  Seh.  fügt  hinzu:  „Res  autem 
ita  contigit".  In  einer  Erzählung  des  Titus  Livius  findet  sich  fol- 
gender Ausdruck:    „Vestigia  viri  alieni  collatine  in  lecto  sunt  tuo". 

Weiterhin  machte  Degouroff  auf  einige  undeutliche  schwer 
zu  erklärende  Stehen  aufmerksam  und  tadelte  die  unerlaubten  An- 
spielungen auf  Napoleon  und  Franki'eich.  Jedenfalls  sei  der  Zweck 
der  Herausgabe  nicht  erreicht.  Schad  habe  das  Buch  des  früheren 
Verfassers,  welches  nur  fünf  Druckbogen  betrug,  durch  meist  nutz- 
lose Hinzufügungen  auf  18  Druckbogen  erweitert,  ohne  den  Namen 
des  Verfassers  im  Vorwort  auch  nur  zu  erwähnen.  Die  Widmung 
des  Buches,  das  dem  Unterrichtsministerium  zugeeignet  war,  sei 
eigenmächtig  und  hätte  nur  nach  eingeholter  Genehmigung  von  selten 
des  Senats  erfolgen  dürfen. 

Das  Zensurkomitee  erklärte  diese  Bemerkimgen  Degouroffs 
für  zutreffend  und  g-erecht  und  beschloß,  die  Angelegenheit  dem  Senat 
zu  unterbreiten.  Dieser  sollte  dann  alle  Bemerlmngen  Seh.  selbst 
mitteilen. 

Am  5.  April  1816  wurde  im  Senat  ein  Schreiben  des  Ministers 

verlesen,  welches  ein  Gutachten  über  „Institutiones "  verlangte. 

Dieses  stellte  fest,  daß  die  „Institutiones  juris  naturae"  zu 
breit  und  unklar,  also  als  Lelnraittel  für  die  russische  Jugend  nicht 
geeignet  seien.  Im  Grunde  seien  sie  nur  eine  breite  Darstellung  des 
Sch.schen  Systems.  Unpassend  seien  auch  die  Bemerkungen  über 
politische  Ereignisse  und  Persönhchkeiten.  Der  Autor  folge  in  der 
Hauptsache  der  Schellingschen  Lehre,  deren  Wert  für  die  Jugend 
fraglich  sei.  Als  Lehrbuch  sei  es  jedenfalls  unvorsichtig  und  unbe- 
scheiden, da  es  durchaus  ungehörige  Vorwürfe  gegen  die  russischen 


440  l'aul  Stähler, 

staatlichen  und  kirchlichen  Einrichtungen  enthalte.     Von  der  Ein- 
führung als  Lehrmittel  sei  daher  abzuraten. 

Degouroff  nahm  jetzt  offen  Partei  gegen  Sch.s  Buch:  „de  viris ..." 
Degouroff  hatte  selbst  die  Absicht  gehabt,  dieses  Buch  zu  bearbeiten, 
und  war  zudem  gegen  Seh.  wegen  dessen  Angriffe  auf  die  Franzosen 
aufs  tiefste  erbittert.  Jedenfalls  aber  beweist  das  Schreiljen  des  Mi- 
jiisters  an  den  Kurator  wegen  der  Begutachtung  der  „Institutiones . . .", 
daß  die  Verdächtigung  und  die   Anzeige  von  Charkow  stammten. 

Die  geheimen  Denunziationen  waren  im  Gange,  und  Profesosr 
Bogalei  entdeckte  im  Ai-chiv  des  Unterrichtsministeriums  zu  Peters- 
burg zwei  Originalbriefe  von  Degouroff.  Hier  klagte  er  seinen  Kollegen 
im  Falle  Grine witsch  und  Kowalewsky  an  und  bemängelt  dessen 
Prüfungsmethode.  Er  kritisiert  ferner  die  physikalischen  Definitionen 
Sch.s,  die  für  die  russische  Jugend  nicht  geeignet  seien.  Besonders 
verwerfhch  aber  sei  die  These:  „Finis  absolutus  omnis  matrimonii 
non  est  procreatio  sobolis,  sed  amor. . .",  das  sei  gegen  Religion  und 
Recht.  Degouroff  mußte  nämlich  genau,  daß  der  Minister  Graf  Rasu- 
mowski  ein  Feind  der  Schellingschen  Lehre  war,  deren  er  Seh.  so 
gerne  bezichtigt  hätte. 

Degouroff  holte  zu  einem  zweiten  Schlage  aus,  der  wirkUch 
seinen  Gegner  vernichtete.  Diese  zweite  Anklage  gründete  sich  auf 
Sch.s  von  uns  oben  erwähnte  Autobiographie  und  auf  seine  Schrift 
„Das  Leben  des  unwürdigen  Vaters  Sinzerus",  jener  Satue  auf  das 
Mönchtum,  welche  anonym  erschienen  war.  Degouroff  versorgte 
das  Ministerium  mit  kompromittierenden  Auszügen  und  sendet  auch 
die  Bücher  ein.  Er  sclileudert  gegen  Seh.  die  Anklage  des  Rationahs- 
mus,  der  sich  gegen  Kirche  und  Moral  richte  und  Seh.  das  Recht  ab- 
spreche, weiterhin  als  Lehrer  zu  wirken.  Das  führte  die  Entscheidung 
herbei.  Degouroff  hatte  Einfluß  auf  den  pietistischen  Minister  Fürst 
Gohzin  gewonnen.  Dieser  ordnete  eine  Untersuchung  der  Angelegen- 
heit an,  und  das  Schicksal  Sch.s  war  bald  entschieden,  denn  der  Mi- 
nister holte  sich  Aufschluß  und  bildete  sein  Urteil  auf  Grund  des  von 
Degouroff  eingelieferten  Materials.  —  Seh.  hat  das  nie  gewußt, 
selbst  nicht  geahnt;  er  hat  vielmehr-  stets  geglaubt,  es  handelte 
sich  um  seine  Bücher:    „De  viris"  und  ,, Institutiones". 

Zu  der  Schrift:  ,, Leben  und  Schicksale  des  unwürdigen  Vaters 
Sinzerus"  ^\^lrde  im  Auftrage  Golizins  anonym  eine  Rezension  ver- 
faßt, die  sich  in  den  Hauptpunkten  folgendermaßen  äußert:    „Das 


über  die  Beziehungen   Fichtes  zur  Universität  Charkow.  441 

Buch  enthält  Angriffe  auf  die  ewigen  "Wahrheiten  des  Christentunis 
und  sucht  die  göttüche  Offenbarung  als  Absurdität  darzutun.  Es 
enthält  einen  Schmutz  und  Übertreibungen  ohnegleichen,  um  an- 
geblich Mißbräuche  aufzudecken.  —  Die  Vernunft  ist  der  oberste 
Gerichtshof.  Der  Autor  glaubt  an  die  Unsterblichkeit  der  Seele 
und  an  Gott,  den  Schöpfer  und  Erhalter.  Christus  jedoch  ist 
nur  ein  außergewöhnhcher  Mensch,  ein  von  Gott  „gesandter  Lehrer 
der  Menschheit".  Die  Begriffe  ,, Dreieinigkeit"  und  ,,Fleischwerdung" 
sind  absurd;  demnach  enthält  also  das  Buch  eine  empörende  Lästerung 
der  christlichen  Dogmen.  Wer  dem  alten  Glauben  anhängt  ist  ent- 
weder eine  schwache  Natur  oder  ein  schlechter  Betrüger.  Die  Lehre 
des  Protestantismus  ist  für  die,  die  etw^as  mehr  Licht  vertragen  können. 
Werden  alle  Ketten  des  Aberglaubens  und  der  Vorurteile  abgeworfen, 
so  herrscht  die  Vernunft,  und  dorthin  werden  schließlich  Katholizis- 
mus und  Protestantismus  gelangen.  Dann  whd  der  große  Tag 
anbrechen  des  Friedens  und  der  BrüderHchkeit  der  Völker  und  In- 
diviouen.  Der  Kathoüzismus  war  notwendig  im  Barbarismus  des 
Mittelalters;  der  Protestantismus  aber  leitet  in  die  Regionen  des 
wahren  Lichtes,  der  Vernunft.  Die  Tätigkeit  der  Regierung  aber, 
diesen  Fortschritt  aufzuhalten,  ist  verblendet  und  vergebüch.  Die 
Gelehrten  und  Vernünftigen  lassen  sich  kein  Gesetz  geben.  Früher 
oder  später  werden  alle  knien  vor  der  Vernunft,  denn  ewig  nur  hier 
findet  die  zweifelnde  Seele  Ruhe. 

Weiterhin  wird  die  reine  Empfängnis  der  Jungfrau  skandaUsiert 
und  die  Mönche  als  verabscheuungswürdige,  üljerflüssige  Wesen  ge- 
brandmarkt. 

Daß  Seh.  der  Verfasser  dieser  Schrift  ist,  darüber  kann  kein 
Zweifel  sein;  denn  in  seiner  AutobiogTaphie  (vgl.  oben  S.  430)  gesteht 
er  die  Autorschaft  dieses  Buches  offen  ein.  In  jener  Autobiographie 
findet  sich   derselbe    Schmutz   und  dieselbe  Übertreibung. 

Wie  der  schon  öfter  erwähnte  Professor  Bogalei  urteilt,  hat  die 
Rezension  eine  auffallende  ÄlmUchkeit  mit  dem  Gedankengange 
Degouroffs.  Ein  volles  Recht  jedoch,  ihn  als  Verfasser  des  Gut- 
achtens zu  bezeichnen,  besteht  nach  Bogaleis  Meinung  nicht.  Was 
nun  die  Hauptsache  war:  der  Minister  bildete  sich  auf  Grund  dieser 
Rezension  sein  Urteil,  seine  vorgefaßte  Meinung  war  bestärkt,  Seh. 
galt  ihm  als  ein  Feind  des  Christentums. 

Der  frühere  Minister  Rcsumowski  hatte  den  Beschluß  über  das 


442  Paul   Stähler, 

Werk  „Institutiones"  am  15.  März  1816  mitgeteilt.  Er  enthielt  für 
Seh.  nichts  nachteiliges  und  verbot  nur  den  Gebrauch  dieses  Buches 
in  den  Schulen.  Das  Buch  „de  viris"  würde  nach  der  Meinung  Bogaleis 
dasselbe  Schicksal  gehabt  haben. 

Der  neue  Minister  GoHzin  hatte  sich  mit  der  Angelegenheit  weiter 
zu  befassen  und  er  führte  die  endgültige  Entscheidung  herbei. 
Aus  eigener  Initiative  unterbreitete  er  die  Angelegenheit  dem  Minister- 
komitee unter  Darlegung  des  Sachverhaltes,  indem  er  Degournffs 
Kritik  und  die  Rezension  fast  wörthch  zitierte.  Seh.  sei  ein  Verführer 
der  Jugend,  da  er  die  Monarchie,  die  Kirche  und  die  Ehe  bekämpfe. 
Um  zu  verhindern,  daß  Seh.  weiteren  Schaden  anrichte,  wurde  eine 
Ermächtigung  des  Ministerrates  erbeten.  Am  3.  November  1816 
erkannte  der  Ministerrat  in  der  Angelegenheit  Seh.  auf  Amtsent- 
setzung, Ausweisung  des  Schuldigen  und  auf  Vernich- 
tung seiner  beiden  Bücher.  Der  Beschluß  sei  den  Universitäten 
bekannt  zu  geben. 

Nun  lautete  §  66  des  Universitätsstatuts:  bei  Nachlässigkeit, 
Ungehorsam  oder  Vergehen  kann  der  Senat  auf  Entfernung  vom 
Amte  erkennen,  und  zwar  nach  vorhergehender  Untersuchung  und 
bei  zwei  Drittel  Stimmenmehrheit.  Demnach  hätte  also  das  Ministerium 
ohne  formelles  Gericht  eine  Ausweisung  Sch.s  von  Rechts  wegen 
nicht  verfügen  dürfen. 

Seh.,  der  instinktiv  die  Katastrophe  herannahen  fühlte,  der  aber 
im  Grunde  nur  auf  Vermutungen  angewiesen  war,  wendete  sich  in 
einem  Schreiben  vom  23.  November  1816  an  den  Minister  Golizin, 
um  sich  zu  rechtfertigen.  Seh.  gibt  sich  als  Pietist  aus  und  überreicht 
die  Übersetzung  der  Psalmen  und  eine  Erklärung  einiger  Bücher 
des  Alten  und  Neuen  Testaments,  Schriften,  die  den  Kampf  gegen 
die  Entsitthchung  dienen  sollten,  zum  Trost  und  zur  Stärkung  für 
jedermann.  Die  ebenfalls  beigefügte  Übersetzung  sei  von  einem 
gewissen  Grinewitsch  verfaßt,  einem  der  besten  und  gelehrtesten 
Studenten,  der  alle  Prüfungen  bestanden,  dem  man  aber  das  Diplom 
bisher  vorenthalten  habe,  wie  auch  dem  vielseitig  gebildeten  Kowa- 
lewsky.  Seh.  verteidigt  wiederum  seine  beiden  Kandidaten,  indem  er 
auf  den  schlechten  Lateinunterricht  der  Gymnasien  hinweist.  Kein 
,  Professor  der  Universität  schreibe  Latein  ohne  grammatische  Fehler 
und  Barbarismen.  Degouroff  aber  sei  dieser  Sprache  am  wenigsten 
kundig.    Eine  Verteidigung  sei  ihm  unmöglich,  da  seine  Meinung  im 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Universität  Charkow.  443 

Senat  nicht  gehört  werde.  Seine  Philosophie  aber  kämpfe  um  die  Ver- 
breitung des  Glaubens,  um  Moral,  Vaterlandsliebe  und  das  allgemeine 
Wohl.  Bis  zum  letzten  Atemzuge  werde  er  an  seiner  Überzeugung 
festhalten  und  trotz  aller  Verfolgung  vor  Gott  gerecht  erscheinen. 

Irgendeinen  Einfluß  auf  den  Gang  der  Dinge  konnte  dieser  Ver- 
such der  Kechtfertigung  nicht  ausüben,  denn  die  Entscheidung  war 
ja  schon  am  3.  November  gefallen.  Am  8.  Dezember  1816  wurde 
Seh.  nach  der  Vorschrift  des  Polizeiministers  sofort  ausgewiesen 
und  unter  mihtärischer  Eskorte  an  die  Grenze  transportiert.  Am 
13.  Dezember  wurde  der  Senat  von  dem  Entschlüsse  des  Minister- 
rates   durch    Golizin   in    Kenntnis   gesetzt. 

Damit  war  die  Angelegenheit  aber  keineswegs  erledigt.  Seh.s 
Energie  und  sein  Glaube  an  eine  gerechte  Sache  ließen  ihn  immer 
wieder  von  neuem  den  Versuch  machen,  eine  Entschädigung  für  den 
ihm  zugefügten  morahschen  und  materiellen  Schaden  zu  erlangen, 
sei  es  auf  direktem  oder  diplomatischem  Wege.  Zuerst  suchte  er 
die  gesellschaftUche  Meinung  für  sein  Schicksal  zu  interessieren  durch 
einen  Artikel  in  der  „Halleschen  Allgemeinen  Literaturzeitung" 
(März  1817  Nr.  58).  Vom  Gouverneur  sei  er  innerhalb  24  Stunden 
aus  der  Stadt  verwiesen  und  über  Bjelostok  an  die  Grenze  gebracht 
worden.  Famihe,  Haus  und  Hof  habe  er  im  Stich  lassen  müssen  und 
eine  Anklage  sei  ihm  nicht  mitgeteilt  worden.  Dieser  x\rtikel  wurde 
dem  russischen  Gesandten  am  preußischen  Hofe  mit  einem  Gesuch 
Sch.s  an  den  Zaren  überreicht.  Der  Gesandte  berichtet  nach  St.  Peters- 
burg, daß  der  ausgewiesene  Professor  Seh.  plus  fertile  qu'estime 
durch  Hufeland  als  außerordentlicher  Professor  nach  Berhn  gekommen 
sei.  Dieser  Seh.  behaupte,  die  deutschen  Gelehrten  in  Bußland  seien 
verfolgt  und  den  Franzosen  geopfert.  Er  verlange  eine  Geldentschädi- 
gung und  habe  eine  schrifthche  Darstellung  des  Falles  für  den  Kaiser 
überreicht,  man  solle  ihm  doch  den  Mund  mit  Geld  stopfen. 

Am  6.  Mai  1817  schreibt  der  Generalkonsul  von  Hamburg  von 
Struwe  an  den  Minister:  der  „deutsche  Beobachter"  in  Hamburg 
habe  einen  Artikel  aus  Berlin  über  Seh.  gebracht.  Er  selbst  habe 
die  sofortige  Unterdrückung  des  Artikels  verlangt,  aber  er  könne 
nicht  verhindern,  daß  der  Artikel  nicht  sonst  wo  gedruckt  würde; 
gleichzeitig  fügt  er  einen  Auszug  aus  dem  Artikel  bei. 

Am  17.  Mai  1817  rechtfertigte  sich  Gohzin  dem  Minister  des 
Äußern  gegenüber  wegen  seines  Vorgehens  und  wies  im  besonderen 


444  Paul  Stähler, 

auf  die  in  Deutschland  veröffentlichten  Bücher  Sch.s  hin,  als  deut- 
lichen Beweis  seiner  Immoralität  und  Irreligiosität.  Gleichzeitig 
lanciert  Gühzin  eine  Erwiderung  auf  Nr.  58  der  „Halleschen  Allge- 
meinen Literaturzeitung":  die  Angelegenheit  Seh.  werde  sehr  streng 
durchgesehen,  ohne  Zweifel  aber  sei  dessen  Ziel,  durch  seine  Lelu*- 
bücher  schädüche  Lehren  zu  verbreiten.  Das  könne  das  Ministerium 
nicht  dulden,  sein  Schicksal  habe  er  selbst  verschuldet.  —  Man  sieht, 
Seh.  war  es  gelungen,  die  öffenthche  Meinung  zu  beeinflussen,  und 
nach  Bogaleis  Meinung  war  Golizin  nicht  abgeneigt,  sein  Schweigen 
durch  eine   Geldsumme  zu  erkaufen. 

Seh.  suchte  am  4.  Dezember  1818  durch  eine  ausführliche 
Rechtfertigungsschrift  sich  Genugtuung  zu  verschaffen  und 
Degouroff  zu  vernichten:  er  schildert  die  gewaltsame  Ausweisung, 
seine  beträchtlichen  Vermögensverluste  und  seine  jetzige  prekäre 
Lage.  Er  verantwortet  sich  wegen  seiner  Angriffe  auf  Napoleon, 
den  größten  Tyrannen,  den  Vernichter  jeder  menschlichen  Würde. 
Er  legt  seine  Überzeugung  von  der  ethischen  Bedeutung  der  Mono- 
gamie dar,  verteidigt  sich  gegen  den  Vorwurf,  er  huldige  ScheUingschen 
Ideen  und  bekennt  sich  zu  den  Grundwahrheiten:  Gott,  Freiheit, 
Tugend,  Unsterljlichkeit.  Degouroff,  sein  Verleumder,  verstehe  nicht 
einmal  deutsch,  er  sei  ein  charakterloser  Mensch,  der  während  der 
Revolution  als  Buchhändler  in  Paris  die  Jugend  zu  demoralisieren 
suchte.  Er  (Seh.)  habe  sich  bereits  an  die  Weimarer  Regierung  ge- 
wandt, um  seine  Rechtfertigung  durchzusetzen.  Er  verlange  die 
Erstattung  seines  Vermögens  in  Charkow  und  die  ihm  rechtmäßig 
zustehende  Pension,  denn  er  habe  bei  der  Übernahme  von  Lehr- 
aufträgen weit  mehr  als  seine  Pflicht  getan. 

Seh.  hatte  offenbar  den  Geist  der  Zeit  noch  nicht  begriffen. 
Gewiß,  er  hatte  im  Anfang  der  Regierung  Alexanders  I.  Beifall  ge- 
funden, aber  jetzt  hatten  sich  die  Zeiten  völlig  geändert.  Eine  rück- 
sichtslose Reaktion  in  der  zivihsierten  Welt,  nach  Napoleons  Sturz 
hatte  längst  eingesetzt. 

Die  Jenaer  Stadtverwaltung  machte  vergeblich  den  Versuch,  die 
Einziehung  des  Vermögens  in  Charkow  zu  bewirken  und  die  Weimarer 
Regierung  vermittelte  eine  Entschädigung  von  300  Goldstücken  durch 
den  Zaren,  als  dieser  sich  geleaenthch  in  Weimar  aufhielt.  Seh.  war 
wiederum  Professor  in  Jena,  aber  ohne  Gehalt,  und  seine  materielle 


über  die  Beziehungen  Fichtes  zur  Univeisität  Charkow.  445 

Lage,  verschlimmert  durch  seine  zerrütteten  Famiüenverhältnisse, 
muß  bedauernswert  gewesen  sein. 

Einen  letzten  entschlossenen  Versuch  zu  seiner  Rehabilitation 
machte  er  durch  seine  ausführliche  Bittschrift  an  den  Zaren 
am  3.  Februar  1820.  Mit  der  ihm  (Seh.)  eigentümhchen  Breite  und 
Weitläufigkeit  unternimmt  er  seine  Rechtfertigung  und  fügt  als 
Beweis  seiner  Gesinnung  seine  religiös-poetischen  Übungen  bei.  Er 
dankt  für  die  Überweisung  der  300  Goldstücke,  unterstreicht  bei 
jeder  Gelegenheit  seine  chiistlichen  Anschauungen  und  sucht  seinen 
früheren  ausgesprochenen  Rationalismus  zu  retouchieren.  Den  Ge- 
samtverlust seines  Vermögens  schätzte  er  auf  52  000  Rubel.  Der 
Verleumder  Degouroff  habe  nur  die  Seiten  seiner  Bücher  genannt, 
aber  niemals  den  Text  zitiert.  Auf  Grund  von  Zitaten  aus  seinen 
Büchern  sucht  Seh.  die  Ungeheuerlichkeit  der  Vorwürfe :  er  habe  die  Ehe 
und  die  Einrichtung  des  russischen  Reiches  angegriffen,  nachzuweisen ; 
auf  jeden  Fall  verlangt  er  eine  neue,  gTündlichere  Untersuchung 
der  Angelegenheit.  Man  klage  ihn  der  Philosophie  SchelKngs  an. 
Der  Ankläger  Degouroff  aber  kenne  weder  die  deutsche  Sprache 
noch  die  deutsche  Philosophie.  Natur  und  Gott  seien  nicht  identisch, 
er  stehe  auf  dem  Boden  des  Naturrechtes,  welches  göttlich  und  daher 
christhch  sei.  Das  Evangehum  sei  höher  als  alle  Philosophie,  und 
das  KiTuz  Jesu  sei  das  einzige  Katheder  der  wahren  Weisheit.  Er 
gesteht  auf  Leibniz,  den  christlichen  Philosophen,  zurückgegriffen 
zu  haben;  gewiß  habe  er  auch  von  Kant  gelernt,  aber  dieser  sei  nicht 
im  Besitze  der  Wahrheit. 

In  seinem  Lehrbuche:  „De  viris  illustribus  urbis  Romae"  habe 
er  die  Schüler  mit  den  römischen  Sitten  und  Gebräuchen  bekannt 
machen  wollen;  dabei  habe  er  nur  patriotische,  sittliche  und  päda- 
gogische Ziele  verfolgt.  Trotzdem  erfolgte  jene  schwere  Verurteilung, 
und  das  Buch  wurde  öffenthch  im  botanischen  Garten  verbrannt. 
Die  Kaiserin  habe  ihm  aber  eine  wertvolle  Tabaksdose  mit  dem  Bilde 
der  Famihe  verehrt.  In  dem  beigefügten  Brief  lobt  sie  ihn  wegen 
seiner  ausgezeichneten,  für  die  Volksaufklärung  so  wichtigen  Arbeiten. 
Seine  ehrhche  Absicht  sei  gewesen,  die  römischen  lüassiker  als  die 
gTößten  Lehrer  der  Keuschheit  der  Jugend  nahe  zu  bringen.  Dazu 
aber  war  gleichzeitig  eine  kurze  Geschichte  Roms  und  seiner  Sitten 
und  Gebräuche  notwendig.  Wenn  er  Hannibal  und  die  Punier 
mit    der    Treulosigkeit    Napoleons    und    des    französischen    Volkes 


446  i'aul  Stähler, 

vcrirliehen  habe,  so  sei  das  nur  aus  pädaf^ogisehen  Gründen  ge- 
schehen. 

Die  Ausarbeitung  der  Dissertation  seines  Kandidaten  „De  libertate 
inentis"  sei  vorher  von  dem  Senat  gebilligt  worden,  weil  dieses  Thema 
für  seine  eigene  Philosophie  grundlegend  war.  In  der  Vorrede  habe 
er  vor  dem  französischen  Skeptizismus  (Bayle)  gewarnt.  Die  Ansicht, 
daß  der  Mensch  eine  physisch-moralische  Maschine  sei,  erreicht  in 
„L'homme-machine"  den  Höhepunkt  und  damit  die  Spitze  der  Ge- 
wissenlosigkeit. Fast  alle  Franzosen  sind  von  dieser  Lehre  angesteckt, 
und  nur  so  sind  die  gewissenlosen  Räubereien  Franki-eichs  erklärUch. 
Er  greife  auf  das  Gewissen  zurück  und  begründe  mit  Paulus  die  Tugend 
nicht  durch  einen  Begriff,  sondern  durch  den  Glauben,  denn  der 
französische  Materialismus  führt  auf  die  gefährlichsten  Irrwege; 
aber  auch  der  Kantische  Empirismus  wirkt  zerrüttend  auf  den  Glauben, 
weil  er  über  die  Erfahrung  hinauszugehen  verzichtet.  Seine  (Sch.s) 
Lebensaufgabe  sei  es  gewesen,  den  christhchen  Glauben  und  die 
cluistUche  Dogmatik  zu  begTÜnden  und  mit  den  natürlichen  Wahr- 
heiten zu  versöhnen. 

So  soUe  man  seine  Werke  und  nur  seine  Werke  prüfen,  und  seine 
Gegner  werden  vernichtet  w^erden.  Ihm  sei  durch  die  plötzhche  Aus- 
weisung die  Rechtfertigung  unmöglich  geworden,  aber  er  sei  bereit, 
nach  St.  Petersburg  zu  kommen,  um  sich  zu  verantworten  und  seine 
rechtmäßigen  Ansprüche  geltend  zu  machen;  dafür  unterwerfe  er 
sich  jeder  Strafe,  die  ein  rechtmäßiges  Verfahren  ihm  zusprechen 
sollte. 

Wiederum  wurde  Seh.  zurückgewiesen,  und  sieben  Jahre  lang 
schwieg  er.  Im  Jahre  1827  bestieg  Nikolaus  I.  den  Thron.  Jetzt 
wendet  sich  Schad  in  seinem  Schreiben  vom  27.  Februar  1827  an 
den  Minister  des  Unterrichtswesens  mit  dem  Eruschen,  seine  Ari- 
gelegenheit  von  neuem  zu  prüfen.  Wirklich  wurde  auch  verfügt, 
alle  Werke,  Akten  und  Beschuldigungen  genau  durchzusehen,  da 
in  dem  Sclueiben  Gohzins  an  den  Ministerrat  die  Anldagen  ganz 
allgemein  gehalten  und  nicht  genügend  begründet  waren. 

Im  Jahre  1828  begab  sich  der  Sohn  Sch.s  nach  Petersburg  mit 
einem  Gesuch  an  den  Zaren,  der  sich  als  Ki-onprinz  schon  für  die 
Sache  interessiert  hatte.  Der  Minister  des  Unterrichtswesens  holte  die 
Meinung  des  Charkower  Kurators  ein,  welcher  die  Lage  des  Vaters 
in  Deutschland  gesehen  hatte  und  eine  Entschädigung  von  10  000 


über   die  Beziehungen   Fichtes  zur  Univeisität  Qharkow.  447 

Rubel  und  eine  Pension  von  1000  Rul^el  befürwortete  (Sehr,  vom 
28.  Februar  1828). 

Diesem  letzten  Gesuch  Sch.s  wurde  aber  nicht  stattgegeben, 
und  so  endeten  alle  seine  Bemühungen,  seine  Rechte  geltend  zu 
machen,  erfolglos.     Im  Jahre  1834  starb  Schad. 

e)  Schluß. 

Es  ist  das  gxoße  Verdienst  Professor  Bogaleis,  in  der  oben  er- 
wähnten Sclirift*)  eine  endgültige  Untersuchung  des  Falles  Schad 
gehefert  zu  haben.  Wenn  sich  auch  in  Schads  ,,Lebensgeschichte"" 
von  1828  mehr  als  reichhches  biographisches  Material  findet,  so 
konnte  sich  doch  der  Verfasser  aus  den  angegebenen  Gründen  nie 
über  das  Urteil  des  Ministers  klar  werden.  Indem  ich  also  nur  russische 
Quellen  benutzte,  war  eine  Beleuchtung  des  Falles  von  der  entgegen- 
gesetzten Seite  möglich. 

Daß  Schad  in  den  Werken  seiner  Klosterperiode  einem  radikalen 
Rationalismus  huldigte,  darüber  kann  kein  Zweifel  sein.  Gewiß  hat 
er  diesen  Rationalismus  immer  mehr  zu  läutern  versucht,  aber  gerade 
jene  biographischen  Werke  haben  —  das  konnte  ihm  selbst  nie  klar 
werden  —  seine  plötzhche  Katastrophe  herbeigefidnt.  Jedenfalls 
hat  sich  Seh.  nie  eine  Vorstellung  davon  machen  können,  mit  welche i- 
Macht  nach  dem  Sturze  Napoleons  die  europäische  Reaktion  ein- 
setzte. Im  Jahre  1817  wurde  das  Unterrichtsministerium  in  ein  Mi- 
nisterium der  geistlichen  Angelegenheiten  und  der  Volksaufklärung 
verwandelt;  ein  gelehrtes  Komitee  war  mit  der  Durchsicht  der  ge- 
fährhchen  Bücher  rationalistischer  Färbung  beschäftigt;  das  Natur- 
recht soUte  von  den  Hochschulen  verschwinden.  Nicht  bloß  die 
Charkower  Universität  erfuhr  derartige  Eingriffe,  auch  die  Kasaner 
Universität  blieb  u.  a.  davon  nicht  verschont.  Es  w^ar  ein  großes 
System,  welchem  Seh.  zum  Opfer  fiel;  ein  System,  das  in  der  ,, heiligen 
Alliance"  ruhte.  Kaum  zehn  Jahre  nach  Fichtes  Tode  waren  ver- 
gangen, da  wurde  bekannthch  eine  neue  Herausgabe  seiner  ,, Reden 
an  die  deutsche  Nation"  verhindert,  d.  h.  sie  wurden  öffentlich  ge- 
brandmarkt. 


*)  Bogalei,  D.  J.,    Die  Entfernung  des  Professors  J.  B.  Schad  au.s 
der  Charkower  Universität.     Charkow  1899.    (russisch.) 


448  Paul  Stählor. 

Die  Untersuchung  hatte,  wie  oben  dargelegt  wurde,  ergeben, 
daß  die  Dissertationen  der  beiden  Kandidaten  Sch.s  Plagiate  waren, 
und  besonders  im  Falle  Grinewitsch  war  es  dem  Angeklagten  nicht 
gelungen,  sich  zu  rechtfertigen.  Zwar  galt  Seh.  für  bestechlich,  aber 
in  diesem  Falle  konnte  von  niemandem  ein  derartiges  Vergehen  nach- 
gewiesen werden,  höchstens  ruhte  ein  Verdacht  auf  ihm. 

Auf  Grund  der  in  der  Charkower  Universitätsgeschichte  nieder- 
gelegten Forschungen  Prof.  Bogaleis  hatte  Seh.  bedeutende  Charakter- 
fehler,  die  durch  seine  zerrütteten  Familienverhältnisse  wohl  noch 
verschlimmert  wurden,  aber  ohne  Zweifel  war  Seh.  einer  der  be- 
deutendsten Professoren  der  Charkower  Universität  in  jener  Zeit. 
Von  allen  Seiten  sah  er  sich  schheßhch  von  Feinden  umgeben.  Ganz 
gewiß  hätte  man  bei  einigem  guten  Willen  die  anstößigen  SteDen  in 
seinen  Büchern  streichen  können,  denn  daß  er  in  seinem  Werke: 

„de  viris "  das  Keuschheitsproblem  erörtert  hatte,  war  keines-  i 

wegs  so  ungeheuerüch,  da  das  Buch  auch  für  Studenten  bestimmt  war. 

Die  schwere  Strafe  aber,  die  Seh.  traf,  nämhch  Absetzung  und 
Landesverweisung,  war  ohne  vorhergehendes  formelles  Gericht  gewiß 
ungerecht.  Selbst  die  Fürsprache  des  Kurators,  den  er  irrtümhcher- 
weise  stets  für  seinen  Todfeind  gehalten  hatte,  konnte  eine  Rehabili- 
tation nicht  bewirken. 

Die  Angelegenheit  Seh.  ist  ohne  Zweifel  eines  der  interessantesten 
Ereignisse  in  der  Geschichte  der  Charkower  Universität.  Sie  zeigt, 
wie  Seh.  dasselbe  Schicksal  ereilte,  das  Fichte  gewiß  ereilt  haben 
würde,  hätte  er  noch  gelebt;  ein  Schicksal,  das  sich  nur  an  Fichtes 
hinterlassenen  Schriften  auswirken  konnte. 

Durch  Sch.s  Ausweisung  erfolgte  naturgemäß  ein  jäher  Ab- 
bruch der  Beziehungen  der  Fichteschen  Schule  zur  Universität 
Charkow. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam. 

Von 
Prof.  Dr.  Horten  in  Bonn. 

(Fortsetzung.) 

Horten,  D.  M.,  Die  philosophischen  und  theologischen  Ansichten  von  Lahigi 
ca.  1670  nach  seinem  Werke:  „Die  aufgehenden  Sterne  der  Offen- 
barung" einem  Kommentare  zur  Dogmatik  des  Tusi  (tagrid)  1273  f- 
Lahigi  ist  ein  orthodoxer  Theologe.  Um  so  interessanter  ist  es,  bei  diesem  den 
Einfluß  der  griechischen  Philosophie  und  hberaler  Lehren  festzustellen.  Es 
ist  nun  eine  offenkundige  Tatsache,  daß  er  ganz  und  gar  von  giiechischer 
Philosophie  beherrscht  ist  und  auch  offen  für  dieselbe  eintritt,  obwohl  er  sich 
dadurch  in  eine  oppositionelle  Stellung  zur  altorthodoxen  Theologie,  d.  h. 
zu  den  Traditionen  seiner  eigenen  Schule  setzt.  Das  Eindringen  und  Obsiegen 
des  griechischen  Geistes  in  die  islamische  Theologie  ist  also  noch  bei  diesem 
späteren  Vertreter  derselben  zu  beobachten.  Seit  A\acenna  ist  tueses  das  all- 
gemeine Entwicklungsgesetz  islamischen  Geisteslebens,  das  man  in  seinen 
Phasen  in  den  verschiedenen  Jahrhunderten  feststellen  kann.  Die  Nachrichten, 
die  Lahigi  selbst  in  seinem  Wei  ke  gibt,  erlauben  es,  sogar  bei  den  großen  Gegnern 
Avicennas,  Razi  und  Taftazani  dieses  selbe  Gesetz  wirken  zu  sehen.  Sie  be- 
kämpfen Aviceima  nur  in  einzelnen  seiner  Thesen,  bewegen  sich  dabei  aber 
durchaus  im  Banne  griechischei  Gedanken.  Noch  \iel  deuthcher  tritt  dieses 
Entwicklungsgesetz  bei  den  A\dcenna  freundlich  gesinnten  Theologen  auf. 
Die  inteiessante  Tatsache  ist  vor  allem  zu  konstatieren,  daß  der  „Heide" 
Avicenna  von  orthodoxen  Theologen  des  Islam  gegen  die  Angriffe  anderer 
Theologen  verteidigt  wird.  Eine  der  auffälligsten  Beispiele  füi  jenes  Gesetz 
ist  schließlich  Lahigi,  der  eine  strenge  Orthodoxie  vertritt,  dabei  sich  aber 
so  sehr  den  Gedanken  Avicennas  nähert,  daß  man  einen  unmittelbaren  Schüler 
dieses  Meisters  zu  hören  glaubt.  Seine  Lehren  übei  die  Wissenschaft,  das  Sein 
und  dessen  Modi,  die  Ursachen,  das  Wesen  der  Natm-dinge  (Hyle  und  Form), 
die  Gesetzmäßigkeit  im  Natm-geschehen,  das  Wirken  Gottes,  den  Nus  usw. 
sind  durchaus  in  griechischem  Geiste  gehalten^). 


1)  Das  Werk  Schahristanis:  „Die  Bekämpfung  der  griechischen  Philo- 
sophen" (musaraat  alf.)  findet  sich  hier  S.  31  und  auch  bei  Schiräzi  unter 
dem  Titel:  Der  „Totschläger  der  griech.  Philos."  (musari'alf.  bei  i.  Hall, 
almusäraät).  —  vgl.  ferner:   Kantstudien  XVII  483. 

Archiv  für  Geschichte,  der  Philosophie.    XXVIII.  4.  29 


450  Horten, 

Horten,  Die  spekulative  und  positive  Theologie  des  Islam  nach  Räzi  1209  t 
und  ihre  Kritik  durch  Tusi  1273  nach  Originalquellen  übersetzt  und 
erläutert  mit  einem  Anhang:  Verzeichnis  philosophischer  Termini  im 
Arabischen,  Leipzig  1912. 
Mit  dieser  Veröffentlichung  werden  der  vergleichenden  Religionswissen- 
schaft Dokumente  vorgelegt,  die  im  Mittelalter  des  Islam  für  lange  Zeit  und 
breite  Kreise  die  Theologie  ausmachten.  Sie  wm-den  wegen  ihrer  klaren  und 
kurzen  Form  als  Kompendium  der  philosophisch  orientierten  Theologie  be- 
nutzt. Aus  ihnen  ersieht  man,  welche  Probleme  für  die  höher  gebildeten  Mus- 
lime im  Zentrum  des  Interesses  standen  und  wie  sie  behandelt  wurden.  Die 
Stellung  und  Behaiidlung  der  Probleme  ist  eine  durchaus  philosophische. 
Nach  Avicenna  und  Gazali  sind  alle  maßgebenden  Theologen  im  Islam  in 
der  griechischen  Philosophie  ausgebildet  oder  wenigstens  über  sie  genügend 
orientiert.  Sie  keimen  ihren  Altmeister  Avicenna  von  Grund  auf  und  wenn  sie 
auch  in  einzelnen  Fragen  gegen  ihn  Stellung  nehmen  —  dieses  beweist  ihre 
geistige  Selbständigkeit  —  bewegen  sie  sich  doch  diu-chaus  in  den  Bahnen 
des  philosophischen  Denkens.  Mit  Razi  ist  der  Punkt  der  Entwicklung  ge- 
geben, in  dem  die  große  Masse  der  gebildeten  MusUnie  sich  mit  der  griechischen 
Philosojihie  zu  befassen  anfängt,  zuerst  aber  noch  mit  einigem  Zagen  und 
manchen  Polemiken  gegen  das  ., Heidnische"  in  Avicenna  zu  Werke  geht, 
um  in  der  weiteren  Entwicklung  (z.  B.  Igi  und  Gurgani)  sich  dem  philoso- 
phischen Denken  unbefangener  zu  öffnen. 

Die  Kritik  Tusis  zeigt  deutlich,  daß  das  Verständnis  der  griechischen 
Philosophie  in  theologischen  Kreisen  im  XIII.  Jahrhundert  im  Fortschreiten 
begriffen  ist.  Räzi  ist  vielfach  ganz  unsicher.  So  versagt  er  in  der  Erklärung 
des  Wissens  Gottes  (S.  57),  schwankt  selbst  in  seinen  Begriffen  (z.  B.  der 
Definition  des  Wissens  S.  57  Z.  4  unt.  u.  Anm.),  unsicher  in  seiner  Beweis- 
führung und  mehr  auf  das  Logisch-Formale  sehend  (S.  58,  6  unt.  u.  passim), 
wälirend  Tusi  die  Gedanken  sachlich  klarer  und  tiefer  faßt  (S.  63,  9 f.,  wo  Räzi 
einen  Fehlschluß  in  aliud  genas,  ex  ordine  logico  in  ordinem  realem  macht, 
59,  5  unt.:  Das  Prinzipielle  betonend;  58,  10  unt.  usw.).  Allerdings  begeht 
auch  Tusi  ein  Versehen,  indem  er  die  Möglichkeit  eines  Instrumentes  der 
Schöpfung  damit  widerlegt,  daß  er  die  Frage  nahezu  zu  einer  Wortfrage  macht 
(S.  35  A.  1),  was  sie  in  der  Tat  nicht  ist.  Die  Korrekturen,  die  Tusi  (passim) 
an  den  Äußerungen  Räzis  über  die  griechischen  Philosophen  vornimmt,  sind 
gerade  für  das  Besserwerden  des  Verständnisses  der  griechischen  Gedanken- 
welt beachtenswert.  Das  auch  für  das  Verständnis  der  älteren  Theologie  ein 
Gewinn  erzielt  wird,  zeigt  die  Behandlung  der  Modustheorie  des  abu  Häschim, 
die  deutlich  ein  Inliaerens  \;nd  das  Inhaerenzverliältnis  unterscheidet  (S'  63, 
2f.  u.  ib.  Z.  28,  ferner  72  Mitte),  ersteres  sogar  als  etwas  der  Gottheit  nicht 
,, Anhaftendes"  bezeichnet.  Jene  uns  fremde  Gedankenwelt  (im  Grunde  die 
Lehre  der  Vaischesika  von  der  Inhaerenz)  wird  dadurch  in  wünschenswerter 
Weise  beleuchtet.  An  der  Oberfläche  haften  ferner  die  Beweise  Räzis,  daß 
das  formelle  Objekt  des  Sehens  das  Sein  ist  (70).  Vielleicht  körme  das  des 
Hörens  einen  gleichweiten  Umfang  haben.  Die  Hörbarkeit  des  innergöttlichen 
Wortes  und  visio  beatifica  soll  damit  als  annehmbar  erwiesen  werden.      Die 


ii 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  451 

Kritik  Tusis  nimmt  sich  dagegen  sehr  kühl  und  nüchtern  aus.  Ähnliche  Ober- 
flächlichkeiten begeht  Räzi  75 — 76  (duo  agentia  in  unum  obiectum),  76  Mitte, 
77  unt.  (die  Konsequenzen  der  Handlung),  81  (naive  Antwort  auf  die  bekannte 
Schwierigkeit  gegen  die  freie  Handlung  betr.  den  sensus  compositus  und  divi- 
sm-)  usw.  Aus  dem  vorliegenden  Werke  läßt  sich  also  derjenige  Geist  charak- 
terisieren, der  den  Kampf  gegen  mehrere  Thesen  Avicennas  imternomnien  hat. 
Die  Verteidiger  der  griechischen  Philosophie  haben  sich  von  nun  an  gegen 
Räzi  zu  wenden  und  seine  Aufstellungen  zu  erschüttern.  Wie  leicht  ihnen 
dieses  gelingt  und  wie  sicher  und  überlegen  sie  sich  ihrer  Sache  fühlen,  zeigt 
Tusi.  Noch  schärfere  Kiitik  üben  spätere  Theologen  z.  B.  Kuschgi,  Schirazi 
(1640  t),  Lahigi  usw.  Im  ganzen  kann  man  sagen:  Es  ist  der  islamischen 
spekulativen  Theologie  und  Philosophie  nicht  schwer  gefallen,  die  Bedenken 
Räzis  abzuwehren  und  dem  griechischen  Geistesleben  die  Bahnen,  auf  denen 
es  in  den  Islam  eindrang,  offen  zu  halten. 

Die  Übersetzung  des  Kompendium  (muhassal)  Razis  (vgl.  die  Rezension: 
Archiv  XX.  Bd.  1907  S.  411f.),  dieses  Merksteins  der  islamischen  Philosophie, 
ist  nunmehr  beendet.  Die  allgemein  philosophischen  Teile  sind  in  dem  Werke 
wiedergegeben:  Horten:  Die  philosophischen  Ansichten  von  Razi  und  Tusi 
(Bonn  1910),  die  Aufsührungen  über  die  Modustheoiie  in  ZDMG.  Bd.  63  S.  303 
bis  324.  Danach  waren  noch  die  theologischen  Teile  zu  geben  (von  S.  106  des 
arab.  Teiles),  die  hier  also  voiliegen.  Sie  bilden  ein  größeres  Ganze  mit  meinen 
übrigen  Veröffentlichungen  über  islannsche  Theologie  (,,Die  philosophischen 
Probleme",  „Räzi  und  Tusi",  ,,Abu  Raschid"  und  „Die  philosophischen 
Systeme"),  die  Bausteine  zu  einer  allseitigen  Darstellung  der  philosophischen 
Ideenbildungen  der  ersten  Zeit  des  Islam  sein  wollen.  Die  philosophische 
Beiu'teilung  der  einzelnen  Lehren  und  die  Wertung  der  Gedanken  Räzis  im 
Vergleiche  zu  Tusi  und  anderen  vom  logischen  und  ideologischen  Standpunkte 
ist  eine  Aufgabe,  die  erst  nach  eingehenden  Vergleichen  mit  früheren  und 
späteren  Systemen  in  historischem    Sinne  erledigt  werden  kann. 

Der  Anhang  bringt  eine  Zusammenstellung  philosophischer  Termini  im 
Arabischen.  Er  zeifällt  in  zwei  Teile,  das  eigentliche  Lexicon  und  die  Termino- 
logie der  „Thesen"  Avicennas,  die  mit  den  „Definitionen"  Gurganis  und  den 
Ausdrücken  der  „Erlösung  der  Seele"  (eines  Werkes  Avicemias)  als  besondere 
Einheit  zusammengefaßt  wm-den.  Die  Berechtigung  zu  dieser  Gruppierung 
liat  Forget  in  seiner  Ausgabe  der  „Thesen"  bereits  ausgesprochen.  A\äceima 
ist  in  denselben  bestrebt,  den  Anfänger  in  die  Philosophie  einzuführen  und 
besonders  die  Terminologie  zu  fixieren.  In  der  historischen  Entwicklung 
sind  sie  in  der  Tat  auch  zu  einem  Maßstabe  der  philosophischen  Ausdrucks- 
weisen geworden.  Eine  verwandte  Tendenz  verfolgen  Gurgani  und  Arabi  in 
ihren  Lexicis.  Es  ist  daher  berechtigt,  diese  als  die  Grundlagen  der  philo- 
sophischen Terminologie  gesondert  für  sich  zu  betrachten. 

Es  ist  eine  anerkarmte  Tatsache,  daß  die  gesamte  höhere  Geisteskultur 
des  Islam  von  philosophischen  Voraussetzungen  durchdrungen  und  getragen 
wird.  Wollen  wir  uns  daher  dieses  eigenartige  Geistesleben  in  der  Weise  ver- 
gegenwärtigen, in  der  es  einst  wirklich  war,  und  woUen  wir  es  so  nachdenken, 
wie  es  gedacht  wm-de,    dann  können  wir  die  ihm  zugrunde  liegenden  philo- 

29* 


452 


Horten, 


sopliischen  Gedanken  nicht  außeracht  lassen.  Der  Einfluß  der  Philosophie 
erstreckt  sich  im  Islam  nicht  nur  auf  die  Theologie,  die  Koranexegese  und 
Traditionswissenschaft,  sondern  auch  auf  die  (beschichte  (ihn  Haldän),  die 
Naturwissenschaften  (besonders  in  Einleitungen  und  allgemeinen  Erörterungen), 
die  Medizin  (z.  B.  die  „Allgemeinbegriffe  der  „Medizin",  ein  Werk  Avicennas), 
die  Mystik,  Ethik  und  sogar  die  Poesie,  insofern  sie  das  eine  oder  andere 
dieser  (ilebiete  (z.  B.  die  Mystik)  berührt.  Daher  ist  es  im  Interesse  der 
Erschheßung  der  islamischen  Geisteskultur  berechtigt,  die  philosophischen 
Termini,  deren  Klarstellung  mit  besonderen  .Schwierigkeiten  verbunden  ist, 
eingehend   zu    behandeln. 

Nicholson,  Reynold  A.,  The  Kashf  al-Mahjüb  by  'Ali  b.  'Uthmän 
al  JuUabi  al  Hujwiri  in:  E.  J.  W.  Gibb  Memorial  Series.  vol.  XVII,  1911, 
iS.  XXIV  +  443,  gr.  S». 

In  dem  vorhegenden  stattlichen  Bande  erschUeßt  Nicholson,  der  Meister 
in   der    Kermtnis   der   islamischen   Mystik,     weiteren    Ki-eisen   den   ältesten 
mystischen  Text  der  persischen  Literatur.     Der  übersetzte  Text:    „Die  Ent- 
hüllung des  Verschleierten"  ist  ein  späteres  Werk  des  Gaznawi  (ca.  1073  t)- 
Er  gibt  eine  historische  und  dogmatische  Darstellung  der  Mystik  im  Islam. 
Diese  eigenartige  Form  der  Erlebnis-  und  Gefühlsreligion  ist  sowohl  in  ihrem 
Asketismus  als  auch  ihrer  pantheistischen  Spekulation  (die  die  W^elt  als  Phä- 
nomen auffaßt  und  Gott  als  das  eigentüche  Sein,  der  Realgrund  der  Phäno- 
mene) ein  indischer  Einfluß,  der  sich  in  koranische  Formeln  zu  kleiden  sucht. 
Im  Islam  selbst  hat  er  jedoch  eigenartige  Umgestaltungen  erfahren,  wie  die 
Lehren  der  einzelnen  Meister,  die  Gaznawi  aufzählt,    zeigen.     Jeder  sclüldert 
in  seiner  Weise  das  ihm  eigene  reügiöse  Erlebnis  und  gelangt  dabei  vielfach  zu 
besonderen  dogmatischen  und  ethischen  Aufstellungen.     Trotz  der  harmoni- 
sierenden imd  apologetischen  Tendenz  des  Gaznawi  leuchtet  deutlich  durch, 
daß  in  der  mystischen  Strömung  zwei  Richtungen  geltend  waren,  eine  extreme 
—  die  ausgesprochen  pantheistische  —  imd  eine  gemäßigte,  die  die  panthe- 
istischen Ideen  als  heterodox  ablehnte.    Letzterer  gehört  Gaznawi  an.    Nach 
ihm  ist  die  Substanz  des  menschlichen  Ich  unvergänglich.     Sie  wird  also 
auch   im   Nirwana   nicht   von   Gott   absorbiert.      Die   menschUchen   Eigen- 
schaften fallen  jedoch  bei  dem  Versinken  in  die  Gottheit  der  Vernichtung 
anheim.    Durch  die  Lehre  von  diesem  gemäßigten  Nirwana  sucht  Gaznawi 
buddhistisches  und  islamisches  Gedankengut  zu  harmonisieren.  —  Der  Mensch 
besteht  nach  Gaznawi  aus  vier  Teilen:    dem  Geiste  (sirr),  dem  Pneuma,  der 
sensitiven  Seele  und  dem  Leibe  (S.  309;  S.  199  werden  mu-  drei  aufgezählt). 
Diese  bilden  konzentrische  „Sphären",  deren  imierster  Kern  der  Geist  und 
deren  äußerste  Schale  der  Leib  ist.    Die  Ewigkeit  des  Lebensgeistes,  eine  weit- 
verbreitete Lelire  (S.  266)   wird  von  Gaznawi  entschieden  abgewiesen.      Er 
ist  sehr  bestrebt  seine  Orthodoxie  hervorzuheben,  besonders  auch  durch  seine 
Polemik  gegen  die  liberalen  Theologen. 

Die  Zusammenstellung  mystischer  Termini  S.  367  ff.  ist  als  Ergänzung 
der  bekannten  mystischen  Lexika  von  Arabi  1240  f,  Käschi  (Abdarrazzak) 
1330  t  und  Gurgäni  1413  t  sehr  dankenswert.    Sie  zeigt,  wie  mystische  Aus- 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  453 

drücke  durch  .Schultradition  zu  sehr  abliegenden  Bedeutungen  gelangen  können. 
Von  der  philologischen  Kiitik  darf  also  dagegen  kein  Bedenken  erhoben  werden, 
daß  man  diese  Termini  „freier"  übersetzt,  ohne  sich  an  die  Grundbedeutung 
zu  enge  anzuschließen;  denn  diese  „freiere"  Übersetzung  gibt  den  Gedanken 
wieder,  den  der  Autor  ausdrücken  will,  während  ein  Festhalten  an  der  Grund- 
bedeutung einen  anderen  Gedanken  wiedergeben  würde,  also  eine  geradezu 
fehlerhafte  Übersetzung  bedeutete.  Tauhid  :=  unification  (385,5  unt.)  be- 
zeichnet z.  B.  vielfach  schlechthin  Gott  (Bekemitnis  und  Preis  der  Einheit 
Gottes)  und  sogar  den  Gedanken,  daß  Gott  die  Universalursache  des  Welt- 
alls ist.  Der  eigenartigen  Biegsamkeit  der  arabisch-peisischen  Termini  ist 
Nicholson  in  der  Weise  trefflich  gerecht  geworden,  daß  er  in  kiitischen  Fällen 
eine  entsprechend  freie  Wiedergabe  findet^).  Die  Haschvvija,  über  deren 
Lehren  ich  in  dem  Buche:  Die  philosophischen  Probleme  der  spekulativen 
Theologie  1910  mehrere  Berichte  beibringen  konnte  (vgl.  auch  Zeitschr.  f. 
Assyr.   1911   Bd.  XXVI  S.  196)   treten  bei  Gaznawi  als  Anthropomorphisten 


^)  Statt  Sulami  (Azdi  1021  t)  ist  nimmehr  mit  Mart.  Hartmann  Or.  L.  Ztg. 
1912  Sp.  128  Sullami,  der  Begründer  der  Lehre  von  der  mystischen  Stufen- 
leiter, Klimax  zu  lesen:  Die  Termini  sind  durchgängig  diejenigen  der  Philo- 
sophen: hudüt  (,,origination"  8.280):  zeitliches  Entstehen,  mulidat  (phä- 
nomenal; 270):  zeitüch  entstanden,  tasdik  (verification;  286):  Fürwahrhaiten, 
,, Glauben",  sirr  (heart;  309  u.  oft):  reiner  Geist,  der  abstrakt  denkt  und  Gott 
erschauen  kann,  kaifljat  (nature;  308):  Eigenschaft  im  Gegensatz  zur  Sub- 
stanz, aijäran  (hidden  spiritualist;  100):  Mystiker  die  jegliche  Kultur  ver- 
spotten (und  \deUeicht  ganz  unbekleidet  umhergehen  vgl.  'ar  —  nach  indischem 
Vorbilde),  gama  'a  bain  assari  'ah  wal  hakikah  (he  combined  the  Law  and  the 
Truth;  139):  er  betätigte  sich  gleichzeitig  in  der  praktisch-ethischen  wie 
auch  der  theoretisch- kontemplativen  Seite  der  Religion,  'ain  (the  true  idea; 
149  unt.):  die  konkrete  Wirklichkeit  (,,das  Indi^aduum"),  baka  (subsistance ; 
185),  vielfach:  ,, unvergängliche  Dauer",  S.  204:  the  qualities  of  a  horse  are 
altered  by  ,,mortification",  doch  wohl  ,, Dressur"  (wenn  auch  der  arabische 
Terminus  für  beide  derselbe  ist),  mugassam  (incarnate;  224) :  mit  einem  Körper 
ausgestattet  (auch  ohne  Inkarnation),  intikal  (transmigration;  236):  räum- 
liche Bewegung  (die  für  ein  unkörperliches  Wesen  wie  Gott  undenkbar  ist 
(und  tagzia  =  Zusammensetzung  aus  Teilen),  huwija  (the  Absolute;  238): 
d  i  e  Individualität  (die  absolut  besteht,  also  Gott  —  mit  pantheistischen 
Grundgedanken!),  mähall  i  hawadit  (locus  of  phenomena;  244):  Substrat 
zeitlich  entstehender  Akzidenzien  (das  der  Veränderung  unterworfen  ist), 
ta'til  (denial  of  the  Creator;  257,  1)  vielleicht  besser:  Thesis,  daß  Gott  keine 
Einwirkung  auf  die  Welt  ausübt  (W^urzelbedeutung:  müßig,  tatenlos  sein), 
die  Bahshami  sekt  (295)  sind  die  Anhänger  des  abu  Häschim  933  fi  der  mehr- 
mals genannte  Sulami  ist  unter  dem  Namen  Azdi  1021  t  bekannt.  Die  Ver- 
zeichnisse f.  421  ff.  sind  sorgfältig  gearbeitet  (Bangäri  fehlt).  Eine  chrono- 
logische Zusammenstellung  der  genannten  Mystiker  würde  den  geschichtlichen 
Überblick  erleichtert  haben. 


454  Horten, 

auf,    was    mit    ilircr   anderweitig    bekannten   intellektuellen    Rückständigkeit 
übereinstimmt. 

Folgende  sind  die  Themata  der  Mystik,  die  Gaznawi  von  dem  Stand- 
punkte einer  durchaus  idealistischen  und  durchgeistigten  Lebensauffassung 
aus  behandelt:  Gotteserkenntnis,  Wert  der  Armut,  mystische  Reinheit, 
das  Mönchsgewand  (Bettlergewand,  ein  Symbol  der  Weltentsagung),  das 
Streben,  von  den  Menschen  verachtet  und  getadelt  zu  werden,  Glaube,  Reue, 
GeselUgkeitstugenden,  kurz:  Regeln  für  jede  Betätigung  des  Lebens.  Möge 
dieses  Werk  zum  Verständnisse  islamischer  Gedankenwelt  beitragen. 

Nicholson,  A.  R.,  The  Tarjuman  al-Ashwäq,  a  coUection  of  mystical  ödes  by 
Muhyi'ddin  ihn  al-Arabi;  London  Royal  Asiatic  Society  1911;  VII + 
155  S.     8°. 

Arabi  1240  f  gilt  als  der  bedeutendste  Mystiker  im  Islam.  Seine  Ge- 
dankenführung und  Weltanschauung  kennen  zu  lernen  ist  daher  ein  lebhafter 
Wunsch  mancher  Forscher.  In  seinen  hier  vorliegenden  Gedichten  scheinen 
seinen  philosophischen  Lehren  nur  stellenweise  durch,  und  ohne  den  bei- 
gegebenen Kommentar,  den  Arabi  selbst  zu  seinen  mystischen  Liebesgedichten 
verfaßte,  wären  deren  tiefere  Gedanken  wohl  unerkennbar  geblieben.  Arabi 
ist  ein  pantheistischer  Mystiker.  Die  Welt  ist  die  Summe  der  Differenzierimgen 
der  göttlichen  Substanz,  d.  h.  „der  Namen  Gottes".  Das  Glück  des  Menschen 
besteht  in  dem  Aufgehen  in  der  Gottheit,  dem  Nirwana.  Das  Weltall  stellt 
sich  in  drei  Stufen  dar,  dem  Weltintellekte,  der  niederen,  sublunarischen  und 
der  zwischen  beiden  liegenden  mittleren  Welt.  Diese  vermittelt  die  Ein- 
wirkungen von  der  Geisteswelt  zur  niederen  Welt  und  ist  mit  der  Natm*  des  sen- 
sitiven Prinzipes  ausgestattet  zu  denken.  Der  Lebenskampf  besteht  in  einem 
Streben  nach  dem  Geistigen,  den  Visionen  des  GöttHchen  in  der  jenseitigen, 
unmateriellen  Welt.  AUe  Reügionen  sind  gleichwertig.  In  der  Religion  der 
Liebe  werden  alle  zu  einer  höheren  Einheit  und  zu  wahrhaft  edler  Toleranz 
zusammengefaßt.  Jede  Rehgion  ist  eine  berechtigte  Offenbarungsform  der 
einen  großen  WeltreUgion.  —  Indische  imd  neuplatonische  Lehren  durch- 
dringen sich  hier  zu  einer  schönen  Harmonie. 

Mit  diesem  Mystizismus  berührt  sich  in  manchen  Punkten  die  Philo- 
sophie der  Babi-Behäi-Sekte.  Sie  gibt  dem  Neuplatonismus  mehr  Spiekaum 
und  macht  gegen  den  extremen  Pantheismus  Front.  Die  Literatm-  über  diese 
moderne  Erweckungsbewegmig  im  Islam  und  ihre  Geschichte  findet  man 
übersichtUch   zusammengestellt   und   mit   Verständnis   erläutert   von   Römer,  j 

Dr.  Hermann:  Die  Bäbi-Behäi.  Potsdam  1912.  Drei  dieser  CJedichte 
des  Arabi  wurden  in  deutscher  Übertragung  mit  Kommentar  und  orientierender 
Einleitung  besonders  herausgegeben:  Horten:  Mystische  Texte  aus  dem  Islam.  |. 

Drei  Gedichte  des  Arabi.     Bonn  1912.     S.  IS.     Die  Einleitmag  bespricht  die  - 

drei  Hauptzweige  der  islamischen  Mystik  (den  christlichen,  griechisch- 
persischen und  indischen),  die  Weltanschauung  Arabis  und  das  Wesen  der 
mystischen  Intuition,  der  mit  der  Seinslehre  der  Philosophen  (Kontingenz- 
beweis)  verglichen  wird.     Vgl.  Theol.  Litrtztg.   1912  Sp.  45(». 


\ 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  455 

Ikbal,  Shaikh  Muhammad,  The  Development  of  Metaphysics  in  Persia: 
a  contribution  to  the  history  of  muslim  Philosophy;  London  1908. 
XII  +  195  S. 

Der  Verfasser  bemerkt  in  der  Einleitung,  die  Perser  seien  nur  für  eine 
oberflächliche  Betrachtung  der  Dinge  geeignet.  Glücklicherweise  trifft  diese 
Behauptung  in  ihrer  naiven  Allgemeinheit  nicht  zu,  leider  bewahrheitet  sie 
sich  aber  bei  dem  Verfasser  selbst.  Sein  Buch  ist  von  der  Psychologie  eines 
18 — 20jährigen  Knaben  aus  geschrieben.  In  den  Kreis  der  persischen  Philo- 
sophie sind  hineingezogen  che  Lehre  des  Zaroaster,  der  Manichaeismus,  die 
islamisch-theologischen  Streitigkeiten,  das  Ismaeütentum  usw.  also  alles 
was  Weltanschauung  bedeutet  und  zwar  mit  großem  Rechte.  Dabei  laufen 
allerdings  die  allerschwersten  Mißverständnisse  unter,  die  aufzuzählen  über- 
flüssig ist,  da  das  Buch  keinen  Anspruch  darauf  erheben  kann,  wissenschaftlicli 
ernst  genomnien  zu  werden.  Da  der  Verfasser  manche  noch  unbekannte  Quellen 
heranzieht,  bringt  er  einiges  Neue,  das  aber  jedesmal  nachzuprüfen  sein  wird. 
Psychologisch  ist  dieser  Essay  in  gewissem  Sinne  interessant.  Er  zeigt,  wie 
die  Psychologie  eines  Orientalen,  die  scheinbar  eine  ,, moderne  Bildung"  er- 
langt hat,  in  wissenschafthchen  Fragen  reagiert. 

Die  ]\Iystik  nimmt  in  der  Darstellung  einen  sehr  großen  Raum  ein,  ein 
Beweis  für  die  Wichtigkeit,  die  ihm  von  persischer  Seite  beigelegt  wird.  Die 
europäischen  Darstellungen  von  der  Gesamtkultm-  des  Islam  müssen  diesen 
Tatsachen  Rechnung  tragen.  In  der  Erklärung  dieses  die  orientalische  Kultm- 
so  tief  ergreifenden  Phaenomens  der  Mystik  unterscheidet  Ikbal  das  tiefer 
liegende  Wesen  von  den  äußeren  Erscheinungs-  und  DarsieUungsformen. 
Die  europäische  Wissenschaft  habe  nur  auf  das  Äußere  geachtet,  wenn  sie 
vermeint,  mit  dem  Hinweisen  auf  Neuplatonismus,  indische  oder  altarabische 
Gedanken  das  innere  Wesen  der  persischen  Mystik  begreifen  zu  können. 
Dieses  ist  vielmehr  in  den  psychologischen,  politischen  und  sozialen 
Verhältnissen  der  Zeit  zu  suchen,  die  zur  Weltflucht,  Askese  und  Versenkung 
in  Gott  (dem  Wesen  der  Mystik)  hintreiben  mußten.  Dieselben  Gesichtspunkte 
werden  auch  von  Prof.  Mart.  Hartmaim  (Berlin)  zm-  Erklärung  der  islamischen 
Kultm-  mit  Glück  und  guten  Gründen  betont.  Ob  dieser  im  Zeitcharakter 
liegende  Hang  zur  Weltfluclit  und  Flucht  ins  Jenseits  nun  neuplatonische 
oder  indische  Gewandung  anlegt,  ist  für  sein  Wesen  durchaus  gleichgültig. 
Der  Nachweis  dieser  äußeren  Einflüsse  erklärt  also  fast  nichts  und  wendet 
die  Aufmerksamkeit  auf  Nebensächliches.  Sicher  ist  an  dieser  beachtens- 
werten Auffassungsweise,  daß  ein  so  tiefUegendes  und  delikates  Problem  wie 
das  religiöse  Leben  der  mystisch  Denkenden  und  Empfindenden  nicht  als 
hineingetragene  äußere  Kiütureinflüsse  restlos  verstanden  werden  kann.  — 
Sehr  im  Recht  ist  Jkbal  auch,  wenn  er  der  Ansicht  entgegentritt,  daß  mit 
Avicenna  und  Gazali  die  islamische  Philosophie  zu  Ende  gegangen  sei.  Es 
ist  leicht  verständHch,  daß  ihm,  dem  Orientalen,  der  mit  der  orientalischen 
Gedankenwelt  in  engerem  Kontakt  steht,  wie  ein  Em-opäer,  die  genarmte  An- 
sicht als  etwas  Ungeheuerliches  erscheint.  FäUt  doch  die  philosophische 
Bewegung  in  ihren  breiten  Strömen  erst  in  die  Zeit  nach  GazaU.  —  Würde 
der  Verfasser  sich  möglichste  Beschränkung  in  allgemeinen  Beirrteilungen  und 


456  Horten, 

Überblicken  auferlegen  vjid  seine  Tätigkeit  auf  die  Herausgabe  einzelner 
Quellen  konzentrieren,  dann  könnte  er  der  Wissenschaft  sicher  noch  manche 
Dienste  leisten.     (Ein  anderes  Urteil  s.  unten  sub  Xo.  125.) 

Von  islamischer  Philosophie  ist  in  einer  Studie  von  Dr.  S.  Horovitz: 
Die  Psychologie  des  Aristotelikers  ihn  Daud  (Breslau  1912,  Jahresbericht  des 
jüdisch -theologischen  Seminars  für  das  Jahr  1911)  viel  die  Rede.  Die  Denk- 
weise dieser  jüdischen  Philosophen  ist  durchaus  identisch  mit  der  Avicennas. 
Die  Ausführungen  des  Verfassers  geben  ein  klares  Bild  der  psychologischen 
Lehren  des  i.  D.  Von  einzelnen  Ungenauigkeiten  abgesehen  bedeutet  diese  Ar- 
beit einen  dankenswerten  Beitrag  zxrr  Geschichte  der  mittelalterlichen  Philo- 
sophie, die  eine  für  Christentum,  Judentum  und  Islam  in  den  (Irundzügen 
gemeinsame  Gedankenwelt  darstellt,  in  der  dem  Islam  zweifellos  der 
Vorrang  zukommt  ^). 

.Sauter,  Constantin:  Avicemias  Bearbeitung  der  aristotelischen  Meta- 
physik. Freiburg,  Herder,  1912.  S.  114. 
Die  islamische  Philosophie  stellt  der  geschichtUchen  Forschung  die  Auf- 
gabe, ihren  Werdegang  aus  dei'  griechischen  und  ihren  Übergang  zu  der  latei- 
nischen-mittelalterlichen  Philosophie  aufzuklären.  Zu  dem  letzten  Teile 
dieser  Aufgabe  will  S.  einen  Beitrag  liefern,  indem  er  zu  seiner  Schilderung 
Avicennas  sich  ausschließlich  auf  die  den  Scholastikern  bekannten,  latei  nischen 
Übersetzungen  stützt  unter  Nichtbeachtung  der  modernen  Übersetzung 
(Horten:  Die  Metaphysik  Avicennas;  Halle  1907)  und  anderer  orientalistischer 
Arbeiten.  Die  bedenklichen  Konsequenzen  dieser  Arbeitsmethode  zeigen  sich 
jedoch  fast  nm"  in  den  einleitenden  Kapiteln  (auf  fast  jeder  Seite  mußte  ich 
Fehler  notieren),  während  die  philosophischen  Ausführungen  des  zweiten 
Teiles,  also  das  Wesentliche,  sehr  zutreffend  sind.  Dadm-ch  ist  der  Beweis 
geliefert,  daß  auch  Xichtorientalisten  bis  zu  einem  gewis.sen  Grade  an  der 
Lösung  der  genannten  großen  Aufgabe  mitzuarbeiten  berechtigt  sind.  Die 
wichtigsten  philosophischen  Lehren  sind  ja  auch  in  den  lateinischen  Übei- 
setzungen  erkennbar  und  können  daher  auf  Grund  cUeser  geschichtlich  (Trennung 
des  aristotehschen  Kernes  von  den  späteren  Weiterbildungen)  behandelt 
werden.  Es  muß  jedoch  betont  werden,  daß  das  Bild  des  lateinischen 
Avicenna  in  manchen  Zügen  von  dem  des  arabischen  verschieden  ist.  Es 
hat  den  Anschein,  daß  Avicenna  in  seiner  lateinischen  Gestalt  kein  gläubiger 
MusHm  war  und  die  Lehre  von  der  doppelten  Wahrheit  gelehrt  habe-).    Nichts 


^)  Die  Lehi-en  des  i.  Daud  erinnern  sogar  in  ihrem  W^ortlaute  stark  an 
Farabi  und  Avicenna.  Neues  ist  bei  i.  D.  nicht  zu  verzeichnen.  Viele  pole- 
mische Bemerkimgen  des  Verfassers  hätten  fortbleiben  müssen.  An  diesem 
Orte  ii5t  ferner  zu  nennen:  Horovitz,  Dr.  S.,  Die  Stellung  des  Aristoteles  bei 
den  Juden  des  Mittelalters.  Ein  Vortrag.  18  S.  1911.  In:  Sclu-iften,  herausg. 
von  der  Gesellschaft  zur  Förderung  der  Wissenschaft  des  Judentums. 

-)  Dabei  geht  es  nicht  ohne  Widersprüche  ab.  8.  111  erkermt  S.  auf  Grund 
unzweideutiger  Texte  an,  daß  (Muhammad)  der  Prophet  eine  übernatürliche, 
alles  menschliche  Maß  nicht  nur  graduell,  sondern  wesentlich  überschreitende 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  457 

liegt  dem  arabischen  Avicenna  ferner  als  dieses.  —  flott  erscheint  unserem 
Philosophen  (S.  89,  15)  nicht  nur  als  der  erste  Beweger  —  bei  Averroes  tritt 
dieser  Gedanke  in  den  Vordergrund  — ,  sondern  als  der  Verleiher  des  Seins 
(almügid).  Auch  Averroes  hat  in  seiner  lateinischen  Gestalt  das  .Schicksal 
erlebt,  zum  Freidenker  gestempelt  zu  werden,  obwohl  gerade  er  mit  besonderer 
Ängsthchkeit  an  der  Orthodoxie  des  Islam  hängt.  Daß  Gott  die  materiellen 
Individua  nach  ihrer  ganzen  individuellen  Wirklichkeit  erkennt,  lehren  beide 
sehr  deutHch.  In  einem  Punkte  scheint  mir  das  frühe  Mittelalter  eine  bessere 
Kematnis  als  das  spätere  zu  haben.  Wie  bereits  de  Boer  1894  gefunden  hat  (Die 
Widersprüche  der  Philosophie  S.  63,  101 — 103),  ist  Averroes  Pantheist  oder 
hat  wenigstens  solche  Tendenzen.  In  der  Zusammenstellung  des  Averroisnuis 
mit  den  pantheistischen  Lehren  eines  Amalrich  und  David  in  der  Verurteilung 
von  1215  (S.  23 — 25)  könnte  eine  richtige  Tradition  hierüber  liegen. 

Den  wenigen  Orientalisten  kann  man  es  nicht  sehr  zum  Vorwurfe  machen, 
daß  sie  die  philosophische  Literatur  etwas  außer  acht  gelassen  haben.  Wohl 
aber  kann  man  es  den  sehr  zahlreichen  Gelehrten,  die  sich  mit  der  Geschichte 
der  mittelalterlichen  Philosophie  befassen,  verargen,  daß  sie  die  lateinischen 
Übersetzungen  der  islamischen  Philosophen  bisher  noch  nicht  in  textkritischer 
Weise  ediert  haben.  Wemi  dadm-ch  auch  für  die  Textkritik  des  arabischen 
Originals  nichts  besonderes  Wertvolles  erzielt  werden  sollte,  so  würde  dadurch 
doch  der  Einfluß  der  Muslime  auf  das  Abendland  verständlicher  werden.  Zu- 
gleich müßten  die  Zitate  aus  den  musHmischen  Plülosophen  bei  den  Scho- 
lastikern gesammelt  und  untersucht  und  vor  allem  der  Einfluß  jener  auf  die 
Lehren  der  christhchen  Philosophen  klargestellt  werden. 

Als  Ganzes  ist  die  Arbeit  Sauters  sehr  zu  begrüßen.  Sie  bedeutet  eine  Ein- 
führung in  die  scholastisch-musHmischen  Beziehungen  im  Mittelalter.  Die 
leider  sehr  zahlreichen  Fehler  sind  dem  gegenüber  zu  entschuldigen.  Sie  be- 
treffen meistens  nur  solche  Punkte,  die  sich  auf  orientalistische  Fragen  und  den 
originalen,  arabischen  Avicenna  beziehen.  Zu  dessen  Verständnis  ist  die  Kennt- 
nis der  islamischen  Umwelt  erforderhch  ,  die  zur  Zeit  Avicennas  eine  ganz 
erstaunliche,  an  moderne  Verhältnisse  erinnernde  Höhe  erreicht  hatte,  was 
aus  der  Biographie  Guzgänis  und  seiner  Einleitung  zm-  ,, Genesung  der  Seele" 
hervorgeht.  (Vgl.  meine  Rezensionen  desselben  Werkes  in  ZDMG.  66, 
175ff.  Theol.  Litztg.  1913  No,  6  Sp.  17.S.  Zeitschr.  f.  Phil.  u.  philos. 
Kiitik  Bd.  152.) 


Erkenntnis  besessen  habe.  Dann  muß  dieser  göttlichen  Erleuchtung  die  Philo- 
sophie untergeordnet  sein,  was  Avicenna  in  der  Tat  lehi't  und  zwar  gerade  an 
der  Stelle,  wo  S.  nach  dem  Lateinischen  einen  Rationalismus  bei  Avicenna 
sieht  (S.  107 f.  Horten:  Metaphys.  Avic.  633).  Als  etwas  ,, Überwundenes" 
(S.  7,  8)  erscheint  ihm  also  der  Islam  nicht.  Wenn  man  die  jenseitige  Vergeltung 
als  eine  geistige  auffaßt,  ist  man  ebensowenig  ein  Verteidiger  der  doppelten 
Wahrheit  (108,  23),  als  wenn  man  den  koranischen  Ausdrücken  von  ., Augen 
Gottes"  usw.  einen  übertragenen  Sinn  unterlegt. 


458 


Horten, 


Bauer,  Dr.  Hans:  Die  Dogmatik  al-Ghazalis  nach  dem  zweiten  Buche  seines 
Hauptwerkes;  Halle  a.  S.  1912;  77  8.  8". 
Zur  Lösung  der  kulturhistorischen  Aufgaben,  die  der  Islam  stellt,  sind 
neben  der  philologischen  Schulung  die  speziellsten  Fachkemitnisse  der  ein- 
zehien  Kulturge biete  erforderlich.  Die  Geisterwelt  des  Gazali  1111  t  vereinigt 
Theologie,  Mystik  und  Philosophie.  Eine  ausgezeichnete  Vorschule  für  das 
Verständnis  seiner  Gedankengänge  ist  die  clu-istliche  Scholastik,  die  der  Ver- 
fasser der  vorHegenden  treffUchen  Arbeit  schulmäßig  kennen  gelernt  hat. 
Daher  ist  er  in  der  Lage,  die  schwierigen  Originaltexte  zu  verstehen  und 
adäquat  wiederzugeben.  Er  bietet  in  der  genaiuiten  Arbeit  weiteren  Kreisen 
eine  treffliche  Übersetzung  eines  wichtigen  Abschnittes  aus  dem  Hauptwerke 
Gazalis:  ,,Die  Neubelebung  der  Religionswissenschaften"  dar,  die  er  mit  er- 
läuternden Anmerkungen  ausstattet.  Die  Stellung  G.s  zu  den  Philosophen  und 
liberalen  Theologen  tritt  dadurch  deuthch  hervor  und  damit  zugleich  auch 
seine  Lebensaufgabe,  eine  umfassende  Darstellung  der  herrschenden  mystischen 
und  religiösen  Ideale  des  Islam  zu  geben.  Da  Gazah,  der  bekannte  Gegnei 
Avicemias  und  Farabis,  auch  heute  noch  im  islamischen  Oriente  maßgebend 
ist.  besitzt  diese  Arbeit  sogar  ein  aktuelles  Interesse.  Vgl.  meine  Bespr. 
ZDMG.  1913;  67,  563—65,  wo  gezeigt  wird,  das  Gh.  nicht  so  selu-  Philo- 
soph, sondern  mehr  Mystiker  ist.  Den  Sinn  wichtiger  philosophischer 
Probleme  übersieht  er  vollständig  in  der  Formuherung  seiner  Gegner,  dei 
liberalen  Theologen. 

Taeschner,  Franz:  Die  Psychologie  Qazwinis.  '  (Kieler  Dissertation.) 
Tübingen  1912.  67  S. 
Kazwini  1283t  ist  der  Phnius  des  islamischen  Orients.  In  seiner  Kosmo- 
graphie  gewährt  er  uns  einen  umfassenden  EinbHck  in  die  Geisteskultur  seiner 
Zeit.  Dm-ch  die  Ai-beiten  von  Prof.  G.  Jacob,  H.  Ethe.  Ruska  und  Ansbacher 
wurden  wichtige  Teile  dieses  Werkes,  das  den  Titel  trägt:  „Die  Wunder  der 
Geschöpfe  und  die  Denkmäler  (,Spm'en'  d.  h.  Wirkungen  der  menschlichen 
Tätigkeit)  der  Länder"  allgemein  zugängUch  gemacht.  Taeschner  verfolgt 
diese  Aufgabe  weiter  ,  indem  er  in  präziser  und  klarer  Weise  die  psycho- 
logischen Abschnitte  übersetzt  und  erläutert.  Die  Lehre  von  den  Seelenkräften 
(vgl.  auch  H.  Ethe:  Morgenländische  Studien,  S.  125ff.:  „Die  Körper-  und 
Geisteskräfte  nach  Kazwini")  fußt  durchaus  auf  Farabi  und  Avicenna,  von 
denen  manches  wörtlich  entlehnt  zu  sein  scheint.  Die  Anordnung  der  achtzehn 
Tugenden,  die  ziemhch  .-ystemlos  zu  sein  scheint,  verrät  keinen  griechischen 
Zug.  Die  Art  der  Behandlung  (i:rläuterung  dvu-ch  Beispiele)  ist  die  sufische, 
die  in  dem  Tabakat  immer  wiederkehrt.  Griechisch  ist  jedoch  die  Auffassung, 
daß  die  Tugend  die  goldene  Mittelstraße  zwischen  zwei  Lastern  bedeute 
(o2  Mitte),  z.  B.  die  Tapferkeit  zwischen  Feigheit  und  Tollkühnheit.  In  den 
Lehren  über  die  eine  Wunderkraft  ausübenden  Seelen  treten  platonische 
(bedanken  deutlich  zutage:  In  der  himmlischen  Welt  (54f.)  sind  Ai'chetypen 
vorhanden,  die  die  Arten  der  irdischen  darstellen.  Sie  sind  also  subsistierende 
Spezies,  d.  h.  platonische  Ideen,  die  die  sublunarischen  Dinge  dirigieren, 
jeder  Archetypus  die  ihm  wesensgleiche  Art.     Durch  Emanation  aus  diesen 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  459 

reinen  Geistern  der  Himmel  erkemien  die  reinen,  lichtartigen  Seelen  auf  der 
Erde  die  Wesenlieiten  der  Dinge.  Die  A'orherbestimmung  der  Ereignisse 
diu-ch  die  Sternenwelt  geht  so  weit,  daß  in  belanglosen  Vorgängen  z.  B.  dem 
Zerbrechen  eines  Glases  (65,  6)  oder  dem  Ausschütten  von  Wasser  aus  einem 
Schlauche  (67,  llff.)  Zukünftiges  wie  in  Indizien  enthalten  ist  —  zweifellos 
von  den  himmlischen  Wesen  mit  Absicht  hineingelegt.  Der  Wahrsager 
und  Hellseher  kann  aus  diesen  Anzeichen  die  Ereignisse  also  voraussagen. 
Die  naive  Art  und  Weise,  wie  die  wundersüchtige  Psyche  des  Menschen  im 
Mittelalter  auf  die  Betrachtung  der  Natur  eingestellt  war,  findet  dadiu^ch 
eine  lehrreiche  Illustration.  Zu  einzelnen  Punkten  der  Übersetzung  möchte 
ich  folgendes  bemerken: 

Unter  Kainat  9,3  versteht  der  Araber  die  dem  \^'erden  und  Vergehen 
(dem  kaun  und  fasad  vgl.  ZDMG.  1911  Bd.  65  S.  539ff.)  unterworfenen  Dinge, 
also  alles  Vergängliche,  Veränderliche,  Gewordene  im  Gegensatz  zu  den 
Geistern,  die  in  instanti  diuch  Schöpfung  entstehen  d.  h.  nicht  allmählich 
geworden  sind  und  deshalb  auch  nicht  in  dem  Sinne  veränderlich  sind  wie 
die  materiellen  Dinge.  Den  Begriff  „Existenzen"  würde  er  durch  wugudat 
ausdi-ücken.  —  Alle  aus  Elementen  gebildeten  Dinge  werden  mauludat,  hier 
muwalladat  genannt,  einschließlich  der  Metalle.  Die  wörtliche  Übertragung 
dieses  Terminus  mit  ,,die  Erzeugten"  führt  also  leicht  zu  unadäquaten  Vor- 
stellungen, weshalb  der  im  Mittelalter  geprägte  Terminus:  „die  Komposita" 
zu  bevorzugen  ist.  Hiss  (ib.  8ff.  „Gefühl")  =  sinnliche  (iimere  und  äußere) 
Wahi'uehmung.  Kazwinis  Stil  charakterisiert  sich  durch  viele  Einschachte- 
lungen und  Schwerfälligkeit.  T.  hat  dieses  Kolorit  beibehalten  wollen.  An 
vielen  Stellen  wünscht  man  jedoch  im  Interesse  des  Deutschen  eine  größere 
Zerlegung  der  Perioden.  —  „Zerfällt  in  Abschnitte"  (12,  2)  =  Text;  eistreckt 
sich  auf  \-iele  Dinge;  „Sirmeswahrnehmungen"  (12,  1  unt.)  =  clie  bekannten 
Sirmesorgane ;  „er  übertrug  ihm  die  Macht  über  die  geistigen  Substanzen" 
(13,  6)  =  Text:  ,.ej  ü' eitrug  den  geistigen  Substanzen  die  Macht  über  dasselbe" 
d.  h.  das  Gehirn,  so  daß  der  Verstand  die  Fähigkeiten  desselben  in  seinen 
Intentionen  beliebig  verwenden  kann;  „Realitäten"  (13,  18)  =  eigentliche, 
innerste  Wesenheiten;  ,,der  tierischen  Richtung"  (14, 1)  =  freier:  den  tierischen 
Funktionen.  Subjekt  ist  15,6  wohl  alma'lum  in  dem  Sinne:  Der  Mensch  als 
Objekt  des  Selbstbewußtseins,  also  das  ,,Ich"  erkennt  in  allseitiger  Weise 
aUe  erkemibaien  Dinge  (der  Außenwelt),  ohne  dabei  ein  Verlangen  zu  be- 
.sitzen,  sein  eigenes  Wesen  (seine  Innenwelt)  zu  begreifen.  'Amr  (ib.  11  „Macht", 
Befehl)  bezeichnet  die  Welt  des  Logos  — •  wird  wenigstens  in  diesem  Sinne 
von  den  Philosophen  verstanden  (nach  dem  syr.  mimar)  —  ,,Wir  (16,  14ff.) 
haben  als  Wahrheit  gefunden  (konstatiert),  was  unser  Herr  uns  verheißen 
hat".  Zu  dem  Gedichte  Avicennas  über  die  Seele  (18f.)  wurden  die  in  ibn 
abi  Usaibi'a  (II  10)  und  tis'rasä'il  (Konstantinopel  1298:  Neun  Abhandlungen 
Aviceimas  S.  129f.)  vorliegenden  Textzeugen  wohl  deshalb  nicht  herbei- 
gezogen, weil  sie  nicht  Wesentliches  beitragen.  Interessant  ist,  daß  Avicenna 
Vers  17  auf  eine  Stelle  des  neuen  Testamentes  anspielt  (I  Kor.  2,  9),  die  von 
den  Philosophen  (z.  B.  Farabi:  Ringsteine  Nr.  22,  meine  Übersetzung  S.  19, 
22f.)  häufig  zitiert  wird.    Über  die  Geschichte  dieses  Zitates  vgl.  Macdonald: 


i 


460  Horten, 

The  life  of  Gazäli  lAOS.  1899  Bd.  20  S.  70  A.  2.  Die  „tief  eingewurzelte" 
(räsiha)  Disposition  (22,  2)  ist  identisch  mit  dem  habitus  nach  Aristoteles. 
„Man  kam  (22,  4f.:  in  A.  2  trifft  Fleischer  das  Richtige)  dazu  (in  der  De- 
flTÜtion  der  Charaktereigenschaft)  die  Bestimmung  hinzuzufügen,  daß  sie 
tief  in  der  Seele  eingewurzelt  sein  muß,  weil  jemand  z.  B.  nicht  als  frei- 
gebig (mit  dem  habitus  der  Freigebigkeit  behaftet)  bezeichnet  wird,  der 
nur  aus  bestimmten  Anlässen  .  .  .  die  Handlung  des  Gebens  ausübt".  „Man 
(ib.  9ff.)  stellte  ferner  die  Bestimmung  auf,  daß  die  Handlungen  mit  Leichtig- 
keit erfolgen  und  zwar  nur  aus  dem  Grunde,  weil  .  .  .  ."  ,,Form"  (ib.  oft 
=  hai'a)  ist  identisch  mit:  dispositio.  Die  Gegenüberstellung  von  Offen- 
barung und  natürlichem  Verstände  (I  306,  If.,  Übers.  22,  15ff.)  erinnert  an 
die  theologischen  Diskussionen  über  die  Frage,  ob  es  eine  natürUche  Sittlich- 
keit gebe,  auch  unabhängig  von  der  Offenbarung.  Kazwini  entscheidet  sich 
hier  für  die  liberale  Thesis.  —  Der  Mensch  kann  eine  Tugend  entweder  ab- 
solut neu  erwerben  „oder  (23,  3  min  nafsihi)  an  seiner  Seele  eine  Anlage 
vorfinden,  von  der  aus  er  zu  einer  anderen  (Tugend,  die  dann  also  nur  teil- 
weise neu  erworben  ist)  gelangt." 

Zu  beachten  ist,  daß  der  Sufi  Gunaid  910t  I  307,  9  (Übers.  25,  4  unt.) 
schlechtweg  als  Pfau  (Ta'üs)  bezeichnet  wird  (vgl.  meine  Besprechung  von 
Frank:  Scheich  'Adi  in:  Theolog.  Literaturztg.  1912  Nr.  14  Sp.  418f.  und 
Nicholson:  Kashf  al-Mahjub  189,  1).  'Ata'  (wohl  ibn  'Atä  ib.  150,  9)  ca.  930t 
und  Muzahid  ca.  933  (vgl.  Horten:  philosophische  Systeme  428,  8)  waren  die, 
Zeitgenossen  dieses  Tä'üs^),  der  also  nicht  Sarräg  (abü  Nasr  ca.,  1050)  gewesen 
sein  kami,  der  ebenfalls  diesen  Beinamen  hatte.  —  „DeinVater  war  ein  Renner, 
dessen  Staub  nicht  gespalten  wird  (werden  kann;  27,  1)  —  ein  Bild,  das  auch 
von  Philosophen  gebraucht  wird,  die  Unerreichbares  geleistet  haben  sollen 
(vgl.  Horten:  Verzeichnis  philos.  Termini  370  Mitte).  Der  Ciedanke  ist  wohl 
der,  daß  der  erste  Renner  soweit  voraus  ist,  daß  der  von  ihm  aufgewirbelte 
Staub  sich  senkt,  bevor  der  folgende  Renner  dieselbe  Stelle  der  Bahn  ei- 
reicht  hat.  Von  diesem  wird  also  der  aufgewirbelte  Staub  des  ersten  nicht 
„dm-chschnitten".  Daß  der  erste  Renner  „den  Staub  nicht  durch  seinen  eigenen 
Körper  teilt"  (ib.  A.  2)  wird  dem  (bedanken  des  Unerreichbaren,  der  in  diesem 
Bilde  ausgedrückt  sein  soll,  nicht  genügend  gerecht.  Ad.  30  A.  4.  Auch 
haffaftu  'äridaija  bedeutet:  „ich  rasierte  (wie  hafaftu)  meine  beiden  Wangen" 
—  nach  dem  stehenden  Ausdrucke:  hafif  al'äridain  =  mit  geschorenen  beiden 
Wangen.  —  „Nicht  habe  ich  vor"  (31,  18)  =  Text:  „Ich  finde  („sehe")  nicht, 
daß  die  .  .  ."  Ad.  37,  1.  „Das  Schlechte,  was  du  nicht  von  mir  kennst,  über- 
wiegt das,  was  du  von  mir  kennst."  Für  „ungezählt"  (39,  12)  lies:  „ohne 
Rechenschaftsablegung".  —  „Ich  sah  (40,  19)  kein  gutes  Werk  (an  andern), 
das  ich  nicht  bekannt  machte,  und  kein  schlechtes,  das  ich  nicht  (mit  dem 
Mantel  der  Nächstenliebe)  bedeckte".  —  Die  Wahrhaftigkeit  besteht  darin, 
daß  die  Zunge  (die  Rede)  mit  dem  „Gewissen"  (der  persönlichen  Überzeugung, 


i)  Kazwini  nennt  (I  57,  9)  den  Gabriel  den  „Pfau"  der  Engel.  Ein  ge- 
heimnisvoller Pfau  (ib.  I  1(35,  7  unt.)  erscheint  auf  dem  Berge  Schakrän  an 
Stelle  eines  Lichtes  auf  einem  Leuchter. 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im   Islam.  461 

—  nicht  „dem  Simie"  41,  10)  übereinstimmt.  Ad.  B16,  9:  'in  wa  scheint  mir 
mit:  .,wahrUch  auch"  (ihren  Reiter;  Übers.  50,  3  u.  A.  1)  wiederzugeben  zu 
sein.  —  „Die  Seelen  der  Wahrsager  stehen  in  Kontakt  mit  den  geistigen  »Sub- 
stanzen (58,   10)".      Statt  ,, unterbrochen  werden"  lies  (59,   18):    „endigen". 

Die  mit  großem  Verständnisse  ausgeführte  Arbeit  Taeschners  zeigt,  daß 
Kazwini  ohne  ein  Zurückgehen  auf  neue  Handschriften  nicht  ganz  übersetzbar 
ist  und  daß  die  Anmerkungen  von  Fleischer  (handschriftl.  Berlin  Imp.  c. 
notis  mscr.  421)  mit  bewundernswerter  Treffsicherheit  vielfach  das  Richtige 
finden.  Die  noch  nicht  übersetzten  Teile  Kazwinis  z.  B.  Botanik  (I  245 — 301) 
und  Anthropologie  (I  322  —  368)  usw.  müßten  nun  auch  bald  eine  ebenso 
A-orzügliche  Bearbeitung  wie  die  vorhegende  von  Taeschner  es  ist,  erfahren. 
Die  Keniitnis  der  islamischen  Geisteskultur  würde  dadurch  wesentlich  ge- 
winnen. 

Luciani,  J.  D. :  Les  Prolegomenes  Theologiques  de  Senoussi.  Texte  arabe 
et  traduction  frangaise.     Alger  1908.     XII  und  245  S. 

Sanüsi  ist  ein  gutes  Beispiel  dafür,  wie  sehr  griechisches  Denken  in  die 
orthodoxeste  Theologie  des  Islam  eingedrungen  ist.  Als  Basis  seiner  theo- 
logischen Auseinandersetzungen  dient  ihm  die  Lehre  des  Aristoteles  von  den 
Urteilen  und  Begriffen.  Er  ist  sich  bewußt,  daß  ohne  diese  logische  Fundierung 
die  Aufarbeitung  der  dogmatischen  Gedankenwelt  nicht  reinlich  vollzogen 
werden  kann.  Die  imiigste  V^erbindung  von  theologischem  und  philosophischem 
Denken  ist  ihm  also  Lebensbedingung  der  Theologie.  Auch  sonst  ist  sein 
Denken  durchaus  von  der  Philosophie  beherrscht.  Er  sucht  z.  B.  die  Prin- 
zipien, aus  denen  sich  die  Einteilung  eines  Gebietes  a  priori  deduzieren  läßt, 
z.  B.  die  der  vier  Prächkate,  die  eine  Handlung  als  ethische  haben  kann  (17,  1). 
Die  Definitionen  sucht  er  in  echt  scholastisch-scharfsinniger  Weise  in  allen 
ihren  Teilen  klarzustellen  und  gegen  verwandte  Gebiete  abzugrenzen.  Das 
formelle  Prädizieien  ist  ihm  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen.  In  den  von 
ihm  aufgestellten  Thesen  sind  die  Termini  immer  primo  et  per  se  zu  verstehen  . 
Dieses  sind  bereits  die  wesentlichsten  Eigenschaften  des  griechisch-philo- 
sophischen Denkens,  die  wir  in  der  islamischen  Theologie  eingebürgert 
finden. 

Die  Tendenz  dieser  Prolegomena  richtet  sich  gagen  die  überalen  Theologen 
(167,  3)  z.  B.  ihre  Lehren,  es  gebe  eine  natürliche  Sitthchkeit,  die  die  mensch- 
hche  \ernunft  auch  ohne  che  Offenbarung  erkenne  und  aufstehe  (21),  —  die 
sekundären,  geschöpflichen  („empirischen")  Ursachen  wirkten  aus  eigener 
Kraft  unabhängig  von  Gott  (111)  —  und  die  der  Basrenser  (169,  3),  es  gebe 
einen  göttlichen  WiUen  (den  'amr  =  Befehl  und  Wort,  Logos),  der  außerhalb 
Gottes  wie  eine  selbständige  Substanz  existiere  und  die  Welt  bilde  (Demiourgos) 

—  und  besonders:  Gott  besitze  keine  Eigenschaften  in  der  Form  von  realen 
Inhaerenzien  (ma'äni;  169,  5).  Man  könne  von  ihm  nm-  die  (rein  logischen) 
Inhaerenzverhältnisse  (sifät,  mä'nawija  169,  6f.)  aussagen,  d.  h.  die  Bestim- 
mungen, die  sich  bei  anderen  Wesen  aus  jenen  Eigenschaften  ergeben  in  Gott 
aber  mit  der  Wesenheit  zusammenfallen.  Die  orthodoxe  Thesis,  Gottes  Wesen 
sei  das  notwendige  Sein,  richtet  sich  ebenfalls  gegen  die  mu'tazihtische:    die 


462 


Horten, 


innerste  und  speziellste  Bestimmung  Gottes  sei  die  Ewigkeit  (178,  6).  Dabei 
ist  jene  orthodoxe  Lehre  der  Begriffswelt  der  Philosophen  entnommen.  Mit 
Waffen,  die  den  „Heiden"  (den  Griechen)  entlehnt  sind,  bekämpft  Sanüsi 
also  die  eigenen  Glaubensgenossen.  —  Bakillani  wird  als  ,,der  Imam  der 
wahren  Forscher"  (101,  5)  neben  Gazäli,  Räzi  (Fahraddin)  und  Guwaini 
zitiert,  was  auf  seine  große  Bedeutung  schließen  läßt.  Auch  über  Xazzäm, 
(iahiz  und  Tumäma  finden  sich  beachtenswerte  Notizen.  Die  im  folgenden 
zusammengestellten  Bemerkungen  betreffen  einzelne  Punkte  der  im  ganzen 
vorzüglichen  Übersetzung. 

Mit  ,,adventicite"  (3,  3  unt.)  kommt  L.  dem  Begriffe  des  hudüt  d.  h. 
des  zeitlichen  Entstehens  ('ihdät  Erschaffen  in  der  Zeit)  näher  als  seine  Vor- 
gänger mit:  ,,nouveaute".  Das  auf  übernatürlicher  Offenbarung  beruhende 
Urteil  auch  der  theologisch  Ungebildeten  nermt  Sanüsi:  hukm  sar'i,  während 
man  unter  ,,jugement  dogmatic[ue"  (4  Mitte)  ein  solches  der  systematischen 
Theologie  versteht;  demi  Dogmati k  ist  die  intellektuelle  Durcharbeitung 
der  geoffenbarten  Sätze,  die  S.  mit  jenem  Ausdrucke  nicht  bezeichnen  will. 
—  Darüri  körmte  in  rein  philosophischen  Texten  mit  „intuitif"  (6,  16)  gut 
wiedergegeben  werden.  S.  überträgt  diesen  Terminus  aber  auch  auf  das  Ge- 
biet der  diu-ch  den  bloßen  Verstand  nicht  erreichbaren,  sondern  nur  durch  die 
koranische  Offenbarung  den  Menschen  zuteil  gewordenen  I^ehren.  Von  einer 
Intuition  des  inneren  und  notwendigen  Zusammenhanges  von  Subjekt  und 
Prädikat  kann  bei  diesen  Sätzen,  die  eigentliche  Mysterien  sind,  nicht  ge- 
sprochen werden.  Darüri  bedeutet  dann  also  das  mit  unzweifelhafter  Sicher- 
heit als  zum  Bestände  der  Offenbarung  gehörig  Erkamite,  das  sich  zu  anderen 
Sätzen  wie  ein  Prinzip  verhält,  also  eine  gewissere  äußere  Evidenz.  Die  innere 
Evidenz  ist  das  darüri'akli.  Ummahät  (10,  2  übergangen)  bedeutet  wohl 
(in  Zusammenstellung  mit  'aba'  Eltern)  die  sozialen  Verbände  oder  die  Auto- 
ritäten der  Gemeinden.  Mukallaf  =  rechtsfähiges  Subjekt  (dem  deshalb  Pfhchten 
auferlegt  werden  kömien)  wird  vielleicht  etwas  zu  unbestimmt  mit  ,,capable" 
wiedergegeben.  'Ibäha  d.  h.  Freistellung  einer  in  sich  indifferenten  Handlung, 
sie  zu  tun  oder  zu  unterlassen,  sie  für  ethisch  indifferent  erklären,  wird  (14, 
4  unt.)  mit  ,,Autorisation"  übersetzt.  Es  zeigt  sich  an  diesen  und  ähnlichen 
Fällen,  daß  die  überaus  knappe  arabische  Terminologie  vielfach  nicht  mit 
derselben  Kürze  nachgeahmt  werden  kann.  Man  muß  zu  Umschreibungen 
greifen  und  das  Prinzip  der  größten  Kürze  im  Interesse  der  Deuthchkeit  und 
adäquaten  Wiedergabe  aufgeben.  Wie  vortreffUch  Luciani  in  das  Verständnis 
des  Textes  und  der  Termini  sonst  eingedrungen  ist,  zeigt  die  Gleichsetzung 
von  tard  (gesetzmäßiges  Verbundensein  zweier  Tatsachem'eihen  im  Dasein) 
mit  „correlation  positive"  und  'aks  (Parallehsmus  und  innere  Verbindung  der 
Dinge  im  Nichtsein)  mit  „correlation  negative"  (22  ob.).  ,Sans  que  cette 
relation  (von  Ursache  und  Wirkung;  32,  9)  soit  necessaire"  trifft  den  Ge- 
danken von:  ma'a  sihhati  —  ttahalluf  (=  „dabei  ist  es  möglich,  daß  die 
Wirkung  hinter  der  Ursache  zeitlich  zurückbleibe"  oder :  „daß  ein  Mißverhältnis 
zwischen  beiden  eintrete").  „Relation"  (34,  8  unt.)  =  Verknüpfung  nach 
Alt  innerer  Notwendigkeit,  „creee"  (36,  10  unt.),  ga'lij  =  auf  willkürlicher 
Setzung    {9-iGic)    beruhend    „contraire"    (40,    6   unt.)  =  contradictoire    (wie 


Jahresbericht  über  die  Philosophie  im  Islam.  463 

richtig  42,   9  =  nakid),   „regle  imposee"  (42  Mitte)  =  willkürhche  Amiahme 
(vgl.    lAP.    1897    8.  3fil),    „canonique"   (44,    12   imt.)  =  auf   übernatürlicher 
Offenbarung  beruhend  ((Gegensatz:  auf  die  natürliche  Vernunft  und  die  Er- 
fahrung sich  stützend),  „ni  impose,  ni  etabli  (44,  9  unt.)  =  weder  willkürlich 
aufstellbar,    noch   herstellbar,   impenetrabilite"   (47,    1   unt.)  ^  Räumhchkeit 
(der  Körper  wie  48,   8),  ,,anteriorite  eternelle"  (48,   1)  =  die  Notwendigkeit 
der  ewigen  Existenz,  ,,a  posteriori"  (48, 11)  =  auf  deduktivem  Wege,  ,,mystique" 
(60,  5  unt.)  =:  ReaHtät  der  Tatsachen,  l'optimisme  logique"  (112  Nr.  2)  =  die 
Lehre,  daß  die  natürhche  Vernunft  (ohne  Offenbarung)  die  sittliche  Vortrefflich- 
keit einer  Handlung  erkennen  und  als  Norm  aufstellen  könne  (attahsin  al'aklij) 
—  nach  117,1  unt.  von  den  Brahmanen  und  (119,  5  unt.)  liberalen  Theologen 
vertreten,  la  favem'  avec  laquelle  il  considere"  (124,  12)  =^  weil  er  die  unsichere 
Vermutung  für  richtig  hält,  auf  die  sich  seine  »Spekulationen  stützen,  ,,predo- 
minance  et  superiorite  d'une  chose  sm-  une  autre"  (150,  3)  =  willkürliche 
Amiahme   (oder   sophistische   Argumentationsweise;   tahakkum   vgl.    Horten: 
Verzeichnis  philos.  Termini  S.  29(3,  7  unt.)  und  uf sachloses  (leschehen  (,, Über- 
wiegen der  einen  Wagschale  über  die  andere  ohne  ausschlaggebendes  Prinzip"), 
,, indubitable  et  forcee"   (160,   3)  ^  in  denknotwendiger  Evidenz,   „atti'ibuts 
des  idees"  (162,  6  unt.)  =  diejenigen  Eigenschaften  Gottes,  die  reale  Inhären- 
zien  (ma'äni  vgl.  ZDMG.  Bd.  64  S.  391  ff.)  darstellen  (z.  B.  das  Wissen)  — 
im  Gegensatze  zu  solchen,  die  Inhärenzverhältnisse  bedeuten  (sifät  ma'nawija 
z.B.   das  Wissendsein),  „independance"  (164,   10)  =  substanzielle  Existenz 
(Gegensatz:  inhärieren  in  einem  Substrate),  „correlation"  (170,  11)  ^  inner- 
lich notwendige  Abhängigkeit  und  Unterordnung  (nicht  reziprokes  Verhalten). 
,,monde   moral"   (172,   10   unt.)  =  die   verborgene   d.h.   göttliche   Welt   (der 
Bestimmungen   und    Eigenschaften   des    Wesens    Gottes),    ,,modes   d'action" 
(202,   11)  =  die   Beziehungen  der  Rede  auf  äußere   Objekte  (che  bezeichnet 
werden  sollen;  ta'allukät);  ,,fausse  dans  sa  conversion    affirmative"  (214,  10) 
=  falsch  (ist  eine  Definition),  wenn  sie  unkonvertiert  verstanden  und  an- 
gewandt wird  (weil  sie  nicht  alle  Dinge  und  Teile  enthält,  che  das  Definituni 
bilden),  „fausse  dans  sa  conversion  negative"  (216,   4)  =  falsch  (ist  sie)  als 
konvertierte,  wemi  sie  mehr  Dinge  und  Teile  enthält,  als  das  Definitum  er- 
fordert.   Man  kann  sie  dann  nicht  umkehi'en.)    Die  Definition  muß  alle  Teile 
enthalten,  wie  L.  244  treffend  entwickelt,  also  vollständig   sein  (daim  wiid 
sie  als  Gämi'  und  muttarid,  sahih  attard  bezeichnet)  und  auch  nur   diese, 
damit  sie  konvertierbar  (mun'akis)  ist  und  „ausschließend"  (mäni)  —  ,,In- 
tegi'ite  (226,  6)  =  Treue"  (in  der  Erfüllung  der  religiösen  Pflichten,  Gewissen- 
haftigkeit;   Text    'amäna,    nicht   saläma).       Demgegenüber    bedeutet    hijäna 
Untreue,  Gewissenlosigkeit.    An  die  bekannten  aristotelischen  Gedanken  übei 
Wahrheit  und  Falschheit,   die  sich  nm   in  der  Aussage  findet  (Anfang  der 
Logik)  nicht  in  anderen  sprachlichen  Äußerungen,  schließen  sich  die  Lehren 
über    habr    (Präcükativ,     Aussage)    und    'inschä'    (nicht prädikative    Sprach- 
äußerung,   vielleicht   gut   mit   ,,Exklaniation"   wiederzugeben,   Luciani:    ,,in- 
choation"  S.  209  und  241)  an. 

Die  christliche  Trinität  faßt  Sanüsi  als  Sein,  Wissen  und  Leben  Gottes 
(77,  7),  eine  Auffassung,  die  auch  bei  christlichen  Theologen  des  islamischen 


464  Horten. 

Kulturbereichcs  z.  B.  Paulus  Bischof  von  8idon  (XIII.  Jahrh.  vgl.  Philo- 
sophisches Jahrbuch  1906  S.  146,  6  und  Horten:  Systeme  lOB  A.  1)  vertreten 
wurde.  Die  darauf  folgende  hochmütige  Polemik  gegen  christliche  Dogmen 
—  eine  Diskussion  Räzis  1210t  •"it  einem  Christen  wird  geschildert  —  zeigt 
deutlich,  wie  sehr  sich  der  Islam  dem  Christentum  auch  wissenschaftlich 
überlegen  dünkte.  Die  Intoleranz  Sanüsis  tritt  vielfach  schroff  hervor.  Für 
die  Geschichte  der  islamischen  Theologie  ließen  sich  noch  manche  Einzel- 
heiten aus  dieser  reichen  Quelle  gewinnen.  Das  Mu'tazilitentum  ist  für  die  Zeit 
Sanüsis  eine  noch  aktuelle  Größe,  die  sich  wie  eine  gefahrdrohende  Macht 
erhebt.  Daraus  wird  man  jedoch  nicht  folgern  dürfen,  daß  in  jener  Zeit  noch 
rein  mu'tazilitische  Systeme  in  dem  alten  Sinne  bestanden  haben.  Es  handelt 
sich  wohl  nur  um  Lehren  dieser  Richtung,  die  in  späteren  Systemen  mit  reich- 
licher Beimischung  von  griechischem  Gedankengute  fortleben.  Luciani  be- 
.sitzt  die  genügende  Stoffbeherrschung  und  Energie,  um  sich  von  den  Fesseln 
der  arabischen  Ausdrucksweise  und  engherzig  iihilologischer  Betrachtung 
freizumachen  und  das  Inlialtliche  in  den  Vordergrund  zu  rücken.  Auf  diese 
Weise  gelingt  es  ihm,  eine  klare  und  verständnisvelle  Übersetzung  zu  liefern. 

Witt  mann,  Dr.  M. :  Die  Unterscheidung  von  Wesenheit  und  Dasein  in  der 
arabischen  Philosophie.  (Festgabe  zum  60.  Geburtstag  von  Cl.  Baeumker 
S.  34ff.) 
Die  islamische  Philosophie  bietet  manche  Aufschlüsse  über  scholastische 
Ideenbildungen,  z.  B.  in  der  Lekre  von  den  iiuieren  Sinnen.  Ein- solcher  Auf- 
schluß ergibt  sich  auch  für  die  Lehre  über  Wesenheit  und  Dasein.  Während 
Plato  Wesenheit  inid  Individuum  gegenüber  stellte,  findet  sich  in  der 
lateinischen  Scholastik  ziemlich  unvermittelt  das  Begriffspaar:  Wesenheit 
und  Dasein.  Der  Übergang  zwischen  beiden  vollzog  sich  in  Farabi  (Ring- 
steine 1).  Er  beginnt  mit  der  platonischen  Antithesis  und  ersetzt  sodann  die 
Individualität  durch  das  Dasein,  das  für  ihn  zunächst  das  konkrete,  dann 
aber  auch  das  allgemeine  Dasein  ist.  Damit  ist  die  scholastische  Lehre  gegeben 
inid  zugleich  der  Boden  für  die  großen  Diskussionen  im  Islam  über  diese  Frage 
(wie  ein  Reales,  das  Dasein,  einem  Um-ealen,  der  Wesenheit,  inhärieren 
könne).     Sie  führen  mit  der  Zeit  zu  einer  Identifizierung  beider. 

Eine  andere  Form  des  Gegensatzes  zwischen  beiden  findet  sich  in  den 
Systemen  der  islamischen  Theologen.  Die  Wesenheit  existiert  als  non-ens 
in  schemenhafter  Weise  in  einer  vorwirklichen  Welt  (Lehre  von  der  Realität 
des  NichtSeienden  vgl.  das  indische  System  der  Vaisesika),  aus  der  sie  durch 
Hinzutritt  des  Daseins  in  die  reale  Wirklichkeit  tritt.  Vielach  haftet  sie  der 
Wesenheit  nur  momentan  an  (vgl.  das  System  der  Sautrantika).  Der  Verfasser 
ist  bemüht,  diese  offenbar  indischen  Lehren  aus  der  griechischen  Philosophie 
abzuleiten.  Mir  scheint,  daß  dieses  Vergewaltigungen  von  Begriffen  sind. 
Die  nichtSeienden  aber  doch  ,, realen"  Wesenheiten  sollen  die  platonischen 
Ideen  verschmolzen  mit  dem  leeren  Räume,  dem  ,,Nichtseienden"  der  Ato- 
misten  sein.  So  dankenswert  also  auch  die  klaren  Ausführungen  W.s  betreffs 
des  ersten  Teiles  sind,  so  weiüg  treffen  sie  das  Richtige  im  zweiten. 

(Schluß  folgt  im  nächsten  Heft.) 


Rezensionen. 

Theodor  Meyer-Steineg,  Ein  Tag  im  Leben  des  Galen.  Mit  Titelholz- 
schnitt von  F.  H.  Ehnicke.  Verlegt  bei  Eugen  Diederichs.  Jena 
1913.  63  S.  80.  2  Mk. 
Der  Verfasser  stellt  aus  Galen,  Dioskui-idos,  Celsus  u.  a.  Dialoge  zu- 
sammen, die  einen  Tag  in  Galenos  Leben  darstellen.  Erstens  eine  Vivisektion 
von  erstaunlicher  Modernität,  dann  eine  wissenschaftliche  Disputation  über 
den  Vorrang  der  Chirurgie  oder  inneren  Medizin  und  zuletzt  eine  Beinoperation, 
Die  Tendenz  ist  in  allen,  die  Medizin  von  bloßer  Theorie  zu  befreien  und  als 
historisch  fundierte  und  empirische  \A'issenschaft  hinzustellen,  also  ein 
Beitrag  zur  Geschichte  des  Denkens  überhaupt.  Nun  hat  der  Verfasser  das 
mit  einer  solchen  Fülle  lebensvoller  Züge  auszustatten,  so  das  antike  Leben 
zu  erneuern  verstanden,  dabei  den  subtilen  Stoff  so  anschaulich  klargelegt, 
daß  man  das  Heftchen  mit  Genuß  durchliest  und  dankbar  aus  der  Hand 
legt.  Der  Verfasser  ist  ein  vorzüglicher  Erzähler  und  ein  gelehrter  Kenner 
des  Altertums  zugleich.  Seine  philosophisch -wissenschafthche  Tendenz  wird 
man  natürlich  billigen.  C.  Fries. 

Wilhelm    von    Christ,  Geschichte  der  griechischen  Literatur;  fünfte  Auf- 
lage,  unter  Mitwirkung  von  Otto   Stählin  bearbeitet  von  Wilhelm 
Schmid;    zweiter   Teil:    die   nach  klassische   Periode   der   griechischen 
Literatur.   Mit  alphabetischem  Register  und  einem  Anhang  von  45  Por- 
trätdarstellungen,    ausgewählt     und     erläutert     von    J.     Sieveking. 
München  1913.     C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung.     Preis  II  1: 
9  Mk.,  II  2:  14,50  Mk.     1319  S.     8". 
Aus  der  gedrängten  Übersicht,  die  Wilhelm  Christ  einst  gab,  ist  somit 
ein  gewaltiger  Doppelband  geworden.     Der  jetzt  vorüegende  zweite  Teil  be- 
handelt den  Zeitraum  von  320  v.  Chr.  bis  530  n.  Chr.    Zuerst  wird  die  Prosa 
der  Kaiserzeit  mit  besonderer  Betonung  der  Philosophie  besprochen,  dann 
folgen  die  exakten  Wissenschaften,  die  konstantinische  Zeit  und  endlich  mit 
umfänghcher  Genauigkeit  die  christhche  Literatvu-.     Den  ungehem-en  Fleiß 
der  Verfasser  muß  jeder  bewundern,  wenn  auch  die  der  ganzen  Anlage  des 
Werkes  entsprechende  Art  eines  Handbuchs  durch  die  Mehrheit  der  Verfasser 
nicht   günstig   beeinflußt  wird.      Eine   klassische,   abschheßende  Darstellung 
des  griechischen  Schrifttums  wird  man  nicht  erwarten,  aber  das  Gebotene 
zeigt  ein  Specimen  echt  deutscher  Gründlichkeit  und  treuester  Akribie.     Die 
Literatur    ist    ungemein    sorgfältig    zusammengetragen    und    berücksichtigt 
worden,  wodiu-ch  der  Eindruck  musivischer  Arbeit  erweckt  wird,  wenn  die 
Archiv  für  Geschichte  der  Philosophie.   XXVIII.  4.  30 


466  Rezensionen. 

Verarbeitung  auch  niit  großem  Geschick  vorgenommen  worden  ist.  Da  ich 
die  ersten  Bände  ausführlicher  besprochen  habe,  kann  ich  mich  hier  kürzer 
fassen.  Griechische  Literatur  ist  ein  Thema,  das  zu  tiefster  Intuition,  zu 
schauendem  Produzieren  anregen  sollte,  ein  kUngendes  Mammonbild.  Den 
Philologen  steht  es  gut  an,  über  Abfassungszeiten,  Authentien  und  Rekon- 
struktionen in  einzelnen  mit  der  mikrologischen  Andacht  zum  Allerkleinsten 
sich  auszulassen.  In  eine  höhere  Klasse  gleichsam  gelangt  man,  wenn  die 
Literatur  nun  im  ganzen  betrachtet  werden  soll.  Das  hat  mit  jenem  Klein- 
kram nichts  zu  tun;  der  Historiker  des  Ganzen  soll  all  das  perzipieren,  apperzi- 
pieren,  aber  nur  soweit  durch  diese  kleinen  Farbentöne  dem  Kolorit  des 
Ganzen  noch  eine  entscheidende  Schattierung  beigefügt  werden  kann.  Ihm 
fällt  die  viel  größere  Aufgabe  zu,  die  durch  philologische  Verstandesarbeit 
rekonstruierten  Gestalten  nun  mit  Fleisch  und  Blut  zu  erfüllen,  ihnen  ge- 
schichtliches und  menschliches,  warmes  Leben  zu  verleihen,  sie  aus  ihrer 
Zeit  heraus  ganz  zu  verstehen  und  zu  verdolmetschen.  Wie  ein  bewegliches 
lebendes  Bild  muß  die  Historie  am  Auge  des  Schülers  vorbeiziehen.  So  darf 
man  vorhegendes  Werk  in  all  seiner  prächtigen  Fülle,  seinem  staunenerregen- 
dem Reichtum,  seiner  stupenden  Gelehrsamkeit  doch  schließUch  nur  als 
Materialsaramlung  betrachten,  aus  der  ein  großer  Baumeister  dami  einmal 
das  Kunstwerk  errichten  wird.  Diese  Art  der  Darstellung  ist  Martha,  die 
alles  Notwendige  mit  Fleiß  erledigt;  nun  fehlt  noch  die  Maria,  die  das  himm- 
lische Teil  erwählt  und  den  Bau  der  wahren  Wissenschaft  zum  Himmel  ragen 
läßt.  Einstweilen  aber  freuen  wir  uns  des  Geleisteten,  dem  das  gesamte  Aus- 
land an  Fülle  und  Gediegenheit  nichts  Gleichwertiges  an  die  Seite  zu  stellen  hat. 

C.  Fries. 

Philodemi  de  ira  Über,  ed.  Carolus  Wilke,  Lipsiae  in  aed.  B.  G.  Teubneri. 

1914.  LIV  +  115  p.  8«. 
Aus  den  Lavahaufen  von  Herkulaneum  stieg  des  Epikvireers  Philodemos 
Buch  gegen  den  Zorn  auf.  Der  NeapoUtaner  Giambattista  Casanova  rollte 
das  Volumen  1802  auf  und  schrieb  es  ab.  1824  wurde  es  in  Oxford,  1862  in 
Neapel  neu  ediert,  beidemal  unvollständig.  Heut  wird  das  Original  unter 
Comparettis  Auspizien  sorgfältig  unter  Glas  und  Rahmen  verwahrt.  Der  Her- 
ausgeber verbreitet  sich  über  die  Handschrift  selbst,  die  Reihenfolge  der 
Fragmente,  die  Wiederherstellung  der  Korruptelen.  Ein  besonderer  Ab- 
schnitt ist  dem  Inhalt  gewidmet  (p.  XIII--XXI).  Philodemos'  Gegner,  auch 
seine  Gewährsmänner  werden  behandelt.  Vor  allem  ist  zu  konstatieren,  daß 
de  ira  nur  der  Unterteil  eines  größeren  Werkes  Tvsqi  xaxiwv  oder  mql  iq&aiv 
xal  ßiwv  war.  Dem  folgt  das  zerstückelte  Werk  selbst,  das,  vom  Vesuv 
mcht  verschüttet,  nun  Gleichmut  der  Seele,  Beherrschung  des  Zornes  und 
der  Leidenschaften  predigt.  Habet  sua  fata!  Die  Ausgabe  verdient  wegen 
ihrer  gewissenhaften,  subtilen  Genauigkeit  alles  Lob,  vor  allem,  weil  sie  den 
sonst  schwerer  zugänglichen  Text  nun  in  aller  Hände  gibt  und  leichten  Genuß 
und  bequemes  Studium  vermittelt.  Sehr-  wertvoll  für  die  Sprachwissenschaft 
ist  der  beigegebene  Index  vocabulorum  (p.  101—115).  Den  Text  begleitet 
noch    ein    ausgiebiger    kritischer    Apparat.  C.  Fries. 


Rezensionen.  467 

Marci  Antonini  Imperatoris  in  semet  ipsum  ibiri  XII,  recognovit 
Henricus  Schenkl,  editio  maior.  XL  +  267  p.  8".  3,60  Mk.  — 
Idem,  editio  minor,  X  +  168  p.  8".  B.  G.  Teubner.  Lipsiae  1913. 
2  Mk. 
Das  Bucli  des  tiefsinnigen,  humanen  Imperators,  dessen  Reiterstandbild 
auf  dem  Kapitol  noch  jetzt  die  milden  Züge  des  sinnenden  Cäsars  überliefert, 
wird  hier  in  neuem  Gewände  vorgelegt.  Aurel  hebt,  wie  man  wohl  schon  be- 
merkt hat,  mit  einer  ätiologischen  Zergliederung  seines  Wesens  an,  vom 
Vater  habe  er  die  Stille  des  Gemüts  und  den  mämilichen  Sinn,  von  der  Mutter 
die  Gottesfurcht  und  die  Enthaltung  vom  Bösen,  vom  Großvater  und  einer 
großen  Reihe  von  anderen  Personen  diese  und  jene  Eigenschaften  über- 
nommen, ganz  wie  Goethe  kürzer  den  Anteil  der  Eltern  an  seinem  Wesen 
zerlegt.  Das  mag  auf  Reminiszenz  beruhen.  Der  österreichische  Philologe 
Heim-ich  Schenkl  hat  das  Buch  mit  ausführlicher  praefatio  und  eingehendem 
kritischem  Apparat  herausgegeben.  Er  konstatiert  im  Eingang,  Buch  1  und  2 
seien  in  Carnuntum  und  im  Land  der  Quaden  während  des  Feldzugs  ge- 
schrieben. „Man  fühlt  die  Quelle",  sagt  Hippolyte  Taine,  den  Otto  Kiefer 
vor  seinem  Mark  Aurel  zitiert,  „Abends  bei  der  Lampe  wurden  diese  Sätze 
geschrieben  —  und  alle  haben  sie  eine  starke  Tat,  ein  Wort  des  hohen  Herzens 
gewirkt.  —  Kurz,  schroff,  genau,  aufglänzend  sind  sie  immer  verhaltener 
Begeisterung  ersticlrte  Schreie  ;  sie  offenbaren  die  Seele  eines  großen  Dich- 
ters" usw.  Bis  zum  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  waren  die  Selbstbe- 
trachtungen in  aller  Händen  (p.  Y).  Dann  gerieten  sie  in  Vergessenheit,  bis 
Arethas,  907  Erzbischof  von  Cäsarea,  ein  altes,  korruptes  Exemplar  aus- 
findig machte,  das  er  nach  Kräften  zu  rekonstruieren  sich  bemühte.  Dies 
scheint  nach  Ansicht  der  Editoren  das  Archetypon  der  späteren  Manuskripte 
zu  sein.  Schenkl  zerghedert  nun  mit  großer  Gelehrsamkeit  den  Stammbaum 
der  erhaltenen  Handschriften,  von  denen  ein  Vaticanus  am  besten  zu  sein 
scheint.  Die  editio  minor  bringt  den  Text  mit  gekürzter  Einleitung  und  ohne 
Apparate.  Die  auf  den  tiefsinnigen  Cäsar  verwandte  Mühe  ist  sehr  dankens- 
wert, und  die  Teubnersche  Offizin,  die  erst  vor  elf  Jahren  den  Text  in  Joh. 
Stichs  Ausgabe  bot,  erwirbt  sich  durch  die  Edition  aus  so  bewährter  Feder 
ein  Verdienst.  C  Fries. 

Friedrich    Nietzsche,   Philologica,   Band  III,   Unveröffenthchtes   zm-  an- 
tiken Religion  und  Philosophie.     Herausgegeben  von  Otto    Crusius 
und   Wilhelm    Nestle.      Alfred    Kröner   Verlag  in   Leipzig   1913. 
(Werke  Bd.  XIX.  462  S.     S».     10  Mk. 
Der  erste  Band  der  Philologica  Nietzsches  enthielt  Theognidea,  Laertes 
Diogenes,  Rezensionen  u.  a.,  der  zweite  hauptsächhch  griechische  Literatur- 
geschichte,   Rhetorik  und  Rhythmik,   der   jetzt  vorliegende  dritte    Band   ist 
dem    eigentlichen   Fachgebiet   des   großen   Einsiedlers,    der    Philosophie    des 
Altertums  gewidmet.      In  dem  ersten  großen,  dem  Gottesdienst  der  Griechen 
gewidmeten   Aufsatz   überrascht   die   Intuition,    mit   der   die   Ursprünge  des 
Hellenentums   konstruiert  werden.      Er  nimmt  eine  semitische  Schicht    vor 
der  hellenischen  an.    „Der  Gestirndienst,  die  Verehrung  der  Planeten  —  und 

30* 


468  Rezensionen. 

die  daran  geknüpfte  Astrologie  gehörte  zur  semitischen  Urreligion;  er  wurde 
am  besten  in  Babylon  und  AssjTien  entwickelt;  die  Benennung  der  Wochen- 
tage nach  den   7   Planeten  und  die  siebentägige   Woche  ist    rein  semitisch. 
Dieser  Dienst  ist  den  Griechen  vollständig  fremd,  die  Lehre  von  den  7  Planeten 
bringt  erst  Pythagoras  mit;  sie  haben  nicht  die  siebentägige  Woche,  noch 
ihre  Beziehung  zm  Sonne  und  den  Planeten.    (17.)    Es  folgt  eine  Aufzählung 
des  Vorkommens  der  Siebenzahl   bei  den  Griechen  auf  Grund   phönizischer 
Überlieferung    (S.    17  f.).       An   die    vortreffUchen    Forschungen   von    Ernst 
Siecke  gemahnt  es,  wenn  er  schon  „die  drei  Töchter  des  Prötos  längst  als 
Siimbilder  der  Mondphasen  erkannt"  nennt  (ibid)  „Auf  dem  Schild  des  Tydeus, 
der  am  Prötidentor  fiel,  war  der  klare  Vollmond  in  der  Mitte  des  Sternen- 
himmels abgebildet,"  (ibid)    „Der  Eingang  zu  den  semitischen  Tempeln  war 
wie  der  zu  den  hellenischen  der  olympischen  Götter  regelmäßig  nach  Osten 
gerichtet:    dennoch  war  das  Mondtor  von  Theben  das  Haupttor,  welches  sich 
an  der  Ostseite  befand.     Europa,  die  phönizische  Mondgöttin,  machte  hier- 
durch ihren  Einzug  in  die  Stadt.  —  Der  erste  Tag  der  Woclie  ist  dem  Monde, 
der  letzte  der  Somie  geweiht."  (S.  19.)  Vgl.  Siecke,  Hermes  der  Mondgott, 
derselbe:  Götterattribute  u.  a.,  wo  diese  Lehre  auf  wissenschaftlicher  Basis 
begründet  wird.     Man  wird  solche  Anregungen  mit  Genugtuung  schon  bei 
Nietzsche  finden,  Avie  denn  auch  die  Lektiu-e  der  übrigen  Aufsätze,  über  die 
platonischen     Dialoge,     die     dtuSoxat     der    Philosophen,      Democritea    für 
seine  Auffassungsweise  des   Altertums  leluTeich  sind.      Von  dem   Fleiß   der 
Herausgeber  zeugen  ein  Anhang  (S.  383),  ein  Nachwort  (41G),  ein  Verzeichnis 
der  handschriftlichen   Philologica  Nietzsches   (S.   419)   und  ein  Namen-  und 
Sachi-egister  (423—462).     Der  Verlag  hat  sich  durch  die  Herausgabe  dieser 
Nachlaßschriften,  die  manches  neue  Licht  auf  des  großen  Denkers  geistige 
Entwicklung  werfen,  ein  wahres  Verdienst  erworben.  C.  Fries. 

Hans  Volkelt,  Über  Vorstellungen  der  Tiere.  Arbeiten  zur  Entwicklungs- 
psychologie, hgg.  V.  Krüger.  Leipzig  1914.  Wilh.  Engelmann. 
126  S.  4  Mk. 
Das  Hauptproblem,  das  V.  sich  stellt,  ist:  Wie  erscheinen  dem  Tiere 
die  Dinge  seiner  Umgebung?  Die  allgemeine  Voraussetzung,  die  V.  macht, 
besagt,  daß  den  Tieren  jedenfalls  Bewußtsein  zukommt,  welches  in  dieser 
Arbeit  bloß  auf  seine  Vorstellungsseite  untersucht  werden  soll.  Die  Unter- 
suchung beginnt  mit  der  Unterscheidung  von  angepaßten  und  unangepaßten 
Handlungsbildern.  Diese  Zweiteilung  betrifft  die  Beziehung  von  Umgebung 
des  Tieres  und  Reaktion  auf  diese  Umgebung.  Um  zu  erkennen,  wie  das  Tier 
seine  Umgebung  erfaßt,  ist  es  notwendig,  zu  wissen:  1.  wie  sich  die  Tiere  in 
andern  Situationen  zu  verhalten  pflegten;  2.  ob  die  Dinge  für  das  Tier  noch 
jetzt  den  gleichen  Wert  haben.  Es  kommt  nun  vor,  daß  das  Tier,  wider  seine 
Gewohnheit  und  wider  sein  Interesse,  eine  Reaktion  nicht  ausführt.  Daraus 
müssen  wir  schließen,  daß  das  Tier  den  sonstigen  Reaktionserreger  nicht  er- 
kannt hat.  Das  eine  Mal  ist  das  Tier  den  Verhältnissen  angepaßt,  das  andere 
Mal  nicht.  Angepaßt  ist  so  die  Fang-  und  Aussaugebewegung  der 
Spinne,     wenn     eine     Fliege     im     Fangnetz     sitzt.       Sitzt     hingegen     eine 


Rezensionen.  469 

Fliege  im  Röhrennetz  der  Spinne  selbst,  also  in  dem  Räume,  in 
welchem  diese  wohnt,  so  tritt  die  Merkwürdigkeit  ein,  daß  sich  die 
Spinne  vor  der  Mücke  zurückzieht.  Wie  ist  diese,  wie  sind  ähnliche  Tat- 
sachen zu  erklären.  Dies  ist  nach  V.  nur  dadurch  zu  erklären,  daß  die  Tiere 
nicht  dinghafte  Konstanten  in  ihrem  Bewußtsein  haben,  sondern  daß  sie 
Komplexqualitäten  (der  Begriff  nach  Fei.  Krüger  definiert)  enthalten,  die 
insbesondere  zwei  Eigenschaften  aufweisen:  1.  sie  sind  struktvu^los  in  bezug 
auf  innere  Gliederung;  2.  sie  sind  diffus  in  bezug  auf  äußere  Abgegrenztheit. 
So  wird  der  Komplex  Fliege  und  Fangnetz  etwas  wesentlich  ganz  anderes 
bedeuten  als  der  Komplex  Fliege  und  Röhremietz.  Auf  das  erste  wird  reagiert, 
auf  das  zweite  nicht.  —  Diese  Erklärung  des  Verfassers  ist  wahrscheinlich, 
immerhin  aber  nicht  zwingend.  Denn  bei  solchen  Reaktionen  handelt  es  sich 
um  motorisch  sukzessive  Prozesse,  die  bei  Tieren  von  geringer  Intelligenz  durch 
gewisse  Umstände  ausgelöst  werden.  Nm*  unter  einer  Bedingung  ist  die  Er- 
klärung V.s  unangreifbar,  wenn  nämlich  die  Formel  gilt:  Erkennen :=  Reagie- 
ren. Sonst  aber  könnte  man  sich  ganz  gut  vorstellen,  daß  die  Spinne  instinkt- 
mäßig eine  positive  Reaktionsbereitschaft  bloß  in  sich  hat,  wenn  das  zappelnde 
Ding  gerade  im  Fangnetz  und  nirgends  anders  sitzt.  In  dem  Tiere  ist  ja  nicht 
die  Erkenntnis  vorhanden:  „Aha,  da  ist  was  zum  Fressen,  also  drauf  los!" 
sondern  bloße  Reaktionsbereitschaften,  die  ererbt  sind  und  die  vielleicht 
mit  irgendwelchen  Formen  der  Anschauung  gar  nichts  zu  tun  haben.  Das 
Tier  ist  vielleicht  nm-  gewöhnt,  entweder  eine  bestimmte  Abfolge  von 
Reaktionen  durchzuführen  oder  gar  nicht  zu  reagieren.  Wenn  die  Fliege 
in  der  Wohnung  der  Spimie  sitzt,  so  kann  zweifellos  die  ererbte  Reaktionen- 
kette nicht  in  ihrer  sonstigen  Vollständigkeit  ablaufen:  sie  bleibt  ganz  aus. 
Es  kann  also  die  Unzweckmäßigkeit  sowohl  in  der  mangelnden  Dingvor- 
stellung als  auch  in  der  mangelnden  Möglichkeit,  ererbte  Reaktionsketten 
in  ihre  Einzelgbeder  aufzulösen,  liegen.  —  Darum  wird  es  gut  sein,  dieses 
Problem  weiterhin  insbesondere  empirisch  zu  untersuchen  und  auf  solche 
Palle  auszudehnen,  wo  man  —  wie  eben  nur  bei  höheren  Tieren  —  eine  Auf- 
lösung der  Reaktions ketten  und  Variation  der  Elemente  derselben  wird  nach- 
weisen können.  Denn  auch  der  merkwürdige  Gegensatz  zwischen  hoher  und 
geringer  Angepaßtheit  in  einem  und  demselben  Individuum  läßt  sich  sowohl 
durch  die  Eigenart  der  Komplexqualitäten,  als  auch  durch  die  Starrheit  der 
Abfolge  von  Reaktionen  erklären.  Auf  jeden  Fall  ist  das  Werkchen  durch 
seine    Pioblemstellung   von   dankenswerter   Anregung. 

Heinz  Werner-Wien. 

Ottmar  Dittrich,  Die  Probleme  der  Sprachpsychologie.  Leipzig  1913. 
Quelle  u.  Meyer.  148  S. 
Die  Darlegungen,  die  Dittrich  als  Programm  angesehen  wissen  will, 
gliedern  sich  in  eine  Dreiheit  von  Problemen.  Diese  Dreiheit  ist  dadurch  in 
allgemeiner  Hinsicht  ermöglicht,  daß  die  Sprachpsychologie  aufgefaßt  wird 
als  Grenzwissenschaft,  welche  einerseits  zusammenstößt  mit  der  Sprachwissen- 
schaft, anderseits  mit  der  Psychologie  und  iluen  Hilfswissenschaften.  Die 
Sprache  ist  nun  nicht  bloß  eine  Ausdrucksleistung,  sondern  auch  eine  Ein- 


470  Rezensionen. 

drucksleistung.  Mitteilsamkeit  ist  ein  wesentliches  Merkmal  aller 
Sprachen.  Damit  würde  die  Sprachpsychologie  zu  einem  Teile  der  Völker- 
psychologie geworden  sein,  wenn  solcher  Auffassung  nicht  das  Bedenken 
entgegenstände,  daß  dadurch  bloß  die  Masse  als  sprachbildender  Faktor 
berücksichtigt  würde:  es  ist  aber  ebenso  zweifellos,  daß  schon  ein  Verband 
zweier  Individuen  zu  einer  auf  Spraclischö]ifung  hinzielenden  Verständigung 
gelangen  kann.  Diese  Zweiheit,  die  logisch  und  psychologisch  den  elemen- 
tarsten Ansatz  zur  Sprachentwicklung  in  sich  birgt,  bedingt  auch  die  wich- 
tigste Problematik  der  Sprachpsychologie,  welche  von  D.  als  phylonto- 
genetische  Problematik  bezeichnet  wird.  Sie  knüpft  nämlich  einerseits 
an  die  Wirksamkeit  des  Einzelindividuums  an,  anderseits  aber  bedeutet  sie 
schon  den  Keim  der  Wechselwirkung  von  größeren  Massen,  die  zweifellos 
für  das  Werden  der  Sprache  von  Einfluß  ist.  So  bildet  sich  also  eine  Dreiheit 
von  Problemen  heraus:  die  phylontogenetischen,  die  ontogenetischen  und 
die  phylogenetischen  Probleme.  Das  phylontogenetische  Problem,  und  hier 
insbesondere  das  der  Bedeutung,  ist  das  primäre;  von  hier  muß  alle  Sprach- 
psychologie ihren  Ausgang  nehmen.  Indem  D.  die  H.  Gomperzsche  Unter- 
scheidung zwischen  objektivem  und  subjektivem  Gedanken  aimektiert,  findet 
er  das  Wesen  des  Bedeutungsbegriffes  in  der  Richtung  von  der  subjektiven 
zur  objektiven  Seite  des  Gedankens.  Mit  Gomperz  unterscheidet  D.  die  Aus- 
sage nach  dreierlei  Hinsicht:  nach  Lautung,  Inhalt,  Tatsachengrundlage. 
Die  Relation  zwischen  Inhalt  und  Lautung  neimt  er  Ausdruck;  die  Relation 
zwischen  Inhalt  und  Tatsächlichem:  Auffassung.  Dann  ist  die  Relation 
zwischen  Ausdruck  und  Auffassung  die  Bedeutung.  Die  Problemstellung 
hat  also  zu  beachten,  daß  die  Bedeutung  zwar  eine  eindeutige,  aber  kom- 
plexe Relation  ist.  Sie  geht  von  der  Aussage  (Ausdruck)  zum  ausgesagten 
Sachinhalt  (Auffassung).  Die  ontogene tische  Problematik  nimmt  insbesondere 
Stellung  zum  Verhältnisse  zwischen  Wort  und  Satz  (Psychologie  der  Syntax) 
und  zur  Wortbildung.  D.  beginnt  hier  mit  Gebilden,  die  durch  eine  Frage, 
z.  B. :  „Hat  er  es  getan  ?"  und  ihre  Antwort:  ,, Ja"  —  entstehen.  Diese  scheinen 
in  der  Antwort  eine  Mitwirkung  des  Fragestellers  unbedingt  einzuschließen. 
Damit  führt  die  Analyse  in  das  Problem  des  eingüedrigen  Satzes  ein.  Nach 
der  pathempirischen  Anschauungsweise  von  H.  Gomperz  ist  die  Aussage- 
grundlage in  einer  individuellen  Totalimpression  primär  gegeben:  es  ist  die 
AUgenieinvorstellung  des  „er"  als  Täter.  Diese  ganz  vage  Form  verfolgt  die 
bestimmte  Richtung  zum  Sachverhalt  hin,  der  hier  in  Form  einer  Frage  dar- 
gestellt erscheint,  die  unter  Umständen  die  Antwort  einschließen  kami.  Die 
Bedeutungsrelation  wird  nun  ihrerseits  wieder  Ausgangspunkt  einer  doppelten 
Relation:  einerseits  verbinden  sich  Inhalt  und  Aussage  zur  Bedeutung 
der  Aussage,  anderseits  wird  die  Aussage  durch  Zuordnung  der  Lautung 
zu  einer  eindeutigen.  Die  sprachlichen  Gebilde  erscheinen  dadurch  als 
Gebilde,  welche  einerseits  eine  Bedeutungsseite,  anderseits  eine  Lau- 
tungsseite erkeimen  lassen.  Daraus  ergibt  sich  also  eine  doppelte  Glie- 
derung des  Lautgebildes  „Satz"  genamit.  1.  In  bezug  auf  die  Bedeutung 
ergibt  sich  eine  Längsgliederung  in  zwei  Teile:  in  ein  Generalsubjekt  und  ein 
Generalprädikat.     Generalsubjekt  ist  die  relative  Konstante  innerhalb  einer 


Rezensionen.  471 

variablen  Stellungnahme  des  Subjektes,  während  man  die  variable  Stellung- 
nahme als  Prädikat  bezeichnen  kann.  So  ist  also  Generalsubjekt:  „er  als 
Täter  dessen";  Generalprädikat  ist  der  Fragczweifel  und  die  Auskunfts- 
forderung. Daraus  ergeben  sich  dann  das  Spezialsubjekt  bzw.  Spezialprädikat. 
2.  In  bezug  auf  Lautung  ergibt  sich  einmal  eine  Längsgliederung  der  Laut- 
kette in  Blöcke.  Ferner  aber  ergibt  sich  eine  Quergliederung  in  Satzbasis 
und  Satzmodulation.  Satzbasis  ist  der  lautliche  Stoff,  Modulation  die  Meloska- 
denz  (Frage,  Gewißheit),  in  der  sich  die  Basis  ausdrückt.  Diese  Grundauf- 
stellungen bahnen  eine  Problematik  sowohl  der  Syntax  als  auch  der  Wort- 
bildung an,  deren  Besprechung  in  diesem  Referat  zuweit  führen  würde. 

Schließlich  werden  die  philogenetischen  Probleme  in  dem  Kreise  der 
sprachpsychologischen  Problematik  zm-  Lösung  gelangen  müssen.  Hier  nimmt 
D.  einen  Standpunkt  ein,  der  zu  den  heute  in  Betracht  kommenden  An- 
schauungen, insbesondere  der  H.  Pauls  in  seinen  „Prinzipien  der  Sprach- 
geschichte", in  prinzipieller  Opposition  steht.  Während  Paul  immer  nur  die 
Veränderung,  die  Umgestaltung  des  Sprachusus  in  den  Kreis  seiner  Erörterung 
stellt,  verlangt  D.  in  psj-chologisch-konsequenter  Weise  die  Lösung  des  philo- 
genetischen Problems  der  Entstehung  dieses  Usus  selbst.  Es  ist  insbesondere 
das  Verdienst  der  vorliegenden  Schrift,  daß  sie  zeigt,  wie  wenig  noch  trotz 
Steinthal,  Wundt  und  Paul  die  Frage  der  Genesis  des  Sprachgebrauches: 
Wortbildung  und  Festhaltung  der  Wortbedeutung  einerseits,  Wortbedeutungs- 
wandel  anderseits  in  ihrer  vollen  Tragweite  verstanden  worden  ist.  Die  Um- 
arbeitung der  Sprachpsychologie  im  Sinne  der  Darwinschen  Selektionslehre. 
wie  sie  vorzügüch  von  Paul  vertreten  wird,  muß  notwendigerweise  hier 
wie  überall,  wo  die  reine  Selektionslehre  angewendet  wird,  zu  einer  mechani- 
sierenden Sterilität  führen.  Die  Sprache  ist  ein  organisches  Gebilde,  lebendig, 
wie  niu-  irgend  eines,  dessen  Wm-zel  bloß  im  Triebleben  des  Einzelnen  und  der 
Masse  aufgefunden  werden  kami  —  und  niu:  eine  teleologische  Orientierung 
der  Sprachpsychologie  wird  es  ermöglichen,  einer  wissenschaftUchen  Disziplin 
den  Geist  wieder  einzuflößen,  den  man  ihr  mit  allen  Mitteln  der  künstlichen 
Mechanisierung  der  lebendigen  Xatm-  ausgetrieben  hat.  Wollen  wir  hoffen, 
daß  dieses  Werk  dazu  beitragen  wird,  die  weitere  Entlebendigung  dieser 
Wissenschaft  aufzuhalten!  Heinz    Werner- Wien. 

In  seinen  Studien  zur  Theorie  pädagogischer  Grundbegriffe 
(W,  Speemann,  Stuttgart  1913)  entwickelt  Prof.  Dr.  Richard  Hönigswald, 
der,  ein  Anhänger  von  E.  Riehl,  dem  Neukantinismus  nahesteht,  in  schritt- 
weiser Auseinandersetzung,  (deren  sprachüches  Gewand  auch  „durch  schwierige 
Konstruktionen  und  orakelhafte  Kürze"  von  heraklitischer  Dunkelheit  mcht 
immer  frei  ist),  verschiedene  Begriffe  und  beschäftigt  sich  am  längsten  mit 
dem  der  Anschauung. 

Nachdem  der  Verfasser  gezeigt,  daß  der  landläufige  Sprachgebrauch 
manche  falsche  Vorstellungen  auslöst,  bietet  er  seine  eigene  Darlegung  (S.  67): 
„Anschauungen  sind,  kurz  gesagt,  .Bedeutungen';  Bedeutungen  freilich  von 
spezifischer  Geltungsbeschaffenheit  und  Struktur.  Stets  handelt  es  sich,  so 
kann  man  auch  sagen,  um  Relationen  eigentümUcher  Ait,  deren  spezifischer 


4  ( 1  Rezensionen. 

Geltlingswert  sich  in  , Bewußtheiten'  darstellt,  die  seihst  wieder  nur  an  sinnlich- 
,anschauUchen'  Elementen  zur  Ausprägung  gelangen  können."  In  diesem  Satz 
spricht  Dr.  H.  aber  nicht  nur  seine  Ansicht  über  das  Wort  „Anschauung"  aus, 
sondern  läßt  auch  seine  Stellung  zu  manchen  in  der  Philosophie  herkömm- 
lichen Ausdrücken  ahnen.  Die  Rücksicht  auf  den  Umfang,  welche  auch  an 
2Ü  Stellen  der  111  Seiten  unumwunden  als  Ursache  angegeben  wird,  warum 
einzelne  Punkte  nur  angedeutet  werden,  bewirkt  nämlich  auch,  daß  nur  in 
gelegentlich  eingestreuter  Ablehnung  von  „Schlagwörtern"  (S.  38  und  85) 
und  insbesondere  durch  häufigen  Gebrauch  von  Anführungszeichen  die  Fach- 
sprache kritisiert  wird.  Wiewohl  jene  zunächst  nicht  nur  das  lediglich  sirm- 
fällige  Lesen,  sondern  auch  das  Verständnis  mitunter  erschweren,  so  erspart 
doch  dieses  Vorgehen  langatmige  Ausführungen  über  den  Sinn,  den  der  Ver- 
fasser mit  einzelnen  Worten  verbindet.  Auch  erhält  die  Lektüre  durch  diesen 
Umstand  einen  anregenden  Reiz,  da  der  Leser  prüfen  muß,  ob  die  Anführungs- 
zeichen ,,die  betr.  Ausdrücke  für  unzm-eichend  definiert"  oder  ,,in  einem  von 
dem  gangbaren  verschiedenen  Sinn  gebraucht"  bezeichnen  sollen.  Jeder 
grundsätzliche  Gegner  von  mehr  oder  minder  willkürlich  geprägten  Be- 
nennungen —  um  das  Fremdwort  Terminologie  zu  vermeiden — ^,  wird  seine  helle 
Freude  an  dieser  feinsinnigen  Art  haben  sich  mit  der  Zunftsprache  —  wie  einer 
meiner  philosophischen  Hochschullehrer  scherzend  zu  sagen  pflegt  — ,  ausein- 
anderzusetzen. Vielleicht  wünschen  auch  nicht  nur  Anhänger  des  deutschen 
Sprachvereins,  daß  der  Verfasser  noch  weiter  möchte  gegangen  sein  und  ins- 
besondere manches  Fremdwort  ersetzt  haben,  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  daß 
die  Kürze  gelitten  hätte. 

Da  Dr.  H.,  wie  anfangs  angedeutet,  vor  allem  den  praktischen  Schul- 
männern etliche  „Begriffe  an  sich"  klarlegen  will,  gewissermaßen  als  Maßstab, 
ob  wir  sie  in  ihrer  ganzen  Tiefe  ausschöpfen,  so  sei  es  gestattet,  einiges  heraus- 
zugreifen, was  dem  Lehrer,  welcher  Jägerschen  Lehrkunst  huldigt,  wichtig 
sein  dürfte.  Zweifellos  muß  jeder  Schulmann  von  Zeit  zu  Zeit  sozusagen  los- 
gelöst von  allen  den  BUck  beengenden  Tatsächlichkeiten  des  Alltags  über  die 
letzten  Ursachen  und  Ziele  seines  Bildens  und  Erziehens  sich  Rechenschaft 
ablegen,  sowohl  der  schon  länger  im  Amt  stehende,  der  im  ermüdenden  Klein- 
kram des  Unterrichtsgetriebes  für  das  Weiterarbeiten  auf  dem  Gebiete  der 
philosophischen  Pädagogik  — ■  man  könnte  auch  sagen  pädagogischen  Philo- 
sophie —  leider  nur  schwer  Zeit  oder  richtiger  Ruhe  findet,  als  auch  der  frisch 
von  der  Hochschule  kommende  Lehrer;  denn  weil  letzterer  rücht  selten  ge- 
neigt ist  die  für  das  Staatsexamen  erarbeiteten  philosophischen  Grund- 
begriffe, insbesondere  aus  der  Werkstätte  Herbarts,  dessen  „Interessenorgel" 
schon  viel  Unheil  angerichtet  hat,  zu  überschätzen,  so  vergißt  er  mitunter 
die  Beziehung  der  als  Student  sich  angeeigneten  Kemitnisse  zur  Berufstätig- 
keit. Wenn  allerdings  die  Angehörigen  beider  Gruppen  glauben,  daß  die  in  Frage 
stehenden  Studien  von  Dr.  H.  zum  bequemen  Genießen  vorgeschnittene  Speisen 
bieten,  so  irren  sie  sich:  H.s  Arbeit  erfordert  gediegene  allgemeine 
philosophische  Bildung  und  vor  allem  Beherrschen  der  philosophischen 
Kunstausdrücke.  Sind  aber  diese  beiden  Bedingungen  gegeben,  so  kann 
man  sich  in  die  feinsimiige  Untersuchung,  die  tatsächlich  Grundsteine  alles 


Rezensionen.  473 

Unterrichtens  und  noch  mehr  alles  Erziehens  bietet,  mit  größtem  Gewinn 
versenken:  z.  B.  auch  in  die  Ausfülirungen  über  Fragen,  wemi  auch  zu- 
nächst mehr  an  Hochschulbedürfnisse  gedacht  wird  (Kap.  8  §  6f.).  Diese  Ge- 
dankem-eihe  gipfelt  in  dem  Satz,  daß  ,,in  derWissenschaft  wie  in  der  Pädagogik 
des  Fragens  kein  Ende  sei"  (>S.  103);  denn  „die  höchste  Form  des  Lehi-ens 
besteht  in  der  Anregung  zum  Mitforschen"(S.  85)  und  „das  Ziel  aller  Päda- 
gogik im  Siime  einer  Technik  der  systematischen  Wissensüberheferung  ist 
die  planmäßige  Erzeugung  einlieitlicher  Bedeutungsbewußtheiten,  wie  sie 
der  sj\stematischen  Einheit  der  Geltungszusammenhänge  der  Wissenschaft 
entsprechen"  (S.  76).  Die  ganze  Schwere,  ich  darf  wohl  sagen  Tragik  des 
Lehrberufes  für  denjenigen,  der  sich  nicht  mit  stumpfsinnigem  Übertragen 
von  Einzelkenntnissen  begnügt,  khngt  auch  in  den  nachstehenden  Worten 
wieder:  ,,Der  Anschauungsunterricht  muß  die  schwierige  Arbeit  leisten, 
die  repräsentative  Funktion  der  Anschauungsrelation  nach  Maßgabe  der 
Geltungsbedingungen  des  vorliegenden  Falles  in  einer  der  individuellen  Re- 
aktionsnorm des  Schülers  angemessenen  Weise  zrun  Ausdruck  zu  bringen" 
(S.  73);  vgl.  auch  S.  64:  „seinen  Blick  auf  Gang  und  Struktur  der  Forschung 
gerichtet,  sucht  er  (der  Pädagoge)  die  individuellen  Reaktionstypen  seiner 
Schüler  den  Fordermigen  nutzbar  zu  machen,  die  der  Begriff  der  Wissensüber- 
lieferung an  seine  Tätigkeit  stellt". 

Da  ich  mir  wie  der  Herr  Verfasser  der  besprochenen  Studien  Raum- 
beschränkung  auferlegen  muß,  möchte  ich  zum  Schlüsse  nur  nochmals  betonen: 
\V^enn  ich  auch  trotz  aller  hohen  Verehrung  für  Prof.  Dr.  H.  nicht  alle  kri- 
tischen Gedanken  unterdi'ücken  zu  dürfen  glaubte,  so  kann  ich  doch  allen 
Männern  und  Frauen,  die  Beruf  oder  persönliche  Neigung  mit  Erziehung  und 
Unterrichtsfragen  sich  beschäftigen  heißt,  das  Buch  warm  empfehlen,  be- 
sonders da  es  zum  selbständigen  Weiterforschen  durch  zahkeiche  ein- 
gestreute Problemaufstellungen  anregt  und  von  wahrhaft  humanistischem 
Geiste  durchweht  ist;  denn  es  wendet  sich  in  seinem  ganzen  Tone  gegen  jene 
—  natürlich  nicht  namentlich  —  genannten  Zugeständnisse  mancher  Unter- 
richtsverwaltungen an  das  große  PubUkum,  daß  nämlich  die  Schule  mögUchst 
nur  solche  Kenntnisse,  welche  beim  Lebensberufe  sofort  in  Geld  umzusetzen 
sind,  vermittele  statt  in  erster  Linie  den  Geist  zu  entwickeln,  wemi  anders 
er  vorhanden  ist.  Dr.  Jegel. 

Marta  und  Adolf  Wedel,  Das  höhere  Leben.  Oswald  Mutze,  Leipzig  1913. 
150  S. 
Man  tut  den  Systemen,  die  sich  als  Theosophie,  Okkultismus  usw.  be- 
zeichnen und  ich  in  unheimlicher  Weise  vermehren,  zu  viel  Ehre  an,  wenn  man 
sie,  wie  es  auch  von  manchen  berufenen  Beurteilern  geschieht,  als  moderne 
Mystik  ernst  nimmt.  Gut  die  Hälfte  alles  dessen,  was  auf  diesem  Gebiete 
produziert  wird,  ist  das  Resultat  bewußter  betrügerischer  Spekulation  auf 
Leichtgläubigkeit  und  weil  verbreitete  Instinkte,  während  der  größte  Teil 
des  Restes  lebhaft  an  die  Symptome  gewisser  Geisteskrankheiten  erinnert. 
Zu  diesem  Restteil  gehört  offenbar  das  vorliegende  Buch,  indem  man  z.  B. 
folgendes  lesen  kann:   „Dem  Pole  der  Materie  am  nächsten  ist  die  Schwingungs- 


474  Rezensionen. 

geschwindigkeit  die  geringste  und  am  Pole  des  Geistes  am  höchsten,  demgemäß 
muß  die  Lebenskraft  und  die  Materie  am  unteren  Pole  am  trägsten  und  am 
dichtesten  sein,  während  die  Regionen  des  Geistes  eine  geistige  Lebenskraft 
und  eine  ätherische  Materie  als  das  Produkt  derselben  vorzeigen  muß." 
(S.  85.)  Dr.  Viktor    Stern. 

Dr.  Hans  Eibl,  Metaphysik  und  (beschichte.  Eine  Untersuchung  zur 
Entwicklung  der  Geschichtsphilosophie.  Erster  Band.  Hugo  Heller, 
Leipzig  und  Wien  1913.     258  S.     Mk.  5. 

Die  vorliegende  Arbeit  beweist,  daß  ihr  Verfasser  mit  großem  Fleiß  und 
viel  Verständnis  die  in  Betracht  kommende  Literatiu*  studiert  hat.  Da  der 
Autor  überdies  einen  klaren  Stil  schreibt,  mit  viel  Geschick  wesentliches 
hervorzuheben  und  in  die  Fülle  des  dargestellten  eine  übersichtliche  Ordnung 
zu  bringen  versteht,  bleibt  sein  Werk  wertvoll  genug,  so  sehr  an  der  Auswahl 
des  Stoffes  imd  an  der  Durchführung  der  vorschwebenden  Grundideen  vieles 
zu  bemängeln  ist.  Der  Autor  hat  zwar  nicht  ganz  Unrecht,  wenn  er  glaubt,  daß 
bezüglich  der  Festsetzung  des  heranzuziehenden  Materials  jeder  einer  anderen 
Meinung  sein  werde,  daß  diese  darum  der  individuellen  Auffassung  überlassen 
bleiben  müsse.  Aber  eine  gewisse  Grenze  war  doch  durch  die  Natur  der  selbst- 
gestellten Aufgabe  objektiv  vorgezeichnet,  und  selbst  diese  Grenze  wurde 
ganz  und  gar  nicht  eingehalten.  Der  Autor  hatte  sich  selbst  zur  Aufgabe  ge- 
macht, unter  Benützung  bereits  vorliegender  Forschungsresultate  ohne  An- 
spruch auf  neu  gefundene  Ergebnisse  zu  zeigen,  ,,in  welcher  Weise  innerhalb 
bestimmter  räumlicher  und  zeitlicher  Grenzen  der  menschlichen  Denk- 
geschichte metaphysische  Begriffe  die  Auffassung  des  historischen  Prozesses 
beeinflußt  haben,  und  dadm'ch  einen  Beitrag  zur  Genesis  der  Geschichts- 
philosophie (zu)  liefern".  Damit  war  ein  lohnendes  Ziel  klar  aufgezeigt.  Aber 
der  Autor  hält  keinen  streng  begrenzten  Begriff  von  Metaphysik  fest.  Daß 
religiöse  Vorstellungen  ohne  weiteres  dem  Begriff  Metaphysik  untergeordnet 
erscheinen,  mag  noch  hingehen,  aber  auch  der  Einfluß  ganz  allgemeiner  philo- 
sophischer Ideen,  die  nichts  mit  Metaphysik  zu  tun  haben,  ja  an  zahlreichen 
Stellen  sogar  solcher  Gedanken,  die  nicht  einmal  mehr  philosophisch  genannt 
werden  können,  wird  mit  in  den  Kreis  der  Betrachtungen  gezogen. 

Ein  weit  verhängnisvollerer  Fehler  scheint  es  mir  zu  sein,  daß  die  Ent- 
wicklung religiöser  und  philosophischer  Anschauungen  viel  zu  ausführlich  dar- 
gestellt und  erläutert  wird;  das  war  nicht  nötig,  um  den  Einfluß  jener  Vor- 
stellungen auf  die  Geschichtsauffassung  klarzulegen  und  in  seiner  Entwicklung 
zu  beschreiben.  Man  kann  nicht  zwei  Herren  zugleich  dienen  und  wer  die  Ent- 
wicklung der  ( Geschieh tsphilosophie  darstellen  will,  muß  eben  die  Geschichte 
der  Religion  und  Philosophie  selbst  bis  zu  einem  gewissen  tkade  voraussetzen. 
Wohl  sind  die  vielen  Partien,  die  aus  diesem  Grunde  meiner  Ansicht  nach  nicht 
in  das  Werk  hineingehören,  gut  und  klug  geschrieben,  aber  sie  verhindern 
ein  bedeutsameres  Hervortreten  dessen,  worauf  es  doch  eigentlich  ankam,  und 
stören  vor  allem  das  einheitliche  Bild  einer  großen,  kontinuierlichen  Ent- 
wicklmig  der  Geschichtsphilosophie  selbst. 

Zwei  Bände  sollen  diese  Entwicklung  schildern,   die  nach  Ansicht   des 


Rezensionen.  475 

Autors  durch  Augustinus  einen  vereinheitlichenden  Abschluß  findet.  Der 
erste  vorliegende  Band  behandelt  die  ägyptische,  babylonische  und  jüdische 
Theologie,  ferner  die  griechische  und  römische  Philosophie  und  (Geschichts- 
schreibung. Der  Perser  werden  ganz  ohne  Grund  nicht  berücksichtigt,  während 
bei  den  Indern  eventuell  geltend  gemacht  werden  könnte,  daß  ihr  Einfluß 
auf  die  geschilderte  Entwicklung  in  Frage  stehe.  Der  zweite  Band  soll  Philon, 
das  Evangelium,  die  christliche  Theologie,  Neuplatonismus  und  Gnosis  be- 
handeln. Ein  abschließendes  Urteil  auch  über  den  ersten  Band  wird  erst 
nach  Erscheinen  des  zweiten  möglich  sein.  Der  Autor  selbst  sagt,  daß  sich 
die  beiden  Abhandlungen  (gemeint  sind  wohl  die  darin  dargestellten  Perioden) 
im  großen  Stil  wie  Problemstellung  und  Antwort  verhalten.  Erst  die  Kenntnis 
jenes  zweiten  Bandes  wird  lehren,  ob  es  dem  Autor  wirklich  gelungen  ist,  zu 
„zeigen,  wie  die  psychologischen  Bedingungen  einer  historischen  Denkweise 
sich  allmählich  durchsetzen".  Soweit  sich  schon  jetzt  darüber  urteilen  läßt, 
will  mir  freilich  scheinen,  daß  sehr  oft  niu*  die  aufeinanderfolgenden  Theorien  ein- 
fach aneinander  gereiht  und  festgestellt  werden,  ohne  daß  che  Notwendigkeit 
des  Überganges  erkarmt  und  herausgearbeitet  wurde.  Auch  dürfte  der  Autor 
auf  falschem  Wege  sein,  wenn  er  so  absolut  das  Geschichtsbild  des  Augustinus 
für  wertvoller  hält  als  aUe  antiken. 

Anzuerkennen  ist  die  übersichtliche  Gliederung  der  betrachteten  geschichts- 
philosophischen  Probleme.  Dr.  Viktor    »Stern. 

Otto    R.  Hübner,  Aszendismus.    Der  Glaube  an  den  Lebensaufstieg.    Eine 
neue  Welt-  und  Lebensbetrachtung.     Fritz  Eckardt,  Verlag.     Leipzig 
1912.     114  S.     Mk.  1,50. 
Wieder  eimnal:    „die  lang  ersehnte  neue  Weltreligion",  ,,die  berufen  er- 
scheint, der  kämpfenden  Menschheit  ein  hochragendes  Banner  zu  sein  auf 
ihrem  Siegeszuge  durch  das  Weltall  im  kommenden  Jahrtausend",  in  Wahrheit 
eine  klägliche  Gedankenarmut,  durch  den  pathetischen  Wort-  und  Phrasen- 
schwall, der  sie  verdecken  soll,  nm-  um  so  unerquicklicher  gemacht.     Einige 
wenige  Einfälle,   zurii  Teil  rechter  Unsinn,  werden  unermücUich  wiederholt 
und  in  maßloser  Überschätzung  als  letzte  und  tiefste  Weisheit  angepriesen. 

Dr.  Viktor    Stern. 

Max   Adler,    Wegweiser.     Studien    zur    Geistesgeschichte    des   Soziahsmus. 
J.   H.  W.  Diez  Nf.     Stuttgart   1914.     Mk.  2,50. 

Studien  eines  strengen  Marxisten  und  gleichzeitigen  Neukritizisten. 
Adler  steuert  in  seinem  neuen  Buch  den  gleichen  Kurs  wie  in  seinen  „Marxisti- 
schen Problemen".  In  einer  Reihe  von  Einzelabhandlungen,  die  sich  vor  allem 
an  die  klassisch -deutsche  Philosophie  und  ihre  Ausläufer  anlehnen,  spürt  er 
sozialistischen  Gedanken  und  Tendenzen  nach,  um  zu  zeigen,  daß  der  Ideen- 
gehalt dieser  Philosophie  zu  Marx  als  seinem  Vollender  führt;  also  Bloß- 
legung rein  geistesgeschichtlicher  Wurzeln,  nicht  historische  Untersuchungen 
aus  der  Zeit  heraus.  Und  der  Sozialismus  erweist  sich  dabei  für  Adler  ,,als 
eine  Wegbereitung  für  immer  höhere  Ziele  der  Menschheit".  Der  Gesamt - 
Inhalt,  von  dieser  Zielrichtung  beherrscht,  ist  denn  im  Wesentlichen  von 
psychologischer  Analyse  getragen;  einer  Analyse,  die  einnoal  Denktypen  wie 


476  Rezensionen. 

Rousseau,  Fichte,  Lasstille  usw.  in  ihrer  geistigen  Verfassung  begreifen  will 
und  dann  damit  häufig  zu  historischen  Berichtigungen  führt.  —  Die  radikalste 
Kritik  übt  Adler  an  der  bisherigen  Auffassung  Stioners  als  eines  Anarchisten, 
auf  den  sich  auch  der  heutige  Anarchismus  stützen  köimte.  Um  einiges  andere 
Bemerkenswerte  herauszugreifen  —  denn  eine  eingehende  Kritik,  zu  der  des 
Vei  fassers  Ausführungen  geradezu  reizen,  verbietet  sich  darum,  weil  sie  sich 
eingehend  gegen  den  ganzen  Aufbau  richten  müßte,  der  sich  wohl  dem  Vor- 
wxnf  der  „Konstruktion"  kaum  entziehen  könnte  —  so  findet  er  bei  Schiller, 
daß  der  Kern  seiner  ästhetischen  Begriffe  politisch  war,  daß  Fichte  ganz  nur 
dann  zu  begreifen  ist,  wenn  man  ihn  als  politischen  Denker  haßt.  Die  Zu- 
sammenstellung St.  Simons,  dem  noch  sehr  viel  vom  Sozialisten  fehlt,  mit 
R.  Owen,  dessen  Bedeutung  für  den  Sozialismus  bis  in  die  Gegenwart  reicht, 
verführen  zu  Unrichtigkeiten.  Er  ist  weiter  der  Ansicht,  daß  der  mathodologische 
Zusammenhang  von  Hegel  und  Marx  noch  stark  unterschätzt  wird.  Am 
interessantesten  für  den  Neukritizisten  sind  dann  natürlich  die  zweifellos 
scharfsinnigen  Ausführungen  über  Kants  Zusammenhang  mit  dem  Sozialismus. 
Indem  uns  der  SoziaUsmus  das  Ziel  Kants  „Die  Herausarbeitung  einer  wirk- 
lichen und  vollendeten  Kultmgemeinschaft  im  Volke"  zum  erstenmal  in  der 
Geschichte  zum  Objekt  einer  zielbewußten  und  planmäßigen  Arbeit  macht, 
erscheint  schon  von  da  aus  diese  gewaltige  Kultm-bewegung  als  die  am  Werke 
befindhche  Verwirklichung  des  großen  Kultiu-zieles  der  Kantischen  Philosophie." 
Und  nicht  nm'  in  Geschichtsphilosophie  und  Ethik,  sondern  auch  schon  in 
der  erkenntnistheoretischen  Arbeit  Kants  findet  Adler  diesen  Zusammenhang 
mit  dem  Soziahsmus.  —  In  deutschen  sozialistischen  Kreisen,  die  wesentlich 
historisch  nationalökonomisch  interessiert  sind  und  Wer  noch  ein  weites  un- 
gefurchtes Land  vor  sich  sehen,  dürften  Adlers  Ausführungen  starken  Wider- 
spruch erwecken.  Dr.  Karl  Schröder-Zech. 


Zur  Besprechung  eingegangene  Werke. 

Eleutheropulos,  Die  Philosophie  und  die  sozialen  Zustände  des  Griechen- 
tums.    3.  Auflage.     Zürich,   Orell  Füssli. 

Hamburger,  M.,  Das  Form-Problem  in  der  neueren  deutschen  Ästhetik 
und   Kunsttheorie.      Heidelberg,   C.  Winter. 

Krueger,  F.,  Über  Entwicklungspsychologie,  ihre  sachHche  und  geschicht- 
liche  Notwendigkeit.     Leipzig,   W.  Engelmami. 

Külpe,   O.,   Die   Ethik   und   der   Krieg.     Leipzig,    S.   Hirzel. 

Löwenstein,  A.,  Der  Rechtsbegriff  als  Relationsbegriff.  Studien  ziu-  Me- 
thodologie  der   Rechtswissenschaft.     München,   C.  H.  Beck. 

Pfannkuche,  A.,   Staat   und   Kirche.     Leipzig,   Teubner. 

Schafheitlin,  A.,  Lehrbuch  des  Lachens.  Spiegel  der  Modernität.  Zürich, 
Orell  Füssli. 

Schnyder,  O.,  Grundzüge  einer  Philosophie  der  Musik.     Frauenfeld,   Huber. 


Wirkt  die  Tiagödie  auf  das  Gremüt  oder  den 
Verstand  oder  die  loralität  der  Zuschauer? 


oder 


Der  aus  den  Schriften  des  iristoteles  erl)rac]ite 

wissenscliafüiclie  Beweis  für  die 
intellektualistisclie  Bedeutung  von  „Katharsis". 


Von 


Stephan  Odon  Haupt, 

Znaim. 


Erkenne  dich  selbst  I 


Preis  Mk.  2,50. 


-H- 


BERLIN 

W  57,  Biüowstrafse  56 

Druck  und  Verlag  von   Leonhard  Simion  Nf. 

1915 


Zitate  aus  Aristoteles  sind  nach  der  Berliner  Ausgabe  von  Inim. 
Bekker  angefühlt.  Absichtlich  habe  ich  bei  den  wichtigen  Beweis- 
stellen stets  den  griechischen  Text  und  die  deutsche  Übersetzung 
angeführt,  damit  den  Lesern  das  doppelte  lästige  Nachschlagen  er- 
spart bleibe.  Die  Übersetzungen  sind  großenteils  der  Langenscheidt- 
schen  BibHothek  entnommen,  einige  mußte  ich,  da  ich  anderer  An- 
sicht war  als  die  Übersetzer,  ganz  oder  teilweise  ändern.  Ein  bei- 
gefügtes (St.)  bedeutet  die  Übersetzung  von  Stahr,  ein  (B.)  die  von 
Bender,    Wo  nichts  hinzugefügt  ist,  ist  es  meine  Übersetzung. 

Sonstige  Abhandlungen,  die  benutzt  wurden,  sind:  Bernays,  Zwei 
Abbandlungen  über  die  Ai-istotehsche  Theorie  des  Drama.  Berlin,  Hertz, 
1880.  Zeller,  Philosophie  der  Griechen.  Leipzig,  Reisland,  1879.  Blaß, 
Attische  Beredsamkeit.  Leipzig,  Teubner,  1868.  Littig,  Andronikos 
von  Rhodos.  Programm,  München,  1890.  Gomperz-Berger,  Aristoteles' 
Poetik.  Leipzig,  Veit,  1897.  Stisser,  Nochmals  die  Katharsis  in  Aristo- 
teles' Poetik.  Program.m,  Norden,  1889.  Finsler,  Piaton  und  die 
AristoteMsche  Poetik.  Leipzig,  Spirgatis,  1900.  Knoke,  Begriff  der 
Tragödie  nach  Aristoteles.  Berlin,  Weidmann,  1906.  Süß,  Ethos. 
Leipzig,  Teubner,  1910.  Goethes  Werke.  Leipzig,  Hesse.  Haupt, 
Dispositionen  der  Aristotelischen  Theorie  des  Dramas.  Programm, 
Znaim,  1907.  Haupt,  Die  Lösung  der  Katharsistheorie  des  Aristo- 
teles. Znaim,  Fournier  &  Haberler,  1911.  Haupt,  Die  Wiedergeburt 
der  Tragödie.   Wien,  Alfred  Holder,  1912. 


Eines  der  höchsten  Ziele,  dem  der  Kulturmensch  zustrebt,  ist 
die  Erhebung  der  Kunst  zur  Wissenschaft;  denn  dann  ist  die  echte 
Kunst  von  der  Afterkunst  und  die  berechtigte  Kritik  von  der  After- 
kritik von  selbst  geschieden  wie  der  Weizen  von  der  Spreu.  Daß 
diese  „Wissenschaft  der  Kunst"  schon  im  Altertum  von  Aristoteles 
erreicht  worden  war,  bezeugt  das  uns  erhaltene  Fragment  seiner 
Poetik  sowie  das  zielbe^vußte  und  unbestrittene  Schaffen  und  Wü-ken 
der  alexandi-inischen  Gelehi-ten,  denen  die  Ai-i&totehsche  Poetik  als 
Grundlage  ihi'er  lü-itik  diente.  Leider  ist  uns  diese  Poetik  desAi'istoteles, 
wie  gesagt,  nm-  bruchstückweise  erhalten  und  gerade  seine  Fundamen- 
tallehre, die  sogenannte  Katharsistheorie,  hat  die  Ungunst  der  Zeit 
verschlungen.  In  zwei  Abhandlungen,  „Die  Lösung  der  Katharsistheorie 
des  Aristoteles"  und  „Die  Wiedergeburt  der  Tragödie",  habe  ich  mich 
bemüht,  die  Aristotelische  Lehre  wiederherzustellen  und  die  Grund- 
lagen zu  einer  Wissenschaft,  zunächst  der  chamatischen  Kunst,  neu 
zu  schaffen  und  so  che  Stheidiing  der  echten  Tragödie  von  den  anderen 
Dramenarten  und  die  Zm'ückdrängung  der  sich  immer  mehr  breit- 
machenden subjektiven  Kritik  zu  ermöghchen.  Trotzdem  muß  ich 
gestehen,  daß  ich  selbst  noch  nicht  ganz  von  dem  Ergebnis  meiner 
langjährigen  Studien  über  die  Whkung  der  Tragödie  befriedigt  war, 
und  die  nachfolgende  Arbeit  soll  meine  vorhergehenden  oben  genannten 
Abhandlungen  berichtigen  und  ergänzen.  Zunächst  wollen  wir  den 
streng  logischen,  ganz  voraussetzungslosen  Beweis  aus  Aristoteles 
selbst  führen,  daß  die  Definition  der  Tragöehe,  die  Aristoteles  im 
6.  Kapitel  seiner  Poetik  gibt,  richtig  und  vollständig  ist  und  nichts 
Überflüssiges  enthält,  und  wie  sie,  wenn  sie  richtig  ist,  übersetzt 
werden  muß,  d.  h.  wa^  die  einzelnen  Worte  bedeuten.  Voraussetzungs- 
lo?  muß  der  Beweis  deshalb  sein,  weil  einige  Forscher  sogar  behaupten, 
daß  der  Schlußsatz  über  die  AVirkung  der  Tragödie  gar  nicht  in  die 
Definition  gehört,  sondern  nm*  aus  polemischen  Gründen  von  Aristoteles 
absichthch  der  Definition  angehängt  wm'de. 


6  Stephan   Odoii   Hmpt, 

Aiüstoteles  definiert  die  Tragötlie  als  die  .,iiiinnu^  jrQic^.eoj^ 
öJiovöaiaq  xai  reXticu,  fJtyt>}-oc  ayovo/jg,  /'/dvOfitroj  ^jr/cp,  X^'^i"^ 
kxdüTor  Twr  elÖojv  iVToig  {fOQioig.  dQOJWOJV  xcu  ov  di  djtay/eX'iac. 
(Si  DJoi^  xca  ffcji-iov  JTEQab'orrxi  t/)}'  töjv  TOiovrfDV  rraih/judTcjv 
xiUfaQOir''^. 

Eine  richtige  Definition  anfzustellen,  ist,  wie  .Vristoteles  sagt, 
das  Schwierigste  und  dabei  ist  sie  doch  am  leichtesten  zu  wider- 
legen^). Wie  man  zu  einer  richtigen  Definition  kommt,  gibt  er  in  den 
Anal.  post.  13.  Kap.  in  so  klarer  Weise  kund,  wie  etwa  ein  tüchtiger 
Mechaniker  einen  komplizierten  ^lechanismus  klar  und  kurz  erklärt, 
wobei  der  Hörer  mit  dem  Kopfe  nickt,  um  anzudeuten,  daß  er  alles 
verstellt,  obgleich  er  nichts  versteht,  weil  er  sich  schämt  einzugestehen, 
daß  er  den  Erklärer  nicht  versteht. 

Eine  Definition  darf  nach  des  Aristoteles  eigenen  Worten  nichts 
anderes  enthalten  als  den  ersten  Gattungsbegriff  und  die  Unter- 
schiede 2). 

In  der  Definition  der  Tragödie  ist  also  „ulin/oiS'  das  .-ronZrov  yhoc. 
der  erste  Gattungsbegriff,  alles  andere  sind  Unterschiede.  Über  den 
Gattungsbegriff  sagt  er:  „Der  Gattungsbegriff  hat  den  Zweck,  das 
anzugeben,  was  etwas  ist,  und  muß  deshalb  an  die  Spitze  der  Definition 
gestellt  werden^).  Mit  aneleren  Worten:  Der  Gattungsbegriff  ist  nach 
unserem  grammatikalischen  Sprachgebrauch  immer  ein  Prädikats- 
substantiv. Über  die  Unterschiede  sagt  er:  „Der  Unterschied  ist  eine 
Eigenschaft*)  des  Gattungsbegriffes"^).  ., Unterschied  ist  niemals 
Gattung,  denn  kein  Unterschied  zeigt  an,  was  eine  Sache  ist,  sondern 
jeder  Unterschied  ist  vielmehr  ein  Attribut.^")  Ferner  heißt  es:  „Es 
ist  klar,  daß  der  keine  Definition  aufgestellt  hat,  welcher  nicht  mittels 


')  QÜGiov  TvdvTtüv  vqov  uvutQBiVj  xaraGxsvuQetv  da  xuXstiwtutov. 
Topik  ri  5.  151a  17. 

^)  ovdev  ydo  hsoöv  ionv  iy  t(Ö  öqiGijcö  ttXijv  x6  re  ttowtov  7^fy6fisvov 
yivoc  xat  ul  öiucpooai.    Metaphysik  ^  12.  lü;>7b  29. 

^)  zö  öi  yirog  ßovLixui  xö  xt  icxi  GrjfiaCvetv  xat  TtqüJxov  vTXoxC^exui 
xuiv  iv  XM  ÖQiGfjxö  leyo/Jirwv.    Topik  ^  5.  142l>  27. 

*)  oder  nach  unserem  grammatikalischen  Sprachgebrauch  ein 
Attribut 

*)  ^  SiucpOQÜ  TTOiöxrixa  xov  yerovg  GrjfJuCrai,.     Topik  6  6.  128»  26. 

'')  ovSsvug  t]  Stcf.(poQÜ  yevog  iaxfr '  ovdsfiCa  ydo  dtaffood  Gi]fiuivsi,,  xf 
aGxiv,  uXXd  fiülXov  not,6v  xi  '  Topik  d  2.  122^  15. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  7 

früherer  und  bekannterer  Bestimmungen  definiert  hat^);  denn  wer 
gut  definiert,  muß  ja  doch  mittels  der  Gattung  und  der  Unterschiede 
definieren;  diese  gehören  aber  zu  dem,  was  schlechthin  bekannter 
und  früher  ist  als  die  Art.''^)  Ferner:  „Ein  Unterschied  ist  nie 
etwas  Akzidentelles,  we  auch  die  Gattung  nicht;  denn  es  ist  nicht 
möglich,  daß  der  Unterschied  einer  Sache  zukomme  und  auch  nicht 
zukomme.^")     B. 

Auf  Grund  dieser  Lehrsätze  wollen  wii  zunächst  den  Anfang 
der  Definition  der  Tragödie  durchgehen.  „Die  Tragödie  ist  die  Nach- 
ahmung einer  Handlung."^")  „Tragödie"  ist  der  zu  definierende  Be- 
griff, die  Art,  „Nachahmung"  ist  der  erste  Gattungsbegriff.  Da  dieser 
bekannter  sein  muß  als  die  Art,  so  muß  Aristoteles  seine  Abhandlung 
über  die  Nachahmung  und  ihre  Arten  schon  frühei  vorgetragen  haben, 
es  muß,  wie  ich  dies  in  der  „I^ösung  der  Katharsistheorie"  auseinander- 
gesetzt habe,  dem  uns  erhaltenen  unvollständigen  Buch  über  die 
Poetik  ein  Buch  vorausgegangen  sein,  oder  mit  anderen  Worten: 
das  uns  erhaltene  Buch  der  Poetik  ist  nicht  das  erste,  sondern  das 
zweite  Bach  und  dieses  ist  zudem  unvollständig,  da  die  Abhandlung 
über  die  Komödie  und  den  Dithyrambus  fehlt. 

„Handlung"  ist  der  erste  Unterschied,  also  das  erste  Attribut 
zu  Nachahmung.  In  unserem  Fall  ist  aber  „Nachahmung,  „(ilinjaic:'' 
nur  ein  verkapptes  Verbum  und  „Nachahmung  einer  Handlung"  ist 
demnach  nur  eine  Periphrase  für  ,, nachgeahmte  Handlung"  und 
steht  statt:  „Die  Tragödie  ahmt  Handelnde  nach".  Jetzt  versteht 
man  auch,  warum  Ai-istoteles  gleich  am  Anfang  der  Poetik  von 
Objekten  und  nicht  Attributen  der  Nachahmung  spricht,  ferner  von 
den  Mtteln  und  der  Art  und  Weise  der  Nachahmung^  i). 


'i  SrjXoi'  ow  bn  ovy  iÖQiarai  6  ,u>J  diu  tiqotsqwv  xal  yvujoifiMTiowr 
öoiGdfJSi'og  •  Topik  l,  4.  141b  1. 

**)  eYjiEQ  dsl  jj^sv  d'id  rov  yavovc  xal  twi'  d'iacpoQwv  OQi'QeGS^ai,  toi' 
xu'uZq  VQtQöi^svorj,  rama  de  rüJv  uTiXcüg  yi'wgi/JcoTiouJV  xal  nQOiiqLov  rov 
sl'dovg  iaitv  '  Topik  ^  4.  1411»  25. 

^t  ovdsfiCu  ydg  dtacpoga  twv  xutu  Gv/jßsßijxöc  vTrao/övriov  iöiC, 
xa&ujrsQ  ovSe  t6  yivog  '  ov  yuq  IvdixsTui,  T7]p  diacpoQur'  VTidq^siv  tivI  xal 
fjkt]  vTidq^ur.    Topik  ^  6.  144»  24. 

^°)  ißTiv  ovv  Tquywdia  /.u/nriaig  nqa^iojg. 

")  TiuGui  ivy/^dvovGii'  ovGui  ^priGSig  to  Gl'io'aov,  diuffioovGi  Si 
u/J.7]X(xJv  jqiGlv,  rj  yuq  zw  tv  hiqoig  (ji^hgO^ui,  (Mittel)  i]  rw  sreou  (Ob- 
jekte) i]  TCO  hiqwg  (Art  und  Weise)  xul  /j/i]  tov  uvrov  Tqönor  '  Poetik  1. 
1447a  If).    '         ' 


8  Stephan  Odon  Haupt, 

Es  folgt  also  zunächst,  da  „Nachahiuung''  ein  verkappter  V^erbal- 
begriff  ist,  daß  der  erste  Gattungsbegriff  dieser  Definition  in  die 
Kategorie  des  Tuns  {jvoulr)  fällt.  Aristoteles  unterscheidet  10  Kate- 
gorien: 1.  Das  Was(T/),  2.  die  Quantität  (jroöor),  3.  die  Qualität  (jioior), 
4.  die  Relation  (jr(>oc  n),  5.  das  Wo  (jiov),  6.  das  Wann  (.tots),  7.  das 
Liegen  (xeiaO-aiJ,  8.  das  Haben  ßyuv),  9-  das  Tun  {jtoieiv),  10.  das 
Leiden  jräaxfiv).  Die  Kategorien  des  Tuns  und  Leidens  erörtert  er 
nur  ganz  kiu'z.  Im  9.  Kapiiel  der  Kategorien  (11^1)  sagi  er  nur,  daß 
diese  Kategorien  die  Entgegensetzung  und  das  Mehi-  und  Minder  an- 
nehnieni2).  Auch  im  9.  Kapitel  des  1.  Buches  der  Topik  (103^  20  ff. ) 
läßt  er  uns  bezüglich  dieser  Kategorien  im  Unklaren. 

Wichtig  sind  flu-  uns  folgende  Sätze:  „Das  Akzidens,  die  Gattung, 
das  Eigentümhche  und  die  Definition  werden  immer  in  einer  dieser 
Kategorien  enthalten  sein"^^^),  und  „Gattung  und  Art  müssen   der- 
selben Kategorie  angehören"!'*).     Wenn  demnach  „Nachahmung"  zur 
Kategorie  des  Tuns  gehört,  was  ja  selbstverständlich  ist,  so  gehört 
auch  „Tragödie"  ziu-  Kategorie  des  Tuns,  weshalb  auch  Aristoteles 
sie,    sowie   die  Komödie  usw.  unter   die  „rtyvrj  jioifjTixj]'"  einreiht. 
Wü-  haben  es  also  in  dieser  Definition  mit  Verbalbegriffen  zu  tun. 
Nachdem  „Nachahmen"  ein  transitives  Verbum  ist,  so  ist  der  erste 
Unterschied   im   Akkusativobjekt   zu   suchen,    äk    anderen   Unter- 
schiede könnten  diu'ch  andere  Objekte  und  dm-ch  die  Umstände  des 
Ortes,  der  Zeit,  der  Ali;  und  Weise  und  des  Grundes  ausgedrückt  sein. 
Das   Verbum   „Nachahmen"   wkd  nm-   durch  ein   Aklmsativobjekt 
näher  bestimmt;  alle. anderen  Bestimmungen  sind  daher  adverbiale. 
Da  aber  Aristoteles  am  Anfang  der  Poetik  in  der  bereits  zitierten 
Stelle   1447^^  15    nur   von    den  Objekten    {tcö  txeQaj,   den  Mtteln 
{tm  h  hkQoig)  und  der  Art  und  Weise  {zcö  tTtQcog)  der  nachahmenden 
Darstellung  spricht,  nach  deren  Differenzierung  Fich  die  verschiedenen 
Arten  der  nachahmenden  Darstellung  ergeben,  so  müssen  wü-,  da  er  von 
den  Umständen  des  Ortes,  der  Zeit  und  von  den  anderen  Umständen  des 


12)  ivöixsTUt  öe  xal  ro  jroieTr  xal  ro  ndoxH'V  srafiioTrjTa  xai  rd 
fuLÜXXov  xui  TÖ   rJTTOr. 

'^)  u8t  yuQ  t6  Gvfißfß)]xdc  xal  rö  /f'roc  xul  xd  yöiov  xal  6  cQißfidc  iv 
fjim  TOvTüJV  Twv  xairjyooiuJv  iGiui.    Topik  «  9.  103^  23. 

")  vjto  Tiijv  avxiiv  6t,aiQiGiv  dsl  i6  ytroc  tm  iidiv  dvai.  Topik  ö  1. 
121a  6.  Daß  hier  diuCqiGig  soviel  wie  xaitiyoQlu  ist,  wie  Bonitz  im  Index 
bemerkt,  ergibt  sicli  aus  Topik  6  1.  120  b  36  ö". 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  9 

Grundes  an  dieser  Stelle  nicht  spricht,  annehmen,  daß  diese  entweder 
akzidentell  sind,  —  der  Unterschied  darf,  wie  wir  oben  gesehen  haben, 
,,nie  etwas  Akzidentelles  sein,  wie  auch  die  Gattung  nicht;  denn  es  ist 
nicht  möghch,  daß  der  Unterschied  einer  Sache  zukomme  und  auch 
nicht  zukomme"  —  oder  allen  von  ihm  erwähnten  Arten  der  Nach- 
ahmung, dem  Epos,  der  Tragödie,  Komödie,  dem  Dithyrambus  usw. 
gemeinsam  sind  und  daher  keine  Differenzierung  ergeben.  Nun  sind 
Ort  und  Zeit  tatsächlich  akzidentell;  denn  es  ist  gleichgültig,  ob  ein 
Drama  im  Altertum  oder  in  der  Neuzeit,  in  Japan  oder  in  Frankreich 
spielt;  tatsächlich  finden  wir  auch  in  der  Tragödiendefinition  keine 
Andeutung  eines  Ortes  oder  einer  Zeit.  Von  den  übrigen  Umständen 
des  Grundes  kann  man  dies  aber  nicht  behaupten.  Bei  allen  ver- 
nünftigen Handlungen,  also  auch  bei  den  Nachahmungen  von  solchen 
Handlungen  muß  es  irgendeinen  Beweggrund  geben,  also  eine  Absicht 
des  Handelnden,  resp.  Nachahmenden,  und  zu  ihrer  Erreichung  muß 
der  Handelnde,  resp.  Nachahmende  bestimmte  Mttel  anwenden,  es 
müssen  also  in  jeder  Tragödie  der  Zweck  and  die  Mttel  zum  Zweck 
erfcichtüch  sein.  Soll  dieser  Zweck  nicht  ein  akzidenteller  sein,  so 
muß  er  sich  der  Wirkung  anpassen.  Tatsächlich  hat  Aristoteles, 
wie  aus  dem  Ausdruck  ,,:itQaivovöci'  ersichtüch  ist,  die  Wirkung  in 
die  Definition  der  Tragödie  aufgenomm,en,  eigentlich  nach  dem  Ge- 
sagten aufnehmen  müssen.  Da  er  aber  bei  den  Unterschieden  der 
Nachahmung  von  dem  Zweck,  resp.  der  Wü-kung  nicht  spricht,  so 
muß  das  in  diesem  Umstand  des  Grundes  Ausgedrückte  allen  von  ihm 
aufgezählten  Arten  der  Nachahmung,  also  insbesonders  dem  Epos, 
der  Tragödie,  Komödie  und  dem  Dithyrambos,  gemeinsam  sein,  denn 
sonst  hätte  er  diesen  Unibtand  des  Grundes  bei  den  Unterschieden 
der  Nachahmung  anführen  müssen.  Anderseits  kann  dieser  Umstand 
des  Grundes  schon  deshalb  nicht  akzidenxeU  sein,  weil  sonst  Aristoteles 
diesen  Umstand  des  Grundes,  die  Wirkung,  nicht  in  die  Definition 
aufnehmen  hätte  dürfen.  Denn  dann  hätte  er  falsch  definiert,  da  er 
etwas  Akzidentelles  aufgenommen  hätte,  was  ihm  seine  Feinde 
und  Neider  nicht  stillschweigend  hingenommen  hätten.  Schon  daraus 
ergibt  sich  also,  daß  die  „Katharsis"  weder  wegen  Plato  noch  wegen 
eines  anderen  Philosophen  der  Definition  der  Tragödie  angehängt 
wurde,  sondern  ein  unbedingt  notwendiger  Unterschied  sein  muß, 
also  zur  Defiintion  gehört,  weil  diese  sonst  unvollständig  wäre,  ferner, 
daß  Aristoteles  nur  der  Logik  folgte,  weder  Rücksicht  nehmend  auf 


10  Stephan  Odon  Haupt, 

die  Dramen  noch  auf  Plato  oder  einen  anderen  Philosophen,  auch 
nicht  auf  die  Rhetorik,  sondern  wie  unser  deutscher  Aristoteles, 
Leasing,  sagt,  als  wahrer  Kunstrichter  keine  Regeln  aus  seinem  Ge- 
schmack folgerte,  sondern  seinen  Geschmack  nach  den  Regeln  ge- 
bildet hat,  welche  die  Natur  der  Sache  erfoidert.  Daflir  gibt  es,  weil 
ArL^oteles  aUes  Icgisch  ableitete,  keine  Kunstart,  ja  es  kann  keine 
neue  erfunden  werden,  die  sich  nicht  in  sein  Schema  der  darstellenden 
Künste  einreihen  Meße,  es  gibt  kein  Drama,  das  sich  nicht  leicht 
und  zwanglos  in  sein  Schema  der  Dramen,  das  ich  in  der  „Wieder- 
geburt der  Tragödie"  erneuert  habe,  einreihen  und  erklären  ließe. 
Denn  sonst  wäre  ja  seine  Definition  der  Tragödie  unrichtig,  wie  die 
Bernaysianer  bei  ihrer  irrigen  Auslegung  der  Tragödiendefinition 
immer  wieder  mit  Vergnügen  konstatiert  haben.  Wir  rekapitulieren: 
In  der  Definition  der  Tragödie  finden  wir  also,  nachdem  wir  f  es  [gestellt 
haben,  daß  „Nachahmung"  ein  Verbalbegriff  ist,  daß  die  einzelnen 
Glieder  der  Definition  folgendermaßen  zusammengehören:  (ji/irjOig 
=  Nachahmung  ist  der  erste  Gattungsbegriff,  alles  andere  sind  Unter- 
schiede, u.  zw.: 

ist  jiQa^ewc  identisch  nüt  dtm  Akkusativobjekt  =  jigäzTovrac., 
öJtovdaiag  zal  TElsiaQ,  fiiYsihoc,  £xov67jq,  die  Attribute  zu  jigä^scog, 
sind  eigenthch,  da  auch  jiQÜ^Ecoq  ein  Verbalbegriff  ist  und  dem 
jiQärrovrac  entspricht,  Adverbia;  rjÖvGfiivfp  löyci  drückt  das 
äußere  Mittel  der  Darstellung  aus,  es  ist  noch  näher  bestimmt  durch 
die  begleitende  Folge:    xcoqIq  sxdözov  rröi:  eidwv  tv  rote  {joqioic: 

ÖQojvTOJv  y.ai  nv  dl  djcayyeJJag  bezeichnet  die  Art  uvd  Weise 
der  Darstellung; 

Durch  dl  tXkov  xcd  (poßoi^  jrsgaivovoa  rr/v  tmv  roiovrcor 
xaihrjiidTmv  xäd-agOLV  ist  die  Wirkung  samt  ihren  Mitteln  bezeichnet. 

Von  diesen  Ausdrücken  hat  Aristoteles  die  Bezeichnungen: 
„fjdvantvcp  Xoyfp^  XcoQig  I'/mötov  rcöv  tlöoJv  Iv  rolg  /to^tioig, 
ÖQcovtatv  xcd  ov  öl  cmayyüAag^''  selbst  deuthch  erklärt.  Uns  obüegt 
es  also,  die  näheren  Bestimmungen  zu  jxiiä^uog  und  den  Schlußsatz 
genau  zu  zerghedern  und  zu  erklären. 

Was  nun  die  Worte  ,,6jTovdaiag  xai  Tt/.siag,  [ilytii-og  ex^v^^i?" 
anlangt,  so  ist  der  Ausdruck  ^.fi^yedog  lyoüörjg"'  auch  unzweideutig 
auseinandergesetzt.  Anders  verhält  es  sich  mit  den  Worten  „ö.7rovd'ß/«c 
xai  Tsleiag",  die  man  gewöhnhch  mit  ,, ernst"  und  „vollendet" 
übersetzt. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  1 1 

Von  den  Bestandteilen  einer  Definition  verlangt  Aristoteles, 
daß  sie  unbedingt  bekannt  und  klar,  d.  h.  eindeutig  sind.  Namentlich 
müsse  man  sich  vor  Homonymen  hüten;  es  ist  dann  unklar,  welche 
von  den  verschiedenen  Bedeutungen  gerade  gemeint  ist^^).  „Es  ist 
also  klar,"  heißt  es  dann  in  dem  schon  zitieiten  Satz,  „daß,  wer  nicht 
mittels  früherer  und  bekannterer  Bestimmungen  definiert  hat,  keine 
Definition  aufgestellt  hai.''^^)  Nachdem  die  Worte  „(movöalog'" 
und  ,,T£?.£Log'  vieldeutig  waren,  mußte  also  Aristoteles  die  in  der 
Definition  geltende  Bedeutung  dieser  Worte  unmittelbar  vor  oder 
nach  der  Definition  genau  fixiert  haben.  TafcsächHch  führt  Aristoteles 
den  Ausdruck  „ojtovöcäog'  schon  im  2.  Kapitel  seiner  Poetik  (1448''  1) 
ein,  indem  er  sagt:  „Lrd  de  iiifiovvrai  ol  fdfiovfiEvoi  Jigarrovraq^ 
äväyTcrj  öl  rovrovg  ij  Ojrovöaiovg)]  (pavlovgelvai'' ,  und  1448=^17  heißt 
es:  „?)  nlv  jag  xojficpöia  xEiQOvg,  tj  6e  Tgayroöia  ßsZziovg  [Ufiaad-aL 
ßovXstaL  rmr  rvvJ'  Daraus  ist  klar,  daß  an  dieser  Stelle  die  „OJtov- 
dcäoi"  identisch  sind  mit  ,,ßtXriovg  zcöv  vZv'\  daß  er  dagegen  unter 
,,(f.avXoL'  die  ,,ydQovg  röiv  vvv''  versteht.  Weil  aber  in  1448*^  34 
„öjrovöaloc''  scheinbar  im  Gegensatz  zu  „ysloiog"  steht,  hat  man 
..rjjrovöalog"  mit  „ernst",  .,yshHog'  mit  „lächerHch"  übersetzt.  Und 
doch  steht  bei  Aristoteles  ,,ü.-rovdaiog'  immer  in  der  Bedeutung  von 
„außergewöhnUch".  „Ernst"  heißt  bei  ihm  „öf//roc".  Aristoteles  hebt 
an  dieser  Stelle  (1448^  34)  nur  hervor,  daß  Homer  der  erste  richtig 
dramatisiert  und  komödisiert  hat,  indem  er  zu  Helden  seiner  Epen 
„Gjrovöaioi'g''  nahm,  während  die  ersten  Dramatiker  Tugrnd- 
helden  vorführten.  „Die  ernsteren  Dichter  ahmten  herrliche  Hand- 
lungen, u.  zw.  tugendhafter  Menschen  nach^").  Homers  Helden,  die 
ojtovSaioi,  sind  keine  Tugendmenschen,  sondern  wohl  keine  gemeinen 
Menschen,  aber  doch  mit  Fehlern,  ja  sogar  großen  Felilern  behaftete. 
„Die  leichtlebigeren  Dichter  ahmten  die  Handlungen  der  gemeinen 
Menschen  nach,  indem  sie  zunächst  tadelten."^^)     „Homer  dagegen 


^^)  E'lg  fjev  ovv  totvoc  tov  dcaifujüc,  d  öfuorv/jör  iGrl  rin  tö  siqi]- 
fiivov  •  .  .  .  .  (lö}]lov  ovv  oTroTSQOv  ßovXeTui  ItyHV  Tiüv  örjlovfiivujv  vno 
TOV  nXeoru^Mc  leyopivov.     Topik  L,  2.  139''  19. 

^^)    S^XOV   ovv   ÖTl    OVX   WQlGTUl    6   ^Yl    8ld    TiqOjiqiOV    Xai   yi'UJQl./JMT{QUJV 

ooiGupsvog.    Topik  ^4.  141  b  1. 

'^  oi  /jsv  yu.o  GefJVÖTeQoi  rdc  xaXuc  tfii^wvvro  Ttou^eic  xal  rag  twv 
TOiooTwV  Poetik  4.  1448b  25. 

'^  oi  öe  fvTsliGTSQOt  rüg  twv  cpuvlMV,  TiQWTor  ipöyovg  novovrr^g. 
Poetik  4.  1448b  2G. 


12  Stephan   Odon  Haupt, 

hat  richtig  nicht  den  Tadel  auf  die  Bühne  gebracht,  sondern  diese 
gemeinen  Menschen  lächerlich  gemacht"^^),  u.  zw.  nicht  alle  Hand- 
lungen der  gemeinen  Menschen,  sondern  nm*  diejenigen,  durch  die 
sich  dieselben  lächerlich  machen,  ohne  einen  Schmerz  oder  gar  den 
Untergang  deshalb  zu  finden^'').  Eine  „jiqcc^ic  fpai^xor'  ist  daher 
nicht  identisch  mit  „jigä^iQ  yeloia',  ebensowenig  als  die  „jiQägLc 
ojtovöaia'  dasselbe  bedeutet  wie  „jiQcc^ig  asf/r/j''''.  Diese  4  Begriffe 
sind  disparat.  Da  aber  die  Definition  nur  Merkmale  enthalten  darf, 
die  immer  zutreffen,  so  kann  und  darf  man  „ojrovdaiag"'  in  der  De- 
finition der  Tragödie  nicht  mit  ,, ernst"  übersetzen.  Denn  auch  der 
Dutzendmensch  kann  ernste  Handlungen  verrichtend^).  Was  näm- 
hch  dem  Dutzendmenschen  und  dem  einen  von  denen,  die  /loch 
schlechter  sind  als  er,  dem  böswiUigen  Furchxsamen,  immer  abgeht, 
ist  der  Wagemut  und  die  Entschlossenheit.  Und  gerade,  weil  dem 
gewöhnüchen  Menschen  diese  Eigenschaften  abgehen,  sind  solche 
Taten  für  ihn  interessant,  sie  packen  ihn.  Dazu  konmit  noch  eine 
djitte  Komponente.  Aristoteles  erklärt  in  seiner  gewohnten  nach- 
lässigen Weise,  nachdem  er  zuerst  „rfAtmc"  in  §  7  erklärt  hat,  das 
„öJtovöaiag''''  teilweise  erst  im  Kapitel  9.  „Aus  dem  Gesagten  ist 
klar,  daß  es  nicht  Aufgabe  des  Dichters  ist,  das  vorzubringen,  was 
zu  geschehen  pflegt,  sondern  das,  was  geschehen  soll  und  was  geschehen 
kann  nach  der  AVahi'scheinlichkeit  oder  Notwendigkeit"^^).  Also  eine 
„jtgä^ig  a.-rovdaia''  ist  zugleich  eine  Handlung,  wie  sie  eintreffen 
muß  {xara  ro  dvayyMLov),  oder  in  plausibler  Weise  eintreten  kann 
(xara  ro  Etxog  dvvaTf/),  oder  eintreten  soll  {ola  av  ytvoivo),  jeden- 
falls muß  sie  außergewöhnlich  sein. 

Wir  wollen  also  das  Wort  „öjiov<^aiog"'  in  seine  an  dieser  Stelle 
passenden  Komponenten  zerlegen  und  mit  „außergewöhnlich  wage- 
mutig und  entschlossen"  übersetzen. 


^^)  od  xfiöyov  dXXu  ro  ysXoTov  ÖQUfiuTOTion^Gug.  Poetik  4.  1448 1^  :^>7. 

-")  To  ydo  ysXoiöi'  ißriv  u/JUQTrjfid.  rt  xul  aißyoc  ui'wdvrov  xai  ov 
(pdaQiixöv.    Poetik  5.  1449  *  34. 

-')  Ebenso  wenig  ist  ,,G7tovÖuToc"'  identisch  mit  ,,xak6g  xul  uyud-oc 
=  tugendhaft"  und  „(puvlog"  mit  „fioyd^rjoög  =  Bösewicht".  Sondern 
wenn  wir  als  Dutzendmenschen  (ol  xad^'fifxüg)  die  gutmütigen  Furcht- 
samen annehmen,  so  sind  ßjrovSuXoi,  die  gutmütigen  Tollkühnen  und 
(puvlot  die  böswilligen  Furchtsamen  und  böswilligen  Tollkühnen. 

^^)  (puvsoor  de  ix  twv  dqmjivojv  xal  ort,  ov  ro  rd  ysv6fi?ra  Xiyeir, 
TOvto  7tot,T]TOv  iQyov  iüriv,  d)JJ'  ola  uv  yiroiTO  xai  rd  Svvurd  xard  ro 
atxdg  ^  10  dvuyxutov.    Poetik  9.  1451 »  36. 


i 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  13 

Auch  das  Wort  „rsXeiag"'  läßt  sicli  nicht  einfach  übersetzen, 
sondern  muß  auch  erst  in  seine  Komponenten  zerlegt  werden.  Diese 
Arbeit  hat  uns  Aristoteles  erleichtert,  indem  er  die  Komponenten 
selber  nennt.  In  Kapitel  7  finden  wir  neben  „Tslelag''  auch  „xal  oh]q'\ 
da?  in  Kapitel  8  noch  durch  „f/täg'  erweitert  wird,  „ölt]  (=  ganz) 
•ycccl  (lia  (=  einzig)  sind  also  2  Komponenten  von  „reZsla''.  Nun 
ist  aber  „ganz"  identisch  mit  „vollendet",  folghch  kann  „rt/f/ac" 
nicht  „vollendet"  oder  „in  sich  abgeschlossen"  allein  bedeuten. 

In  der  Metaphysik  6  16.  1021^  12  ff.  erklärt  Aristoteles  das 
Wort  .,T£Äüog''  zunächst  in  der  Bedeutung  „vollendet"  (von  der 
Zeit),  dann  „vollkommen",  ferner  als  das,  was  sein  Ziel,  sei  es  ein  gutes 
oder  schlechtes,  erreicht  hat.  „Ziel  und  Zweck  ist  aber  das  letzte", 
fügt  er  hinzu^^).  Was  also  seinen  Zweck  erreicht  hat,  hat  auch  sein 
Ziel  erreicht.  Da  w  also  auch  diese  Komponente  in  „zsUiag" 
berücksichtigen  müssen,  die  Aristoteles  in  der  Ethik  und  Metaphysik 
durch  das  Wort  „jiQoaLQezöv'  ausdrückt,  was  unserem  „planvoll" 
entspricht,  so  woüen  wir  das  „rf/f/ac",  entsprechend  seinen  3  Kom- 
ponenten oh^g,  fit-äg)  JtQoaiQszf/g'''',  mit  „einheitlich  und  planvoll 
abgeschlossen"  übersetzen.  Wer  handelt  aber  in  der  Tragödie  plan- 
voll? Nehmen  wir  z.  B.  die  Antigene  des  Sophokles.  Nur  Antigene 
handelt  planvoll,  Ivreon  läßt  sich  von  seinen  Stimmungen  hinreißen. 
Antigene  hat  nur  ein  Ziel:  lauten  Protest  zu  erheben  gegen  das  un- 
gerechte Gebot  Kreons,  mag  sie  dabei  umkommen  oder  nicht,  und  ihn 
zu  zwingen,  dieses  ungerechte  Gebot  zurückzunehmen.  Ihre  Absicht 
erreicht  sie  in  schauerlicher  Weise,  doch  so,  wie  man  in  ihrer  Lage 
handeln  muß  und  soU,  und  wie  es  auch  möglich  ist.  Daher  ist  ihre 
Handlung  packend,  interessant,  es  ist  eine  „ojrovdaia'',  eine  außer- 
gewöhnUch  wagemmige  und  entschlossene  Handlung.  Die  Handlung 
muß  aber  auch,  um  eine  „rf^-fm"  zu  sein,  ganz  oder  abgeschlossen 
sein,  d.  h.  Anfang,  Mitte  und  Ende  haben.  Der  Anfang  ihrer  Handlung 
ist  der  Anstoß,  die  Veranlassung,  das  ungerechte  Gebot  Ivreons, 
Mtte  ist  ihre  Verhaftung  und  Verurteilung;  weil  sie  ih.e  Absicht 
durchsetzt,  d.  h.  weil  Kreon,  auch  nachdem  sie  zum  Tode  abgefülirt 
wurde,  durch  die  begleitenden  Umstände  veranlaßt,  doch  nachgeben 
mußte,  ist  ihre  Handlung  beendet,  also  abgeschlossen.  Und  weil  sich 
alles  nur  um  das  Eine  dreht,  daß  die  veranlassende  Ursache,  das  un- 


■^•^)  liXog  ös  xat  tö  ov  ivaxa  iG^^TOv. 


14  Stephan  Odon  Haupt, 

gerechte  Gebot,  aufgehoben  werde,  ist  die  Handlung  auch  eine  „ein- 
heithche,  ///«".  Und  weil  Antigone  vorbedacht  handelt,  so  ist  die 
Handlung  „planvoll,  jTQoaiQar/j'';  die  ganze  Handlung  ist  mithin 
eine  „rsXsia'.  Die  spannende  Handlung  bezieht  sich  aber  nur  auf 
die  Niederzwingung  des  Mächtigen,  der  den  Anstoß  zu  ihr  durch 
irgendeine  Gewalttat  oder  einen  Akt  des  Übermuts  gegeben  hat. 
Schon  daraus  folgt,  daß  alle  Dramen,  die  nur  die  Tat  des  Übermütigen 
behandeln,  also  nur  den  Arfang  bringen,  keine  Tragödien  sind,  so 
z.  B.  die  „Emilia  Galotti"  von  Lessing.  Ja,  solche  Dramen  sind  direkt 
verwerfhch,  denn  sie  sanktionieren  den  Frevelmut  der  Tyrannen. 
So  erklärt  sich  der  einseitige  Beifall,  den  solche  Dramen  finden.  Erst 
Grillparzer  hat  den  Fehler  Lessings  gut  gemacht,  indem  er  im  „Treuen 
Diener  seines  Herrn"  die  eigentliche  Tragödie  zur  „Emilia  Galotti" 
schuf. 

Ferner  ergibt  sich  aus  dem  oben  Gesagten,  daß  die  Schicksals- 
tragödien, zu  denen  ich  aber  nur  die  reebne,  die  einen  neuen  treibenden 
Faktor  unmotiviert  einführen,  eo  ipso  schlechte  Tragödien  sind; 
Aristoteles  selbst  nennt  solche  Tragödien  „episodenhafte,  tjieiaoöio)&?f'. 
In  ihnen  ist  die  Handlung  nicht  planvoll  abgeschlossen  {zeXsta), 
weil  eben  ein  neues  Element  hinzutritt,  das  außerhalb  der  Handlung 
steht  und  mit  ihr  weder  natürhch  {xara  x6  dvayaLov),  noch  wie  es 
wahrscheinUch  sein  kann  oder  soll  (%ar«  t6  sizog),  sondern  nur  zu- 
fällig {y.aza  ro  öi\uß8ß?]xög)  in  Verbindimg  tritt,  was  bei  den  Zu- 
schauern wohl  Staunen  und  Grauen  im  allgemeinen,  aber  nicht  geteilte 
Furcht  hervorruft.  Deshalb  sagt  auch  Aristoteles:  „Die  Dichter,  die 
uns  nicht  das  sinnlich  Fluchterregende,  sondern  niu*  ein  Wunder 
vorführen,  haben  mit  der  Tragödie  nichts  zu  tun^^).  Wohl  zu  unter- 
scheiden von  diesen  Schicksalstragödien  sind  solche,  in  denen  Geister 
oder  Orakel  oder  Ähnliches  eine  Kolle  spielen,  ohne  daß  sie  dabei 
ein  treibender  Faktor  sind.  Solchen  Dramen,  zu  denen  z.  B.  der 
Ödipus  des  Sophokles,  Schillers  Braut  von  Messina,  Giillparzers 
Ahnfrau,  Shakespeares  Hamlet  gehören,  schaden  diese  Geister- 
erscheinungen usw.  nichts,  denn  diese  Zutaten  sind  angeregt  durch 
Zeiteinflüsse,  man  kann  in  ihnen  diese  Zutaten  weglassen,  ohne  daß 
die  Handlung  den  Zusammenhang  verliert. 


24\ 


*)  ol  Ss  jWjJ  Tu  (foßaoov    6vd   Trjg   oxlnwg    u/Jm    rö   reQUTtüSeg   fiövov 
nuqa6-/.evdt,oviiQ  ovöiv  TQuyojöCu  xoiPtüvovGiv.    Poetik  14.  14ö3b  8. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  15 

Was  nun  den  Schlußsatz  anlangt,  der,  wie  wir  gezeigt  haben, 
schon  im  allgemeinen,  wenn  auch  mit  Unrecht,  angezweifelt  wird, 
so  hat  das  Wort  „Katharsis",  dessen  Erklärung  verloren  gegangen 
ist,  eine  verschiedene  Deutung  im  Laufe  der  Jahre  gefunden. 

Diese  verschiedenen  Deutungen  hat  Kiioke  in  seiner  Abhandlung, 
„Begriff  der  Tragödie  nach  Aristoteles",  so  kurz  und  treffend  zu- 
sammengefaßt, daß  ich  seine  Ausführungen  hierüber  hier  teilweise 
wiedergebe. 

„Und  nun  gar  das  Wort  xdOaQöig.  Was  hat  man  sich  nicht 
alles  unter  dieser  Handlung  vorgestellt!  Zwar,  daß  es  Reinigung 
bedeutet,  \vußte  man.  Aber  in  welchem  Sinn  sollte  eine  solche  Reinigung 
sich  vollziehen  ?  Wir  übergehen  hier  die  Erklärung  älterer  Gelehrten, 
wie  auch  Castelvetros,  der  in  seinem  1570  erschienenen  Kommentar 
der  Poetik  der  Ansicht  Ausdruck  gab,  Mitleid  und  Furcht  stumpften 
sich  bei' wiederholtem  Zuschauen  der  Tragödie  allmähhch  ab,  während 
Dacier  1690  sich  dahin  äußerte,  der  Zuschauer  überwinde  jene  Gefühle 
bei  dem  Vergleich  des  eigenen  Schicksals  mit  demjenigen  des  Helden. 
Auf  der  anderen  Seite  lag  es  nahe,  die  Katharsis  aus  der  Sprache 
prie^terhcher  Tradition  zu  erklären,  d.  h.  im  Sinne  einer  Scbuld- 
sühnung  zu  fassen,  i .  zw,  um  so  melir,  als  Aristoteles  selbt  an  einer 
anderen  Stelle  den  Ausdruck  so  verwendet^^).  Wiiklich  reichen 
denn  auch  derartige  Erldärungsversuche  noch  in  die  Zeiten  früherer 
Jahrhunderte  zurück.  (So  im  16,  Jahrhundert  bei  Lnmbinus,  ferner 
1611  bei  Heinsius,  endüch  bei  Herder.)  Gegen  diese  Auffassung  hatte 
sich  indessen  schon  Reiz  in  einer  im  Jahre  1776  erschienenen  Ab- 
handlang ausgesprochen,  indem  er  ganz  richtig'  den  vom  Philosophen 
gemeinten  Vorgang  als  eine  Reinigung  und  Befreiung  von  einer  kiank- 
haften  Gemütserregung  verstand.  Und  wirldich  steht  jener  Erklärung 
insbesondere  im  Wege,  daß  die  Katharsis  offenbar  doch  an  dem  Zu- 
schauer sich  vollziehen  soll.  Von  welcher  Schuld  soll  dieser  aber  denn 
entbunden  werden?  Der  Ausdruck  wäre  in  dem  bezeichneten  Sinne 
nur  verständhch,  wenn  er  auf  den  schuldbeladenen  Helden  selbst 
bezogen  werden  dürfte.   Das  ist  aber  doch  nicht  möglich. 

0.  Müller  wollte  die  Katharsis  aus  dem  bakchischen  Kultus  er- 
klären.   Es  seien  diejenigen,  die  nach  einem  wilden  Taumel  die  Ruhe 


^*)  145">b  14f.:  ohr  iv  icn  "OQißit]  t]  (xavta,  öl  i{q  iXi]q)d'r],  xal  i^  Gu>- 
rrjoCa  diu.  rrjg  xu&dgGewg. 


16  Stephan  Odon  Haupt, 

und  lOarheit  der  Seele  wiedererlangten,  als  die  Gereinigten  bezeichnet 
worden,  was  indessen  Döring  mit  der  Benierknug  zurückweist,  es  sei 
ja  der  Ekstatische  gerade  des  Gottes  voll  gewesen,  so  daß  er  unmöglich 
als  unrein  hätte  angesehen  werden  können.  Andere  faßten  die  Katharsis 
im  Sinne  einer  Reinigung  oder  Veredelung  des  Gemütes,  die  angesichts 
der  tragischen  Handlung  sich  vollziehe.     Diese  moralische  Wirkung 
legte  auch  Lessing  der  Katharsis  unter,  wenn  er  im  78.  Stück  seiner 
Dramaturgie  sich  folgendermaßen  äußerte:  „Da  närahch  diese  Reinigung 
in  nichts  anderem  beruht  als  in  der  Verwandlung  der  Leidenschaften 
in  tugendliafte  Fertigkeiten,   bei  jeder  Tugend  aber,   nach   unserem 
Philosophen,  sich  diesseits  und  jenseits  ein  Extremum  findet,  zwischen 
welchem  sie  inne  steht,  so  muß  die  Tragödie,  wenn  sie  unser  Mitleid 
in  Tagend  verwandeln  soll,  uns  von  beiden  Extremis  des  Mitleids  zu 
reinigen  vermögend  sein;  welches  auch  von  der  Furcht  zu  verstehen." 
Auch  ist  man  später  immer  meder  auf  diese  Anschauung  ziu-ück- 
gekommen.    (Den  Standpunkt,  daß  die  Wirkung  der  Tragödie  nach 
Aristoteles  eine  ethische  sein  müsse,  vertraten  insbesondere  Franz 
Biese,  „Die  Philosophie  des  Aristoteles",  Berlin  1842;  ferner  Brandis, 
„Aristoteles   und   seine   akademischen   Zeitgenossen",   Berlin    1857; 
sodann  Spengel,  „Über  die  Katharsis  twv  .■Jiad-7]!(aTcov,  ein  Beitrag 
zur  Poetik  des  Aristoteles",  München  1859.   Geradezu  wird  auch  wohl 
ein  ethischer  Zweck  angenommen,  so  von  Manns  in  Masius'  Jalirbuch 
1877  S.  256  ff.   Nach  ihm  soll  die  Tragödie  von  Selbstsucht  und  Über- 
mut reinigen.) 

Hingegen  ist  jedoch  mit  Recht  eingewandt  worden,  daß  die 
Tragödie  wie  alle  Kunst  ihrem  Wesen  nach  nicht  einen  moralischen 
Zweck  verfolgen  könne  und  daß  es  insbesondere  Aristoteles  fern- 
gelegen habe,  wenigstens  in  der  von  ihm  gegebenen  Definition,  eine 
solche  Aufgabe  dem  tragischen  Dichter  zuzuweisen.  Bezeichnet  er 
doch  an  anderen  Stellen  als  Zweck  der  Kunst  schlechthin  uns  die 
Lust.  Auch  Goethe  verwarf  die  besprocheire  Erklärung,  indem  er 
geltend  machte:  „Die  Musik  so  wenig  als  ngendeine  Kunst  vormag 
auf  Moralität  zu  wirken",  und  über  den  Zuschauer  der  Tragödie 
äußert  er,  „er  werde  nach  dem  Stück  um  nichts  gebessert  nach  Hause 
gehen". 

Im  Gegensatz  zu  jenen  nach  Lessings  Vorgange  vertretenen 
Anschauungen  entwickelte  Weil  in  einer  Abhandlimg,  flie  den  Ver- 
handlungen der  im  Jahre  1847  zu  Basel  tagenden  Philologenversamm- 


über  die  Wirkung  tier  Tragödie.  17 

liing  beigefügt  wurde,  zum  ersten  Male  die  Ansicht,  daß  die  Katharsis 
des  Aristoteles  auf  einen  medizinischen  Begriff  zurückzuführen, 
dagegen  jeder  moralische  Zweck  von  der  Tragödie  auszuschließen  sei. 
Die  Katharsis  wnke  ähnMch  wie  ein  ,,Piu'gativ'\  Während  jedoch 
die  Erklärung  dieses  Gelehrten  längere  Zeit  unbeachtet  blieb,  so 
erreichte  Bernays  einen  um  so  größeren  Erfolg,  als  er,  ohne  die  Schrift 
Weils  zu  kennen,  zehn  Jahre  später  in  einem  Aufsatz,  der  zuerst  in  den 
Abhandlungen  der  historischen  Gesellschaft  in  Breslau  erschien,  eine 
ähnliche  Ansicht  vortrug.  (Grundzüge  der  verlorenen  Abhandlung 
des  Ai'istoteles  über  die  Wkkung  der  Tragödie.  Breslau  1857.)  Nach 
Bernays  ist  der  Ausdruck  yAd^c.QOi^  „ein  ästhetischer  Terminus",  der 
als  solcher  erst  von  Aristoteles  „geprägt"  worden  ist.  Indem  Bernays 
nun  ebenfalls  jeden  sittlichen  Zweck  von  der  Tragödie  ausschheßt 
und  sich  mit  Entschiedenheit  dagegen  verwahi-t,  daß  sie,  wie  er  sich 
ausdrückt,  in  ein  ,,morahsches  Korrektionshaus"  verwandelt  werde, 
sondern  nur  den  ,, pathologischen  (besser  therapeutischen)  Gesichts- 
punkt" gelten  lassen  will,  besteht  nach  ihm  die  Katharsis  in  einer 
,, Entladung  der  Gemütsaffektionen",  die  dm'ch  Erregung  von  Mitleid 
und  Fiu'cht  in  der  Tragödie  bewirkt  wkd,  oder,  wie  er  sich  an  einer 
anderen  Stelle  äußert,  Katharsis  sei  ,,eine  vom  Körperlichen  auf 
Gemütliches  übertragene  Bezeichnung  für  solche  Behandlung  eines 
Beklommenen,  welche  das  ihn  beklemmende  Element  nicht  zu  ver- 
wandeln oder  zurückzudrängen  sucht,  sondern  es  aufregen,  hervor- 
treiben und  dadurch  Erleichterung  des  Beklommenen  bewirken  will". 

Es  war  nicht  nur  die  Neuheit  dieser  Ansicht  —  denn  die  Abhand- 
lung Weils  war  in  Deutschland  so  gut  wie  unbeachtet  geblieben,  — 
was  überraschend  wirkte,  sondern  die  streng  wissenscLaftüche  Methode, 
mit  der  der  verdienstvolle  Forscher  seine  Hypothese  vortrug,  war 
geeignet,  ihm  einen  bedeutenden  Anhang  in  der  Geleln-teuwelt  zu 
sichern.  In  der  Tat  Heß  sich  denn  auch  eine  stattliche  Zahl  von  Kennern 
der  griechischen  Tragödie  dm'ch  die  Bernayssche  Ansicht  gewinnen 
und  man  kann  wohl  sagen,  daß  sie  im  wesentlichen  gegenwärtig  noch 
die  herrschende  ist,  wenn  auch  zugegeben  werden  muß,  daß  sie  im 
Laufe  der  Zeiten  eine  m^ehrfache  Weiterentwicklung  oder  Umbildung 
erfahren  hat.' 

In  einer  Programmarbeit:  ,, Disposition  der  Aristotehschen 
Theorie  des  Dramas  und  Erldärung  einiger  Hauptpunlvte  derselben", 
Znaim  1907,  habe  ich  die  drei  Hauptansichten  über  die  Katharsis, 

2 


18  Stephan  Odon  Haupt, 

nämlich  die  Lessingisclie.  Goethische  luul  Bemaysische  zu  vereinigen 
gesucht  und  damit,  vde  sich  im  folgenden  zeigen  wird,  unbewußt 
wenigstens  teilweise  das  Richtige  getroffru.  Damals  schrieb  mir  Herr 
Universitätsprofessor  Dr.  Otto  Iramisch  in  Gießen  unter  dem  10.  X. 
1907:  „Bislang  glaube  ich  noch:  1.  daß  der  Passus  über  diu  Katharsis 
nur  infolge  einer  Polemik  gegen  Plato  der  Definition  angehängt  ist: 
das  Hjyor  (die  Wirkung)  hat  an  sich,  nach  ikistoteles'  eigenen  Sätzen 
über  das  Definieren  im  oQog  nvöiag  nichts  zu  suchen;  2.  daß  die 
Katharsis  in  Aristoteles'  Sinn  weder  ethisch  noch  „hedonisch"  noch 
therapeutisch  ist,  sondern  intellektualistisch."  Ich  habe  mich  lange 
gegen  Immischs  Auffassung  im  2.  Punkt  gesträubt,  endhch  aber  die 
Richtigkeit  derselben  eingesehen  und  nach  langem  Studium  die 
Bedeutung  „Aufklärung"  als  die  einzig  passende  gefunden  nnd  mit 
dieser  haben  sich  alle  Schwierigkeiten  der  Poetik,  Rhetorik  und 
Pohtik,  die  bisnun  jeder  Erklärung  spotteten,  in  nichts  aufgelöst, 
vde  jeder  unparteiische  Leser  im  folgenden  sehen  wü*d. 

Daß  Aristoteles  unter  „Katharsis"  nichts  anderes  versteht  als 
wk  unter  „Aufklärung"  in  dem  Sinne,  wie  ich  es  in  der  „Wieder- 
geburt der  Tragödie"  auseinandergesetzt  habe,  dafür  habe  ich  3  Be- 
weise: 1.  daß  es  mir  möghch  ist,  mit  dieser  Erklärung  alle  Schwerig- 
keiten,  die  sich  mit  Bezug  auf  die  Poetik  ergeben,  nicht  nur  in  der 
Poetik  selbst,  sondern  auch  in  allen  seinen  anderen  Schriften  leicht 
und  Mar  aufzuhellen.  2.  daß  es  mii-  möghch  war,  in  der  „Wieder- 
gebm*t   der   Tragödie"   auf   Grund   dieser    intellektualistischen   Er- 
klärung des  Wortes  „Katharsis"  ein  System  aufzustellen,  in  das  sich 
alle  poetischen  Werke  eimeihen  lassen,  wobei  man  auf  den  ersten 
Bück  jedes  Drama  nicht  nur  klassifizieren,  sondern  auch  objektiv 
auf  seine  Mängel  untersuchen  und  diese  nachweisen  kann:  —  trotzdem 
es,  wie  ich  nachge^^'iesen  habe,  864  Arten  von  Dramen  gibt,  so  läßt 
sich  doch  mit  Hilfe  von  nur  6  Kombinationen  jedes  Drama  augen- 
bhckhch  einreihen  und  objektiv  kritisieren.    Weit  entfernt,  daß  die 
Aristotehsche  Poetik,  wie   viele  Ivritiker  meinen,  veraltet  und  auf 
unsere  modernen  Dichter  unanwendbar  ist,  ist  sie  für  alle  Zeiten; 
aUe  Völker  und  selbst  für  alle  noch  möghchen  Erfindungen  der  Kanon; 
—  3.  daß  es  mir  möghch  ist,  besonders  aus  dem  Organen  des  Aristoteles 
die  Beweise  für  die  inteUektuahstische  Bedeutung  von  „Katharsis" 
zu  erbringen. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  Bernays  selbst  sowie  alle  seine  ein- 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  .19 

gefleischten  Anhänger  über  Aristoteles  im  allgemeinen  sowde  über  die 
Katharsistheorie  im  besonderen  ein  absprechendes  Urteil  fällen,während 
Lessing,  Goethe  und  Schiller  sowie  alle  Anhänger  der  ethischen 
(Lessing)  oder  ästhetisch-intellektuahstischen  (Goethe)  Katharsis- 
erklärung den  Aristoteles  als  den  unfehlbaren  Kunstkritiker  be- 
trachten. So  z.  B.  schi-eibt  der  Bernaysianer  Alfred  Freiherr  von 
Berger  in  seiner  Abhandlung:  ,,Walirheit  und  Irrtum  in  der  Katharsis- 
theorie des  i\ristoteles"  (S.  73):  „Sie  (=  diese  Katharsistheorie)  vermag 
den  Ästhetiker  sachlich  nicht  voll  zu  befriedigen.  Diese  Unbefriedigung, 
unter  dem  Einfluß  des  scholastischen  Vorurteils 2^)  erweckt  den 
Wunsch,  daß  die  Theorie  nicht  die  des  Aristoteles  sein  möge,  und 
dieser  Wunsch  ist  der  Vater  all  der  Gedanken,  mit  welchen  die  zahl- 
reichen Streitschriften  angefüllt  sind,  die  noch  immer  wider  den 
Stachel  der  medizinischen  Auffassung  locken." 

Einen  neuen  heftigen  Angriff  auf  Aristoteles  hat  in  neuerer  Zeit  der 
Bernaysianer  Georg  Finsler  in  seinem  vielgelobten  Buch  ,, Piaton 
und  die  Ai'istoteUsche  Poetik"  unternommen,  indem  er  den  Nachweis 
zu  erbringen  sucht,  wie  sehr  Aristoteles  von  seinem  Lelirer  Piaton 
abhängt.  Natürhch  erscheint  ihm  und  seinen  Anhängern  Aiistoteles 
als  ein  geistiger  Zwerg,  Plato  als  ein  Riese.  Er  betrachtet  eben  Plato 
durch  ein  stark  vergrößerndes  Opernglas,  während  er  bei  der  Be- 
trachtung des  Aristoteles  das  Glas  verkehrt  nimmt.  „Aristoteles 
darf  eben  nur  aus  sich  selbst  erklärt  werden."  Trotzdem  aber  Finsler 
die  Berechtigung  dieses  Satzes  anerkennt,  indem  er  auf  S.  10  das 
Vorgehen  Vahlens  lobt,  daß  dieser  „flu-  seinen  Zweck  mit  vollem  Recht 
Aristoteles  aus  sich  selbst  erklärt  und  nur  gelegenthch  auf  Piaton 
hinweist,  und  wiederum  mit  Recht  es  an  einer  Stelle  ausdrückhch 
ablehnt,  den  Aristotehschen  Text  dm'ch  Hinweisung  auf  Piaton 
interpretieren  zu  lassen",  schlägt  er  in  dem  erwähnten  Buche  gerade 
den  umgekelu-ten  Weg  ein,  um  herauszuklügeln  und  herauszutüfteln, 
„was  Ai'istcteles  dem  Piaton  verdankt"  und  ,,was  er  aus  Piatons 
Anregungen  gemacht  hat".  Auf  diesem  Irrweg  gelangt  Finsler  zu 
folgendem  Ergebnis  (S.  214):  „Wir  erkennen  in  den  Abweichungen 
der  Poetik  von  Piaton,  von  dem  sie  in  umfassender  Weise  abhängig 
ist,  die  Resultate  des  Versuches,  die  Poesie  für  den  besten  Staat  zu 


-*)  d.  i.  der  Denknötigung,  eine  Frage  für  entschieden  zu  halten 
durch  einen  autoritativen  Ausspruch  des  Aristoteles;  selbst  Lessing  war 
nicht  frei  von  dieser  Neigung  (S.  71) 

9* 


20  Stephan  Odon  Haupt, 

retton.  Es  war  der  Erkenntnis  des  Wesens  der  Poesie  nicht  förderlich, 
daß  Aristoteles  diesen  Versuch  gemacht  hat.  Gewiß  verdient  die 
Poetik  trotz  ihrer  Schwächen  die  Be^Mlnderung,  die  ihr  die  Jahr- 
hunderte gezoUt  haben,  und  daß  sie  lange  Zeiträume  hindurch  fast 
unumscliränkt  geherrscht  hat,  ist  bei  der  Tiefe  und  Feinheit  ihrer 
einzelnen  Sätze  wie  bei  dem  geschlossenen  und  imponierenden  Aufbau 
des  Ganzen  wohl  zu  begreifen.  Darüber  jedoch  muß  man  sich  ver- 
wundern, daß  viele  sie  noch  heute  für  das  eigentliche  Gesetzbuch  der 
Poesie  halten  können.  Während  die  Wissenschaft  seit  der  Renaissance 
die  Bande  der  Scholastik  gebrochen  hat,  gelten  die  Ausführungen 
der  Poetik  vielen  noch  immer  als  unantastbare  Dogmen.  Nicht 
Aristoteles  trifft  der  Tadel  dafür,  sondern  die  das  tun.  So  manche 
Wahrheit  die  Poetik  unzweifelhaft  enthält,  so  darf  sie  doch  nicht  über 
die  Poesie  zu  Gerichte  sitzen.  Reicht  sie  doch  nicht  nur  flu-  die  großen 
modernen  Dichter  nü-gends  aus,  sondern  nicht  einmal  für  die  des 
alten  Athens.  Als  Lessing  den  Regelzwang  der  Franzosen  zerbrach, 
berief  er  sich  auf  Shakespeare  und  die  Alten  und  Aristoteles  war  ihm 
ein  guter  Helfer,  aber  nur,  weil  er  mit  dessen  Gründen  nicht  fertig  zu 
werden  wußte.  Das  war  für  ihn  der  rechte  Weg  und  zeigt  uns  den 
unsern.  Den  Dichter  muß  man  fragen,  was  Poesie  sei,  und  er  gibt 
bereitwilhg  Antwort.  Einen  Dichter  hat  man  bis  jetzt  \del  zu  salten 
gefragt,  und  zwar  einen  großen,  Piaton,  weil  man  ihn  bezichtigte, 
die  Grenzen  der  Poesie  und  der  Politik  verwirrt  zu  haben.  Daß  der 
Vorwurf  unhaltbar  sei,  dafür  ist  des  Aristoteles  Poetik  der  beste  Beweis. 
Auch  Piatons  Anschauungen  sind  keine  Lehrsätze,  aber  sie  sind,  wie 
wenig  andere,  geeignet,  die  unseren  zu  erweitern  und  zu  vertiefen." 
Finsler  beruft  sich  auf  Lessing,  soweit  er  ihn  braucht,  und  gibt 
uns  dann  sein  Arkanum  bekannt:  „Den  Dichter  muß  man  befragen, 
was  Poesie  sei",  und  „Piaton  ist  ein  Dichter",  folglich:  ..muß  man 
Piaton  befragen,  der  gibt  uns  bereitwilhg  Antwort".  Allerdings  ver- 
gißt Finsler  an  dieser  Stelle,  daß  der  „Dichter"  Piaton  die  Dichtkunst 
aus  dem  Staate  verbannt  wssen  will,  da  sie  nach  ihm  nicht  nur  wert- 
los, sondern  sogar  schädHch  ist.  Übrigens  befrage  man  nur  die  Dichter 
um  das  Wesen  der  Dichtkunst:  ein  jeder  gibt  freihch  bereitwilhg 
Antwort,  aber  eine  jede  Antwort  ist  verschieden.  Bedauerlich  ist 
nur,  daß  sich  auch  ein  so  vorsichtiger  Gelehiler  wie  W.  Schmidt  von 
den  Ausführungen  Finsleis  so  einnehmen  Heß,  daß  er  in  seiner 
„Griechischen  Literaturgeschichte"  ihm  durch  dick  und  dünn  Gefolg- 


über  die  Wirkung  der  Tragörlie.  21 

Schaft  leistet.  So  sagt  er  S.  669:  „Die  Art  von  Aristoteles'  Polemik 
gegen  den  ^Meister  ist,  wenn  man  in  Anbetracht  zieht,  in  welchem 
Umfang  Aristoteles  mit  Piatons  Gedanken  Wncher  getrieben  hat, 
und  v\enn  man  Piatons  Verhältnis  zu  Sokrates  oder  den  Eleaten  ver- 
gleicht, höchst  pietätlos".  Und  doch  ist  W.  Schmidt  zu  entschuldigen, 
daß  er  dem  Sirenengesang  Finslers  erlag.  Ich  muß  aufrichtig  gestehen, 
daß  mir,  als  ich  Finslers  Buch  wiederholt  durchstudiert  hatte,  wenn 
ich  auch  an  Aiüstoleles  nicht  irre  ^mrde,  doch  Plato  übermenschlich 
groß  erschien.  Denn  wenn  auch  Aristoteles  fast  in  allen  Punkten  der 
Poetik  andere  Lehrsätze  aussprach  als  Plato,  so  schien  er  doch  nach 
Finslers  Ausführungen  alle  Anregungen  seinem  Lehrer  Plato  zu  ver- 
danken. Doch  konnte  ich  mich  nicht  mit  dem  Gedanken  vertraut 
machen,  daß  gerade  Plato  der  Erfinder  all  dieser  Gedanken  sei,  weil 
ich  es  für  unmögHch  hielt  und  halte,  daß  ein  Dichtergenie  über  das, 
was  seine  Seele  vollkommen  beherrscht,  also  über  die  Dichtkunst, 
Aufschluß  geben  könne.  Denn  dazu  gehört  Reflexion  und  die  ist  im 
Gerie  nicht  gut  möghch,  wohl  aber  im  Talent.  Und  da  Plato  nach 
dem  übereinstimmenden  Urteil  seiner  Zeitgenossen  ein  Dichtergenie 
war-,  so  können  che  richtigen  Ausführungen  Piatos  über  das  Wesen 
der  Dichtkunst  nicht  von  ihm  ausgegangen  sein.  Da  leinte  ich  durch 
Herrn  Prof.  Dr.  Karl  Mras  in  Wien  den  ,, Ethos"  von  W.  Süß  kennen 
uikI  wie  Schuppen  fiel  es  von  meinen  Augen.  Süß  bringt  dort  den 
unwiderleghchen  Nachweis,  daß  schon  Gorgias  in  seiner  ,, Helena" 
die  Gedanken  Piatos  über  die  Dichtkunst  kennt,  daß  also  nicht  Plato, 
sondern  Gorgias  oder  wahi  scheinlich  noch  ältere  Gelehrte  diese  Ge- 
danken durchgedacht  habeix.  So  ist  uns  also  Plato  menschhch  näher 
gerückt  und  Finslers  Buch  hat  nur  mehr  historisch  s  Interesse.  Wenn 
auch  die  Schlußfolgerungen,  ehe  Süß  zieht,  wie  ich  zeigen  werde,  nicht 
richtig  sind,  so  erklärt  sich  doch  aus  seinen  Enthüllungen  manches 
bis  jetzt  Unklare. 

Die  Echtheit  der  unter  dem  Titel  .^FAivriz  lyxco^uov''  über- 
heferten  Schiift  des  Gorgias  wd  wohl  von  einigen  Gelehrten,  so  be- 
sonders von  Spengel,  Wiiamowitz,  Gomperz  bezweifelt.  Blass  kommt 
in  seiner  ..Attischen  Beredsamkeit"  auf  Grund  einer  eingehenden 
Untersuchung  über  die  Echtheitsfi'age  der  „Helena"  zu  folgendem 
Schluß:  „Man  kann  die  Annahme  einer  Fälschung  mit  nichts  widei- 
legen.  Und  so  mögen  denn  diese  beiden  Reden  (des  Gorgias,  nämhch 
die  ..Helena"  und  der  „Palamedes")  unter  dem  Verdacht  de.  I^n- 


22 


Stephan   Odon   Haupt, 


echtheit  bleiben;  ein  entschiedenes  Urteil  zu  fällen  steht  uns  nicht  zu." 
x\uch  w  lassen  die  Echtheitsfrago  offen.  Aber  das,  was  Süß  aus  der 
„Helena"  zitiert,  spricht  sehr  für  die  Echtheit,  weil  ja  auch  Plutarch 
in  der  Schrift  „de  gloria  Athfcniensium"  in  Kap.  8  bezeugt,  daß  Gorgias 
sich  mit  der  Erldärung  der  Tragödie  beschäftigt  hat.  Seine  Definition 
der  Tragödie  lautet  bei  Plutarch:  „Die  Tragödie  ist  ein  wunderbarei 
Ohrenschmaus  und  eine  wundeibm-e  Augenweide.  Sie  bewükt  durch 
die  Erzählungen  und  Leiden  eine  Täuschung,  wobei  derjenige,  der 
durch  sie  getäuscht  hat,  gerechter  ist,  als  der,  dem  diese  Täuschung 
nicht  gelungen  ist.  und  derjenige,  der  sich  täuschen  läßt,  weiser  ist 
als  der,  bei  dem  die  Täuschung  rieht  wirkt. "2')  Doch  auch  Gorgias 
ist  wahrscheinhch  nicht  der  Begründer  dieser  Definition,  sondern, 
wie  Süß  mtint,  eher  Thrasyniachos.  Für  uns  von  Wichtigkeit  ist  das, 
was  Süß  in  seinem  „Ethos"  über  die  Wkkung  dei  Tiagödie  vor- 
bringt (S.  83  ff.),  was  ich  aber  nur  stark  verkürzt  wiedergebe.  „Die 
rednerische  Wkkung",  sagt  Süß, ,, sucht  Gorgias  in  seiner  Helena  8—14 
aufzuhellen.  Ganz  im  allgemeinen  wd  zunächst  als  Wirkung  des 
Logos  angegeben:  qößor  jruvoai,  AvjTf]v  dffeXür,yaQav  IvEQYa^aoihu, 

IXeov  Ijravsi'iöca,   und  schheßhch  folgt  die  zusammenfassende 

Stelle:  rov  avzov  öl  Xoyov  lyu  /j  re  zov  Xoyov  dvvafug  .tqoq  Ti)r 
T/'/g  ^w/j/c  räsiv  /y  t£  rcov  (paQuäxfov  rd^ic  jrQog  Tt]v  riör  öiDij/cTcov 
cpvoiv.  ojOjieq  yd()  zdir  (faQ(.idxcov  dXlovq  ulla  yvfiovg  tx  vor 
öojuarog  Is^r/u  xal  rd  (ilv  voöov,  xd  6\  ßiov  jcaisi,  ovtco  xid  rmv 
Xdyoyv  ol  [ilv  eXv^rr/aar,  ol  Öe  stSQipar,  ol  Öt  Iq^dß/jOcu-.  o/  de 
eig  {>-dQaog  xaT£OT/]Gav  zovg  dxovovtag,  ol  dl  :jTud-oi  riri  xaxfj 
rrjv  ipryj/v  IffaQjidxsvaav  xal  es^yo/jrevOav.  In  diesen  Aus- 
führungen haben  wir  nichts  weniger  als  die  Lehre  von  der 
xdOaQOig  -iad-t]iidTcov,  wie  sie  uns  Bernays  verstehen  gelehrt  hat, 
und  zwar  ist  hier  alles,  was  bei  Aristoteles  infolge  des  Zustandes  der 
Übcrheferung  abrupt  ist  und  die  Quelle  vialer  Mißverständnisse  in 
der  wetteifernden  Interpretation  vielei  Jahihunderte  abgegeben 
hat,  klar,  da  das  secundum  comparationis  mit  drastischer  Anschauüch- 
keit  ausgeführt  ist.  Zugrunde  liegt  die  Vorstellung  der  Humoral- 
pathologie,  daß  sich  in  dem  Körper  verhaltene  yv(toi  (Säfte)  stauen 
und  die  Ursache  von  Beschwerden  werden.    Wie  unsere  Altvorderen 


-')  i'aiiv  Oi'i'TQuycodfu  ßui'iJUGTor  dxooa/iu  xul  ß^tafiu,  TruQuaxovGa 
loTc  fjvftoig  xal  loTg  rrddiaiv  (Indri^v,  i]v  ö  n  dnnDiaac.  öixuioTfitog  rov 
fji]  d7Tuni]Gu.viog.  xal  ö  dnaTijd^dc  aoifiöiegog  tov  fn]  dnan]i}i:rTOZ.  ... 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  23 

zur  Fiühjabiszeit  ein  „blutreiiiigendes"  Mittel  anwandten  und  sich 
eine  frische  fröhhche  Laxation  verschafften,  so  erfüllen  die  griechischen 
(pccQimy.a  ähnhche  Piugationszwecke,    aXlov<  v.lla   t^t'r/ei,  yvitovc, 
d.  h.  ein  jedes  Tränklein  seinen  zugehörigen,  Gebresten  verui'sachenden, 
bösen   Humor.      Die   genau  entsprechende  Wirkung   (övvcquc)  des 
Logos  wd  an  verschiedenen  Beispielen  veranschauHcht.     Dabei  ist 
jedoch  zu  beachten,  daß  das  Grundprinzip  überall  das  gleiche  ist, 
daß  aber  Gorgias  diese  Möghchkeit  der  Variation  benutzt  hat,  um 
verschiedene  Seiten  des  Vorgangs  anschauhch  zu  machen.     Wii  be- 
ginnen mit  der  jcoh/öig.     Fremdes  Leid   (die  f/aQ^taxa)   wird   ein- 
geführt {(ha  TV)v  Äoycor)  in  das  Bewußtsein,  der  Hörer  erlebt  es  als 
Uior   Jüdd^yfia,   d.   h.    die   entsprechender,   in  seiner   Bewußtseins- 
disposition  aufgespeicherten   Spannungen  erlel)en   durch   diese   Kur 
eine  Auslösung.  Ausgerechnet  ffoßog  und  tÄsog  werden  dabei  genannt 
und  es  scheint,  daß  Gorgias  hier  vorzugsweise  die  Tragödie  im  Auge 
hat,  der  ja  auch  seine  anderwärts  überlieferte  Definition  galt.    Be- 
zeichnenderweise nennt  der  Autor   der   Helena  die   Auslösung  des 
ffoßog   eine   f/olz//  rrsQiffoßog,    die  des    ^'/foc    einen    .i:olr()rcx()vg. 
Er  deutet  damit  die  motorische  Form  der  Entladung  des  vorhandenen 
Reizes  an.    Die  Entladung  einer  Spannung  ist  unter  allen  Umständen 
mit  einem  Lustgefühl  verbunden.    Man  kennt  die  Wollust  der  Träne. 
Dieser  Sachverhalt  w^ird  durch  das  jr6{)-ag  r/)/2o.7r£rö-;/c  veranschaulicht, 
die  süße  Sehnsucht  des  sein  Leid  Äußernden  ist  der  Grund  des  Ver- 
gnügens   an   tragischen   Gegenständen.     Es  ist  die  xäfi-aoöi^  tcör 
.^aß'ijfi/jTcov  Öiä  Tcöv  roiovrcor  jtad-rj^fc'xojv  gemeint.  In  dem  zweiten 
Beispiel  ist  der  berückende  Zauber  des  einlullenden  Zaubergesanges 
das  (pdQfiaxov.    Es  verbindet  sich  mit  einer  vorhandenen,  zur  Aus- 
lösung di-ängenden  Disposition  der  Wünsche,  der  do^a^    Der  Erfolg 
ist  die  Fieiwerdung  eines  gewissen  Affekts,  den  der  beeinflassende 
Logos  gerade  haben  \^ill.     In  dem  angeführten,  zusammenfassenden 
Schlußsatz  wird  als  solche  früher  gebundene,  nun  dm'ch  den  Logos 
entfesselte    Erregung   Schmerz.   Freude,    Furcht   und   Mut  genannt. 
Die  Wirkungen  der  Poesie  sind  also  die  gleichen  wie  die  der  lebendigen, 
überredenden  Rede,  soweit  die  QuaHtät  und  der  Prozeß   ihrer  Genese 
in  Betracht  komnit.    Aber  die  Poesie  ist  wie  der  Xoyog  yQccjTTog  der 
Technogiaphen  nm'  /(linjoig,  mu"  v'm  schönes  Abbild.   Ungleich  höher 
steht  für  Gorgias  und  seine  Schule  die  Wirkung  der  lebendigen,  nüt 
dem  xcuQÖg  gesprochenen  Rede Auch  Plato  behandelt  die 


24  Steplian   Odon   Haupt, 

Poesie  als  Logos.  El  xia  .-rsQitXoiro  r/^j  rrot/'/tUroc  .-räot/j:  tö  rt 
inkog  y.cd  ror  (n'fhffov  y.fu  t6  ittTQor,  aXlo  ri  /j  /.dyoi  yiyvovrcu 
To  leiJiöftevor;  (Gorgias  502  c.)  Mit  der  Rhetorik  fällt  auch  die  Poesie 
beiPlato  demselben  Verdammungslirteil  anheim.  Sie  unterliegen  ja,  wie 
Ol  mit  Gorgias  glaubt,  denscll)en  Gesetzen  der  AVirkung.  Sie  müssen 
nach  Gorgias  Schmeichelkünste  sein,  d.  h.  sie  erreichen  ihre  Wirkungen, 
indem  sie  den  vorhandenen  Dispositionen  des  Hörers  durch  gleich- 
artige (focQ/fccxa  beikommen  und  ihm  ein  wohliges  Gefühl  der  Auslösung 
verschaffen.  .hjiniyoQia  uQa  rig  lörir  /)  rroi/jTixf'j.  ovxoZr  (hjtoqixii 

(hjfaiyoQia  äv  shy,  (Gorgias  502  D.)    ]\Iit  Hilfe  des  Alkidamas 

gelingt  es,  die  auffallende  Betonung  der  itii/fjou:  in  der  Poetik  ins 
rechte  Licht  zu  stellen.  Da  die  lebendige  Rede  ein  C^7or  ist,  so  ist 
der  Redenschreiber  ein  ^ory^dcfoc.  Die  geschriebene  Rede  gleicht 
einem  Standbild,  einem  Gemälde.  Ebenso  wird  die  geschriebene 
Rede  bei  Allddamas,  Plato  und  Isolvrates  mit  einem  .to//;//«  ver- 
ghchen.  Dichter  und  Maler  stehen  also  in  einem,  ähnhchen  Verhält- 
nis zum  Leben  selbst.  Li  unzähhgen  Variationen  wiederholt  die  Welt- 
literatur den  peripatetischen  Vergleich  der  Komödie  oder  des  Dramas 
überhaupt  mit  einem  speculum  vitae,  woflü"  auch  noch  imago  veritatis, 
imitatio  cousuetudinis  eintritt.  Dieses  zu  weltnistorischer  Berühmt- 
heit gelangte  Schlagwort  ist  nun  gar  nicht  peripate tisch,  sondern 
mindest  alkidameisch,  der  Sache  nach  gorgianisch,  u.  zw.  gestattet 
uns  ein  glücklicher  Zufall  der  ÜlDerheferung  gerade  die  bezeichnende 
Duphzität  der  rhetorischen  und  der  poetischen  Verbindung  zu  kon- 
statieren. Nach  dem  Zeugnis  des  Ai-istoteles  (Rhetorik  78,  1406^12) 
nannte  Alkidamas  die  Odyssee  einx«/or  cwfhQoj.^irov  ßiov  y.ärojitQor. 
und  anderseits  sagt  er  am  Schluß  seinei  Sophistenrede  (§  32)  bei  der 
Hervorhebung  der  rJativen,  mnemonischen  Bedeutung  der  Schi'ift: 
Eic  öl  ra  yQccjJiiaTa  yMTiöovrag  ojöjteg  Iv  yaTo.TTTQco  BeroQriOai  Tac 

rrjg  tpvy/jg  L-rriddoHC  (»aöior  loriv Die  lebendige  Rede  ist  ein 

Cr'joivalso  muß  auch  ihr  Spiegelbild,  die  gesclu'iebene,  wenigstens,  so^Yie 
das  Standbild  und  das  Gemälde  der  dargestellten  Person  ähnelt, 
Kopf,  Hand  und  Fuß  hat,  eine  övöraoig  sein.  Kööiing  und  rd^tg 
sind  Liebhngsworte  der  gorgianischen  Helena  aus  dieser  Grund- 
anschauung heraus  geworden.  Diese  Forderung  erscheint  im  platoni- 
schen Phaidros  in  einem  verschiedenen  Zusammenhang,  einmal  bei 
der  Ivritik  des  Lysias  {dür  mcrra  löyor  foOJteQ  Comr  orrsOrarai 
Oöjfia  Tt  r/orra  avror  avrov,  Sojrsi)  jn'jTt  äyMfcÜJW   dvai  in'/Ts 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  2 

(crrovr.  a/./.a  ^itoa  t  lyuv  y.ul  ('r/.Qa,  .7r(>t::Tor  r  (U.y.t'j'/.oi^  xai  tv) 
oX(o  '/r/Qo.itiiü'a,  [264  c]j,  dann  bei  der  scherzhaft  herangezogeneu 
Technik  der  Tragödit,  aus  der  Sokrates  das  t«  ohl-aqu  iiEydkcoQ  xal  rä 
ifsyala  OfiixQcög  xoiEiv  fficiveodai  und  den  tlsog  und  rpoßog  erwähnt, 
worauf  Phaichos  erwidert:  -xal  oizoi  (^offoxl/jg  xal  EvQiJciötjg) 
av,  CO  ^oTXQatsg.  oiffcci,  xaraysyMei',  ei  rig  olszat  TQayoiÖucv  cOJm 
Ti  eivc.i  fj  Tf'/r  tovtojv  övOtuölv,  JtQtxovOav  dXlrj)jOig  rs  xal  t<ö 
oXfo  Go'iüTdfjsrov.  (268  D.)  An  beiden  Stellen  ist  an  anderer 
Stelle  und  aus  anderen  Voraussetzungen  Gorgias  als  Quelle  erwiesen. 
Mit  dieser  Forderung  der  ovoraaig  gewinnen  wir  ein  neues,  Poetik 
und  Rhetorik  gemeinsam  umschlingendes  Band." 

Was  Süß  tatsächlich  Neues  vorbringt,  ist  also  folgendes :  iiiinioig, 
Ovovaoic.  T&/.siog,  iir/td-og  i/ovija,  tjöiujfavog  Xöyog,  iiIt^ov 
t'/eiv,  xdTi:  To  eixcg  rj  xo  uvayxalov,  oZog,  vor  allem  aber  die 
medizinisch-therapeutische  Katharsis  sind  Ausdrücke,  die  schon 
vor  Plato  von  Gorgias  und  seiner  Schule  durchdacht  und  zur 
Erklärung  des  Logos  sowe  des  Diamas  herangezogen  wurden. 
Nicht  mit  Piatons  Gedanken  hat  also  Aristoteles,  wie  Finsler 
und  Schmidt  glauben.  Wucher  getrieben,  sondern  Plato  und 
Aristoteles  fanden  die  Bausteine  für  eine  Poetik  schon  vor  und 
was  hat  jeder  der  beiden  daraus  gemacht?  Plato  wirft  auf  Grund 
des  Vorhandenen  alle  Poesie  aus  dem  Staate,  Ai'istoteles  schafft  ein 
für  alle  Zeiten  und  Völker  gültiges  Lehrgebäude,  das  leider  nur  ver- 
stümmelt auf  uns  gekommen  ist  und  daher  Mißdeutungen  ausgesetzt 
war  und  ist.  Was  Plato  zu  seinem  vernichtenden  Urteil  über  die 
Poesie  veranlaßt  hat,  ist  dmch  Süß  klar  geworden.  Es  ist  dies  die 
von  Gorgias  oder  einem  Vorgänger  des  Gorgias  erfundene  medizinisch- 
therapeutische Katharsis.  Daß  Gorgias  schon  den  Auschuck  „Katharsis" 
dafür  gebraucht  hat,  ist  aus  der  Pohtik  des  Aristoteles,  wie  wir  sehen 
werden,  oifenkundig. 

Dank  der  ,, Helena"  des  Gorgias  und  dem  ., Ethos"  von  Süß  sind 
wir  nun  in  der  Lage,  konstatieren  zu  können,  daß  die  Frage  nach 
dem  „Grund  des  Vergnügens  an  tragischen  Gegenständen"  schon 
vor  Plato  unter  den  führenden  Geistarn  der  Griechen  vielfach  erörteit 
worden  sein  mußte.  Denn  Gorgias  darf  nicht  als  der  Anfaag,  sondern 
maß  als  das  voiaristoteüsche  Endghed  der  wissenschafthchen  Unter- 
suchungen über  die  Wijkung  der  Tragödie  angenommen  werden. 
Es  bleibt  das  unbestrittene  Verdienst  Bernays',    daß  er,  ohne   die 


2G  Stephan  Odoii  Haupt, 

„Helena"  des  Gorgias  zu  kennen,  —  denn  wer  würde  in  ihr  dij  thera- 
peutische Katharsis  vermuten  und  suchen?  —  selbständig  auf  diese 
Erklärung  gekommen  ist,  die,  mag  sie  noch  so  unappetithch  sein, 
doch  etwas  Bestrickendes  an  sich  hat  und  daher  trotz  ihrer  Schwächen 
und  UnzulängMchkeiten  doch  von  den  meisten  Gelehrten  als  richtig 
angenommen  wird. 

Gegen  diese  Gorgianische  Auffassung  wendet  sich  nun  Plato. 
Sie  ist  so  treffend,  so  packend,  so  überzeugend,  daß  er  jeden  Wider- 
stand aufgibt.  Da  er  aber,  der  Ästhetiker  katexoehen,  sich  anmögüch 
mit  ihr  abfinden  kann,  so  muß  er  natüi'lich  alle  Poesie  aus  seinem 
Staate  verbannen.  Blutenden  Herzens  nimmt  er  sogar  von  seinem 
LiebHng,  dem  alten  Meister  Homer,  Abschied,  —  auch  der  muß  hinaus. 
Nur  Hymnen  auf  die  Götter  und  Preisheder  auf  Helden  dih-fen  in 
seinem  Staate  erschallen.  Denn  nur  an  eine  derartige  Poesie  reicht 
die  „verruchte  Katharsis"  nicht  heran. 

„Trotzdem  aber  soll  es  gesagt  sein,"  sagt  er  im  Staat  X.,  8.  607  C, 
,,daß  w,  wenn  die  niu'  zur  Unterhaltung  dienende  Dichtkunst  und 
das  Theater  nur  irgend  einen  Grund  angeben  könnte,  daß  sie  in  einem 
wohlgeleiteten  Staat  eine  Existenzberechtigung  hat,  sie  gerne  auf- 
nehmen mirdon;  wir  lassen  uns  ja  gerne  von  ihr  bezaubern;  doch 
unfromm  wäre  es,  das,  was  uns  wahr  erscheint,  preiszugeben.  Oder 
wirst  nicht  auch  du,  o  Freund,  von  ihr  bezaubert,  zumal  wenn  du  sie 
mit  den  x\ugtn  Homers  betrachtest?  Verdiente  sie  also  iiicht  zm'ück- 
zukehren,  damit  sie  sich  verteidige  im  Liede  oder  in  einem  anderen 
Versmaß?  Ja,  wir  möchten  sogar*  wohl  auch  ihi'en  Verfechtern,  soweit 
sie  nicht  selbst  Dichter,  sondern  niu*  Musenfieunde  sind,  gestatten, 
in  einer  Kede  für  sie  einzutreten,  daß  sie  nicht  nur  dem  Vergnügen 
dient,  sondern  auch  für  den  Staat  und  das  menschliche  Leben  von 
Nutzen  ist."  Diese  von  Plato  sehnsüchtig  verlangte  letzte  Kettung 
der  Poesie  hat  sein  Schüler  Aristoteles  pietätvoll  vorgenommen.  Wenn 
aber  Plato,  wie  nach  den  Ausführungen  von  Süß  klar  ist,  gegen  die 
Gorgianische  medizinisch-therapeutische  Auffassung  von  der  Wirkung 
der  Tragödie  polemisiert  und  auf  Grund  derselben  zu  seinem  Ver- 
danmiungsurteil  der  Poesie  kommt,  kann  da  Aiüstoteles  wieder  die 
medizinisch-therapeutische  Wirkung  ins  Treffen  geführt  haben, 
konnte  er  überhaupt  von  einem  neuen  Terminus  „Katharsis"  sprechen, 
wie  er  es  in  der  Politik  tut,  wo  er  außerdem,  ^^^e  w  sehen  werden, 
ausdrücklich  gegen  die  Gorgianische  Katharsis  polemisiert^ 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  27 

Nach  Zeller  micl  Gomperz,  deren  Meiiiimg  ich  mich  hierin  an- 
schüeße,  hat  Aristoteles  am  Ende  seiner  Laufbahn  nach  der  Abfassung 
seiner  Pohtik  und  vor  jener  der  Rhetorik  seine  Lehi'vorträge  über  die 
Dichtkunst  endgültig  in  einem  Werke  zusammengestellt.  Wenn  aber 
die  Poetik  das  vorletzte  und  die  Rhetoiik  das  letzte  Werk  des  Aiistoteles 
ist,  so  ist  es  ein  nutzloses  Bemühen,  die  in  der  Poetik  vorkommenden, 
von  der  sonstigen  Verwendung  abweichend  gebrauchten  Worte  aus 
den  früheren  Werken  des  Aiistoteles  oder  gar  aus  Plato  oder  aus 
noch  älteren  Philosophen  erklären  zu  wollen.  Denn  es  steht  fest. 
daß  er  nur  in  den  seltensten  Fällen  etwas  von  seinen  Vorläufern  \nder- 
spruchslos  annimmt,  fast  im.mer  benützt  er  sein  von  ihm  erfurdenes 
Organon  als  den  Prüfstein  für  die  Ansichten  seiner  Vorläufer  und 
diese  Prüfung  fällt  natü/hch  in  der  Regel  schlecht  aus ;  denn  vor  ihm 
waren  eben  solche  Definitionen  und  schematische  Zusammenfassungan, 
wie  z.  B.  eine  Poetik,  gar  nicht  möghch,  daher  auch  bei  Plato  und 
Gorgias  nur  eingestreute  geistreiche  Bemerkungen  über  die  Poesie, 
aber  nichts  Zusammenhängendes  zu  finden  ist. 

Daß  ich  mich  der  Ansicht  von  ZeUer-Gomperz  anschließe  und 
nicht  der  Immisch-Süßischen:  „Aristoteles  schrieb  seiuo  Poetik  als 
Ergänzung  der  Rhetorik,  und  als  mit  der  Rhetorik  zusammenhängend 
hat  sie  in  der  Tradition  des  Orients  ein  Glied  des  Organon  gebildet '^s), 
hat  seinen  Grund  im  folgenden: 

Erstens  spricht  alles,  was  Eduard  Zeller  in  seiner  „Philosophie 
der  Griechen"^^)  anfühi't,  für  die  Reihenfolge  „Pohtik,  Poetik, Rhetorik" 
und  nichts  gegen  sie.  Außerdem  ist  mü'  aber  folgender  Umstand  maß- 
gebend: Aristoteles  hat  im  8.  Buch  seiner  Pohtik  die  Jugenderziehung 
abgehandelt.  ,,Der  heutige  Jugendunterricht",  sagt  er  dort  in  Kap.  3, 
„umfaßt  etwa  folgende  4  Gegenstände:  Grammatik,  Gymnastik, 
Musik  und  hie  und  da  auch  Zeichnen;  die  Grammatik  und  das  Zeichnen 
als  nützhch  für  das  Leben  und  vielfach  zur  Anwendung  kommend, 
die  Gymnastik  als  geeignet,  den  männlichen  Mut  auszubilden.  Was 
die  Musik  aiüangt,  so  werden  über  ihre  Nützhchkeit  schon  Zweifel 
erhoben;  denn  die  meisten  treiben  sie  heute  nur  zum  Vergnügen." 

(St.)    Sein3  eigene  Ansicht  über  die  Lehrgegenstände  hat  er 

einige  Zeilen  früher  ausgesprochen.     „Man  weiß  durchaus  nicht,  ob 


-^)  Immisch,  PMlologus  L\'.  (1896)  p.  20. 
-9). II.  Teil,  -2.  Abt.,  S.  107  und  130. 


"28  Stephan   Odon  Haupt, 

man  die  Ivinder  in  dem  nnterrichten  soll,  was  sie  für  das  praktische 
Leben  branchen,  oder  in  dem,  was  sie  znr  Tngend  hinleitet,  oder 
endUcli,  ob  raai  sie  darüber  hinaus  auch  in  den  höheien  spekidativen 
AVissenschaften  unterrichten  lassen  soll.     Jede  dieser  Ansichten  hat 

ihre  Verteidiger  gefunden Hiei  ist  nun  so^^el  geuiß,  daß  unter 

den  nützlichen  Dingen  diejenigen  gelehrt  werden  müssen,  welche 
notwendig  sind,  aber  auch  diese  nicht  alle  ohne  Ausnahme.  Da  die 
Beschäftigungen  in  solche  zerfallen,  die  einem  Freien  wohl  anstehen, 
und  in  gemeine  Arbeit,  so  wd  die  Jugend  aus  dem  Gesamtgebiete 
nützhcher  Tätigkeit  nur  diejenige  üben,  die  sie  nicht  herab^vlirdigt. 
Für  herabwüi'digend  aber  ist  jede  Tätigkeit,  Kunst  und  Wissenschaft 
zu  achten,  welche  den  Leib,  die  Seele  oder  den  Verstand  freier  Menschen 

zur  Anwendung  und  Ausübung  der  Tugend  untüchtig  macht."  (St.~i 

Weiter  sagt  er  in  Kap.  3:  ,, Jeder  wählt  sich  seine  Unterhaltungen 
nach  seiner  .Tndi\äduantät  und  Beschaffenheit ;  aber  dei  beste  Mensch 
wählt  die  besten  und  trachtet  nach  denjenigen,  welche  aas  der  reinsten 
und  edelsten  Quelle  fheßen.  Aus  chesem  Unterschiede  erhellt  die 
Notwendigkeit  jener  Forderung,  daß  man  auch  für  den  Genuß  der  Muße 
manches  zu  lernen  habe,  daß  für  ihn  eine  gewisse  Bildung  erforderhch 
ist,  und  man  begreift  ebenso  leicht,  daß  die  hieher  gehörigen  Bildungs- 
mittel mitsamt  dem  Unterrichte  sich  selbst  Zweck  sind,  wälirend  die 
zm"  Geschäftstätigkeit  vorbereitenden  als  notwendige  anderen  Zwecken 
dienen."  (St.) 

Mit  Ausnahme  der  Musik  erörtert  ^Aristoteles  im  weiteren  Ver- 
laufe des  8.  Buches  nichts  über  die  Künste  und  Wissenschaften,  die 
herab^^1^•digend  oder  veredelnd  sind,  also  der  Jugend  gelehrt  oder 
nicht  gelehrt  werden  sollen;  ja,  auch  bei  der  Musik  vermißt  man 
manches.  Wenn  aber  seine  Erziehungslehre  vollständig  sein  und 
reformierend  wirken  sollte,  dann  mußte  er  seine  angedeuteten  Forde- 
rungen begründen  und  dies  konnte  er  nur  in  einer  Kunstlehie  einer- 
seits und  der  Khetorik  anderseits,  —  die  Kunstlehre  als  Luxusbildungs- 
nnttel,  also  Selbstzweck,  die  Rhetorik  als  zur  öffentüchen  Tätigkeit 
vorbereitend,  zu  einem  außer  ilu"  hegenden  Zweck,  also  Mttel  zum 
Zweck.  Da  aber  der  Schluß  des  8.  Buches  der  Politik  mit  Xotwendigkeit 
zur  Kunstlehie  hinüberleitet,  so  folgte  jedenfalls  als  9.  und  10.  Buch 
der  Pohtik  die  Kunstlehre,  wobei  das  uns  erhaltene  unvollständige 
Buch  über  die  eigentliche  Poetik  —  es  fehlt  ja  in  diesem  zumindest 
die  Abhandlung  über  die  Komödie  und  den  DitlATambos  —  natürhch 


tiber  clie  Wirkung  der  Tragödie.  29 

nur  das  10.  gewesen  sein  konnte,  als  11.,  12.  und  13.  Buch  der  Politik 
die  Khetorik.  In  dieser  sieht  man  deuthch,  daß  Aristoteles  die  Jugend 
vor  den  Ausmichsen  der  Rhetorik  warnt.  Denn  die  Afterrlietorik  ist 
wie  die  Afterkunst  herabwürdigend  und  macht  Leib,  Seele  und  Ver- 
stand zur  Anwendung  und  Ausübung  der  Tugend  untüchtig. 

Daß  dem  wldich  so  war,  dies  bestätigt  das  Verzeichnis  der 
Aristotelischen  Schriften  nach  Ptolemaeos  Chennos  (aus  dem  Arabischen 
übertragen  von  Maur.  Steinschneider). 

Dort  folgen  auf  die  logischen  Schriften  I^r.  25^  y.artjyoQuu  a 
bis  Nr.  29  ooffiOTixol  tÄey/oi  a  zunächst  Xr.  30  ?j{hx(J5r  {isyäXoyv  ß\ 
Xr.  31  rjdiy.cöv  Evör/ftsicor  rf,   dann  Nr.  32  -co/utc/ccöv  ?/,   hierauf 
Nr.  32  ^  T&yrr/g  rrou/Tixr/j:  ß'  und  Nr.  33  rt/rr/c  otjzoQix/jg  y'. 

Der  vielgeschmähte  Ptolemaeos  Chennos  (er  lebte  um  50  n.  Chr.) 
hat  uns,  unbeeinflußt  von  Andronikos  von  Rhodos,  der  um  50  v.  Chi', 
lebte,  wohl  die  ursprüngüche  Anordnung  der  Aristotelischen  Scluiften 
überliefert^".;  allerdings  ist  Poetik  und  Rhetorik  von  der  Pohtik 
schon  getrennt,  die  Poetik  aber  in  charakteristischer  Weise  mit  der- 
selben Nummer  wie  die  Politik  bezeichnet.  Eist  Diogenes  Laertius 
(um  200  n.  Chr.)  und  Hesychios  von  ililet  (um  530  n.  Chi-.)  haben 
vielleicht  die  Ausgabe  der  Aristotelischen  Schriften,  resp.  die  Neu- 
einteilung derselben  durch  Anckonikos  von  Rhodos  benützt  und  sind 
ihr  gefolgt.  Aber  auch  bei  diesen  beiden  finden  sich  Poetik  und 
Rhetorik  noch  nicht  bei  den  logischen  Schriften,  wohl  aber  steht  die 
Poetik  nach  der  Rhetorik,  ist  ihr  aber  nicht  angehängt.  Bei  Diogenes 
Laertius  ist  die  Ethik  unter  Nr.  38,  die  logischen  Scliriften  sind  unter 
Nr.  48—60,  Nr.  75  ist  die  Politik  7/,  Nr.  78  die  Rhetorik  "j^,  Nr.  83 
die  Poetik  ß:  bei  Hesychios  ist  die  Ethik  unter  Nr.  39,  die  logischen 
Schriften  sind  unter  Nr.  46 — 59,  die  Pohtik  //  unter  Nr.  70,  die 
Rhetoiik  7'  unter  Nr.  72,  die  Poetik ./  unter  Nr.  75.  Erst  die  Philosophen 
des  6.  Jahrhunderts  nach  Chr.  teilen  die  Aiistotehschen  Schriften 
in  der  2.  Vorbemerkung  zum  Kommentar  zu  den  Kategorien  nach 
dem  Vorgang  des  Porphyrios  und  Ammonios  anders  ein^^),  u.  zw. 


^^)  Dies  zeigt  besonders  deutlich  schon  die  Reih^■Dfolge  Ethik, 
Politik.  Es  fehlt  wohl  die  Nikomachische  Ethik,  deren  letzte^  Buch  klar 
und  deutlich  den  Zusammenhang  mit  der  Politik  im  Schlußkapitel  (^v?) 
ausspricht,  doch  schon  der  Umstand,  daß  auf  die  Ethik  überhaupt  die 
Politik  unmittelbar  folgt,  spricht  dafür,  daß  Ptolemaeos  die  Aristotelische 
Reihenfolge  einhält. 

31)  Ygl.  Littig,  Andronikos  von  Rhodos,  1890,  S.  43. 


30  Stephan  Odon  Haupt, 

Pliiloponos,  ohne  Poetik  und  Rhetoiik  zu  den  logischen  Schriften 
zu  rechnen,  Simplikios  führt  hei  den  logischen  Schriften  schon  die 
Rhetorik  an,  aber  noch  nicht  die  Poetik,  erst  Elias  (David)  und 
Olympiodoros  rechnen  auch  die  Poetik  zu  den  logischen  Schiiften^s), 
nnd  al-Ja-'qübi,  ein  arabischer  Geschichtsschi-eiber  des  9.  Jahrhunderts, 
zeigt  in  seiner  Inhaltsangabe  der  Aristo teüschen  Schriften  vnter 
A.  Xoyixa  folgende  Reihenfolge:  1.  xaTyyoQicu,  2.  jt^qI  tQ(iriri:iac, 
3.  draXvTiyM,  4.  il-rothiy.tix/c,  5.  rocrixä,  6.  Goffiarr/M,  7.  (njTOQiyM 
frj'),  8.  jroLrirr/M  ()]'),  er  folgt  also  bis  auf  die  Umstellung  von  6  und  7, 
und  auf  die  sonderbare  Angabe  von  7  Büchern  der  Rhetorik  und 
Poetik  der  Einteilung  des  Elias  (David). 

Daraus  folgt,  daß  nicht  Ai-istoteles  und  seine  Nachfolger,  abe: 
auch  nicht  Andronikos  von  Rhodos  nnd  seine  Nachfolger,  sondern 
erst  die  syrischen  Philosophen  des  6.  Jahrhunderts  nach  Christus 
dazu  gelangt  sind,  indem  einer  den  anderen  in  den  Erklärungen  iil)er- 
trumpfen  wollte,  die  Rhetorik  und  später  auch  die  Poetik  zu  den 
logischen  Schriften  zu  rechnen.  Da  aber,  ^vie  ich  bereits  in  der  „Lösung 
der  Katharsistheoiic  desAiistoteks"  gezeigt  habe,  nur  die  eigentüche 
Poetik  dazu  verwendbar  war,  so  hat  einer  vo.i  ihnen  das  erste  Buch 
der  Poetik,  welches  alle  anderen  Künste  behandelte,  von  dem  2.,  der 
eigenthchen  Poetik,  getrennt  und  so  den  Verlust  dieses  Buches  ver- 
ursacht. 

Wähi-end  Ammonios  (im  5.  Jahi'hundert  n.  Gh.),  der  Lehrer  des 
Philoponos  und  wahrscheinlich  auch  des  Simplikios,  noch  beide  Bücher 
der  Poetik  in  seinem  Buch  „De  interpr.  Schol."  zitiert,  indem  er 
dort  99  a  12  Jr  rol^  .-rfQi  .-xoirinySjJ'  schreibt,  desgleichen 
auch  Boethius  (gest.  524  n.  Ch.)  in  seinem  Buch  „De  interpr."  290 
ausdrücklich  in  „libris,  quos  de  arte  poetica  scripsit"  sagt,  wobei 
man  keineswegs,  wie  Zeller  meint,  annehmen  muß,  daß  sie  Älteren 
nachschreiben,  nennt  Elias  (David),  sowie  Olympiodoros  nm*  mehr 
das  eine  Buch  der  Poetik.  Ich  habe  in  meiner  „Lösung"  die  beiden 
bei  Olympiodoros  und  Elias  (David  )ange wandten  Ausdrücke  „txxa- 
d^a'iQovra''   und    ijtoövciieva'    identifiziert;     das    ist     aber    nicht 


=*-')  und  zwar  Elias  (David)  mit  folgenden  Worten:  „rä  di  vttoÖv- 
6!iiva  avrijv  ttJi'  dn6dsi,'S.iv  elGi^  tu  tottixo.,  al  QrjTOOixm  liyvai,  ol  Gocpißri- 
•/.ot  tleyyoi,  y.(u  ro  tt^qI  7roi.)]Tix~]c",  bei  Olympiodoros  heißt    es:^    „txxa-  . 

S^uCoovai  öa  Tt]r  fjiüod'or  ol  aotpiarixot  t7.ey/o(  xal  ol  tÖjtoi  xcd  ui  orjroQi-  f 

xal  Tiyrai  y.ut  tö  Ttegt  Troirjnxijc  tu  xuXovfiaror". 


über  clie  Wirkung  der  Tragödie.  31 

richtig,  beide  haben  sogar  eine  entgegengesetzte  Bedeutung.  Der 
erste  von  den  syrischen  Kommentatoren,  der  den  Ausdruck 
.,vjroö'ioi/a("  anwendet,  ist  Philoponos.  Nachdem  er  nämhch  die  alo-o- 
amatischen  Schriften  des  Aristoteles  in  theoretische,  praktische  und  in 
das  Organon  geteilt  hat,  —  die  theoretischen  enthalten  die  Entscheidung 
über  Walu-  und  Falsch,  die  praktischen  über  Gut  und  Schlecht,  — 
fügt  er  folgenden  Satz  ein  ^3):  J)q,  aber  die  Theorie  manches  als 
Wahres  einschmuggelt,  was  nicht  wahr  ist,  und  ebenso  die  Praxis 
manches  nicht  Gute  mit  der  falschen  Marke  ,.o-ut"  einschmusrffelt, 
so  bedürfen  wir  eines  AVerkzeuges,  um  solche  Schmuggeleien  zu  er- 
kennen.   Und  das  ist  der  Beweis." 

Philoponos  ghedert  dann  die  theoretischen  Werke  in  die  theo- 
logischen, mathematischen  und  physiologischen,  die  praktischen 
Werke  in  die  ethischen,  ökonomischen  und  politischen;  das  Or- 
ganon enthält  1.  die  Zerghederung  dessen,  was  zum  wissenschaftlichen 
Beweis  fülu't^^),  und  zwar  versteht  er  darunter  die  Kategorien,  die 
die  Satzglieder  behandeln^^),  ferner  die  Hermenie,  die  die  Vorder- 
sätze abhandelt^^),  sowie  die  erste  Analytik,  die  die  Behauptungs- 
sätze enthält^^),  2.  den  eigentüchen  wissenschaftlichen  Beweis^^), 
3.  die  sophistischen  Beweise^^).  „Denn  so  wie  die  Äi-zte  ihi'e  Kunst 
der  studierenden  Jugend  vortragen  und  zugleich  mit  den  Heilmitteln 
auch  die  Gifte  erwähnen,  damit  sie  die  ersteren  anwenden,  die  letzteren 
fhehen,  so  sclu-eibt  auch  Aristoteles,  da  die  Sophisten  den  Freunden 
der  Wahrheit  Fallstricke  legen,  indem  sie  sie  durch  ihre  sophistischen 
Beweise  von  der  Wahrheit  ablenken  wollen,  die  sophistischen  Beweise 


■'^)  „dlV  ijrfiSi]  Tu  i9HüOPjt,xdv   vnoövnat   rivu  lug  (D.r^d^TJ  fiiv  ona, 
in]  ovTU  Jf  dXrid-ri,  y.ul  ttquxtixo}'  (\aotwc  rird  t(o  rov  dyad^ov  y.^yomafiiva 
ovü/JUTO  fj/rj  OVTU  dyud^d,    dn  i^^lv  ogyarov  th'cc  jov  öiu.y.otrovTOC  rd  toi- 
avTu.     TC  de  tau  tovto;    uTrodeihg."'     „viroövo^ui"  und   „yqoit^u)''  sind 
tropisch  angewendet.    ,,vnodvoi^w.i"  entspricht  unserem  „einschmuggeln", 
,,;/(»tJt,'w"  dem  „Färben"  (zur  Täuschung),  ,,übertünchen'^ 
*)  rd  [jsv  eig  rd  Tregi  rwr  uQyjZv  rrjg  ^u,a&vSov. 
^)  rd  ör(jf.i,aTU  fiir  ovr  xat  rd.  oi]ii,axa  öiöd'S.ovavv  ul  xarrjyooCai. 
"j  rag  ös  TtgoraGaig  xo  ttsov  tofirivstag. 
^0  rov  Ob  xad-dXov  CvXkoyiGfiov  id  jvooTfQu  dvalvrixd. 
■^^)  die  ,,6£vTsgu  urulvTixa  avTr]v  '^f/ug  diöd'^n  z?]»'  pi&odoi'j  romfCTt 
Tvv  d.7To6(iXTCxw  av'/SLoyia^iöv". 
■^^)  GoffiGiixot  Gv7J.oytafwC. 


34^ 

35 

36^ 


32  Stephan  Odon  Haupt, 

nieder,  damit  wii-  uns  vor  ihnen  hüten''").  Ans  dem  dieser  Stelle  fol- 
genden Schluß  ersieht  man,  daß  diese  Einteilung  von  Philnponos 
selbst  erfunden  ist,  denn  er  verteidigt  sie  gegen  Einwendungen  anderer. 
Das  Eine  ist  klar,  daß  er  die  Poetik  und  Rhetorik  nicht  zu  den  logischen 
Schi'iften,  die  er  sämthch  namenthch  anführt,  rechnet.  Da  er  die 
theoretischen  und  praktischen  Schi'iften  nicht  namentlich  anführt, 
so  läßt  sich  nicht  entnehmen,  zu  welcher  Gruppe  er  beide  rechnet. 
Auffallend  ist,  daß  Philoponos  die  von  Andi'onikos  als  unecht  ver- 
worfene Hermenie  anführt,  dagegen  die  Topik  nicht  erwähnt. 

Sein  Rivale  Simpükios  rechnet  schon  die  Rhetorik  zu  den  lo- 
gischen Sclu-iften;  auch  erwähnt  er  bei  den  logischen  Schriften  die 
Topik,  dagegen  finden  wh  auch  bei  ihm  die  Poetik  weder  bei  den  theo- 
retischen noch  praktischen  Werken.  Bei  den  logischen  Sclu-iften  be- 
hält er  bei  den  2  ersten  Gruppen  die  Einteilung  des  Philoponos,  aller- 
dings umgestellt,  bei,  indem  er  sagt:  „Zum  Organon  gehören  1.  die 
Sclu-iften  über  den  eigentlichen  wissenschafthchen  Beweis'*^).  2.  die 
Schriften,  die  zum  wissenschafthchen  Beweis  fühi-en,  als  da  sind 
die  erste  Analji^ik,  die  Hermenie  und  die  Kategorien^^y-.  ^yäiu-end 
aber  Philoponos  den  Ausdruck  „vrroöcoin'.r'  nicht  bei  den  lo- 
gischen Schi-iften  anw^endet,  sondern  bei  den  theoretischen  und  prak- 
tischen, gebraucht  Simplikios  dieses  Wort  für  die  logischen  Schriften, 
die  den  streng  wissenschafthchen  Beweis  zu  verdunkeln  suchen,  indem 
er  sagt:  3,  ..die  Schi'iften,  die  unter  dem  Deckmantel  des  ^Aissenschaft- 
lichen  Beweises  sich  einschleichen,  als  da  sind  die  Topik  (=  der  Wahr- 
scheinlichkeitsbeweis),  die  Trugschlüsse  und  ihi-e  Widerlegung  und 
die  Rhetorik^-^)."  Offenbar  ist  Simphkios  mit  dieser  Einteilung  in 
gesuchten  Gegensatz  getreten  zu  Philoponos.  Dieser  hat  das  allge- 
mein übhche  Wort  „vxodvofica'-,  weil  es  ihm  gerade  paßte,   ange- 


40)  ä'/ld  nakiv  wGirto  o/  laTooi  z«  haoixd  iraQuöidiiVT^z  to^c  vtoic 
d^£u)0)jn/.ju  fjbtiJri]VTUO  avr  lolg  okpslorGi  /.ui  rwv  ör,h]T)]oiwv  vntn  tov  tu 
fi(r  i'uTv  T«  da  (pvyeTv,  oinix)  xat  iVTuld^u,  tTist^rj  oi  GocpiaTcu  Trody^aia 
Tiuoiyovai  JOiQ  TTJc  dh]&(iuc  tcpsvosratc,  ao(pi6Tiy.oTz  tiGi  Gv'/J.oytGfJO^c 
avToig  l&fLovTsg  -nuQaxqovBGd^ai,  /gdtpei  xai  tovjovz  ö  (ptlÖGocfog.  'ivu 
(fivywper  uvrovc. 

")  TWJ'    öh    doyarixiZv    rd    ,ua'    TTfoi    uvrr^g    tGJi    Ji]g    d7rodaixjrxr;C 

fitd^oöov. 

4-)  7«  da  naol  nZv  tvou  cuir^g  wg  rd  Trooraou   dru7.vTixd  xai  id  Treoi 

aQfJH]va(ag  -/.ut  a'i  xuTr]yoQiui.. 

")  rd  da  Tiaql  Twr  ii]r  äjToSaiivv  vnodvojxavoiv,  wg  ol  tÖttoi  xai  oi 
GocpiGTCxot  D.ay/oi,  xut  al  mjioqixal  rap'ut. 


über  die  ^\'irkiiug  der  Tragödie.  33 

wendet.  Siniplikios  dagegen  muß  es  bewußt  in  polemischer  Weise 
aus  einer  der  Schriften  des  Ai*istoteles  entliehen  haben,  um  die  Ein- 
teilung des  Philoponos  herabzusetzen  und  seine  eigene  zu  rechtfertigen. 
In  der  Tat  finden  wh  in  der  Ehetorik  des  Aiüstoteles  alles  wieder, 
was  wir  bei  Simphldos  gehört  haben;  erstens,  daß  die  Ehetorik 
zm*  Politik  gehört,  zweitens,  warum  Simplikios  sie  zu  den  logischen 
Schriften  rechnet.  Im  2.  Kapitel  des  1.  Buches  der  Ehetorik  heißt 
es:  „So  ergibt  sich  denn,  daß  die  Ehetorik,  sozusagen,  eine  Art  von 
Nebenschößling  ist  aus  der  Dialektik  (=  Topik)  und  aus  der  Ethik, 
die  man  mit  Fug  imd  Eecht  eine  politische  Wissenschaft  zu  nennen 
hat.  Darum  hüllt  sich  denn  auch  die  Ehetorik  und  die,  welche  mit 
dieser  Kunst  Staat  machen,  in  das  Gewand  der  Politik,  wovon  bald 
Mangel  an  Bildimgseinsicht,  bald  Eitelkeit,  bald  andere  menschliche 
Schwächen  die  Ursache  sind.  In  Wahi'heit  nämlich  ist  sie  ein  Teü 
und  Seitenstück  von  der  Dialektik  (=  Topik),  wde  wir  gleich  zu  An- 
fang gesagt  haben."  (St.)**)  Dort  heißt  es  nämhch:  ,, Drittens  ist 
es  nötig,  daß  man  imstande  sei,  entgegengesetzte  Ansichten  zu  ver- 
fechten, gerade  wie  auch  bei  den  Syllogismen,  nicht  um  davon  prak- 
tischen Gebrauch  zu  machen,  —  denn  kein  Ehi'enmann  darf  das 
Schlechte  verfechten,  —  sondern  einmal,  damit  wh  wissen,  wie  man 
es  macht,  und  sodann,  damit  wh,  wenn  ein  anderer  solche  Gründe 
zum  jVachteil  der  gerechten  Sache  anwendet,  unsererseits  die  IVIittel 
haben,  sie  in  ihrer  Nichtigkeit  aufzuzeigen.  Von  aUen  anderen  Dis- 
ziplinen unternimmt  es  freilich  keine  einzige.  Entgegengesetztes 
gleichmäßig  diu-ch  Schlüsse  zu  beweisen;  die  Dialektik  und  die  Ehe- 
torik sind  die  einzigen,  welche  dies  tun,  denn  beide  begreifen,  die  eine 
wie  die  andere,  das  Entgegengesetzte  in  sich.  Aber  freilich,  die  der 
Behandlung  zu  gTunde  liegenden  Tatsachen  verhalten  sich  nicht 
auf  dieselbe  Weise,  sondern  hier  sind  immer  das  Wahre  und  Bessere 
ilirer  Natur  nach  auch,  sozusagen,  das  leichter  zu  Beweisende  und 
leichter  glaublich  zu  Machende."  (St.)*^) 


"**)  iüGT8  Gtijiißaiyst  ri]}'  QrjroQiy.rjv  olov  TraQUfpvic  ti  ttjc  Sta/^sxTixrjg 
eivui  xu.l  Tr>g  nsot  tu  ijß)]  TTgu/fJUTSiac,  iji'  SCxuiöv  ißri  TigoßayoQfvsn' 
TroXmy.ijr.  dio  xal  vttoS v sto-i,  vivo  tö  G/rjfiu  ti,  Tijg  uoXniySg  ij  qujooix)] 
y.ul  ol  uvTiTVOiovi-tivoi  laciriQ  tu  fjiir  Öl'  ujiuiöenGfur  tu  de  öi'  dXu/^ovatur 
TU.  öe  -/Ml  öl'  u.~/Jmq  uhiuQ  di'd^QWTTixäg .  eßTt  yO.o  yoQiov  Ti  zJjc  öiu- 
'/.h/.T ly.Tig  /.ut  o/toiwfju,  y.udujTfo  xui  uo^afisroi  eiTioiisr.     (1356^  25.) 

*^)  tri  öi  Tu.vuvitu  öeT  öivuG&ai  tth&bi,v,  xuS^ujreo  xui  tv  ToTg  gvI'Lo- 
yiGfiolc,  ov/  uTTLug  uf.t(fCTeou  Trod.ntoijer,    (ov  yuQ  öfl  tu  (puilu  TTsfü^eir) 

3 


34  Stephan  Odon  Haupt, 

Dann  heißt  es  :  „Ferner  haben  wk  gesehen,  daß  es  Aufgabe 
der  Rhetorik  ist,  das  wh-klich  und  das  nur  scheinbar  Glauben  Er- 
weckende zu  erkennen,  geradeso  wie  es  Aufgalie  der  Dialektik  (-=  To- 
pik)  ist,  sowohl  den  echten  als  auch  den  scheinbaren  (=  sophistischen) 
Schluß  zu  erkennen;  denn  der  sophistische  Schluß  beruht  nicht  im 
Können,  sondern  im  bewußten  Wollen.  Unterschied  ist  also  nm*  der, 
daß  im  ersten  Fall  einer  ein  Redner  sein  wird  entweder  nach  dem 
Wissen  oder  nach  dem  bewußten  Wollen,  im  letzten  Fall  einer  nur 
nach  dem  bewußten  Wollen  ein  Sophist  sein  wird,  wähi'end  im  zweiten 
Fall  einer  nicht  nach  dem  bewußten  Wollen,  sondern  nm*  nach  dem 
Können  ein  Dialektiker  sein  wird.^^)"  Mit  anderen  Worten :  Der  Sophist 
wül  falsche  Schlüsse  ziehen,  der  echte  Dialektiker  kann  richtige 
Schlüsse  ziehen,  und  wenn  er  einen  Fehlschluß  tut,  so  ist  es 
unabsichthch  geschehen;  der  echte  Rhetor  wiU  im  guten  Glauben 
überreden;  wenn  er  zu  etwas  Schlechtem  überredet,  so  ist  seine  schlechte 
Einsicht  schuld. 

Zusammenfassend  spricht  sich  Ai'istoteles  über  das  Wesen  der 
Dialektik  und  Sophistik  noch  deuthcher  in  der  Metaphysik  aus  und 
dort  verwendet  er  auch  das  Wort  „vjrodvofKu'.  Der  Philosoph 
muß  außer  dem  Seienden  auch  die  demselben  zukommenden  Merk- 
male  untersuchen  und  kennen. 

„Auch  die  Dialektiker  und  Sophisten",  heißt  es  dann,  ..geben 
sich  das  Ansehen  {Ijroövorrai  ö/jl^ua),  als  ob  sie  Philosophen 
wären  (die  Sophistik  ist  nämlich  nur  eine  Scheinweisheit  und  die 
Dialektiker  disputieren  eben  über  alles);  das  Seiende  aber  ist  für  alle 
Gemeingut.  Sie  disputieren  aber  darüber  offenbar  deshalb,  weil 
das  Seiende  der   Philosophie   zukommt.     Denn  Sophistik  und  Dia- 


dlX'  ha  iJijre  lavf^ürri  Ttiög  ^'xsi,  xui  OTTwg  üXlov  yQwijivov  rolg  löyoig 
fjbri  Sixaiu)c  amot  Xveiv  i;fO),ufv.  tmv  fjh  ovv  ukXujv  Texrtur  ovdefiiu 
Tuvuriia  CvXXoyiL.irui,  r]  öe  diuXixnxri  xul  tj  Qrjooixi]  /joyat  rovjo  noi- 
ovßiv  '  c/JoCwc  yüo  elaiv  u[ifp6ieoui  rmr  ivavrkor.  tu  pirioi  vttoxh^ivu 
TTQdyfJUiu  ovx  öpoitog  Ix^h  (^^^^^  «**  Täh]d^~i  xui  tu  ßüriLU  ti;  cpvGn  ev- 
GvXioytGTüTeQa  xul  nid^uvojisou  mq  oJvliZg  sitthv.     lM55a  "Ji». 

*^)  TTQoc  de  lOvTOig  oxi  T,rig  uvirig  TÖ  t?  mS^uvdv  xui  t6  (fMvöfjavov 
Ideiv  md^uvöv.  tuGTrso  xut  ijrl  t^c  öiuXexiuTig  avXloyiG/Jor  ts  xui  cpuivo- 
fisror  GvXkoyiG/Joi'.  6  yuQ  Go(ftGTixdg  ovx  iv  iT;  övrüfjei  ulk'  tf  rr  ttqo- 
uiQiGev  '  n'kiv  triuvd-u  fjev  tGTui,  6  fiiv  xutu  Ti]V  tmGJrji)]v  6  öe  xutu  T)]V 
TCQOuiqeGiv  QiJTwQ,  ixsl  6s  GocpiGTijg  juer  xutu  ti]v  7iQ0u(osGiV,  StuXsxTixtg 
de  ov  XUTU  TTiv  TtQOuiqeGiv,  uXlu  xutu  t)]v  övvu^iv.     1355  ^  15. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  35 

lektik  behandeln  dasselbe  Wissensgebiet  wie  die  Philosophie;  aber 
diese  unterscheidet  sich  von  der  Dialektik  durch  die  besondere  Ait 
ihres  Vermögens  (d.  h.  dm-ch  ihi'  Können),  von  der  Sophistik  diu-ch 
ilu-en  besonderen  Lebensplan  (d.  h.  durch  ihi-  Wollen).  Der  Dia- 
lektiker probiert,  wo  der  Philosoph  weiß,  und  der  Sophistiker  ist 
nur  scheinbar  ein  Philosoph,  in  Wü'klichkeit  niclit^')." 

Es  ist  mithin  Idar,  daß  Simplikios,  indem  er  die  Dialektik  {ol  toxoi 
ist  mit  diaXexTixrj  identisch),  die  Sopliistik  und  die  Ehetorik  zu 
den  logischen  Schriften  rechnet,  die  den  Beweis  zu  fälschen  imstande 
sind,  diesen  Ausführungen  des  Aristoteles  gefolgt  war;  denn  daß  er 
nicht  den  Einteilungsgründen  des  Andi'onikos,  die  wü*  übrigens  gar 
nicht  kennen,  beipfhchtet,  erhellt  schon  daraus,  daß  er  auch  die  Her- 
menie,  die  Andronikos  als  unecht  verwhft,  zu  den  echten  Aristotehschen 
Schi'iften  rechnet.  Und  während  Philoponos  das  Wort  „vjioövofim' 
selbständig  findet,  —  denn  er  beruft  sich  nicht  auf  Aristoteles,  um 
seine  neue  Einteilung  zu  begründen,  da  er  sonst  wie  Simplikios  auch 
die  Topik  und  Rhetorik  neben  den  sophistischen  Beweisen  hätte 
anführen  müssen,  —  nimmt  Simplikios  das  Wort  „vjrodvof/cu" 
sowie  seine  Einteilung  der  3.  Gruppe  der  logischen  Schriften  direkt  aus 
der  Rhetorik  des  Ai'istoteles. 

Elias  (David)  muß  ein  Schüler  des  Simplikios  gewesen  sein.  Denn 
er  nennt  die  3.  Gruppe  der  logischen  Schriften  wieder  wie  Simplikios 
die  „vjtodvof^fEra  t/)v  mtd^oöov',  doch  hat  er  die  Einteilung  des 
Simplikios  erweitert  dm-ch  das  Buch  der  Poetik:  ,,7-0  jceQi  .roir]Tijt/jq". 
Er  ist  es  also,  der  zuerst  das  eine  Buch  der  Poetik  zu  den  logischen 
Schriften  rechnet  und  der  deshalb  den  Verlust  des  ersten  Buches 
indnekt  verschuldet  hat.    Von  Wichtigkeit  ist  seine  Begründung. 

Er  sagt  nänihch:  „Die  Schriften,  die  sich  fälschlich  als  logischen 
Beweis  einführen  (vjioövöffsva),  sind:  die  Topik,  Rhetorik,  die 
sophistischen  Widerlegungen  und  das  Buch  über  die  Poetik.  Es 
gibt  nämhch  5  Arten  von  Schlüssen,  und  mit  Recht;  denn  auch  die 


■*')    ol  yUQ    Öiu'LSXJlXOl   Xut   GOtpiGlul   TUVXbV  fliV   VTTodvOViai   G/rj/ilU    TM 

(pUoGÜpro,  (1)  yuq  GocpiGitxi]  cpaivofjivr]  fj.Cvov  GO(pia  eGzC,  xui  01  diuAsxuxot 
dia'liyovTai,  jreot  dndvjwv),  xotvov  de  ttüGi,  ti  Iv  Igiiv.  SiuliyovTui  öe 
Ttaql  lovruiv  öqlor  iWi  Sid  tu  rrjg  (filoGocfiag  dvcu  uvxu  OiXiTa.  Tffoi  ph 
yuo  t6  uvto  yivoQ  GTOirpsTut,  ?;  GotpiGxixi}  xut  rj  öialexux)]  t/;  (piloGotpio., 
dklu  öioAfioiv  Trjc  fjev  t(o  tqitko  tT^q  övvd^swc,  tiJc  da  tov  ßtov  Trj  ttqo- 
(uoiGBi.  iGjt  de  1]  ö/ulfXTixi]  TTfioaGTixt]  71801  Uli'  fi  (piXoGO(pia  yrwoiGTixrj, 
i]  äf  GorpiGiiy.rj  cpuirofAiV)],  ovGu  d'  ov.    Metaphysik  y  2.  lOÜ4b  17. 

.3* 


36  Stephan  Odon   Haupt, 

Voraussetzungen,  von  denen  aus  diese  abgeleitet  werden,  sind  fünfer- 
lei: entweder  sind  1.  alle  Voraussetzungen  durchaus  wahr  und  dann 
ergeben  sie  den  logischen  Beweis,  oder  2.  alle  durchaus  falsch  und 
dann  ergeben  sie  den  poetischen  Schluß,  den  mäi'chenhaften,  oder 
3.  sind  sie  in  einer  Beziehung  wahr,  in  der  anderen  falsch,  und  zwar 
auf  di'eierlei  Weise:  a)  entweder  bringt  der  Betreffende  lieber  Wahres 
als  Falsches  vor  und  dann  hat  man  den  dialektischen  Schluß,  oder  b)das 
Falsche  überwiegt  vor  dem  Wahren  und  bewkkt  den  sophistischen 
Schluß,  oder  c)  Wahi'es  und  Falsches  hält  sich  das  Gleichgewicht 
und  wir  haben  den  rhetorischen  Schluß  vor  uns^^)." 

Auffallend  ist  in  dieser  Begründung  die  Bezeichnung  ,,</"tr(3//c 
=  falsch"  für  alle  Voraussetzungen  des  dichterischen  Schlusses, 
sowie  für  einen  Teil  der  Voraussetzungen  des  dialektischen,  sophi- 
stischen und  rhetorischen  Schlusses.  Aber  gerade  durch  dieses  Wort 
,,?^£tirf?/c"  hat  sich  David  (Elias)  verraten.  Sein  Gewährsmann, 
aus  dem  er  seine  Weisheit  holt,  ist  natiü-hch  wieder  Aiistoteles.  Was 
xAristoteles  unter  ,,fsvd//g''''  versteht,  erörtert  er  im  29.  Kapitel 
des  5.  Buches  der  Metaphysik.  Er  unterscheidet  zwischen  falschen 
Vorstellungen,  falschen  Behauptungen  und  lügnerischen  Menschen. 
„Falsche  Vorstellungen  sind  dann,  wenn  man  einem  Ding  oder  einer 
Person  etwas  zuschi'eibt,  was  ilmen  nie  zukommt  oder  nicht  immer 
zukommt  oder  wenn  solche  Vorstellungen  nm*  Phantasiegebilde, 
z.  B.  Träume  sind."^^)  ,,Eine  Behauptung  ist  falsch,  wenn  von 
etwsrs  das  behauptet  wkd,  was  nicht  wii'khch  ist."^"^)  „Eine  falsche 
Behauptung  ist  also  mit  einem  Worte  ein  Nichts. "^^)  Solche  falsche 
Vorstellungen  und  Behauptungen  so^^^e  alle  Traum-  und  Phantasie- 


^^)  TU  df  vnoövöi^iBvu  uvT)]i'  T)]r  dTi6dsi'S.(v  sIgl  tu  tottixü,  ui  ^jjio^f- 
xat  Tip'ui,  Ol  GocpiGTixot  Iksy^ot  y.ut  t6  TteQi  7toiriTix)]g.  Tiivrt  yüq  siGiv 
sl'drj  TiZv  Gv'/J.O)iGu(i)r,  djtodiiXTixog,  StuXexTixcc,  GO(fiGTixöc,  wjtoqixÖc, 
7roii]Tixöc.  xul  sixcTwg,  ijrfidrj  xut  ui  ttootuGsic,  ö&fv  KuytiävovTui, 
TTii'TS  ecGiv  '  ij  yuo'  TravTii  uX]]&£7g  iiGiv  ui  TTOOTUGetg  xat  ttoiovGi  tov 
uTioSsixTixov,  ij  TTUVTrj  ipstjösTg  xat  ttoiovGi  tov  ttohjtixov,  tov  fiivd^üjörj,  /f 
TtT]  fiev  äXrid-sig,  jrrj  ^e  rl'SvdsTg,  xut  tovto  TQiytlig  '  i]  yuq  fJÜX'Aov  uLrid^evet, 
rjjTOv  fif  ^ifvöirai  xut  jtoih  70j'  SiuJ.sxTixir  GvXloyiG^icr,  /;  TTliov  tyei  tö 
ipivdog  TOV  u'krid^ovg  xut  ttoih  tcv  G0(piGTix6v,  i]  tTTiGov  tyei  tö  u'/^ij9^ig  tm 
ipsvSd  xui  TtoiH  TOV  grjTOoixor. 

*^)  TTQdyyuTtt  jjtv  ovr  ^tevStj  oitco  layerui,  r  tm  ,u>/  sfvui  uvtü,  r, 
TM  Ttjv  un'  uvidör  (puvTuGfuv  fji]  oviog  ilvui.     Metaph.  d  "29.  lO'2-tb  24. 

^'')  J^yog  di  ^nvörig  6  iiZv  fj)}  oi'Ttur  tj  ilisvdijg.     1024b  26. 

'"^j  6  ^£  ipsvdrjg  loyog  ovdevög  ißTir  uirXwg  Xöyog.    1024^  31. 


über  die  ^^'irkijng  der  Tragödie.  37 

gebilde,  zu  welch  letzteren  auch  die  Werke  der  Dichtkunst  gehören, 
sind  an  und  für  sich  noch  nicht  lügnerisch,  sondern  niu  In'-  oder 
AVahnbilder,  erst  die  Absicht  des  Menschen  macht  sie  zu  Lügenbildern. 
,, Der  jenige  Mensch  ist  ein  Lügner,  der  mit  solchen  Behauptungen 
gleich  bei  der  Hand  ist  und  absichthch  lügt,  nicht  aus  einem  anderen 
Grunde,  sondern  nur,  weil  er  flu  die  Lüge  emgenommen  ist,  und  der 
auch  anderen  solche  Behauptungen  beibringt,  geradeso  wie  wü"  von 
den  Vorstellungen  diejenigen  falsch  genannt  haben,  welche  eine 
Wahnvorstellung  erwecken. " '^^) 

Es  gibt  4  Arten  von  falschen  Schlüssen  ^^).  Uns  interessieren 
hier  nur  diejenigen,  die  aus  falschen  Prämissen  hervorgehen.  Über 
diese  Schlüsse  sagt  nun  Aristoteles:  „Die  Beweisführung  ist  falsch, 
wenn  die  verwendeten  Vordersätze  falsch  sind.  Dabei  wüd  der  Schluß- 
satz bald  falsch,  bald  wahr  sein.  Denn  das  Falsche  wüd  wohl  immer 
dm'ch  falsche  Vordersätze  geschlossen,  das  Wahi'e  aber  kann  auch 
aus  nicht  Walu-em  geschlossen  werden,  wie  dies  fi'üher  gezeigt  worden 
ist."  (B.)5*)  Es  bezieht  sich  diese  Stelle  auf  das  2.  Kapitel  des  2.  Buches 
der  1.  Analytik.  Dort  sagt  Aristoteles:  „Es  können  nun  die  Vorder- 
sätze, .  diu-ch  welche  der  Schluß  zustande  kommt,  sich  so  verhalten, 
daß  sie  beide  wahr  sind,  aber  auch  so,  daß  sie  beide  fal^^ch  sind,  und 
drittens  so,  daß  der  eine  wahi-,  der  andere  falsch  ist.  Der  Schlußsatz 
aber  ist  notwendig  entweder  wahi-  oder  falsch.  Aus  wahren  Vorder- 
sätzen nun  läßt  sich  nichts  Falsches  schüeßen,  wohl  aber  aus 
falschen  Vordersätzen  etwas  Wahres,  jedoch  nicht  ein  Wai'um, 
sondern  ein  Daß ;  über  das  Warum  nämhch  ergibt  sich  kein  Schluß 
aus  falschen  Vordersätzen".  (B.)^^) 


^-)  ävd^QWjrog  Sa  t^iavdi]g  u  £v/eo)]g  y.ul  Tvoo/.onixcg  Ttov  tuiovtcuv 
).6yu)v,  fii]  6v'  hegov  n  OjJm  öi'  aviö  xat  ü  a.lloic  ijJTTOivjr/.üc  twv  toi- 
ovTiov  Itywv,  uiffTTfo  xul  TU  TiQuyficf.Td  (fju/ner  il>svSfj  sivai,  oGa  IpTioiH 
(pavTUGiav  iffaviSrj.     1025a'  2. 

"■■')  Topik  d-  12.  162b  3. 

'"*)  ifjevdrjg  6s  Xoyog  yMAsnac,  raTouywg,  .  .  .  u/Slov  da  roönov  luv  diu 
il'evd'wr  6v}J7iaQu(vrixui.  toitov  d'  aarui  Ttora  juat'  tö  GvjLiTiEQaGiLiu  ipavdog, 
TTOia  6'  uh]fhag  ■  tu  ftar  yuo  iliavöog  äst  6iu  ifievöcöy  TiaouiraTui,  tu  ö' 
L/.}jx9ag  ayyiooal  y.al  fj)]  a'S  a/j/.'^wr,  (ZoTrao  aYmjrat  y.0.1  nooTanor.  Topik 
.9-  12.  16jb  3. 

^^)  a6Ti  fjav  ovr  ovjiug  a'/air  lüoi'  ulri&alg  stvui  Tug  TTQOTÜGaig  Si.'  tuv 
.--  GvV.oyiGitvg,  l'öT*  J'  U)GT£  ipavdaTg,  I'gti  ö'  würa  Ttjv  fMv  ulr^d-J]  t^v  da 
ipavd'ri.  TU  da  GvfijraguGfia  Ij  ulijd-ag  ij  cpavdog  a^  urdyy.rig.  a'S  olqd^iZv 
,(iav  ovr  ovx  iGJi,  ipaidog  Gv'Ü.oyiGuGd^ui,  ay.  ipavöiör  J"  tOTiv  u'At],9L,  ttk^v 


38  Stepluin  Odon  Haupt, 

Ferner:  ,,Sind  aber  die  Vordersätze  falsch,  so  ist  es  iriöglicli, 
etwas  Wahres  aus  ihnen  zu  schüeßen  und  dabei  können  sowohl  beide 
Vordersätze  falsch  sein  als  auch  der  eine,  nur  ist  es  im  letzteren  Falle 
nicht  immer  gleichgültig,  welcher  von  beiden  falsch  ist,  sondern  es 
muß  der  2.  sein,  wenn  man  ihn  als  ganz  falsch  nimmt:  nimmt  man 
ihn  aber  nicht  als  ganz  falsch,  so  ist  es  gleichgültig,  welcher  von 
beiden  Vordersätzen  es   ist."   (B.)^^) 

Offenljar  hat  Aristoteles  im  1.  Buch  seiner  Poetik  die  Wirkung 
des  Dramas  auseinandergesetzt.  Und  da  beim  poetischen  Schluß 
beide  Vordersätze  falsch  sind,  aus  falschen  Vordersätzen  aber  ein 
wahrer  Schluß  gezogen  werden  kann,  der  aber  nie  den  Zweck,  das 
Warum,  sondern  nur  die  tatsächliche  Wirkung,  das  Daß,  ergeben 
kann,  so  folgt  daraus  unmittelbar,  daß  diese  Wirkung  des  Dramas 
nur  eine  intellektualistische  sein  kann,  nie  eine  ethische  oder  ästhe- 
tische, weil  niu-  erstere  unausblei])licli  ist,  also  eine  Tatsache  enthält, 
letztere  aber  akzidentell  sind,  weil  sie  einen  Zweck  enthalten.  Die 
Kunst  des  Dichters  vermag  jeden  Zuschauer  zu  fesseln,  so  daß  er 
in  einer  der  dai'gestellten  Personen  einen  Gesinnungsgenossen,  in  der 
zweiten  einen  Geo;ner  sieht.  Daher  werden  die  tatsächlich  falschen 
Prämissen,  auf  die  der  Dichter  sein  Drama  aufbaut,  von  keinem  Zu- 
schauer als  falsch  empfunden,  sondern  sie  sind  für  jeden  Zuschauer 
richtige  Annahmen  —  Aristoteles  nennt  solche  vom  Hörer  als  richtig 
anerkannte  falsche  Annahmen  im  10.  Kapitel  des  1.  Buches  der  2.  Ana- 
lytik „t\70öt'o£tc".  Anerkennt  ein  Zuhörer  solche  falsche  An- 
nahmen nicht,  dann  sind  sie  fin*  ihn  „(uvfjffnTa'.  Dies  trifft  aber 
nur  beim  rhetorischen  Beweis  zu.  Für  die  Anhänger  des  Redners 
sind  seine  Beweisgründe  ,.r.To.9-ta£f--",  für  seine  politischen  Gegner 
sind  sie  „ah/juara''.  Ebenso  ist  der,  der  einen  sophistischen  Be- 
w^eis  glaubt,  durch  „vjioD^osiq'  gewonnen,  während  derjenige, 
der  sich  nicht  fangen  läßt,  „akfjfiara''  vor  sich  hat.  Im  selben 
Kapitel  führt  Aristoteles  ein  schlagendes  Beispiel  für  die  absolute 
Richtigkeit  eines  Schlusses  trotz  falscher  Annahmen  an.  Wenn  nämhch 


ov    diÖTt    ulV   ÖTi  •  T<w    yuQ    (hon    ory.    iGiir    i/.     ifftvÖLZr    auAloytCf/ö^. 
Anal.  pr.  B.  2.  5:]b  4. 

='^)  ix  ifiivdöir  d'  dÄt]^ec  ißn  avlloyiGaaihu  y.ai  dfKfOTfoior  töjv 
7VQ0TÜ.6SWV  tjitvdiZr  ovGwr  y.ut  ir^g  fiiäg,  ravTrig  S'  ov/  tjroitoo.g  hv/ev 
diXd  rrjc  Ssviioug,  idmaq  öh]r  /M-fißart]  tpsvöfj  '  firj  oÄf?^'  öi  /M^ßaro- 
fjiivrjc  Igtiv  ÖTtoTeQUGovv.    öo^'  "26. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  39 

der  Geometer  mit  einem  verjüngten  Maßstab  Berechnungen  anstellt, 
so  hat  er  doch  nicht,  wie  einige  Philosophen  behaupten,  eine  falsche 
Annahme  gemacht;  diese  sagen  nämhch,  man  dürfe  keine  Lüge  ge- 
brauchen, der  Geometer  lüge  aber,  wenn  er  behaupte,  daß  der  ver- 
jüngte Fuß  ein  Fuß  sei  oder  eine  mit  freier  Hand  gezeichnete  Linie 
sei  eine  Gerade.  Sondern  der  Geometer  stützt  seine  Schlüsse  nicht 
auf  die  Beschaffenheit  der  angenommenen  Linie,  sondern  auf  das, 
was  er  darunter  versteht^'^). 

Wü*  finden  nun  in  der  Begründung  des  David  (Ehas)  die  Nutz- 
anwendung dieser  Stelle  aus  der  Analytik  auf  den  poetischen  Schluß. 
Auch  der  Dichter  geht  von  Annahmen  {ip6v(h~j)  aus.  Indem  er  die 
Folgerungen  aus  den  erdichteten  x\nnahmen.  die  aber  der  Wnldich- 
keit  entsprechen,  zieht,  führt  er  dem  Zuhörer  einen  gültigen  Beweis 
vor,  geradeso  wie  die  Berechnungen  des  Geometers  trotz  des  ver- 
jüngten Maßstabes  stimmen,  vorausgesetzt,  daß  er  richtig  rechnet: 
ebenso  müssen  auch  die  Folgerungen  des  Dichters,  sollen  sie  als  richtig 
erkannt  werden,  so  dargestellt  werden,  daß  sie  mit  Naturnotwendig- 
keit eintreten  müssen  oder  doch  eintreten  können  oder  sollen. 

Olympiodoros  weicht  von  seinen  beiden  Vorgängern  nur  bei 
der  Bezeichnung  der  3.  Gruppe  der  logischen  Schiiften  ab,  die  Simp- 
likios  und  Elias  (David)  als  „t«  dh  .tsqI  tcöv  rrjv  dji66sis(r 
vjiodvouhfov''  bezeichnet  hatten.  Er  nennt  sie  ,,r«  dt  xad^aiQovTa 
rrjv  fitD-odor'  und  bei  der  Spezifizierung  dieser  3.  Gruppe  sagt  er: 
„ixyCftihctQovOc  OB  T/)i'  [itd^odov  Ol  öoffiüTiy.ol  lltyyoi  xal  ol  tojtoi 
xMi  cd  (njTOQiy.cu  xiyvai  xal  x6  Jisgl  jtou/rixr/g  ro  xaZovf^ievov".  Und 
zur  Begi-ündung  seiner  von  Simplikios  und  Elias  (David)  abweichenden 
Bezeichnung  der  3.  Gruppe  fügt  er  hinzu:  ., Einige  untersuchten,  wozu 
die  sophistischen  Widerlegungen,  die  Dialektik.  Rhetorik  und  das  Buch 
über  die  Poetik  nütze  sind  und  weshalb  der  Philosoph  diese  Bücher 
veröffentlicht  hat.  Diesen  erwidern  wir,  daß,  sowie  den  Söhnen  der 
Asklepiaden  nicht  nm'  die  Kenntnis  vom  gesunden,  sondern  auch 
vom  kranken  Menschen  beigebracht  wird,  damit  sie  das  eine  wählen, 
das  andere  fhehen,  so  auch  der  Philosoph  diese  Schriften  als  gefähr- 


"'')  ov  d'  6  yfwfJiTfji]^  (/»£(•()";]  vnoiid^irat,,  cÜGTrso  Tiviqifpo.Gav.  liyorreg 
WC  ov  Sei  TM  tftsvdai  yoriadui,  tov  de  YSU)}itroriV  ifindsa&ui  kiyovTa 
jrodiuiuv  Tr,v  ov  Ttoöiaiav  ij  sv&eTar  Tjjr  yeyQu.^iiitr)]v  oix  fv&s7av  ovßuv. 
ü  6e  yfuJfAiToijg  ovdlr  (TVfiTrfQuCveTai.  to)  r^vde  ehui  yQUfif^njr,  fjv  avTog 
icptteyxTui,    dVul   rü   did   tüvtlov  S)]loi\asra.     Anal.  hyst.    A.  10.  76b  39. 


40  Stephan  Odon  Haupt, 

liehe  Waffen  beilegen  zu  müssen  glaubte,  nicht  daß  wir  sie  gebrauchen, 
sondern  damit  w  sie  durchschauen  und  uns  nicht  von  ihnen  unioarnen 
lassen;  denn  er  hatte  erkannt,  daß  einige  sophistische  Schlüsse  die 
Wahrheit  zu  verkehren  und  zu  vernichten  trachten.  "^^) 

Diese  Begründung  deckt  sich  dem  Sinne  nach  vollkommen  mit 
der  des  Philoponos,  auch  kommt  bei  beiden  der  ungewöhnüche  Aus- 
druck  „(jvj/i^aUi^öfha'  vor,    so  daß  wh  nüt  Sicherheit  annehmen 
können,  daß  Olympiodoros  ein  Schüler  des  Philoponos  ist  und  seinen 
Lehrer  gegen  die  Angriffe  des  Simplikios  verteidigt.     So  >Yie  dieser 
und  Elias  (David)  nimmt  auch  er  Zuflucht  zu  Aristoteles,  um  sich 
bei  diesem  seine  Waffen  zu  holen.    Und  während  Simplildos,  wie  wh* 
gesehen  haben,  die  Rhetorik  und  Elias  (David)  die  Analytik  ausge- 
beutet hat,  findet  Olympiodoros  seine  Waffen  in  der  Poetik.     Das 
zeigt  schon  das  Wort  ,,y.ai>aiQovxa\  das  er  an  Stelle  des  von  Simp- 
likios aus  der  Rhetorik  zu  Hilfe  genommenen  Wortes  „vjrodvoicai'' 
anwendet.     Die  Dialektik,  Sophistik.   Rhetorik  und  Poetik  dürfen 
uns  nicht  verwkren,  indem  sie  den  wissenschafthchen  Beweis  ver- 
dunkeln   {vjroövo^usra),     wie    Simplikios    meint,    sondern    müssen 
auf    uns    aufklärend    wirken  {yMdcuQovra),    damit   wir  sie    dm-ch- 
schauen  und  uns  nicht  von  ihnen  umgarnen  lassen  {iru  yr/rojoxorTtg 
in)    -lEQLjiiöomav   rolq    a-irolc),     sagt     Olympiodoros.      Allerdings 
hinkt    die    Begründung    des    Olympiodoros.      Denn    sie    paßt    nm- 
auf  die  sophistischen  Beweise  voll  und  ganz,  weniger  auf  die  dialek- 
tischen, rhetorischen  und  poetischen.   Was  al)er  Olympiodoros.  seinen 
Ausch'uck  „yMdaiQorra'   in   etwas   unbehilflicher  Weise    erklärend, 
sagen  wollte,  ist,  daß  man  vor  der  3.  Gruppe  der  logischen  Schiiften, 
den  aufklärenden,  auf  der  Hut  sein  müsse.  Sie  dienen  dazu,  das  Walu'e 
und  Falsche,  Gute  und  Böse,  das  nicht  eindeutig  durch  einen  klaren 
Beweis  ersichthch  ist,  dm-ch  Beispiele  zu  erörtern  und  aufzuhellen; 
denn  dazu  dient  eben  die  Dialektik,  Rhetorik  und  Poetik  und  indirekt 


5S)  f^/^rrjGur  fU  tivhc.  ttooc  rf  (rvfißuXloiTui  oi  GofpiGn/.oi  l'/.fyxo'  y-ci 
ol  TÖTtoi  xul  a'i  o)]roQi/xd  rip'ai,  xui  lo  tt^oi  7T0i,)]Tr/Sjc,  y.ai  öid  ti  ruTna 
i'§id-aTO  6  ^Moocpog.  TiQtg  ol'g  <pufjsr  trt  xu&djrfQ  oi  uöv  ylGy.hjTTiadwr 
TiaJSeg  ov  ßövov  t?jj'  twv  vyisiviör  uVm  xul  rrjv  rwv  roGegtöv  jiuidivovTO.v 
yvöJGiv  vTceo  rov  tu  fisv  ileh'  tu  öt  (fvysir,  ovtw  xul  o  cpilÖGocpog  yiyrtö- 
Gxwv  oTi  TTerpvxuGi  iirsg  GocpiGnxol  Gvl'AoyiGfiol  TTatQwyivoi  Ti]r  dhjd^HUv 

■JVeQVTQtTTSiV   XUl   TUVTl]V    UfpUv'lGUi,    ÖsiV  O^ljd^)]    TOVTOVg    TVSQldiGd^Ulj    OV^  *'»'« 

/griGiü/j^d^u  TOvroig,  uXk'  Ivu  yiyrwGxovTsg  fj-rl  ireqmiGioiiav  lo^g  avjolg. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  41 

die  Sophistik.  Aber  nui"  das  eine  Buch  der  Poetik  Aviikt  aufklärend, 
das  die  Taten  der  Menschen  behandelt.  Hierin  stimmt  er  dem 
Elias  (David)  bei,  weshalb  er:  ,,r6  jisql  jtoir/ziySjg  ro  xa?.oh(i8vory 
das  sogenannte  Buch  über  die  Poetik,"  sagt.  Er  sagt  ,, sogenannt" 
und  deutet  damit  an,  daß  diese  Teilung  der  Poetik  nicht  von  ihm, 
sondern  von  Elias  (David)  ist.  Das  erste  Buch  behandelt  die  schaffenden 
Künste,  die  nicht  ,, handelnde  Personen"  zum  Gegenstande  ihrer 
Darstellung  nehmen,  bei  denen  es  also  nicht  auf  die  Unterscheidung 
von  Wahr  und  Falsch,  Gut  und  Böse  ankommt,  sondern  von  Schön 
und  Unschön,  weshalb  er  dieses  erste  Buch  nicht  zu  den  logischen 
Schi'iften  rechnen  durfte.  Dagegen  mußte  es  ihm  bekannt  sein,  war 
es  doch  noch  dem  Ammonios  bekannt,  und  außerdem  hat  sich  Olym- 
piodoros  seine  Weisheit,  wie  aus  den  Ausdi-ücken  ..yMd-aiQovxa'' 
und  „ty.xad-al()ov6i''  ersichthch  ist,  aus  der  Poetik  geholt,  und 
zwar  können  diese  Ausdrücke  nm*  aus  dem  verlorenen  Teil  der  Poetik 
stammen.  Es  erübrigt  uns  noch,  die  Reihenfolge  der  3.  Gruppe  der 
logischen  Sclu^iften  bei  den  3  zuletzt  genannten  selbständigen  Denkern 
einer  Kritik  zu  unterziehen;  denn  Abweichungen  in  der  Reihenfolge 
müssen  in  einem  'solchen  Falle  begründet  sein. 

Simphkios  hält  folgende  Reihe  ein:    Topik,  Sophistüv,  Rhetorik; 

Elias:   Topik,   Rhetorik,  Sophistik,  Poetik; 

Olympiodoros:  Sophistik,  Topik,  Rhetorik,  Poetik. 

Die  Araber  haben  folgende  Reihe:  Topik,  Sophistik,  Rhetorik, 
Poetik. 

Daß  Elias  und  Olympiodoros  auseinander  gehen  müssen,  ist 
klai";  denn  Elias  hebt  die  negative  Seite  der  4  Beweise,  die  Möghch- 
keit  der  Täuschung  durch  sie,  das  vjcodv8<h%cc,  hervor,  wälu'end 
Olympiodoros  die  positive  Seite,  die  Aufklärung,  das  y.icdcciQtw, 
betont.  Warum  aber  weicht  Elias  auch  von  Simplikios  ab  und  warum 
die  Araber  von  Olympiodoros? 

Zunächst  ist  klar,  daß  die  Ai*aber  dem  Simplikios  folgen,  nur  daß 
sie  auch  noch  die  Poetik  ameihen. 

Was  die  Reihenfolge  des  Elias  (David)  anlangt,  so  ist  sie  eigent- 
lich durch  seine  oben  erwähnte  Begründung  gegeben.  Bei  ihm  handelt 
es  sich  in  erster  Linie  um  die  Voraussetzungen.  Beim  Dialektiker 
sind  mehr  wahre  Voraussetzungen  als  falsche,  beim  Rhetor  halten 
sich  beide  das  Gleichgewicht,  beim  Sophisten  sind  mehr  falsche  als 
wahre  Voraussetzungen,  beim  Dichter  sind  nm-  falsche  Voraussetzungen. 


42  Stephan  Odon  Haupt, 

Bei  Olympiodoros  ist  die  Reihenfolge  ethisch  bewertet:  Sophist  iiiul 
Dialektiker  wirken  auf  den  Verstand  des  Hörers,  Rhetor  und  Poet 
auf  den  Willen;  und  zwar  ist  der  Sophist  am  niedrigsten  bewertet, 
weil  er  die  Wahrheit  fälschen  will,  der  Dialektiker  wohl  nicht  fälschen 
will,  aber  kann;  der  Rhetor  treibt  an  oder  hält  ab  von  Handlungen, 
der  Poet,  der  den  höchsten  Rang  einnimmt,  mW  bessern.  Simp- 
likios  und  die  Araber  bewerten  in  ihrer  Reihenfolge  die  Schwierigkeil 
der  einzelnen  Beweise,  ohne  Rücksicht  zu  nehmen  auf  den  morahscheu 
Wert  derselben.  Dialektiker  und  Sophist  wirken  auf  den  Verstand 
des  Hörers,  haben  also  eine  leichtere  Arbeit  als  der  Rhetor  und  Poet, 
die  auf  den  Verstand  und  das  Gemüt  des  Hörers  wirken  müssen; 
diese  beiden  müssen  auch  noch  Psychologen  sein;  und  zwar  hat  der 
Dialektiker  die  leichteste  Arbeit,  denn  er  will  ja  die  Wahrheit  be- 
weisen und  diese  läßt  sich  leichter  glaubwürdig  darstellen  als  das 
Falsche,  das  der  Sophist  beweisen  will;  und  der  Rhetor  hat  eine  leichtere 
Arbeit  als  der  Poet,  denn  er  hat  es  mit  der  leicht  erregbaren  Menge 
zu  tun,  während  der  Poet  sich  an  die  schwerer  lenkbaren  Gebildeten 
wendet. 

Schon  aus  diesen  Ausführungen  der  syrischen  Peripatetiker  des 
6.  Jahrhunderts  nach  Chr.  erhellt  demnach  unwiderleglich,  daß  Aristo- 
teles die  Wirkung  der  Tragödie  nm  als  eine  intellelvtualistisch  auf- 
klärende aufgefaßt  haben  kann. 

Im  folgenden  wollen  wir  noch  aus  der  Definition  der  Definition 
des  Aristoteles  beweisen,  daß  der  Schlußsatz  zur  Definition   gehört. 

Es  gibt  nach  Aristoteles  3  Arten  von  Definitionen.  ,, Definition 
ist  1.  unbewiesene  Aussage  dessen,  was  etwas  ist;  2.  Schluß  auf  das, 
was  es  ist,  nur  in  der  äußeren  Form  unterschieden  vom  Beweis;  3.  das 
Ergebnis  des  Beweises  für  das,  was  etwas  ist."  (B.)^^)  Der  erste  Satz 
bezieht  sich  nur  auf  solche  Begriff  e,  die  keine  Mittelbegriffe  haben  (d.h. 
deren  Ursache  man  nicht  weiter  bestimmen  kann,  weil  sie  Endur- 
sachen sind^").  Aristoteles  erörtert  diese  3  Alten  der  Definitionen 
an  dem  Donner.  1.  Donner  ist  Geräusch  in  den  Wolken.  Diese  Defi- 
nition ist  aber  unzulänglich,  weil  Geräusch  erklärbar  ist.    Die  2.  lautet : 


I 


•■'')  I'gtiv  toiGfiöc  eig  (JI:)'  Aoyog  io7  ji  lajir  äiurroö st,XT.iy.üC,  üg  6l 
GvkXoytGfiog  Tov  li  icTiv,  jiTwß&t  diaffioior  r7]g  uTTOchfieiog,  jqItoq  öl  rr^g 
TOv  iC  iaitv  d7rodfi'<^s(jüg  avf^7T£Qaaf^ta.    Anal.  post.  B.  10.  94»  11.  „ 

^)  6  6a  Twr  ufjiGwv  oQiGfidg   Ofßig  tGri   rov  ri   ißriv,    ävunööic/.iog.  ^ 

Anal.  post.  B.  10.  94a  9. 


über  die  Wü'kung  der  Tragödie.  43 

Düiiiier  ist  die  Folge  des  Erlöschens  des  Feuers  in  den  Wolken.  Die 
3.  lautet:  Donner  ist  das  Geräusch,  welches  entsteht,  wenn  das  Feuer 
in  den  Wolken  erhscht. 

Dasselbe  wie  über  die  Definition  des  Entstehens  sagt  auch  Aiisto- 
teles  von  der  Definition  der  Dinge. 

„Wenn  man  definiert,  was  ein  Haus  ist,  und  sagt,  daß  es  eine 
Anzahl  Steine,  Ziegel,  Hölzer  ist,  so  gibt  man  das  potentielle  Sein 
des  Hauses  an,  die  Materie,  sagt  man  aber,  ein  Haus  sei  ein  Behältnis, 
welches  zum  Schutz  von  Personen  und  Sachen  dient,  oder  sonst  etwas 
derartiges,  so  gibt  man  das  aktuelle  Sein  an;  setzt  man  aber  beides 
zusammen,  so  hat  man  die  ch'itte,  aus  den  2  ersten  zusammengesetzte 
Definition."  (B.)'^\)  ..Daraus  ist  klar,  was  man  unter  der  Definition 
des  sinnüch  AVahrnehmbaren  sich  zu  denken  hat  und  in  welcher  Weise 
sie  gebildet  wird:  sie  ist  einerseits  der  Stoff,  anderseits  die  Form, 
weil  sie  in  dem  Fall  aktuell  ist,  drittens  das  Produkt  der  zwei  ersten."^^) 
Die  erste  Ai't  der  Definition  kann  man  also  niu*  anwenden,  wenn  die 
Ursachen  nicht  angegeben  werden  können,  weil  sie  nicht  Mittel- 
begTiffe.  sondern  Axiome  sind.  Die  2.  Art  enthält  nicht  das  Wesen 
des  Begriffes,  sondern  die  Veranlassung  seines  Entstehens.  Sie  ist 
demnach  nur  anwendbar,  wenn  man  das  Wesen  nicht  bestimmen  kann, 
z.  B.  bei  der  Definition  der  Sonnenfinsternis.  Die  3.  Art  ist  demnach 
die  gewöhnhche  Definition  und  diese  muß,  wie  wir  sehen,  außer  dem 
Wesen  auch  seine  Gründe  angeben. 

Was  nun  das  Kunstwerk  selbst  anlangt,  so  sagt  darüber  Aristoteles : 
., Durch  Kunst  entsteht  das,  dessen  Idee  in  der  Seele  ist.  Unter  der 
Idee  aber  verstehe  ich  die  erste  Ursache  eines  jeden  Seins  und  die 
erste  Substanz,  das  ist  den  abstrakten  Begriff."^^)  Die  jtqojtjj  ovaia 
ist  nach  den  Kateg.  5.  2''  11  nichts  anderes  als  der  ,, abstrakte  Be- 
griff'.    Unter   ro  tI  f'/r  H'rai  versteht  Aristoteles    nichts    anderes 


61\ 


')  Jto  TW)    üQi,L,ofitrwr  o'i   /iev    /JyovTi.:,    ri   aonr  oix(u,    oti    iC&ot, 
tc'aCvS^ol,  §t'Ä«j  Ti]v  din'u,afi  otxiui'  kiyotißiv,  vkt]  yuo  rama '  ol  ds  uyyHOv 

GXeTruGTtXOl'   (TWflUTMV    -/mI  yQYl^f/.TAJJV,    ■)]    Tl    Xal   UAAO   TOIOVTOV   TTQOGd^ivTac, 

ii]v  ivsQyaia  leyovGiv  "  ol  d'  äfiqxo  juvra  Gwiid^ivieg  zijr  tqCttjv  xal  Trjv 
ix  TouTivv  ovGiuv.    Metaphysik  ?]  2.  lOlSa  14. 

''-)  (pavBQÖv  6i]  ix  TMv  HQrif.iivn)v,  TIC  }]  uiGd^r]T7j  ovGta  IgtX  xal  ttloq  ' 
?■  fisv  yuQ  (jjg  tXri,  ?;  f^'  tue  /^'OQcpi]  oti  hioyeia,  fj  dl  toCti]  >;  ix  tovtwv. 
Ebenda  1043a  26. 

''')  UTio  Tfp'fjg  ds  yiyviTai.  vGior  to  ffd'oc  it'  tT;  tpv/ji.  sMog  6e  kiyio 
t6  tC  i]v  dvui,  ixÜGTOv  xal  Ttjv  TrQOJTrjv  ovGiav.     Metaph.  t,  7.  1032^  J. 


44  Stephan   Odon  Haupt, 

als  die  2.  Ai't  der  Definition  und  diese  ist  die  aktuelle  Form,  Ursache 
eines  Enstehens.  Tatsächlich  finden  w  das  ,,to  tI  ijr  drut 
{=  was  ist  es,  das  die  Ursache  war,  daß  etwas  ist)  als  die  wichtigste 
erste  Ursache  bei  den  4  Ursachen  wieder.  Aristoteles  unterscheidet 
nänilich  4  Ursachen,  die  natürhch  nach  der  zeittichen  Abfolge  an- 
gegeben sind^'^).  Die  erste  und  wichtigste  Ursache  alles  Entstehens 
ist  „To  TL  i)v  dvai'.  Was  ist  nun  die  erste  Ursache  alles 
Entstehens?  Bei  dem  natüi'lichen  Entstehen  ist  es  das  Vorhanden- 
sein der  Ai"t,  z.  B.  damit  em  Mensch  entstehe,  muß  die  Art  schon  vor- 
handen sein;  beim  künstlichen  Entstehen,  z.  B.  beim  Kunstwerk, 
ist  es  der  erste  Anstoß,  mag  dieser  nun  die  Anregung,  das  Erlebnis, 
der  Auftrag  oder  etwas  Ähnhches  sein,  km'z  das,  was  das  Kunstwerk 
ins  Rollen  bringt.  Dazu  kommt  der  abstrakte  Begriff  des  zu  Schaffenden, 
die  üiQcöx}]  ohOia,  und  so  entsteht  die  Idee,  z6  elöog,  die  nun 
im  Innern  verarbeitet  whd,  bis  sie  zm*  Ausfühi'ung  kommt.  ..Vom 
Entstehen  und  von  den  Bewegungen",  sagt  Ai'istoteles.  ..heißt  der 
eine  Teil  Überlegung,  der  andere  Schaffen.  Die  Überlegung  erstreckt 
sich  vom  Anfang  a:i  und  über  die  Idee,  vom  Ende  der  Überlegung 
an  beginnt  das  Schaffen*^')."  Unter  der  Idee  des  Kunstwerks  ver- 
steht also  Aristoteles  die  erste  Am-egung  zu  demselben  und  den  ab- 
strakten Begriff. 

Was  also  die  4  Ursachen  alles  Entstehens  anlangt,  so  ist  die  erste 
Ursache  flu*  das  künsthche  Entstehen  die  Am-egung,  die  2.  ist  der 
wu'khche  Stoff,  das  Material,  denn  dies  ist  unter  ,,to  rivfor  orron' 
drdyx)]  rovr'dvai.  =  was  muß  vorhanden  sein,  damit  das  Be- 
treffende ist?"  verstanden.  Die  3.  Ursache  ist  das,  was  etwas  zuerst 
in  Bewegung  brachte,  also  in  der  Regel  der  Künstler  oder  der  Dichter. 
Die  4.  Ursache  ist  der  Zweck.  Daß  dieser  bei  dem  Kunstwerk  identisch 
sein  muß  mit  der  tatsächhchen  Wü-kung,  haben  wh  schon  oben  be- 
wiesen. Diese  4.  Ursache  ist  für  aUe  Kunstwerke  entscheidend.  Denn 
anders  wird  eine  Statue  ausfallen,  wenn  sie  für  ein  Theaterfoyer,  anders, 
wenn  sie  füi'  ein  Grabmal  bestimmt  ist.  Daher  muß  der  Zweck  beim 


^*)  fjia  /itiv  TV  TV  rjv  sivui,  /nCu  öe  rö  rCvojv  ovtwv  druyiC7]  tovto  eivai, 
iiiqu  ös  1]  Ti  TTQioTov  ixivrjas,  TfTÜQTi]  ds  TU  rCroc  srexu.  Anai.  post. 
ß.  11.  94a  21. 

^•'j  zwv  6e  yavidsojv  xat  y.vrr^Gewv  i]  juev  vvi]Gig  xukHjat,  i]  dh  TtoCi]Gic, 
i]  fxiv  UTTÖ  rrjc  doyrjg  xul  to7  hÖovc.  v6)]Gic,  i]  S'  d.Tio  zov  xii^ivTuiov  rrjg 
ro)JGeioc  notriGic.     Metaph.  'Q  7.  l()3-2''  15. 


I 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  45 

Auftrag  schon  gegeben  sein.  Ebenso  ist  es  bei  der  Tragödie.  Niu*  daß 
bei  diesem  Kunstwerk  weniger  von  einem  Auftrag,  als  vielmehr  von 
einer  Anregung,  von  einem  Anstoß  oder  Erlebnis  als  erster  Ursache 
gesprochen  werden  kann.  Da  die  Anregung  zu  einer  Tragödie  in 
der  Regel  vom  Dichter  selbst  ausgeht,  so  hat  er  auch  das  Recht,  sich 
den  Zweck  selbst  zu  bestimmen.  Die  edelsten  Dichter  haben  immer 
die  Belelmmg  und  Besserung  ihi'er  Mtmenschen  als  Zweck  und  Ziel 
ihrer  Stücke  im  Auge  gehabt.  Doch  die  Menschheit  und  die  Wissen- 
schaft, nach  der  sich  die  Menschheit  richtet,  bem'teilt  alles  zunächst 
nicht  nach  der  Absicht  des  Schaffenden,  sondern  nur  nach  der  Whkung. 
Und  da  zeigen  sich  in  der  Tat  die  auffallendsten  Widersprüche  bei 
der  Beurteilung  der  Dichterwerke.  Dies  hängt  mit  den  verschiedenen 
Charakteren  der  bem'teilenden  Zuhörer  zusammen.  Denn  je  nachdem 
der  Bem'teiler  ein  Tapferer,  gutmütiger  oder  bös^^^lliger  Tollkühner, 
gutmütiger  oder  böswilliger  Fmchtsamer  oder  ein  Bösewicht  ist,  wird 
auch  sein  Urteil  über  die  Tragödie  ein  anderes  sein.  Und  Lessing 
hat  in  seiner  ethischen  Kci,tharsiserklärung  die  Gefühle  der  gutmütigen 
Tollkühnen  zum  Ausdruck  gebracht  —  er  war  eben  ein  solcher  — , 
Goethe  hat  in  seiner  ästhetisch-intellcktuahstischen  Katharsis- 
erklärung die  Gefühle  des  abgeklärten,  besonnenen  Greisenalters 
geschildert  und  Gorgias-Bernays  hat  in  seiner  medizinisch-thera- 
peutischen Katharsiserklärung  die  Gefühle  der  böswiUigen  Fm'cht- 
samen  drastisch  vorgefühi't.  So  könnten  noch  die  Gefühle  des  bös- 
wilhgen  Tollkühnen,  des  gutmütigen  Fm*chtsamen  und  des  Böse- 
wichts zum  Ausgangspunkt  von  drei  anderen  Katharsiserklärungen 
genommen  werden  und  jede  der  6  Erklärungen  hätte  eine,  wenn  auch 
nm-  bedingte  Berechtigung  und  Richtigkeit.  Und  doch  haben  alle 
diese  6  Katharsiserklärungen  in  der  Tragödiendefinition  nichts  zu 
suchen;  denn  eine  jede  von  den  6  Wirkungen  ist  nur  akzidentell, 
denn  sie  trifft  nm  bei  dem  gleichgeeichten  Zuhörer  ein.  Nur  die  wieder 
entdeckte  intellektuahstische  Wirkimg,  die  Aufklärung,  ist  unaus- 
bleibhch.  Bis  jetzt  kam  sie  den  Zuhörern  nur  nicht  zum  Bewußtsein, 
weil  sie  auf  diese  Wirkung  einer  jeden  echten  Tragödie  noch  nicht 
aufmerksam  gemacht  wurden:  der  Wissende  wird  sie  jetzt  stets  zu 
verspüren  bekommen. 

Noch  könnte  man  im  Zweifel  sein,  ob  der  Schlußsatz  der  Tragödien- 
definition den  Zweck  oder  die  Wü'kung  ausdrückt.  Denn  Zweck  oder 
Absicht  ist  bei  jeder  vernünftigen  Tat  und  bei  jedem  vernünftigen 


46  Stephan  Odon  Haupt, 

Schaffen,  also  auch  beim  Dichten  vorhanden.  p]benso  ist  bei  jeder 
Tat  und  bei  jedem  Schaffen  eine  Wirkung  zu  verspüren.  Soll  aber 
de.-  Zweck  und  die  Wirkung  in  einer.  Definition  einen  Platz  finden, 
so  müßten  alle  Tragödien  den  gleichen  Zweck  verfolgen  und  die  gleiche 
Wirk  ng  ausüben,  ja  Wirkung  und  Zweck  müßten  sich  decken,  was  nun 
zu  beweisen  ist.  Entspricht  die  Wirkung  dem  Zweck,  dann  ist  sie 
beabsichtigt;  tritt  sie  unabhängig  vom  Zweck  und  anders,  als  sie 
beabsichtigt  war,  ein,  dann  ist  sie  unbeabsichtigt,  und  zwar  kann 
diese  unbeabsichtigte  Wirkung  entweder  automatisch  eintreten  oder 
zufällig.  Eine  beabsichtigte  Wükung  auf  Menschen  ist  nie  allge- 
mein, weil  die  Menschen  in  ihrer  Gesamtheit  unberechenbar  sind. 
Daraus  folgt,  daß  der  Zweck  oder  die  Absicht  des  Dichters  nicht  in 
die  Definition  der  Tragödie  gehört,  wohl  aber  die  unbeabsichtigte 
Wirkung,  und  zwar  muß  diese  unbeabsichtigte  Wüimng  automatisch 
eintreten,  denn  die  zufällige  ist  selbstverständlich  nicht  allgemein. 
Tatsächhch  hat  Aristoteles  niu  die  Wirkung  in  die  Definition  der 
Tragödie   aufgenommen,   denn   „xsQcuveir'   heißt    .,bewü-ken''. 

Wohl  ist  mit  der  Wukung  auch  der  Zweck  gegeben,  diese  beiden 
müssen  aber  identisch  sein  und  liegen  außerhalb  der  Macht  des  Schaffers, 
also  hier  des  Dichters ;  in  unserem  Fall  können  wir  also  nur  von  einem 
Zweck  der  Tragödie,  nicht  von  einer  Absicht  des  Dichters  sprechen. 
Erst  wenn  der  Dichter  das  Wissen  von  dem  Wesen  der  Tragödie  hat, 
dann  arbeitet  er  bewußt  mit  Zweck  und  Ziel,  weil  er  Zweck  und  Wir- 
kung in  Einklang  bringen  wird.  Wirldich  sagt  auch  Ai'istoteles : 
,,Bei  einigen  Dingen  kann  m.an  auch  den  Zweck  (in  die  Definition) 
ziehen."  {B.y^) 

Über  Kunst  und  Kunstwerk  äußert  er  sich  folgendermaßen: 
Jedes  Kunstwerk  ist  ein  Entstehen.  Es  gibt  3  Arten  des  Entstehens. 
,,Was  entsteht,  wird  entweder  durch  die  Natur  oder  Kunst  oder  von 
selbst."^^)  „Unter  „yertötig"'  versteht  man  aber  mu  das  natiü-lich 
Gewordene,  alles  andere  Entstandene  heißt  Erschaffenes.  Und  dieses 
ist  entweder  ein  W^erk  der  Kunst  oder  des  Genies  oder  des  Talents. "^^) 


ß6)  1]  hl  y.ai    TO  ov  ersxu   in'  ivkov  iaiir.     Metaphy.  j;  2.  1043a  9. 

^'')  lijjv  di  ytyrofjirw)'  id  fih'  (pvGei  yiyvsrui,  xd  Jf  rf/r?;,  rd  Se 
dno  zov  avioiJ.djov.    Metaphy.  ^  7.  10^2'*  11. 

^^)  oirw  fjiv  olv  yfyrsiut,  id  yi,yv6^,Bva  diu  zi]v  (pvGiv  '  u.l  d'  u)JMt, 
yevicstg  Xiyovjai,  Tioiijffeig  '  nußui  S'  etat  ul  nnirfisig  1]  dno  J^X^'^H  V  '^■^'^ 
Svi'd}iHüc  rj  and  diuvotaq.    Ebendort  1032^  25. 


über  die  \Virlaing  der  Tragödie.  47 

..Einiges  von  diesen  entsteht  auch  von  selbst  oder  durch  Zufall. "^^) 
Aristoteles  unterscheidet  also  Werke  der  Kunst,  Werke  des  Genies 
und  Werke  des  Talents.  Am  höchsten  steht  ihm  das  Kunstwerk. 
Denn  auch  dieses  muß  das  Werk  eines  Genies  sein  oder  Talents.  Der 
obige  Satz  ist  nämhch  nach  seiner  Gewohnheit  stark  verkürzt ;  unver- 
kürzt sollte  er  lauten:  „Das  Erschaffene  ist  entweder  ein  Werk  der 
Kunst,  und  zwar  geschaffen  von  einem  Genie  oder  Talent,  oder  ein 
lamstloses  Werk  des  Genies  oder  Talents.''™)  ,,Ein  Kunstwerk  ist 
das,  dessen  Idee  in  der  Seele  des  Künstlers  ist.  '^^)  Das  Kunstwerk 
zeichnet  sich  also  durch  die  Planmäßigkeit  aus ;  die  wilde  Ungebunden- 
heit  des  „Originalgemes  oder  Talents"  ist  niu-  die  Bahnbrecherin 
für  die  Kunst,  solange  diese  nicht  organisiert  und  systemisiert,  also 
zur  Wissenschaft  erhoben  ist.  Künste  und  Wissenschaften  haben 
Jiämlich  ihren  Ursprung  in  der  Erfalu'ung.  Erst  wenn  genügend  Er- 
fahrungen gesammelt  sind,  kann  von  einer  Kunst  und  Wissenschaft 
die  Rede  sein,  vorausgesetzt,  daß  sich  ein  Baumeis  er  findet,  der  die 
vielen  Einzelerfalirungen  als  Bausteine  zu  eint-m  festen  Lelu'gebäude 
benutzen  kann. 

„Der  Wissenstrieb",  sagt  Aristoteles  im  1.  Kapitel  des  1.  Buches 
seiner  Metaphysik,  „ist  etwas,  was  zur  Natm*  des  Menschen  gehört. 
Hierfür  spricht  die  Wertschätzung  der  Sinneswahmehmung.  Aus 
der  Sinneswahi'nehmung  aber  entsteht  die  Erinnerung.  Während 
imn  die  übrigen  lebenden  Wesen  bloß  in  der  Vorstellung  und  Er- 
innerung leben,  Erfahi'ung  aber  um-  im  geringen  Maße  haben  können, 
ist  beim  Menschen  das  Spezifische,  daß  er  zm  theoretischen  Tätig- 
keit und  zum  vernünftigen  Denken  sich  erhebt.  Den  Menschen  er- 
zeugt sich  nämlich  aus  der  Erinnerung  die  Erfahrung  so,  daß  viele 
Erinnerungen,  die  sich  auf  denselben  Gegenstand  beziehen,  schheßhch 
eine  (einheitliche  Erfahrung  =)  Regel  ausmachen.  So  scheint  die 
Erfahrung  innerlich  verwandt  zu  sein  mit  der  Theorie  und  der  Wissen- 
schaft. Erfahrung  ist  nämlich  das,  wodurch  sich  dem  Menschen  Wissen 
und  Theorie  vermittelt.  Theorie  entsteht  nämlich  dann,  wenn  aus 
vielen  von  der  Erfahrung  gegebenen  Vorstellungen  eine  einheitliche 


^^1  TOVTWv  6i  Tirsg  yiyyovxut  xal  und  tuvio^utov  y.ai  uttö  tvxU?- 
1032a  28. 

^")  TTU-Gai  d'  sißtv  ul  ironaac  ij  (atto  reyrrjg  ^y.i'1  tovjo  i]  und  övvü- 
//fwc  i]  und  diuvoiuc]  i;  unC  d'vru,u£iog  //  und  diuroiuc  [/(J^Qi^  t^c  ie;!f»'>;cj. 

■'O  uTrd  ri/i'^ig  <?f  yfyi'srui,  oGlov  z6  bIÖoq  tv  rtj  ^v^fi.     1032»  32. 


48 


Stephan  Odon  Haupt, 


Ansicht  über  das  wesentlich  Zusammengehörige  gebildet  wird.  Fin- 
den praktischen  Zweck  scheint  nun  freihch  die  Erfahrung  den  gleichen 
Wert  zu  haben  wie  die  Theorie,  ja,  die  Emphiker  haben  oft  mehr 
Erfolg  als  die  Theoretiker.  Die  Erfahrung  ist  eben  Kenntnis  des 
Einzelnen,  die  Theorie  Kenntnis  des  Allgemeinen;  das  praktische 
Handeln  und  Hervorbringen  hat  es  aber  immer  mit  dem  Einzelnen 
zu  tun.  Aber  dennoch  gilt  uns  der  Theoretiker  für  weiser  als  der  Empi- 
riker; der  letztere  kennt  nämhch  die  Tatsache,  aber  nicht  den  Grund; 
der  Theoretiker  dagegen  kennt  den  Grund  und  die  Ursache.  Der 
Theoretiker  kann  daher  seinen  Gegenstand  lehren,  der  Praktiker 
nicht."  (B.) 

„Das  Denken  allein  aber",  sagt  Aristoteles  in  der  Nikomachischen 
Ethik,  „bewegt  nichts,  sondern  nur  das  auf  einen  ethischen  Zweck  ge- 
richtete, das  ethische  Denken;  ebenso  wie  nur  das  auf  ein  wirkliches 
Schaffen  gerichtete  poetische  Denken.  Denn  jeder  schaffende  Künstler 
schafft  zu  einem  Zweck  und  das  Werk  ist  nicht  Zweck  an  sich,  sondern 
zu  einem  Zweck  und  wegen  eines  Zweckes.'"^)  jyf^r  ei^e  gute,  also 
ethische  Tat  ist  Selbstzweck,  der  Lohn  für  den  Handelnden  ist  das 
Verlangen  danach."'^) 

Aus  dem  Gesagten  ergibt  sich  die  Unstichhältigkcit  des  Schlag- 
worts „Fart  pour  Fart,  d.  h.  nur  den  Künstlern  gehört  das  Werk, 
nm-  sie  haben  das  Recht,  darüber  ein  Urteil  abzugeben,  und  nui-  der- 
jenige ist  ein  echter  Künstler,  der  nur  für  sich  und  die  anderen  Künstler, 
nicht  aber  auch  für  die  Menge  schafft ;  nie  darf  die  Kunst  einem  ethischen 
oder  einem  anderen  außer  ihr  hegenden  Zweck  dienen;  nur  seine 
Zunftgenossen  können  verstehen  und  beurteilen,  was  er  geleistet 
hat,  gerade  wie  nur  die  Frau,  die  schon  geboren  hat,  die  Wehen  einer 
Kreißenden  verstehen  und  würdigen  kann." 

Nun,  es  müssen  wehe  Künstler  sein,  die  ein  derartiges  Verständ- 
nis besitzen,  daß  sie  solche  Wehgeburten  eines  ki-eißenden  Künstlers 
verstehen  und  wiü-digen  können.  Der  wahi'e  Künstler  weiß  nicht 
viel  von  ki-eißenden  Wehen,  er  arbeitet  leicht,  in  göttlicher  Begeiste- 


")  diavoia  ö'  avTi]  oidiv  Xivfi,  all'  i]  svsxd  rov  ml  nqu/.TiAt]  '  uvii] 
ydo  xut  t7q  noirjTiySjc  äox^i' '  'irexa  yÜQ  lov  jvoisl  nuc,  6  noitZv,  /.ut  ov 
rdog  dMg  ulXd  7ro6c\i,  xut  tivoq  xo  ttoititöv.  Nikomachische  Ethik 
C  2.1 139a  35. 

";  ^  yuQ  svTVQa^ta  tHoq,  n  S' OQshg  tovtov.  Nikomachische  Ethik 
^  2.  113yb  3.' 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  49 

rimg,  alles  quillt  wie  von  selbst  heraus.  Solche  Wehleidende  sind  eben 
keine  walu-en  Künstler,  sondern  Dilettanten.  „Es  gibt  auch  After- 
künstler: Dilettanten  und  Spekulanten,"  sagt  Goethe.  „Die  Dilet- 
tanten treiben  die  Kunst  um  des  Vergnügens  willen,  die  Spekulanten 
um  des  Nutzens  willen."  Goethes  Einteilung  der  „Afterkünstle]'" 
ist  nicht  ganz  richtig.  Denn  es  ist  doch  auch  möghch,  daß  seine  „Spe- 
kulanten", wenn  sie  dabei  Genies  sind,  doch  echte  Kunstwerke  schaffen, 
trotzdem  sie  dieselben  „um  des  Nutzens  willen"  schaffen,  ander- 
seits ist  letztere  Bezeichnung  viel  zu  allgemein  gehalten,  um  sie  für 
eine  logische  Einteilung  zu  gebrauchen.  Wie  will  man  denn  feststellen, 
ob  ein  Dichter  oder  Künstler  nm-  „um  des  Nutzens  willen"  schafft? 
Der  Maßstab  für  die  Spekulanten  muß  daher  aus  ihren  Werken  ge- 
nommen werden,  und  zwar  muß  dieser  anders  sein  für  die  darstellenden 
Künstler,  Maler,  Bildhauer  usw.,  anders  für  die  Dichter,  die  wir  hier 
nur  berücksichtigen  wollen.  Alle  jene  Dichterwerke,  in  denen  Unrecht- 
tuende über  Um'echterleidende  triumphieren,  sind  Spekulationsdich- 
tungen und  die  Dichter  solcher  Dichtungen  wollen  wir  „Spekulanten" 
nennen.  Denn  ihr  Vorgehen  ist  ein  frivoles,  nur  berechnet  zur  Unter- 
haltung und  Ergötzung  jener  IvlaSse  von  Zuhörern,  die  im  Drama 
gegeißelt  werden  soll  oder  zumindest  sich  unbehaglich  fühlen  soll. 
Es  ist  dies  stets  die  große  Mehrzahl  aller  Zuschauer,  nämlich  die  bös- 
^^111igen  Fm'chtsamen,  die  böswilligen  Unbesonnenen  und  die  Böse- 
wichte. Und  da  diese  3  Kategorien  von  Zuschauern,  wie  wir  später 
sehen  werden,  gegen  83%  aller  Zuschauer  umfassen,  so  erklärt  sich 
die  kolossale  Begeisterung  für  ein  solches  Schundwerk,  so  daß  sogar 
300  und  noch  mehi-  Aufführungen  eines  solchen  Schundes  nacheinander 
möghch  sind,  ohne  daß  die  Begeisterung  dafür  abflaut. 

Nur  die  Dichter  solcher  demorahsierenden  Werke  sind  also  Speku- 
lanten, denn  sie  haben  es  nur  auf  die  niederen  Instinkte  des  Volkes 
abgesehen.  Sie  und  die  Dilettanten  sind  allein  dem  Ansehen  und 
Wirken  des  Theaters  gefährlich,  erstere,  indem  sie  die  schon  demora- 
hsierten  Zuschauer  in  ihi-em  eigenen  Schlamm  unter  behaghchem 
Grunzen  wühlen  lassen  —  und  das  ist  doch  nicht  der  Zweck  des 
Theaters  — ,  letztere,  indem  sie  den  echten  Dichtern  ins  Handwerk 
pfuschen,  dadm'ch,  daß  sie  Talmidramen  dichten  und  die  Aufführung 
derselben  durch  ihren  Anhang  erzwingen. 

Die  Spekulanten  erhalten  auch  ilu-en  khngenden  Lohn.  Aber 
unerbittHch  geht  schon  die  nächste  Generation  über  sie  hinweg  und 

4 


50  Stephan   Odon   Haupt, 

fegt  sie  so  gründlich  voin  Schauplatz,  daß  oft  nicht  einmal  ein  leerer 
Name  übrig  bleibt.     Und  die  Dilettanten,  die  nur  des  eigenen  Ver- 
gnügens wegen  dichten  und  schaffen,  auch  sie  ernten  den  verdienten 
Lohn.      Von  gleichgesinnten   und  gleichgestimmten   Weh-Dichtern, 
Künstlern  und  Snobisten  werden  sie  gehätschelt,  wie  sie  dafür  ihre 
Lobredner  verhätscheln.     Diese  Dilettanten  hat  der  scharfblickende 
Goethe  mit  folgenden  Kennzeichen  stigmatisiert.    „Der  Dilettant", 
sagt  Goethe,  „verhält  sich  zur  Kunst,  wie  der  Pfuscher  zum  Hand- 
werk."    „Alle  Dilettanten    greifen  die   Kunst  von  der  schwachen 
Seite  an."  „Die  Kunst  gibt  sich  selbst  Gesetze  und  gebietet  der  Zeit, 
der  Dilettantismus  folgt  der  Neigung  der  Zeit."     „Dilettanten  oder 
eigentlich  Pfuscher  scheinen  nicht  nach  einem  Ziele  zu  streben,  nicht 
vor  sich  hinzusehen,  sondern  nur  das,  was  neben  ihnen  geschieht.  Darum 
vergleichen  sie  auch  immer,  sind  meistens  im  Lob  übertrieben,  tadeln 
ungeschickt,  haben  eine  unendliche  Ehrerbietung  vor  ihresgleichen, 
geben  sich  dadurch  ein  Ansehen  von  FreundUchkeit,  von  Bilhgkeit, 
indem  sie  doch  bloß   sich  selbst  erheben."    „Der  Dilettant  wd  im 
Drama  nie  den  Gegenstand,  immer  nur  sein  Gefühl  über  den  Gegen- 
stand schildern;  er  flieht  den  Charakter  des  Objekts;  alle  dilettan- 
tischen Gebm-ten  im  Drama  werden  einen  pathologischen  Charakter 
haben  und  nur  die  Neigung  und  Abneigung  ihres  Urhebers  auschücken." 
„Alles   Vorliebnehmen  zerstört   die   Kunst   und  der   Dilettantismus 
führt  Nachsicht  und  Gunst  ein.   Er  bringt  diejenigen  Künstler,  welche 
dem  Dilettantismus  näher  stehen,  auf  Unkosten  der  echten  Künstler 
in  Ansehen."     „Der  wahre  Künstler  steht  fest  und  sicher  auf  sich 
selbst;  sein  Streben,  sein  Ziel  ist  der  höchste  Zweck  der  Kunst.    Er 
wh-d  sich  immer  noch  weit  von  diesem  Ziele  finden  und  daher  gegen 
die  Kunst  oder  den  Kunstbegriff  notwendig  allemal  sehr  bescheiden 
sein  und  gestehen,  daß  er  noch  wenig  geleistet  habe,  wie  vortreff- 
lich auch  sein  Werk  sein  mag  und  wie  hoch  auch  sein  Selbstgefühl 
im  Verhältnis  gegen  die  Welt  steigen  möchte." 

Was  Goethe  gegen  den  Dilettantismus  vorbringt  und  wie  er  ihn 
charakterisiert,  das  paßt  genau  auf  die  l'art  pour  Tart-Winsler.  Sie 
alle,  die  diesem  Grundsatz  huldigen,  die  dieser  Parole  Gefolgschaft 
leisten,  sind  keine  echten  Dichter  und  Künstler,  sondern  nur  wehleidige 
Dilettanten.  Ihr  Urteil  und  ihre  Kunstansicht  darf  uns  daher  nicht 
maßgebend  sein,  wenn  wir  Freunde  der  Wahrheit  und  daher  Freunde 
der  echten  Kunst  sind;    sie  sind  ja  nur  ein  Klub  mit  lächerhchen 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  51 

Statuten,  der  auch  gar  keinen  Anspruch  darauf  erhebt,  daß  das  Publi- 
kum ihm  Gefolgschaft  leistet,  weil  er  von  der  Menge  gar  nicht  ernst 
genommen  werden  will.  Noch  weniger  dürfen  wir  dem  Skenen- 
gesang  der  Spekulanten  lauschen,  die  es  nur  auf  unseren  Sinneskitzel 
abgesehen  haben. 

Wälu-end  also  die  Dilettanten  als  den  höchsten  Zweck  der  Kunst 
ihre  SelbstverherrUchung  ansehen  —  die  Kunst  ist  ihnen  nm-  das  Mttel 
hierzu  — .  die  Spekidanten  sich  ganz  in  den  Dienst  der  niederen  In- 
stinkte der  Menge  stellen,  um  klingenden  Lohn  einzuheimsen,  sind 
nur  die  echten  Dichter  und  Künsuler  der  edlen  Kunst  orgeben,  ohne 
Rücksicht  zu  nehmen  auf  ihren  eigenen  Kitzel  noch  auf  den  der  Menge. 
Dafür  \\änkt  ihnen  als  Lohn  die  Unsterblichkeit  ihrer  Werke.  Denn 
nur  ihre  Werke  haben  auch  bei  der  Nachwelt  Geltung,  daher  unver- 
gänglichen Wert,  weil  sie  allein  dem  höchsten  Zweck  der  Kunst  ge- 
recht werden,  indem  sie  nicht  der  Unterhaltung,  sondern  der  Vered- 
lung der  Menschen  dienen. 

Was  ist  also  der  Zweck  und  die  Wirkung  der  Tragödie,  was  ist 
Zweck  und  Wü-kimg  der  Kunst  überhaupt  nach  Aristoteles?  „Jede 
Kunst  und  jede  wissenschaftüche  Untersuchung,"  so  beginnt  Aristo- 
teles in  der  Niko machischen  Ethik,  ..ebenso  jede  Handlung  und  jedes 
Vorhaben  erstrebt  nach  der  allgemeinen  Ansicht  irgend  ein  Gut."^^) 
„Dieses  Gut  scheint  in  der  einen  Handlung  dies,  in  der  anderen  jenes, 
in  der  einen  Kunst  dies,  in  der  anderen  jenes  zu  sein."'^°)  „Da  aber 
Schaffen  und  Handeln  Verschiedenes  ist,  so  muß  die  Kunst  zum 
Schaffen  und  nicht  zum  Handeln  gehören."'^) ,, Kunst  ist  nichts  anderes 
als  die  Gabe,  etwas  mit  richtiger  Liberlegung  hervorzubringen.""') 
,, Kunst verwÜTung  ist  die  Gabe,  mit  falscher  Überlegung  etwas  von 
dem  hervorzubringen,  was  auch  anders  ausdrückbar  ist."'^)  Wie  ge- 
langt aber  der  Dichter  und  Künstler  zu  der  Einsicht,  daß  er  von  dem, 
was  verschieden  darstellbar  ist,  die  rieh. ige  Darstellung  wählt?  Offen- 


''*)  Tid.6u  Ttyv)]  xal  ttügcx  /jidoSog,   oiioioig  ds  TTQÜ'^fg  tb  xui  nqoaC- 
osßic  dyu,9ov  Tivog  icpiea&ai  doy.eT.     Nik.  Ethik,  a  1.  1094»  1. 

''^)  (fiuu'STut  u?J.o  h  üXX>]  TTou^st  xat  TiX^U'  Nik.  Ethik  «  5.  1097»  15. 

™)  «Vft  Öb  7roir]Gtg  xat  TiQu^tg  ärsgov,    ävdyxr^   ti)v  rip'iqv  jrotTJffsujg 
dkV  ov  TTQu^fUjg  eh'ui.    Nik.  Ethik  ^  i.  1140a  16. 

^^)  >]  {jh  oiv   li'/ri]    eiig   Tic    yeTu    löyov   ulr]d-ovg   Tvoiririxr,  Jaiiv. 
Nik.  Ethik  ^  4.  1140^ '-20. 

^^)  ?'  de  uTiyi'iu  tovvuviCov,  jjstu  Xöyov  xpevdovg  TTOirjTixtj  f§ig,  jtsqi 
TU  h'öax'öpsvov  uil(x)g  l>f»'.     Nik.  Ethik  ^  -l-  1140=^  21. 

4* 


52  Stephan  Odon  Haupt; 

bar  durch  seine  Veranlagung,  sein  Genie,  so  daß  ihn  dieses  vor  einem 
Fehlgriff  bewahrt,  und  zweitens  durch  die  Erfahrung.  Aus  der  Er- 
fahrung entwickelt  sich  aber  das  Wissen.  Es  muß  also  auch  von 
jeder  Kunst  ein  Wissen  geben,  das  beweisbar  ist.  Und  der  Grundstock 
für  das  Spezialwissen  einer  Kunst  ist  die  Definition  derselben.  Denn 
aus  dieser  ergibt  sich  alles  andere.  Die  Definition  ist  und  muß  also 
beweisbar  sein  und  gehört  und  muß  gehören  zur  Wissenschaft  der 
betreffenden  Kunst.  Tatsächhch  spricht  auch  Aiistoteles  in  der 
Metaphysik  von  einer  ethischen  und  schaffenden  Wissenschaft.  „Da 
es  eine  Natur^vissenschaft  gibt,  so  muß  sie  natürHch  etwas  anderes 
sein  als  die  Wissenschaft  der  Handlungen  und  der  schaffenden  Künste. 
Bei  letzteren  hegt  der  Anstoß  ziu-  Bewegung  in  dem  Schaffenden 
und  nicht  in  dem  Geschöpf,  mag  dieser  Anstoß  nun  Kunst  sein  oder 
ein  anderes  Vermögen."'^)  Über  den  Endzweck  dieser  Wissenschaft 
der  schaffenden  Künste  spricht  sich  nun  Aristoteles  deutlich  aus 
im  7.  Kapitel  des  3.  Buches  seiner  Himmelskunde.  „Zweck  der  Wissen- 
schaft der  schaffenden  Künste  ist  die  Wirkung,  Zweck  der  Natiu:- 
wissenschaft  ist  das  immer  gemäß  der  naiven  Wahrnehmung  sich 
Zeigende."^^)  D.  h.  die  Wissenschaft  der  schaffenden  Künste,  also 
besonders  die  Definition,  fragt  nicht  nach  der  Absicht  des  Schaffenden, 
sondern  hat  es  nur  mit  der  tatsächlichen  Wirkung  zu  tun,  die  das 
Werk  auf  den  Beschauer  oder  Hörer  ausübt,  geradeso  wie  die 
Naturwissenschaft  nicht  spekulativ,  sondern  niu-  deskriptiv  ist,  also 
keine  Antwort  über  den  Zweck  der  Welt  geben  kann. 

Also  der  Zweck,  die  Absicht  des  Dichters,  hat  auch  in  der 
Definition  der  Tragödie  nichts  zu  tun,  dagegen  nauß  die  Wirkung 
darin  stehen.  Es  ist  mithin  die  Wirkung,  die  irgendein  Kunstwerk 
auf  den  Beschauer  resp.  Hörer  ausübt,  der  höchste  Zweck  der 
Kunst,  also  nicht,  wie  die  dilettantischen  Anhänger  der  Fart  pour 
l'art- Hypothese  meinen,  die  Befreiung  des  Künstlers  von  den 
kreißenden  Schmerzen. 

Noch  deutUcher  wird  diese  selbstverständhche  Wahrheit  aus 
dem  4.  Kapitel  des  2.  Buches  der  Seele:  „Der  Zweck  ist  ein  doppelter; 


''^)  iTVsi  S' eart,  tk  i]  tvsqI  (pvGsuiq  eTttar^/Jt],  ^fjXor  ort  xut  jtQuxrixijg 
hiou  xul  TioiriiixTiQ  iCJUt-  jroirjnx'rjg  /j-sv  ydo  iv  zrj)  Troiovvit  xut  ov  im 
jtoiovfjei'M  rrjg  xiriiGetug  r]  oQX'h  '^"^  tovt'  lanv  aXie  T^/rr]  bit  üXXt]  rig 
dwu/Jig.    Metaphy.  x  7.  lü;4a  10. 

^°j  TiXog  irjq  /j-sv  TTOirjTixrjg  iTci6n^^,riQ  tö  Iq/ov,  rrjg  Se  (fvGtxrjg  zt) 
cpuivoysvoi'  det  xvQiwg  xuid  iriv  uXod-qaiv.     SOJ»  lö. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  53 

der  eine  bezieht  sich  auf  den  Schaffenden,  der  zweite  auf  den,  für  den 
etwas  geschaffen  ist."^^)  Der  Zweck  des  Schaffenden  ist  aber  seine  per- 
sönliche Absicht.  Der  eine  Künstler  schafft,  um  reich,  der  andere, 
um  berühmt  zu  werden,  der  ch-itte  mll  die  Gunst  der  Menge  gewinnen, 
der  vierte  will  die  Welt  verbessern,  der  fünfte  will  sich  von  seinen 
geistigen  Wehen  erlösen.  Alle  diese  Absichten  sind  aber  nur  per- 
sönlich und  decken  sich  nicht  mit  der  Wirkung. 

Trotzdem  könnte  man  doch  noch  den  Einwand  erheben,  daß  die 
Wirkung  ebenso  wenig  als  der  Zweck  in  die  Definition  gehört,  da 
sie  nur  Eigentümliches  jeder  Tragödie  seien. 

Denn  die  Eigentümlichkeit  (ro  löiov)  gehört  tatsächlich  liicht 
in  die  Definition. 

Im  1.  Buch  der  Topik  erörtert  Aristoteles  das  Eigentümhche, 
anknüpfend  an  die  Schlüsse,  zu  denen  man  Vordersätze  (=  Voraus- 
setzungen) und  Probleme  (--  Behauptungen)  braucht.  ,,Jede  Voraus- 
setzung und  jede  Behauptung  bezeichnet  entweder  ein  Eigentüm- 
üches  oder  eine  Definition  oder  eine  Gattung  oder  Akzidentelles."^^) 
Unter  Definition  {oqoq)  versteht  er  hier,  da  er  die  Gattung  (/tVoc) 
trennt,  die  2.  Art  der  Definition,  die  nackte  Form  ohne  Angabe 
des  Stoffes.  „Definition  ist  die  Bezeichnung  dessen,  was  die  Ver- 
anlassung des  Enstehens  war."^^)  „Gattung  ist  das,  was  mehreren 
der  Art  nach  verschiedenen  Gegenständen  als  Prädikatssubstantiv 
zukommt."^^)  „Eigentümlich  ist  das,  was  nicht  die  nackte  Form 
ohne  Angabe  des  Stoffes  (also  die  2.  Definition)  bezeichnet,  aber  doch 
dem  Gegenstand  allein  zukommt  und  mit  ihm  identisch  ist,  d.  h. 
Umstellung  zuläßt. "^^)  „Akzidentell  ist  das,  was  keines  von  den  dreien 
ist,  weder  2.  Definition  noch  Eigentümliches  noch  Gattung,  was 
aber  der  Sache  doch  zukommt,  freilich  so,  daß  es  irgend  einem  Gegen- 
stand, und  zwar  einem  und  demselben  einmal  zukommen,  einmal 


"0  TÖ  d'  oll  iPexa  öirrör,  t6  fjei'  ov,  ro  öi  o).    415b  2. 

*^)  jiäffa  de  ttoötugiq  xal  tiuv  nQÖßXri/ju  ij  ]'Stov  i]  öqov  i]  yivoc  i] 
av^ßaftrixdg  di]}.oL     Topik  «  4.  101  b  25. 

^•^)  I'gti  S'  iooc  fj^ev  loyoQ  o  to  tC  f^v  ilvai  Gri/JuCnui'.  Topik  «  5. 
101b  39. 

^*)  yfvoc  ö'  sGTi  T()  xard  TrXsiövior  xai  SiacpeQÜrTWf  t<ö  sYSfi  er  rw 
7/'  ion  xnniyoQov^inov.     Topik  a  5.  102a  3]. 

**^)  Xdiov  ö'tGTiv  o  fjiij  drjXoT  fjsr  tu  ti  rjr  shat,  fjörco  d'  v7rd.Q/c(  /.ul 
uvTixurrj/oosiTui  tov  nody^uurog.     Topik  a  5.  102''   18. 


rj4  Stephau   Odon  Haupt, 

nicht  zukommoii  kaiiii."^^)    „Wohl  ist  es  möglich,    (Uß  das  Akziden- 
telle in  gewisser  Beziehung  und  zu  gewissen  Zeiten  ein  Eigentüni- 
hches  ist,  schlechthin  Eigentümliches  wird  es  aber  nie  sein."^')  „Alles, 
was  über  eine  Sache  ausgesagt  wird,  muß  identisch  sein  mit  derselben 
oder  nicht,  also  sich  vertauschen  lassen  oder  nicht.    Läßt  sich  die 
Umstellung  vornehmen,  so  hat  man  die  diitte  Ait  der  Definition 
oder  Eigentümhches  vor  sich.    Läßt  sich  die  Umstellung  nicht  vor- 
nehmen, so  gehört  das  Ausgesagte  entweder  zur  3.  Art  der  Definition, 
und  ist  dann  Gattung  oder  Unterschied;  gehört  es  aber  nicht  zur 
3.  Art  der  Definition,  so  muß  es  etwas  Akzidentelles  sein."^^)     Da 
die  1.  Art   der  Definition  nur  den  Gattungsbegriff  {ytvog)  umfaßt, 
der  sich  mit  der  Sache  nicht  vertauschen  läßt,  weil  diese  eine  Art 
der  Gattung  ist,  die  2.  Art  der  Definition,  wie  wir  oben  gesehen  liabeii, 
die  Ursache  des  Entstehens  enthält,   die  in  Vereinigung  mit  dem 
Gattungsbergiff  erst  die  3.  Art  der  Definition  ergibt,  die  sich  daher 
ohne  Gattungsbegriff  mit  der  Sache  nicht  vertauschen  läßt,  so  versteht 
Aristoteles   liier   unter   oQiOffoc   die  3.  Art   der  Definition,   die  die 
beiden  ersten  Arten  umfaßt  und  enthält,  daher  er  auch  in  der  Parentese 
sagt:  „l^fachdem  die  Definition  aus  Gattung  und  Unterschieden  be- 
steht. "^^)  Was  folgt  aus  dem  Gesagten?  Nachdem  wir  schon  oben  ge- 
zeigt haben,  daß  „Nachahmung"  ein  Verbalbegriff  ist,  der  nach  den 
Umständen  des  Ortes,  der  Zeit,  der  Art  und  Weise  und  des  Grundes 
näher  bestimmt  wird,  so  haben  wir  nur  zu  untersuchen,  ob  die  in 
der   Definition   angeführten   Umstände   jeder   Tragödie    zukommen. 
Denn  dann  sind  sie  charakteristische   Merkmale  der  Tragödie,  die 
wohl  jeder  Tragödie  zukommen,  die  sich  aber  einzeln  mit  der  Sache, 
hier  der   Tragödie,   nicht  vertauschen  lassen,    oder  Eigentümliches 
das  sowohl  jeder  Tragödie  zukommen,  als  auch  sich  mit  dem  Begriff 


^^)  Gvfjßfßfjxdg  da  tanr  ö  [j-rjcUv  jjh  tovtioi'  ißrC.  firjs  oqo^  /jijts 
Xdtov  iJ/t]TS  yivog  tTvdQx^eb  St  rw  TrgüyiJiaji,,  xat  ö  ifdi^frai  vndQxa^v 
oTWOvv  ivt  xat  tw  uvio)  xal  fifj  vTVUQysiv.     Topik  a  5.  102 b  4. 

^'')  tüöTe  xai  TVQÖQ  tv  xaC  ivoie  ovölv  xwlvst  ro  av^ßsßrixoc  Idior 
yfyvsG&uc'  unlwc  S'  fdt,ov  ovx  sGiai.    Topik  «  ö.  102b  24. 

^^)  uvdyxrj  yuQ  Tcäv  lo  TtegC  tivoq  xuTrjyoQOVjLiii'iov  JJTOi  uviixaz)]- 
yOQSiad-ut  rov  nqdyfJiaTOQ  fj  jurj.  xai  d  fisv  dvirxartjyoQslTUt,  VQOC  rj  iSioi' 
UV  iYrj.  at  Ss  fj.rj  ui'TtxaTrjyoQshat,  rov  Ttody^axoc,  r]TOi,  tcoi'  iv  tcö  öoiGfifö 
rov  vnoxaifiivov  Xeyo/ni'on',  yivoc  i]  diU(pood  dr  aYi],  il  6t  [D],  drilov  ort, 
GvfjißtßrixdQ  UV  tYr}.     Topik  «  8.  103  b  7. 

^)  tTveidri  u  ooiGfjog  ix  yivovg  xui  dmtpoqvüv  iOTtr.     103b  15. 


89> 


über  die  Wirkung  der  Tragödie,  55 

„Tragödie"  uiiitaiisclien  lassen  muß.  Da  stellt  sich  sofort  heraus, 
daß  die  intellektualistische  Ivatharsis  ein  charakteristisches  Merk- 
mal jeder  Tragödie,  also  ein  Unterschied,  aber  kein  Eigentünüiches 
ist,  während  die  Lessingische,  Goethische  und  Gorgias-Bernaysische 
Katharsis  weder  ein  charakteristisches  Merknial  jeder  Tragödie, 
also  ein  Unterschied,  noch  ein  Eigentümhches  ist.  Denn  jede  Tragödie 
bewirkt,  wie  ich  schon  oben  gezeigt  habe,  Mtleid  und  Fiu'cht  und 
dm-ch  diese  Affekte  che  xAnfklärung  eines  jeden  über  seinen  diesbe- 
züglichen Gemütszustand,  aber  nicht  alles,  was  diese  Wirkung  her- 
vorruft, ist  eine  Tragödie,  auch  das  Epos,  die  Komödie  etc.  tut  die- 
selbe Wirkung.  Nehmen  wir  dagegen  eine  der  3  anderen  Katharsis- 
erklärungen, so  sieht  man  sofort,  daß  sie  nur  akzidentelle  Wirkungen 
enthalten,  denn  weder  bewirkt  jede  Tragödie,  wie  Lessing  meint,  die 
Reinigung,  d.  h.  Besserung  jedes  Zuschauers,  sondern  diese  Wirkung 
erstreckt  sich  mu"  auf  die  gutmütigen  Übermütigen,  noch  wird,  wie 
Goethe  meint,  jeder  Zuschauer  um  nichts  gebessert  nach  Hause  gehen  — 
dieses  Glück  genießen  nur  die  Weltweisen  — ,  noch  bewirkt  jede 
Tragödie,  wie  Gorgias-Bernays  meint,  die  erleichternde  Entladung 
jedes  Zuschauers  von  seinen  Fm-cht-  und  Mtleidsaffektionen  — .  das 
wird  nm'  den  böswlligen  Furchtsamen  zuteil  — ,  noch  ist  alles,  was  eine 
dieser  3  Wirkungen  hervorruft,  eine  Tragödie;  jede  dieser  3  Wir- 
kungen kann  auch  außer  dm"ch  jedes  andere  Theaterstück  dm-ch  eine 
entsprechende  Zeitungsnotiz  hervorgerufen  werden.  Das  sind  also 
wkhch  nur  akzidentelle  Wirkungen,  die  daher  in  der  Tragödien- 
definition weder  als  charakteristischer  Unterschied  vorkommen, 
noch  der  Tragödiendefinition  als  Eigentümliches  (löioj')  auge- 
hängt werden  können  und  dürfen.  Wenn  sie  wenigstens  ein  Eigen- 
tümhches wären,  könnten  sie  wohl  auch  der  Definition  angehängt 
sein,  denn  gewöhnhch  vereinigt  man  die  Definition  mit  dem  Eigen- 
tümüchen:  wenigstens  deutet  dies  Aristoteles  in  der  Topik  mit  den 
Worten  an:  ., Meistens  wird  ja  das  EigentüniHche  im  Zusammenhang 
(mit  der  Definition)  angegeben^"). '"  Dann  müßten  sie  sich  aber  sogar 
mit  dem  Subjekt  ., Tragödie"  vertauschen  lassen,  was  aber,  wie  wir 
oben  gesehen  haben,  nicht  niöghch  ist. 

Der  Zweck,  der  sich  auf  den  bezieht,  flu-  den  etwas  geschaffen 
ist,  ist  also  die  Wirkung.   Doch  auch  diese  ist  verschieden.   Der  eine 

^)  WC  yuo  ijTi    t6   TToXr  ii'  GvfJbTtloxJ;    t6  Ydior    dnodf()oru.i.     Topik 
ri  5.  150  b  15.  ' 


5G  Stephan  Odor,   Haupt, 

Zuschauer  wird  durch  eine  Tragödie  so  erschüttert,  daß  er  sich  vor- 
uiiuint,  sich  zu  bessern  (Lessingische  Auslegung),  der  andere,  freut 
sich  an  den  Schönheiten  des  Werkes  und  über  die  befriedigende  Lösung 
der  Konflikte  (Goethische  Auslegung),  der  di'itte  freut  sich  über  das 
vorgeführte  Mißgeschick  seines  ihm  verhaßten  Gegners  (Gorgias- 
Bernaysische  Auslegung);  alle  diese  AVirkungen  sind  tatsächlich  vor- 
handen, vielleicht  auch  vom  Dichter  beabsichtigt,  sie  sind  aber  doch 
nur  akzidentell,  d.  h.  können  eintreten,  müssen  aber  nicht.  Jeder 
dieser  3  Forscher  und  so  auch  alle  anderen  Forscher,  die  sich  mit  dieser 
Frage  beschäftigt  haben,  haben  eben  nur  die  AVirkung  geschildert, 
die  sie  selbst  beim  Anblick  eines  Trauerspiels  empfanden,  ohne  zu 
bedenken,  daß  nicht  alle  Zuhörer  dieselbe  AVirkung,  die  sie  empfanden, 
empfinden  müssen,  ja  können.  Jeder  dieser  3  Forscher  hat  also  nur 
eine  Teilwirkung  geschildert,  die  alle  in  eine  gemeinsame  AA^ü-kimg 
zusammenlaufen  müssen.  AA'enn  man  diese  allgemeine  AVirkung  der 
Tragödie  ergründen  mtU,  muß  man  alle  möglichen  Zuhörer  beachten 
und  nachweisen,  welche  AVii'kung  bei  allen  Zuhörern  zutreffen  muß. 
Und  da  findet  man,  daß  nur  eine  AVirkung  unausbleiblich  ist,  also 
automatisch  eintritt. 

„AA^enn  wii-  nachahmende  Darstellungen  auch  ohne  Tanz  und 
Musik  anhören,  so  sympathisieren  wir  alle^^).'"  AA^'ie  und  warum  alle 
Zuschauer  und  Zuhörer  sympathisieren  müssen,  habe  ich  in  der  „AAaeder- 
gebm't  der  Tragödie'"  auseinandergesetzt.  Der  Deutlichkeit  halber 
wollen  w,  bevor  ^vir  weitergehen,  mit  der  herrschenden  verwü-renden 
Terminologie  brechen  und  für  die  Bezeichnimg  „tragischer  Held''  und 
..Gegenspieler"  andere  eindeutige  Bezeichnungen  gebrauchen,  ob- 
gleich ich  schon  in  der  ,,AA'^iedergeburt  der  Tragödie"  diese  beiden 
Ausdrücke  genau  fixiert  und  mit  ersterer  Bezeichnung  den  unrecht 
Tuenden  bezeichnet,  dagegen  den  um'echt  Leidenden  ,, Gegenspieler" 
genannt  habe.  Da  nämlich  das  AA^ort  ,, tragischer  Held"  früher  oft 
für  den  um'echt  Leidenden  und  heldenhaft  Kämpfenden  gebraucht 
^^^.u•de,  so  paßt  die  Bezeichnung  ,,Held"  nicht  mehr  für  jeden  un- 
recht Tuenden,  denn  diese  sind  meist  wenig  heldenhaft.  AA^ir  wollen 
also  nunmehr  den  um'echt  Tuenden  die  ,, tragische  Person",  den 
unrecht  Leidenden  die  ,, vergewaltigte  Person"  nennen.  Jeder 
Zuschauer  wd  aber,    ^vie  w  gesehen  haben,    unbedingt  für  eine 


'^'  dxQoiüjjevoi,  TLüi'  /Ji/Lolasiüv  yfyvovic.i   tiüvts^  GvfiTiu^i^g  xcd  xloqL 
T(Zr  (ii'd^iJtZr  y.at  tlüv  ftskwr  uvTUJr.    Politik  n]  5.  1840 a-  1'2. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  57 

dargestellte  Person  Partei  ergreifen  müssen,  sie  wii-d  ihm  sympa- 
thisch sein,  die  andere  wii'd  ihm  antipathisch  sein.  Da  aber  die  Tragödie 
wie  jedes  Knnstwerk  aufgebaut  ist  mit  Rücksicht  auf  den  Zuschauer, 
so  wollen  wii-,  wenn  wir  von  der  Wii'kung  der  Tragödie  auf  den  Zu- 
schauer sprechen,  die  Person,  die  einem  Zuschauer  sympathisch  ist, 
kwcz  mit  „Partner",  die  andere,  die  demselben  Zuschauer  antipathisch 
ist,  mit  ..Gegenspieler"  bezeichnen,  wobei  zu  beachten  ist,  daß  ,, Part- 
ner" sowohl  die  tragische  als  auch  die  vergewaltigte  Person  sein  kann, 
we  umgekekrt  es  auch  mit  dem  „Gegenspieler"  der  Fall  ist.  Jeder  Zu- 
schauer wird  also  mit  seinem  Partner  {r[uoiog)  und  für  seinen  Partner 
Fmcht  empfinden,  und  zwar  mit  seinem  Partner  die  egoistische  Fmxht. 
wenn  er  sich  nämhch  mit  ihm  identifizieren  kann  oder  muß,  für  seinen 
Partner  die  sympathische  Fm'cht,  wenn  er  sich  ihm  ge sin nungs ver- 
wandt fühlt,  wenn  er  ihm  sympathisch  ist;  für  den  Gegenspieler 
wird  derselbe  Zuschauer  entweder  gar  kein  Mitleid,  sondern  Schaden- 
fi'eude  empfinden  —  Schadenfreude  ist  identisch  mit  zu  wenig  Mtleid  — . 
dann  ist  er  ein  gemeiner  Mensch  {(faclog),  oder  er  wü*d  echtes  Mit- 
leid empfinden,  und  zwar  entweder  das  altruistische  Mitleid,  wenn 
er  ein  edler  Mensch  ist,  oder  das  egoistische  Mtleid,  das  Bedauern 
(rfilavd-Qf'j.-ria)  aus  Scheu  vor  Gott  und  den  Menschen,  wenn 
er  ein  Dutzendmensch  (xaH'  ißiäq)  ist.  Daß  dies  richtig  ist,  zeigt 
unmittelbar  die  Poetik  des  Aristoteles.  Während  x\ristoteles  nänilich 
auf  die  vergewaltigte  Person  keine  Rücksicht  nimmt,  —  er  lobt  nur 
gelegenthch  Homer  und  Sophokles,  daß  sie  kühne  Helden  (örroj'öß/ot^c) 
als  vergewaltigte  Personen  bevorzugen;  der  Dichter  soll  also  alle 
möglichen  Kombinationen  für  die  vergewaltigten  Personen  vor- 
nehmen, damit  er  nicht  eintönig  ist:  denn  je  nach  dem  Charakter 
der  vergewaltigten  Person  gestaltet  sich  die  Abwehr  der  Vergewalti- 
gung: anders  rächt  sich  eine  Medea,  anders  ein  Bankbanus,  anders 
ein  TeU.  anders  ein  Jago,  anders  eine  Hedda  Ga1)ler  (Hedda  Gabler 
ist  nicht,  wie  ich  in  der  .."Wiedergeburt"  S.  84  irrtümüch  annahm, 
die  tragische  Person,  sondern  die  vergewaltigte;  es  ist  eine  echte 
Tragödie  und  nicht  ein  Schauerdrama),  —  begrenzt  Aristoteles  die 
tragische  Person  genau.  Sie  darf  weder  tugendhaft  (l-iaix?jg) 
sein  noch  ein  Bösewicht  (//o/.9//()oc);  denn  über  das  unverdiente 
Unglück  des  Tugendhaften  müßten  sich  alle  entsetzen  {luaQor). 
über  das  verdiente  Unglück  des  Bösewichts  müßten  alle  befriedigt 
sein  {vt'iaOLQ),    höchstens   könnte   einer   oder  der  andere  den  Böse- 


58  Stephan  Oclon  Haupt, 

wicht  bedauern;  ..eine  solche  Handhmg  könnte  vielleicht  Be- 
dauern erregen,  aber  weder  Mitleid  noch  Furcht^^^  "  Während  also 
xVristoteles  in  der  Definition  von  „Mitleid  und  Furcht"  spricht,  beides 
muß  in  jedem  Zuhörer  geweckt  werden,  sagt  er  hier,  wo  nur  von  einer 
Person,  der  tragischen,  die  Rede  ist,  austhUcklich,  daß  in  jedem  Zu- 
schauer mit  Bezug  auf  die  tragische  Person  nui*  „entweder  Furcht 
oder  Mitleid"  erregt  wd.  Ist  die  tragische  Person  nämhch  für  einen 
Zuschauer  Gegenspieler  (=  dvccsiog),  so  empfindet  er  nur  irgend 
einen  Grad  von  Mtleid,  wenn  sie  ins  Unglück  gerät,  ist  sie  Partner 
(=  o(WLog),  so  empfindet  er  nui-  irgend  einen  Grad  von  Fiu'cht^^). 
Doch  braucht  das  treibende  Agens  nicht  die  vergewaltigte  Person 
zu  sein,  eine  andere  Person  kann  ihre  Rolle,  die  Rache,  übernehmen, 
nm-  muß  die  Handlung  so  aufgebaut  sein,  daß  alles  walu-scheinlich 
sein  kann  oder  sein  soll  {xara  xo  dxfk),  —  eine  solche  Tragödie 
ist  ja  besonders  wirksam;  darauf  beruht  eben  das,  was  Ai-istoteles 
mit  „Peripetie"  bezeichnet,  wie  z.  B.  im  ,, König  Ödipus"  das  Auf- 
treten des  Boten,  der  den  Tod  der  Merope  meldet  und  ganz  unge- 
zwungen Auskunft  gibt  über  die  Auffindung  des  Ödipus;  ferner 
die  ungewollte  Erkennung,  die  „Anagnorisis",  wie  z.  B.  im  Ödipus, 
in  der  Braut  von  Messina,  in  der  Ahnfrau.  Doch  auch  die  gewollten 
Erkennungen,  wie  z.  B.  wenn  sich  Odysseus  den  Freiern  zu  erkennen 
gibt,  die  auch  etwas  darstellen,  wie  es  sein  kann,  wirkea  packend 
auf  die  Zuschauer;  alle  diese  3  Punkte,  einzeln  oder  ve'eint,  bestimmen 
die  verwickelte  Tragödienart.  Doch  auch  die  vergewaltigte  Person 
allein  kann  den  Schicksalsumschwung  der  tragischen  Person  veran- 
lassen und  zu  Ende  f  ühi'en,  was  ja  aucl~  sehr  packend  ist,  wie  wh  es 
in  der  Uias  sehen,  es  geht  dann  alles  ganz  naturgemäß  (xara  to 
(tvayxulov)  vor  sich,  eine  solche  Tragödie  ist  aber  doch  nicht  so  er- 
greifend wie  eine  verwickelte  {.-is.-rlfyjttvi])',  Aristoteles  nennt 
sie  eine  einfache  {ajih]).  Das  Erlebnis  {jcQ(utc},  dessen  Nach- 
ahmung die  Tragödie  ist,  spielt  sich  aber  in  Wahrheit  nur  vor  einer 
kloinen  Menge  von  Zuschauern  ab,  oft  sind  die  handelnden  Personen 
die  einzigen  Zeugen.    Dadurch,  daß  ein  gottbegnadeter  Dichter  eine 


^■■^)  TO  fA^ev  ydg  (ptXdv&QtoTior   i^oi  äv  i]  loiavir]   OvaxaöiC,   dXV  Ovis  H 

iliov  ovrs  (fößov.    Poetik  cap.  13.  1453»  2.  | ! 

^^)  Das  bedeuten  die  sonst  unverständlichen  Worte:  o  juiv  ydo 
[sXeogl  TCSQt  loy  dvd'^iöv  icnr  övCivxovvTu,  u  öl  [(fößoc]  Tveol  top  o^uoior  ' 
iXfOc  f.isv  Tvsol  TÖr  dvd'^tov,  (pößog  df  tvsqI  tov  ofiooov.  Poetik  1.?.  1453»  4. 


I 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  59 

solche  spannende  Handlung  fixiert  und  ihr  Ewigkeitsdauer  und  Bil- 
dungswert verleiht,  wächst  die  Zuschauermenge  ins  Unendliche, 
denn  sie  ist  nunmehr  weder  an  Raum  noch  an  Zeit  gebunden.  Diese 
Fixierung  erfolgt  also  durch  die  „nachahmende"  Darstellung, 
die,  wenn  sie  alle  anfangs  erwähnten  Eigenschaften  hat,  eine  Tragödie 
ist.  Die  Seelenschmerzen  der  Antigone,  die  statt  des  Brautgemaches 
die  Totenkammer  betreten  muß,  sie  wken  heroisierend  auch  auf 
späte  Geschlechter,  und  die  Janmierklagen  des  Kreon,  sie  wecken 
schauerndes  Unbehagen  und  fröstelndes  Mchtigkeitsgefühl  auch  in  den 
Herzen  späterer  Tyi'annen.  Darum  mußte  Aristoteles  diese  unaus- 
bleibliche intellektuahstische  Wirkung,  die  Aufklärung  eines  jeden  Zu- 
schauers über  seinen  Furcht-  und  IVIitleidszustand,  in  seine  Tragödien- 
definition hineinbringen.  Daher  sagt  er  „jttQaivovoa''  (=  be- 
wü'kerd)  und  stimmt  dieses  Partizip  mit  ^^filffr/oig'''  und  nicht 
mit  ,,7r(>«^"ff'>c"  überein.  Der  Schlußsatz  ist  also  schon  aus  diesem 
Grunde  nicht  die  Erklärung  von  „öjrovdaiac',  wie  Knoke  in  seiner 
oben  zitierten  Abhandlimg  meint. 

Indem  aber  Aristoteles  in  dem  Schlußsatz  sagt:  ,,Die  nach- 
ahmende Darstellung  bewkt  durch  Mitleid  und  Fm"cht  die 
x\ufklärung,  ^^^e  wh  uns  bezüghch  solcher  Gemütsaffektionen  in 
unserem  Innern  verhalten"^*),  gibt  er  mit  den  ersten  Worten 
noch  eine  unausbleibliche  Whkung  an;  denn  „durch  IVIitleid 
und  Fm'cht"  (<3/  sltov  xcd  (poßovj  ist  ja  nichts  anderes  als 
eine  adverbiale  Bestimmung  des  Grundes  und  drückt  das  Mittel  zum 
Zweck  aus;  da  aber,  wie  A¥ir  gesehen  haben,  in  unserem  Fall  der  Zweck 
identisch  ist  mit  der  Wirkung,  so  ist  im  Ausdruck  ,, durch  Mtleid 
und  Furcht"  das  Mttel  angegeben,  durch  das  die  Wirkung  erreicht 
wird.  Der  Schlußsatz  lautet  demnach  eigenthch:  ,,Die  nachahmende 
Darstellung  bewhkt  in  jedem  Zuschauer  die  Affekte  Mitleid  und 
Furcht  und  durch  diese  Affekte  die  Aufklärung  über  unsere  dies- 
bezüghchen  Gefühlsdispositionen  Mtleid  und  Furcht. "^^^  Damit 
ist  auch  die  Streitfrage,  ob  „jr«^oc"  und  ,,.t«.9////«"  dasselbe  be- 
deutet, endgültig  erledigt;  es  kann  gar  nicht  dasselbe  sein.  Die  ganze 
Definition  der  Tragödie  lautet  demnach:    Die  Tragödie  ist  die  Nach- 


^*)  ()V  i'/.iov   xal   (poßov    TTSQcuvot'Ga    t?Jj'    tcüJ'    toiovjvjv   Trcx&rjfJUTO)!' 

'^)  Tifouii'ovrya  iXiov    xal  (pößor  xai    diu  tovtiov  twv  Traß^iiJr  tijv  twv 
jotovTiüV  TVu&rifJidnjor  xdS^ugffiv. 


CO  (Stephan  Odon  Haupt, 

ahmung  einer  außergewöhnlich  wagemutigen  und  entschlossenen, 
einheithchen  und  planvoll  abgeschlossenen  Handlung,  die  eine  ge- 
Avisse  Länge  hat  und  in  heblicher  Sprache  abgefaßt  ist,  wobei  jede 
Art  von  Liebüchkeit  in  den  einzelnen  Teilen  getrennt  zur  Anwendung 
kommt;  die  Nachahmung  geschieht  dramatisch  und  nicht  in  er- 
zählender Form  und  bewirlrt  Mitleid  und  Fm'cht  und  durch  diese 
Affekte  die  Aufldäruug  über  unsere  diesbezüglichen  Gefühlsdispo- 
sitionen. 

Es  könnte  nun  scheinen,  als  ob  durch  diesen  Schlußsatz  alle 
unsere  Erklärungen  über  den  Haufen  geworfen  seien,  oder  daß  Ari- 
stoteles mit  den  Worten  „(h'  kliov  xal  rpoßov'  doch  etwas  Über- 
flüssiges in  die  Definition  aufgenommen  hat.  Da  wir  aber  mit  Lessing 
annehmen,  daß  Aristoteles  niemals  irrt,  zumal  wo  es  sich  um  eine 
Defimtion  handelt,  anderseits  alles,  was  mr  deduziert  haben,  folge- 
richtig ist,  so  müssen  wir  die  eine  Wirkung  ,,öi  e/Ltov  ymI  (foßor'' 
noch  näher  erklären.  Daß  sie  bei  der  Tragödie  immer  eintritt,  wollen 
w  vorläufig  glauben.  Daß  sie  aber  auch  in  der  Komödie  immer 
eintreten  muß,  das  können  wir  trotz  Aristoteles  doch  nicht  recht 
glauben.  Und  doch  muß  dies  der  Fall  sein:  diese  Wirkung  muß  allen 
von  ihm  angeführten  Dichtungsarten  gemeinsam  sein,  denn  sonst 
hätte  er  die  Wirkung,  oder  wenigstens  die  Mttel  zur  Wü'kung,  wie 
wir  schon  oben  erwähnt  haben,  bei  den  Unterschieden  der  Nach- 
ahmung anführen  müssen.  Wir  müssen  also  be weiser,  soll  Aristo- 
teles recht  behalten,  daß  z.  B.  auch  die  Komödie  „Mitleid  und  Furcht 
und  durch  diese  Affekte  die  Aufklärung  über  unsere  diesbezüglichen 
Gefühlsdipositionen  bewikt". 

So  wie  es  in  der  Mathematik  eine  positive  und  negative  Zahlen- 
reihe gibt  und  es  dem  Mathematiker  ganz  geläufig  ist,  mit  der  nega- 
tiven Zahlenreihe  geradeso  zu  operieren  ^vie  mit  der  positiven,  so 
müssen  wir  auch  in  der  Ethik  unter  den  Affekten  positive  und  negative 
Affekte  annehmen  und  ebenso  positive  und  negative  Gefühlsdispositio- 
onen  zu  den  betreffenden  Affekten.  Bei  der  Furcht  haben  wir  die 
bekannten  3  Grade  zu  unterscheiden:  1.  Zuviel  Furcht,  2.  zuwenig 
Fm'cht,  3.  die  richtige  Furcht.  Die  richtige  Furcht  hat  nur  der  tugend- 
haft Tapfere,  der  Weise.  Seine  Fiu'cht  bezeichnet  den  NuUpunkt 
der  Zahlenreihe ;  rechts  ist  die  positive  Furchtskala,  huks  die  negative. 
Auch  der  Tollkühne  befindet  sich  auf  der  positiven  Furchtseite.  Seine 
Tollkühnheit  versetzt  ihn  in  einen  Rauschzustand,  so  daß  er  seine 


4 

I 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  61 

Furcht  künstlich  betäubt.  Wenn  er  aber  aus  dem  Bausch  durch  hgend 
ein  aufnüchte^ndes  Ereignis  plötzüch  zu  sich  kommt,  da  empfindet 
auch  er  seine  wkliche  Fm'cht,  und  ein  solches  Ereignis  spielt  ihm 
die  Tragödie  vor.  Wenn  vm  die  Grenzen  zwischen  demToUkühnen  und 
deni  Fuichtsamen  graphisch  darstellen  sollen,  so  würde,  wenn  wü- 
füi-  die  ganze  Skala  100  Teilstriche  annehmen,  der  Tollkühne  die 
positiven  Zahlen  1  bis  3  umfassen,  was  zwischen  4  imd  98  steht,  gehört 
in  das  Gebiet  des  Furchtsamen.  Der  Tapfere  ist  über  ehe  Fmcht  er- 
haben, er  ist  nicht  jenseits  der  Furcht,  aber  seine  Fu  cht  ist  Besonnen- 
heit und  Vorsicht.  Nm*  der  Bösewicht  ist  jenseits  der  Fuicht;  er 
nimmt  also  ehe  ganze  2  Teilstriche  umfassende  negative  Fiirchtseite 
ein  von  der  Schamlosigkeit  bis  zum  Zynismus  und  der  Buchlosigkeit. 
Alle  Menschen  haben  demnach  für  jeden  bestimmten  Fall  einen 
bestinmiten  und  bestimmbarer  Grad  der  Fm-cht.  Aber  aus 
der  Furchtskala  allein  läßt  sich  der  Chajakter  des  Menschen 
noch  nicht  bestimmen.  Dazu  braucht  m,an  noch  die  Skala 
des  Mitleids.  Mitleid  ist  wohl  auch  Furcht,  aber  der  Unter- 
schied avkischen  beiden  Affekten  ist  doch  gioß.  Fiucht  bezieht 
sich  nämlich  auf  uns  selbst  oder  auf  alles,  was  uns  sympathisch  ist 
bei  unmittelbar  drohender  Gefahr,  ]\Iitleid  bezieht  sich  vor  allem 
auf  das,  was  uns  nicht  sjrmpathisch  ist,  bei  eben  eingetretenem  Un- 
glück, außer elem  empfinden  wir  Mtkid  auch  über  elas  Unglück  der 
uns  sympathischen  Personen,  wenn  dasselbe  schon  längere  Zeit  hintei 
uns  hegt.  Für  das  Drama  kommt  diese  letztere  Ait  von  3Iit]eid  nicht 
in  Betracht. 

Jeeler  Zuschauer  empfindet  also  einen  Grad  von  Fm'cht,  wenn 
seinen  Partner  eine  Gefahr  unmittelbar  beeh'oht.  Daher  sagt  Aristo- 
teles: „Die  Furcht  bezieht  sich  auf  den  Partner,"^*^)  Was  empfindet 
aber  elerselbe  Zuschauer,  wenn  sein  Partner  wirküch  ins  Unglück 
gerät?  Dann  ist  er  entsetzt,  und  elas  Entsetzen  läßt  das  Mitleid  nicht 
aufkommen;  dagegen  werden  andere  Gefühle  wach,  che  Rachegefühle. 
Diese  bewhken,  daß  derselbe  Zuschauer,  wenn  sein  Gegenspieler 
bedroht  ist,  je  nach  seinem  Charakter  mit  grausamer  Lust  odei  doch 
wenigstens  mit  Befiiedigung  ehe  drohenele  Wolke  über  das  Haupt 
des  Gegenspielers  wd  aufziehen  sehen.  Für  ihn  wird  er  sicher 
keine  Furcht  empfinden.    Erst  wenn  das  Unglück  über  den  Gegen- 


»«)  0  di  [cpößog]  Tieoi  jöv  ufjbovov.    Poetik  13.  1403»  4. 


62  Stephan  Odon  Haupt, 

spioler  hereinbricht,  größer  als  er  es  ihm  selbst  zugedacht,  dann  emp- 
findet er  über  den  unglücldichen  Gegenspieler  irgend  einen  Grad 
von  Mtleid.  Daher  sagt  iVi'istoteles  an  derselben  Stelle:  ,,Das  Mit- 
leid bezieht  sich  auf  den  ungliickhchen  Gegenspieler."^')  Fi'eiiich 
kann  dieses  Mtleid  auch  negativ  sein.  Daraus  ist  klar,  daß  die  Mit- 
leidsskala nicht  identisch  sein  ka,in  mit  der  Furchtskala.  Aber  eben- 
deshalb ist  es  so  möglich,  daß  jeder  Zuschauer  seinen  Charalrter  aufs 
genaueste  erkenne,  er  erhält  gleichsam  eine  Photographie  seines 
Charakters.  Da  aber  diese  Wirkung  automatisch  eintritt,  so  ist  es 
notwendig,  daß  die  Menschheit  erst  auf  das  Vorhandensein  dieses 
„Automaten  für  geistige  Photographien"  aufmerksam  gemacht  und 
mit  dem  allerdings  ungemein  einfachen  Mechanismus  desselben  be- 
kannt gemacht  wh*d.  Denn  bis  jetzt  wußten  wir  nur  und  glaubten 
nur  daran,  daß  die  x\ffekte  „Älitleid  und  Furcht"  beim  Anhören 
einer  Tragödie  in  uns  erregt  werden,  unsere  photographische  Platte 
war  eben  nur  belichtet,  aber  nicht  entwickelt.  Denn  die  Ent^\^ckler, 
die  uns  die  3  oben  erwähnten  Forscher  gelehit  hatten,  erwiesen  sich 
als  unzulänglich,  da  sie  nicht  bei  allen  Stücken  und  allen  Zuhörern 
ein  Seeleubild  hervorbrachten,  daher  niemanden  ganz  befriedigten; 
außerdem  waren  sie  nicht  imstande,  das  Seelenbild  zu  fixieren.  Und 
so  me  die  behchtete  Platte  ohne  Entwcklung  kein  Bild  ergibt,  trotz- 
dem dieses  aber  latent  enthält,  so  hat  ein  solcher  naiver  Zuschauer 
—  und  naiv  waren  mr  bis  jetzt  alle  —  nur  die  Behchtung  erfahren 
durch  die  in  ihm  erregten  Gefühle  Mtleid  und  Furcht,  die  Aufklärung 
über  seinen  Charaktei,  sein  Seelenbild,  ist  ihm  aber  nicht  zum  Be- 
wußtsein gekommen.  Dazu  dient  aber  vor  allem  die  Bestimmung 
und  Deutung  des  Aftoktos  „Mithid". 

Die  Mitleidsskala  hat  nämlich  die  besondere  Eigenschaft,  den 
menschlichen  Charakter  auf  seine  Güte  zu  prüfen.  Es  gibt  gute  und 
böse  Menschen,  außerdem  gutmütige  und  böswillige.  Unter  ,,grte 
Menschen"  wollen  wir  solche  verstehen,  div  bewußt  nie  etwas  ab 
solut  Böses  tun,  die  also  jenseits  des  „Bösen"  stehen;  es  sind  dies 
die  Tugendhaften,  Weisen.  Alle  diejenigen,  die  bewußt  nie  etwas 
absolat  Gutes  tun,  die  also  jenseits  des  „Guten"  stehei.  nennen  wir 
Bösewichte.  Die  Mehizahl  der  Menschen  steht  aber  zwischen  Gut 
und  Bös,   sie   sind  schwankende  Charaktere,   während   die  Tugend- 


97 


)  6  fjsv  ydg  [fXfog]  ttsqi  ror  dvü'^iöv  iartv  dvarv^Oiivra. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  63 

haften  und  Bösewichte  abgeschlossene  Charaktere  sind,  erstere  im 
Guten,  letztere  im  Bösen.  Doch  auch  sie  waren  einst  schwankende 
Charaktere  und  sind  erst  durch  fortgesetzte  Übung  im  Guten  oder  Bösen 
und  nach  großen  Seelenkämpfen  Tugendmenschen  oder  Bösewichte  ge- 
worden. Aus  manchen  schwankenden  Charakteren  entwickeln  sich  also 
mit  der  Zeit  feste  Charaktere,  der  Großteil  der  schwankenden  Charaktere 
bleibt  aber  sein  Lebtag  so,  es  sind  dies  die  Dutzendmenschen.  Sie 
lassen  sich  immer  von  ihren  Leidenschaften  und  von  momentanen 
Affekten  leiten,  „himmelhochiauchzend,  zu  Tode  betrübt"  schwanken 
sie,  bald  Gutes,  bald  Böses  tuend,  dm-chs  irdische  Leben.  Schwankende 
Charaktere  und  zwar  die  Kühneu,  zu  retten,  d.h.  zu  verhindern,  daß 
sich  aus  ihnen  böse  Charaktere  bilden,  dies  ist  der  höchste  Zweck  und 
das  höchste  Ziel  der  Tragödie  und  der  Komödie.  Und  dazA  dient 
eben  die  automatische  Wirkung  beider.  Diese  ist  aber,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  eine  doppelte;  denn  sie  besteht  1.  in  der  Erregung  der 
Affekte  Mitleid  und  Furcht  und  2.  in  der  dadurch  bewkten  Auf- 
klärung eines  jeden  Zuhörers  über  seinen  Charakter.  Aber  nur  die 
erste  Wirkung  ist  jedem  Zuhörer  ohne  weiteres  offenkundig,  auf  die 
zweite,  die  Aufkiärung,  muß  er  erst  aufmerksam  gemacht  werden,  sie 
muß  ihm  erklärt  werden,  damit  er  sie  versteht.  Aus  dem  Umstand, 
daß  aus  der  uns  eihaltenen  Poetik,  wie  es  scheint,  sogar  absichthch 
die  Erklärung  des  Wortes  Katharsis  sorgsam  entfernt  wurde,  ferner  daß 
auch  aUe  antiken  Gelehrten  nach  Aristoteles  sich  über  die  Bedeutung 
dieses  Wortes  gänzhch  ausschweigen,  indem  sie  dagegen  nicht  ein- 
mal polemisieren,  können  wir  mit  Fug  und  Recht  schüeßen,  daß  die 
Gelehrten  des  Altertums  von  Aristoteles  bis  zu  den  Syriern  des  5.  Jahr- 
hunderts nach  Chr.  ehe  Katharsiserklärung  als  eine  Geheimlehre  be- 
trachteten, die  man  dem  großen  Haufen  vorenthalten  müsse.  Denn 
daß  die  Alten  über  Geheinüehre  schweigen  mußten,  vielleicht  auch 
konnten,  das  beweisen  die  bis  jetzt  noch  unaufgeklärten  eleusinischen 
Mysterien.  Ob  schon  Aristoteles  seine  Katharsislehre  als  Geheimlehre 
empfohlen  hat,  ist  wohl  nicht  zu  ergründen,  doch  dürfte  cües  nicht 
wahrscheinüch  sein.  Jedenfalls  hatte  man  in  der  automatischen 
Katharsis  ein  Mttel  gesehen  und  gefunden,  den  Charakter  eines  jeden 
Zuhörers  untrüghch  zu  ergründen,  vorausgesetzt,  daß  er  sich  nicht 
verstellte;  und  dies  war  mu*  dann  mögUch,  wenn  er  ganz  naiv  die 
Tragödie  oder  Komödie  auf  sich  einwirken  ließ,  also  von  ihrer  se- 
kundären AYirkung  keine  Ahnung  hatte.    Nur  die  Eingew^eihten  zogen 


64  Stephan  Odon  Haupt 

ihre  Schlüsse,  die,  wie  man  aus  manchen  Andeutungen  des  Dio  Cassius 
und  Sueton  entnehmen  kann,  für  die  betreffenden  naiven  Zuhörer 
einer  Tragödie  manchmal  verhängnisvoll  waren.  Diesem  Übelstand, 
daß  man  bei  der  naiven  Betrachtung  einer  Tragödie  oder  Komödie 
seinen  Gemütszustand,  ja  seinen  ganzen  Charakter  unzweideutig 
verrät,  kann  man  jedoch  auf  eine  höchst  einfache  Weise  begegnen. 
Wenn  in  allen  Theatern  das  Beifallklatschen  während  des  Aktes  und 
bei  den  Alrtschlüssen  jeder  Ausdruck  des  Mißfallens  verboten  würde, 
dagegen  alle  Zuschauer  zum  BeifalUdatschen  aufgefordert  wiü'den, 
wie  es  ja  auch  in  den  Komödien  der  Alten  walirscheinlich  aus  eben 
demselben  Grunde  tatsächhch  geschah,  so  würde  in  dem  allgemeinen 
Beifallklatschen  am  Schluß  eines  jeden  Aktes  die  detektivmäßige 
Beobachtung  der  einzelnen  Zuschauer  unm,öglich  sein.  Mit  anderen 
Worten:  die  Zuschauer  müssen  sohdarisch  jedesmal  Beifall  klatschen, 
wenn  sie  ihren  Charakter  nicht  prostituieren  wollen,  sie  müssen  sich 
also  verstehen,  indem  sie  auch  an  Stellen,  die  sie  tief  verwunden, 
Beifall  klatschen.  Dafür  haben  sie  den  großen  unbezahlbaren  Vor- 
teil, daß  sie  das  schwieligste  psychologische  Problem,  in  der  diskre- 
testen Form  und  auf  die  bilhgste  Weise  ohne  jede  Mühe  und  Anstren- 
gung von  selbst  gelöst  finden,  ihre  Selbsterkenntnis,  das  rvmdi 
oavTov,  wonach  die  Alten  bis  zu  Aristoteles  vergebens  geseufzt  und 
gestrebt  haben.  Dazu  ist  aber  notw^endig,  daß  alle  Zuschauer  vor  dem 
Anhören  des  Stückes  über  den  Inhalt  desselben,  über  die  tragische 
und  vergewaltigte  Person  und  über  die  Schlußfolgerungen,  die  sich 
aus  der  aufklärenden  Wü'kung  des  Stückes  auf  den  Charakter  der 
einzelnen  Zuschauer  ergeben,  aufgeklärt  werden.  Auch  dies  haben  die 
Alten  wenigstens  teilweise  schon  getan. 

Feste  Charaktere,  die  ja  nicht  mehr  geändert  werden  können, 
bekom.men  dann  den  sicheren  Aufschluß,  daß  sie  tugendliafte  Weise 
oder  Bösewichte  sind.  Der  Großteil  des  Pubhkums  besteht  aber  aus 
den  schwankenden  Charakteren,  die  nie  wissen,  wie  sie  sind.  Es 
sind  dies  die  Tollkühnen  und  das  ungehem'e  Heer  der  Furchtsamen. 

Beide  Teile  sind  nun  entweder  gutmütiger  Natur,  d.  h.  sie  sind 
weder  Tugendmenschen  noch  Bösewichte,  wenn  sie  aber  zwischen 
Gut  und  Bös  sich  entscheiden  müssen,  so  neigen  sie  Heber  zum  Guten 
als  zum  Bösen,  oder  böswilhger  Natur,  d.  h.  sie  neigen  mehr  zum 
Bösen.  Gerade  die  Mitleidsskala  läßt  einen  jeden  Menschen  tief  in 
sein  Inneres  bücken  und  die  Aufklärung,  die  er  diesbezügUch  beim 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  65 

Anblick  einer  Tragödie  bekommt,  ist  ein  Ventil,  das  einen  Teil  vor 
der  Gefahr  der  Verrohung  warnt.  Wenn  mr  närajich  den  uns  unsympa- 
thischen Gegenspieler  im  Unglück  sehen,  dann  werden  nur  die  gut- 
mütigen Tollkühnen  und  die  gutmütigen  Furchtsamen  mit  ihm  ein 
gedämpftes  Mtleid  empfinden,  das  Bedauern,  die  böswilligen  Furcht- 
samen werden  jauchzend  triumphieren  und  die  böswilhgen  Toll- 
kühnen werden  ihn  ingrimmig  noch  weiter  hassen.  Daher  müssen 
die  böswilligen  Tollkühnen  und  die  böswilligen  Furchtsamen  von  der 
rechten  Furchtseite  auf  die  hnke  Mitleidseite  übertragen  werden.  Die 
rechte  Seite  der  Mitleidsskala  wird  also  nur  2  Teilstriche  gutmütiger 
Tollkühner  und  15  Teilstriche  gutmütiger  Furchtsamer,  also  im  ganzen 
17 Teilstriche  umfassen;  die  hnke  wd  von  0  bis  1  den  einen  Teilstrich 
der  böswilligen  Tollkühnen,  dann  80  Teilstriche  der  bös^^•illigen  Furcht- 
samen und  dann  erst  die  2  Teilstriche  der  Bösewichte,  also  im  ganzen 
83  Teilstriche,  umfassen.  Und  aUe.  die  auf  der  linken  Seite  der  Älit- 
leidsskala  stehen,  zeigen  beim  Anblick  des  leidenden  Gegenspielers 
negatives  Mtleid.  Schadenfreude  und  triumphierendes  Hohn- 
gelächter. Die  Mtleidsskala  kom])iniert  mit  der  Furchtskala  gibt 
also  einem  jeden  Zuschauer  ein  untrügliches  Abbild  seines  Innern. 
Am  reinsten  erhält  man  dieses  Spiegelbild  beim  Anblick  einer  echten 
Tragödie  und  einer  echten  Komödie;  denn  tatsächlich  erreicht  auch 
letztere  ihre  aufklärende  Wii-kung  nur  durch  die  Mfekte  Mtleid  und 
Furcht.  Denn  Gelächter  und  Lustigkeit,  hervorgerufen  durch  den 
Anblick  eines  blamierten  Komödienhelden,  sind  ja  negative  Seiten 
des  Mtleids,  nur  daß  bei  der  Komödie  die  Seiten  der  Skala  etwas  ver- 
tauscht sind  und  auf  der  linken  Seite,  der  Lachseite,  die  gutmütigen 
und  auch  böswillige  Menschen  stehen.  Die  Zuschauer  teilen  sich 
also  beim  Anblick  einer  echten  Tragödie  in  6  Gruppen:  1.  die  Tugend- 
haften, 2.  die  gutmütigen  Tollkühnen,  3.  die  gutmütigen  Furchtsamen, 
4.  die  böswilligen  Tollkühnen,  5.  die  böswilligen  Furchtsamen,  6.  die 
Bösewichte.  Die  tugendhaften  Zuschauer  werden  mit  der  verge- 
waltigten Person  sympathisieren,  also  die  sympathische  richtige  Fiu-cht 
für  diese  und  beim  Unglück  der  tragischen  Person  das  altruistische  Mt- 
leid mit  ihr  empfinden^^);  die  gutmütigen  Tollkühnen  werden,  wenn  sie 


98)  Diese  sympathische  richtige  Furcht  äußert  sich  beim  Tugend- 
haften, der  catürlich  auch  wirklich  tapfer  ist,  darin,  daß  er  die  Hand- 
lungen der  vergewaltigten  Person  nur  dann  billigt,  wenn  diese  auch 
tugendhaft  ist,  sonst  sie  verbessern  möchte  in  seinem  Sinne. 

5 


(36  Stephan   Odon  Haupt, 

sich  mit  dor  tragischen  Person  identifizieren  können,  die  egoistische 
Furcht  für  sich  empfinden,  wenn  sie  mit  der  tragischen  Person  nur 
sympathisieren,  die  sympathische  Furcht  für  sie  empfinden,  beim 
Anblick  der  leidenden  vergewaltigten  Person  werden  sie  diese  be- 
dauern. Die  gutnüitigen  Furchtsamen  werden,  wenn  sie  sich  mit  der 
vergewaltigten  Person  identifizieren  können,  die  egoistische  Furcht 
für  sich,  und  wenn  sie  mit  ihr  nur  sympathisieren,  die  sympathische 
Furcht  für  sie  empfinden,  beim  Anblick  der  leidenden  tragischeu 
Person  werden  sie  diese  bedauern;  die  böswiUigen  Furchtsamen  werden 
sich  wie  die  gutmütigen  Furchtsamen  verhalten,  nur  daß  sie  beim 
AnbMck  der  leidenden  tragischen  Person  Schadenfreude  empfinden; 
die  böswilligen  Tollkühnen  werden  sich  wie  die  gutmütigen  Toll- 
kühnen verhalten,  nur  daß  sie  beim  Anblick  der  leidenden  verge- 
waltigten Person  grausame  Schadenfreude  und  ungesättigtes  Rache- 
gefühl empfinden;  die  Bösewichte  werden  weder  für  sich  noch  für 
eine  der  beiden  Parteien  fürchten,  noch  Mitleid  empfinden  über  eine 
der  beiden  Parteien,  außer  wenn  die  vergewaltigte  Person  ein  Böse- 
\\icht  ist,  dann  werden  sie  die  egoistische  Furcht  empfinden.  Diese 
genaue  Unterscheidung  der  Charaktere  ist  aber  nur  bei  einer  echten 
Tragödie  möglich.  Es  ist  daher  unerläßlich,  genau  zu  bestimmen, 
ob  wir  eine  echte  Tragödie  vor  uns  haben.  AVelche  ]\Icrkmale  eine  solche 
haben  muß  und  wariim,  habe  ich  in  der  ..Wiedergeburt  der  Tragödie" 
bereits  auseinandergesetzt. 

Sie,  die  echte  Tragödie,  dient  also  hauptsächHch  dazu,  das  kost- 
barste Menschenmaterial,  die  Tollkühnen,  zentripetal  zur  Weisheit 
zu  leiten.  Denn  sie  flankieren,  vcie  wii  gesehen  haben,  in  der  Mit- 
leidsskala die  Tugendhaften,  die  Weisen.  Leichter  gelingt  dies  natür- 
lich mit  den  gutmütigen  als  mit  den  böswilligen  TollkiUinen,  die  be- 
reits die  abschüssige  Bahn  der  linken  Seite  betreten  haben. 

So  wie  die  Tragödie  auf  die  gutmütigen  Tollkühnen  wirkt  und 
für  sie  vom  größten  Wert  ist,  ja  wie  sie  eigentlich  nur  für  sie  be- 
stimmt ist,  so  ist  die  Komödie  fast  ausschließlich  für  die  böswiUigen 
Tollkühnen  bestimmt  und  soll  diese  möglichst  zentripetal  führen. 

Es  war  ein  guter  ( rriff  des  Aristoteles,  daß  er  die  alte  politische 
Komödie  entthronte  und  an  ihre  Stelle  die  sogenannte  Charakter- 
komödie verlangte.  Denn  in  der  politischen  Komödie  wurde  kern 
Stand  gegeißelt,  sondern  nur  eine  politische  Person  oder  ein  politischer 
Klub  lächerüch  gemacht.    Das  Theater  teilte  sich  demnach  in  2  un- 


ii 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  67 

gleiche  Parteien:    auf    der   einen  Seite  die  verhöhnte  Einzelperson, 
auf  der  anderen  alle  anderen  Zuschauer.  Ganz  anders  bei  der  Charalder- 
komödie.     Der  Dichter  schafft  eine  ernste  Situation,  die  sich  aber 
in  Wohlgefallen  auflöst,  in  der  also  kein  Teil  vernichtet  wird.    Und 
da  der  unrechttuende  Teil  der  Komödie  eine  typische  Figur  ist,  ge- 
nommen aus  der  gi'oßen  Masse,  so  tiitt  die  l^Iitleids-  und  Fm-chtskala 
mit  ihrer  posHiven  und  negativen  Seite  tatsächhch  auch  bei  der  Komödie 
in  ihre  Rechte.  Auch  die  Komödie  muß  also  wie  die  Tragödie  als  un- 
rechttuenden Teil  einen  Übermütigen  haben,  die  vergewaltigte  Person 
kann  ])ehebig  sein.     Denn  die  Komödie  Märt  auch  alle  Zuschauer 
über  ihren  Gemütszustand  Furcht  und  Mtleid  auf,  sie  dient  aber 
speziell  der  Besserung  der  böswiUigen  Übermütigen  und  Tollläihnen. 
Während  diese  nämhch  durch  die  Tragödie  nicht  ergiiffen,  sondern 
sogar  noch  mehr  erbittert  werden,  sucht  sie  der  versöhnhche  Schluß 
der  Kom,ödie  zur  Einsicht  zu  bringen  und  ^oll  sie  also  vor  der  A^'er- 
rohung  bewaliren  rtsi».  ihren  Übergang   in  den  Seelenzustand   des 
Bösewichts    aufhalten  und  verhindern.    Tragödie   md  Komödie  sind 
also  für  die  Tollkühnen  und  Übermütigen  ethisch  zu  bewerten,  sie 
sollen,  können,  ja  müssen  diese  bessern;  und  dadm'ch  erheben  sie 
sich  ül)er  alle  anderen  Dramenarten  himmelhoch.    Denn  diese  nehmen 
als  unrechtuenden  Teil  entweder  Tugendhelden  oder  Feige  oder  Böse- 
wichte. Tugendhelden  können  aber  nur  mibewußt  ein  Unrecht  tun.  Feige 
oder  Bösewichte  aber  tragisch  enden  zu  lassen,  ist  ethisch  zwecklos,  da 
die  feigen  und  bösen  Zuhörer  nicht  besserungsfähig  sind.    Aristoteles 
hat   daher   die   ethisch   zwecklosen  Dramen   unter   einem   Sammel- 
namen zusammengefaßt,  indem  er  sie  bei  seiner  Aufzählung  im  An- 
fang der  Poetik  „7)  ötd^vQa/jßo.-ioir/rix//"'  nennt.     Er   versteht  dar- 
unter sowohl  den  Dithyrambus,    der    als    unrechtuenden  Teil  einen 
Tugendhelden  hat,  als  auch  die  Dramen,  welche  Feige  oder  Böse- 
^vichte    als    unrechtuende    Person    haben.      Denn    wenn    er    unter 
„di&vQafißojroirjTix/j"'  nur  den  Dithyrambos  gemeint  hätte,  so  hätte 
er   ihn   auch   so    bezeichnet    und   nicht    das    ungewöhnhche    Wort 
„6i{f^v(jaf/ßojroi/jTiz//'  angewendet.    Wir  wollen,  seinem  Vorgang  fol- 
gend, aUe  jene  Dramen,  in   denen  Tugendhelden,  Feige  oder  Böse- 
wehte die  um'echttuendtn  Personen  sind  und  tragisch  enden,  mit  dorn 
Sammelnamen  ,, tragische  Dramen"  bezeichnen,  wenn  sie  nach  Art 
der  Kom.ödie  mit  einei  Versöhnung  schUeßen,  sie  Lustspiele  ntnnen. 
Dagegen  bleibt  die  Bezeichnimg  „Tragikomödie"  für  alle  Dramen- 

5* 


t)8  Stephan  Odon  Haupt, 

• 

artfji,  in  dtueii  nur  die  vergewaltigte  Person  tragisch  endet,  die  nnrecht- 
tuende  Person  also  triiimphieit. 

Da  ich  in  der  ,, Wiedergeburt  der  Tragödie''  noch  der  irrigen 
Ansicht  war,  daß  die  unrechttuendc  Person  der  Komödie  ein  Feiger 
sein  müsse,  so  muß  ich  einiges,  was  ich  infolge  dessen  dort  hrig  aus- 
einandergesetzt habe,  berichtigen.  Die  Einteilung  der  freiwilhgen 
Handlungen  (S.  35)  in  solche  mit  guter  Absicht  (g)  oder  böser  Absicht 
(b)  entfällt,  weil  dem  dramatischen  Zuschauer  jedes  Unrecht  böswiUig 
erscheint.  Ebenso  ist  die  Differenzierung  der  gezwimgenen  Handlung 
infolge  schlechter  Gewohnheit  (zm)  überflüssig.  Die  Bezeichnung 
„ohne  Überlegung"  (oü)  bei  der  gez\^aingenen  Handlung  ist  gleichfalls 
überflüssig. 

Dagegen  wollen  wir  eine  Tat,  die  absichtlich  und  wohl  überlegt 
geschieht,  wenn  sie  von  einem  Tugendhelden  ausgeht,  mit  dem  In- 
dex „a",  und  wenn  sie  vcm  einem  Bösewicht  ausgeht,  mit  dem  Index 
„b"  bezeichnen. 

Es  ergeben  sich  demnach  für  aUe  dramatischen  Handlungen  folgende 
8  Kombinationen: 

Ij^  Der  Täter  (Tugendheld)  handelt  wissentlich  (w),  absichthch  (a), 

wohlüberlegt  (ü), 
Iii,   Der  Täter  (Bösewicht)  handelt  wissentHch  (w),   absichtlich  (a), 

wohlüberlegt  (ü), 

12  Der  Täter   handelt  wissenthch  (w),    absichthch  (a),    imüberlegt 

(uü), 

13  Der  Täter  handelt  ^^-issentlich  (w),  gez\nmgen  (z). 
Ilia  Der  Täter  (Tugendheld)  handelt  unwissentlich  (uw),    absicht- 
lich (a),  wohlüberlegt  (ü), 

Uli,   Der   Täter   (Bösemcht)  handelt   unwissenthch  (uw),    absicht- 
lich (a),  wohlüberlegt  (ü), 

112  Der  Täter  handelt  unwissenthch  (uw),  absichthch  (a),  unüberlegt 

(uü), 

113  Der  Täter  handelt  unwissenthch  (uw),  gezwungen  (z). 

Für  die  unrechttuende  Person  der  Tragödie  kommt  nur  die  Kom- 
bination I2,  für  die  der  Komödie  Ig  und  II2  in  Betracht,  letztere  als 
die  Nvirkungs vollere.  Es  ergeben  sich  mithin,  da  die  vergewaltigte 
Person  jeder  der  8  Urkombinationen  entnommen  sein  kann,  für  die 
Tragödie  folgende   8  Kombinationen: 


1 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  69 


1.  Unreclittuende   Person 
2. 


vergewaltigte  Person   Ij,, 

"  Mb 

..        L 


'■2 


I,  ••  "  ^3 


lila 
IIl. 

IL. 


3. 
4. 
5. 

6- 
7. 

8 

und  da  jede  TragödienkomJjination  (vgl.  ,,AViederg0burt",  8. 50) 
4  Arten  hat,  so  gibt  es  32  Arten  von  echten  Tragödien,  und  da  jede 
der  16  Koraödienkombinationen  niu*  2  Arten  hat,  ebenfalls  32  Arten 
von  echten  Komödien.  Ferner  gibt  es,  entsprechend  den  8  Helden- 
dramenkombinationen (unrecht uende  Person  liJ  32  Arten  von 
Heldendramen,  ebenso  32  Arten  von  tragischen  Schauspielen  (un- 
rechtuende  Person  Ij^,).  Nach  I3  kann  nm*  ein  Feiger  als  unrechttueude 
Person  handeln,  solche  tragische  Dramen  wollen  wir  Suggestivchamen 
nennen.  Es  gibt  mithin  auch  32  Arten  von  Suggestivcb-amen  (unrecht- 
tuende Person  I3).  Alle  tragischen  Dramen,  in  denen  die  um-echt- 
tuende  Person,  gleichgültig,  ob  sie  ein  Tugendheld  oder  Bösewicht 
oder  Übermütiger  oder  Feiger  ist,  unbewußt  Unrecht  tut,  wollen 
wn  „Schauerdramen"  nennen.  Es  gibt  also  32  Kombinationen  oder 
128  Ai-ten  von  Schauerdramen  (unrechttuende  Person  n^a,  IIi^,,  Hg, 
113).  Lustspiele  gibt  es,  nachdem  flu  die  Komödie  die  2  Kombinationen 
I2  und  II2  reser\iert  sind,  48  Kombinationen  oder  96  Lustspielarten 
(um-echttuende  Person:  I^^,  Iib,  I3,  i^u,  Hib,  ^h)-  Tragikomödien, 
das  sind  solche  Dramenarten,  in  denen  nur  die  vergewaltigte  Person 
erhegt,  die  unrechttuende  Person  aber  triumphiert,  gibt  es  zu  allen 
8  Ürkombinationen,  also  im  ganzen  64  Kom])inationen,  und  da  jede 
Kombination  2  Arten  hat,  so  gibt  es  im  ganzen  128  Tragikomödien- 
arten. 

Außer  den  Tragödien,  den  tragischen  Dramen,  Komödien,  Lust- 
spielen und  Tragikomödien  sind  aber  noch  solche  Theaterstücke 
möglich,  in  denen  der  tragische  Ansatz  weder  zu  einem  tragischen 
Ende  noch  zu  einer  allgemeinen  Versöhnung  führt,  sondern  in 
denen  entweder  beide  Parteien,  die  unrechttuende  und  die  ver- 
gewaltigte Person,  oder  nur  eine  Person,  entweder  die  un- 
rechttueude oder  die  vergewaltigte  Person,  lächerlich  gemacht 
wird.     Wii  wollen  solche  Stücke,  in  denen  nur  die  unrechttuende 


70 


Stephan  Odon  Haupt, 


Person  lächerlich  gemacht  wh-d,  „Scll^Yänke'■  nennen.  Danach  gibt 
es,  da  alle  Urkombinationen  niöghch  sind,  64  Konil)inationen  oder 
128  Schwankarten.  Wird  nur  die  vergewaltigte  Person  lächerlich 
gemacht,  so  haben  wk  die  „Posse"  vor  uns,  die  gleichfalls  64  Kom- 
innationen oder  128  Possenarten  ergibt.  Werden  beide  Parteien 
lächerlich  gemacht,  so  wollen  wir  ein  solches  Stück  Travestie  nennen. 
Deren  gibt  es  gleichfalls  128  Arten.     Es  gibt  also: 

32  Arten  von  echten  Tragödien, 


32 
32 
32 
32 

128 
96 
128 
128 
128 
128 


Komödien.    " 
Heldendramen, 
tragischen  Schauspielen, 
Suggestivdramen, 
Schauer  cb-amen, 
Lastspielen. 
Tragikomödien, 
Schwänken, 
Possen. 
Travestien,    im  ganzen  also 


896  Dramenarten, 
und  zwar  384  Arten  von  ernsten  und  512  Arten  von  heiteren  Dramen. 

Interessant  ist,  daß  sowohl  Goethe  als  auch  Bernays  in  ihren 
diesbezügüchen  Abhandlungen  die  intellektualistische  Wirkung  der 
Tragödie,  die  Aufklärung,  sogar  mit  derselben  Bezeichnung  streifen. 
Während  aber  der  Gelehrte  Bernays  jede  moralische  Wirkung  oder 
„intellektuelle  Aufklärung''  ganz  und  gar  zurückweist,  da  sie  ihm 
nicht  in  seine  Erklärung  paßte,  hat  Goethes  Genie  selbst  dort,  wo 
er  als  Forscher  zu  einem  Fehlschluß  gelangt  ist,  diesen  Fehler  anbe- 
wußt ausgeglichen.  AVährend  nämlich  Bernays  am  Schluß  seiner 
Abhandlung:  „Aristoteles  über  Wirkung  der  Tragödie''  (S.  78)  aus- 
tlrücklich  sagt:  „Die  Tragödie  und  das  letzte  Ziel,  auf  welches  alles 
in  ihr  hinbhckt,  die  tragische,  vom  Mitleid  angefachte  „Furcht" 
erschien  dem  Ai-istoteles  zu  moralischer  Besser ang  oder  intellektuellei 
Aufklärung  weder  befähigt  noch  berufen;  für  solche  Zwecke  wollte 
er  andere  Mittel  aufgeboten  wissen",  und  zur  Begründung  seiner  Be- 
hauptung Goethe  zitiert,  indem  er  fortfährt:  „er  würde  Wort 
für  AVort  dem  beigestimmt  haben,  was  ein  Künstler  wie  Goethe  zu 
bekennen  aufrichag  genug  war";    ..keine  Kunst   vermag  auf  Mora- 


I 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  *  71 

lität  ZU  wirken:  Philosophie  imd  Religion  vermögen  dies  allein, "•  hatte 
sich  Goethe,  da  er  sich  ja  nur  gegen  die  Wirkung  der  Kunst  auf  Mora- 
htät,  nicht  gegen  die  intellektuelle  Aufklärung  derselben  wendet, 
ganz  anders  ausgedrückt.  In  seiner  „Nachlese  zu  Aristoteles'  Poetik" 
sagt  er:  ..Aristoteles  versteht  unter  Katharsis  diese  aussöhnende 
Abrundung,  welche  eigentlich  von  allem  Drama,    ja  sogar  von  allen 

poetischen   Werken   gefordert   wird die   Verwicklung    whrd   den 

Zuschauer   verwirren,   die   Auflösung    aufklären", Alleidings 

meint  Goethe  damit  nur.  daß  die  Auflösung  des  Knotens  den  Zuschauer 
nur  insofern  aufklären  werde,  als  er  die  Verwicklung  des  Knotens 
nach  der  Auflösung  versteht,  aber  trotzdem  hat  er  gerade  an  der 
richtigen  vStelle.  ohne  es  zu  ahnen  und  zu  wollen,  ja  gegen 
seinen  Willen,  das  richtige  Wort  ausgesprochen,  denn  ei  war  eben 
ein  Genie. 

Wir  wenden  uns  nun  der  Deutung  der  für  die  intellektuaüstische 
Kathaisis  wichtigsten  Stelle  zu.  der  bekannten,  bereits  erwähnten 
Pohtikstelle.  Dort,  im  8.  Buch  kündigt  nämlicL  Aristoteles  das 
Wort  ,, Katharsis"  als  einen  neuen  Terminus  an.  ,,Was  wir  unter 
.Katharsis'  verstehen,  wollen  wir  jetzt  nur  einfach  (d.  h.  mit  einem 
Worte)  sagen,  s])äter  werden  wir  es  \\ieder  in  den  Büchern  über  die 
Poetik  deuthcher  sagen.  "^^) 

Nachdem  wir  nun  durch  den  ,. Ethos"  von  Süß  wissen,  daß  ,,Ka- 
tharsis"'  als  medizinisch-therapeutischer  Teiminus  in  der  Bedeutung 
„erleichternde  Entladung"  schon  vor  Plato  allgemein  bekannt  und 
geläufig  war,  so  konnte  Aristoteles  schon  aus  diesem  Grunde  mit  obigen 
Worten  nicht  den  Thrasymachos-Gorgianischen  Terminus  neu  ein- 
führen wollen,  denn  seine  Hörer  hätten  ihn  einfach  ausgelacht.  Dank 
Süß  ist  es  nun  ganz  klar,  daß  Gorgias  oder,  wie  Süß  vermutet.  Thrasy- 
machof  die  Wirkung  des  Dramas  als  eine  medizinisch-therapeutische 
hinstellt,  ganz  wie  es  Bernays,  ohne  Kenntnis  von  der  be^vllßten 
Stelle  in  der  „Helena"  des  Gorigias  zu  haben,  erklärt  hat:  und  wenn 
auch  in  der  Helenastelle  das  Wort  „  Katharsis '"  selbst  nicht  genannt 
ist,  so  kann  Gorgias  kein  anderes  Wort  fiü  diese  Purgierung  der  Affekte 
angewendet  haben  als  ., Katharsis."  da  dies  auch  der  medizinische 
Terminus  für  die  körperhche  Purgation  war.    So  erklärt  es  sich  jetzt 


"")  Ti  oe  Aeyofif)'    rip'   y.uxTaoaiv.    vvr   fuv    a.nUxiC,    nakiv    o   sr    toiq 
TTfQi  TTOn]iiy.r,c  SQovfjev  GacfeaTsgor.     Politik  9  7.  1.341b  38. 


72 


Stephan  Odon  Haupt, 


dank  Süß  ungez^YnIlgen,  wieso  Plato,  da  er  die  Lehre  des  Tlirasy- 
machos-Gorgias  nicht  zu  widerlegen  vermochte,  als  echter  Künstler 
und  Idealist  alle  Dichtkunst,  selbst  seinen  Liebling  Homer  blutenden 
Herzens  aus  seinem  Idealstaat  verbannen  mußte.  Und  weil  er  selbst 
kein  Mittel  fand,  diese  teuflisch  berückende  Lehre  zu  widerlegen, 
so  spielt  er,  der  Hoffnungslose,  doch  noch  mit  dem  Gedanken,  daß 
vielleicht  ein  Retter  der  Poesie  erstehen  könnte,  der  nachweist,  daß 
die  Poesie  nicht  im  Sinne  des  Thrasymachos-Gorgias  ,,kathartisch" 
wirkt,  sondern  veredelnd.  Denn  dann  wäre  sie  für  den  Staat  wieder 
gerettet. 

Und  dieser  Ketter  der  Poesie  war  sein  Schültr  x\ristoteles.  .,Ja, 
die  Tragödie  wkt  medizinisch-therapeutisch  kathartisch."  so  lauteton 
dessen  Ausführungen,  „aber  das  ist  nur  eine  Nebenwirkung,  die  nur 
den  i\rmen  im,  Geiste  zuteil  wd,  denen  sie  eine  unschädliche  Freude 
bereitet.  Die  Furchtsamen  und  Jammersehgen.  sie  erfahren  die  ,ei- 
leichternde  Entladung',  indem  sie  beim  Anhören  einer  echten  Tragödie 
über  die,  vor  denen  sie  sich  fürchten,  gefahi'los  in  unschädhcher  Freude 
triumphieren  können."  Das  ist  der  Sinn  der  Stelle  in  1342*  11 1°*^). 
Gerade  dadurch,  daß  Aristoteles  dem  neu  augekündigten  Terminus 
,, Katharsis"  dasselbe  Wort  im  alten  medizinisch-therapeucischon 
Sinne  folgen  läßt,  hat  er  w^ohl  absichtUch  die  Verwirrung  hervor- 
gerufen. Noch  wll  er  seinen  Hörern  seine  Erfindung  nicht  mitteilen, 
—  er  vertröstet  sie  auf  die  Poetik  — ,  er  mW  sie  nur  andeuten,  die 
Erwartung  seiner  Hörer  spannen,  er  gönnt  sich  noch  einige  Zeit  die 
Freude,  mit  ihnen  zu  spielen.  Er  lüftet  den  Schleier,  er  spricht  sich 
sogar  schon  miverhüllt  aus  und  doch  kann  ihn  keiner  verstehen. 
Daß  er  wkhch  neben  der  Gorgianischen  Katharsis,  der  erleichternden 
Entladung,  eine  neue  Bedeutung  dieses  Wortes  einführen  will,  er- 
hellt klar  aus  dem  6.  Kapitel  des  8.  Buches  der  Pohtik.  Dort  erörtert 
er,  welche  Instrumente  die  Jugend  spielen  lernen  soU.  Er  spricht 
sich  gegen  die  Flöte  aus.  „Sie  ist  eher  aufregend  {oQyiaonxor) 
als  ethisch  wirkend,  weshalb  man  sie  nur  zu  solchen  Gelegenheiten 
spielen  soU,    wenn  das  Anhören  eher  eine  .erleichternde  Entladung 


^°°)  „Tuvrd  öl]  TOtTO  dvayxnTor  irdax^"'  ^«^  ^ovc  ilsi]fiovac  xut  Toug 
(foßriTixovc  xul  Tovg  Ökujg  TTuO^rjnxovc,  rotg  d'  üXXovg  xuS'  oGov  tjiißäXXBv 
xwv  TOtovTwv  sxdßTM,  xut  Ttdßi,  yCyvfGd^uC  riva  xd&aoatr  xui  xov(pit,((fy^(n 
fj,sd^'  }]öorrjg.'' 


über  die  Wirkung  der  Tragödie. 


73 


der  Gefühle'  als  ein  , Lernen'  bewken  soll."^*'^)  Hier  wendet  Aristo- 
teles das  Wort  „Katharsis''  zum  erstenmal  in  der  Politik  als  einen 
geläufigen  Terminus  an;  denn  es  steht  ohne  Bemerkung.  Dieser  ge- 
läufige Terminus  kann  nur  der  Gorgianische  sein,  die  „erleichternde 
Entladung".  Denn  wenn  Aristoteles  einige  Zeilen  tiefer  (1341^38) 
bei  der  zweiten  Setzung  des  Wortes  „Katharsis"  den  oben  zitierten 
Satz:  „AVas  wü-  unter  , Katharsis'  verstehen,  wollen  wir  jetzt  nur 
kurz  sagen,  später  werden  wir  es  wieder  in  den  Büchern  über  die  Poetik 
deutlicher  ausdrücken,"  hinzufügt,  und  durch  diesen  Zusatz  das 
Wort  „Katharsis"  bei.  der  2.  Setzung  als  einen  neuen  Terminus  an^ 
kündigt,  so  hätte  er  diesen  Zusatz  doch  schon  bei  der  ersten  Setzung 
des  Wortes  , Katharsis"  machen  müssen,  wenn  er  eben  dort  (134J-^  23) 
seinen  neuen  Tei minus  zum  erstenmal  angewendet  hätte ^"^j.  Was  soll 
aber  das  Wort  „^a«i9-/^(;^g"  ?  Was  soll  denn  der  Zuhörer  von  der  Flöte 
lernen?  Aristoteles  spricht  hier  sowie  bei  sein  m  neuen  Terminus 
„Katharsis"  in  Rätseln,  deren  Lösung  er  seinen  Zuhörern  erst  in 
der  Poetik  geben  will,  wie  er  ausdrückhch  sagt.  Dort  eist  will  er 
ihnen  ausführheher  sagen,  was  Katharsis  ist,  vorläufig  will  er  es  nur 
mit  einem  einfachen  Worte  erklären.  Vergebens  suchen  wir  nach 
dem  angekündigten  einfachen  Worte.  Und  doch  hat  er  sein  Ver- 
sprechen erfüllt,  nur  daß  er  seine  Zuhörer  foppte.  Wenn  er  es  an 
dieser  Stelle  (1341^  40)  gesagt  hätte,  so  hätte  er  sich  st  inen  Spaß 
selbst  verdorben;  er  hatte  das  Wort  schon  früher  genannt,  ohud  daß 
es  einer  merkte,  nämMch  eben  in  1341''  23.  „i/dd-r/atc  =  yMd^aQ(ng'\ 
,, Katharsis"  ist  identisch  mit  „Mathesis"  und  entspricht,  wie  ich 
schon  zeigte,  unserem,  deutschen  Worte  „Aufklärung."  Aristoteles 
mU  dort  sagen:  Die  Flöte  ist  ein  Instrument,  welches  aUe  Zuhörer 
aufregt.  Jeder  wird  dm-ch  die  Klagetöne  der  Flöte  an  sein  Leid  er- 
innert, denn  jeder  hat  schon  Leid  erfahren;  daher  werden  aUe  Zu- 
hörer durch  die  Flöte  gerührt.    Es  findet  also  bei  allen  Zuhörern  eine 


'"^j  IV«.  6'  ovx  ianr  ö  uvXoc  i^d^ixör  uaXu  (iuklor  OQyiaGnxöv,  (vor^ 
jTQog  rovq  toiovtovq  uvtm  xuiqovc  ^QtjGiiov,  iv  oig  ?/  &ewQiu  xdd^uQGir 
^äXXov  övvaTUi  )]  fjdd-rjGiv.     Politik  ^-  6,  1841»  21, 

i""-*)  Aus  dieser  Einführung  des  Wortes  „Katharsis"  als  eines  neuen 
Terminus  ist  aber  auch  klar,  daß  Plato  das  Wort  in  der  neuen  Be- 
deutung von  „Aufklärung"  noch  nicht  gebraucht  haben  kann,  und  ich 
ziehe  daher  meine  in  der  „Lösung  der  Katharsistheorie  des  Aristoteles" 
S.  35  aufgestellte  Behauptung,  daß  „Katharsis"  im  Sinne  von  „Auf- 
klärung"  schon  von  Plato  im  Phaidon  angewendet  worden  sei,  zurück. 


74  Stephan  Odon  Haupt.. 

mehr  oder  minder  große  „erleichternde  Entladung"  der  Rührscüi;- 
keit,  weniger  eine  ..Aufklärung'"  über  diesen  Seelenzustand  statt. 
Denn  es  wird  nur  wonige  geben,  die  ungoriilnrt  bleiben,  und  das  sind 
entweder  lünder,  die  noch  kein  J^eid  erfahren  haben,  oder  geraüts- 
rohe  Menschen,  für  die  die  Musik  und  Kunst  nicht  oder  noch  nicht 
besteht.  Im  7.  Kapitel  des  8.  Buches  der  Politik  bespricht  Aristoteles 
Rhythmus,  Harmonie  und  Lieder.  Die  Lieder  scheidet  er,  indem  er 
sich  der  Einteilung  einiger  Philosophen  anschließt,  in  ethische  {^B-iy.a 
idh])  praktische  (:fiQaxTrAd)  und  enthusiastische  (h-ihovCtuOTixä). 
Gomperz  behauptet,  daß  Aristoteles  für  die  lyrische  Poesie  kein 
Auge  besitzt.  AVenn  auch  di'^s  nicht  der  Fall  ist,  so  wertet  Aristo- 
teles doch  die  Lyrik  und  die  Musik  nicht  sehr  hoch.  Dies  ersieht  man 
schon  aus  dei  Nachlässigkeit,  mit  der  er  diese  Einteilung  einiger 
Philosophen  olme  ein  Woit  der  Entgegnung  annimmt.  Jedenfalls 
kann  man  daraus  den  Schluß  Jehen,  daß  er  wie  Sokiates  rieht  musi- 
kalisch war.  Daß  er  mit  obigei  Einteilung  dei  Lieder  eigentUch  nicht 
einverstanden  ist,  deutet  er  schon  im  5.  Kapitel  des  8.  Buches  (1340'' 
11)  an,  wo  er  vom  Enthusiasmus  spricht  und  denselben  als  ein 
Pathos  eiklärt^^^).  ,.Der  Enthusiasmus  ist  ein  Affelrt  einer  seelischen 
Eigenschaft",  d.h.  er  schlummert  in  der  Seele  desjenigen,  der  begeiste- 
rungsfähig  ist  und  lodert  auf  als  Affekt,  wenn  die  Gelegenheit  ge- 
boten ist,  sowie  der  Zorn  in  der  Seele  des  Zornmütigen  lauert;  kurz 
statt  „kVi^ovöiaOTixa  idhf'  sollte  „jtaihizixa"  stehen.  Daß 
dem  wirklich  so  ist,  zeigt  Aristoteles  gleich,  indem  er  zum  P^nthusias- 
raus  Mitleid  und  Furcht  hinzufügt.  „Der  Affekt  nämlich,''  sagt  er, 
,,der  in  einigen  Gemütern  heftig  auftritt,  ist  in  allen  voihanden  und 
unterscheidet  sich  nur  dem  Grade  nach,  z.  B.  IVIitleid  und  Furcht, 
dazu  auch  Enthusiasmus."^"*)  Für  das,  was  Aristoteles  über  die 
Wirkimg  der  Lieder  sagen  wollte,  war  sowohl  die  Art  der  Einteilung 
als  auch  die  Vollständigkeit  derselben  nebensächlich.  Er  brauchte 
eigentüch  nur  die  ethischen  Lieder.  Diese  nämlich  läßt  er  allein  für 
den  Jugondunterricht  zu.  „Für  den  Jugenduntcrrichf  darf  man,  wie 
gesagt,  niu"  ethische  Lieder  und  ebensolche  Tonarten  anwenden,"^"^) 


^°')  0  d'  ivd^ovGiaffjJog  lov  tisqi  rrji'  xlivxrjv  ij&ovg  irud^oc  iarfr. 

^*'*)  o  yuQ  Tcaql  irCuc  GvjjßuCvit  jiu&og  ifwyO.c  Igx^iqm:,  jovto  tv 
Ttüoo.i;  indQ^ii,  reo  Ss  rJTior  diutpiqet/  xal  tm  ^üXlov,  oiov  eXsoc  xat 
(pößog.  hv  ivi^ovGiaGfiög.     1342»  4. 

"■')  ngog  6s  naiddav,  wßjriQ  hquitui,,  rdig  ^d-ixoig  iLÜr  fieXiür 
)(Qrjajior  xui  ralg  ägfiovicug  tuIq  TOiaijaic.     134.:!  «^  28. 


tJber  die  Wirkung  der  Tragödie.  75 

also  Hyiimen  auf  Götter  und  edle  Menschen,  eventuell  auch  Rüge- 
iieder. 

,,Zun]  Anhören  anderer  ausübendCi-  Künstler  dienen  (außer 
der  ethischen  Tonarten  und  Liedern)  auch  die  praktischen  und  die 
enthusiastischen. ''^°"} 

Ethische  Lieder  sind  also  solche,  die  Tugenden  besingen,  prak- 
tische solche,  die  Taten  besingen,  und  die  enthusiastischen,  eigenthch 
pathetischen,  sind  solche,  die  Gefühle  zum  x\usdruck  Iwingen.  Absicht- 
lich und  ironisch  stellt  Aristoteles  neben  den  Enthusiasmus  auch  Mit- 
leid und  Furcht.  Denn  alle  3  sind  Affelrte  desselben  Ursprungs  und 
unterscheiden  sich  nur  durch  den  Grad.  Alle  drei  sind  Mutäußerungen. 
Der  Enthu-^iastische  hat  ihn  scheinbar  im  höchsten  Grade,  wenifrei 
Mut  hat  der  ^litleidige.  am  wenigsten  der  Furchtsame.  Nun  ist 
aber  der  Enthusiasmus  nicht  gleichbedeutend  mit  Mut.  eher  mit  Toll- 
kühnheit, und  diese  ist  bekanntlich  Strohfeuer,  wenn  es  zum  Ernst 
kommt.  Wern  also  solche  leicht  zu  erregende  Zuhörer  die  berauschende 
Musik  und  das  begeisternde  Lied  hörer,  das  vielleicht  zum  Helden- 
tode auffordert  und  diesen  voi  Augen  stellt,  dann  werden  sie  auf  ein- 
mal ernüchtert.  Sie  wartn  wie  im  Rausch,  nun  haben  sie  ine  kalte 
Dusche  bekommen,  sie  sind  gleichsam  geheilt  und  gleichzeitig  sind 
sie  aufgeklärt  über  ihren  eigenthchen  Seelenzustand,  daß  sie  doch 
nicht  so  tapfer  sind,  um  mit  derselben  Begeisterung  wie  wkhch 
Tapfere  in  den  Tod  zu  gehen.  Ihrer  Ernüchterung  folgt  der  Katzen- 
jammer,  ein  mit  guten  Vorsätzen  verbundenes  gemischtes  Gefühl. 
Gute  Vorsätze  erwecken  immei  ein  Lustgefühl,  daher  auch  diese  Kathar- 
sis ( --  Aufklärung)  ein  wenn  auch  stark  gedämpftes  Lustgefühl  hervor- 
ruft, ähnlich  dem.  wenn  man  durch  Schaden  klug  wird.  AVenn  Stisser 
in  seiner  Schrift  „Nochmals  die  Katharsis  in  Aristoteles'  Poetik" 
meint,  daß  heilige  Lieder  und  orgiastische  etwas  Verschiedenes  sind, 
denn  dieselben  Lieder  könnten  unmöghch  eine  entgegengesetzte 
AVirkung  erziekn.  so  irrt  er:  bei  allen  Narcoticis  folgt  auf  das  Stadium 
excitationis  das  Stadium  depressionis,  und  doch  sind  beide  durch 
ein  und  dasselbe  Narcoticum  be^\^lkt.  Die  Furchtsamen  und  Mit- 
leidigen werden  durch    das  Anhören  dieser  enthusiastischen  Lieder 


306 1 


')  Tioüc  di  uxQÖuGiy  tjioiov  ^HQOvqyovvTUüV  xui  tuIc  7iQaxTi-/Mlg  xul 
rate  IvS^ovGiaßTixojz.  13i2«  ■!.  Daß  hier  uouovfa  =^  Tonstück  in  der- 
selben  Geltung  steht  wie  /.(f/.og  =  Lied,  ersieht  man  aus  den  dort 
folgenden  Worten. 


76  Stephan  Odon  Haupt, 

gehoben;  sie  sind  \Nie  nüchterne  Wassertrinker,  die  hie  und  da  Wein 
genießen;  sie  kommen  dadurch  in  eine  gehobene  Stimmung.  Sie 
fühlen  sich  geheilt  von  ihrer  Furcht  und  haben  die  medizinisch 
therapeutische  „erleichternde  Entladung'"  von  diesem  Ijangen  Furcht- 
und  Mtleidsgefühl  crfahron,  was  ihner  Freude  bereitet.  Wieder  macht 
Aristoteles  an  dieser  Stelle  denselben  versteckten  Wortwitz  wio  ])0i 
.,Mathes)S".  Während  die  enthusiastischen  Zuhörer  beim  Anhören  der 
heihgen  Lieder  nur  seine  Katharsis,  d'e  intellektuahs tische  Auf- 
klärung, erleiden,  die  sie  nicht  besonders  freut  —  sie  sind  ja  für  diesen 
Fall  die  eigentlichen  Kranken  — ,  niieht  aber  die  Gorgianische,  erfahren 
die  Furchtsamen  und  Mtleidigen  außer  seiner  Katharsis,  die  ihnen 
aber  nicht  zum  Bewußtsein  kommt,  weil  hierzu  Eeflexion  nötig  ist, 
die  medizinisch-therapeutische  Katharsis,  die  erleichternde  "Ent- 
ladung, die  mit  großem  Lustgefühl  verbunden  ist.  Daher  sagt  er 
von  den  Enthusiastischen:  „Wh  sehen,  daß  die  enthusiastischen 
Zuhörer  unter  der  Einwirkung  der  heiligen  Lieder,  wenn  sie  uämhch 
die  begeisternden  heiligen  Lieder  auf  sich  wirken  lassen,  gedäftet 
werden,  gleichsam  als  ob  sie  eine  Heilung  und  Aufklärung  erfahren 
hätten"^"^);  von  den  Mitleidigen  und  Furchtsamen  dagegen  heißt 
es:  „ihnen  allen  wird  irgend  eine  mit  Lustgefühl  verl)undene  er- 
leichternde Entladung  zuteil. ■'^"^) 

Aristoteles  hat  mithin  tatsächhch  vorläufig  sehr  einfach  durch 
ein  einzelnes  Wort  (/l-t/mS).  uämhch  durch  das  Wort  „luUh/otS', 
seinen  neuen  Terminus  „Katharsis"  erklärt  und  so  sein  Z.  1341''  38 
gegebenes  Versprechen  erfüllt,  freilich  in  Form  eines  Vexierrätsels. 
Und  dies  treibt  er  im  folgenden  Satz  auf  die  Spitze.  1342'*  15  heißt 
es:  ,,In  gleicher  AVeise  gewähren  auch  die  kathartischen  Lieder  den 
Menschen  eine  unschädliche  Freude. "^"^)  Was  sind  nun  kathartische 
Lieder?  Hier  ist  wieder  sein  neuer  Terminus  angewandt.  Da  er  vorher 
die  ethischen  und  enthusiastischen  (eigentlich  pathetischen)  Lieder 
abgehandelt  hat,    so    können    es    nur    die   pralrtischen   (rrfKcxTtxd) 


^'^')  ix  di  T(jjv  liotov  peXtZr  OQuJfMi'  rovrovg  [tovc  ti'&ovGtaGTbXovc], 
mar  ^/^qr^Gdwiak  xoig  i'§ooyiü^ovGv  iiijv  ^iv)(i]v  ^iXißi,  y.u^'^iGTUfievovg  (ogttso 
luTQsCag  Tv^öviug  xut  xui9uqgswc.     1342^1  8. 

^°®)  xat  Ttö.Gt  yCyveG&aC  riva  xad^aoGir  xai  xovcpC^sGÜai  {neS''  ^6orrjc. 
1342  a  14. 

'"^)  o^oCoic    dt    xai   tu  fiiXt]   tu    xad^aQiixu    TruQe/ji    X^^^'-^'    f^-ß'^MßT] 

TOtC    (ivd^OLÖTTOlC. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  77 

sein,  und  zwar  können  dies  nur  Lieder  sein,  in  denen  Taten  verherr- 
licht werden.  Hier  haben  wir  den  unmittelbaren  Anschluß  an  das 
Drama,  das  ja  die  Nachahmung  von  Taten  ist.  Beider  Wirkung, 
des  Dramas  und  der  praktischen  Lieder,  ist  gleich:  sie  bewirken 
die  Aufldärung,  ^\ie  mr  uns  bei  solchen  Taten  verhalten  würden, 
und  diese  iVufklärung  ist  immer  mit  einem  Lustgefühl  verbunden. 
Daher  sind  die  praktischen  Lieder  kathartische  genannt. 

Es  bleibt  uns  noch  übrig  nachzuweisen,  daß  diese  aufklärende  Wir- 
kung der  Tragödie  stets  mit  einem  Lustgefühl  verbunden  ist.  Denn  ab- 
gesehen von  der  schon  erörterten  Politikstolle  (1342^  8  ff.)  erwähnt 
.Vristoteles  auch  in  der  Poetik  an  mehreren  Stehen  die  hedonische 
AVirkung  der  Tragödie.  So  heißt  es  im  14.  Kapitel  der  Poetik:  „Man 
daif  nicht  jede  Lust  von  der  Tragödie  verlangen,  sondern  nur  die  ihr 
eigentümliche. "^^°)  „o^xeroc"  ist  synonym  mit  ,,M^oc".  Wenn  also 
Aristoteles  von  einer  der  Tragödie  eigentümüchen  Lust  spricht,  dieser 
Lust  aber  in  seiner  Tragödiendefinition  keine  Erwähnung  tut, 
so  ist  diese  Lust  entweder  in  der  Wirkung,  also  im  AVort 
,,  Katharsis"  inbegriffen,  oder  akzidentell.  Denn  sonst  müßte  sie 
nach  seinen  eigenen  Worten  über  die  Teile  der  Definition  in  derselben 
stehen.  Akzidentell  kann  sie  abei  nicht  sein,  weil  ei  sie  eine  „eigen- 
tümüche"  nennt;  folgüch  muß  sie  in  „Katharsis"  inbegriffen  sein. 
Nachdem  wir  oben  schon  nachgewiesen  haben,  daß  seine  ,, Katharsis" 
identisch  ist  mit  „iiaßf/öig  =  Lernen,"  so  können  wir  ihn  selbst 
die  mit  dem  Lernen  verbundene  Lust  begründen  lassen.  Denn  im 
4.  Kapitel  der  Poetik  sagt  er  ausdrückMch,  „daß  das  Lernen  der  höchste 
Genuß  nicht  nur  für  die  Philosophen  ist,  sondern  auch  für  alle  anderen 
Menschen"-^^),  zumal  wenn  es  den  Menschen  ohne  geistige  Anstrengung 
beigebracht  wird,  nänüich  durch  das  vorgeführte  Beispiel,  wie  es  ja 
auch  in  der  Tragödie  geschieht.  Ein  solches  Lernen  läßt  sich  selbst  der 
Faulste  gefallen.  Noch  deutücher  drückt  sich  Aristoteles  in  der  Rhetorik, 
seinem  letzten  Werke,  aus.  Dort  im  11.  Kapitel  des  1.  Buches  bringt 
er  das  Lernen  in  Verbindung  mit  dem  Wunderbaren.  Und  wunder- 
bare Schicksale  werden  uns  in  der  Tat  in  der  Tragödie  vorgeführt. 
Peripetie  und  Erkennung  beruhen  ja  auf  dem  Wunderbaren.    „Auch 


"'')  ov  yuQ  TVÜGuv  dsT  l,r}Ti7i'  ^dovijv  djrd  TQu/MÖCag,  uXXd  rijv  oIxhuv. 
1453  b.  10. 

^")  OTV  fiuvddveiv  ov  fiovov  ToXc  (fiXoGÖffOvc  i\di670v.  dXXu  xat  töic 
uaXovq  öfioiujg.     1448  b  12. 


78  Stephan  Odon  Haupt, 

das  Lernen  und  das  Sichwundorn",  sagt  Aristoteles  dort,  ..ist  meist 
angenehm.  Denn  in  dem  Sichwnndern  ist  die  Begierde  zu  lernen, 
so  daß  das  Wunderbare  ein  Begehrenswertes  ist;  in  dem  Lernen  aber 
liegt  die  Versetzung  in  deit  natüihchen  Ridiezustand."  (St.)^^^)  i).^ 
aber  das  Lernen  und  das  Sichwundern  angenehm  ist,  so  muß  auch  solches, 
wie  z.  B.  das  Nachgeahmte,  z.  B.  in  der  Malerei,  Bildhauerei  und  Dicht- 
kunst und  so  auch  alles,  was  gut  nachgeahmt  ist.  auch  wenn  das 
Nachgeahmte  selbst  nicht  angenehm  ist,  angenehni  sein.  Denn  nicht 
über  das  Nachgeahmte  freut  m,an  sich,  sondern  es  findet  ein  Schluß 
statt,  daß  dieses  jenes  ist.  so  daß  eine  Art  Leinen  stattfindet;  auch 
die  Peripetie,  und  wenn  man  mit  knapper  Mühe  aus  den  Gefahren 
gerettet  wird,  gehört  hierher;   denn  alles  dies  ist   wunderbar."^ '^) 

Kann  es  noch  einen  deuthcheren  Beweis  geben  für  die  Identifi- 
zierung von  Katharsis  mit  Mathesis? 

Gerade  bei  der  Tragödie  erkennt  der  Zuschauer  in  seinem  Partner 
entweder  sich  selbst  oder  eineii,  der  ihm  besonders  nahe  steht,  und 
freut  sich,  selbst  wenn  sein  Partner  erliegt,  trotz  der  Fm-cht,  die  er 
empfindet,  doch  auch,  daß  es  nicht  Wirldichkeit  ist.  und  tröstet  sich 
damit,  daß  es  mit  ihm  in  Wirklichkeit  doch  nicht  so  weit  kommen 
würde  und  wird.  Es  ist  dieselbe  gruselige  Freude,  die  wir  bei  einem 
schreckbaren  Traume  em,pfinden,  wenn  wii-  uns  trotz  der  Lebhaftig- 
keit des  Traumbildes  doch  bewußt  sind,  daß  wü'  träumen.  Es  ist  der 
Grund  des  besonderen  Vergnügens  an  Stücken  wie  Grillparzeis  ..Traum, 
ein  Leben'". 

Außer  dieser  jeder  Tragödie  eigentümlichen  Lust  werden,  wie 
wh"  schon  oben  gezeigt  haben,  noch  6  akzidentelle  Lustgefühle  er- 
regt, und  zwar  diu^ch  die  verschiedenen  Grade  des  Mtleids:  L  bei 
allen  böswiUigen  Furchtsamen  die  Thrasyn\achos-Gorgias-Bernaysische 
..erleichternde  Entladung",  die  mit  einem  besonderen  Lustgefühl 
verbunden  ist;  und  dieses  Lustgefühl  ist  die  besondere  Schadenfreude, 


"2)  xul  To  i.mv9^dvii,v  xal  tu  d^av^-uQuv  t]Sv  oSc  im  tu  tioXv  '  ir 
fjsv  yuQ  T(o  d-uvfiuL,Hv  TO  ini&v}JHV  fiud^HV  iGTti',  loGts  tu  d-uvf.iaOTdv 
iiTi&vfJipov,  61'  de  T(ö  fAuyS^ui'Siv  eig  tu  xutu  cßvGir  xuS^Cotuo&ui.  1371  a  31. 

^*')  iTTH  de  TU  fjuv&drsn'  re  )']dv  xut  tu  SravjjiaQuv,  xal  tu.  TOidöe 
dvdyx)]  rjdiu  iivat,,  o'tov  t6  ts  /jffjiyrjfjit'ot',  wOttsq  yQucptxi]  xut  uvÖqiuv- 
TOTT(n(a  xul  7T0H]Ti,x>]  xut  Ttuv,  o  UV  ev  iJ,efiifi}]fJiyov  t';,  xür  r;  fir]  rjSv  tu 
/j.f}j.ifii]lniroy  '  ov  ydo  ircl  tovtm  /uiost,  uklu  GvX'/MytGfiög  tGnv,  oti,tovto 
ixHvo,  d'GTS  fiuvd^dveiv  ti  Gv/jj-iuirst.  xut  ui  jieotjriTSiui,  xut  tu  Ttuod 
^ixouv  Gio'QsGdut,  ix  TWJ'  xn'dvvwr  '  ndvTU  ydq  SuvfjuGTu  tuvtu.  1371 ''  4. 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  79 

die  die  böswilligen  Furchtsamen  beim  Anblick  der  Leiden  dos  Gegen- 
spielers empfinden.  Sie  ist  unschön,  aber  unschädlich,  eine  yaQu 
dßXaß/j^,  weil  der  böswillige  Furchtsame  sich  doch  nicht  gegebenen- 
falls bis  zur  bösen  Tat,  der  Rache,  aufraffen  wird.  Gefähihcher  sind 
die  Lustgefühle  2  und  3,  die  mit  der  1.  verwandt,  aber  wegen  der  Cha- 
raktere der  Empfindenden  doch  anders  zu  werten  sind;  die  2.  Art 
des  Lustgefühls  empfinden  die  böswiUigen  Übermütigen;  auch  sie 
empfinden  Schadenfreude;  sie  fühlen  sich  aber  trotz  der  Entladung 
doch  nicht  erleichtert,  denn  sie  wirden  mit  Vergnügen  bei  gegebener 
Gelegenheit  wirklich  Rache  nehmen,  während  die  böswilligen-  Furcht- 
samen mit  der  fingierten  Rache  zufrieden  sind;  die  3.  Ai't  des  Lust- 
gefühls empfinden  die  Bösewichte;  sie  haben  eine  doppelte  Schaden- 
freude sowohl  über  den  Partner  als  auch  über  ihren  Gegenspieler. 
Die  4.  Art  des  Lustgefühls  ist  die  Lessingische  Katharsis,  die  die 
gutmütigen  Übermütigen  ausschheßhch  empfinden:  es  ist  dies  die 
gedämpfte  Freude  des  Bußfertigen.  Die  5.  Art  des  LustgefiUils 
empfinden  alle  gutmütigen  Zuschauer,  besonders  die  gutmütigen 
Furchtsamen;  es  ist  die  mit  einem  eigentümüchen  Lustgefühl  ver- 
bundene Befriedigung,  die  im  Gefolge  der  Hochherzigkeit  ist.  Alle 
gutmütigen  Zuschauer  werden  nämlich  mit  dem  leidenden  Gegen- 
spieler Mtleid  haben.  Während  aber  das  Hochgefühl  der  Weisen 
und  gutmütigen  Übermütigen  echt  ist,  ist  das  der  gutmütigen  Furcht- 
samen vorgetäuscht.  Aber  gerade  diese  Täuschung  bereitet  ihnen 
eine  gewisse  Genugtuung.  Sie  sind  wie  Menschen,  die  Simihdiamanten 
tragen  und  nun  meinen,  für  reich  gehalten  zu  werden.  Ebenso  glauben 
solche  Fm'chtsame  hochherzig  zu  sein.  Die  6.  Lust  empfinden  alle 
Kunstästheten;  es  ist  dies  die  Goethische  Katharsis,  die  Freude  über 
die  Vollendung  und  Abrundung  des  Kunstwerks.  Diese  Freude  emp- 
finden theoretisch  alle  Kunstästheten,  tatsächhch  aber  nur  die 
Weltweisen,  da  diese  weder  die  hohen  Grade  der  Furcht  noch  die 
niederen  des  Älitleids  empfinden  und  daher  vom  eigenthchen  Kunst- 
genuß nicht  durch  heftige  Affekte  abgezogen  v/erden  wie  alle  anderen 
Zuschauer. 

Alle  diese  6  Lustgefühle  konnte  aber  Aristoteles  aus  allen  oben 
angeführten  Gründen  nicht  in  die  Definition  der  Tragödie  aufnehmen. 
Trotzdem  sind  auch  sie  unausbleibhch ;  denn  sie  sind  ja  in  dem  Schluß- 
satz inbegriffen,  sie  sind  eben  nichts  anderes  als  die  vollständige 
Teilung  des  Schlußsatzes. 


80  Stephan  Odon  Haupt, 

Der  Schlußsatz  lautet  demnach  vollständig:  Die  Tragödie  be- 
wirkt in  jedtm  Zuschauer  die  Affekte  ]\Iitleid  und  Furcht  und  durch 
diese  Affekte  die  Aufklärung  über  unsere  diesbezüglichen  Gcfühls- 
dispositionen  Mitleid  und  Furcht,  und  zwar  ist  1.  derjenige  Zuschauer, 
der  mit  der  vergewaltigten  Person  sympathisiert,  also  die  richtige 
sympathische  Furcht  flu'  sie  empfindet,  und  beim  Unglück  der  tra- 
gischen Person  das  altruistische  Mtleid  für  sie  fidilt,  und  außerdem 
die  Goethische  Katharsis  erfälirt,  ein  Weiser;  2.  ist  derjenige  Zu- 
schauer, der  mit  der  tragischen  Person  die  egoistische  Furcht  oder 
für  dieselbe  die  sympathische  Furcht  empfindet,  die  leidende  verge- 
waltigte Person  aber  bedauert  und  die  Lessingische  Katharsis  er- 
fährt, ein  gutmütiger  ToUkUhner;  3.  ist  derjenige  Zuschauer,  der 
mit  der  vergewaltigten  Person  die  egoistische  Furcht  oder  für  dieselbe 
die  sympathische  Furcht  empfindet,  beim  Anblick  der  leidenden 
tragischen  Person  aber  schadenfroh  jubelt,  wer  also  auch  noch  die 
Bernaysische  Katharsis  erfährt,  ein  böswilüger  Fm'chtsamer ;  4.  ist 
derjenige  Zuschauer,  der  mit  der  tragischen  Person  die  egoistische 
Furcht  oder  für  dieselbe  die  sympathische  Furcht  empfindet,  beim 
Anbhck  der  leidenden  vergewaltigten  Person  aber  grausame  Schaden- 
freude und  ungesättigtes  Rachegefühl  empfindet,  ein  bösvnlliger  Toll- 
kühner ;  5.  ist  derjenige  Zuschauer,  der  mit  der  vergewaltigten  Person 
die  egoistische  Furcht  odei  für  dieselbe  die  sympathische  Furcht 
empfindet,  die  leidende  tragische  Person  aber  bedauert,  ein  gutmütiger 
Furchtsamer;  6.  ist  derjenige  Zuschauer,  der  weder  für  sich  noch 
fiü*  eine  dargestellte  Person  fiü-chtet,  außer  es  wäre  dies  ein  Bösewicht, 
und  keine  der  dargestellten  Personen  bedauert  oder  bemitleidet,  sondern 
beim  Leiden  beider  hämische  Schadenfreude  empfindet,  ein  Böse- 
wicht. 

Die  Tragödie  und  Komödie  sowie  alle  Dichtungsarten,  die  han- 
delnde Personen  nachahmend  darstellen,  wken  also  zunächst  nur 
auf  das  Gemüt  des  Zuhörers.  Denn  nur  derjenige  Zuhörer,  der  den 
Zusammenhang  zwischen  den  von  der  Dichtung  in  ihm  erregten  Ge- 
fühle und  seinen  Gefühlsdispositionen  versteht,  kommt  auch  zum 
Bewußtsein  der  Wii-kung  der  Dichtung  auf  seinen  Verstand.  Dann 
ist  dieselbe  allerdings  unausbleiblich.  Trotzdem  ist  sie  auch  ohne 
dieses  Verständnis  vorhanden,  bleibt  abei,  solange  dieses  Verständnis 
fehlt,  verborgen;  geradeso,  wie  eine  belichtete  photographische  Platte 
das  Bild  in  sich  enthält,  es  aber  nur  nach  der  bekannten  Entwicklung 


I 


über  die  \^'irkung  der  Tragödie.  81 

zum  Vorschein  bringt.  Schade,  daß  Goethe  die  Photographie  noch 
nicht  kannte!  Er  hätte  dann  nicht  gesagt:  „Keine  Kunst  vermag 
auf  Moralität  zu  wirken:  Philosophie  und  Religion  vermögen  dies 
allein."  Es  ist  genau  so,  als  wenn  er  jetzt  sagen  würde:  „Kein  Bild 
kann  auf  einer  photographisclien  Platte  entstehen:  durch  den  Ent- 
wickler allein  entsteht  das  Bild.''  Nein,  das  Bild  entstellt  auf  der 
belichteten  photographischen  Platte  auch  ohne  Entwicklung,  nur 
ist  es  so  lange  unsichtl)ar,  als  es  nicht  entwickelt  ist.  Was  uns  bis 
jetzt  nur  fehlte,  war  die  Kenntnis  der  Entwicklung  der  aufgenommenen 
Platte.  Nachdem  \\ir  jetzt  die  Reagentien  kennen,  die  uns  unser 
Seelen bild  fixieren,  so  zeigt  es  sich  klar  und  deutlich,  daß  unter  allen 
Künsten  die  Tragödie  und  Komödie  doch  auf  die  Moralität  wkken, 
freilich  nur  indirekt,  indem  sie  jedem  ein  getreues  Spiegelbild  seines 
Charakters  vorhalten  durch  einei.  Zauberspiegel,  der  nur  bei  sehr 
wenigen  ein  ungetrübtes  Bild,  wenigen  ein  ganz  schwarzes  zeigt,  der 
M(dirzahl  aber  genau  die  Flecken  vorweist,  die  seinem  Seelenbilde 
anhaften. 

Wenn  man  daher  bedenkt,  daß  die  Menschen,  zumal  der  Groß- 
stadt, die  nach  des  Tages  Plagen,  Mühen  und  Hasten  abends  einige 
Stunden  sich  ausrasten  und  erheitern  wollen,  vor  die  Wahl  gestellt 
werden,  ein  Kinostück  oder  eine  Varietevorstellung  oder  ein  Lust- 
s])iel  oder  eine  Oper  oder  eine  Operette  oder  ein  Trauerspiel  zu  be- 
suchen, so  darf  man  sich  nicht  wundern,  daß  die  Mehrzahl  lieber  zu 
den  ersteren  Aufführungen  geht  als  zum  Trauerspiel.  Denn  das  Kino 
und  die  mit  ihm  verwandten  Bühnen  wollen  den  Zuschauer  bezaubern 
und  in  hochgradige  Verwundernng  versetzen,  das  Variete,  das  Lust- 
spiel, die  Posse  und  ähnliche  Stücke  wollen  ihn  unterhalten,  die  Oper 
und  Operette  tragen  durch  die  starke  Betonung  des  nuisikalischen 
Teiles  dem  kunstsinnigen  Teile  des  Publikums  Rechnung,  nur  die 
Tragödie  war  bis  jetzt  ganz  natürlich  das  Stiefkind.  Denn  wer  mochte 
sich  zm-  Erholung  und  Unterhaltung  nur  zu  Mitleid  und  Furcht  gerne 
reizen  lassen?  Ist  es  da  ein  AVunder,  daß  sich  der  Besuch  des  ernsten 
Theaters  immer  mehr  verringert,  ja  ganz  einzuschlafen  droht?  Wie 
ganz  anders  wh'd  dies  jetzt  sein,  wenn  das  Pulilikum  die  wunderbare 
Zaul)erwü-kung  des  Trauerspiels  kennen  lernen  wird !  Jeder  wird  sich 
dazu  drängen,  ein  solches  Stück  anzuhören,  damit  er  sein  Seelenbild 
unverfälscht  und  klar  vor  seinem,  geistigen  x\uge  sich  entwickeln 
sieht.   Wie  nichtig  und  schal  werden  ietzt  die  anderen  theatralischen 


82  Stc])lian  Üdon  Hau])t, 

Belustigungen  neben  deni.  ernsten  Trauerspiel  erscheinen!  Denn 
dieses  hat  jetzt  mit  einem  Schlag  den  höchsten  Edelwert  bekommen, 
indem  es  einem  jeden  Zuschauer  zu  dehi  höchsten  geistigen  Gut  ver- 
hilft, zur  Selbsterkenntnis. 

Was  schließlich  die  von  Bernays  in  seinen  „Al)handlungen  über 
die  Aristotelische  Theorie  des  Drama"  zitierte  Jamblichos-  und  Prok- 
losstclle  anlangt,  so  hat  uns  Süß  in  seinem  „Ethos"  die  Mühe  erspart 
nachzuweisen,  daß  beide  Stellen  nicht  aus  Ai'istoteles,  sondern  jeden- 
falls aus  Sophistenschriften  stammen.  „Bei  Jambhchos  (S.  40)", 
schreibt    Süß,    ,, lesen    wir,    daß    die    öwäiitLc.    rojv  (\ri){><orriv(')v 

jn:l)/ji/('cT('))- y.(u   Ol    jrQog  ß'iav  (crcc.7raro}'T(C(.       Diese    auf- 

ffiUende  Übercnnstimmung  mit  des  Gorgias  Definition  der  Rhetorik, 
wie  sie  im  Philebos  58  A  zitiert  wird,  kann  unmöglich  auf  Zufall  be- 
ruhen.   Da  nun  erst  die  Nutzanwendung  auf  Tragödie  und  Komödie 
gezogen  wird"^),    so   scheint  mir  die  Folgerung  unumgänglich,  daß 
jene  erste  Schilderuiig  in  der  Vorlage  des  Jambhchos  eine  allgemeine 
AVirkung  des  Logos  schlechthin  schilderte."     Die  ganze  Stelle  trägt 
nichts  Peripatetisches  an  sich,  sie  ist  vielmehr  eine  deutliche  Wieder- 
holung der  von  Süß  entdecktim  und  nachgewiesenen  Thrasymachos- 
Gorgianischen  SoUizitationstheorie.     Dasselbe  gilt  auch  von  der  bei 
Bernays    zitierten  Proklosstelle   (S.  46).      Den  Aristoteles    erwähnt 
Proklos   nur   nelienbei  auch   als   Gegner   Piatos,   seine    Widerlegung 
richtet  sich  gegen  die   Anhänger  und  Verfechter  der  SoUizitations- 
theorie, die  den  Plato  zu  seinem  blanialjeln  Verdammungsurteil  über 
die  Poesie  verleitet  und  gezwungen  hatten;   Proklos  sucht,  indem  er 
di(i  Aristotelische  Poetik  ignoriert  und  ihr  gegenüber  als  echter  aka- 
demischer J)oktrinär  Vogel  Strauß  spielt,  Piatons  Ansichten  über  die 
Dichtkunst    durch  neue  doktrinäre  Gründe  zu  stützen.     Da  er  an 
Aristoteles  nicht  ganz  vorbeigehen  kann,  so  fertigt  er  ihn  mit  einer 
kurzen,  schmolkmden  Bemerkung  ab,  um  sich  den  anderen,  weniger 
gefährlichen  Gegnern,  die  er  zu  widerlegen  hofft,  zuzuwenden.    Auch 
hier  konstatiert  Süß  Gleichheit  und  Parallelen  mit  den  Gorgianischen 
Ausführungen  in  der  „Helena",  so  daß  wir  trotz  der  Nennung  des 
Aristoteles  doch  auch  diese  Stelle  wieder  als  Thrasymachos-Gorgianisches 
Gut  ansprechen  müssen. 

Aus  alledem  ist  Idar,  daß  Aristoteles  nicht  aus  Rechthaberei, 
s^ondern  ans  echter  Pietät  gegen  seinen  großen  Lehrer  Plato   die  von 

'^',   ()'k).  iiit'io  tr  ](■  y.wiKod'fo.  ....  (Ijroxc.Oc.fooiif): 


über  die  Wirkung  der  Tragödie.  83 

diesem  verbannte  nnd  verkannte  Poesie,  speziell  die  Tragödie  und 
das  Epos,  wieder  für  den  Staat  gerettet  hatt&,  indem  er  bewies,  daß 
beide  nicht  nur  nicht  scliädücli  sind,  sondern  sogar  groJ^en  Segen  stiften 
können.  Denn  die  Übermütigen,  für.  die  die  Tragödie  in  erster  Linie 
bestinunt  ist  und  die  das  künftige  Material  für  die  wii-küch  Tapferen 
abgeben,  erhalten  durch  sie  eine  Warnung,  damit  sie  nicht  erst  durch 
Schaden  Idug  werden  müssen,  ihrer  Tollkühnheit  wird  ein  Dämpfer 
aufgesetzt;  die  wirldich  Tapferen  bleiben  durch  die  Tragödie  un- 
berührt und  die  Feigen  erfahren  durch  sie  ein  unschuldiges  Ver- 
gnügen. Von  ihrer  allzugroßen  Furcht  können  sie  freilich  durch  dit 
Tragödie  nicht  geheilt  werden,  aber  fm-chtsamer  werden  sie  durch 
sie  auch  nicht. 

Die  früheren  Katharsiserklärungen  haben  niemand  befriedigt; 
meine  intellektualistische  gipfelt  in  einem  klaren  System,  in  das  sich, 
wie  ich  gezeigt  habe,  jedes  Drama  leicht  und  zwanglos  einreihen  läßt. 
Wo  das  Wahre  liegt,  zeigt  uns  Goethe,  indem  er  sagt: 

,,Das  Wahre  fördert,  aus  dem  Irrtum  ent\vickelt  sich  nichts, 
er  ver^vickelt  uns  nur." 


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